ISSN 1725-2407

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 77

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Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

52. Jahrgang
31. März 2009


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III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

447. Plenartagung vom 17./18. September 2008

2009/C 077/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung de Europäischen Parlaments und des Rates zur Festsetzung von Emissionsnormen für neue Personenkraftwagen im Rahmen des Gesamtkonzepts der Gemeinschaft zur Verringerung der CO2-Emissionen von Personenkraftwagen und leichten NutzfahrzeugenKOM(2007) 856 endg. — 2007/0297 (COD)

1

2009/C 077/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Sicherheit von SpielzeugKOM(2008) 9 endg. — 2008/0018 (COD)

8

2009/C 077/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Binnenmarkt für das Europa des 21. JahrhundertsKOM(2007) 724 endg.

15

2009/C 077/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine europäische Initiative zur Entwicklung von Kleinstkrediten für mehr Wachstum und BeschäftigungKOM(2007) 708 endg./2

23

2009/C 077/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 76/769/EWG in Bezug auf Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen (Dichlormethan)KOM(2008) 80 endg. — 2008/0033 (COD)

29

2009/C 077/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 68/151/EWG und 89/666/EWG des Rates im Hinblick auf die Veröffentlichungs- und Übersetzungspflichten von Gesellschaften bestimmter RechtsformenKOM(2008) 194 endg. — 2008/0045 (COD)

35

2009/C 077/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates im Hinblick auf bestimmte Angabepflichten mittlerer Unternehmen sowie die Pflicht zur Erstellung eines konsolidierten AbschlussesKOM(2008) 195 endg. — 2008/0084 (COD)

37

2009/C 077/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über vorgeschriebene Angaben an zweirädrigen oder dreirädrigen Kraftfahrzeugen (kodifizierte Fassung) KOM(2008) 318 endg. — 2008/0099 (COD)

41

2009/C 077/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Führersitz von land- oder forstwirtschaftlichen Zugmaschinen auf Rädern (kodifizierte Fassung) KOM(2008) 351 endg. — 2008/0115 (COD)

41

2009/C 077/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter (kodifizierte Fassung) KOM(2008) 344 endg. — 2008/0109 (COD)

42

2009/C 077/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung (EG) Nr. …/… des Europäischen Parlaments und des Rates vom […] über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (kodifizierte Fassung) KOM(2008) 369 endg. — 2008/0126 (COD)

42

2009/C 077/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren QuellenKOM(2008) 19 endg. — 2008/0016 (COD)

43

2009/C 077/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Unterstützung der frühzeitigen Demonstration einer nachhaltigen Stromerzeugung aus fossilen BrennstoffenKOM(2008) 13 endg.

49

2009/C 077/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die erste Bewertung der durch die Richtlinie 2006/32/EG über Energieeffizienz und Energiedienstleistungen vorgeschriebenen nationalen Energieeffizienz-Aktionspläne — Gemeinsame Fortschritte bei der EnergieeffizienzKOM(2008) 11 endg.

54

2009/C 077/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Das Internet der Dinge

60

2009/C 077/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über kreative Online-Inhalte im BinnenmarktKOM(2007) 836 endg.

63

2009/C 077/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2005/35/EG über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen für VerstößeKOM(2008) 134 endg. — 2008/0055 (COD)

69

2009/C 077/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erleichterung der grenzübergreifenden Durchsetzung von VerkehrssicherheitsvorschriftenKOM(2008) 151 endg. — 2008/0062 (COD)

70

2009/C 077/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Internationale Klimaschutzverhandlungen

73

2009/C 077/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Information der Verbraucher über LebensmittelKOM(2008) 40 endg. — 2008/0028 (COD)

81

2009/C 077/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Inverkehrbringen und die Verwendung von FuttermittelnKOM(2008) 124 endg. — 2008/0050 (COD)

84

2009/C 077/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Auswirkungen der aktuellen Entwicklung auf den Energiemärkten auf die industriellen Wertschöpfungsketten in Europa

88

2009/C 077/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Weißbuch Gemeinsam für die Gesundheit: Ein strategischer Ansatz der EU für 2008-2013KOM(2007) 630 endg.

96

2009/C 077/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Ausweitung der Antidiskriminierungsmaßnahmen über die Beschäftigung hinaus auf andere Bereiche und Zweckmäßigkeit einer einzigen umfassenden Antidiskriminierungsrichtlinie

102

2009/C 077/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Mehrsprachigkeit

109

2009/C 077/26

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Berücksichtigung der Bedürfnisse älterer Menschen

115

2009/C 077/27

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Hin zu einer ausgewogenen städtischen Entwicklung: Herausforderungen und Möglichkeiten

123

2009/C 077/28

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Wirtschaft der EU: Bilanz 2007 — Die Produktivitätsgrenze Europas verschieben

131

2009/C 077/29

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Anwendung von Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung im Bereich der direkten Steuern (innerhalb der EU und im Hinblick auf Drittländer)KOM(2007) 785 endg.

139

2009/C 077/30

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Governance und Partnerschaft auf nationaler und regionaler Ebene und die Grundlage für Vorhaben im Bereich der Regionalpolitik (Befassung durch das Europäische Parlament)

143

2009/C 077/31

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Steuerbefreiungen bei der endgültigen Verbringung persönlicher Gegenstände durch Privatpersonen aus einem Mitgliedstaat (kodifizierte Fassung)KOM(2008) 376 endg. — 2008/0120 (COD)

148

2009/C 077/32

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die EU-Afrika-Strategie

148

2009/C 077/33

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu den Beziehungen EU-Ukraine: eine neue dynamische Rolle für die Zivilgesellschaft

157

DE

 


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

447. Plenartagung vom 17./18. September 2008

31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung de Europäischen Parlaments und des Rates zur Festsetzung von Emissionsnormen für neue Personenkraftwagen im Rahmen des Gesamtkonzepts der Gemeinschaft zur Verringerung der CO2-Emissionen von Personenkraftwagen und leichten Nutzfahrzeugen“

KOM(2007) 856 endg. — 2007/0297 (COD)

(2009/C 77/01)

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 22. Februar 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung de Europäischen Parlaments und des Rates zur Festsetzung von Emissionsnormen für neue Personenkraftwagen im Rahmen des Gesamtkonzepts der Gemeinschaft zur Verringerung der CO2-Emissionen von Personenkraftwagen und leichten Nutzfahrzeugen“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 15. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr IOZIA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) mit 140 gegen 4 Stimmen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA hat in seinen Stellungnahmen zur Senkung der CO2-Emissionen stets sämtliche Legislativvorschläge der Kommission mit Nachdruck unterstützt, die konkrete und klar erkennbare Ziele bei der Senkung der Treibhausgasemissionen verfolgen und ein grundlegender Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels sind.

1.2

Der EWSA befürwortet den Zweck des Verordnungsvorschlags, stufenweise konkrete Zielwerte bei der Senkung der CO2-Emissionen zu erreichen. Bis 2012 soll mittels technischer Verbesserungen der Motoren ein Wert von 130 g/km erreicht werden.

1.3

Er hofft auf das Engagement aller Beteiligter, damit im Rahmen eines integrierten Ansatzes bis 2012 das Emissionsziel von 120 g/km erreicht werden kann, das in den Mitteilungen der Kommission vom Februar 2007 vorgesehen war. Er fordert den Rat und das Europäische Parlament auf, sämtliche Legislativvorschläge, die bei der Bekämpfung des Klimawandels von Nutzen sind, zügig anzunehmen.

1.3.1

Der EWSA legt der Kommission nahe, gemäß den Anregungen des Europäischen Parlaments langfristige Ziele festzulegen: für 2020 müssen mutigere Lösungen anvisiert werden.

1.4

Der EWSA fordert insbesondere eine umgehende Annahme des Richtlinienvorschlags KOM(2005) 261 endg. über die Besteuerung von Personenkraftwagen und die Verbesserung der Richtlinie 1999/94/EG über die Kennzeichnung der CO2-Emissionen. Er fordert die Kommission auf, Initiativen für Werbung und Marketing im Automobilsektor vorzuschlagen und zu koordinieren, die Maßnahmen zur Förderung der sparsamsten Kraftfahrzeuge vorsehen.

1.5

Die Wahl des Rechtsinstruments einer Verordnung für die Branche erscheint angezeigt, die Phase der Selbstverpflichtungen der Automobilindustrie zu beenden, da diese zwar durchaus begrüßenswerte Ergebnisse in puncto CO2-Emissionsverhalten von Pkw gebracht haben, für das Erreichen der vereinbarten Zielwerte aber nicht ausreichen.

1.6

Der EWSA begrüßt die Strategie und den vorgeschlagenen Ansatz, fordert aber, dass sich die Vorschriften auch auf realistische Art und Weise umsetzen lassen und ein ausgewogenes Verhältnis angestrebt wird zwischen notwendigen ökologischen Verbesserungen, der Erhaltung der Beschäftigungslage in einer Branche mit 13 Mio. Arbeitnehmern und der umfassenden Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen in einem Sektor, der für die europäische Wirtschaft von strategischer Bedeutung ist.

1.7

Er begrüßt die Wahl des Rechtsinstruments einer Verordnung, da sie die sofortige Einhaltung der anzunehmenden Vorschriften gewährleisten kann und folglich eventuelle Wettbewerbsverzerrungen vermeidet. Es ist von grundlegender Bedeutung, die Zeitvorgaben und konkreten Grundlagen der vorgeschlagenen Maßnahmen sorgfältig zu bewerten und breiter abzustimmen, damit die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen auf dem Weltmarkt erhalten und gestärkt und die Herausbildung künstlicher Vorteile zwischen den verschiedenen Produktionsabschnitten innerhalb der Branche vermieden wird.

1.8

Zu diesem Zweck schlägt der EWSA der Kommission vor, die Aufgabe des gegenwärtigen Systems für die Festlegung der Emissionsziele ausschließlich in Abhängigkeit von der Masse der Fahrzeuge (wie in Japan praktiziert) zugunsten alternativer Parameter zu erwägen, wie z.B. die Fahrzeugstandfläche (Produkt aus Spurweite und Radstand), die bereits in den USA für Lkw herangezogen werden.

1.9

Der EWSA fordert eine stärkere Berücksichtigung der linearen Kurve („Steigung in %“), die sich unmittelbar auf die Lastenverteilung unter den Herstellern auswirkt. Die Kommission selbst stellt in ihrer Zusammenfassung der Folgenabschätzung [SEK(2007) 1724] fest: „Um ein Gleichgewicht zwischen den Kriterien zu erreichen, sollte nach einer ersten Analyse ein Bereich zwischen 50° und 80° näher untersucht werden“, womit sie implizit eingesteht, dass die Folgenabschätzung zu einer so wichtigen Frage noch erheblich verbessert werden muss. Die Entscheidung für eine Steigung von 60° löst die Probleme nicht und könnte zu Kontroversen mit einigen Herstellern führen, die diese Wahl für ungerecht und unausgewogen halten. Der EWSA empfiehlt, dass die endgültige und nach allen erforderlichen Vertiefungen getroffene Entscheidung weder zu Vorteilen führen noch Nachteile verursachen darf.

1.10

Ein weiterer Aspekt, der einer aufmerksameren Bewertung bedarf, ist die Erhebung von Abgaben gemäß Artikel 7 des zu prüfenden Verordnungsvorschlags. Der EWSA begrüßt die Einführung dieser Abgaben wegen ihrer abschreckenden Wirkung, ist jedoch der Ansicht, dass es der europäischen Industrie aufgrund ihrer starken Progression nicht möglich ist, ihre Produktionskette innerhalb der vorgesehenen Fristen auf die neuen Zielvorgaben einzustellen. Die Sanktionen scheinen unverhältnismäßig zu sein, sowohl im Vergleich zu den Sanktionen für andere Branchen, als auch innerhalb der Branche mit Blick auf den Unterschied zwischen den Herstellern von Klein- und Mittelklassefahrzeugen und den Herstellern von großen Fahrzeugen, da sie sich relativ stark auf erstere auswirken.

1.11

Der EWSA ist der Auffassung, dass diese progressiv ansteigenden Sanktionen sehr hoch sind, sich auf die Endpreise auswirken und folglich auf den Endverbraucher abgewälzt werden und den Wettbewerb verzerren könnten, sodass sich die Erneuerung des Fahrzeugparks verlangsamt. Er fordert die Kommission auf, sich dafür einzusetzen, dass diese Abgaben direkt der Automobilindustrie zugute kommen. Damit könnten Anreize für die Ersetzung umweltbelastender Altfahrzeuge geschaffen oder Informationskampagnen zur Verbrauchersensibilisierung finanziert werden, damit diese den Aspekt der CO2-Emissionen bei Kaufentscheidungen stärker berücksichtigen. Ferner könnten damit die zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung erforderlichen umfangreichen Mittel aufgestockt werden.

1.12

Der EWSA ist der Auffassung, dass die wissenschaftliche Forschung wichtige Ergebnisse erzielen kann, die für den möglichen Fortschritt der Branche von zentraler Bedeutung sind. Können die Ergebnisse in einer ersten Phase sinnvollerweise mithilfe derzeitiger Technologien erreicht werden, so scheint es offensichtlich, dass in Zukunft eine umfassende technologische Neuausrichtung unter Einsatz von Spitzentechnologie erforderlich ist.

1.13

Der forschungsorientierte Ansatz erfordert nach Auffassung des EWSA umfangreiche Mittel und ein entschlossenes zielgerichtetes Engagement, angefangen bei der Koordinierung der in den einzelnen Mitgliedstaaten, Universitäten und in allen Technologiezentren auf verschiedenen Ebenen laufenden Initiativen, wobei die direkte Beteiligung der Hersteller vorgesehen und gefördert werden sollte.

1.14

Nach Auffassung des EWSA kann die diesbezügliche Mobilisierung des gesamten Bereichs der Wissenschaft mittels Einrichtung einer speziell für die Automobilbranche konzipierten gemeinsamen Technologieinitiative (GTI) erfolgen.

1.15

Die Folgenabschätzung ist nach Auffassung des EWSA nicht ausreichend vertieft, wie vom Ausschuss für Folgenabschätzung selbst verdeutlicht wird. Im Dokument SEK(2007) 1725 wird gefordert, die Auswirkungen auf das Erreichen der Zielwerte zu klären, indem mögliche Abweichungen von den Ergebnissen des TREMOVE-Modells und der Ex-ante-Untersuchung erläutert werden. Außerdem müssen weitere sensible Variablen wie Treibstoffpreis und autonome Gewichtszunahme untersucht werden. Ferner ist die Analyse und die Abschätzung der Folgen auf regionaler Ebene zu vertiefen, insbesondere mit Blick auf die Beschäftigung, die Automobilzulieferer und die internationale Wettbewerbsfähigkeit.

1.16

Nach Dafürhalten des EWSA müssen für den Erfolg einer so umfassenden Strategie angemessene und konkrete Begleit- und Schutzmaßnahmen für die Industriestruktur der wichtigen Unternehmen dieser Branche in Europa ergriffen werden, um ihre gegenwärtige Wettbewerbsfähigkeit sowie qualifizierte Arbeitsplätze zu erhalten und, wenn möglich, auszubauen. Der EWSA hält die Einrichtung einer Übergangsphase („phasing in“) für wünschenswert mit dem Ziel, bis 2012 mindestens 80 % der Zielwerte zu erreichen. Nach einem kontinuierlichen Anstieg dieses Werts sollen die Emissionsziele bis 2015 voll und ganz eingehalten werden.

1.17

Nach Auffassung des Ausschuss ist es für die Erreichung der Umweltziele und die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit wichtig, dass die Abgaben wegen Emissionsüberschreitung auf alle in Europa verkauften, einschließlich der in Drittstaaten produzierten Fahrzeuge erhoben werden. Die Emissionsgrenzwerte gelten für alle eingeführten Kfz.

1.18

Der EWSA erachtet diesen Vorschlag für den Beginn eines Prozesses, bei dem verkehrsbedingte Umweltprobleme mit einem integrierten Ansatz angegangen werden. Er fordert die Kommission auf, rasch neue Rechtsvorschriften vorzubereiten, mit denen die CO2-Emissionen leichter Nutzfahrzeuge, Lastkraftwagen und Krafträdern gesenkt werden können, und alle Daten bezüglich der Emissionen dieser Fahrzeuge zu erheben.

1.19

Der EWSA weist darauf hin, dass die durchaus wichtigen sektorspezifischen Maßnahmen für die Automobilbranche nicht das gesamte Engagement im Bereich der Verkehrspolitik ausmachen, sondern ein entscheidender Ansatz sind, um den gesamten Sektor auf Umweltziele auszurichten, die in anderen Branchen der europäischen Industrie bereits verfolgt werden.

1.20

Der EWSA betont und hofft, dass die Emissionszielwerte nicht nur über die vorgesehenen sektorspezifischen Maßnahmen, sondern auch über die Nachfrageseite im Verkehr angestrebt werden. Nach Auffassung des EWSA muss eine strikte Politik der Verlagerung immer größerer Anteile des Straßenverkehrs auf Verkehrsarten mit geringeren Treibhausgasemissionen wie Eisenbahn, Binnenschifffahrt und öffentlicher Verkehr — wenn möglich mit besonders emissionsarmen Fahrzeugen — durchgeführt werden.

1.21

Der EWSA unterstützt nicht die in Artikel 9 eingeführte befristete Ausnahmeregelung in der vorgeschlagenen Fassung aufgrund der offensichtlichen Ungleichbehandlung der Hersteller. Nach Ansicht des EWSA darf die Vorschrift keine wettbewerbsverzerrenden Vorteile gewähren.

1.22

Der EWSA empfiehlt die Erarbeitung eines Modells, das bei der Berechnung der CO2-Emissionen alle Emissionen im Zusammenhang mit der Fahrzeugherstellung mit einbezieht. Es gilt, die CO2-Emissionen des gesamten Lebenszyklus der Fahrzeuge zu berücksichtigen.

1.23

Damit dieses Ziel erreicht werden kann, muss eine Debatte über Lebensstil lanciert werden, wie der Ausschuss in verschiedenen aktuellen Stellungnahmen gefordert hat. Es besteht im Allgemeinen Konsens darüber, dass es nicht möglich sein wird, das Ziel der Senkung der CO2-Emissionen um 20 % zu erreichen, wenn die aktuellen Wachstumsraten bei der Zahl privater Pkw, der Zunahme ihrer Größe und die Bevorzugung von Fahrzeugen im Güterkraftverkehr mit hohen Treibhausgas- und NOx-Emissionen andauern.

2.   Hintergrund des Vorschlags

2.1

Gemäß der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen, die mit Beschluss 94/69/EG des Rates vom 15. Dezember 1993 im Namen der Europäischen Gemeinschaft angenommen wurde, müssen alle Parteien Programme mit Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels aufstellen und durchführen.

2.2

Die Kommission griff diese Hinweise auf und entwickelte nach und nach eine Reihe von Legislativmaßnahmen, die es der EU im Januar 2007 ermöglichten, im Rahmen von internationalen Verhandlungen eine Senkung der Treibhausgasemissionen der Industrieländer um 30 % (gegenüber dem Stand von 1990) vorzuschlagen und die Treibhausgasemissionen bis 2020 um mindestens 20 % zu reduzieren. Diese Ziele wurden anschließend vom Rat und vom Europäischen Parlament gebilligt.

2.3

Bei der Prüfung der einzelnen Sektoren in Bezug auf die Gesamtemissionen wurde festgestellt, dass die EU ihre Treibhausgasemissionen im Zeitraum 1990-2004 zwar um etwa 5 % gesenkt hat, dass die CO2-Emissionen aus dem Straßenverkehr jedoch um 26 % zugenommen haben.

2.4

Deshalb stellt sich die Notwendigkeit spezifischer Rechtsvorschriften, damit der Automobilsektor sich wieder dem allgemeinen Trend der Senkung der Treibhausgasemissionen anschließt, wobei der Pkw-Sparte besondere Beachtung beigemessen ist. Die Situation ist hier kritisch, da 12 % der Gesamtemissionen von Kohlendioxid (CO2), das bekanntlich das wichtigste Treibhausgas darstellt, vom motorisierten Individualverkehr ausgeht.

2.5

Im Automobilsektor ist zum einen erheblicher technologischer Fortschritt zu verzeichnen, der im Zeitraum von 1995 bis 2004 eine Senkung der CO2-Emissionen um 12,4 % mittels erhöhter Kraftstoffeffizienz erlaubte. Zum anderen ist die Entwicklung durch den steigenden Transportbedarf und die zunehmende Nachfrage nach größeren Fahrzeugen gekennzeichnet, wodurch die positiven Entwicklungen nicht nur gänzlich aufgewogen, sondern vielmehr ein Anstieg der Gesamtemissionen von Treibhausgasen zu beobachten war.

2.6

Angesichts dieser Entwicklung und ohne besondere Gegenmaßnahmen ist es sehr unwahrscheinlich, dass das Gemeinschaftsziel der Senkung der durchschnittlichen CO2-Emissionen der Neuwagenflotte auf 120 g/km erreicht wird.

3.   Grundlegende Schritte der Kommissionsstrategie

3.1

Die Gemeinschaftsstrategie zur Minderung der CO2-Emissionen nimmt seit 1995 Gestalt an. Sie beruht auf drei Säulen:

Selbstverpflichtungen der Automobilindustrie zur Senkung der Emissionen;

bessere Informationen für die Verbraucher;

Förderung verbrauchsgünstigerer Kfz durch steuerliche Maßnahmen.

3.2

1998 hat sich der Verband europäischer Automobilhersteller (ACEA) verpflichtet, die durchschnittlichen CO2-Emissionen der verkauften Neuwagen bis 2008 auf 140 g/km zu senken. Anschließend gingen auch die Verbände der japanischen (JAMA) und der koreanischen (KAMA) Automobilhersteller eine gleichartige Verpflichtung zur Senkung der durchschnittlichen CO2-Emissionen verkaufter Neuwagen auf 140 g/km bis 2009 ein.

3.3

Die Kommission anerkannte die diesbezüglichen Verpflichtungen im Rahmen der Empfehlungen 1999/125/EG (bezüglich der freiwilligen Vereinbarung der ACEA; 2000/303/EG (bezüglich der freiwilligen Vereinbarung der KAMA) und 2000/304/EG (bezüglich der freiwilligen Vereinbarung der JAMA. Bezüglich der Überwachung der Emissionen wurde die Entscheidung Nr. 1753/2000/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Systems zur Überwachung der durchschnittlichen spezifischen CO2-Emissionen neuer Personenkraftwagen erlassen.

3.4

Am 7. Februar 2007 verabschiedete die Kommission zu diesem Thema zwei parallele Mitteilungen:

zum einen die Mitteilung über die Ergebnisse der Überprüfung der Strategie der Gemeinschaft zur Minderung der CO2-Emissionen von Personenkraftwagen und leichten Nutzfahrzeugen, KOM(2007) 19 endg. (Stellungnahme des EWSA: TEN/301, Berichterstatter, Herr RANOCCHIARI);

zum anderen die Mitteilung über ein wettbewerbsfähiges Kfz-Regelungssystem für das 21. Jahrhundert — CARS 21, KOM(2007) 22 endg. (Stellungnahme des EWSA: INT/351, Berichterstatter, Herr DAVOUST).

3.5

Darin werden die Fortschritte in Bezug auf die Vorgabe von 140 g CO2/km bis 2008/09 verdeutlicht, aber auch bekräftigt, dass das Gemeinschaftsziel von durchschnittlichen CO2-Emissionen der Neuwagenflotte von 120 g/km bis 2012 nicht ohne zusätzliche Maßnahmen erreicht werden kann.

3.6

In beiden Mitteilungen wurde vorgeschlagen, ein Gesamtkonzept mit zwei Schwerpunkten anzunehmen:

obligatorische Verringerungen der CO2-Emissionen, damit das Ziel von durchschnittlich 130 g/km für die Neuwagenflotte durch Verbesserungen bei der Motorentechnik erreicht wird;

eine weitere Verringerung um 10 g CO2/km, die durch ergänzende Maßnahmen in Form von anderen, in den Fahrzeugen einzubauenden technischen Vorrichtungen (wie z. B. Gangwechselanzeigen, Systeme zur Überwachung des Reifendrucks, Reifen mit geringem Rollwiderstand und hocheffiziente Klimaanlagen) sowie durch einen erhöhten Einsatz von Biokraftstoffen erreicht wird.

3.7

Die Kommission hob in diesen Mitteilungen hervor, dass das mittelfristige Ziel für die Neuwagenflotte folgenden Punkten gerecht werden müsse:

Wettbewerbsneutralität;

sozialverträgliche und nachhaltige Ziele;

Vermeidung jedweder ungerechtfertigten Verzerrung des Wettbewerbs unter den Automobilherstellern;

völlige Vereinbarkeit mit den Kyoto-Zielen.

3.8

Der vorgeschlagene und vom Rat „Wettbewerb“ und „Verkehr“ bestätigte Rechtsrahmen basiert auf der Zusicherung, dass alle Automobilhersteller ihr Engagement für die Herstellung umweltverträglicherer Kfz unter Wahrung höchster Kosteneffizienz verstärken.

3.9

Dies bedeutet, dass die Reduzierung der CO2-Emissionen im Rahmen eines integrierten Ansatzes zu erfolgen hat, der alle Akteure umfasst. Es wurde auf die Zweckmäßigkeit eines Legislativvorschlags hingewiesen, der den festgelegten Zielen bei Wahrung der weltweiten Wettbewerbsfähigkeit der Automobilindustrie gerecht wird.

4.   Der Kommissionsvorschlag

4.1

Ziel des betreffenden Verordnungsvorschlags (KOM(2007) 856 endg.) ist die Verringerung der CO2-Emissionen von Personenkraftwagen und leichten Nutzfahrzeugen und ihre Begrenzung auf 130 g/km bis 2012. Der Vorschlag gilt für Kraftfahrzeuge der Kategorie M1 gemäß Anhang II der Richtlinie 2007/46/EG und gemäß Artikel 2 Absatz 2 der Verordnung Nr. 715/2007 (EG) für Fahrzeuge, die erstmals in der Gemeinschaft zugelassen werden und nicht zuvor außerhalb des Unionsgebiets zugelassen worden waren.

4.2

Der Vorschlag ist Teil eines Gesamtkonzepts und wird durch Maßnahmen ergänzt, die eine weitere Verringerung des CO2-Ausstoßes um 10 g/km beiwirken sollen, durch die das in der Mitteilung KOM(2007) 19 endg. genannte Gemeinschaftsziel von 120 g/km verwirklicht werden soll.

4.3

Bei der Festlegung von Emissionsnormen werden folgende Aspekte berücksichtigt:

die Auswirkungen solcher Maßnahmen auf die Märkte und die Wettbewerbsfähigkeit der Hersteller;

Innovationsanreize;

Verringerung des Energieverbrauchs.

4.4

Die vorgeschlagene Verordnung zielt ferner darauf ab,

die Automobilindustrie zur Investition in neue Technologien anzuregen;

umweltfreundliche Technologien aktiv zu fördern;

die künftigen technologischen Entwicklungen abzusehen;

die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu stärken; und

bessere Arbeitsplätze zu schaffen.

4.5

Die Kommission ist der Auffassung, dass dieser Verordnungsvorschlag mit den anderen Zielen und Maßnahmen der Gemeinschaft im Einklang steht. Er wurde nach einer breit angelegten Anhörung und unter direkter Mitwirkung einer im Rahmen des europäischen Programms zur Bewältigung des Klimawandels eingesetzten Arbeitsgruppe (CARS 21) und der unmittelbaren Beteiligung aller betroffenen Seiten veröffentlicht.

4.6

Rechtsgrundlage. Artikel 95 EG-Vertrag ist nach Ansicht des EWSA die geeignete Rechtsgrundlage, denn es ist erforderlich, für alle Wirtschaftsakteure gleiche Bedingungen zu schaffen und gleichzeitig ein hohes Schutzniveau für Gesundheit und Umwelt sicherzustellen.

4.7

Subsidiaritätsprinzip und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Wenngleich der Bereich nicht unter die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt, entspricht der Vorschlag diesen Grundsätzen, da Handelshemmnissen auf dem Binnenmarkt vorgebeugt wird und Rechtsvorschriften auf Gemeinschaftsebene harmonisierte Maßnahmen zur Reduzierung der Klimaauswirkungen von Personenkraftwagen erleichtert werden.

4.8

Wahl des Rechtsinstruments. Das Instrument einer Verordnung ist laut der Kommission hier am besten geeignet, weil damit eine sofortige Einhaltung der anzunehmenden Vorschriften gewährleistet ist und Wettbewerbsverzerrungen, die den Binnenmarkt beeinträchtigen könnten, vermieden werden.

4.9

Überwachung. Die Daten über die — in einheitlicher Weise nach der in der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 vorgesehenen Methodik gemessenen — Kohlendioxidemissionen neuer Personenkraftwagen werden von den Mitgliedstaaten erhoben und anschließend gemäß dem in Artikel 6 vorgesehenen Verfahren an die Kommission übermittelt.

4.10

Übereinstimmungsbescheinigung. Gemäß der Richtlinie 2007/46/EG legt der Hersteller jedem neuen Personenkraftwagen eine Übereinstimmungsbescheinigung bei, und die Mitgliedstaaten gestatten die Zulassung und die Inbetriebnahme neuer Personenkraftwagen nur dann, wenn eine gültige Übereinstimmungsbescheinigung vorliegt, abgesehen von der Ausnahmeregelung gemäß Artikel 9 des Verordnungsvorschlags.

4.11

Abgabe wegen Emissionsüberschreitung. Artikel 7 des Verordnungsvorschlags sieht vor, dass ab 2012 vom Hersteller oder Poolmanager eine Abgabe wegen Emissionsüberschreitung erhoben wird, wenn die Emissionen die Zielvorgaben überschreiten. Diese Abgaben, die in den auf 2012 folgenden Kalenderjahren stark ansteigen werden, gelten als Einnahmen für den Haushalt der Europäischen Union.

5.   Der Strategievorschlag des Europäischen Parlaments

5.1

Das Europäische Parlament begrüßte in seiner Entschließung vom 24. Oktober 2007 die Strategie der Kommission, schlug jedoch vor, dass die Emissionsziele ab 2011 gültig sind, damit bis 2015 die CO2-Emissionen allein durch technische Verbesserungen an den Fahrzeugen auf 125 g/km gesenkt werden. Das Parlament bestand auf einer zweiten Phase mit längerfristigen Zielen: bis 2020 sollen die Emissionen auf 95 g/km gesenkt werden und — nach einer Überprüfung der Ergebnisse bis 2016 — soll bis 2025 der Zielwert 70 g/km erreicht werden.

6.   Die Bedeutung des Verbraucherverhaltens

6.1

Das Verbraucherverhalten ist für positive Ergebnisse bei der Senkung der CO2-Emissionen von Personenkraftwagen von erheblicher Bedeutung. Deshalb hat die Kommission die vorbereitenden Arbeiten für eine Änderung der Richtlinie 1999/94/EG über Verbraucherinformationen in Bezug auf die Übereinstimmung von Neufahrzeugen mit den Emissionszielen in Angriff genommen. Diese sind mit Kraftstoffeinsparungen verbunden und sollen den Beitrag der Verbraucher für das Erreichen der Emissionsziele stärken.

7.   Allgemeine Bemerkungen

7.1

Der EWSA bekräftigt seine bereits in früheren Stellungnahmen zu den von der Kommission vorgeschlagenen Legislativvorschlägen zwecks Senkung der CO2-Emissionen von Personenkraftwagen geäußerte Befürwortung jedweder Gemeinschaftsinitiativen, die konkrete Zielwerte bei der Reduzierung der Treibhausgasemissionen anstreben — einem zentralen Aspekt bei der Bekämpfung des Klimawandels.

7.2

Der EWSA ist mit den Zielen des Vorschlags einverstanden, wobei die im Folgenden vorgebrachten Bemerkungen berücksichtigt werden sollten. Er fordert den Rat und das Europäische Parlament auf, alle gegenwärtigen Rechtssetzungsverfahren, die den Klimawandel eindämmen können, rasch zum Abschluss zu bringen.

7.3

Der EWSA fordert die europäischen Institutionen auf, den Richtlinienvorschlag KOM(2005) 261 endg. über die Besteuerung von Personenkraftwagen rasch anzunehmen, der zu einem schnelleren Erreichen des Ziels beiträgt und die Hersteller zu größerem Engagement anregt. Außerdem sollen sich die Institutionen einsetzen für eine zügige Verbesserung der Richtlinie 1999/94/EG über die Bereitstellung von Verbraucherinformationen mittels spezifischer Kennzeichnungen der CO2-Emissionen sowie für die Koordinierung und das Vorschlagen von Initiativen für Werbung und Marketing im Automobilsektor, die Maßnahmen zur Förderung der sparsamsten Kraftfahrzeuge und das Werbeverbot für Fahrzeuge mit dem höchsten Schadstoffausstoß vorsehen.

7.4

Der EWSA befürwortet die Wahl von Artikel 95 als Rechtsgrundlage für diese Verordnung, da damit für alle Akteure gleiche Bedingungen geschaffen werden und gleichzeitig ein hohes Schutzniveau für Gesundheit und Umwelt gegeben ist.

7.5

Er begrüßt die Wahl des Rechtsinstruments einer Verordnung, da damit die unmittelbare Einhaltung der angenommenen Vorschriften gewährleistet werden kann und eventuelle Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden. Diese Wahl erscheint nach einer Phase der Selbstverpflichtungen der Automobilindustrie angezeigt, da diese zwar durchaus begrüßenswerte Ergebnisse in puncto verbesserten CO2-Emissionsverhaltens der Personenkraftwagen bewirkten, aber für das Erreichen der vereinbarten Zielwerte für unzureichend gehalten werden.

7.6

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, die CO2-Emissionen mittels Verbesserungen bei der Motorentechnik auf 130 g/km zu senken, wenngleich er bedauert, dass der ursprünglich für 2012 angestrebte niedrigere Zielwert von 120 g/km nicht mehr realisierbar scheint. Er anerkennt, dass die Kommission nun vorschlägt, das Emissionsziel von 120 g/km auf andere Art und Weise im Rahmen eines integrierten Ansatzes zu erreichen, der auch verbesserte Standards für Reifen, die Sensibilisierung der Verbraucher, Anreize für eine umweltschonende Fahrweise (1) und insbesondere eine stärkere Nutzung von Biokraftstoffen mit einschließt. Angesichts der wachsenden Zweifel an der Realisierbarkeit und Zweckdienlichkeit der Ziele für die Nutzung von Biokraftstoffen im Verkehr betrachtet der Ausschuss dies jedoch nicht als eine zufriedenstellende Alternative.

7.7

Der Ausschuss legt der Kommission deshalb nahe, jetzt weitergehende Ziele für die Automobilindustrie zur Verbesserung der CO2-Leistung der Fahrzeuge in den Folgejahren festzulegen. Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die Aufstellung einer Abfolge zunehmend strikterer Emissionswerte für die kommenden Jahre ein eindeutiges Signal bezüglich der dann gültigen Emissionsnormen geben würde und die europäische Industrie in die Lage versetzen dürfte, ihre Produktionsplanung entsprechend anzupassen.

7.8

Er erachtet das Erreichen dieses Ziels für einen wichtigen Beitrag des Automobilsektors bei der Bekämpfung der verkehrsbedingten Treibhausgasemissionen, zumal in diesem Zeitraum die CO2-Emissionen um 400 Mio. t gesenkt werden könnten.

7.9

Für die angestrebten ehrgeizigen Zielwerte und für die längerfristigen Ziele sind nach Auffassung des Ausschusses umfangreiche Mittel für Forschung und Entwicklung erforderlich. Damit sollen — neben einer direkten Beteiligung der Hersteller — die in den einzelnen Mitgliedstaaten, Universitäten und in allen Technologie-Exzellenzzentren der Branche laufenden Initiativen einbezogen und koordiniert werden.

7.9.1

Der EWSA weist die Kommission und die Mitgliedstaaten darauf hin, dass für kinderreiche Familien, die auf große Pkw angewiesen sind, Maßnahmen zur Einkommenssicherung, evtl. auch in Form steuerlicher Anreize, ergriffen werden müssen. Es sollten auch die osteuropäischen Märkte untersucht werden, da dort die Lebensdauer des Fahrzeugbestands sehr hoch ist und auch besonders umweltschädliche Fahrzeuge aus zweiter oder dritter Hand verkauft werden. Ferner gilt es, Möglichkeiten zur Förderung des Fahrzeugwechsels in diesen Ländern im Rahmen spezifischer Maßnahmen zu finden. Es liegt auf der Hand, dass in Ländern mit besonders niedrigem Pro-Kopf-Einkommen die Nutzeffekte einer allgemeinen Senkung der Emissionen ausbleiben werden, da dort Neufahrzeuge mit höherer Energieeffizienz, die aber höchstwahrscheinlich auch teurer sind, weniger gekauft werden.

7.10

Auch wenn die Ergebnisse für die nächsten Jahre wohl mithilfe derzeitiger Technologien erreicht werden können, so scheint es offensichtlich, dass in Zukunft an eine völlige technologische Neuausrichtung unter Einsatz hochmoderner Technologien gedacht werden muss.

7.11

Zu diesem Zweck kann nach Auffassung des Ausschusses ein erhöhter Grad an Mobilisierung des gesamten Bereichs der Wissenschaft durch die Einrichtung einer gemeinsamen Technologieinitiative (GTI) auf der Grundlage einer Kofinanzierung aus entsprechenden Finanzmitteln der EU, die durch einen analogen Beitrag der Privatunternehmen ergänzt wird, erreicht werden, so wie dies unlängst für wichtige Sektoren wie die Wasserstoff und Brennstoffzellen, Luft- und Raumfahrt und Luftverkehr, innovative Arzneimittel, Informationssysteme und Nanoelektronik vorgeschlagen wurde.

7.12

Der EWSA begrüßt die Politik der Erhebung von Abgaben wegen Nichterreichen der Zielvorgaben ab 2012 gemäß Artikel 7 des zu prüfenden Verordnungsvorschlags und seine abschreckende Wirkung, ist aber der Überzeugung, dass diese Mittel für Maßnahmen im Interesse der Automobilindustrie zur Verfügung gestellt werden sollten, wie beispielsweise:

Stärkung aller Initiativen im Bereich Forschung und Entwicklung;

Investitionen im Bereich der Berufsausbildung;

Finanzierung von Maßnahmen, um Besitzer umweltbelastender Altfahrzeuge zum Fahrzeugwechsel zu bewegen;

Durchführung von Informationskampagnen zur Sensibilisierung der Verbraucher, damit sie den Aspekt der Schadstoffemissionen bei Kaufentscheidungen berücksichtigen;

Förderung des öffentlichen Nahverkehrs.

7.13

Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Abgaben und ihre starke Progression den Fähigkeiten der europäischen Industrie, ihre Produktionskette auf die neuen Zielvorgaben anzupassen, nicht angemessen sind. Die Sanktionen, die sich mit großer Sicherheit auf die Endpreise auswirken werden, erscheinen besonders hoch, könnten den Wettbewerb verzerren und bewirken eine Benachteiligung der Branche gegenüber anderen Branchen. Es muss eine Lösung zum Ausgleich für diese Belastungen gefunden werden, die sich an den von den anderen Produktionsbranchen bei der Einschränkung der CO2-Emissionen im Schnitt getragenen Kosten orientieren.

7.14

Der EWSA schlägt der Kommission vor, die Aufgabe des gegenwärtigen Systems für die Festlegung der Emissionsziele in Abhängigkeit der Masse der Fahrzeuge zugunsten alternativer Parameter zu erwägen, wie z.B. die Fahrzeugstandfläche (errechnet als Produkt aus Spurweite und Radstand).

7.15

An der Steigung der linearen Kurve („Steigung in %“) orientieren sich die Lastenverteilung auf die Hersteller und die Umweltwirkungen. Je mehr sich diese Steigung dem Wert 100 nähert, desto geringer ist die Belastung, die Hersteller von Fahrzeugen mit großer Masse zu tragen haben. Umgekehrt ist bei einer Steigung in der Nähe von Null der Einsatz zum Erreichen des Emissionsziels besonders groß (eine Steigung von 80 % gestattet zusätzliche Emissionen von 6 g, eine Steigung von 20 % ermöglicht zusätzliche Emissionen von lediglich 1,5 g). Die Kommission hat eine Steigung von 60 % (4,6 g zusätzlich erlaubter Emissionen) angegeben. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, diesen Vorschlag noch einmal zu überdenken, um tunlichst auszuschließen, dass eine Verordnung erlassen wird, die irgendein europäisches Unternehmen bevorzugen oder benachteiligen könnte.

7.16

Sollte die Kommission den gegenwärtigen Ansatz, der sich an der Masse orientiert, beibehalten, dann hätte es wenig Sinn, die Steigung vor 2010 zu überprüfen, und die Zunahme der Masse müsste ab 2013 berücksichtigt werden.

7.17

Der EWSA fordert die Kommission auf, rasch neue Rechtsvorschriften vorzubereiten, mit denen die CO2-Emissionen leichter Nutzfahrzeuge, Lastkraftwagen und Krafträder gesenkt werden können. Für diese Fahrzeuge sind zuverlässige und überprüfte Daten über die tatsächlichen Emissionen erforderlich.

7.18

Der EWSA legt der Kommission nahe, neben den unerlässlichen Aspekten des Umweltschutzes auch die Auswirkungen angemessen zu berücksichtigen, die dieser komplexe Prozess für die Lage von 13 Mio. Arbeitnehmern haben kann, die gegenwärtig in der gesamten Produktionskette der Automobilindustrie beschäftigt sind. Die europäischen Kfz-Hersteller hätten, wenn sie effizientere Fahrzeuge herstellen würden, aufgrund der steigenden Kraftstoffpreise und dem zunehmenden Willen seitens der Verbraucher, Kraftstoffkosten einzusparen, einen Wettbewerbsvorteil, der auch der Beschäftigung in der EU zugute kommen könnte.

7.19

Nach Dafürhalten des EWSA müssen geeignete und praktische Fördermaßnahmen für die Forschung im Bereich neuer, innovativer und effizienter Technik ergriffen werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Automobilindustrie sowie qualifizierte Arbeitsplätze zu erhalten und, wenn möglich, zu fördern.

7.20

Nach Auffassung des Ausschusses ist es ein wichtiger Bestandteil dieses Prozesses, dass die Emissionsgrenzwerte für alle in Europa verkauften, einschließlich der in Drittstaaten produzierten, Fahrzeuge voll und ganz gültig sind. Diese Grenzwerte werden auf der Grundlage der Einfuhren berechnet.

7.21

Der EWSA ist der Ansicht, dass die für das 2010 vorgesehene Berichterstattung über die bis dahin erzielten Fortschritte einen wichtigen Faktor für die Überprüfung der Gesamtstrategie darstellt. Er fordert deshalb, an solchen periodischen Überprüfungen beteiligt zu werden und somit die Möglichkeit zur Stellungnahme zu haben.

7.22

Die Folgenabschätzung ist nach Auffassung des Ausschusses nicht tiefgängig genug angelegt. Der Ausschuss für Folgenabschätzung hat selbst angesichts der Bedeutung der Problematik empfohlen, einige zentrale Punkte eingehender zu untersuchen.

7.23

Im Dokument SEK(2007) 1725 wird gefordert, die Auswirkungen auf die Flottenzusammensetzung und deren möglichen Folgen für das Erreichen der Zielwerte zu klären, mögliche Abweichungen von den Ergebnissen des TREMOVE (2)-Modells und der Ex-ante-Untersuchung zu erläutern; eine Sensitivitätsanalyse bestimmter Variablen wie Treibstoffpreis und autonomer Gewichtszunahme durchzuführen und eine Abschätzung der Folgen auf regionaler Ebene durchzuführen, insbesondere mit Blick auf die Beschäftigung. Schließlich wird eine weitere Bewertung der Folgen für die Automobilzulieferer und die internationale Wettbewerbsfähigkeit empfohlen. Der EWSA stimmt diesen Empfehlungen zu und hofft, dass die Folgenabschätzung vertieft und vervollständigt wird.

7.24

Der EWSA betont, dass die geplanten Maßnahmen durch eine verstärkte Politik der Dämpfung der Straßenverkehrsnachfrage flankiert werden müssen mittels Verlagerung immer größerer Anteile des Straßenverkehrs auf Verkehrsarten mit geringeren Treibhausgasemissionen wie Schiene, Binnenschifffahrt, kollektiver Verkehr usw.

7.25

Der EWSA unterstützt nicht die in Artikel 9 eingeführte befristete Ausnahmeregelung. Im derzeitigen Wortlaut widerspricht sie der Gleichbehandlung der Unternehmen und schafft de facto eine Wettbewerbsverzerrung in diesem spezifischen Marktsegment ähnlicher Produkte mit ähnlichen Eigenschaften. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Ausnahmeregelung allen Herstellern, die Wettbewerber im gleichen Marktsegment sind (unbeschadet der Frage, ob sie mit anderen Herstellern verbunden sind oder nicht), gewährt werden muss. Im Übrigen macht dieses Marktsegment nur 0,2 % aus.

7.26

Der EWSA legt der Kommission nahe, gemäß den Anregungen des Europäischen Parlaments langfristige Ziele festzulegen: ab 2020 müssen mutigere Lösungen anvisiert werden, wobei ihrer Erreichbarkeit besondere Beachtung beigemessen ist. Die Emissionen müssen unbedingt weiter gesenkt werden und es muss eindeutig signalisiert werden, dass dieser Weg fortgesetzt wird.

7.27

Der EWSA empfiehlt die Erarbeitung eines Modells, das bei der Berechnung der CO2-Emissionen alle Emissionen im Zusammenhang mit der Fahrzeugherstellung mit einbezieht. In einigen Ländern z.B. haben viele Komponenten einen langen Lieferweg, wodurch die Emissionen pro hergestelltem Fahrzeug vor der Zulassung steigen. Es gilt, die CO2-Emissionen des gesamten Lebenszyklus der Fahrzeuge einschließlich Entsorgung zu berücksichtigen.

7.28

Der EWSA hat die Kommission in verschiedenen aktuellen Stellungnahmen aufgefordert, eine Debatte über den Lebensstil zu lancieren. Er teilt die vorgeschlagenen Ziele, weist aber gleichwohl darauf hin, dass es nicht möglich sein wird, das Ziel der Senkung der CO2-Emissionen um 20 % — wie in den jüngsten Kommissionsvorschlägen vorgesehen — zu erreichen, wenn die aktuellen Wachstumsraten bei der Zahl privater Pkw und der Fahrzeuge im Güterkraftverkehr und anderer Verkehrsträger mit hohen Treibhausgas- und NOx-Emissionen andauern und sich die Vorhersagen der Kommission für den Verkehrszuwachs bewahrheiten.

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 44 vom 16.2.2008, Berichterstatter: Herr RANOCCHIARI.

(2)  TREMOVE ist ein Modell zur Untersuchung und Bewertung der Kosteneffizienz technischer und nichttechnischer Maßnahmen, die das Ziel haben, die Emissionen des gesamten Verkehrssektors zu senken und die Luftqualität in folgenden 21 Ländern zu verbessern: EU-15, Schweiz, Norwegen, Tschechische Republik, Ungarn, Polen und Slowenien (die vier neuen Länder wurden auf der Grundlage der Verfügbarkeit der Daten ausgewählt).


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Sicherheit von Spielzeug“

KOM(2008) 9 endg. — 2008/0018 (COD)

(2009/C 77/02)

Der Europäische Rat beschloss am 17. März 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Sicherheit von Spielzeug“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am … an. Berichterstatter war Herr PEGADO LIZ.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 18. September) mit 49 gegen 1 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission, die Richtlinie „Sicherheit von Spielzeug“ zu überarbeiten, die nur den Fehler hat, dass sie sehr spät kommt und nicht ehrgeizig genug ist.

1.2

Der EWSA stellt fest, dass die Folgenabschätzung, auf die sich der Vorschlag stützt, aus dem Jahr 2004 stammt und nicht die Gesamtheit der Mitgliedstaaten berücksichtigt, die gegenwärtig zur Europäischen Union gehören.

1.3

In Anbetracht der zunehmenden Zahl von Warnmeldungen zu Spielzeug, die aus dem letzten Bericht RAPEX (2007) hervorging, ist der EWSA darüber erstaunt, dass jene Folgenabschätzung nicht nur in Bezug auf die Relation zwischen der geltenden Richtlinie und Unfällen von Kindern mit Spielzeug, sondern mehr noch bezüglich der eingeräumten Unkenntnis der Auswirkungen des gegenwärtigen Vorschlags auf die Anzahl und die Schwere von Unfällen mit Spielzeug in der Zukunft keine Konsequenzen zieht — dies aber hätte das zentrale Anliegen und die Rechtfertigung für den vorliegenden Vorschlag sein müssen.

1.4

Die Kommission räumt ein, dass zuverlässige und vertrauenswürdige statistische Daten über Unfälle mit Spielzeug in der Europäischen Union gänzlich fehlen oder diese Daten mit Mängeln behaftet sind; deshalb empfiehlt der EWSA der Kommission, für solche Unfälle in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten ein geeignetes statistisches Informationssystem zu schaffen, das zumindest demjenigen entspricht, das bereits in einigen Rechtsordnungen vorhanden ist und das — als Vorbeugemaßnahme gegen Unfälle — allen Akteuren in der Liefer- und Vertriebskette offen steht (1).

1.5

Der EWSA ist der Ansicht, dass als Rechtsgrundlage für den Vorschlag nicht nur Artikel 95 EGV, sondern vor allem auch Artikel 153 zugrunde gelegt werden muss, da das zentrale Interesse des Vorschlags dem wirksamen Schutz der Kinder gelten muss, der wichtiger ist als die bloße Erleichterung des grenzüberschreitenden Spielzeughandels.

1.6

Angesichts des Geltungsbereichs und der Art des neuen Vorschlags sowie der Erfahrungen mit der Umsetzung der derzeit geltenden Richtlinie in den verschiedenen Mitgliedstaaten dürfte, sofern man eine vollständige Harmonisierung anstrebt, das angemessenere Rechtsinstrument dafür eher die Verordnung als die Richtlinie sein.

1.7

Der EWSA begrüßt die unter technisch-juristischen Aspekten kohärente und gut strukturierte Form des Vorschlags und ist im Großen und Ganzen mit den innovativen Maßnahmen einverstanden, vor allem was die folgenden Punkte betrifft:

Erweiterung der Begriffsbestimmung von „Spielzeug“ und Einführung des Konzepts der vorhersehbaren Verwendung des Produkts unter Berücksichtigung des Verhaltens von Kindern;

Verstärkte Marktüberwachung in den Mitgliedstaaten;

Aufstellung geeigneter Regeln für die Gefahrenprävention und die Informationen zur Spielzeugsicherheit — Warnungen und Sicherheitshinweise.

1.8

Der EWSA bedauert allerdings, dass einige außerordentlich wichtige Aspekte zu wenig oder gar nicht berücksichtigt wurden, wie z.B.

a)

eine unmissverständliche Option für das Vorsorgeprinzip;

b)

konsequentere Ausbildung und Aufklärung der für die Beaufsichtigung von mit Spielzeug spielenden Kindern zuständigen Personen;

c)

Konkretisierung bestimmter Begriffe, die zu ungenau und unbestimmt sind wie etwa der Begriff „Spielzeug“ oder Umfang des Begriffs „Schaden“;

d)

keine Gleichstellung der Importeure und Bevollmächtigten mit den Herstellern und bei Schadenersatzforderungen Haftungsausschluss für die Akteure in der Liefer- und Vertriebskette für Spielzeug;

e)

keine Anpassung der Konformitätsbewertungsverfahren an die Wesensmerkmale der KMU.

1.9

Der Ausschuss ersucht die Kommission nachdrücklich, ihren Vorschlag im Sinne der vorliegenden Stellungnahme zu überarbeiten, um ihn zu einem glaubwürdigeren Instrument für einen effektiven Schutz der Kinder bei der Benutzung von Spielzeug zu machen.

1.10

Der EWSA appelliert an das EP und den Rat, die hier vorgelegten Anregungen und Empfehlungen aufzugreifen und sie sich in dem Rechtsetzungsverfahren zur Annahme der neuen Richtlinie zu eigen zu machen.

2.   Einleitung: Zusammenfassung des Vorschlags

2.1

In den 70er Jahren gab die EU-Kommission zum ersten Mal ihre Absicht bekannt, mit Rechtsvorschriften in den Bereich „Sicherheit von Spielzeug“ einzugreifen; verschiedene Vorschläge wurden nacheinander wegen fehlender politischer Einstimmigkeit wieder zurückgezogen, bis schließlich als Konsequenz zur Entschließung des Rates vom 23. Juni 1986 zum Schutz und zur Förderung der Interessen der Verbraucher (2) in einem neuen Vorschlag der Kommission, der mehr Zustimmung fand, die Notwendigkeit einer stärkeren Harmonisierung folgender Elemente auf europäischer Ebene postuliert wurde: der Begriffsbestimmung von „Spielzeug“, der Normen für die Herstellung, der wichtigsten Sicherheits- und Handelsbestimmungen und der Gewährleistung der Ungefährlichkeit bei der Benutzung durch Kinder.

2.2

Die am 3. Mai 1988 vorgelegte Richtlinie 88/378/EG (3) war eine der ersten Rechtsinitiativen im Rahmen der „neuen Konzeption“ für die technische Harmonisierung und Normung auf der Grundlage der Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 (4).

2.3

Zu dem entsprechenden Richtlinienvorschlag (5) gab der EWSA damals eine obligatorische Stellungnahme ab, in der er das Vorhaben begrüßte, aber „die langen Verzögerungen bei seiner Ausarbeitung“ bedauerte. Ausgehend von der Voraussetzung, „dass alle Spielsachen sicher sein müssen und dass Kinder aufgrund ihres Alters und ihrer Unerfahrenheit bei Gefahr Verletzungen ausgesetzt sind und Anspruch auf besonderen Schutz haben müssen“ betonte der Ausschuss, dass die Frage der Sicherheit von Spielzeug „im Rahmen der allgemein anwendbaren Richtlinie über Produkthaftung“ behandelt werden müsse (6).

2.4

Inzwischen war die Richtlinie Gegenstand verschiedener Korrekturen (7), einer wichtigen Änderung durch Richtlinie 93/68/EWG vom 22. Juli 1993 (8) und einer Mitteilung der Kommission zu ihrer Anwendung (9).

2.5

In den Jahren 1992 und 2001 wurden zwei Richtlinien zur allgemeinen Produktsicherheit angenommen und veröffentlicht, die in allgemeiner Form auch für die Sicherheit von Spielzeug gelten (10); in der zweiten Richtlinie wird besonders betont, dass die erstere „[…] verschiedener Änderungen mit dem Ziel [bedarf], einige ihrer Bestimmungen aufgrund der im Vertrag, insbesondere in Artikel 152 betreffend die öffentliche Gesundheit und in Artikel 153 betreffend den Verbraucherschutz, vorgenommenen Änderungen und anhand des Vorsorgeprinzips zu vervollständigen“.

2.6

20 Jahre nach der Veröffentlichung der Richtlinie von 1988 schlägt die Kommission eine neue Richtlinie zu diesem Thema vor, mit der sie der Feststellung Rechnung trägt, dass die geltenden Vorschriften nicht mehr aktuell sind, ihr Geltungsbereich und die verwendeten Begriffe neu und klarer abgesteckt und an die neuen Umstände angepasst werden müssen; ferner sei die Übereinstimmung ihrer Bestimmungen mit den kurz zuvor vorgeschlagenen allgemeinen Maßnahmen, die im gemeinsamen Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten vorgesehen sind (11), sicherzustellen; vor allem aber seien bei der Umsetzung und Durchsetzung der Spielzeugrichtlinie in den einzelnen Mitgliedstaaten schwerwiegende Mängel und voneinander abweichende Anwendungen zutage getreten, die behoben werden müssten.

2.7

Der hier erörterte Vorschlag beruht auf drei wichtigen technischen Untersuchungen, die als wesentlicher Bestandteil des Vorschlags zu betrachten sind; zwei beziehen sich auf die Anforderungen an mutmaßlich gefährliche chemische Stoffe und deren Verwendung bei der Herstellung von Spielzeug; bei der dritten handelt es sich um die Folgenabschätzung aus dem Jahr 2004.

2.8

Mit dem vorliegenden Vorschlag verfolgt die Kommission folgende Ziele:

A)

Höhere Sicherheitsanforderungen für Spielzeug, insbesondere bezüglich der

a)

Verwendung chemischer Stoffe;

b)

Gefahrenhinweise für Verbraucher und Nutzer;

c)

Gefahr der Atemnot und der Erstickungsgefahr;

d)

Kombination von Spielzeug mit Lebensmitteln;

e)

Festlegung der allgemeinen Sicherheitsanforderungen;

B)

Wirksamere und kohärentere Durchsetzung der Richtlinie, insbesondere durch

a)

Verstärkung der Marktüberwachung durch die Mitgliedstaaten;

b)

Informationen über die Chemikalien im technischen Dossier;

c)

Anbringung des CE-Kennzeichens;

d)

Sicherheitsbewertung;

C)

Angleichung an den allgemeinen Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten

D)

Klarstellung des Geltungsbereichs und der Begriffe der Richtlinie

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission, der allerdings vorzuwerfen ist, dass sie spät kommt, denn die zu ändernde Richtlinie ist über 20 Jahre alt; inzwischen haben sich die Herstellungs- und Vermarktungsparameter und -verfahren bei Spielzeug tiefgreifend geändert, ebenso die Vorlieben und Gewohnheiten der natürlichen Zielgruppen. Der EWSA ist im Übrigen der Ansicht, dass mit dem vorliegenden Vorschlag ehrgeizigere Ziele verfolgt werden könnten, etwa indem in seinen Erwägungsgründen die Sorgen über die jüngst in den Medien genannten Ereignisse zur Sprache kämen, die im übrigen nicht nur in den eindringlichen Reden und Stellungnahmen der für Verbraucherschutz zuständigen Kommissarin zum Ausdruck kamen, sondern auch in der Entschließung des Europäischen Parlaments vom September 2007, die der EWSA inhaltlich teilt (12). Deshalb bedauert er es, dass der Diskussion mit dem EWSA nicht auch die GD SANCO beiwohnte, die wohl nicht unmittelbar an der Ausarbeitung des Vorschlags beteiligt war.

3.2

Es erstaunt den EWSA, dass die Folgenabschätzung, auf die sich der vorliegende Vorschlag stützt, bereits mehr als vier Jahre alt ist und somit nicht die Lage in sämtlichen Mitgliedstaaten berücksichtigt. Hinzu kommt, dass nicht klar ist, inwieweit die Vertreter der Verbraucher und Familien bei ihrer Erstellung mitgewirkt haben und konsultiert wurden und inwieweit sie effektiv Einfluss nehmen konnten.

3.3

Angesichts der Bemerkungen der Kommission über die Mängel bei der Umsetzung der geltenden Richtlinie wundert sich der EWSA, dass die Kommission nicht erwähnt, welche Initiativen sie ergriffen hat, um für die korrekte Durchführung dieses Rechtsakts der Gemeinschaft zu sorgen.

3.4

Dem EWSA fällt es schwer, zu verstehen, wie die Kommission trotz des von ihr eingeräumten Fehlens statistischer Daten bzw. deren Mangelhaftigkeit angemessene Schlüsse über die Realität, die sie beeinflussen will, oder über die Effizienz der vorgeschlagenen Maßnahmen ziehen kann. Bekanntlich ist der Spielzeugmarkt in Europa mit geschätzten 17,3 Mrd. EUR Umsatz zu Einzelhandelspreisen von 2002 und mit einem Einfuhrvolumen von mehr als 9 Mrd. EUR ein blühender Sektor, den sich ca. 2 000 Unternehmen teilen, in der Mehrzahl kleine und mittlere Unternehmen, die unmittelbar mehr als 100 000 Arbeitnehmer beschäftigen (13).

3.5

Der EWSA ist der Ansicht, dass wegen der Art des vorliegenden Vorschlags nicht nur Artikel 95, sondern auf jeden Fall auch Artikel 153 als Rechtsgrundlage herangezogen werden muss, da der Vorschlag nicht ausschließlich auf die Verwirklichung des Binnenmarktes ausgerichtet ist, sondern sich in erster Linie auf besonders schutzbedürftige Verbraucher bezieht, die auf keinen Fall als „Durchschnittsverbraucher“ angesehen werden können.

3.6

Im Übrigen sollte der Umstand, dass die Kinder „indirekte“ Verbraucher sind, da nicht sie das Spielzeug kaufen, sondern ihre Eltern oder andere Erwachsene, die Kommission veranlassen, in den Bestimmungen des vorgeschlagenen Rechtsakts gründlicher auf die notwendige Unterrichtung und Aufklärung dieser Verbraucherkategorie einzugehen.

3.7

Der EWSA hat Verständnis für die Option der Kommission zugunsten einer vollständigen Harmonisierung und vertritt in Fällen wie diesem mit Nachdruck seine Überzeugung, dass mit der Verwendung des Instruments „Verordnung“ viel mehr gewonnen ist als mit einer „Richtlinie“. Denn damit würde deutlich mehr Rechtssicherheit erzielt, und es ließen sich schleppende, fehlerhafte oder voneinander abweichende Umsetzungen vermeiden, die nach Aussage der Kommission bei der geltenden Richtlinie (14) vorgekommen waren.

3.8

Berücksichtigt man die Art des Sachverhalts, die kontinuierliche Entwicklung des „Stands der Technik“, die Möglichkeit von Pannen wie etwa in den Fällen Mattel und Fisher Price, die beunruhigende Zunahme der Warnmeldungen über Spielzeug, die aus dem letzten Jahresbericht RAPEX (2007) ersichtlich ist, und die Tatsache, dass die Spielzeugbranche somit der Sektor mit den meisten Meldungen (31 %) (15) ist, dann wäre zu erwarten, dass im vorliegenden Vorschlag alle Lehren aus den Geschehnissen gezogen worden wären, vor allem aus dem Scheitern der Überwachung nach dem Inverkehrbringen, und dass eine leichter durchführbare Richtlinie entstanden wäre, die zu einem sicheren Markt für Spielzeug führen könnte. Das heißt, dass im Zweifelsfall alles verboten würde, von dem zwar ohne ausreichende Sicherheit, aber mit einer gewissen Berechtigung zu vermuten ist, dass es für die Verwendung in Spielzeug für Kinder, deren unvorhersehbares Verhalten berücksichtigt werden muss, auch nur geringfügig gefährlich sein kann. Dies alles ist jedoch nicht der Fall.

3.9

Was die CE-Kennzeichnung betrifft, beschränkt sich der EWSA darauf, daran zu erinnern und hier wiederzugeben, was er in seiner früheren Stellungnahme zu dem gemeinsamen Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten gesagt hat, nämlich „dass der Verlust des Vertrauens in die CE-Kennzeichnung einen Vertrauensverlust des gesamten Systems bedeutet und auch Marktüberwachungsbehörden, Hersteller, Prüflabors und Zertifizierungsstellen betrifft und schließlich auch die Angemessenheit der gesamten auf dem neuen Konzept beruhenden Rechtsvorschriften in Zweifel zieht“  (16).

Deshalb fordert der EWSA die Kommission auf, den endgültigen Wortlaut des vorliegenden Vorschlags mit dem Text der Vorschläge für den vorgenannten gemeinsamen Rahmen in Einklang zu bringen (17).

3.10

Der EWSA macht sich die Empfehlung des EP völlig zu eigen, dass ein europäisches Sicherheitskennzeichen für Spielzeug geschaffen und von unabhängigen Einrichtungen vergeben werden müsse, und er bedauert, dass der Vorschlag der Kommission der Gesamtheit der Empfehlungen aus der EP-Entschließung vom September 2007 nicht ausreichend Rechnung getragen hat. Der EWSA teilt die Sorgen der KMU, nicht in dem Sinne, dass das von ihnen hergestellte und vermarktete Spielzeug einen geringeren Sicherheitsgrad aufweisen soll, sondern, wie bereits in der vorgenannten Stellungnahme angesprochen, bezüglich der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel für die Konformitätsbescheinigungen, insbesondere bei nicht in Serie bzw. in begrenzter Stückzahl hergestellten Produkten (18).

3.11

Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass im Rahmen dessen, was für verantwortliche Hersteller verhältnismäßig, ausgewogen und machbar sowie für die Kontrollbehörden durchsetzbar ist, alle ordnungsgemäß als gefährlich eingestuften Stoffe bei der Herstellung von Spielzeug vollständig verboten werden müssen.

3.12

Der EWSA begrüßt die kürzliche Entscheidung der Kommission zu Spielzeug mit Magneten, ist allerdings verwundert, dass diese Frage im vorliegenden Richtlinienvorschlag nicht einmal berührt wird und die Reaktion der Kommission angesichts des hohen Risikos und der Schwere der bereits bekannt gewordenen Unfälle mit dieser Art von Spielzeug nicht energisch genug ist; sie appelliert ja lediglich an die Mitgliedstaaten, nach eigenem Gutdünken einen „Warnhinweis“ anzubringen.

3.13

Bezüglich der Sanktionen ist der EWSA der Auffassung, dass eine präzisere Begriffsbestimmung zu deren Umfang und Art erforderlich ist, nach dem Vorbild dessen, was die Kommission bereits in anderen Bereichen geleistet hat, in denen die Schädlichkeit der zu beanstandenden Verhaltensweisen unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten erheblich geringer ist.

3.14

Allgemein bedauert der EWSA, dass die Gelegenheit nicht genutzt wird, den Schutz der europäischen Kinder wenigstens so zu gestalten wie in einigen EU-Mitgliedstaaten und anderswo, wo sogar auf Initiative der Spielzeughersteller selbst bestimmte Arten von Spielzeug einfach verboten werden, wie aus der jüngsten Studie im Auftrag des EP hervorgeht (19).

3.15

Schließlich appelliert der EWSA an die Kommission, auf die Bedenken der Gesellschaft im Zusammenhang mit der Herstellung von Spielzeug — vor allem in Drittstaaten — sensibel einzugehen, wo sogar Kleinkinder zu ihrer Herstellung herangezogen werden, und zwar unter nicht zu tolerierenden Bedingungen, was die Arbeitszeiten und Arbeitsplätze wie auch den täglichen Kontakt mit toxischen und hochgradig gefährlichen Stoffen angeht; sie muss einen eindeutigen Standpunkt zu Gunsten von „ökologisch und ethisch verantwortbarem“ Spielzeug beziehen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Artikel 1 und Anhang I — Liste von Produkten, die nicht als Spielzeug gelten

Der EWSA erkennt den Willen der Kommission an, den Begriff „Spielzeug“ in der Weise zu aktualisieren, dass er sich auch auf alle Erzeugnisse anwenden lässt, die nicht ausschließlich zu Spielzwecken konzipiert wurden.

Der EWSA weist indessen darauf hin, dass die derzeitige Definition von Spielzeug für die beabsichtigten Ziele unzureichend ist, da sie einerseits nicht die notwendige Anpassung an die Entwicklung der technischen Möglichkeiten gestattet, andererseits aber auch eine Liste von Produkten umfasst, die seines Erachtens zu Unrecht nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie aufgenommen werden, u.a. Dekorationen für festliche Anlässe und Feierlichkeiten, Modeschmuck, Spielzeug mit spitz zulaufenden Wurfgeschossen, Produkte, die für didaktische Zwecke in Schulen oder in anderen pädagogischen Zusammenhängen konzipiert sind sowie Sportgeräte.

In der Praxis wird bei der Festlegung von besonderen Schutzregelungen für die Verbraucher bestimmter Produkte von der Art der Verbraucher ausgegangen, vor allem von ihrem Gefährdungsgrad. Verbraucher unterscheiden nicht zwischen den einzelnen Zwecken eines Gegenstands, der ihnen angeboten wird — häufig werden auch Produkte, die eigentlich für Erwachsene bestimmt sind, als Kinderspielzeug betrachtet, sei es von den Kindern selbst, von ihren Eltern oder den Händlern, die sie als Spielzeug aufführen und verkaufen. Deshalb versteht der Ausschuss nicht, warum etwa Spielzeug, das zu didaktischen Zwecken in Schulen verwendet wird, nicht unter die Richtlinie fallen soll, zumal bezüglich der Natur der Verbraucher keinerlei Unterschied besteht.

Der EWSA hält es für nötig, dass sämtliche Geräte und Produkte, die für Kinder unter 14 Jahren zugänglich sein und potenziell als Spielzeug benutzt werden können, gemäß dem Vorsorgeprinzip unter die Schutzbestimmungen dieser Richtlinie fallen.

Deshalb fordert der EWSA die Kommission auf, die Begriffsbestimmung in Artikel 1 und die vorgelegte Liste zu überarbeiten und beide miteinander in Einklang zu bringen.

4.2   Artikel 2 bis 5

Der EWSA lehnt die Unterscheidung zwischen Herstellern und Importeuren ganz und gar ab, zumal die Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über allgemeine Produktsicherheit den Importeur mit dem Hersteller gleichsetzt, falls kein Vertreter des Herstellers in der Gemeinschaft ansässig ist. Durch die Unterscheidung im Vorschlag wird nicht nur das Recht der Verbraucher auf Schadenersatz beseitigt (da nämlich die Zuständigkeit dafür einzig und allein beim Hersteller läge), sondern widerspricht auch den Gemeinschaftsvorschriften, was den Grundsatz der Rechtssicherheit infrage stellen würde.

Nach Ansicht des EWSA sind also für die Zwecke dieser Richtlinie die Vertreter/Bevollmächtigten und die Importeure (sofern keine offiziellen Vertreter der Hersteller erreichbar sind) als Hersteller anzusehen, auch wenn sie den Produktionsprozess nicht beeinflussen — im Gegensatz zu dem Vorschlag, der jene nur dann mit diesen gleichsetzt, wenn sie Spielzeug unter ihrem eigenen Namen oder eigener Marke in Verkehr bringen oder Spielzeug verändern.

Der EWSA lehnt bezüglich der Haftung eine Unterscheidung zwischen Bevollmächtigten und Herstellern ab. Denn er befürchtet, dass dadurch die Rechte der Verbraucher, insbesondere das Recht auf Schadenersatz, untergraben würden, wenn etwa lediglich ein Bevollmächtigter in einem Mitgliedstaat niedergelassen ist.

Ganz allgemein plädiert der EWSA für die Beibehaltung der Bestimmungen der geltenden Richtlinie, nach denen sämtliche Akteure der Liefer- und Vertriebskette gemeinsam für die Sicherheit des Spielzeugs verantwortlich sind.

Die Begriffsbestimmung für „Schaden“ muss nach Ansicht des EWSA auch langfristige Folgen umfassen, die sich unmittelbar aus den festgestellten Unfällen ergeben.

4.3   Artikel 9

Der EWSA begrüßt die Änderung in Absatz 2, wonach für die Einschätzung der Gefahr auch der vorhersehbare Gebrauch des Spielzeugs unter Berücksichtigung des Verhaltens von Kindern zugrunde gelegt wird (wenngleich Erwägungsgrund 16 auch eine gegenteilige Auslegung zulässt).

Allerdings ist der EWSA der Auffassung, dass es den Herstellern obliegt, nicht bestimmungsgemäße, aber von Kindern gewählte mögliche Verwendungen ihrer Produkte vorherzusehen. Im Übrigen passt das Kriterium Vorhersehbarkeit nicht mit den Erwägungsgründen zusammen, wenn dort festgestellt wird, dass bei der Entwicklung von Spielzeug das oftmals unvorhersehbare Verhalten von Kindern zu berücksichtigen sei.

Der EWSA widerspricht dem Wortlaut von Absatz 3, denn damit wird nicht nur eine unwiderlegbare Vermutung aufgestellt, sondern es werden auch vage und unbestimmte Kriterien wie „Vorhersehbarkeit“ und „Normalität“ zugrunde gelegt, was letztlich den Hersteller von der Pflicht entbinden würde, sich — solange seine Produkte vermarktet werden —, auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse über die betreffende Spielzeugkategorie zu halten, was aus der Beibehaltung der allgemeinen Bestimmungen zur Produktsicherheit folgt (20).

Die Vermeidung von Fehlern am Produkt endet nicht mit seinem Inverkehrbringen. Der Hersteller oder ggf. sein Vertreter vor Ort muss das Spielzeug ständig begleitend beobachten und überwachen, damit er Fehler entdecken kann, die bei ihrem Inverkehrbringen weder bekannt noch erkennbar waren, und die aus Verschleiß, Materialermüdung oder vorzeitiger Alterung des Spielzeugs herrühren können.

4.4   Artikel 10

Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, zu fordern, dass an den Verkaufsstellen sichtbare, klar lesbare und zutreffende Warnhinweise angebracht werden, um eine effektive und frühzeitige Kenntnisnahme durch die Käufer zu gewährleisten. Dasselbe muss natürlich nicht nur für die Verpackung, sondern auch für die Produkte selbst gelten.

Doch ist der EWSA der Auffassung, dass die an den Verkaufsstellen angebrachten Hinweise nicht nur die Angaben des Mindest- und Höchstalters der Benutzer, sondern bei der Benutzung bestimmter Spielgeräte auch über das geeignete Gewicht der Minderjährigen sowie ggf. Hinweise darauf enthalten müssen, dass ein Produkt nur unter Aufsicht von Erwachsenen benutzt werden darf.

Ferner betont der EWSA, dass die Warnhinweise nutzergerecht formuliert werden müssen, wobei der hohe Gefährdungsgrad von Kindern zu berücksichtigen ist.

Der EWSA erneuert seinen Appell, Informationsmaßnahmen für Eltern und Kinderbetreuer zu fördern, um sie für die besonderen Vorsichtsregeln und Risiken zu sensibilisieren, die bei der Benutzung von Spielzeug zu beachten sind. Die Tatsache, dass die Sicherheit der Kinder letzten Endes in den Händen der Eltern, Betreuer, Erzieher, Lehrkräfte u.ä. liegt, darf aber nicht zum Vorwand genommen werden, die Haftung der Hersteller, Importeure und Einzelhändler für die Gesamtsicherheit des Spielzeugs einzuschränken.

Da die Warnhinweise häufig in einer anderen Sprache als derjenigen des Verkaufslandes geschrieben sind, vertritt der EWSA den Standpunkt, dass die in Absatz 3 genannten Warnungen und Sicherheitshinweise in der Amtssprache des Mitgliedstaates, in der das Spielzeug verkauft wird, geschrieben sein müssen anstatt bloß können, wie es im Absatz heißt.

4.5   Artikel 12 und 26

Zwar räumt der EWSA ein, dass die Regelung der Konformitätsvermutung beibehalten werden muss, aber sie stände mit dem „Stand der Technik“ besser in Einklang, wenn für den Fall eines Schadens die Umkehr der Beweispflicht eingeführt würde.

4.6   Artikel 17

Der EWSA macht auf die Absicht der Kommission aufmerksam, den Herstellern eine Analyse des gesamten Gefahrenpotenzials von Spielzeug vorzuschreiben, anstatt zuzulassen, dass lediglich die mit der Benutzung zusammenhängenden Risiken untersucht werden. Er ist jedoch der Ansicht, dass eine solche Analyse während der gesamten Lebensdauer von Spielzeug durchzuführen ist, unabhängig davon, ob Schadensfälle vorkommen, um Fälle wie beim Hersteller Mattel zu vermeiden.

4.7   Artikel 18

Der EWSA ist der Ansicht, dass für sämtliche Spielzeugkategorien Konformitätsbescheinigungen gelten müssen, und nicht nur für die unter Absatz 3 aufgeführten Fälle, um einheitliche Kriterien zu gewährleisten und ein europäisches Sicherheitskennzeichen zu schaffen, wie es vom EP vorgeschlagen wurde (21).

Da der Spielzeugsektor ein Bereich ist, in dem es an konkreten, spezifischen Informationen bzw. präzisen Statistiken über Unfälle bei der Benutzung der Produkte fehlt, weist der EWSA die Kommission auf die Notwendigkeit hin, in ihrem vorliegenden Vorschlag das Vorsorgeprinzip in derselben Form wie im Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit vom Januar 2000 umzusetzen (22).

4.8   Anhang II — Besondere Sicherheitsanforderungen

Teil I — Physikalische und mechanische Eigenschaften

Der EWSA hält es für angebracht, dass in Ziffer 4 Absatz 3 der Geltungsbereich auf Kinder von unter 60 Monaten ausgeweitet wird, da bei Kindern bis zu dieser Altersgrenze die Gefahr besteht, dass sie Spielzeug ohne die gebotene Vorsicht benutzen und in den Mund nehmen, selbst wenn dies vom Hersteller bei der Konzipierung des Spielzeugs nicht vorgesehen war.

Andererseits ist der EWSA der Meinung, dass folgende Punkte nicht berücksichtigt wurden:

Verpackung der Produkte, vor allem, wenn Spielzeug in Plastiktüten verpackt wird;

die Möglichkeit, dass sich Bestandteile des Spielzeugs lösen und von Kindern verschluckt werden können;

Merkmale von Spielzeug, wenn es zerbricht.

Teil III — Chemische Eigenschaften

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagenen Änderungen, weist aber darauf hin, dass bezüglich der chemischen Eigenschaften unbedingt das Vorsorgeprinzip eingeführt werden muss, zumal Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation gezeigt haben, dass der Kontakt von Kindern mit solchen Stoffen Ursache für chronische Erkrankungen sein kann, die auch nach dem dritten Lebensjahr anhalten können.

Deshalb hält es der Ausschuss für erforderlich, sämtliche KEF-Stoffe — einschließlich die der Kategorie 3 und vorausgesetzt, dass sie ordnungsgemäß als gefährlich eingestuft wurden — zu verbieten, und zwar nicht nur bei der Entwicklung des Spielzeugs, sondern auch seiner Bestandteile; dies steht übrigens in Einklang mit der Kosmetikrichtlinie. Ferner warnt der EWSA die Kommission vor allzu großer Liberalität bezüglich der gestatteten „Migration“, aber auch der fruchtschädigenden Stoffe, die die normale Entwicklung von Kindern hemmen.

Was die Verwendung allergener Stoffe angeht, empfiehlt der EWSA der Kommission ein Verbot der Verwendung sämtlicher Duftstoffe und sensibilisierender Stoffe, da sie nicht nur allergene Stoffe enthalten können — die an erster Stelle zu verbieten sind —, sondern auch andere Stoffe, die unmittelbare Auswirkungen auf das Immunsystem von Kindern haben.

Mit Rücksicht auf die Durchführbarkeit und die Struktur der Spielzeugindustrie, die mehrheitlich aus KMU besteht, sowie auf die beträchtlichen Änderungen durch diese Richtlinie, vor allem bezüglich der chemischen Eigenschaften, plädiert der EWSA für eine fünfjährige Übergangsperiode.

Der EWSA unterstreicht schließlich die Notwendigkeit, den vorliegenden Vorschlag mit der Verordnung zur Lebensmittelsicherheit in Einklang zu bringen, insbesondere bezüglich der in Spielzeug für Kinder unter 36 Monaten verwendeten Stoffe. So fordert er die Kommission auf, nur solche Stoffe bei der Entwicklung von Spielzeug zuzulassen, die auch für den direkten Kontakt mit Lebensmitteln zugelassen sind.

Teil IV — Elektrische Eigenschaften

Der EWSA ist der Auffassung, dass der vorliegende Anhang besondere Vorschriften für Produkte enthalten sollte, für die Batterien benötigt werden — insbesondere quecksilberhaltige Batterien.

4.9   Anhang V — Gefahrenhinweise

Nach Ansicht des EWSA müssen für Kinder mit geistigen oder körperlichen Behinderungen besondere Hinweise entsprechend ihren besonderen Umständen vorhanden sein, um Eltern oder Betreuer vorweg über die Risiken im Zusammenhang mit der Benutzung des Spielzeugs zu informieren.

Bezüglich Spielzeug in Lebensmitteln hält der EWSA gut leserliche und unlösbar angebrachte besondere Hinweise darauf für erforderlich, dass das Lebensmittel ein Spielzeug enthält; die Hinweise müssen unabhängig von der Verpackungsform gut sichtbar sein.

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  National Electronic Injury Surveillance System (NEISS) von der Consumer Product Safety Commission (CPSC) in den USA.

(2)  ABl. C 167 vom 5.7.1986, S. 1.

(3)  ABl. L 187 vom 16.7.1988, S. 1. Stellungnahme des EWSA: ABl. C 232 vom 31.8.1987, S. 22.

(4)  ABl. C 136 vom 4.6.1985, S. 1.

(5)  KOM(1986) 541 endg. (ABl. C 282 vom 8.1.1986, S. 4).

(6)  Stellungnahme des EWSA CES 639/87, Berichterstatterin war Frau Alma WILLIAMS (ABl. C 232 vom 31.8.1987, S. 22).

(7)  ABl. L 281 vom 14.10.1988, S. 55; ABl. L 37 vom 9.2.1991, S. 42.

(8)  ABl. L 220 vom 30.8.1993, S. 1. Stellungnahme des EWSA: ABl. C 14 vom 20.1.1992, S. 15 und ABl. C 129 vom 10.5.1993, S. 3.

(9)  ABl. C 297 vom 9.12.2003, S. 18.

(10)  Richtlinie 92/59/EWG vom 29. Juni 1992 (ABl. L 228 vom 11.8.1992, S. 24 — Stellungnahme EWSA: ABl. C 75 vom 26.3.1990, S. 1) und Richtlinie 2001/95/EG vom 3. Dezember 2001 (ABl. L 11 vom 15.1.2002, S. 4); zu dem entsprechenden Richtlinienvorschlag KOM(2000) 139 endg. legte der EWSA seine Stellungnahme CES 1008/2000 vom 20. September 2000 vor; Berichterstatterin war Frau Alma WILLIAMS (ABl. C 367 vom 20.12.2000 S. 34). Bereits früher hatte Frau WILLIAMS eine Initiativstellungnahme zum selben Thema vorgelegt, die vom EWSA am 8. Dezember 1999 verabschiedet wurde (CES 1131/1999 — ABl. C 51 vom 23.2.2000, S. 67).

(11)  Paket von Vorschlägen KOM(2007) 36, 37 und 53 endg. vom 14.2.2007, Gegenstand der Stellungnahme INT/352/353/354 des EWSA (CESE 1693/2007 vom 13.12.2007); Berichterstatter war Herr PEZZINI.

(12)  Rede von Kommissionsmitglied Frau KUNEVA vom 12. September 2007 vor dem EP; ihre Wortbeiträge in den Sitzungen mit dem geschäftsführenden Vize-Präsidenten von Mattel International am 20. September 2007, mit einer Delegation von Spielzeugherstellern, u. a. Hornby, Lego und Mattel, am 9. April 2008, und in einer Pressekonferenz am 22. November 2007; siehe auch die Entschließung des Europäischen Parlaments P6-TA (2007) 0412 vom 26. September 2007.

(13)  Daten aus der Website der Kommission.

(14)  Richtlinie 88/378/EWG des Rates vom 3. Mai 1988 (ABl. L 187 vom 16.7.1988, S. 1). Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im Gegensatz zum vorliegenden Vorschlag in ihrem Vorschlag betreffend kosmetische Mittel [KOM(2008) 49 endg./2] vom 14.4.2008 durchaus und mit Recht die Absicht verfolgt, das Instrument „Richtlinie“ gegen dasjenige der „Verordnung“ auszuwechseln. Ergänzend sei gesagt, dass die im neuen Reformvertrag vorgenommene Änderung am Protokoll zur Subsidiarität, durch welche die „Präferenz“ für die Richtlinie gestrichen wurde, ein weiteres Argument zugunsten einer solchen Lösung für die Zukunft ist.

(15)  Laut RAPEX-Bericht wurden allein im Sommer 2007 mehr als 18 Mio. Spielzeuge zurückgezogen, weil sie Magnete enthielten, und ca. 2 Mio., weil sie bleihaltige Farben aufwiesen.

(16)  Stellungnahme CESE 1693/2007 vom 13. Dezember 2007 des Berichterstatters PEZZINI (INT/352/353/354), Ziffer 5.2.11; in Ziffer 5.2.12 heißt es weiter:

„Der Status und die Bedeutung der CE-Kennzeichnung laut Beschluss 93/465/EWG lassen sich am besten dadurch heben, dass eine umfassende Reform der Kennzeichnung angestrebt wird, die folgende Punkte berücksichtigt:

Verdeutlichung, dass es nicht als System zur Kennzeichnung oder zur Etikettierung für den Verbrauchauch nicht als Garantie für Qualität, Zertifizierung oder Anerkennung durch Dritteanzusehen und zu verwenden ist, sondern ausschließlich als Konformitätserklärung und technische Dokumentation, die Hersteller oder Importeure in voller Eigenverantwortung und in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Produkts gegenüber den Behörden und Verbrauchern erbringen müssen;

Rationalisierung der verschiedenen Konformitätsbewertungsverfahren;

Stärkung des Rechtsschutzes der CE-Kennzeichnung mittels Registrierung als Kollektivmarke. Dies soll es den Behörden im Missbrauchsfalle ermöglichen, rasch einzugreifen und Abhilfe zu schaffen, aber die Möglichkeit zusätzlicher einzelstaatlichen Kennzeichnungen beibehalten;

Stärkung der Marktüberwachungsmechanismen und der Zollkontrollen an den Grenzen.

Start einer Untersuchung seitens der Hersteller und Verbraucher bezüglich der positiven und negativen Auswirkungen eines eventuellen freiwilligen Verhaltenskodex auf die Wirksamkeit der Vielfalt an Qualitätssiegeln sowie europäischen und nationalenfakultativen und obligatorischenKennzeichnungen und ihrer Beziehung zur CE-Kennzeichnung.“

(17)  KOM(2007) 36, 37 und 53 endg. vom 14.2.2007.

(18)  Stellungnahme CESE 1693/2007, Ziffer 5.2.7.1 und 5.2.9. Vgl. auch die Stellungnahmen des EWSA zu den politischen Maßnahmen für die KMU (INT/390 — Berichterstatter: Herr CAPELLINI) und zu den kosmetischen Mitteln (INT/424 — Berichterstatter: Herr KRAWCZYK).

(19)  „Study on Safety and Liability Issues Relating to Toys“ (PE 393.523); Frank Alleweldt — Projektleiter; Anna Fielder — federführende Verfasserin; Geraint Howells — Jurist; Senda Kara, Kristen Schubert und Stephen Locke.

(20)  Siehe hierzu das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 29. Mai 2007 (Rechtssache C-300/97. Sammlung der Rechtsprechung 1997 Seite I-02649).

(21)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19.9.2007 zur Sicherheit von Spielzeug [P6-TA (2007) 0412 vom 26.9.2007.

(22)  KOM(1999) 719 endg. vom 12.1.2000.


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/15


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: „Ein Binnenmarkt für das Europa des 21. Jahrhunderts“

KOM(2007) 724 endg.

(2009/C 77/03)

Die Europäische Kommission beschloss am 20. November 2007, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: „Ein Binnenmarkt für das Europa des 21. Jahrhunderts“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 15. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr CASSIDY, Mitberichterstatter waren Herr HENCKS und Herr CAPPELLINI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 18. September) mit 51 gegen 2 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung — Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA betont die Wichtigkeit der Lissabon-Strategie, denn durch sie können die Vorteile des Binnenmarktes gewahrt, weiterentwickelt und gefestigt werden.

1.2

Ein gut funktionierender, wettbewerbsfähiger und innovationsfreundlicher Binnenmarkt ist von herausragender Bedeutung, denn er hilft Europa, den größtmöglichen Nutzen aus der Globalisierung zu ziehen und dabei seine sozialen Standards zu wahren. Der EWSA bringt in diesem Zusammenhang seine Sorge angesichts der jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs hinsichtlich der Entsendung von Arbeitnehmern zum Ausdruck, deren Folgen für den gemeinschaftlichen Besitzstand im Bereich der Sozialpolitik er gerade analysiert (1).

1.3

Damit sich der Binnenmarkt weiterentwickelt, kommt es nach Auffassung des EWSA darauf an, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung und Innovation zu fördern und kommerziell zu verwerten. Nationale Technologiezulieferer müssen bei der Propagierung innovativer Produkte und Technologien auf europäischer Ebene Beistand erhalten, und in gleicher Weise müssen Forschungsergebnisse verbreitet und grenzübergreifend genutzt werden. Der Binnenmarkt ist ein wesentliches Instrument zur Umsetzung der Lissabon-Agenda. Er soll den Verbrauchern, dem Wirtschaftswachstum und der Beschäftigung nützen, indem durch ihn Barrieren für die Freizügigkeit von Personen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital Zug um Zug ausgeräumt werden, auch wenn viele bestehen bleiben. Der Nutzen einer engeren Integration ist unbestritten.

1.4

Das von der Kommission vorgelegte Paket zur Überprüfung des Binnenmarkts ist ein guter Ausgangspunkt, um dem Binnenmarkt neue Impulse zu verleihen. Sein Erfolg wird jedoch weitgehend von der Fähigkeit und dem Ehrgeiz der einzelstaatlichen Regierungen und Sozialpartner abhängen, ihren Verpflichtungen nachzukommen und die notwendigen Ressourcen bereitzustellen, damit die Absichtsbekundungen Realität werden.

1.5

Die ordnungsgemäße und einheitliche Durchsetzung der bestehenden Rechtsvorschriften und Normen ist eine der wichtigsten Aufgaben. Folgenabschätzungen, die Reduzierung des Verwaltungsaufwands und der Kosten, die durch die Beachtung der aus der fiskalpolitischen Zersplitterung des Binnenmarktes resultierenden Rechtsvorschriften entstehen, sowie die bessere Konsultation der Sozialpartner und der betroffenen Interessenträger, vor allem der KMU, sind entscheidend nicht nur für ein besseres Verständnis der Regulierungsziele, sondern auch für die Ermittlung von Lösungen ohne regulierende Eingriffe.

1.6

Kleine und mittelständische Unternehmen leisten einen grundlegenden Beitrag zum guten Funktionieren des Binnenmarktes. Die KMU spielen in ihren verschiedenen Formen eine besonders wichtige Rolle im Dienstleistungssektor und sind entscheidend für die sozialen Kompromisse, die die EU-Wirtschaft stützen. Im Small Business Act und in der KMU-Charta wird die Bedeutung der KMU für die politischen Prozesse und die Institutionen der EU und der Mitgliedstaaten anerkannt. Nach Auffassung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses sollte jedoch der Rolle der KMU in der Politikumsetzung, insbesondere im Hinblick auf ihren Beitrag zur Erreichung wirtschafts-, umwelt- und sozialpolitischer Ziele, größere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

1.7

Der EWSA betont, dass der Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung ein wichtiges Instrument der Solidarität ist, das Arbeitnehmern, die aufgrund von Veränderungen im Welthandelsgefüge ihren Arbeitsplatz verloren haben, spezielle Hilfe bei der Arbeitssuche leisten soll. Der Ausschuss begrüßt, dass dieses Instrument für Beschäftigte von KMU zugänglich ist, bedauert jedoch, dass Selbstständige, die von den gleichen Veränderungen betroffen sind, kein Anrecht darauf haben.

1.8

Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, ausreichende Ressourcen verfügbar zu machen, um eine bessere Durchsetzung der Binnenmarktbestimmungen zu gewährleisten. Ferner sollten Initiativen ausgearbeitet werden, um Synergien zwischen der Binnenmarktpolitik, der Wettbewerbspolitik und der Sozial- und Umweltpolitik herzustellen, die für einen effizienten Binnenmarkt ausschlaggebend sind.

1.9

Die Kommission und die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass neue Regulierungsinitiativen, die zum guten Funktionieren des Binnenmarkts beitragen sollen, sowohl der Wirkung auf die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen als auch den sozialen und ökologischen Folgen Rechnung tragen. Im Sinne der Kohärenz und der Rechtssicherheit für Unternehmen und Verbraucher und damit neue Initiativen einander nicht widersprechen, sollte es für neue Vorschläge sowohl von Seiten der EU als auch von der nationalen Ebene eine „Binnenmarkt-Verträglichkeitsprüfung“ (2) geben und sollte deren soziale und ökologische Wirkung beurteilt werden.

1.10

Bürgern und Unternehmen ist ein einfacher, erschwinglicher Zugang zur Justiz sicherzustellen, einschließlich adäquater Mittel für Rechtshilfe und Streitbeilegungsverfahren. In dieser Hinsicht sollte die Entwicklung von Instrumenten der außergerichtlichen Streitschlichtung verbessert werden.

1.11

Der EWSA kann dem Ziel der Mitteilung vom 20. November 2007 über die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (DAI) nur zustimmen. Darin heißt es, dass die „Kommission weiterhin an der Konsolidierung des EU-Rahmens für Dienste von allgemeinem Interesse einschließlich Leistungen im sozialen Bereich und in der Gesundheitsfürsorge arbeiten und gegebenenfalls konkrete Lösungen für konkrete Probleme anbieten“ wird. Weiterhin „[plant die Kommission] eine Mischung aus sektorspezifischen und problembezogenen Maßnahmen“.

1.12

Im Primärrecht der EU bzw. den Verträgen wird anerkannt, dass die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) grundsätzlich Teil der „gemeinsamen Werte“ der EU sind und zu ihrem „sozialen und territorialen Zusammenhalt“ beitragen. Es ist unumgänglich, ein sektorspezifisches Vorgehen (unter Berücksichtigung der Besonderheiten jedes Wirtschaftszweiges) und die bereichsübergreifende Problematik miteinander zu verbinden.

1.13

Mit der Aufnahme der Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Dienstleistungen in das Primärrecht und angesichts der Notwendigkeit, gemeinsamen Grundsätzen für das Funktionieren der DAWI Geltung zu verschaffen, zeigt das Protokoll über die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, dass eine Klärung der einschlägigen Begriffe und Regelungen notwendiger denn je ist, damit sie nicht länger auf einen rein von Fall zu Fall reichenden gesetzgeberischen oder verwaltungsrechtlichen Ansatz angewiesen sind.

1.14

Trotz wiederholter Aufforderung von Seiten des Europäischen Parlaments, das eine wirkliche Rechtssicherheit für den Bereich Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse (SDAI) angemahnt hatte, beschränken sich die Vorschläge in der Mitteilung über DAI auf eine Reihe von Antworten „auf häufig gestellte Fragen“, die zwar hilfreich sind, aber keine rechtlich bindende Wirkung haben.

1.15

Infolgedessen schlägt der EWSA eine mehrgleisige, progressive Konzeption vor, in der sektorielle und thematische Ansatzpunkte miteinander verbunden werden. Dies sollte zur Verabschiedung von Rechtsakten da, wo sie nötig sind, und/oder zur Anpassung dieser Grundsätze und Bedingungen an die verschiedenen betroffenen Branchen führen (horizontaler Ansatz mit sektorspezifischer Ausrichtung).

2.   Wesentlicher Inhalt der Kommissionsmitteilungen

2.1

Das Maßnahmenpaket der Kommission, das hier einer Prüfung unterzogen wird, ist ein Bündel von Initiativen, das aus fünf Arbeitspapieren und zwei Mitteilungen zum Themenkreis Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und zur sozialen Dimension des Binnenmarkts besteht (3).

2.2

Der EWSA hat sich zu all diesen Themen in Stellungnahmen geäußert (4). In jüngster Zeit hat er eine Initiativstellungnahme zur externen Dimension des Binnenmarktes verabschiedet und erarbeitet derzeit eine Initiativstellungnahme, in der er sich mit dessen sozialen und umweltpolitischen Aspekten beschäftigt (5).

3.   Allgemeine Bemerkungen — Effizientere Durchsetzung

3.1

Der Ausschuss begrüßt, dass in der Mitteilung KOM(2007) 724 endg. die Stärkung der Verbraucher und der KMU in den Mittelpunkt gestellt wird, damit sie besser vom Binnenmarkt profitieren können und ihre Erwartungen und Anliegen besser berücksichtigt werden. Es ist daher zu begrüßen, dass die Binnenmarktpolitik ganz besonders auf Bereiche gerichtet ist, die den Verbraucher betreffen, wie etwa Energie, Telekommunikation, finanzielle Dienstleistungen für Privatkunden sowie Groß- und Einzelhandel.

3.2

Künftig wird der Erfolg der Binnenmarktpolitik davon abhängen, inwieweit es den Mitgliedstaaten und der Kommission gelingt, ihre Anstrengungen zu bündeln, um ein besseres Funktionieren des Binnenmarktes zu erzielen. Der Binnenmarkt ist ein Projekt mit offenem Ende, für das alle eine gemeinsame Verantwortung tragen. Die Mitgliedstaaten müssen sich stärker zu seinen Gunsten engagieren. Oftmals gelingt es den nationalen Behörden nicht, ihrer Verantwortung in Bezug auf die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts nachzukommen. Die Folge davon sind neue Hemmnisse, die das Vertrauen, das der Binnenmarkt wecken müsste, untergraben. Die große Bedeutung der Sozialpartner für die Förderung des Binnenmarktes muss besser anerkannt werden.

3.2.1

Die Kommission beabsichtigt, stärker auf die ordnungsgemäße Durchsetzung des Binnenmarkts zu achten. Es müssen Instrumente geschaffen werden, die in der Praxis die bessere Wirkungsentfaltung der Rechtsbestimmungen gewährleisten. Die fristgerechte und ordnungsgemäße Übertragung des Gemeinschaftsrechts und die verwaltungstechnische Vereinfachung sind zentrale Voraussetzungen einer besseren Rechtsdurchsetzung. Besonders wichtig ist die richtige Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie, wenn die Beschäftigungs- und Wachstumsziele erreicht werden sollen.

3.3

Ein Schwerpunkt muss es weiterhin sein, einfache und schnelle Lösungen für Probleme zu finden, auf die Bürger und Unternehmen im Binnenmarkt stoßen. SOLVIT ist ein besonders hilfreiches Instrument, das bedauerlicherweise nicht in dem wünschenswerten Umfang genutzt wird, da über das System und seinen Nutzen zu wenig bekannt ist und keine adäquaten Ressourcen dafür bereitstehen, insbesondere auf nationaler Ebene. Sämtliche Initiativen zur Verbesserung dieser Situation — darunter Maßnahmen, die die ausreichende personelle und finanzielle Ausstattung der SOLVIT-Zentren gewährleisten — sind sehr zu empfehlen, ebenso wie Schritte zur Erweiterung ihres Aktionsradius.

3.4

Der EWSA unterstützt das Anliegen der Kommission, Verfahren gegen Gemeinschaftsrechtsverstöße schlanker und rascher zu gestalten, indem diejenigen Fälle Priorität erhalten, die die größte Bedrohung für den Binnenmarkt bilden und von großer wirtschaftlicher Bedeutung sind, ohne die Wirksamkeit bestehender Abschreckungsmittel zu beeinträchtigen.

3.5

Die Marktüberwachung lokal erzeugter und importierter Produkte ist ein Bereich, in dem es noch einen großen Nachholbedarf gibt. Hier sind die Behörden der Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission in der Pflicht.

3.6

Nach Auffassung des Ausschusses müsste die Kommission stärker darauf achten, dass die KMU mehr Beistand erhalten, indem sie die KMU-Politik mit den sozialen und umweltpolitischen Zielen der Europäischen Union verknüpft. Letztendlich sollten alle nationalen nichttarifären Handelshemmnisse — darunter auch Hemmnisse der Freizügigkeit von Kapital und Arbeitnehmern — ausgeräumt werden (6).

3.7

Allgemein ist und bleibt es wichtig, dass die Kommission auch weiterhin ihre zentrale Funktion als Hüterin der Verträge wahrnimmt und von ihrem Initiativrecht Gebrauch macht, um für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes zu sorgen.

3.8

Der EWSA befürwortet fortgesetzte Anstrengungen, um die sich aus der fiskalpolitischen Fragmentierung des Binnenmarktes ergebenden Kosten weiter zu senken, indem Gemeinschaftsregelungen gefördert werden, die die Entwicklung grenzübergreifender Tätigkeiten unterstützen und einer Festigung des Binnenmarktes dienen.

4.   Bessere Rechtsetzung

4.1

Der EWSA begrüßt die Zielsetzung, bei der Politikgestaltung auf eine stärkere Einbeziehung der Interessenlagen und die breitere Beteiligung interessierter Kreise zu achten. Der systematischen Folgenabschätzung kommt eine herausragende Bedeutung zu.

4.2

Die Konsultation maßgeblicher Interessenträger bei der Vorbereitung der Folgenabschätzungen ist sehr wichtig. Folgenabschätzungen sollten von einem unabhängigen und externen Sachverständigengremium geprüft werden, dem auch Vertreter derjenigen angehören, die die Rechtsvorschriften letztlich anwenden.

4.3

Außerdem muss die Verringerung der Verwaltungslast für Unternehmen ohne Schmälerung sozialer Belange gewährleistet werden.

4.4

Damit Kohärenz und Rechtssicherheit für Bürger und Unternehmen gewährleistet sind und neue Initiativen nicht neue Barrieren erzeugen, sollten neue Vorhaben auf einzelstaatlicher und auf EU-Ebene einem „Test auf Binnenmarktverträglichkeit“ unterzogen werden, der auch eine Bewertung der sozialen und ökologischen Folgen umfasst (7). Unklare Rechtstexte, die nicht selten unterschiedlich umgesetzt und ausgelegt werden, sorgen für Widersprüche im Gemeinschaftsrecht.

4.5

Eine Verbesserung der Informations- und Datenlage über die praktische Umsetzung der Binnenmarktregeln ist von herausragender Bedeutung. Die Kommission sollte Mitgliedstaaten, die sich als „Binnenmarktsünder“ hervortun, offener benennen und die Arbeit der einzelstaatlichen Sozialpartner durch eine kohärentere, durchsichtigere länderweise Berichterstattung unterstützen.

5.   Die externe Dimension des Binnenmarktes (8)

5.1

Der EWSA ist einer Meinung mit der Kommission, dass die Globalisierung „in hervorragender Weise Dynamik und Veränderung“ auslöst und die Wettbewerbsfähigkeit fördert und der Binnenmarkt ein Trumpf ist, der genutzt werden muss, um den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen.

5.2

Die Handelsliberalisierung wird völlig zutreffend als die tragende Säule der Strategie der Union in diesem Bereich herausgearbeitet. Ein ehrgeiziger Abschluss der Doha-Runde und die Beendigung der im Rahmen von „Global Europe“ eingeleiteten Verhandlungen über ein umfassendes Freihandelsabkommen werden das Maß für den Erfolg Europas sein.

5.3

Fragen der Regulierung und der technischen Normen werden zunehmend zu Faktoren, die darüber entscheiden, ob sich Unternehmen international behaupten können. Die europäischen Normungsgremien, wie CEN, CENELEC und ETSI, sollten in Zusammenarbeit mit beratenden Organisationen, wie NORMAPME (9), dafür sorgen, dass alle Unternehmen, insbesondere auch kleine und mittelständische, in der gesamten EU und in den Entwicklungsländern Zugang zu diesen Standards haben.

5.4

Zu Recht betont die Kommission die herausragende Bedeutung des internationalen Ansatzes für eine bessere Zusammenarbeit bei der Rechtsetzung, die Gleichwertigkeit von Regeln und die Normenkonvergenz. Das langfristige Ziel sollte sein: „Eine Prüfung, eine Norm, überall anerkannt“.

5.5

Die Rechtsbestimmungen der EU dürfen die Wettbewerbsfähigkeit nicht beeinträchtigen. Zu hohe Lasten für EU-Unternehmen lassen sich nicht durch die internationale Anerkennung von EU-Normen ausgleichen. Die Zusammenarbeit mit Partnerländern in Regulierungsfragen wird keinen Erfolg haben, wenn keine Atmosphäre der Offenheit und Innovation gegenüber anderen Sichtweisen herrscht.

5.6

Der EWSA sieht die Zusage als positiv an, dass ein Leistungsvergleich zwischen den EU-Bestimmungen und den im internationalen Umfeld üblichen bewährten Praktiken, insbesondere bei den Haupthandelspartnern der EU, durchgeführt werden soll. Dieser Leistungsvergleich sollte systematisch in den Folgenabschätzungen der EU enthalten sein, und die EU sollte für die Zusammenarbeit mit bedeutenden Handelspartnern in Regulierungsfragen offen sein. Amtlich anerkannte internationale Standards für die Konformitätsbewertung sollten von der EU übernommen werden.

5.7

Es gilt, EU-Initiativen zu unterstützen, mit denen eine globale Führungsrolle bei der Schaffung eines Rechtsumfelds und der Erarbeitung hoher, wissenschaftlich fundierter internationaler Standards für Industrie- und Lebensmittelerzeugnisse erreicht wird. Gemeinsame Standards sollen von gemeinsamen Regulierungszielen begleitet sein. Aus diesem Grund würde es der Ausschuss begrüßen, wenn bilaterale Abkommen und Netzwerke internationaler Regulierungsorgane stärker in den Vordergrund gestellt würden.

5.8

Die Europäische Union sollte auch weiterhin für den Freihandel eintreten, zugleich aber im angemessenen Umfang Marktüberwachung betreiben, damit unsichere Produkte nicht eingeführt werden können. Freilich muss die Kommission dabei darauf achten, dass solche Maßnahmen und neu auftretende private Normensysteme keinen Vorwand für Protektionismus bieten (10).

6.   Die soziale Dimension des Binnenmarktes

6.1

Der Ausschuss unterstützt die Sicht, dass eine soziale Dimension das Funktionieren des Binnenmarkts im Sinne der Strategie für Wachstum und Beschäftigung und durch den starken Akzent, den sie auf eine gesunde KMU-Wirtschaft setzt, verbessern würde.

6.2

Da die Arbeitsmarktintegration der beste Schutz vor sozialer Ausgrenzung ist, muss an zentraler Stelle des Plans der Kommission für „Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität“ darüber nachgedacht werden, wie das Potenzial der europäischen Arbeitnehmer in einem gesellschaftlichen Umfeld, das durch einen raschen Wandel gekennzeichnet ist, am besten genutzt werden kann. Die Kommission muss zusammen mit den Sozialpartnern dafür Sorge tragen, dass dies insbesondere für schutzbedürftige Gruppen, Einwanderer und Minderheiten gilt.

6.3

In Reaktion auf die Herausforderungen der Globalisierung, den technischen Fortschritt und die sich wandelnden sozialen und umweltmäßigen Gegebenheiten müssen die politischen Bestrebungen auf die Erreichung sozialer Ziele durch eine Hebung der Beschäftigungsquote und die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für hohe Produktivitätszuwächse abzielen.

6.4

Der EWSA hat in seiner Stellungnahme (11) darauf hingewiesen, wie wichtig die Berücksichtigung des Konzepts der „Flexicurity“ (12) in allen EU-Politiken ist. KMU — und insbesondere Selbstständige — sind für das reibungslose Funktionieren flexibler Arbeitsmärkte von zentraler Bedeutung. Dazu bedarf es eines besseren Verständnisses der Rolle der KMU in Bezug auf die Durchführung der Sozialpolitik.

7.   Innovation als Motor des Binnenmarkts

7.1

Damit sich der Binnenmarkt weiterentwickelt, kommt es nach Auffassung des EWSA darauf an, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung und Innovation zu fördern und kommerziell zu verwerten. Nationale Technologiezulieferer müssen bei der Propagierung innovativer Produkte und Technologien auf europäischer Ebene Beistand erhalten, und in gleicher Weise müssen Forschungsergebnisse verbreitet und grenzübergreifend genutzt werden. Die Qualität des Binnenmarkts hat erheblichen Einfluss auf Europas Innovationskraft. Die Koordinierung von Forschung und Entwicklung auf europäischer Ebene zwischen KMU-Clustern, Großunternehmen, Forschungseinrichtungen, Universitäten und dem neuen Europäischen Innovations- und Technologieinstitut ist unumgänglich.

7.2

Fortschritte hin zu einem Patentsystem, das in puncto Kosten der Rechtssicherheit wettbewerbsfähiger ist, sind grundlegend für die Innovationskraft Europas. Dazu gehören auch Fortschritte auf dem Weg zu einem gemeinsamen System der Patentgerichtsbarkeit in Europa, das allen Unternehmen ein Höchstmaß an Qualität, Kosteneffektivität und Verlässlichkeit bietet, und ein Gemeinschaftspatent, das ebenfalls diesen Ansprüchen genügt und insbesondere den KMU zugute kommt. Ein starker Schutz der Rechte am geistigen Eigentum mit wirkungsvollen Maßnahmen auf europäischer und internationaler Ebene gegen die zunehmende Flut von Fälschungen und Produktpiraterie ist ebenfalls nötig.

7.3

Neuerungen in der Verwaltung der Sozialpolitik sollten der Vielfalt sozialwirtschaftlicher Organisationen (wie z.B. Genossenschaften) Rechnung tragen, die die Dienstleistungen unter einer geeigneten ordnungspolitischen Aufsicht näher an den einzelnen Nutzergruppen erbringen können.

7.4

Die neue Binnenmarktpolitik muss eine zentrale Rolle dabei spielen, eine ökologisch nachhaltige Weltwirtschaft zu schaffen.

8.   Verbraucherschutzpolitik

8.1

Eine ausgewogene Verbraucherschutzpolitik ist wichtig für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Aus Sicht des EWSA kommt den Verbrauchern eine zentrale Stellung in der neuen Konzeption der Kommission für einen wahrhaft barrierefreien Binnenmarkt zu. Der Markterfahrung der Verbraucher sollte mehr Gewicht beigemessen werden, zum Beispiel durch Folgenabschätzungen oder die Aufnahme von Verbraucherinteressen in die Lissabon-Agenda.

8.2

Die Aufmerksamkeit sollte dem Binnenmarkt, der sowohl den Verbrauchern als auch den Unternehmen nützt, und der Rolle, die der Dienstleistungssektor in der Wirtschaft für die Hebung der Qualität und des Verbrauchervertrauens spielen kann, gelten. Die Verbraucher müssen einen effektiven Zugang zu den Waren und Dienstleistungen haben, die im gesamten EU-Gebiet angeboten werden, und den Unternehmen muss es möglich sein, ihre Waren und Dienstleistungen überall in der EU genauso einfach wie auf ihrem heimischen Markt anzubieten. Eine Harmonisierung in Verbindung mit der gegenseitigen Anerkennung ist der richtige Weg hin zu dieser Situation, in der alle gewinnen (13).

9.   Die Mitteilung „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse unter Einschluss von Sozialdienstleistungen: Europas neues Engagement“ (14)

9.1

In mehreren Stellungnahmen (15) hat der EWSA seine Sorge über die Rechtsunsicherheit zum Ausdruck gebracht, die im Zusammenhang mit Dienstleistungen von allgemeinem Interesse besteht.

9.2

In der Mitteilung wird auf das neue Protokoll über die Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Anhang zum Vertrag von Lissabon verwiesen, das den Maßnahmen auf EU-Ebene einen kohärenten Rahmen verleihen und gleichzeitig eine solide Ausgangsbasis für die Definition der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse sein soll (16).

9.3

Allerdings wird in der Mitteilung über die DAI der neue Artikel 16 des Vertrags von Lissabon lediglich gestreift. Auch werden die daraus erwachsenden Implikationen nicht weiter beleuchtet, obwohl doch hier gerade eine neue Rechtsgrundlage für die DAWI entsteht, indem Rat und Parlament beauftragt werden, im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens durch Verordnungen die Prinzipien und Bedingungen wirtschaftlicher und finanzieller Art festzulegen, unter denen die DAWI ihren Aufgaben gerecht werden können.

9.4

Die effektive Umsetzung des Grundsatzes des Primats der guten Erfüllung der Aufgaben der DAWI, die mit dem neuen Artikel 16 des Vertrags von Lissabon jetzt möglich geworden ist, wird dazu beitragen, dass der Gerichtshof weniger oft um einen Schiedsspruch angerufen werden muss.

9.5

Der Vertrag von Lissabon enthält mehrere Neuerungen. Dazu gehört insbesondere eine allgemeine Bezugnahme auf die DAI und auf die nichtwirtschaftlichen Dienste von allgemeinem Interesse (NDAI). Der Vertrag trägt dazu bei, die Frage der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse erneut in das Blickfeld der Gemeinschaftstätigkeit unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips zu bringen.

9.6

Nach Auffassung des EWSA ist der neue Vertrag von Lissabon (Artikel 14 AEUV sowie das Protokoll über die DAI) nur der Auftakt für einen neuen Ansatz zugunsten einer größeren Rechtssicherheit und einer schlüssigeren Regelung der einzelstaatlichen und gemeinschaftlichen Bestimmungen zu den DAI.

9.7

Das Protokoll über die DAI ist eine Auslegungshilfe für die Regeln über die DAI, sowohl der wirtschaftlichen (DAWI) als auch der nichtwirtschaftlichen (NDAI), ohne jedoch das Problem der Abgrenzung beider Kategorien zu lösen.

9.8

Indem die Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Dienstleistungen in das Primärrecht übernommen wird und auch die Notwendigkeit nach Anerkennung gemeinsamer Funktionsprinzipien der DAWI aufgenommen wurde, zeigt das Protokoll über die DAI, dass die Konzepte und Regelungen mehr denn je einer Klärung bedürfen, um Rechtssicherheit für die Unternehmen und Erbringer dieser Dienstleistungen sowie für ihre Hauptnutznießer herzustellen.

9.9

In der Mitteilung über die DAI ist die Rede davon, dass die „Kommission weiterhin an der Konsolidierung des EU-Rahmens für Dienste von allgemeinem Interesse einschließlich Leistungen im sozialen Bereich und in der Gesundheitsfürsorge arbeiten und gegebenenfalls konkrete Lösungen für konkrete Probleme anbieten“ wird. Weiterhin „[plant die Kommission] eine Mischung aus sektorspezifischen und problembezogenen Maßnahmen“.

9.10

Bei diesem Ansatz müssen natürlich die besonderen Gegebenheiten jedes betroffenen Wirtschaftszweigs berücksichtigt werden. Da aber im Primärrecht anerkannt wird, dass die DAWI grundsätzlich Teil der „gemeinsamen Werte“ der Europäischen Union sind und zum „sozialen und territorialen Zusammenhalt“ beitragen, ist es unumgänglich, sektorielle Ansätze (unter Berücksichtigung der Besonderheiten jedes Sektors) und die bereichsübergreifende Problematik miteinander zu verbinden.

9.11

Infolgedessen schlägt der EWSA eine mehrgleisige, progressive Konzeption vor, bei der sektorielle und thematische Ansatzpunkte miteinander verbunden werden. Dies sollte zur Verabschiedung von Rechtsakten da, wo sie nötig sind, und/oder zur Anpassung dieser Grundsätze und Bedingungen an die verschiedenen betroffenen Branchen führen (horizontaler Ansatz mit sektorspezifischer Ausrichtung).

10.   Die besondere Situation der Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse

10.1

Der EWSA betont die Wichtigkeit der Lissabon-Strategie, denn durch sie können die Vorteile des Binnenmarktes gewahrt, weiterentwickelt und gefestigt werden.

10.2

In ihrem Weißbuch über die DAI führt die Kommission den Begriff der Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse (SDAI) ein. Sie hat ihn in ihren beiden Mitteilungen (17) sowie in einem internen Arbeitspapier weiter ausgestaltet (18).

10.3

In der Mitteilung wird keine Definition der Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse vorgelegt, und es wird zwischen zwei großen SDAI-Gruppen unterschieden: zwischen den gesetzlichen und ergänzenden Systemen der sozialen Sicherung einerseits und „sonstigen, unmittelbar zugunsten des Einzelnen erbrachten Dienstleistungen“ andererseits.

10.4

An der Vorsicht der Kommission lässt sich ablesen, wie schwierig die SDAI einzuordnen sind. Dies gilt umso mehr, da sie spezielle und weit gefächerte Aufgaben erfüllen und tief in kollektiven nationalen oder manchmal sogar lokalen Gepflogenheiten verwurzelt sind.

10.5

Bei der Konsultation zum Grünbuch von 2003 haben die Akteure des SDAI-Sektors (lokale öffentliche Einrichtungen, Betreiber, Interessenvertreter der Nutzer) nachdrücklich ihr Gefühl der wachsenden Rechtsunsicherheit hinsichtlich der europäischen Rechtsnormen bekundet, die für sie in Anbetracht ihrer Besonderheiten gelten, und zwar insbesondere hinsichtlich der Frage der Beauftragung zur Dienstleistungserbringung. Sie haben unterstrichen, dass sie sich als Teil einer „Grauzone“ fühlen, was der Erfüllung ihrer Aufgabe schade. Dies hat dazu geführt, dass:

die Kommission einen eigenen Reflexionsprozess eingeleitet hat (Mitteilung, Studien, etc.),

der Gesetzgeber sie vom Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie weitgehend ausnimmt (19), und

das Europäische Parlament zweimal eine Erhöhung der Rechtssicherheit gefordert hat (20).

10.6

Die Kommission folgt indes nicht diesem Ansatz und befindet sich damit eindeutig im Widerspruch zu dem von ihr bevorzugten sektoriellen Ansatz. Nunmehr beschränken sich ihre Vorschläge auf eine Reihe von Antworten auf „häufig gestellte Fragen“ und auf einen interaktiven Informationsdienst, die zwar hilfreich sein, aber keine rechtlich bindende Wirkung haben werden.

10.7

Um den Forderungen nach Rechtssicherheit nachzukommen, gestützt u.a. auf Artikel 16 AEUV, der neue Perspektiven für den Stellenwert und die Funktion der DAWI (einschließlich der SDAI) in der Europäischen Union eröffnet, bedarf es einer weiteren Klärung der Begriffe und auch der gemeinschaftlichen Rahmenregelungen für im Interesse des Gemeinwohls erbrachte Tätigkeiten.

11.   Die Mitteilung „Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität: eine neue gesellschaftliche Vision für das Europa des 21. Jahrhunderts“

11.1

Der Ausschuss begrüßt die in der Mitteilung „Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität: eine neue gesellschaftliche Vision für das Europa des 21. Jahrhunderts“ (21) genannten Ziele. Die Mitteilung wendet sich an die EU-Bürger, die Zivilgesellschaft und die Unternehmen einschließlich KMU und basiert auf Europas Kerninstrumentarium — dem Binnenmarkt, der Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung und der Strategie für nachhaltige Entwicklung.

11.2

Der gegenwärtige Wandel in der europäischen Gesellschaft (EU-27 mit 500 Millionen Bürgern, demographischer Wandel, Globalisierung, technischer Fortschritt, wirtschaftliche Entwicklung usw.) kann neue Beschäftigungsmöglichkeiten und neue Qualifikationen schaffen, aber die Anpassung an den Wandel birgt immer auch das Risiko von Arbeitslosigkeit und gesellschaftlichem Abseits.

11.3

Der EWSA spricht sich für ein stärkeres Engagement der EU bei der Erleichterung, Antizipierung und Förderung eines solchen Wandels aus, wobei gleichzeitig auf globaler Ebene für die europäischen Werte eingetreten werden muss. Die Kommission skizziert eine an „Lebenschancen“ orientierte gesellschaftliche Vision für das Europa des 21. Jahrhunderts und ist bestrebt, die am 15. Februar 2008 abgelaufene Konsultation zu vervollständigen. So waren u.a. das Beratergremium für europäische Politik (BEPA), die Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen in die Debatte über den gesellschaftlichen Wandel und das Konzept des Zustands der europäischen Gesellschaft einbezogen. Der Ausschuss begrüßt das Ziel, sicherzustellen, dass die abschließende Bewertung dieser Diskussionen einen Beitrag zur Vorlage einer überarbeiteten sozialpolitischen Agenda leisten wird, die 2008 vorgelegt werden soll, und dass dabei der neue, durch den Vertrag von Lissabon gegebene institutionelle Rahmen berücksichtigt werden soll.

11.4   Allgemeine Annahmen und Bemerkungen

11.4.1   Die gesellschaftlichen Realitäten verändern sich

Sämtliche Mitgliedstaaten erleben rasche und tiefgreifende Veränderungen. Insbesondere die Europäer bekunden Ängste und Besorgnisse im Hinblick auf die nächste Generation (siehe auch die vorausgegangenen Stellungnahmen und Initiativen des EWSA, den BEPA-Bericht mit einer detaillierten Übersicht über die aktuellen sozialen Entwicklungen sowie den Kommissionsbericht zur sozialen Lage 2007).

11.4.2   Eine an „Lebenschancen“ orientierte gesellschaftliche Vision für Europa: Förderung des Wohlstands durch Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität

Chancen — auf einen guten Start ins Leben, die Entfaltung des eigenen Potenzials und die bestmögliche Nutzung der Gelegenheiten, die ein innovatives, offenes und modernes Europa bietet.

Zugangsmöglichkeiten — in Form von neuen und wirksameren Bildungschancen, Fortschritten auf dem Arbeitsmarkt, einem leistungsfähigen Gesundheitswesen und sozialer Sicherheit sowie der Teilhabe an Kultur und Gesellschaft.

Solidarität — durch Förderung des sozialen Zusammenhalts und der sozialen Nachhaltigkeit, damit niemand außen vor bleibt.

11.4.2.1

Der EWSA ist einer Meinung mit der Kommission, dass ein „Gleichmacheransatz“ kein probates Rezept für Europa ist und gesellschaftsübergreifende Herausforderungen ein gemeinsames Vorgehen und die Unterstützung durch eine aktive Bürgerschaft erfordern.

11.4.2.2

Der Kampf gegen die soziale Marginalisierung und die Verbesserung der Lebensumstände durch die Schaffung von Möglichkeiten für den Einzelnen ist wesentlich für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum und die Verringerung der Gefahr eines Herausfallens aus dem sozialen Netz. Zuversicht und Vertrauen sind unabdingbar für Fortschritt, Modernisierung und Offenheit für den Wandel.

11.4.3   Wichtige Handlungsbereiche

Sollen die Ziele „Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität“ verwirklicht werden, muss die EU investieren:

1)

Investitionen in die Jugend: Die jüngsten gesellschaftlichen Veränderungen und eine neue, auf Innovation und Technologie basierende Wirtschaft erfordern mehr Achtsamkeit bei den Themen Bildung und Qualifikationen. Investitionen in die Jugend wirken sich positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung und den sozialen Zusammenhalt aus. Durch die Lissabon-Agenda ist die Bildung in den Mittelpunkt des sozialen und wirtschaftlichen Systems in Europa gerückt — Wissen soll Europa als Hebel für Wettbewerbsfähigkeit im globalen Kontext dienen.

2)

Investitionen in Karrieren: Eine dynamische Wirtschaft mit flexiblem Arbeitsmarkt erfordert flexible Arbeitsmarktregeln und hohe soziale Standards (siehe „Flexicurity“);

3)

Investitionen in ein längeres und gesünderes Leben: Die höhere Lebenserwartung geht mit einer stärkeren Belastung der Systeme der sozialen Sicherheit einher, schafft allerdings auch neue wirtschaftliche Möglichkeiten in Form neuer Dienstleistungen, Produkte und Technologien. Die EU sollte neue soziale Politiken fördern, um diese Chancen zu nutzen und die Unzulänglichkeiten der gegenwärtigen Systeme der sozialen Sicherheit zu beheben.

4)

Investitionen in die Gleichheit der Geschlechter: Neue Formen der Wirtschaft führen zu neuen sozialen Mustern. So sollte beispielsweise die Arbeitsmarktspolitik konsequent den neuen Erfordernissen der Gleichheit der Geschlechter angepasst werden. Einige der Kommissionsvorschläge zielen auf Entgeltunterschiede, das Steuersystem und familienfreundliche Praktiken am Arbeitsplatz ab.

5)

Investitionen in aktive Eingliederung und Nichtdiskriminierung: Durch die jüngsten Erweiterungen sind tiefe wirtschaftliche und soziale Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten und Regionen zu Tage getreten. Die Europäische Kommission ist bestrebt, eine neue Kohäsionspolitik auf den Weg zu bringen, die auf der Akzeptanz der Vielfalt, der aktiven Eingliederung der am stärksten Benachteiligten, der Förderung von Gleichheit und der Beseitigung jeglicher Diskriminierung beruht.

6)

Investitionen in Mobilität und erfolgreiche Integration: Der Binnenmarkt hat zu einer stärkeren Mobilität der Bürger geführt, was sich auch auf die KMU auswirkt. Dies erfordert einen EU-weiten, integrationsbasierten Ansatz.

7)

Investitionen in Bürgermitwirkung, Kultur und Dialog: Diese Aspekte spielen eine wichtige Rolle für den sozialen Zusammenhalt, sind aber auch an wirtschaftliche Ressourcen für Innovation und technischen Fortschritt gebunden.

11.4.4   Die Rolle der EU

11.4.4.1

Der EWSA unterstreicht, dass die hauptsächliche Zuständigkeit für diese Politikbereiche zwar bei den Mitgliedstaaten liegt, der EU und den Sozialpartnern jedoch eine wichtige Rolle bei der Steuerung und der Unterstützung der dazu gehörenden Aktionen und Reformen zukommt. Das Hauptinstrument ist der gemeinsame Besitzstand, und zwar insbesondere bezüglich der Erweiterung, der Kohäsionspolitik, des Vertrag von Lissabon und der Charta der Grundrechte.

11.4.4.2

Der Ausschuss zeigt sich mit den fünf in der Mitteilung vorgelegten Strategien einverstanden:

Festsetzung eines politischen Rahmens: Die EU hat bereits gemeinsame Ziele formuliert, mit denen eine Harmonisierung unter den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungsstrategie, der Lissabon-Agenda und der Sozialpolitik ins Auge gefasst wird. Die Bestrebungen müssen nun darauf gerichtet sein, diese Ziele zu erreichen und die gemeinsamen Grundsätze zu praktischer Entfaltung zu bringen.

Aufrechterhaltung der europäischen Werte und Gewährleistung gleicher Voraussetzungen: Der europäische Rechtsrahmen ist von grundlegender Bedeutung dafür, die einzelstaatlichen Politiken auf gemeinsame Ziele auszurichten.

Austausch von Erfahrung und bewährten Verfahren: Der EWSA teilt die Sicht der Kommission, wonach bewährte Verfahrensweisen, Erfahrungsaustausch, gemeinsame Auswertungen und gegenseitige Evaluierungen in Bezug auf soziale Innovationen Teil des übergeordneten nationalen und europäischen politischen Diskurses sein sollten. Institutionen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene, die Sozialpartner und die NRO sollten aktiv mit einbezogen werden.

Unterstützung der lokalen, regionalen und nationalen Ebene: Mit ihrer Kohäsionspolitik und den Strukturfonds hat die EU beim Abbau der Wohlstands- und Lebensstandard-Unterschiede in der EU eine wesentliche Rolle gespielt. In den letzten Jahren sind diese Instrumente enger mit den Prioritäten der EU in ihrer „Wachstums- und Beschäftigungspolitik“ verknüpft worden (im Zeitraum 2007-2013 stellt der Europäische Sozialfonds 75 Mrd. EUR für die Vermittlung neuer Kenntnisse und die Förderung innovativer Unternehmen bereit). Der EWSA unterstreicht, dass der Europäische Globalisierungsfonds ein wichtiges Instrument der Solidarität ist, aus dem aktive Maßnahmen zur Abfederung der Auswirkungen der Globalisierung auf die Gruppen, die davon am stärksten betroffen sind, sowie auf Unternehmen einschließlich KMU finanziert werden sollten. Deshalb ist eine Beteiligung an der Diskussion über die Zukunft des EU-Haushalts nach 2013 wichtig, sollen doch die Ergebnisse der sozialen Konsultationen mit einfließen.

Sensibilisierung und Aufbau einer starken Wissensgrundlage: Der EWSA begrüßt Initiativen wie das Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle (2007), des interkulturellen Dialogs (2008) und der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung (2010). Die bestehenden Stiftungen und Agenturen, wie die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Grundrechteagentur und das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen, werden zunehmend zur soliden Fundierung politischer Entscheidungen, zur Sensibilisierung und zur systematischeren Nutzung von Konsultationsverfahren (und hier nicht nur elektronischen Konsultationen) beitragen. Der EWSA, unabhängige Sachverständigengremien, repräsentative Organisationen und Forschungseinrichtungen auf nationaler und EU-Ebene sollten in diesen Prozess mit einbezogen werden. Der EWSA ruft zu einer stärkeren Einbeziehung aller interessierten Kreise im Interesse der Bewusstseinsbildung und der Verbesserung der Qualität der Ergebnisse (Bereitstellung verlässlicher Daten, Statistiken, gemeinsamer Indikatoren, Überwachungssysteme) zu sozialen Fragen auf.

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  INT/416, R/CESE 1120/2008.

(2)  Wie vom Europäischen Parlament in seiner Entschließung vom 4. September 2007 zu der „Überprüfung des Binnenmarkts: Beseitigung von Schranken und Mängeln durch bessere Um- und Durchsetzung“ (2007/2024 (INI)) gefordert.

(3)  Das „Paket“ der Kommission vom 20. November 2007 besteht aus der Mitteilung „Ein Binnenmarkt für das Europa des 21. Jahrhunderts“ (KOM(2007) 724 endg.), die eine Reihe von Initiativen zur Neuausrichtung des Binnenmarkts umfasst. Diese Mitteilung wird durch fünf Arbeitsdokumente flankiert:

„The single market: review of achievements“ (SEK(2007) 1521);

„Instruments for a modernised single market policy“ (SEK(2007) 1518);

„Implementing the new methodology for product, market and sector monitoring Results of a first sector screening“ (SEK(2007) 1517);

„The external dimension of the single market review“ (SEK(2007) 1519);

„Initiatives in the area of retail financial services“ (SEK(2007) 1520).

Daneben gibt es zwei weitere Mitteilungen:

Mitteilung „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse unter Einschluss von Sozialdienstleistungen: Europas neues Engagement“ (KOM(2007) 725 endg.) mit verschiedenen Arbeitsdokumenten der Kommissionsdienststellen (SEK(2007) 1514, SEK(2007) 1515, SEK(2007) 1516);

Mitteilung „Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität: eine neue gesellschaftliche Vision für das Europa des 21. Jahrhunderts“ (KOM(2007) 726 endg.).

(4)  CESE 267/2008, ABl. C 162 vom 25.6.2008, CESE 1262/2007, ABl. C 10 vom 15.2.2008, CESE 62/2008, ABl. C 151 vom 17.6.2008.

(5)  CESE 481/2008, ABl. C 204 vom 9.8.2008, und INT/416, R/CESE 1120/2008.

(6)  „Kleine und mittlere UnternehmenSchlüsselfaktoren für mehr Wachstum und Beschäftigung. Eine Halbzeitbewertung der zeitgemäßen KMU-Politik“, KOM(2007) 592 endg., im Internet abrufbar unter

http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:52007DC0592:DE:NOT.

(7)  Siehe Stellungnahme CESE 794/2007.

(8)  CESE 481/2008, ABl. C 204 vom 9.8.2008.

(9)  Europäisches Büro des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe für die Normung.

(10)  Bericht der WTO über den Welthandel 2005 „Exploring the links between trade, standards and the WTO“, im Internet abrufbar unter

http://www.wto.org/english/res_e/booksp_e/anrep_e/world_trade_report05_e.pdf.

(11)  CESE 999/2007, ABl. C 256 vom 27.10.2007.

(12)  CESE 767/2008 (SOC/283), KOM(2007) 359 endg.: „Flexicurity lässt sich definieren als integrierte Strategie zur gleichzeitigen Stärkung von Flexibilität und Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt“.

(13)  Siehe Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 13./14. März 2008.

(14)  KOM(2007) 725 endg.

(15)  CESE 427/2007, ABl. C 161 vom 13.7.2007, CESE 976/2006, ABl. C 309 vom 16.12.2006, CESE 121/2005, ABl. C 221 vom 8.9.2005 und CESE 1125/2003, ABl. C 80 of 30.3.2004.

(16)  KOM(2007) 724 endg. vom 20. November 2007, Ziffer 3, Seite 9.

(17)  KOM(2006) 177 vom 26. April 2006„Umsetzung des Gemeinschaftsprogramms von Lissabon — Die Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse in der Europäischen Union“ und KOM(2007) 725 vom 20. November„Dienstleistungen von allgemeinem Interesse unter Einschluss von Sozialdienstleistungen: Europas neues Engagement“.

(18)  SEC (2007) 1514 vom 20. November 2007: „Häufig gestellte Fragen zur Anwendung der Bestimmungen über die Vergabe öffentlicher Aufträge auf Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse“.

(19)  Siehe Artikel 2 Absatz 1 und 2 Buchstabe j) der Dienstleistungsrichtlinie.

(20)  Rapkay-Bericht vom 14. September 2006 und Hasse-Ferreira-Bericht von 2007.

(21)  KOM(2007) 726 endg.


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/23


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine europäische Initiative zur Entwicklung von Kleinstkrediten für mehr Wachstum und Beschäftigung“

KOM(2007) 708 endg./2

(2009/C 77/04)

Die Europäische Kommission beschloss am 13. November 2007, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine europäische Initiative zur Entwicklung von Kleinstkrediten für mehr Wachstum und Beschäftigung“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 15. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr PEZZINI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 18. September 2008 einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Ausschuss begrüßt die Initiativen der Kommission, mit denen die Gründung und Entwicklung von Kleinstbetrieben stärker gefördert und der Unternehmergeist gestärkt und angeregt werden sollen; und dies im Interesse von mehr Wettbewerbsfähigkeit, größerem Zusammenhalt und einer besser qualifizierten Wissenswirtschaft entsprechend den Zielvorgaben der erneuerten Lissabon-Strategie.

1.2

Der Ausschuss befürwortet zwar die Initiative zur Schaffung einer neuen Gemeinschaftsstruktur für Mikrokredite, hält indes eine reine Anreizmaßnahme an die Adresse der Mitgliedstaaten für unzureichend, weil es für den bankfremden Sektor, der nicht unter die Bankrichtlinien der EU fällt, in vielen Mitgliedstaaten keine ausreichende Rechtsgrundlage und ganz unterschiedliche Bestimmungen gibt.

1.3

Eine Pilotaktion für sozial verantwortliche Kleinstinvestitionen, bei denen Mikrokreditinstitute inner- und außerhalb des Banksektors in einem europäischen Netzwerk im Rahmen eines „Memorandum of Understanding for Socially Responsible Investments“ mit den einzelnen Instituten und der Unterstützung der Branchenverbände zusammenwirken, sollte nach Ansicht des Ausschusses vorrangig auf Akteure „mit geringen Möglichkeiten eines Bankkredits“ zugeschnitten sein:

für die Entwicklung von echten, produktiven und würdigen Arbeitsprojekten;

für die Stärkung und Verbreiterung der Unternehmens-, Kooperations- und Beschäftigungsbasis;

für die Reaktivierung der „empowerment“-Fähigkeiten des Individuums durch Schaffung von Möglichkeiten der Annäherung, Begleitung und Valorisierung von Personen, die von wirtschaftlicher und sozialer Ausgrenzung bedroht sind.

1.4

Der Ausschuss ist überzeugt, dass mit der innovativen Anwendung neuer Technologien auf Mikrokredite der Aktionsradius der Mikrofinanzierung im Rahmen eines Netzwerkes erweitert, der Wettbewerb gesteigert und auf diese Weise die Kosten für die Nutzer gesenkt werden können.

1.5

Nach Ansicht des Ausschusses sollten Maßnahmen zur Förderung von Mikrokrediten außerdem durch Bildungskredite begleitet werden, um die Entwicklung und den Erfolg auf dem Markt zu erleichtern, soziale Ausgrenzung zu vermeiden und die Ziele der Lissabon-Strategie immer besser zu erreichen.

1.6

Der Ausschuss teilt zwar die Auffassung, dass die Änderungen der institutionellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen für das Kleinstkreditwesen in erster Linie auf der Ebene der Mitgliedstaaten und durch die Mechanismen des jährlichen Lissabon-Governance-Zyklus zu vollziehen sind, erachtet es aber gleichzeitig für unverzichtbar, den europäischen Bezugsrahmen zu stärken, insbesondere durch:

die Verwirklichung eines Netzes von Vereinbarungen über sozial verantwortliche Investitionen (MOU) zwischen dem zu errichtenden Europäischen Fonds für Mikrokredite und den einzelnen Mikrokreditinstituten vor Ort, damit das Mikrokreditnetzwerk auf kompatiblen Standards in Bezug auf Solidität, Zahlungsfähigkeit, Diversifizierung des Portfolios (1), Transparenz und Bekämpfung von Zinswucher basiert;

ein Gemeinschaftssystem für das Rating der MFI inner- und außerhalb des Bankensektors, um deren Qualität und Zuverlässigkeit sowie die Verfügbarkeit von Informationen über Risiken und Performance zu verbessern; zu diesem Zweck könnten gemeinsame Profile festgelegt werden, die den Dialog und Austausch bewährter Verfahren und gleichzeitig die zeitweilige Vergabe eines europäischen MKI-Zeichens (Mikrokreditinstitut) für Qualität und Transparenz ermöglichen, um Gelder anzulocken und das Vertrauen potenzieller Empfänger zu steigern;

Gemeinschaftsinstrumente zur Information und Ausbildung der an Mikrokreditmaßnahmen interessierten Akteure, und zwar sowohl in Bezug auf Interventionsmöglichkeiten und -modalitäten als auch in Bezug auf die Erfordernisse und Modalitäten von Businessplanprojekten — auf der Grundlage vereinfachter und harmonisierter Musterformate — für potenzielle Empfänger;

Gemeinschaftsinstrumente zur Weiterbildung und zum Kapazitätenaufbau für die Führungskräfte und Akteure der MFI, auf der Grundlage von gemeinsamen technischen Know-how-Paketen, mit denen der Wandel der Mikrofinanzierung, die neuen Anforderungen der Nutzer und die Notwendigkeit gemeinsamer Grundlagen zur Erleichterung des Dialogs und des Austauschs bewährter Verfahren auf europäischer Ebene bewältigt werden können;

ein europäisches Netzwerk für Datenbanken auf der Grundlage harmonisierter Kriterien, das die Erhebung und Auswertung standardisierter Daten über erfolgte Transaktionen und die damit zusammenhängenden Risiken ermöglicht und zwar auch im Hinblick auf die Senkung der Kosten der Risikobewertung im Rahmen der einzelnen Mikrokreditoperationen.

1.7

Im Zusammenhang mit dem Vorschlag für eine eigene gemeinschaftliche Förderstruktur innerhalb der für JEREMIE im Europäischen Investitionsfonds zuständigen Dienststelle ist der Ausschuss der Auffassung, dass auf diese Weise der Initiative keine optimale Öffentlichkeitswirkung zuteil würde, die Koordinierungsrolle, die diese Struktur für die bereits laufenden Initiativen übernehmen sollte, beschnitten würde und auch die anderen Tätigkeiten nicht durch technische Unterstützung flankiert werden könnten. Daher sollte nach Ansicht des Ausschusses eine eigenständige Abteilung geschaffen werden, die als Mikrokreditfonds fungieren kann.

1.8

Die Finanzierung und technische Unterstützung durch die neue Struktur sollte im Übrigen im Interesse der Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen nicht nur die neuen, bankfremden MKI, sondern alle MKI umfassen.

1.9

Die Gemeinschaftsinitiative für die MFI sollte auch die Stärkung des sozialen Dialogs und des Dialogs zwischen den verschiedenen Akteuren der Zivilgesellschaft sowie die Valorisierung der europäischen Netze zum Austausch bewährter Verfahren einschließen, wie etwa das Europäische Micro-FINANCE-Network, das Microfinance Center und die Europäische Plattform für Mikrofinanzierung.

1.10

Nach Auffassung des Ausschusses sollte die MFI-Initiative den Unternehmensverbänden bei der Prüfung der Zuverlässigkeit und Kompetenz der Antragsteller, der Entwicklung einer tragfähigen Beziehungs- und Vertrauensbasis und bei der Förderung und Begleitung — und zwar auch im Bereich Bildung und Beratung — eine größere Rolle zukommen lassen, um die eigenen Fähigkeiten der Kreditnehmer zur Geltung zu bringen und den Verwaltungsaufwand zu reduzieren und zu vereinfachen, insbesondere bei der Ausarbeitung von Businessplänen.

1.11

Die Errichtung eines Fonds für Mikrokredite, die in der Regel mit Finanzinstituten, staatlichen Behörden (2), Branchenverbänden und Genossenschaften sowie Garantiekonsortien (Kreditgenossenschaften) in Verbindung gebracht werden, kann für die Ausrichtung des Finanz-Engineering auf soziale Formen der Kreditverwaltung eine wichtige Erfahrung sein.

1.12

Ein sozial geprägtes Verständnis von Kredit, das auch der Gründung eines Fonds für Mikrokredite zugrunde liegen kann, ist eng verbunden mit den Grundsätzen der sozialen Verantwortung der Unternehmen und den Werten einer besseren und flächendeckenderen Beschäftigung.

1.13

Die Förderung der Umweltzertifizierung EMAS kann besser als andere Instrumente das soziale Wachstum der Unternehmen fördern und die mit Bedacht betriebene Verbreitung eines Mikrokreditfonds erleichtern.

2.   Einleitung

2.1

Die Beobachtungsstelle für KMU ist im April 2007 zu der Erkenntnis gelangt, dass das größte Hindernis der Produkt- und Prozessinnovation für die europäischen KMU im Kreditzugang besteht, gefolgt von der Schwierigkeit, qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Hingegen konzentrieren sich die Probleme der größeren Unternehmen auf die menschlichen Ressourcen.

2.2

Die größten Diskrepanzen auf dem Markt bestehen aus Mangel an Startkapital, einem unzureichendem Angebot an Mitteln und einer unangemessenen Nachfrage. Mit diesen Aspekten hat sich die Kommission in ihrer Mitteilung „Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft: Die Finanzierung des Wachstums von KMUDer besondere Beitrag Europas (3) befasst, zu der sich der Ausschuss mehrfach geäußert hat (4).

2.3

Der EWSA wies insbesondere darauf hin, dass „die Gründung und das Wachstum von Unternehmen stärker als bislang durch entsprechende Maßnahmen gefördert werden (sollten), wozu ein beschleunigtes und kostengünstigeres Verfahren der Unternehmensgründung, ein besserer Zugang zu Risikokapital, mehr Fortbildungsprogramme für Unternehmer, Maßnahmen zur Erleichterung des Anschlusses an öffentliche Versorgungsnetze und des Zugangs zu öffentlichen Versorgungsleistungen und ein dichteres Servicenetz zur Förderung der KMU gehören“ (5).

2.3.1

Der Ausschuss bekräftigt seinen in früheren Stellungnahmen (6) dargelegten Standpunkt, dass „auch Genossenschaftsunternehmen, Verbundunternehmen und Gesellschaften auf Gegenseitigkeit (‚mutuals‘) sowie innovative Start-ups und Mikrounternehmen (…) dazu beitragen (können), die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft in der EU zu stärken“.

2.4

Andererseits betonte der Ausschuss, dass „ein Kernproblem (…) der verbesserte Zugang zu den Kapitalmärkten“ sei und dass „bei Banken und sonstigen Investoren, darunter Risikokapitalfonds, (…) für eine größere Risikobereitschaft geworben werden (sollte)“ (7).

2.5

Die Europäische Kommission kündigte im Herbst 2007 die Prüfung von Initiativen zugunsten von KMU an, wie z.B. eine europäische Initiative zur Gründung einer neuen Förderstruktur für Kleinstkredite (8).

2.6

Kleinstkredite werden allgemein als ein Finanzinstrument anerkannt, das große Auswirkungen auf das Unternehmertum, die wirtschaftliche Entwicklung und die soziale und wirtschaftliche Integration hat, aber auch immer noch viele Mängel und Schwachstellen aufweist, die auf die Schwierigkeiten beim Erhalt von Investitionen ins Startkapital des Unternehmens zurückzuführen sind, insbesondere wenn der Antragsteller arbeitslos oder frisch zugewandert ist, einer ethnischen Minderheit angehört oder in einer Konvergenzregion wohnt.

2.7

Ein anderes Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass es für das Finanzinstitut Skalenerträge gibt, die mit den Festkosten der Transaktion verbunden sind, wie etwa das Erheben von Informationen, die Auswertung und die Folgemaßnahmen für das Darlehen. Dies gilt ganz besonders für die Gewährung von Kleinstkrediten an Selbständige und KMU, die nicht hinlänglich transparent sind und nur begrenzte Möglichkeiten haben, dem Finanzinstitut angemessene Informationen zu liefern.

2.8

Kleinstkredite werden international definiert als ein Darlehen in geringer Höhe — unter 25 000 EUR in Europa (9) und 100 000 US-Dollar in den Vereinigten Staaten — an Geringverdiener, die in der Regel keinen Zugang zu Bankendarlehen haben, weil sie entweder nicht ausreichend zahlungsfähig sind und/oder weil sie die Transaktionskosten als zu hoch erachten (10). Nicht unter die Definition von Mikrokredit fällt der Verbraucherkredit.

2.9

Der Ausschuss teilt die Ansicht der Kommission, dass Mikrokredite bei der Umsetzung der Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung und der Förderung der sozialen Eingliederung eine wichtige Rolle spielen. Gleichzeitig erachtet er es für wesentlich, dass die Hauptaufgabe von Mikrokrediten, nämlich die Förderung des selbständigen Unternehmertums und der Entwicklung von Kleinstbetrieben, gewahrt wird, und sie nicht in soziale Unterstützungsleistungen umgemünzt werden.

2.10

Nach Ansicht des Ausschusses müssen Kleinstkredite in der EU eine Antwort auf die Probleme geben, die dadurch entstanden sind, dass der Markt den Kreditzugang für das Unternehmertum nicht gewährleisten konnte, der wiederum für den Start oder die Erweiterung wirtschaftlicher Tätigkeiten auch im Bereich der Förderpolitik und der Entwicklungszusammenarbeit erforderlich ist (11).

2.11

Auf Gemeinschaftsebene gewährleistet das vom EIF (12) unterstützte CIP — Microcredit guarantee ein Garantiesystem für Mikrokredite, die von lokalen Finanzinstituten an Kleinstunternehmen (13) vergeben werden; derzeit gibt es jedoch keine gemeinschaftliche Regelung für Mikrokredite, abgesehen von dem Bereich der Bankenkleinstkredite, welcher der europäischen Bankenregelung (14) unterliegt, und einigen Verweisen auf Mikrokredite in verschiedenen EU-Programmen und Initiativen (15).

2.12

Andererseits werden die Kleinstkredite in den Mitgliedstaaten ganz unterschiedlich geregelt und gehandhabt. Lediglich in zwei Mitgliedstaaten gibt es einschlägige Rechtsvorschriften, die den Bereich der bankfremden Mikrofinanzierung regeln (16), auch wenn es in vier anderen Mitgliedstaaten (17) Bestimmungen gegen Zinswucher gibt.

2.13

Der Europäische Rat drängte auf seiner Frühjahrstagung nachdrücklich u.a. darauf, dass „der Zugang zu Finanzmitteln, auch über bestehende EU-Finanzinstrumente, (…) weiter erleichtert werden (sollte)“ (18) und plädierte dafür, „eine höhere Gesamterwerbsbeteiligung zu fördern und der Segmentierung Einhalt zu gebieten, um so für eine aktive soziale Eingliederung zu sorgen“.

2.14

Nach Ansicht des Ausschusses könnte ein breiter angelegter Rechts- und Förderrahmen zu einer stärkeren Förderung bei der Gründung neuer Unternehmen und ihrer Konsolidierung beitragen und dadurch der Gefahr einer Marginalisierung und Ausgrenzung vom Wirtschaftssystem vorbeugen, die zu sozialen und kriminellen Missständen, wie etwa Zinswucher, führen können.

3.   Der Vorschlag der Kommission

3.1

Die Kommission skizziert zwei Handlungslinien:

Verabschiedung eines Reformprogramms durch die Mitgliedstaaten, mit dem die Bedingungen für Kleinstkredite je nach den nationalen Gegebenheiten und Prioritäten verbessert würden, wobei die Kommission mit der Vorgabe quantitativer Ziele für Kredite und bewährter Regelungsverfahren behilflich sein könnte;

Schaffung einer eigenen EU-Förderstruktur für Kleinstkredite innerhalb von JEREMIE, die technische Hilfe und allgemeine Unterstützung bei der Konsolidierung und Entwicklung der Mikrokrediteinrichtungen/-institute sowie angemessene Werbungs- und Aufklärungsmaßnahmen vorsieht.

4.   Rahmen zur Entwicklung von Kleinstkrediten für mehr Wachstum und Beschäftigung

4.1

Mikrokredite sind ein Weg der sozialen Eingliederung und ermöglichen wirtschaftlich schwachen Personen und Unternehmen, die keinen Zugang zu den klassischen Bankleistungen haben, Zugang zu Finanzmitteln zu bekommen, die für die Aufnahme und Weiterentwicklung von Einkommen sichernden Aktivitäten unverzichtbar sind.

4.2

Auf Gemeinschaftsebene sollte es der „Small Business Act für Europa“ (19), dessen erklärtes Ziel es ist, die Grundsätze und konkreten Maßnahmen für die Verbesserung des Umfeldes der europäischen KMU festzulegen, ermöglichen, die Hindernisse zu identifizieren und abzubauen, die der Entfaltung des Potenzials von Kleinstunternehmen im Wege stehen, indem die Verwaltungsvereinfachung intensiviert, der Kreditzugang verbessert und angemessene Energie- und Umweltbestimmungen erlassen werden.

4.3

Nach Ansicht des Ausschusses sollten auch die zahlreichen diesbezüglich aktivierten Instrumente besser koordiniert werden, indem man sich die Erfahrungen früherer Instrumente ebenso zunutze macht wie jener, die weiterhin für Mikrokredite genutzt werden, wie es die Kommission selbst in ihrer Mitteilung (20) anregt. Und zwar:

die JEREMIE-Initiative;

die Kleinstkreditgarantien des CIP-Programms (21); die EMN e MFC (22) des Aktionsprogramms zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung;

die Initiativen des Europäischen Sozialfonds;

die Programme zur Entwicklung des ländlichen Raums des ELER (23).

4.3.1

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass es sinnvoll wäre, bei der Definition der neuen Gemeinschaftsmaßnahme für Mikrokredite den positiven Erfahrungen in angemessener Weise Rechnung zu tragen, die bei der Ausarbeitung und mehrjährigen konkreten Anwendung des Rahmenprogramms für Mikrofinanzierung EU/AKP — ein Programm der GD EuropeAid — gesammelt wurden.

4.4   Finanz-Engineering und der „Europäische Fonds für Mikrokredite“

4.4.1

Die europäischen Finanzinstitute haben seit Anfang der 1980er Jahre (24) und vor allem dank der Überlegungen und Anregungen aus den Debatten im Rahmen der „Europäischen Konferenzen für Handwerk und Kleinbetriebe“ (25) in den Mitgliedstaaten die Kultur des Finanz-Engineering (26) verbreitet und gefördert.

4.4.2

Die Notwendigkeit konkreter Leitlinien zum Abbau der Kreditzugangsschwierigkeiten und zur Mitgestaltung des Finanz-Engineering führte die Kommission und die EIB — auch auf Druck der europäischen Organisationen der Kleinbetriebe — zur Schaffung des EIF (27), der sich nach einer kurzen Zwischenzeit, in der er sich auch der Förderung der Kommunikationsnetze widmete (28), wieder auf die Förderung von Maßnahmen zur Unterstützung von Kleinst-, Klein- und Mittelbetrieben (KMU) in verschiedenen Garantieformen und vor allem mit Maßnahmen des Finanz-Engineering konzentriert hat.

4.4.3

Dank der Mehrjahresprogramme der Kommission für kleine und mittelständische Unternehmen und für Zusammenarbeit sowie in jüngster Zeit dank des Unterprogramms 1 des CIP (29) wurden die Finanz-Engineeringmaßnahmen entwickelt durch:

die den „Genossenschaften und Kreditgenossenschaften“ (Confidi) der KMU gewährte Finanzgarantie für Kredite;

die Garantie zur Verbriefung (30) des Risikokapitals der Kreditgenossenschaften;

die mittels des „Mezzanine-Kredits“ (31) gewährte Finanzgarantie auf das Kapital;

die Venture Capital-Investitionen, Förderung von Umweltinnovation, Technologietransfer;

die Maßnahmen der Business Angel.

4.4.4

Der EWSA hat bereits mehrfach die — vor allem in den letzten 15 Jahren — von der Kommission, der EIB und dem EIF zur Förderung von Kleinstunternehmen ergriffenen Maßnahmen gewürdigt. Er begrüßt, dass die EIB ihre finanzielle Unterstützung von KMU ausgebaut und modernisiert hat (32), ist aber gleichwohl der Ansicht, dass noch größere Anstrengungen unternommen werden könnten, und zwar auch im Zuge von Programmen, die mit folgenden Akteuren zu vereinbaren wären:

EIB für das Kapital und EIF für die Finanzgarantien;

Finanzinstitutionen der einzelnen Mitgliedstaaten;

Organisationen zur Vertretung der Kleinst-, Klein- und Mittelbetriebe;

Kreditgenossenschaften, die bereits Finanz-Engineering betreiben, und die Finanzgarantie, die sich auf 50 bis 80 % des den Unternehmen gewährten Darlehens beläuft, gewähren.

4.4.5

Auf Ebene der Mitgliedstaaten könnte ein Netz von „Mikrokreditfonds“ errichtet werden, welches über die EIB mit einem Rotationsfonds und mit zusätzlichen Garantien des EIF ausgestattet wird und das auf mehreren Ebenen tätig werden sollte. Auf regionaler (NUTS II) und auf kommunaler Ebene (NUTS III) könnte die Vergabe von Darlehen mittels bestehender Kreditgenossenschaften (33) erfolgen. Diese haben bereits einen reichen Erfahrungsschatz im Bereich der Entwicklungsfinanzierung (Seed Capital) und könnten mit einem angemessenen und vom EIF abgesicherten Risikokapital ihrerseits eine Finanzgarantie gewähren.

4.4.5.1

Dieser neue Vorschlag sollte im Hinblick auf die Schaffung des Mikrokreditfonds durch die EIB und die Europäische Kommission präzisiert werden. Ziel dieser Initiative ist es, die Mikrofinanzierungsinstitute in Europa durch die Bereitstellung finanzieller Mittel (Beihilfen, Darlehen, Mezzanine- oder Equity-Instrumente) und technischer Unterstützung zu fördern. Dieser Mikrokreditfonds sollte von der EIF mit einem Startkapital in Höhe von 40 Millionen EUR ausgestattet (davon 20 Mio. EUR von der EIB) und nach Auffassung des EWSA in Zukunft verwaltet werden.

4.4.6

Der Mikrokredit sollte für den Erwerb von Material und einfacher Ausrüstung ausreichen, die für den Start einer unternehmerischen Tätigkeit notwendig sind, oder für die Erneuerung von Ausrüstungen, die in einem Kleinstunternehmen (34) immer erforderlich sind.

4.4.6.1

Besondere Aufmerksamkeit verdient nach Ansicht des Ausschusses die Vergabe von Kleinstkrediten an Unternehmerinnen. In diesen Fällen sollte stärker auf die Flexibilität, Modalitäten und Kriterien der Kreditgewährung geachtet werden, um so objektiven sozialen und psychologischen Härten entgegenzuwirken, die sich verschärfen können wegen

Zugehörigkeit zu einer Minderheit;

schwierigen Familienverhältnissen;

Tendenzen zur sozialen Selbstausgrenzung.

4.4.6.2

Die Modalitäten und die Abwicklung des Kleinstkredits für von Frauen ausgeübte Tätigkeiten sollten in erster Linie den vorrangigen Zielen der Eingliederung und sozialen und wirtschaftlichen Integration der Frauen in das Wirtschaftsgefüge der Gesellschaft Rechnung tragen, um so energisch der Gefahr einer Geringschätzung entgegenzuwirken und den Unternehmergeist und die Fähigkeit zur Übernahme von Eigenverantwortung und zum Eingehen von Risiken zu entwickeln.

4.4.7

Der Mikrokredit sollte auch als Chance für junge Menschen verstanden werden, die sich gerne selbständig machen möchten und zwar ausreichende Berufsqualifikationen, aber keine finanziellen Möglichkeiten haben.

4.4.7.1

Als Sicherheit für den Kredit, der auf jeden Fall von einem Finanzinstitut inner- oder außerhalb des Bankensektors vergeben werden muss, dienen in erster Linie die damit angeschafften Ausrüstungen. Was aber die Finanzinstitute dazu bewegt, weniger rigoros bei der Darlehensgewährung (35) zu sein, ist die Tatsache, dass es einen „Fonds für Mikrokredite“ gibt, der über Finanzmittel und Sachverstand verfügt, mit denen er in regelmäßigen Abständen mittels des EIF, der Kreditgenossenschaften und der Branchenverbände die ggf. angehäuften Insolvenzen begleichen kann, der aber auch in der Lage und willens ist, die Höchststandards in Bezug auf Solidität, Diversifizierung und Produktionssteigerung, Transparenz und Bekämpfung von Zinswucher zu fördern (36).

4.4.8

Aus den in den letzten 10 Jahren in den wichtigsten EU-Ländern durchgeführten Untersuchungen zur Zahlungsunfähigkeit von Kleinst- und Kleinbetrieben geht hervor, dass die Insolvenzen die 4 %-Marke der gewährten Kredite (37) nicht überschreiten. Da es sich um einen Anteil unter 5 % handelt, bedeutet das, dass der für die Garantie des von den Finanzinstituten gewährten Kredits anwendbare Multiplikator 20 beträgt.

4.4.9

Mit einem Multiplikator von 20 und einer Finanzgarantie, die 50 % der Insolvenz jedes einzelnen Schuldners abdecken sollte, könnte eine Kreditgenossenschaft mit einem Risikokapital in Höhe von 1 Mio. EUR vielen Unternehmern Kredite bis zu 40 Mio. EUR garantieren (38).

4.4.9.1

Das Kreditgenossenschaftssystem konnte 2007 durch die Gewährung von Garantien den Handwerksbetrieben in Italien Finanzierungen über rund 6 Mrd. EUR ermöglichen.

4.4.10

In der EU-27 werden jedes Jahr ungefähr 500 000 neue Unternehmen gegründet. Ein wenig niedriger liegt die Zahl der Betriebsschließungen (39). 99 % der jährlichen Unternehmensgründungen entfallen auf KMU, von denen mindestens 240 000 Ein-Personen-Unternehmen (40) sind.

4.4.11

Das heißt konkret für das Beispiel in Ziffer 4.4.9, dass eine Mikrokredit-Kasse mit 1 Mio. EUR Risikokapital und Finanz-Engineering 1 600 Kleinunternehmern Darlehen über 25 000 EUR gewähren könnte.

4.5   Die soziale Kreditverwaltung

4.5.1

Kredite sind bekanntermaßen eines der grundlegenden Instrumente wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung und der „sozialen Marktwirtschaft“.

4.5.2

Aus diesem Grund haben sich ganz allmählich neue Denkbilder und Vorstellungen von Kredit Bahn gebrochen, der nicht mehr nur als ein einfaches Verhältnis zwischen dem Kunden und dem Finanzinstitut verstanden wird, sondern aufgrund seines Bezugs zu besseren und sichereren Arbeitsplätzen und wirtschaftlicher Entwicklung als ein Instrument mit hohem sozialem Wert.

4.5.3

Diese neue und umfassendere Vorstellung hat zur Folge, dass die mit der Kreditvergabe verbundenen Risiken unter vielen Akteuren aufgeteilt werden müssen.

4.5.4

Die Aufteilung der Kreditrisiken auf mehrere Stellen

erhöht die Garantien gegenüber den Finanzinstituten,

senkt den Zinssatz für den gewährten Kredit,

erleichtert es, dem Antragsteller das Darlehen zu gewähren.

4.5.5

Aufgrund des sozialen Wertes muss die Gewährung eines Kredits immer mehr und besser dem Grundsatz der sozialen Verantwortung des Unternehmens untergeordnet werden; dies setzt voraus, dass der Unternehmer die Werte der nachhaltigen Entwicklung teilt und diese entsprechend umsetzt.

4.5.6

Die Umweltzertifizierung EMAS (41) könnte besser als jede andere Zertifizierung innerhalb eines Finanz-Engineeringprozesses als eine an die soziale Funktion des Kredits geknüpfte Bedingung vorausgesetzt werden.

4.5.7

In den letzten Jahren konnten nur einige zehntausend Unternehmen die gemeinschaftlichen Finanierungsinstrumente nutzen (42). Folglich besteht eine große Kluft zwischen der Phänomenologie des Problems und der erzielten Ergebnisse. Man muss also nach konkreten Möglichkeiten suchen, wie die Finanzinstitute in größerem Maße einbezogen und die Ergebnisse gesteigert werden können.

4.5.8

Der Europäische Rat hat auf seiner außerordentlichen Tagung am 20./21. November 2007 in Luxemburg, für die nur ein Punkt — nämlich die Beschäftigung — auf der Tagesordnung stand, u.a. drei konkrete Initiativen auf den Weg gebracht, mit denen den Unternehmen geholfen werden soll, auf dem Markt wettbewerbsfähig zu bleiben; außerdem wurde die Kommission ersucht, Vorschläge zu unterbreiten, dank derer die Wirtschaft konsolidiert und die Beschäftigung gesteigert werden könnten. Bei den drei genannten Initiativen handelte es sich um: MET-Start, JEV (Joint European Venture — gemeinsames europäisches Unternehmen) und KMU-Garantie. Zwei von ihnen, nämlich MET-Start und KMU-Garantie, sollten den Kreditzugang erleichtern.

4.5.8.1

Bis Ende 2005 haben über 277 000 KMU die Fazilitäten des Programms Wachstum und Beschäftigung und des Mehrjahresprogramms in Anspruch genommen (43).

4.5.8.2

Die „SME Guarantee Facility“ ist eines der wichtigsten EU-Programme für die KMU (44).

4.5.9

Wenn von Risikokapital in Kleinst- und Kleinunternehmen (23 Millionen bzw. 1,1 Millionen Unternehmen in Europa) die Rede ist, von denen rund 90 % Ein-Personen-Unternehmen oder Personengesellschaften sind, dann geht es um lediglich 5-6 % dieser Betriebe.

4.5.10

Der Ausschuss ist daher der Auffassung, dass zwangsläufig Formen der Kreditförderung gefunden werden müssen, die auch auf Personengesellschaften zugeschnitten sind, wie es für die Instrumente des Finanz-Engineering vorgesehen ist; andernfalls findet es nur teilweise Anwendung und verhindert das Wachstum der Kleinst- und Kleinbetriebe im Bereich der Finanzkultur.

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Vgl. die Untersuchungen des Nobelpreisträgers Harry Markovitz zur Korrelation zwischen Diversifizierung des Portfolios, Reduzierung des Risikos und Kompensationen beim Renditefluss (Effizienzkurve), die eine Stabilisierung des Wirtschaftszyklus zur Folge haben.

(2)  In vielen Staaten fördern die regionalen und lokalen Behörden die Entwicklung von KMU durch Finanzierung der Kreditgenossenschaften.

(3)  KOM(2006) 349 endg., vom 29. Juni 2006.

(4)  Stellungnahme CESE 599/2007, ABl. C 168 vom 20.7.2007, S. 1 — Berichterstatter: VAN IERSEL und GIBELLIER.

(5)  Stellungnahme CESE 982/2007, ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 8 — Berichterstatterin: FAES.

(6)  Stellungnahme CESE 1485/2005 zum Rahmenprogramms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (2007-2013), Berichterstatter: WELSCHKE und FUSCO.

(7)  Siehe Fußnoten 4 und 5.

(8)  Die Kommission hat bereits 1997 gemeinsam mit dem EIF Kleinstkredite durch KMU-Garantie gefördert.

(9)  SEK (2004) 1156; Programm Wettbewerbsfähigkeit und Innovation; Beschluss Nr. 1639/2006/EG.

(10)  Vgl. die Website von Eurofi Frankreich: www.eurofi.net.

(11)  Vgl. Verordnung (EG) Nr. 1905/2006 des Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Finanzierungsinstruments für die Entwicklungszusammenarbeit.

(12)  EIF, Europäischer Investitionsfonds.

(13)  Für die Definition von Kleinstunternehmen siehe Empfehlung 2003/361/EG.

(14)  Richtlinie 2006/48/EG über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute.

(15)  Vgl. die Initiative JEREMIE; die Initiative für Wachstum und Beschäftigung (Beschluss Nr. 98/347/EG); das Mehrjahresprogramm für KMU; das Programm Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (Beschluss Nr. 1639/2006/EG); der ELER (Verordnung (EG) Nr. 1698/2005); der Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (Verordnung (EG) Nr. 1927/2006).

(16)  Frankreich und Rumänien. Darüber hinaus gibt es in Großbritannien und Finnland einige spezifische Ausnahmeregelungen, auch wenn es keine einschlägigen Rechtsvorschriften gibt.

(17)  Belgien, Deutschland, Italien und Polen.

(18)  13./14. März 2008, Punkt 11.

(19)  Vgl. hierzu die Stellungnahme CESE 977/2008, Berichterstatter: CAPPELLINI.

(20)  Vgl. KOM (2007) 708 endg. Anhang 3.

(21)  CIP, Programm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation 2007-2013.

(22)  EMN, Europäisches Mikrofinanzierungsnetz; MFC, Mikrofinanzierungszentrum für Mittel- und Osteuropa.

(23)  ELER, Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums.

(24)  1982: Europäisches Jahr des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe.

(25)  1990: Avignon; 1994:Berlin; 1997 Mailand.

(26)  Das Finanz-Engineering basiert auf dem Grundsatz, dass die finanzielle Unterstützung des Kleinunternehmers, der eine neue Wirtschaftstätigkeit aufnehmen oder in neue Produkte oder Prozesse investieren möchte, nicht begrenzt werden darf auf die Beziehung zwischen dem Kleinunternehmer und dem Finanzinstitut, sondern angesichts der sozialen Aufgabe des Unternehmens, auch andere Akteure mit einbeziehen muss, die auf verschiedenen Ebenen Verantwortung übernehmen und einen Teil der Risiken und Kosten untereinander aufteilen.

(27)  EIF, Europäischer Investitionsfonds. Gegründet 1994 auf Initiative der damaligen GD XXIII (die Generaldirektion zur Unterstützung von Kleinbetrieben und Handwerk, welche die „Europäischen Konferenzen“ organisiert hat). und der GD II (Wirtschaft und Finanzen). Der EIF wurde mit einem Anfangskapital von 1 Milliarde ECU von der EIB, 800 Millionen ECU von der Kommission und 200 Millionen ECU ausgestattet, die als Beteiligungsquote in Anteilen in Höhe von jeweils 2 Millionen den europäischen Finanzinstituten überlassen wurden. Mehr als 50 europäische Finanzinstitute nahmen sofort an der Initiative teil.

(28)  Vgl. die U-Bahn in Lille.

(29)  CIP, Unterprogramm 1: Förderung unternehmerischer Initiative; Unterprogramm 2: Förderung der IKT. Unterprogramm 3: Förderung der intelligenten Energie für Europa.

(30)  Die Verbriefung erfolgt mittels der Abtretung eines Teils oder des Gesamtbetrags der Forderungen einer Kreditgenossenschaft (oder einer Bank) an spezialisierte Finanzinstitute, um insbesondere den Kreditgenossenschaften eine Steigerung ihrer Kreditbürgschaftskapazitäten gegenüber den Unternehmen zu ermöglichen.

(31)  Die Mezzanine-Finanzierung stützt sich stärker auf den Cashflow der finanzierten Unternehmen als auf reale Garantien. Sie kann in zwei Formen erfolgen: 1) als nachrangiger Kredit (festverzinsliche oder Indexanleihe); 2) als Equity kicker (der Kreditgeber/Investor hat Anspruch auf eine prozentuale Beteiligung an der Wertsteigerung des Unternehmens, für das der Kredit gewährt wird). Die Mezzanine-Finanzierung hat eine Laufzeit von 4 bis 8 Jahre.

(32)  http://www.eib.org/projects/publications/sme-consultation-2007-2008.htm.

(33)  Das Kreditgenossenschaftssystem hat in vielen EU-Ländern eine lange Tradition und ist auch als europäische Vereinigung präsent und aktiv.

(34)  Kleinstunternehmen machen 94 % aller privaten, nichtlandwirtschaftlichen Betriebe in Europa aus.

(35)  Das Finanz-Engineering, mit dem den Finanzinstituten ein guter Risikoteil genommen wird, ermöglicht es ihnen, leichter und kostengünstiger Kredite zu vergeben, insbesondere an neue und wenig bekannte Unternehmer.

(36)  Gemeinsame Aktionen zwischen Banken und Branchenverbänden zugunsten einer besseren Finanzverwaltung der Kleinstbetriebe wurden bereits in den Dokumenten der ersten europäischen Konferenz für Handwerk 1990 in Avignon und der zweiten Konferenz 1994 in Berlin erwähnt; sie wurden insbesondere von den „Deutschen Volksbanken“ gemeinsam mit dem Zentralverband des deutschen Handwerks (ZDH) weiter entwickelt.

(37)  Vgl. FedartFidi EU, europäischer Verband der handwerklichen Kreditgenossenschaften, der Staaten, die über Kreditgenossenschaftssysteme verfügen.

(38)  5 % von 40 Millionen EUR sind 2 Millionen EUR, aber die Kreditgenossenschaft kommt nur für 50 % der nicht beglichenen Schuld auf, als für 1 Million EUR, die ihr im eigenen Risikokapital zur Verfügung steht. Die Verbriefung dieses Risikofonds kann es den Kreditgenossenschaften ermöglichen, neue Darlehen bis zu einer Obergrenze von 40 Millionen EUR zu gewähren.

(39)  Quelle: Europäische Beobachtungsstelle für KMU.

(40)  49 % der Kleinstbetriebe in der EU haben keine Angestellten. Es handelt sich um Ein-Personen-Unternehmen.

(41)  Vgl. Verordnung Nr. 1836/93/EWG und Verordnung Nr. 761/2001/EG.

(42)  Dokument zur Information über das EU-Programm zur Förderung unternehmerischer Initiative und zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, 2006/2010 GD Unternehmen, 2004, Ziffer 118.

(43)  Quelle: KOM (2007) 235 endg. Bericht der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament über die Finanzierungsinstrumente des Mehrjahresprogramms für Unternehmen und unternehmerische Initiative, insbesondere für die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) (2001-2006)

(44)  Bis zum 31.12.2005 erreichte die durchschnittliche Inanspruchnahme des Loan Guarantee window 67 %, des Micro-credit window 66 % und des Equity window 65 %.


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/29


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 76/769/EWG in Bezug auf Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen (Dichlormethan)“

KOM(2008) 80 endg. — 2008/0033 (COD)

(2009/C 77/05)

Der Rat beschloss am 10. März 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 76/769/EWG in Bezug auf Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen (Dichlormethan)“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 15. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr SEARS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1

Der Vorschlag sieht vor, die Richtlinie 76/769/EWG des Rates dahingehend zu ändern, dass für Dichlormethan (DCM) Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung aufgenommen werden, wenn es als wesentlicher Bestandteil von Abbeizmitteln für Industrie, Gewerbetreibende und private Verbraucher verwendet wird.

1.2

Es handelt sich hierbei um die letzte Änderung der Richtlinie 76/769/EWG des Rates, bevor diese am 1. Juni 2009 durch die Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH) ersetzt wird.

1.3

Der EWSA erkennt die erheblichen wissenschaftlichen und politischen Schwierigkeiten, denen die Kommission gegenübersteht, wenn sie eine angemessene und kosteneffiziente Änderung vorschlägt und durchbringen will, durch die gemäß Richtlinie 76/769/EWG das Funktionieren des Binnenmarktes und zugleich ein hohes Gesundheits- und Umweltschutzniveau gewährleistet werden soll.

1.4

Der EWSA teilt die Ansicht, dass hinreichende Belege dafür vorliegen, dass aufgrund der hohen Volatilität von DCM auftretende Dämpfe in hoher Konzentration zu Bewusstlosigkeit und Tod führen können. Solche Fälle sind auf fehlerhaften professionellen Umgang — etwa unzureichende Belüftung — zurückzuführen. In Bezug auf erhebliche und fortwährende Gefahren für Verbraucher durch gelegentlichen privaten Gebrauch ist die Beweislage dünner. Der Vorschlag eines Verkaufsverbots ist daher unangemessen und wird angesichts der bekannten, aber noch nicht quantitativ erfassten Gefahren von Ersatzstoffen und -verfahren wahrscheinlich zu keiner allgemeinen Verringerung der ziemlich niedrigen Zahl der registrierten Unfälle führen.

1.5

Der EWSA stellt wie die von der Kommission hinzugezogenen Berater fest, dass die besonderen Gefahren von DCM durch die bestehenden Piktogramme bzw. Warn- und Sicherheitshinweise nicht vollständig abgedeckt werden. Selbiges gilt für die Warnhinweise in Bezug auf Kinder, die üblicherweise auf Erzeugnissen für den Hausgebrauch zu finden sind. Dies ist ein Manko der Etikettierung, nicht der betroffenen Erzeugnisse oder Anwender. Um dieser Situation abzuhelfen werden daher Empfehlungen zur Verpackung und Etikettierung ausgesprochen.

1.6

Zu den weiteren festgestellten Problemen gehört insbesondere das Fehlen vereinbarter Grenzwerte für die berufsbedingte Exposition sowie von Leitlinien und Vorschriften zum angemessenen Einsatz in der Industrie. Die deutschen TRGS (Technische Regeln für Gefahrstoffe) 612 wird in diesem Zusammenhang als hervorragendes Beispiel angesehen.

1.7

Einige andere allgemeine Punkte sollten von der Kommission, dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten beachtet werden, in der Hoffnung, dass eine Einigung erzielt werden kann. Andernfalls wird dies zu einer Fragmentierung des Binnenmarkts führen und die Anwender — Arbeiter und Privatleute — werden der Gefahr weiterhin ausgesetzt sein.

2.   Rechtsgrundlage

2.1

Die Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH) wird — wie bereits erwähnt — am 1. Juni 2009 in Kraft treten. Sie wird eine Reihe bestehender Verordnungen und Richtlinien des Rates und der Kommission aufheben und ersetzen, u.a. die Richtlinie 76/769/EWG des Rates vom 27. Juli 1976 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen.

2.2

In Anhang I der Richtlinie 76/769/EWG des Rates sind die Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen aufgeführt, die in den letzten 30 Jahren vereinbart und festgeschrieben wurden. Ab dem 1. Juni 2009 werden sie zum Kernstück von Anhang XVII der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH).

2.3

Frühere Änderungen der Richtlinie 76/769/EWG des Rates (d.h. zur Einführung weiterer Beschränkungen) erfolgten in Form von Richtlinien, die von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden mussten. Bei diesem Vorschlag der Kommission geht es allerdings nicht um eine Richtlinie, sondern um eine Entscheidung, die umgehend in Kraft treten wird. Sie wird dementsprechend keine Umsetzung in einzelstaatliche Rechtsvorschriften erfordern, die ohnehin am 1. Juni 2009 mit dem Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH) hätten aufgehoben werden müssen.

2.4

Alle anschließenden Vorschläge für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gefährlicher Stoffe und Zubereitungen werden gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH) vorgelegt werden.

2.5

Die Stoffe (und die Zubereitungen, die diese Stoffe enthalten), für die Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung für notwendig erachtet wurden, wurden im Allgemeinen aufgrund von Bewertungen bestimmter „mit Vorrang zu prüfender“ Stoffe, die von den Mitgliedstaaten benannt und zwischen 1994 und 2000 in vier Prioritätenlisten veröffentlicht wurden, gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 ermittelt.

2.6

Im Zuge der Überprüfung neuer Probleme auf entsprechende Forderungen der Mitgliedstaaten hin wurden für eine Reihe von Stoffen, die nicht in diesen Listen enthalten waren, ebenfalls Bewertungen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt durchgeführt und/oder Vorschläge für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung vorgelegt — so auch für DCM. Mehrere Mitgliedstaaten haben bereits — aus unterschiedlichen Gründen — Beschränkungen für dessen Verwendung eingeführt bzw. geplant, insbesondere für DCM als Bestandteil von Abbeizmitteln. Andere Mitgliedstaaten halten solche Maßnahmen für übertrieben und teuer und sind der Ansicht, dass dies für die Verbraucher wahrscheinlich weniger zufrieden stellende Ergebnisse mit sich bringen wird. Es gibt Argumente für und gegen beide Standpunkte.

2.7

Der Vorschlag wurde vom Rat erstmals Anfang Juli umfassend geprüft. Kommt es in den kommenden Monaten zu einem Kompromiss, so wird der Vorschlag vermutlich wie geplant angenommen. Andernfalls wird der Vorschlag abgelehnt. Dies würde bedeuten, dass die Fragmentierung des Binnenmarkts für DCM-haltige Abbeizmittel bestehen bleibt bzw. unter Umständen noch verstärkt wird. DCM würde dann zu gegebener Zeit gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH) bewertet werden, wobei dessen Verwendung in Abbeizmitteln als einer von vielen zu untersuchenden Expositionswegen ist. Es ist offensichtlich ungewiss, wie das Ergebnis einer solchen Bewertung sein wird bzw. wann eine abschließende Empfehlung ausgegeben werden kann.

3.   Allgemeiner Kontext

3.1

DCM ist ein farbloser, aliphatischer halogenierter Kohlenwasserstoff mit niedrigem Siedepunkt und leicht süßlichem Geruch. Der Stoff wurde in großem Umfang viele Jahre lang als starkes, nur schwer brennbares Lösungsmittel bei der Herstellung von Arzneimitteln, Aerosolen und Klebstoffen sowie für das Abbeizen von Farbe, die Metallentfettung und als Extraktionslösungsmittel für Lebensmittel verwendet.

3.2

Obwohl es als einer der sichereren Halogen-Kohlenwasserstoffe mit niedrigem Molekulargewicht gilt, sollte DCM dennoch mit Vorsicht verwendet werden. In Europa ist es als krebserregender Stoff der Kategorie 3 eingestuft, d.h. es ist ein Stoff, der „zu der Besorgnis Anlass gibt, dass er beim Menschen Krebs erzeugt, für dessen befriedigende Beurteilung jedoch nicht genügend Informationen vorliegen“. Es muss daher mit dem R-Satz R40 („Verdacht auf krebserzeugende Wirkung“) versehen werden. Außerdem zählt es zu den vordringlichen Stoffen gemäß der Wasserrahmenrichtlinie.

3.3

Mehr Anlass zur Besorgnis gibt jedoch die Tatsache, dass es sich um ein starkes Betäubungsmittel handelt, das das zentrale Nervensystem beeinträchtigt und Bewusstlosigkeit verursachen bzw. zum Tod führen kann. Es hat eine Reihe von Unfällen und Todesfällen gegeben, die für gewöhnlich im Zusammenhang mit einer unsicheren Arbeitsweise und übermäßiger Exposition auftraten, meistens bei Tätigkeiten an offenen Behältern in der Industrie oder bei umfangreicher gewerblicher Verwendung. Die Verwendung in geschlossenen Systemen — soweit möglich — hilft diesen Gefahren ab.

3.4

Die Produktionsmengen von DCM in Europa (in Produktionsstätten in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich und Rumänien) nehmen langsam ab, da immer mehr Ersatzstoffe zur Verfügung stehen. Von den derzeit in Europa hergestellten ca. 240 000 Tonnen DCM werden ca. 100 000 Tonnen exportiert. 30-50 % der verbleibenden Menge gehen an die pharmazeutische Industrie, 10-20 % werden als „reines“ DCM in Abbeizmitteln verkauft. Wiederverwertetes DCM aus der pharmazeutischen Industrie macht eine vergleichbare Menge aus. Der Vorschlag betrifft lediglich die Verwendung von DCM in Abbeizmitteln.

3.5

Abbeizen ist in den meisten Haushalten als wesentliches Verfahren zur Instandhaltung und Verzierung von Gegenständen aus Holz, Metall, Stein oder Gips und von Oberflächen innerhalb und außerhalb der Räumlichkeiten bekannt. Des Weiteren wird es für eine Reihe spezialisierter Tätigkeiten verwendet, etwa zur Restaurierung von Kunstwerken, dem Entfernen von Graffiti und der Oberflächenbehandlung großer beweglicher Gegenstände wie Züge und Flugzeuge.

3.6

Abbeizmittel werden etwas willkürlich in drei Kategorien eingeteilt: „industrielle Verwendung“ (d.h. bei kontinuierlicher umfangreicher Verwendung in einem Betrieb), „gewerbliche Verwendung“ (an verschiedenen Orten tätige Spezialisten, auf dem Bau, durch Lackierer) und „für den Hausgebrauch“ (gelegentlich durch Privatleute durchgeführte Instandhaltungsarbeiten).

3.7

Die Zahlen der tatsächlichen Unfälle für jede Gruppe sind schwer zu ermitteln. Angesichts der Tatsache, dass die Symptome einer Überdosis DCM denjenigen einer Herzinsuffizienz ähneln, könnte es unter Umständen eine gewisse Dunkelziffer geben. Die Angaben, die das Beratungsunternehmen RPA der Kommission vorgelegt hat, beziehen sich auf drei bis vier Zwischenfälle jährlich während der vergangenen 20 Jahre in Europa (davon jährlich ein Todesfall), die auf die Verwendung von DCM-haltigen Abbeizmitteln zurückzuführen sind. Todesfälle traten in Frankreich (6), Deutschland (6) und dem Vereinigten Königreich (5) auf, Unfälle ohne Todesfolge im Vereinigten Königreich (36), in Schweden (12) und in Frankreich (6). Im südlichen Europa wurde innerhalb des von RPA untersuchten Zeitraums (1930-2007) lediglich ein Zwischenfall registriert, nämlich ein Todesfall in der Industrie 2000 in Spanien. Örtliche klimatische Bedingungen und Arbeitsmethoden könnten hierbei den Ausschlag geben, da bei warmen Wetter die Fenster geöffnet, die Räumlichkeiten somit gut belüftet sind und die Gefahren kaum ins Gewicht fallen. In kälteren Breiten könnte das Gegenteil zutreffend sein.

3.8

Die Todesfälle verteilen sich gleichmäßig auf industrielle und gewerbliche Verwender. Der überwiegende Teil der Unfälle ohne Todesfolge entfällt auf die Verwendung durch als „gewerblich“ eingestufte Verwender. Die festgestellten Todesfälle sind fast ausschließlich auf unzureichende Belüftung und eine nicht angemessene Benutzung der persönlichen Schutzausrüstung zurückzuführen, insbesondere in der Nähe offener Großbehälter.

3.9

Ein 1993 in Frankreich gemeldeter Todesfall einer Person, die möglicherweise ein Verbraucher (oder doch ein Gewerbetreibender) war, kann nicht mehr überprüft werden, wodurch diese möglicherweise wesentliche Information wenig brauchbar erscheint. Der einzige andere tödliche Unfall eines Verbrauchers wurde 1960 in den Niederlanden gemeldet. Andere Faktoren können eine Rolle gespielt haben.

3.10

Natürlich gibt es Alternativen zu DCM-haltigen chemischen Abbeizmitteln. Diese werden allgemein in drei Kategorien eingeteilt — physikalisches bzw. mechanisches (Sandstrahlen, Abschaben, Hochdruckreinigen), pyrolytisches bzw. thermisches (in Öfen, über heißen Wirbelbetten, mittels Schweißbrenner oder Heißluftgebläse) und und chemisches Entfernen (mittels Hochleistungslösungsmitteln — einschließlich DCM — oder ätzenden, im Allgemeinen stark alkalischen Flüssigkeiten und Pasten, durch Ameisensäure oder wasserstoffperoxidhaltige Mittel). Entsprechend den jeweiligen Gegebenheiten kann jedes der Verfahren funktionieren bzw. bevorzugt sein. Alle Verfahren bringen die ein oder andere Gefahr mit sich, entweder durch Partikel, Hitze, Feuer, Explosionsgefahr, Reizung von Augen und Haut, oder aufgrund der Zusammensetzung der zu entfernenden Beschichtungen, insbesondere durch Blei in vor 1960 verwendeten Farben und Lacken. Bei mehreren, teilweise über 100 Jahre alten Schichten in Altbauten, die renovierbar und teilweise sehr begehrt sind, bzw. bei empfindlichen Oberflächen, die nicht beschädigt werden dürfen, muss mehr als eine Technik eingesetzt und durch gewisses Experimentieren nach der richtigen Lösung gesucht werden.

3.11

Zu den Marktanteilen dieser verschiedenen Verfahren aller drei Kategorien bzw. den jeweiligen Kosten pro behandelten Quadratmeter wurden keinerlei Angaben vorgelegt. DCM gilt weiterhin als das meistverwendete Lösungsmittel, insbesondere bei den privaten Verbrauchern. Ebenfalls beliebt sind Anwendungen auf Ätznatronbasis. Ein Kostenvergleich gestaltet sich sogar innerhalb der Kategorie der chemischen Mittel schwierig. Es ist unbestritten, dass DCM-haltige Abbeizmittel billiger als alternative Produkte sind. Dieser Vorteil dürfte aber verloren gehen, wenn die vollen Kosten für Schutzausrüstung (sofern benutzt) und Abfallentsorgung (wo nötig) eingerechnet werden.

3.12

Die Gesamtkosten hängen auch von den Durchsatzzeiten ab. Langsamer wirkende, aber dafür unbedenklichere Anwendungen und Verfahren erhöhen die Kosten der Arbeiten und verringern den Gewinn. Lösungsmittel mit höherem Siedepunkt ermöglichen es, größere Flächen auf einmal abzubeizen, müssen aber länger einwirken. Die Exposition der Verbraucher würde sich somit verlängern und die Gefahr von Zwischenfällen beim Hausgebrauch erhöhen. (Die Annahme von RPA, dass Verbraucher weniger am Zeitgewinn interessiert sind, „da sie Abbeizarbeiten normalerweise in ihrer Freizeit ausführen“, ist sicherlich fragwürdig.) Neue Arbeitsmethoden und Veränderungen der Arbeitsabläufe werden für alle Benutzer an Bedeutung gewinnen. Durch den Übergang zu Produkten auf Wasserbasis könnte die Industrie Kosteneinsparungen bei der Belüftung erzielen, gleichzeitig würden die Kosten für die Wartung der Behälter und Leitungen zur Verringerung der Korrosion stark ansteigen. Aufgrund dieser Variablen ist es äußerst schwierig, die Auswirkungen einer Beschränkung für jede dieser Anwendungen vorherzusagen. Unter diesen Umständen sind die Verbraucher besonders gefährdet, die sich angesichts der widersprüchlichen Ansichten auf Regierungsebene nicht mehr sicher sein können, dass sie mit ihrer Wahl von Ersatzprodukten eine gute Entscheidung treffen.

3.13

Eine beliebte Alternative für das Lösungsmittel DCM, N-Methyl-2-pyrrolidon (NMP), wurde kürzlich als fortpflanzungsgefährdender Stoff der Kategorie 2 eingestuft, was letztendlich zu einem Verkaufsverbot für Zubereitungen führen wird, die diesen Stoff enthalten, wobei sich solch ein Verkaufsverbot auf den Verkauf an Verbraucher, nicht auf den an Gewerbetreibende und die Industrie beziehen wird. Andere Lösungsmittel wie 1.3-Dioxolan sind leicht entzündlich.

3.14

Auf dibasischen Estern (DBE) basierende Systeme — Mischungen aus Dimethyladipat, Succinaten und Glutaraten — scheinen derzeit die aussichtsreichsten Alternativen zu sein, da sie in Bezug auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt wenig Anlass zur Sorge geben. Dimethylsulfoxid (DMSO) und Benzylalkohol sind anscheinend ebenfalls relativ „sicher“. Ob diese als kosteneffizient angesehen werden, hängt jedoch von vielen Faktoren ab, und es kann nicht garantiert werden, dass sie letztendlich als „sichere“ Alternativen breite Anwendung finden werden.

3.15

Alles in Allem ist klar, dass es keinen in jeder Hinsicht akzeptablen Ansatz gibt — und dass unangemessene Maßnahmen zu einem Anstieg der derzeit relativ niedrigen Zahl registrierter Zwischenfälle führen könnten. Die Schwierigkeit besteht darin, eine Lösung zu finden, die alle Seiten zufriedenstellt, insbesondere die Mitgliedstaaten, die andere Erfahrungen gemacht haben und daher verständlicherweise einen dezidierten Standpunkt haben.

4.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags

4.1

Durch den Vorschlag der Kommission sollen die menschliche Gesundheit und die Umwelt geschützt und der Binnenmarkt für Dichlormethan (DCM) erhalten werden, insbesondere dessen Verwendung als wesentlicher Bestandteil von Abbeizmitteln für Industrie, Gewerbetreibende und private Verbraucher.

4.2

Der Vorschlag beinhaltet ein Verkaufsverbot für DCM-haltige Abbeizmittel an die breite Öffentlichkeit und Gewerbetreibende, die entsprechend geschulten und von den zuständigen Stellen in den Mitgliedstaaten zugelassenen Gewerbetreibenden ausgenommen. Verkäufe an Industriebetriebe sollen nur dann zulässig sein, wenn eine Reihe von Vorsichtsmaßnahmen, insbesondere eine ausreichende Belüftung und die Bereitstellung und Benutzung von geeigneter persönlicher Schutzausrüstung, getroffen werden. Alle DCM-haltigen Abbeizmittel sollen dauerhaft mit dem Hinweis „Nur für industrielle und gewerbliche Zwecke“ versehen werden (und dann wohl nur an entsprechend lizenzierte Verwender abgegeben werden dürfen).

4.3

12 Monate nach Inkrafttreten der Entscheidung sollen keine neuen DCM-haltigen Abbeizmittel mehr zur Abgabe an private oder gewerbliche Verbraucher in Verkehr gebracht werden. Jegliche Abgabe an diese beiden Gruppen soll nach weiteren 12 Monaten untersagt sein.

4.4

Die Entscheidung soll am dritten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft treten.

4.5

Dem Vorschlag liegt eine Begründung und ein Arbeitspapier der Kommission (Folgenabschätzung) bei. Weiteres Material besteht aus Folgenabschätzungen, die für die Kommission von externen Beratern (RPA, TNO) erstellt wurden, und aus Berichten zu bestimmten Aspekten (ETVAREAD-Untersuchung zur Effizienz von Dampfhemmern). Diese wurden wiederum vom betreffenden wissenschaftlichen Ausschuss (SCHER) geprüft. Es gibt keinen offiziellen Bericht über die Risikobewertung der EU, da DCM von keinem Beteiligten trotz der bereits bekannten Bedenken als vorrangige Substanz angegeben wurde.

4.6

Einige EU-Mitgliedstaaten (und andere große Volkswirtschaften und Handelspartner wie die Schweiz und die Vereinigten Staaten) haben ebenfalls Studien durchgeführt, um bestimmte — und oftmals stark voneinander abweichende — rechtliche und politische Standpunkte zu unterstützen. Die betreffenden Branchen haben umfangreiche Angaben zu möglichen Gefahren und der Kosteneffizienz verschiedener Produkte und Verfahren zusammengestellt, die erwartungsgemäß ebenfalls stark voneinander abweichen. Anmerkungen anderer interessierter Kreise wurden 2004 auf der europäischen Woche für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz „Sicher Bauen!“ nach einer vom dänischen Maler- und Lackiererverband veranstalteten Konferenz festgehalten. Laut RPA hatten der Europäische Verbraucherverband (BEUC), die Europäische Föderation der Bergbau-, Chemie- und Energiegewerkschaften (EMCEF) und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) im April 2007 noch keine offiziellen Stellungnahmen abgegeben.

5.   Allgemeine Bemerkungen

5.1

Der EWSA erkennt die Schwierigkeiten, denen die Kommission gegenübersteht, wenn sie eine angemessene und kosteneffiziente Änderung der Richtlinie 76/769/EWG in Bezug auf die Verwendung von DCM als Lösungsmittel in Abbeizmitteln vorschlägt. Es wurden relativ wenige Zwischenfälle gemeldet und überprüft. Es könnte unter Umständen eine gewisse Dunkelziffer geben. Die derzeit geltenden Rechtsvorschriften wurden nicht immer eingehalten und erscheinen in Bezug auf die Kennzeichnung unangemessen. Es gibt Ersatzstoffe und -verfahren, die jedoch noch nicht bewertet wurden und von denen ebenfalls Gefahren ausgehen. Die Gründe für abweichende Standpunkte der Mitgliedstaaten sind berechtigt. Es kann nicht garantiert werden, dass das Gesamtergebnis der am ehesten betroffenen Gruppe entgegenkommen wird.

5.2

Der EWSA stellt außerdem fest, dass es sich angesichts des offensichtlichen Zeitdrucks um die letzte Gelegenheit handelt, Maßnahmen im Rahmen der besagten Richtlinie zu ergreifen. Wenn sich die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament nicht auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen können und die vorgeschlagene Entscheidung (in dieser oder in abgeänderter Form) nicht verabschiedet und umgesetzt wird, dann werden keine weiteren Maßnahmen ergriffen, bis DCM für alle seine Verwendungen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH) bewertet worden ist.

5.3

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass eine solche Verzögerung unter dem Aspekt des Umweltschutzes und der Gesundheit der Anwender am Arbeitsplatz und im privaten Bereich unnötig und nicht wünschenswert ist. Der EWSA würde eine Fragmentierung des Binnenmarkts auf diesem oder anderen Gebieten zutiefst bedauern. Allen Beteiligten sollte klar sein, dass eine Grundlage für eine Einigung gefunden werden muss. Hierbei muss es um das Abwägen von Risiken gehen, nicht darum, zur Vermeidung der einen Gefahr eine andere Gefahr in Kauf zu nehmen.

5.4

In dieser Hinsicht stellt der EWSA fest, dass DCM gefahrlos in geschlossenen Systemen hergestellt, gelagert, transportiert und verwendet werden kann. DCM ist weder entzündlich noch trägt es zur Bildung von bodennahem Ozon bei. In offenen Systemen, z.B. beim Abbeizen, hat DCM jedoch problematische Eigenschaften wie hohe Volatilität (es verdunstet schnell), die Dichte der entstehenden Dämpfe (es sammelt sich am niedrigsten Punkt oder dort, wo es keine ausreichende Belüftung gibt) oder die narkotische Wirkung (die zu Bewusstlosigkeit und Tod führen kann). Dies stellt eine besondere Gefahr für Kinder dar. DCM wird außerdem als krebserzeugender Stoff der Kategorie 3 eingestuft, wobei diese mögliche Gefahr bei der Kennzeichnung aller DCM-haltigen Produkte dominiert.

5.5

U.a. RPA haben festgestellt, dass dies sowohl irreführend wie unangemessen ist, wenn es um den Schutz der (gewerblichen und privaten) Anwender geht. Die geltenden Rechtsvorschriften kennen keine Warn- und Sicherheitshinweise bzw. Piktogramme und das Global harmonisierte System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien keine Gefährdungssymbole, die angemessen vor Bewusstlosigkeit (und der damit verbundenen Todesgefahr) oder vor — und das ist noch erstaunlicher — vor ernsten Gefahren für Kinder warnen (die natürlich auf viele im Haushalt verwendete Produkte und Verfahren zuträfen).

5.6

Die Konzentration auf das mögliche aber bisher nicht bewiesene Krebsrisiko ist ebenfalls irreführend. Der SCHER hat in seiner Stellungnahme zur ETVAREAD-Untersuchung zu Dampfhemmern festgestellt, dass der Stoffwechselmechanismus bei einer Maus für den getesteten Endpunkt nicht derselbe wie beim Menschen ist und DCM bei dieser Beweislage wahrscheinlich nicht als krebserzeugender Stoff einzustufen ist. Es gibt wenig Beweise, die aus einer tatsächlichen Verwendung ableitbar wären. Die Ergebnisse zweier amerikanischer umfangreicher epidemiologischer Studien an DCM-exponierten Kohorten anderer Industriezweige liegen noch nicht vor. Kohorten in der EU waren vielleicht auch anderen bekannten krebserzeugenden Stoffen wie Styrol ausgesetzt. RPA hat unter dieser Rubrik keinerlei Beweise für tatsächliche Gefahren vorgelegt, die sich aus einer DCM-Exposition beim Abbeizen ergäben. Der geforderte R-Satz R68 („Irreversibler Schaden möglich“) ist unter diesen Umständen nicht sehr nützlich.

5.7

Es ist außerdem darauf hinzuweisen, dass die Gefahren übermäßiger DCM-Exposition eindeutig aus der von RPA vorgelegte Zwischenfallstatistik für den Zeitraum 1930-2007 hervorgehen und dass diese im Allgemeinen auf besonders schlechte Arbeitsabläufe zurückzuführen sind. Entsprechende Daten zu Ersatzstoffen und -verfahren wurden nicht gesammelt. Es ist die Frage, inwieweit diese Daten auf die Verwendung durch Gewerbetreibende oder Verbraucher im Haushalt übertragbar sind. Angaben zu chronischen (langfristigen) industriellen Auswirkungen auf die Gesundheit könnten Probleme für akute (kurzfristige) Expositionen von Verbrauchern aufzeigen, während Statistiken über Zwischenfälle, um die es sich hierbei vielleicht handelt, schwerer anteilsmäßig zuzuordnen sind.

5.8

In den Studien wurde außerdem der Mangel an europaweit einheitlichen Grenzwerten für die berufsbedingte Exposition am Arbeitsplatz hervorgehoben. Bei den Grenzwerten für eine einzige Substanz (DCM) gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und zwischen den Substanzen (etwa DCM gegenüber DBE oder DMSO). Die Hersteller müssen ihrer Fürsorgepflicht gegenüber ihren Arbeitnehmern nachkommen; die Regulierungsbehörden müssen hierfür einen eindeutigen, stimmigen und wissenschaftlich fundierten ordnungspolitischen Rahmen schaffen.

5.9

In dieser Hinsicht nimmt der EWSA insbesondere die Technischen Regeln für Gefahrstoffe TRGS 612 für Ersatzstoffe für DCM-haltige Abbeizmittel zur Kenntnis, die vom deutschen Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) veröffentlicht werden (Fassung vom Februar 2006). Dies dürfte ein Modell sein, dem andere folgen könnten, um die Sicherheit am Arbeitsplatz zu erhöhen, und das überdies auch viel ausführlicher als der Vorschlag der Kommission ist.

5.10

In den meisten Fällen sollte die Hierarchie folgender Fragen befolgt werden: a) kann das Verfahren durch Ersatzstoffe sicherer gemacht werden? b) wenn nicht, warum nicht? sowie c) wurden alle angemessenen Maßnahmen ergriffen, um den Arbeitsplatz sicher zu machen? Die möglichen Gefahren und Vorteile von Ersatzstoffen und -verfahren sollten umfassend berücksichtigt werden. Vor allem muss es Einschätzungen zu den Ergebnissen geben, die von einer Entscheidung, eine erhebliche Menge eines bestimmten Materials vom Markt zu nehmen, zu erwarten sind; wie werden die Verbraucher reagieren und wird ihre Reaktion ihre persönliche Sicherheit erhöhen?

5.11

Als Beispiel kann die Situation in einem Mitgliedstaat angeführt werden, in dem ein Verkaufsverbot für DCM-haltige Produkte — nicht von DCM selbst — eingeführt wurde, und zwar für industrielle und gewerbliche Verwender gleichermaßen. Ein starkes Lösungsmittel kann weiterhin durch das Mischen von DCM mit Methanol vor Ort hergestellt werden. Das Ergebnis ist ein billigeres Produkt, dem jedoch die Tenside und die Dampfhemmer fehlen, die das industriell gefertigte Produkt effizienter und sicherer machen. Dies ist daher ein Beispiel für ein unerwünschtes Ergebnis.

5.12

Wie von RPA und der Kommission festgehalten wurde, kann die Unterteilung in die verschiedenen Verwenderkategorien im wirklichen Leben nur schwer gerechtfertigt bzw. aufrechterhalten werden. Der einzige tatsächliche Unterschied besteht darin, dass für kontinuierliche Abbeizarbeiten mit hohem Durchsatz, die in einem einzigen Betrieb durchgeführt werden, große offene Behälter mit chemischen Stoffen benötigt werden, in die die Gegenstände eingetaucht werden. Arbeiten außerhalb eines Betriebes kommen ohne Eintauchen aus, weshalb dort keine großen offenen Behälter benutzt werden. Die Arbeitsweisen in den spezialisierten Betrieben werden von anderen Richtlinien abgedeckt, z.B. über organische Lösungsmittel und über die Abwasserqualität, die strikt umgesetzt werden sollten, während die Arbeiten außerhalb solcher Betriebe eher von der Sorgfalt und dem gesunden Menschenverstand des Einzelnen abhängen. Gibt es einen Arbeitgeber, so ist dieser dafür verantwortlich, dass jeder Arbeitnehmer unter den bestmöglichen Bedingungen arbeitet.

5.13

Die Kategorie „gewerbliche Verwendung“ sollte aufgeteilt werden, und zwar in Gewerbetreibende, die ständig spezielle Reinigungsarbeiten durchführen (z.B. Entfernen von Graffiti, Restaurierung von Fassaden, Zügen und Flugzeugen), und solche, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit nur gelegentlich Abbeizarbeiten als notwendige, aber zeitaufwändige Vorbereitung für gewinnbringendere Tätigkeiten durchführen (Bauarbeiter, Dekorateure und „Verbraucher“). Die Bedürfnisse, Fähigkeiten und das Schutzbedürfnis dieser letztgenannten Gruppen scheinen identisch zu sein, weshalb sie gleich behandelt werden sollten.

5.14

Außerdem wurde vorgeschlagen, bestimmte Anwender weiterzubilden und zu lizenzieren, um durch diese Ausnahme einen Kompromiss zwischen unterschiedlichen Standpunkten zu ermöglichen. Allerdings ist es problematisch, die Verwendung DCM-haltiger Abbeizmittel mit z.B. Asbestsanierungsarbeiten oder dem Umgang mit radioaktiven Abfällen zu vergleichen, wofür ganz sicher Genehmigungen erforderlich sind. Angesichts der hohen Kosten für die Einrichtung und Überwachung eines solchen Systems wird dieser Vorschlag wahrscheinlich nicht den Bedürfnissen aller Akteure gerecht.

6.   Besondere Bemerkungen

6.1

Im Lichte der vorstehenden Ausführungen vertritt der EWSA die Auffassung, dass der vorliegende Vorschlag weder angemessen noch an sich dazu geeignet ist, die Zahl der Zwischenfälle mit DCM am Arbeitsplatz oder im privaten Bereich zu senken. Angesichts der beachtlichen tatsächlich vorhandenen und auch politischen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten sollten andere Ansätze erwogen und ohne weitere Verzögerung umgesetzt werden.

6.2

Dazu gehören Veränderungen an Verpackung und Etikettierung DCM-haltiger Abbeizmittel, um die Unfallgefahr soweit wie möglich zu senken und auf tatsächliche Gefahren hinzuweisen. Der Verkauf an Personen, die nicht regelmäßig im Bereich Farbabbeizungen — sei es innerhalb eines Betriebes, sei es an verschiedenen Orten — tätig sind, unabhängig davon, ob diese Personen als „Spezialisten“ oder „private Verbraucher“ betrachtet werden, sollte auf eine Höchstmenge von 1 Liter pro Behälter und Kauf beschränkt werden. Die Verschlüsse der Behälter sollten gemäß den entsprechenden geltenden oder neuen EU-Verordnungen und -Richtlinien und/oder EN ISO 8317:2004 und 862:2005 kindergesichert sein. Um das Verschüttungsrisiko zu begrenzen, wäre ebenfalls eine Verjüngung des Behälterausgangs zweckmäßig, obwohl die sich daraus ergebende Notwendigkeit des Umfüllens vor der Anwendung mit dem Pinsel die positive Wirkung dieser Maßnahme bereits wieder einschränkt. Wenn den Herstellern daran gelegen ist, diese Produkte langfristig auf dem Markt zu halten, sollten sie sich aktiv um neue und sicherere Auslieferungssysteme bemühen. Ein Verkauf großer Mengen an alle anderen Verbraucher, sei es für die „industrielle“ oder regelmäßige „professionelle“ Anwendung, sollte in Mengen von nicht weniger als 20 Litern erfolgen. Die Hersteller und Lieferanten sollten ihrer Sorgfaltspflicht in allen Situationen genügen und für ausreichende Informationen und Anleitung Sorge tragen, um eine sichere Handhabung und Entsorgung bei sämtlichen Anwendungen zu gewährleisten.

6.3

Neue Piktogramme und Warn- und Sicherheitshinweise, die vor Bewusstlosigkeit und den Gefahren für Kinder warnen, sollten so bald wie möglich entwickelt werden, um die bereits vorhandenen Piktogramme und Hinweise zu ergänzen. Für DCM-haltige Abbeizmittel (und andere Produkte mit ähnlicher Wirkung) wären angemessene Formulierungen für alle Anwender z.B.: „Chemikalie mit betäubender Wirkung: führt in hoher Konzentration zu Bewusstlosigkeit und Tod“; „Nicht im Beisein von Kindern oder hilflosen Erwachsenen verwenden“; „Nicht in geschlossenen Räumen verwenden: Erstickungsgefahr“. Solche Formulierungen erscheinen angesichts der Beweislage gerechtfertig und den tatsächlichen Erfordernissen angemessen. Diese Hinweise sollten nicht unauffällig inmitten weniger wichtiger Warnhinweise aufgeführt sein. Eine eindeutige Warnung und ein unmissverständliches Piktogramm hinsichtlich der Notwendigkeit, Kinder zu schützen, hätten voraussichtlich eine bessere Wirkung als viele komplizierterer Ratschläge. Der gegenwärtige S2-Satz („Darf nicht in die Hände von Kindern gelangen“) ist in dieser Hinsicht ungeeignet.

6.4

Es ist eindeutig ein standardisierter und konsistenter Satz von EU-weiten Grenzwerten für die berufsbedingte Exposition vonnöten, um die Sicherheit am Arbeitsplatz weiter zu verbessern. Das wäre ein nutzbringender Effekt des REACH-Programms in den kommenden Jahren.

6.5

Eine gute Arbeitsweise und die strenge Einhaltung aller vorhandenen Vorschriften sind offensichtlich grundsätzliche Punkte des Risikomanagements sowohl bei einer arbeitsbedingten als auch bei der privaten Anwendung. Hersteller und Händler tragen die Verantwortung für gute Anwendungsbeschreibungen und dafür, dass Mitglieder der Allgemeinheit und andere gelegentliche Anwender gefährlicher Stoffe oder Verfahren die entsprechenden Empfehlungen befolgen können. Sicherheitshinweise und Schutzvorrichtungen sollten mit derselben Intensität und mit denselben Anreizen beworben werden wie die Materialien, die sie betreffen.

6.6

Der Ansatz, der bei der Erstellung der deutschen Technischen Regel für Gefahrstoffe TRGS 612 gewählt wurde, sollte die Grundlage EU-weiter Kontrollen bilden. Zusätzliche technische Hinweise hinsichtlich der Belüftung und Entsorgung könnten, wenn nötig, hinzugefügt werden. Gute Verfahrensweisen sollten veröffentlicht und ausgetauscht werden.

6.7

Laufende Studien in den USA hinsichtlich einer Langzeit-Exposition gegenüber DCM sollten so bald wie möglich zu Ende geführt werden, und die Ergebnisse sollten dem SCHER zur Beurteilung vorgelegt werden. Es sollten Möglichkeiten in Betracht gezogen werden, Kohorten für Studien in der EU zu finden.

6.8

Eine systematische Bewertung der mit Abbeizen verbundenen Risiken sollte ebenfalls vorgenommen werden, so dass alle Produkte und Verfahren auf einer gleichwertigen Grundlage beurteilt werden können. Dies würde zu einem besseren Verständnis ihrer Leistungsmerkmale und -risiken und so letztendlich zu mündigeren Entscheidungen des Anwenders sowohl am Arbeitsplatz als auch im privaten Bereich führen. Diese Vorschläge sollen aber in keiner Weise die Verabschiedung der oben genannten Kontrollmaßnahmen verzögern.

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/35


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 68/151/EWG und 89/666/EWG des Rates im Hinblick auf die Veröffentlichungs- und Übersetzungspflichten von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen“

KOM(2008) 194 endg. — 2008/0045 (COD)

(2009/C 77/06)

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 23. Mai 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 68/151/EWG und 89/666/EWG des Rates im Hinblick auf die Veröffentlichungs- und Übersetzungspflichten von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen“

Das Präsidium des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses beauftragte am 21. April 2008 die Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch mit den Vorarbeiten.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten beschloss der Ausschuss auf seiner 447. Plenartagung am 18. September 2008, Herrn IOZIA zum Hauptberichterstatter zu bestellen, und verabschiedete mit 72 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA billigt den Inhalt der vorgeschlagenen Richtlinie und betrachtet diese Maßnahme als einen weiteren Schritt im Rahmen der Strategie zur Verwaltungsvereinfachung, die in der Mitteilung „Strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union“ vorgesehen ist.

1.2

Er schließt sich damit den positiven Einschätzungen seiner Binnenmarktbeobachtungsstelle an, die in zahlreichen Stellungnahmen die Initiativen zur Verwaltungsvereinfachung im Gesellschaftsrecht stets befürwortet hat. Demnach tragen diese Initiativen durch die Verringerung der Kosten für die Unternehmen erheblich zur Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft bei, sofern dadurch der Schutz der Anliegen anderer Interessengruppen nicht in Frage gestellt wird.

1.3

Der EWSA betont, dass der hier erörterte Vorschlag zur Änderung der Richtlinien 68/151/EWG (Erste Gesellschaftsrechtrichtlinie) und 89/666/EWG (Elfte Gesellschaftsrechtrichtlinie) eine Vereinfachung und Verringerung der Verwaltungslasten auf dem heiklen Gebiet der Veröffentlichungs- und Übersetzungspflichten von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen vorsieht, denen oft unverhältnismäßig hohe und mitunter ungerechtfertigte Belastungen auferlegt werden.

1.4

Der EWSA unterstützt die vorgeschlagenen Maßnahmen, die durch geringfügige Änderungen des gemeinschaftlichen Besitzstands nicht nur eine Verringerung der Verwaltungslasten für die Unternehmen bewirken, wie aus der Folgenabschätzung hervorgeht, sondern auch der Möglichkeit ungerechtfertigter Hemmnisse für den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr in der Union einen Riegel vorschieben.

1.5

Der EWSA bewertet diese Maßnahmen daher positiv und schließt sich der Aufforderung des Rates an die Kommission an, weitere Schritte zur Verringerung des in verschiedenen Sektoren noch bestehenden unangemessenen Verwaltungsaufwands zu unternehmen, der — ohne den Nutzern irgendwelche Vorteile zu bringen — auf den Unternehmen lastet und ihre Fähigkeit zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen des globalen Wettbewerbs einschränkt.

1.6

Der EWSA empfiehlt der Kommission, die Mitgliedstaaten anzuhalten, die Vereinfachung der Verwaltungsakte für Unternehmen fortzuführen und dazu vorzusehen, dass alle Daten, die nach den geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften veröffentlichungsbedürftig sind, ins Internet gestellt werden.

2.   Hintergrund

2.1

Nach einer Reihe von im Jahr 2005 eingeleiteten Überprüfungen hat die Kommission ein Programm zur Vereinfachung der Rechtsvorschriften gestartet, um die durch geltende Vorschriften verursachten Kosten und Verwaltungslasten zu verringern; sie ließ sich dabei von der Überlegung leiten, dass unnötige Kosten die Wirtschaftstätigkeit in der Gemeinschaft bremsen und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beeinträchtigen.

2.2

Am 14. November 2006 legte die Kommission eine Mitteilung mit dem bezeichnenden Titel „Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union“ (1) und das Arbeitsdokument „Berechnung der Verwaltungskosten und Verringerung der Verwaltungslasten in der Europäischen Union“ (2) vor. In beiden Initiativen wird betont, dass die Vereinfachung greifbare wirtschaftliche Vorteile für die Unternehmen bringen soll, jedoch keine negativen Folgen für die Empfänger der betreffenden Informationen haben darf.

2.3

Diese strategische Ausrichtung wurde anschließend im März 2007 durch ein Aktionsprogramm zur Verringerung der Verwaltungslasten (3) (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht) ergänzt, in dem eine 25 %ige Verringerung der Verwaltungslasten bis 2012 als Ziel festgelegt wurde.

2.4

Im März 2007 wurden mehrere Vorschläge zur Verringerung des Verwaltungsaufwands im beschleunigten Verfahren angenommen, und am 10. Juli 2008 legte die Kommission eine Mitteilung mit Vorschlägen für Vereinfachungen in den Bereichen Gesellschaftsrecht, Rechnungslegung und Abschlussprüfung (4) vor.

2.5

Auf seiner Tagung am 13./14. März 2008 forderte der Europäische Rat die Kommission auf, ihre Bemühungen in dieser Richtung fortzusetzen und neue legislative Vorschläge für die Verringerung des Verwaltungsaufwands zu ermitteln (5).

2.6

In diesen Kontext fügt sich der Vorschlag für eine Richtlinie über die Veröffentlichungs- und Übersetzungspflichten im Gesellschaftsrecht ein, mit dem eine Verringerung und/oder Abschaffung derjenigen Angabepflichten, die den Empfängern dieser Informationen keinen Mehrwert bringen, in Angriff genommen wird.

3.   Der Vorschlag der Kommission

3.1

Mit der hier erörterten Richtlinie soll laut Kommission die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen gestärkt werden, indem die durch die geltenden Rechtsvorschriften bedingten Verwaltungslasten dort beseitigt und/oder verringert werden, wo sie keinem Informationsbedürfnis der Empfänger entsprechen, den Unternehmen jedoch unnötige Zusatzkosten verursachen.

3.2

Die Kommission schlägt hierzu eine Änderung der Richtlinien 68/151/EWG (Erste Gesellschaftsrechtrichtlinie) und 89/666/EWG (Elfte Gesellschaftsrechtrichtlinie) im Hinblick auf die Veröffentlichungs- und Übersetzungspflichten von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen vor.

3.3

Bei der erstgenannten Gesellschaftsrechtrichtlinie 68/151/EWG wird eine in Bezug auf die dort in Artikel 3 Absatz 4 vorgesehenen Bestimmungen neue Mindestveröffentlichungspflicht festgelegt. Zweck dieser Artikeländerung ist die Abschaffung einiger der derzeitigen Verpflichtungen zur Veröffentlichung der Angaben über die Unternehmensgründung sowie des Jahresabschlusses im nationalen Amtsblatt; letzterer ist nach geltendem Recht jährlich zu veröffentlichen.

3.4

Diese Vereinfachung bedeutet keine Verringerung des Mehrwerts für die Empfänger, zumal in Zeiten, in denen der Zugriff auf die Informationen des Handelsregisters, den die Mitgliedstaaten im erforderlichen Maße gewährleisten müssen, immer öfter mit elektronischen Mitteln online erfolgt.

3.5

Die Mitgliedstaaten müssen einen elektronischen Zugang zu den chronologisch dargestellten Informationen gewährleisten; es steht ihnen nach wie vor frei, darüber hinaus zusätzliche Formen der Veröffentlichung festzulegen, sofern diese den Unternehmen keine zusätzlichen Kosten verursachen.

3.6

Was die Richtlinie 89/666/EWG (Elfte Gesellschaftsrechtrichtlinie) betrifft, wird die derzeitige Praxis geändert, wonach die Unternehmen auch bei der Registrierung einer Zweigniederlassung sämtliche Dokumente ihres Dossiers übersetzen lassen müssen.

3.7

Gemäß Artikel 4 in der Fassung der neuen Richtlinie müssen die Unterlagen in einer Amtssprache der Gemeinschaft offengelegt werden, und es wird als ausreichend betrachtet, wenn die Übersetzung nach einem von den Behörden eines anderen Mitgliedstaates anerkannten Verfahren beglaubigt wurde. Sämtliche Mitgliedstaaten haben diese Bescheinigungen zu akzeptieren und dürfen, abgesehen von den in Absatz 1 und 2 vorgeschriebenen Formalitäten, keine weiteren offiziellen Anforderungen auferlegen, womit das Ziel, die Kosten für die Übersetzung und die Beglaubigung auf ein Minimum zu senken, erreicht wird.

3.8

Die Rechtsgrundlage für die neuen Richtlinie ist ebenso wie für die bisherigen Richtlinien Artikel 44 Absatz 2 Buchstabe g des EG-Vertrags; die Kommission vertritt überdies die Auffassung, dass das Subsidiaritätsprinzip und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eingehalten werden und die Maßnahmen gerechtfertigt sind.

3.9

Die Kommission gibt an, dass die vorgeschlagenen Änderungen und die Folgenabschätzung von einer überaus repräsentativen Zahl von Interessengruppen (110 Gruppen aus 22 Mitgliedstaaten) geprüft und gebilligt wurden. Diese positiven Reaktionen sind auf der Website der Generaldirektion Binnenmarkt und Dienstleistungen (GD MARKT) abrufbar.

3.10

Der Folgenabschätzung zufolge bestehen Einsparungspotenziale von jährlich insgesamt 410 Mio. EUR bei der Veröffentlichung der Jahresabschlüsse und von rund 200 Mio. EUR pro Jahr bei der Veröffentlichung von im Handelsregister eingetragenen Änderungen. Bei der Übersetzung und Beglaubigung können insgesamt Kosten von rund 22 Mio. EUR eingespart werden.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA hat in zahlreichen von seiner Binnenmarktbeobachtungsstelle erarbeiteten Stellungnahmen seine Unterstützung für die Verwaltungsvereinfachung im Rahmen der „Strategischen Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union“ bekundet.

4.2

In seinen Stellungsnahmen hat der Ausschuss dieses Programm uneingeschränkt befürwortet, da damit ein konkreter Beitrag zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen geleistet wird, indem vielfach überholte und unangemessene Verwaltungslasten im Gesellschaftsrecht, die den Unternehmen auferlegt wurden, gesenkt werden, ohne dass dadurch der Schutz der Anliegen anderer Interessengruppen in Frage gestellt wird.

4.3

Der EWSA unterstreicht, dass dieses Programm, das Maßnahmen auf dem heiklen Gebiet der Veröffentlichungs- und Übersetzungspflichten vorsieht, nicht nur eine deutliche Verringerung der Kosten bewirkt, wie aus der Folgenabschätzung hervorgeht, sondern auch die Glaubwürdigkeit der europäischen Dimension stärkt, indem allen Versuchungen, künstliche und ungerechtfertigte Hemmnisse für den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr in der Union zu schaffen, ein Riegel vorgeschoben wird.

4.4

Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass die bislang eingeleiteten Initiativen nach gründlicher Bewertung der verfolgten Ziele sowie unter gebührender Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf den Weg gebracht wurden und ihnen eine eingehende Konsultation aller interessierten Kreise vorausgegangen ist.

4.5

Der EWSA billigt daher den Inhalt der vorgeschlagenen Richtlinie, die er als einen wichtigen Schritt im Rahmen der Gesamtstrategie betrachtet, und schließt sich der Aufforderung des Rates an die Kommission an, in weiteren Sektoren und Bereichen tätig zu werden, in denen eine Vereinfachung notwendig erscheint, um die zahlreichen noch auf den Unternehmen lastenden Pflichten zu verringern.

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  „Strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union“, KOM(2006) 689 endg., ABl. C 78 vom 11.4.2007, S. 9.

(2)  „Berechnung der Verwaltungskosten und Verringerung der Verwaltungslasten in der Europäischen Union“, KOM(2006) 691 endg.

(3)  „Aktionsprogramm zur Verringerung der Verwaltungslasten in der Europäischen Union“, KOM(2007) 23 endg.

(4)  Mitteilung der Kommission über ein vereinfachtes Unternehmensumfeld in den Bereichen Gesellschaftsrecht, Rechnungslegung und Abschlussprüfung, KOM(2007) 394 endg.

(5)  Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Brüssel, 13./14. März 2008 — Dok. 7652/08 CONCL 1.


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/37


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates im Hinblick auf bestimmte Angabepflichten mittlerer Unternehmen sowie die Pflicht zur Erstellung eines konsolidierten Abschlusses“

KOM(2008) 195 endg. — 2008/0084 (COD)

(2009/C 77/07)

Der Rat beschloss am 23. Mai 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 44 Absatz 1 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates im Hinblick auf bestimmte Angabepflichten mittlerer Unternehmen sowie die Pflicht zur Erstellung eines konsolidierten Abschlusses“

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch am 21. April 2008 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Aufgrund der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 447. Plenartagung (Sitzung vom 18. September 2008) Herrn CAPPELLINI gemäß Artikel 20 und Artikel 57 Absatz 1 der Geschäftsordnung zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 59 Stimmen bei 1 Gegenstimme folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt die Ausdehnung der in der Vierten Richtlinie Gesellschaftsrecht vorgesehenen Freistellungsmöglichkeiten auf mittlere Unternehmen, da dies zu einer Verringerung des Berichtsaufwands für diese Unternehmen führt.

1.2

Der EWSA begrüßt auch die vorgeschlagenen Änderungen der Siebenten Richtlinie Gesellschaftsrecht, da sie das Verhältnis zwischen den Konsolidierungsvorschriften dieser Richtlinie und den International Financial Reporting Standards klarstellen.

1.3

Der EWSA begrüßt insbesondere, dass das Ziel der Vereinfachung der Rechnungslegung verfolgt wird: den Abschlussadressaten gehen keine wesentlichen Informationen verloren und andere Interessengruppen bleiben im Wesentlichen unberührt. Die vorgeschlagene Vereinfachung richtet sich nach den Bedürfnissen der KMU und der Adressaten von Finanzdaten.

1.4

Bislang gibt es zu wenig Untersuchungen und Belege zur Bestimmung der Bedürfnisse der Nutzer, die in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich gelagert sein können. Bevor weitere Änderungen an den Rechnungslegungsvorschriften für KMU vorgenommen werden, sollte die gegenwärtige Haltung bezüglich der Inanspruchnahme der in der Vierten und Siebenten Richtlinie vorgesehenen Optionen überprüft werden. Dabei sollte u.a. Folgendes untersucht werden: (a) die Nutzung der bestehenden Optionen, (b) die Begründungen der Mitgliedstaaten für die von ihnen gewählten Optionen sowie (c) der Erfolg der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Verwirklichung ihrer Ziele.

1.5

Der Ausschuss empfiehlt daher, in diesem Bereich Untersuchungen durchzuführen, die künftig als Grundlage für vernünftige politische Vorschläge dienen können.

1.6

Die Rechnungslegungsvorschriften gehören zu den ersten auf Gemeinschaftsebene harmonisierten Rechtsbereichen. Der EWSA betont, dass die Vollendung des Binnenmarkts von zentraler Bedeutung ist und verweist darauf wie wichtig es ist, durch Harmonisierung einheitliche Bedingungen in der EU zu schaffen.

1.7

In der EU nimmt die grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit von KMU zu. Gewichtige Gründe sprechen daher für die weitere Harmonisierung der Rechnungslegungsrahmen und -vorschriften, um (a) dieses Wachstum des Handels zu unterstützen und (b) einheitliche Bedingungen zu schaffen.

2.   Allgemeiner Kontext

2.1

In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 8./9. März 2007 wurde betont, dass die Verringerung des Verwaltungsaufwands — insbesondere aufgrund des möglichen Nutzens für KMU — eine wichtige Maßnahme zur Ankurbelung der europäischen Wirtschaft ist.

2.2

Der Europäische Rat wies nachdrücklich darauf hin, dass eine große gemeinsame Anstrengung der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten erforderlich ist, um durch die Vereinfachung der Angabepflichten für kleine und mittlere Unternehmen den Verwaltungsaufwand in der EU zu verringern; als Rechtsgrundlage für die entsprechenden Maßnahmen soll Artikel 44 Absatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (1) herangezogen werden.

2.3

Rechnungslegung und Abschlussprüfung wurden als Bereiche ermittelt, in denen der Verwaltungsaufwand der Unternehmen in der Gemeinschaft (2) verringert werden kann.

2.4

Dabei lag das Augenmerk insbesondere auf der Frage, wie die Berichtspflichten für kleine und mittlere Unternehmen weiter verringert werden können.

2.5

In der Vergangenheit wurde eine Reihe von Änderungen vorgenommen, die es den unter die Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG fallenden Unternehmen ermöglichen sollten, die Rechnungslegungsmethoden der International Financial Reporting Standards (IFRS) anzuwenden.

2.6

Nach der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Juli 2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards (3) müssen Gesellschaften, deren Wertpapiere zum Handel an einem geregelten Markt eines Mitgliedstaats zugelassen sind, ihre konsolidierten Abschlüsse nach IFRS erstellen und sind damit von den meisten Anforderungen der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG befreit. Für die Rechnungslegung kleiner und mittlerer Unternehmen in der Gemeinschaft stellen diese Richtlinien aber nach wie vor die Grundlage dar.

2.7

Zwar unterliegen kleine und mittlere Unternehmen oftmals den gleichen Vorschriften wie größere Gesellschaften, doch wurden ihre speziellen Rechnungslegungserfordernisse in der Vergangenheit kaum bewertet. Insbesondere die wachsende Zahl der vorgeschriebenen Angaben bereitet diesen Unternehmen Probleme. Umfangreiche Rechnungslegungsvorschriften stellen eine finanzielle Belastung dar und können einem wirksamen Kapitaleinsatz zu Produktivzwecken im Wege stehen.

2.8

Bei der Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 hat sich auch gezeigt, dass die Beziehung zwischen den in der Richtlinie 83/349/EWG vorgeschriebenen Rechnungslegungsstandards und den IFRS klargestellt werden muss.

2.9

Für den Fall, dass Aufwendungen für die Errichtung und Erweiterung eines Unternehmens in der Bilanz als Aktiva ausgewiesen werden können, müssen sie nach Artikel 34 Absatz 2 der Richtlinie 78/660/EWG im Anhang erläutert werden.

2.10

Kleine Unternehmen können nach Artikel 44 Absatz 2 derselben Richtlinie von dieser Verpflichtung befreit werden. Um unnötigen Verwaltungsaufwand abzubauen, sollte die Möglichkeit bestehen, auch mittlere Unternehmen von dieser Angabepflicht zu entbinden.

2.11

Nach der Richtlinie 78/660/EWG müssen Nettoumsatzerlöse nach Tätigkeitsbereichen und geografisch bestimmten Märkten aufgegliedert werden. Dies gilt zwar für alle Unternehmen, doch können kleine Unternehmen nach Artikel 44 Absatz 2 dieser Richtlinie von dieser Verpflichtung befreit werden. Um unnötigen Verwaltungsaufwand abzubauen, sollte die Möglichkeit bestehen, auch mittlere Unternehmen von dieser Angabepflicht zu entbinden.

2.12

Die Richtlinie 83/349/EWG verpflichtet ein Mutterunternehmen selbst dann zur Erstellung eines konsolidierten Abschlusses, wenn das einzige Tochterunternehmen oder alle Tochterunternehmen zusammengenommen im Hinblick auf die Zielsetzung von Artikel 16 Absatz 3 der Richtlinie 83/349/EWG nur von untergeordneter Bedeutung sind. Damit fallen diese Unternehmen unter die Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 und müssen ihren konsolidierten Abschluss nach IFRS erstellen. Dies wird in Fällen, in denen eine Muttergesellschaft nur Tochterunternehmen von untergeordneter Bedeutung hat, als Belastung angesehen.

2.13

Es sollte deshalb die Möglichkeit bestehen, eine Muttergesellschaft von der Pflicht zur Erstellung eines konsolidierten Abschlusses und eines konsolidierten Lageberichts zu befreien, wenn ihre sämtlichen Tochterunternehmen sowohl für sich als auch zusammengenommen als von untergeordneter Bedeutung angesehen werden können.

2.14

Da die Ziele dieser Richtlinie, nämlich die Verringerung des Verwaltungsaufwands für kleine und mittlere Unternehmen im Zusammenhang mit bestimmten Angabepflichten und für bestimmte Unternehmen in der Gemeinschaft im Zusammenhang mit der Pflicht zur Erstellung eines konsolidierten Abschlusses auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann und daher wegen des Umfangs und der Wirkungen der Maßnahme besser auf Gemeinschaftsebene zu erreichen ist, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags verankerten Subsidiaritätsprinzip tätig werden.

2.15

Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Verhältnismäßigkeitsprinzip geht diese Richtlinie nicht über das für die Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus.

2.16

Die Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG sollten daher entsprechend geändert werden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die Änderung der Richtlinie 78/660/EWG (Vierte Richtlinie Gesellschaftsrecht) (4) zielt darauf ab, mittleren Unternehmen die Rechnungslegung zu erleichtern (5) und sie kurzfristig von bestimmten Pflichten bei der Vorlage von Abschlüssen zu befreien. Die Änderungen dürften den Verwaltungsaufwand für diese Unternehmen verringern, ohne dass dabei wichtige Informationen verloren gehen.

3.2

Die Änderung der Richtlinie 83/349/EWG (Siebente Richtlinie Gesellschaftsrecht) (6) zielt darauf ab, das Verhältnis zwischen den Konsolidierungsvorschriften dieser Richtlinie und den IFRS klarzustellen.

3.3   Anhörung und Folgenabschätzung

3.3.1

Die Diskussion über eine deutliche Verringerung der regulatorischen Belastungen für die KMU im Rahmen der Vierten und Siebenten Richtlinie Gesellschaftsrecht wurde von der Europäischen Kommission frühzeitig zusammen mit der Anhörung der interessierten Kreise angestoßen, um sicherzustellen, dass die KMU im europäischen Binnenmarkt gedeihen können. Das Problem der regulatorischen Belastungen für KMU ist ausnahmslos darauf zurückzuführen, dass die ursprünglichen Vorschriften für große Unternehmen konzipiert waren. Derartige Vorschriften sind für KMU nicht unbedingt relevant und verursachen häufig einen erheblichen Verwaltungs- und Kostenaufwand.

3.4   Vereinfachung auf der Grundlage der Erfordernisse der KMU und der Adressaten von Finanzdaten

3.4.1

Die Diskussionen dürfen sich nicht allein auf die „Vereinfachung“ konzentrieren, sondern müssen sich auch mit der „Relevanz“ der Rechnungslegungsvorschriften für die KMU — im Gegensatz zu großen börsennotierten Unternehmen — beschäftigen. Bei der Debatte über die Vereinfachung stehen eher die Kosten im Vordergrund, während es bei der Debatte über die Relevanz um den Nutzen der Rechnungslegung sowie bestimmte Adressaten und ihre Bedürfnisse geht.

3.4.2

Die Vereinfachung der Rechnungslegungsrichtlinie muss von den tatsächlichen Bedürfnissen der KMU und der Adressaten ihrer Abschlüsse ausgehen. Die Untersuchung der Adressaten und ihrer Bedürfnisse ist bei der Entwicklung eines europäischen Rechnungslegungsrahmens für die KMU von entscheidender Bedeutung, um die Nützlichkeit und Relevanz der Rechnungslegung zu gewährleisten. Die Adressaten sind vielfältiger Natur: Finanzinstitute (z.B. Rating), Behörden (Steuern, Bekämpfung der Geldwäsche usw.).

3.4.3

Auch darf nicht vergessen werden, dass die KMU selbst wichtige Adressaten für die Finanzdaten sind, z.B. in ihrer Funktion als Zulieferer und Subunternehmer für andere KMU in Situationen, in denen die Bewertung der Kreditwürdigkeit wichtig ist.

3.4.4

Im Zusammenhang mit der „Vereinfachung“ der Rechnungslegungsvorschriften für die KMU ist es wichtig, dass gründliche Folgenabschätzungen vorgenommen werden, einschließlich einer Bewertung des Nutzens der Rechnungslegung sowie der finanziellen/administrativen Belastungen. Bei derartigen Folgenabschätzungen sollten auch die Gründe, aus denen die Rechnungslegungspflichten ursprünglich auferlegt wurden, sowie die Interessen der Anteilseigner (bezüglich Transparenz usw.), die dadurch geschützt werden sollten, mit berücksichtigt werden.

3.5   Harmonisierung zwecks Schaffung einheitlicher Bedingungen in der EU

3.5.1

In der EU nimmt die grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit von KMU (7) zu. Gewichtige Gründe sprechen daher für die weitere Harmonisierung der Rechnungslegungsrahmen und -vorschriften, um (a) dieses Wachstum des Handels zu unterstützen und (b) einheitliche Bedingungen zu schaffen. Möglicherweise wird es notwendig sein, weniger Optionen vorzusehen und zu einer Maximalharmonisierung überzugehen, beispielsweise im Bereich der Veröffentlichung von finanziellen Informationen und des öffentlichen Zugangs zu derartigen Informationen.

3.6   Keine verbindlichen internationalen Rechnungslegungsstandards für KMU

3.6.1

Das KMU-Projekt des IASB ist die Konsequenz der Forderungen von Standardisierungsorganisationen, Wirtschaftsprüfern und anderen interessierten Kreisen nach einer Alternative zum vollständigen IFRS-Standard. Die IASB, die diesem Projekt ursprünglich ablehnend gegenüberstand, ließ sich davon überzeugen, dass die Mehrheit der Interessengruppen auf seine Weiterführung drängt und nur die IASB anerkanntermaßen über die notwendige Glaubwürdigkeit und Autorität verfügt, um hohe durchsetzbare Rechnungslegungsstandards festzulegen. Ausgangsbasis für dieses Projekt war jedoch der vollständige IFRS-Standard, der für börsennotierte Unternehmen entwickelt worden war.

3.6.2

Bei der Entwicklung des vollständigen IFRS-Standards ließ man sich von der Vorstellung leiten, dass die Rechnungslegung von börsennotierten Unternehmen und ihren Aktionären genutzt werden sollte. Wie oben ausgeführt, wird die Rechnungslegung im Falle von KMU häufiger für interne oder informelle Zwecke (im Zusammenhang mit Zulieferern, Subunternehmern, Kreditinstituten usw.) genutzt denn aufgrund rechtlicher oder sonstiger Verpflichtungen zur Berichterstattung an einen breiten Nutzerkreis.

3.6.3

Die verbindliche Anwendung des IFRS-Standards oder anderer neuer Regelungen, die auf denen für börsennotierte Unternehmen basieren, würde zu einem erheblichen administrativen und finanziellen Aufwand für die KMU führen, der vermutlich in keinem Verhältnis zu einem eventuellen Nutzen stünde. Der enge Zusammenhang zwischen Jahresabschluss und Steuererklärung würde die KMU in verschiedenen Mitgliedstaaten außerdem dazu zwingen, parallel zwei Finanzberichte zu führen, was zusätzlichen bürokratischen Aufwand verursachen würde.

3.7   Vereinfachung der Richtlinien

3.7.1

Was die Optionen angeht, mit denen für die KMU eine Vereinfachung in den Rechnungslegungsrichtlinien erzielt werden soll und bei denen es sich im Wesentlichen um eine Ausweitung der bestehenden Optionen für KMU im Rahmen dieser Richtlinien handelt, muss vor der Verabschiedung neuer Richtlinien untersucht werden, inwieweit diese Optionen in den Mitgliedstaaten greifen. Der EWSA empfiehlt außerdem die regelmäßige Anwendung des Prinzips „Only once“ auf allen Ebenen (8).

3.7.2

Bevor weitere Änderungen an den Rechnungslegungsvorschriften für KMU vorgenommen werden, sollte die gegenwärtige Haltung bezüglich der Inanspruchnahme der in der Vierten und Siebenten Richtlinie vorgesehenen Optionen überprüft werden. Dabei sollte u.a. Folgendes untersucht werden: (a) die Nutzung der bestehenden Optionen, (b) die Begründungen der Mitgliedstaaten für die von ihnen gewählten Optionen sowie (c) der Erfolg der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Verwirklichung ihrer Ziele.

3.7.3

Ein Hauptproblem der gegenwärtigen Situation ist ein „Top-down“-Ansatz, der (a) Verwaltungsaufwand für die KMU verursacht und (b) eine geringe Relevanz der Rechnungslegungsrahmen und -standards für diese Unternehmen zur Folge hat. Bei einer künftigen Überprüfung der Rechnungslegung in der EU sollte dieses Problem durch einen „Bottom-up“-Ansatz gelöst werden. Bei einem solchen Ansatz würden die Bedürfnisse der KMU und anderer Akteure im Vordergrund stehen, und er würde sich wie oben vorgeschlagen auf die Untersuchung der Adressaten und ihrer Erfordernisse stützen.

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  ABl. C 325 vom 24.12.2002, S. 35.

(2)  EU Projekt Basismessung und Verringerung von Verwaltungskosten, zweiter Zwischenbericht vom 15. Januar 2008, S. 37. Der Schlussbericht wurde bislang noch nicht veröffentlicht. (Siehe KOM(2008) 195 endg., Fußnote 6).

(3)  ABl. L 243 vom 11.9.2002, S. 1.

(4)  ABl. L 222 vom 14.8.1978, S. 11. Zuletzt geändert durch die Richtlinie 2006/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 224 vom 16.8.2006, S. 1).

(5)  Begriffsbestimmungen siehe Artikel 27 (mittlere Unternehmen) der Vierten Richtlinie Gesellschaftsrecht.

(6)  ABl. L 193 vom 18.7.1983, S. 1. Zuletzt geändert durch die Richtlinie 2006/99/EG des Rates (ABl. L 363 vom 20.12.2006, S. 137).

(7)  Siehe die Stellungnahmen des EWSA zur Bedeutung des Binnenmarkts:

CESE 952/2006 „Strategie zur Vereinfachung des ordnungspolitischen Umfelds“ (INT/296) ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 18;

CESE 89/2007 „Überprüfung des Binnenmarktes“ (INT/332), ABl. C 93 vom 27.4.2007, S. 25;

CESE 1187/2008 „Politische Maßnahmen für KMU“ (INT/390) (noch nicht im ABl. veröffentlicht);

CESE 979/2008 „Internationale Beschaffungsmärkte“ (INT/394) (noch nicht im ABl. veröffentlicht).

(8)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die verschiedenen politischen Maßnahmen, die — neben einer angemessenen Finanzierung — Wachstum und Entwicklung von KMU fördern können“ (Sondierungsstellungnahme), INT/390. Dieses Prinzip bedeutet, dass den Unternehmen nicht mehrmals Informationen, die die Behörden bereits auf anderem Wege erhalten haben, abverlangt werden dürfen. Dies gilt für alle Ebenen (für die europäische, nationale, regionale und lokale Ebene).


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/41


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über vorgeschriebene Angaben an zweirädrigen oder dreirädrigen Kraftfahrzeugen“ (kodifizierte Fassung)

KOM(2008) 318 endg. — 2008/0099 (COD)

(2009/C 77/08)

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 18. Juni 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über vorgeschriebene Angaben an zweirädrigen oder dreirädrigen Kraftfahrzeugen“ (kodifizierte Fassung)

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags vollkommen zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

 

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/41


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Führersitz von land- oder forstwirtschaftlichen Zugmaschinen auf Rädern“ (kodifizierte Fassung)

KOM(2008) 351 endg. — 2008/0115 (COD)

(2009/C 77/09)

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 7. Juli 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Führersitz von land- oder forstwirtschaftlichen Zugmaschinen auf Rädern“ (kodifizierte Fassung)

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags vollkommen zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

 

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/42


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter“ (kodifizierte Fassung)

KOM(2008) 344 endg. — 2008/0109 (COD)

(2009/C 77/10)

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 7. Juli 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 44 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter“ (kodifizierte Fassung)

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags vollkommen zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

 

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/42


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung (EG) Nr. …/… des Europäischen Parlaments und des Rates vom […] über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel“ (kodifizierte Fassung)

KOM(2008) 369 endg. — 2008/0126 (COD)

(2009/C 77/11)

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 7. Juli 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung (EG) Nr. …/… des Europäischen Parlaments und des Rates vom […] über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel“ (kodifizierte Fassung)

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags vollkommen zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

 

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/43


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen“

KOM(2008) 19 endg. — 2008/0016 (COD)

(2009/C 77/12)

Der Rat beschloss am 3. März 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 175 Absatz 1 und Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen“

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 16. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr RIBBE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) mit 105 gegen 38 Stimmen bei 10 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA hat die Klimaschutzpläne des Europäischen Rates aus 2007 begrüßt, die u.a. mit dieser Richtlinie umgesetzt werden sollen.

1.2

Er unterstützt ausdrücklich die Aussage der Kommission, wonach der angestrebte Ausbau der erneuerbaren Energien (im Folgenden als „EE“ abgekürzt) nicht nur klimapolitisch sinnvoll ist, sondern ganz klare Vorteile für die Energieversorgungssicherheit, die regionale und lokale Entwicklung, die ländliche Entwicklung, die Exportchancen, den sozialen Zusammenhalt und die Beschäftigungsmöglichkeiten, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen und unabhängige Energieerzeuger hat bzw. haben kann.

1.3

Insofern begrüßt der EWSA den Richtlinienvorschlag sowie das 20 %-Ziel für den Anteil erneuerbarer Energieträger. Er sieht in den EE nicht nur einen Beitrag zum Klimaschutz, sondern auch eine richtige strategische energiepolitische Vorgabe, die zu höherer Energieautarkie und somit größerer Versorgungssicherheit führen wird.

1.4

Die Zielvorgabe „minus 20 % CO2 bis 2020“, die mit anderen Richtlinien vollzogen werden soll (1), und die Vorgabe „20 % Endenergie aus EE“, die mit diesem Vorschlag behandelt wird, korrelieren eng miteinander und ergänzen sich. Sie sind aber dennoch unabhängig voneinander zu sehen. Dies gilt umso mehr, als einige der EE nicht unbedingt immer klimapolitisch eindeutig positive Effekte haben (siehe Ziffer 6 „Agro-Kraftstoffe“).

1.5

Da der anerkannt notwendige Umbau unseres Energiesystems mit hohen Investitionskosten verbunden sein wird, ist darauf zu achten, dass den Mitgliedstaaten ein hohes Maß an Flexibilität eingeräumt wird, damit sie immer dort aktiv werden können, wo jeweils mit den geringsten Kosten der größte Nutzen, gemessen an Klimaschutz und Arbeitsplatzschaffung, erreicht werden kann.

1.6

Der EWSA betont, dass er sich klar zum Ausbau der EE bekennt und dass ihm bewusst ist, dass mittel- und langfristig ein weitaus höherer Anteil als die bis zum Jahr 2020 avisierten 20 % nötig ist, um die ehrgeizigen Ziele des Rates (minus 60-80 % beim CO2, sowie höhere Energieautarkie) zu erreichen.

1.7

Der EWSA stellt fest, dass die strategische Festlegung auf den teilweisen Ersatz von Diesel bzw. Benzin durch Agro-Kraftstoffe eine der am wenigsten effektiven und teuersten Klimaschutzmaßnahmen ist und derzeit eine extreme Fehlallokation von Finanzmitteln bedeutet. Weshalb gerade die teuersten Maßnahmen politisch am intensivsten gefördert werden sollen, zumal neben wirtschaftlichen noch eine Unmenge ökologischer und sozialer Fragen völlig unbeantwortet ist (siehe Ziffer 6 „Agro-Kraftstoffe“), kann der EWSA nicht nachvollziehen. Er lehnt deshalb das separate 10 % Ziel für Agro-Kraftstoffe ab.

1.8

Es wird begrüßt, dass die EU plant, Nachhaltigkeitskriterien für Agro-Kraftstoffe aufzustellen. Die in dem Vorschlag formulierten ökologischen Kriterien gehen aber nicht weit genug, soziale Fragen werden überhaupt nicht angesprochen, so dass der Richtlinienvorschlag in diesem Punkt völlig unzureichend ist (2).

2.   Einleitung

2.1

Mit der Richtlinie sollen verbindliche Ziele für den Ausbau der EE festgelegt werden. Geplant ist ein Anteil von insgesamt 20 % im Jahr 2020 am Endenergieverbrauch in der EU sowie ein für jeden Mitgliedstaat verbindlicher Biokraftstoff (3)-Mindestanteil im Verkehrssektor von 10 % (4).

2.2

Das europäische 20 %-Ziel soll durch die Umsetzung verbindlich festzulegender nationaler Einzelziele, die in Anhang I Teil A aufgelistet sind, erreicht werden. In nationalen Aktionsplänen müssen dabei die Mitgliedstaaten Sektorziele für Strom, Wärme/Kälte und den Verkehrssektor/Agro-Kraftstoffe festlegen sowie entsprechende Maßnahmen zur Erreichung der Ziele beschreiben.

2.3

Die Richtlinie fußt auf den Beschlüssen des Europäischen Frühjahrsgipfels 2007. Sie wird damit begründet, dass mit dem Einsatz von regenerativen Energien dem Klimawandel entgegengewirkt werden soll. Gleichzeitig wird aber auch beschrieben, dass gerade der „Sektor der erneuerbaren Energien die Möglichkeit (bietet), […] lokale und dezentrale Energiequellen zu nutzen und technologische Entwicklungen zu fördern, mit denen Unternehmen weltweite Spitzenpositionen erlangen“ können.

2.4

Laut Kommission handelt es sich bei den erneuerbaren Energiequellen „größtenteils um heimische Ressourcen, für die die künftige Verfügbarkeit herkömmlicher Energiequellen unerheblich ist, zumal ihre überwiegend dezentrale Verfügbarkeit dazu beiträgt, dass unsere Volkswirtschaften weniger anfällig für Versorgungskrisen sind“. Die Versorgungssicherheit ist also, neben dem Klimaschutz und der Innovations- und Wirtschaftsentwicklung, eine weitere wichtige Begründung der Kommission.

2.5

Die Kommission argumentiert, dass „die Entwicklung des Marktes für erneuerbare Energiequellen und entsprechender Technologien […] ganz klare Vorteile für die Energieversorgungssicherheit, die regionale und lokale Entwicklung, die ländliche Entwicklung, die Exportchancen, den sozialen Zusammenhalt und die Beschäftigungsmöglichkeiten, insbesondere auf kleine und mittlere Unternehmen und unabhängige Energieerzeuger“ hat.

2.6

Die Richtlinie legt nicht nur die genannten quantitativen Ziele fest, sondern regelt u.a. auch

wie der Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen (Art. 5) errechnet wird, inkl. der Frage der Importe,

die Herkunftsnachweise (Art. 6 — Art. 10),

den Zugang zum Elektrizitätsnetz (Art. 14),

die Kriterien für die ökologische Nachhaltigkeit von Agro-Kraftstoffen sowie deren Klimarelevanz (Art. 15 ff.),

die Rahmenbedingungen für die nationalen Fördersysteme, um Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern.

2.7

Mit der Verabschiedung der neuen Richtlinie werden die Richtlinien 2001/77/EG zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt, in der das bisherige Ziel „21 % Stromanteil aus erneuerbaren Energiequellen am gesamten Stromverbrauch bis 2010“, sowie die Richtlinie 2003/30/EG zur Förderung der Verwendung von Agro-Kraftstoffen oder anderen erneuerbaren Kraftstoffen im Verkehrssektor, mit der ein 5,75 %iger Anteil bis 2010 erreicht werden sollte, aufgehoben.

3.   Allgemeine Bemerkungen zu den übergeordneten und den klimapolitischen Zielsetzungen der Richtlinie

3.1

Der Europäische Rat hat 2007 „bekräftigt, dass absolute Emissionsreduktionsverpflichtungen das Rückgrat eines globalen Kohlenstoffmarkts bilden sollten. Die entwickelten Länder sollten hierbei weiterhin die Vorreiterrolle übernehmen, indem sie sich verpflichten, ihre Treibhausgasemissionen bis 2020 gemeinsam in einer Größenordnung von 30 % gegenüber 1990 zu verringern. Ihr Blick sollte dabei auch auf das Ziel gerichtet sein, ihre Emissionen bis 2050 gemeinsam um 60 bis 80 % gegenüber 1990 zu verringern“.

3.2

Der vorgelegte Richtlinienvorschlag ist ein Baustein in der Umsetzung dieses Beschlusses. Der EWSA hat die Klimabeschlüsse des Europäischen Rates begrüßt und betont, dass Energiesparen und -effizienz oberste Priorität genießen müssen. An einem massiven Ausbau der EE wird kein Weg vorbeiführen, er ist nicht nur klimapolitisch geboten, sondern wird allein wegen der absehbaren Verknappung der fossilen Ressourcen mittel- bis langfristig notwendig sein. Die derzeit zu beobachtenden rapiden Preissteigerungen bei den fossilen Energien werden mit dafür sorgen, dass sich die Wirtschaftlichkeit vieler EE schneller einstellen wird.

3.3

Der EWSA begrüßt ausdrücklich, dass die Kommission im Erläuterungstext nicht nur Klimaaspekte anspricht, sondern den Fragen der Versorgungssicherheit und der Arbeitsplätze eine zentrale Bedeutung beimisst. Mehrfach wird betont, wie wichtig dezentrale Energieversorgungsstrukturen beispielsweise für die regionale Wirtschaftskraft und die ländlichen Räume sein können (siehe Ziffer 2.4 und 2.5). Der Ausschuss sieht dies genauso. Er hält es aber für zwingend notwendig, die einzelnen EE-Strategien genau unter diesen Aspekten weitaus differenzierter zu betrachten, als dies bisher geschehen ist.

3.4

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass eine Führungsrolle Europas bei der Entwicklung und Implementierung von EE sowohl klimapolitisch positiv ist als auch dem europäischen Wirtschaftsstandort perspektivisch Wettbewerbsvorteile verschafft. Der Richtlinienvorschlag ist ein klares energie-, umwelt- und industriepolitisches Signal; im Hinblick auf die anstehenden internationalen Klimaverhandlungen auch an die globale Staatengemeinschaft.

3.5

Die eigentliche „Lastenverteilung“, d.h. die jeweiligen nationalen Beiträge zum europäischen Reduktionsziel von insgesamt 20 % beim CO2, sind in dem „Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anstrengungen der Mitgliedstaaten zur Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen mit Blick auf die Erfüllung der Verpflichtungen der Gemeinschaft zur Reduktion der Treibhausgasemissionen bis 2020“ (KOM(2008) 17 endg.) und dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG zwecks Verbesserung und Ausweitung des EU-Systems für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten“ (KOM(2008) 16 endg.) festgelegt.

3.6

Der EWSA hält eine Vorgabe von 20 % EE-Anteil bis 2020 politisch-strategisch für sinnvoll und auch technisch wie wirtschaftlich für machbar, der Einstieg in eine post-fossile Energiepolitik wird dadurch sichtbar. Er ist auch der Auffassung, dass die einzelnen nationalen Zielsetzungen erreicht werden können, zumal den Mitgliedstaaten durchaus flexible Möglichkeiten (Zukauf, Beteiligung an Projekten etc.) an die Hand gegeben werden. Klar ist, dass ein Umbau des Energiesystems nicht zum Nulltarif zu haben und auch nicht ohne strukturelle Veränderung möglich ist. Investitionen sind nicht nur in Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien erforderlich, sondern auch in die Schaffung von Energiespeichertechnologien und -kapazitäten zum Ausgleich von Schwankungen bei der Stromerzeugung infolge ungenügender Windstärke oder Sonneneinstrahlung sowie in den Ausbau zwischenstaatlicher Stromleitungen in der EU. Allein durch die Betonung der Energieerzeugung werden wir die geplanten Zielsetzungen nicht erreichen.

3.7

Deutschland beispielsweise fördert die Stromproduktion aus regenerativen Energien über ein Einspeisungsgesetz, der Ökostromanteil liegt derzeit bei 15 %; die Mehrkosten, die von den Stromverbrauchern über eine höhere Einspeisevergütung aufgebracht werden, liegen bei ca. 3,5 Mrd. EUR pro Jahr. Nicht gegengerechnet ist hierbei allerdings der volkswirtschaftliche Nutzen in Form neuer Arbeitsplätze, die vermiedenen Umweltschäden oder neue Steueraufkommen.

3.8

Um die Kosten für die Zielerreichung möglichst gering zu halten, ist in der Richtlinie vorgesehen, dass die einzelnen nationalen Zielsetzungen auch dadurch erreicht werden können, dass Maßnahmen zum Ausbau der EE in anderen Staaten unterstützt werden. Auch der Import von EE-Strom — mit Herkunftsgarantie — ist möglich. Dies hält der EWSA im Prinzip für sinnvoll. Er unterstützt allerdings die Forderungen jener Mitgliedstaaten, den Handel unter Genehmigungsvorbehalt zu stellen, damit vermieden werden kann, dass die von einem Nationalstaat (5) finanzierte EE-Förderung genutzt werden kann, um die Kosteneinsparungen in einem anderen Staat zu erreichen.

4.   Einschränkung der Flexibilität beim Ausbau der EE

4.1

Der EWSA hält den Ansatz der Kommission für richtig, für die drei Sektoren, in denen EE eine Rolle spielen werden (nämlich dem Strom-, dem Wärme- und Kältebereich sowie dem Verkehrssektor) ein Gesamtziel und nicht drei getrennte Einzelziele vorzugeben. Dadurch wird es den Mitgliedstaaten freigestellt, wie sie Maßnahmen in den drei einzelnen Sektoren so kombinieren, dass sie das festgelegte nationale Gesamtziel erreichen.

4.2

Diese Flexibilisierung wird jedoch massiv beeinträchtigt, indem für einen einzigen Teilbereich einer der drei Sektoren — nämlich für die Substitution von Diesel- und Benzinkraftstoff im Verkehrsbereich — ein eigenes verbindliches Ziel geschaffen werden soll.

5.   Die besondere Rolle der Agro-Kraftstoffe im Richtlinienvorschlag

5.1

Die Kommission räumt den Agro-Kraftstoffen also eine Sonderrolle ein.

5.2

In vielen Studien, die in den letzten Monaten zu den Agro-Kraftstoffen veröffentlicht wurden, wird darauf hingewiesen, dass Biomasse, im Gegensatz zur Solarenergie, eine begrenzte Ressource ist und sich zwangsläufig Flächenkonkurrenzsituationen mit der Nahrungsmittelproduktion bzw. der Erhaltung der Biodiversität ergeben werden. Wie massiv diese Konkurrenzen sein werden, darüber wird noch gestritten. Es bedarf daher — bevor die Politik steuernd eingreift — einer sehr genauen strategischen Überlegung, in welchem Anwendungsbereich welche Form von EE am sinnvollsten zum Einsatz kommen soll. Dabei bedarf es sehr genauer Folgeabschätzungen.

5.3

Der wissenschaftliche Beirat des Bundeslandwirtschaftsministeriums in Deutschland vertritt in einer im November 2007 veröffentlichten Empfehlung zur Nutzung von Biomasse zur Energiegewinnung die Auffassung, dass langfristig die Solar- und Windenergie die dominante Rolle bei den EE einnehmen wird, u.a. weil hier im Vergleich zur Biomasse wesentlich höhere Potenzial vorhanden sind. Er nennt dafür drei Gründe:

a)

Bei der Solarenergie können Flächen genutzt werden, die nicht in Konkurrenz zur Erzeugung von Biomasse für den Nahrungsbereich stehen; und je Flächeneinheit können wesentlich höhere Energieerträge erzielt werden als bei der Bioenergie.

b)

Die weltweite Knappheit der Ackerflächen führt dazu, dass bei steigenden Erdölpreisen auch die Preise für Bioenergien steigen; und infolge dessen auch das gesamte Agrarpreisniveau mit nach oben gezogen wird. Damit steigen auch die Rohstoffkosten für die Bioenergie-Anlagen, während höhere Öl-, Kohle- und Gaspreise bei der Solarenergie voll rentabilitätswirksam werden.

c)

Bei knappen Ackerflächen führt eine großflächige Ausdehnung der Bioenergie zwangsläufig dazu, dass bisher nicht ackerbaulich genutzte Flächen in Kultur genommen werden (Grünlandumbruch, Waldrodung) bzw. die Bewirtschaftung der Flächen intensiviert wird. Das verursacht erhöhte CO2- und N2O-Emissionen mit der Folge, dass die Ausdehnung der Bioenergieerzeugung auf Ackerflächen im Endeffekt sogar kontraproduktiv für den Klimaschutz sein kann.

5.4

Wenn die vorhandenen natürlichen Ressourcen knapp sind und der Umstieg auf neue, regenerative und möglichst dezentrale Energieversorgungsstrukturen mit vergleichsweise hohen Investitionen verbunden ist, muss das Prinzip, die Finanzressourcen auf die effizientesten Klimaschutzstrategien zu konzentrieren, besonders berücksichtigt werden.

5.5

Auf EU Ebene sind aber einige der erkennbaren und teilweise staatlich geförderten Bioenergie-Linien, nämlich die Agro-Kraftstoffe sowie die Produktion von Biogas auf Basis von Mais mit sehr hohen CO2  (6)-Vermeidungskosten (150 bis über 300 EUR/t CO2) verbunden.

5.6

Andere Bioenergielinien, z.B. die Biogasproduktion auf Güllebasis (am besten verbunden mit einer Wärmekraftkopplung), die kombinierte Strom- und Wärmeproduktion auf Basis von Hackschnitzeln (aus Waldrestholz bzw. Kurzumtriebsplantagen) sowie die Mitverbrennung von Hackschnitzel in bestehenden Großkraftwerken, haben Vermeidungskosten von nur 50 EUR/t CO2  (7).

5.7

Die Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission stellt fest, dass es in Bezug auf die Treibhausgasreduzierung/Hektar weitaus effizienter ist, Biomasse zur Stromerzeugung anstatt zur Herstellung flüssiger Agro-Kraftstoffe zu verwenden (8). Moderne Biomassekraftwerke sind fast genauso effizient wie mit fossilen Brennstoffen betriebene Anlagen, so dass bei der Wärme- und Stromerzeugung 1 Megajoule (MJ) Biomasse ca. 0,95 MJ fossile Energie ersetzt. Die Energieeffizienz bei der Umwandlung von Biomasse in flüssigen Kraftstoff für Verkehrszwecke liegt in der Regel nur bei 30-40 %. 1 MJ Biomasse ersetzt somit nur ca. 0,35 bis 0,45 MJ Rohöl im Verkehrswesen.

5.8

Mit der Erzeugung von Agro-Kraftstoffen kann eine CO2 Vermeidungsleistung von ca. 3 t CO2/ha erreicht werden, mit den in Ziffer 5.6 beschriebenen Bioenergielinien mehr als 12 t CO2/ha.

5.9

Vor diesem Hintergrund fragt sich der EWSA, wieso die Kommission explizit ein 10 %-Ziel für Agro-Kraftstoffe festschreiben will. Er erinnert daran, dass der Europäische Rat im Frühjahr erklärte, dass dieses Ziel „kosteneffizient“ verwirklicht werden soll und dass drei Voraussetzungen erfüllt sein müssen, nämlich dass

die Herstellung auf nachhaltige Weise erfolge,

Agro-Kraftstoffe der zweiten Generation kommerziell zur Verfügung stünden, und

die Richtlinie 98/70/EG über die Qualität von Otto- und Dieselkraftstoffen geändert würde.

5.10

Hinsichtlich der Nachhaltigkeit gibt es mehr Fragen als Antworten gibt (siehe auch Ziffer 9) und Agro-Kraftstoffe der zweiten Generation sind noch nicht verfügbar sind. Somit sind zumindest zwei der drei vom Europäischen Rat genannten Kriterien nicht erfüllt, was die Kommission dennoch nicht daran hindert, das 10 %-Ziel festschreiben zu wollen.

5.11

Sie begründet dies u.a. mit der Argumentation, dass der Verkehrssektor im Vergleich zu anderen Wirtschaftssektoren den schnellsten Anstieg von Treibhausgasemissionen aufweist und Agro-Kraftstoffe „derzeit noch teurer als andere Formen erneuerbarer Energien sind, weshalb sie ohne besondere Auflagen wohl kaum entwickelt werden“.

5.12

Der EWSA kann dieser Begründung nicht folgen:

5.12.1

Richtig ist, dass im Verkehrssektor die Treibhausgasemissionen aus dem Ruder laufen. Schärfere Abgasgrenzwerten und ein 10 %igen Ersatz des Diesel- und Ottokraftstoffes lösen aber das Problem nach Auffassung des EWSA nicht, sie werden nicht einmal den Zuwachs kompensieren können, der in den nächsten Jahren aus dem Verkehrssektor auf unsere Umwelt zukommen wird.

5.12.2

Mehrfach hat der Ausschuss darauf hingewiesen, dass diesem Problem mit einer Politik der Verkehrsvermeidung und mit einer Änderung des Modalsplit zugunsten klimafreundlicher Verkehrsträger wie der Bahn, dem ÖPNV und dem Schiff begegnet werden sollte.

5.12.3

Technisch sieht der EWSA die Zukunft des motorisierten Individualverkehrs nicht im Verbrennungsmotor, sondern in elektrischen Antrieben, die aus EE gespeist werden sollen. Damit ein VW-Golf 10 000 Kilometer zurücklegen kann, müsste nach einer Berechnung der EMPA (9) der Raps-Jahresertrag für Agrodiesel auf einer Ackerfläche von 2062 Quadratmetern angepflanzt werden. Solarzellen würden hingegen für die für 10 000 Kilometer nötige Energie eine Fläche von 37 Quadratmetern pro Jahr in Anspruch nehmen — nur rund ein Sechzigstel der Fläche des Rapsfeldes.

5.12.4

Die strategische Festlegung auf den Ersatz von Diesel bzw. Benzin durch Agro-Kraftstoffe ist also eine der am wenigsten effektiven und teuersten Klimaschutzmaßnahmen und bedeutet eine extreme Fehlallokation von Finanzmittel. Weshalb gerade die teuersten Maßnahmen politisch am intensivsten gefördert werden sollen, zumal neben wirtschaftlichen noch eine Unmenge ökologischer und sozialer Fragen völlig unbeantwortet ist, kann der EWSA nicht nachvollziehen.

5.12.5

Der EWSA teilt folglich die Aussage der Kommission, „[…] eine vermehrte Verwendung von Biokraftstoffen im Verkehrssektor sei eines der wirksamsten Mittel“ um den Herausforderungen zu begegnen, nicht.

5.13

Bedenkt man, dass die Kommission anstrebt, Agro-Kraftstoffe dann zuzulassen, wenn diese mindestens 35 % an Treibhausgasreduktionen — im Vergleich zu Kraftstoffen aus fossilen Ölen — bewirken, so wird das 10 % Ziel dazu führen, die Treibhausgasemissionen des motorisierten Verkehrs — bei gleich bleibendem Verkehrsaufkommen — um gerade einmal 3,5 % (zu verringern. Da der Verkehr zu rund einem Viertel zur Gesamttreibhausbelastung beiträgt, sprechen wir also von einem Gesamtemissionsreduktionspotenzial von 1 % der THG-Emissionen! Dies ist ein Wert, der in keinen Verhältnis zum finanziellen Aufwand und zu den verbundenen Gefahren steht.

5.14

Selbst wenn man in Agro-Kraftstoffen für den Verkehrsbereich eine sinnvolle Verwendung von Biomasse sehen würde, müsste man auf absolute Effizienz setzen. Anlage VII der Richtlinie macht aber deutlich, dass in der Umwandlung von Biomasse zu Esther oder Ethanol nicht der richtige Ansatz liegt. Denn jede (industrielle) molekulare Umwandlung ist mit einem Energieeinsatz und somit -verlusten verbunden. Sinnvoller wäre es, die gewonnene Biomasse direkt, ohne industriell-chemische Umwandlung, zu nutzen.

5.15

Dass dies technisch möglich ist, zeigen einige Traktorenhersteller, die mittlerweile Motoren anbieten, die mit reinem Pflanzenöl betrieben werden.

5.16

Anhang VII zeigt, dass mit dieser Technologie, die höchsten Treibhausgaseinsparungen erreicht werden können: reines Rapsöl weist eine Standardeinsparung bei Treibhausgasen in Höhe von 55 % auf, Agrodiesel aus Raps nur von 36 %, Ethanol aus Weizen 0 % gegenüber Kraftstoffen aus fossilem Öl. Dem EWSA ist unverständlich, weshalb die Kommission diesen Weg nicht explizit als besonders sinnvoll darstellt, zumal hiermit auch am ehesten dezentrale Energieversorgungsstrukturen — und somit Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum — entstehen könnten.

5.17

Für den EWSA wäre es beispielsweise eine gute Strategie, die Verwendung von reinen Pflanzenölen, die z.B. in naturverträglichen Mischkulturen gewonnenen werden, in der Landwirtschaft selbst und beispielsweise in kommunalen Fahrzeugen bzw. bei Wasserfahrzeugen zu fördern (10). Landwirte könnten so unmittelbar in die Entwicklung von regionalen Energiekreisläufen eingebunden werden und davon unmittelbar profitieren. Im Rahmen der Agro-Kraftstoffstrategie werden sie hingegen zu Produzenten möglichst billiger Rohstoffe der Mineralölindustrie, falls überhaupt Rohstoffe aus europäischer Produktion zum Einsatz kommen werden.

6.   Anmerkungen zum Argument Versorgungssicherheit

6.1

Die Kommission vermutet, dass ein Großteil der für die Agro-Kraftstoffe benötigten Biomasse in klimatisch begünstigteren Regionen außerhalb der EU angebaut werden wird. Der Ersatz von Erdölimporten durch Biomasseimporte bedeutet aber keine Verringerung, sondern lediglich eine Diversifizierung von Importabhängigkeiten.

6.2

Es kann nicht ernsthaft Ziel einer neuen Energiepolitik der EU sein, eine Abhängigkeit durch eine andere abzulösen.

6.3

Vielmehr sollte vorrangig der Ansatz verfolgt werden, tatsächlich dezentrale, lokal bzw. regional verfügbare Quellen in den Mittelpunkt der neuen EE-Strategie zu stellen. Hierbei können und müssen auch Bioenergien eine Rolle spielen, jedoch nicht die, die man sich mit der Agro-Kraftstoffstrategie erdacht hat.

7.   Beschäftigung

7.1

Die Kommission schreibt, Energie aus EE sei ein „nah verwandter Ersatz für herkömmliche Energie und wird über dieselbe Infrastruktur und Logistik bereitgestellt“. Für den EWSA ist diese Aussage ein zentraler Trugschluss: EE aus dezentralen Strukturen unterscheiden sich zum Teil diametral von „herkömmlichen“ Energien, die eher aus zentral organisierten Großstrukturen stammen.

7.2

Eine Agro-Kraftstoffstrategie, die auf Energieimporten und der Beimischung zu Diesel- und Ottokraftstoffen basiert, nutzt die „herkömmlichen“, sprich: zentral organisierten Strukturen global agierender Mineralölkonzerne. Sie zementiert damit deren Produktions- und Verteilungsstrukturen, was durchaus im Interesse der Mineralölwirtschaft ist. Sie schafft aber in Europa kaum neue Arbeitsplätze (11).

7.3

Setzt man hingegen auf den energieeffizienteren Einsatz beispielsweise von Holzhackschnitzeln zur Wärme- oder Stromproduktion, oder auf reine Pflanzenöle aus regionalem Anbau bzw. eine Biogasversorgung von Fahrzeugen oder Gebieten ohne Erdgasnetz, auf dezentrale Solartechnologien etc., so sind neue, regional organisierbare Herstellungs- und Vertriebswege möglich, die große Arbeitsplatzpotenziale eröffnen.

7.4

Bei der Solarthermie und der dezentralen Anwendung der Photovoltaik stellen die (Energie) Verbraucher einen Großteil ihrer benötigten Energie selbst her, was auch Beweis dafür ist, dass eine auf EE basierende Energieversorgung durchaus anders organisiert ist als die jetzige Energieversorgungsstruktur.

7.5

Auch andere Maßnahmen, z.B. zur Erhöhung der Energieeffizienz und des Energiesparens, können schon in der Bauphase Hunderttausende von Arbeitsplätzen in kleinen und mittleren Unternehmen schaffen. Gebäudeisolierungen, die Installation von Solar- und Windkraftanlagen oder der Bau von Biogasanlagen sind Beispiele hierfür. Die Politik hat Sorge dafür zu tragen, dass genau diese Potentiale auch erschlossen werden, die in der Richtlinie vorgesehene Agro-Kraftstoffstrategie ist nicht der effizienteste Weg.

7.6

Das heißt: auch was die Frage der Arbeitsplätze angeht ist eine sehr genaue und viel differenziertere Betrachtung der unterschiedlichen EE zwingend nötig. In der Tat können EE regionale Wirtschaftsstrukturen fördern und unterstützen, sie können aber andererseits auch dazu beitragen, zentrale Großstrukturen zu verfestigen.

7.7

Gleiches gilt im übrigens für die Länder, in denen die Biomasse für die Agro-Kraftstoffe angebaut werden. Das für die Entwicklungshilfe zuständige Bundesministerium in Deutschland kommt in einem Diskussionspapier mit dem Titel „Entwicklungspolitische Positionierung zu Agrartreibstoffen“ vom März 2008 zu dem Ergebnis, dass für die ökonomische, ökologische und soziale Entwicklung in den Entwicklungsländer eine Strategie der exportorientierten Massenproduktion von Biomasse „als Reaktion auf die stark gestiegene Nachfrage aus Industrieländern mit hohen Risiken verbunden ist und keine Arbeitsplätze schafft“, während Biomasse für die dezentrale Energieversorgung unter Einbeziehung kleinbäuerlicher Produktion generell eher positiv zu bewerten ist.

8.   Anmerkungen zu Nachhaltigkeitskriterien

8.1

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission plant, Nachhaltigkeitskriterien auch für die Produktion von Agro-Kraftstoffen einzuführen. Das ist ein wichtiger Schritt nach vorn, er hält allerdings den vorgelegten Vorschlag für absolut unzureichend.

8.2

Die Kommission selbst betont immer wieder, wie wichtig in der Nachhaltigkeitspolitik die Balance zwischen der wirtschaftlichen, der ökologischen und der sozialen Säule ist. Doch allein aufgrund der totalen Ausklammerung sozialer Fragen bei den genannten Kriterien ist der EWSA der Auffassung, dass der Richtlinienvorschlag keinesfalls die Umsetzung einer durchdachten Nachhaltigkeitsstrategie bzw. -kriterien für Agro-Kraftstoffe darstellt. Der Richtlinienvorschlag muss in diesem Punkt vielmehr vollständig überarbeitet werden.

8.3

Wichtig wäre dem EWSA dabei, dass wegen der indirekten Landnutzungsänderungen wirksame ökologische und soziale Kriterien nicht nur für die Agro-Kraftstoffe erstellt werden, sondern für alle Agrarimportprodukte, inkl. der Futtermittel.

8.4

Es ist auch eine Illusion zu glauben, mit der Festlegung eines Stichtages (hier: Januar 2008) könnten z.B. Urwald- oder Torfflächen davor bewahrt werden, für Zwecke der Agro-Kraftstoffproduktion umgewandelt zu werden. Dies würde sowohl ein funktionierendes Katastersystem als auch ein funktionierendes Verwaltungs- und Kontrollsystem voraussetzen. Beides ist — wie die Erfahrung zeigt — in den meisten der Schwellen- und Entwicklungsländer nicht gegeben.

8.5

Der EWSA hält die Kriterien, die in Artikel 15 Absatz 3 und 4 aufgelistet sind, um die biologische Vielfalt zu erhalten und um zu vermeiden, dass nicht Flächen mit hohem Kohlenstoffbestand in Nutzung genommen werden, für unzureichend. Für die Erhaltung der biologischen Vielfalt sind weit mehr als nur die in Absatz 3 unter a) bis c) genannten Flächen von Bedeutung. Gleiches gilt für Artikel 4 a) und b) in Bezug auf Kohlenstoffbestände.

8.6

In Anhang VII Teil B listet die Kommission „geschätzte typische Werte und Standardwerte für künftige Biokraftstoffe“ auf, die noch nicht oder nur in vernachlässigbaren Mengen auf dem Markt sind. Der EWSA vertritt die Meinung, dass man nicht mit Schätzwerten, sondern nur mit belegbaren Werten arbeiten sollte.

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Siehe Ziffer 3.5.

(2)  Die Notwendigkeit von ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitskriterien für Agro-Kraftstoffe hat der EWSA bereits in den Stellungnahmen „Fortschrittsbericht Biokraftstoffe“, TEN/286 — CESE 1449/2007, ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 34, und „Verringerung der Treibhausgasemissionen/Straßenverkehr“, NAT/354 — CESE 1454/2007 deutlich gemacht.

(3)  Im Richtlinienentwurf wird offiziell der Begriff „Biokraftstoffe“ verwendet. Der EWSA hat in verschiedenen Stellungnahmen auf viele ökologische Probleme hingewiesen, die von diesen „Bio“Kraftstoffen ausgehen. Da die Silbe „bio“ suggeriert, es handele sich um ein ökologisch einwandfreies Produkt (vgl. „bio“logischer Landbau), verwendet der EWSA in seiner Stellungnahme anstelle des Begriffes „Biokraftstoff“ den neutraleren Begriff „Agro-Kraftstoff“.

(4)  Im Richtlinienentwurf heißt es „Es wird […] jedem Mitgliedstaat nahe gelegt, bis 2020 einen Anteil von mindestens 10 % Energie aus erneuerbaren Energiequellen (vor allem Biokraftstoffe) im Verkehrssektor zu erreichen […].“

(5)  oder den Verbrauchern eines Staates.

(6)  Wenn hier von CO2-Vermeidungskosten gesprochen wird sind CO2-Äquivalente gemeint.

(7)  Quelle: „Nutzung von Biomasse zur Energiegewinnung — Empfehlungen an die Politik“, Wissenschaftlicher Beirat Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, verabschiedet im November 2007.

(8)  Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission: „Biofuels in the European Context: Facts, Uncertainties and Recommendations“, 2008,

http://ec.europa.eu/dgs/jrc/downloads/jrc_biofuels_report.pdf (nur auf EN verfügbar).

(9)  EMPA ist eine Forschungsinstitution für Materialwissenschaften und Technologie. Sie ist Teil der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Quelle: Ökobilanz von Energieprodukten: Ökologische Bewertung von Biotreibstoffen. Schlussbericht, April 2007. Im Auftrag des Bundesamtes für Energie, des Bundesamtes für Umwelt und des Bundesamtes für Landwirtschaft; Empa, Abteilung Technologie und Gesellschaft, St. Gallen: R. Zah, H. Böni, M. Gauch, R. Hischier, M. Lehmann, P. Wäger;

Download: http://www.news-service.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/8514.pdf

(10)  Siehe auch die Stellungnahme zum Thema „Erneuerbare Energieträger“ (TEN/211 — CESE 1502/2005 vom 15. Dezember 2005, Berichterstatterin: Frau SIRKEINEN, Ziffer 3.3.1).

(11)  Siehe auch die bereits erwähnte Studie der Gemeinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission: „Biofuels in the European Context: Facts, Uncertainties and Recommendations“, 2008,

http://ec.europa.eu/dgs/jrc/downloads/jrc_biofuels_report.pdf (nur auf EN verfügbar).


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/49


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Unterstützung der frühzeitigen Demonstration einer nachhaltigen Stromerzeugung aus fossilen Brennstoffen“

KOM(2008) 13 endg.

(2009/C 77/13)

Die Europäische Kommission beschloss am 23. Januar 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Unterstützung der frühzeitigen Demonstration einer nachhaltigen Stromerzeugung aus fossilen Brennstoffen“

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 16. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr SIMONS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) mit 143 gegen 3 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss befürwortet die in der Kommissionsmitteilung dargelegten Maßnahmen zur Förderung der Demonstration von CO2-Abscheidung und -Lagerung (CCS) in Kraftwerken, hegt jedoch Bedenken angesichts mangelnder Finanzierungskapazitäten und klarer Finanzierungsoptionen auf mittlere (2010-2020) und lange (2020 und darüber hinaus) Sicht.

1.2

Die fehlende Finanzierungskapazität der Europäischen Kommission kann teilweise mit Einnahmen aus dem Europäischen Emissionshandelssystem (EU-EHS), z.B. aus der Versteigerung von Emissionsrechten seitens der Stromerzeuger nach 2013, kompensiert werden. Bislang wurde auf EU-Ebene kein spezifisches Finanzierungsschema einschl. der erforderlichen Sicherheiten vorgeschlagen.

1.3

Der finanzielle Rahmen muss bis spätestens Ende 2009 feststehen. Nur so kann eine finanzielle Grundlage für die Vorbereitung von CCS-Demonstrationsprojekten in großem Maßstab sichergestellt werden, die 2015 Betriebsreife erreichen sollen.

1.4

Einnahmen aus dem EU-EHS sollten ab 2013 in den Mitgliedstaaten im Rahmen der Durchführung der überarbeiteten EHS-Richtlinie zusammengeführt werden.

1.5

Der Vorschlag der Europäischen Kommission für nationale EU-EHS-Versteigerungen in Verbindung mit der Auflage, einen Anteil von 20 % der Gesamteinnahmen für Maßnahmen zur Verringerung des CO2-Ausstoßes aufzuwenden, ist absolut unzureichend und kommt einer Vergeudung von Finanzmitteln gleich. Die Mitgliedstaaten sollten ausdrücklich dazu angehalten werden, ihre Standpunkte zu den Einnahmen aus dem EU-EHS grundlegend zu überdenken und die gesamten Einnahmen aus diesem System für CO2-arme und CO2-freie Technologien mit einem besonderen Schwerpunkt auf CCS aufzuwenden. Auf diese Weise könnten die Millionenbeträge, die der Europäischen Kommission derzeit fehlen, die jedoch zur Förderung der frühzeitigen Demonstration der CCS-Technologie in großem Maßstab erforderlich sind, aufgebracht werden.

1.6

Die Europäische Kommission sollte einen Plan ausarbeiten, in dem die Struktur und die Rolle der Europäischen Industrieinitiative festgelegt sind. Es muss sichergestellt werden, dass sich diese Initiative nicht mit anderen Initiativen wie Vorhaben, die im Siebten F&E-Rahmenprogramm finanziert werden, der Europäischen Technologieplattform für das mit fossilen Brennstoffen betriebene emissionsfreie Kraftwerk (ETP-ZEP) und dem europäischen Vorzeigeprogramm überschneidet, sondern diese ergänzt.

1.7

Der Ausschuss stimmt der Notwendigkeit zu, dass es einer gemeinsamen Infrastruktur für Transport und Speicherung von CO2 bedarf. Mit einem europaweiten Transportsystem muss die Einbindung derjenigen Mitgliedstaaten sicherstellt werden, die selbst nicht in der Lage sind, derartige Speichereinrichtungen zu bauen.

1.8

Aufgrund der Bedeutung des Transports als grundlegender Bestandteil des Aufbaus einer CCS-Infrastruktur in großem Maßstab sollte die Abkürzung CCTS (Carbon Capture, Transport and Storage, d.h. Berücksichtigung des Aspekts Transport) verwendet werden.

2.   Hintergrund (1)

2.1

Die Entwicklung der gesamten Wertschöpfungskette von CCS, mit Abscheidung, Transport und Speicherung von CO2, steckt noch in einer frühen, teilweise zunächst noch exploratorischen Phase. Demgegenüber geht die Steigerung der Wirkungsgrade konventioneller Kraftwerkstechnik sukzessive voran. In Anbetracht des dringenden Ersatzbedarfes an Kraftwerkskapazitäten in der nächsten Dekade empfiehlt der Ausschuss ein pragmatisches Vorgehen, bei dem beide Technologien nebeneinander weiterentwickelt und eingesetzt werden. Während die Entwicklung höherer Wirkungsgrade weitgehend marktgetrieben stattfinden kann, benötigen die CCS-Technologien — Kraftwerke ebenso wie Infrastrukturen — in der Demonstrations- und Markteinführungsphase zusätzliche Unterstützung.

2.2

Die CCS-Technologie wird in zwei Entwicklungspfaden verfolgt: als integrierte Kraftwerkstechnologie, bei der das CO2 vor dem Verbrennungsprozess abgeschieden wird und als „Post-combustion“-Technologie, bei der das CO2 aus dem Rauchgas nach der Verbrennung ausgewaschen wird (CO2-Wäsche). Letztere Methode ist bei entsprechender Weiterentwicklung geeignet, bereits heute entstehende und hocheffiziente neue Kraftwerke nachzurüsten, sofern diese dementsprechend („capture ready“) ausgelegt werden. Beiden Technologiepfaden gemeinsam ist, dass das abgeschiedene CO2 vom Standort des Kraftwerks einem geeigneten Speicherort zugeführt werden muss.

2.3

Für die gesellschaftliche und politische Akzeptanz ist die Frage einer sicheren und langfristigen Speicherung von CO2, die schlussendlich wichtigste Umweltfrage im Zusammenhang mit dieser Technologie, von entscheidender Bedeutung (2).

2.4

Auf ihrem Gipfeltreffen am 9. Juni 2008 im japanischen Aomori haben sich die G8-Staaten darauf geeinigt, 20 CCS-Demonstrationsprojekte bis 2010 auf den Weg zu bringen, um die Technologieentwicklung und die Kostensenkung für eine weite Verbreitung von CCS ab 2020 voranzubringen.

2.5

Auf diesem Gipfel waren das Vereinigte Königreich, Kanada, Italien, Japan, Frankreich, Deutschland, Russland, die Vereinigten Staaten, China, Indien und Südkorea vertreten.

2.6

Zur Bekräftigung des Engagements der G8 für CCS hat sich das US-amerikanische Energieministerium zur Bereitstellung von Finanzmitteln für die Aufnahme der CCS-Technologie in zahlreiche gewerbsmäßige integrierte Gas- und Dampfturbinen-Kraftwerke oder weitere Kraftwerke, in denen fortgeschrittene saubere Kohletechnologie zum Einsatz kommt, im Rahmen seines FutureGen-Programms verpflichtet. Die Vereinigten Staaten finanzieren auch sieben regionale Partnerschaften zur CO2-Sequestrierung, um die Wirksamkeit der langfristigen geologischen Speicherung von CO2 in großem Maßstab aufzuzeigen.

2.7

Die Verlautbarungen der G8 zu CCS stehen im Einklang mit den Empfehlungen der Internationalen Energieagentur (IEA), die CCS-Technologie als Teil des Maßnahmenpakets zur Halbierung der Treibhausgasemissionen bis 2050 zu nutzen.

3.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags

3.1

Technologien zur CO2-Abscheidung und -Lagerung (CCS) kommt im Rahmen der Palette vorhandener und aufkommender Technologien, durch die die CO2-Emissionen so weit verringert werden könnten, dass die über 2020 hinaus reichenden Zielwerte erreichbar werden (3), entscheidende Bedeutung zu.

3.2

Die breite Anwendung der CCS in Kraftwerken kann in 10 bis 15 Jahren rentabel sein, womit CCS 2020 oder wenig später als wichtiges Instrument zur Beseitigung der CO2-Emissionen in der Stromerzeugung aus fossilen Brennstoffen eine eigenständige Rolle im Rahmen eines auf dem Emissionshandel beruhenden Systems (EHS) spielen könnte.

3.3

Dies wird jedoch nicht möglich sein, wenn die erforderlichen vorbereitenden Schritte nicht unverzüglich unternommen werden. Eine frühzeitige Demonstration wird insbesondere in Bezug auf die Anpassung der weltweit bereits entwickelten und für andere Anwendungen eingesetzten CCS-Technologien an den umfassenden Einsatz bei der Stromerzeugung erforderlich sein.

3.4

Der Europäische Rat stimmte im März 2007 der Absicht der Europäischen Kommission zu, Bau und Inbetriebnahme von bis zu 12 Demonstrationskraftwerken für nachhaltige Technologien zur kommerziellen Stromerzeugung aus fossilen Brennstoffen bis 2015 zu fördern, und bekräftigte diese Zustimmung im März 2008.

3.5

In Ergänzung des Vorschlags der Kommission für eine Richtlinie über die geologische Speicherung von Kohlendioxid zur Schaffung eines rechtlichen Rahmens für CCS in der EU sollen mit dieser Mitteilung die Arbeiten im Zusammenhang mit CCS vorangebracht und eine Struktur zur Koordinierung und Unterstützung von CCS-Demonstrationsvorhaben in großem Maßstab eingeführt und die Voraussetzungen für mutige industrielle Investitionen in eine Reihe von Anlagen geschaffen werden.

3.6

Es ist unbedingt notwendig, dass die Bemühungen auf europäischer Ebene im Zusammenhang mit der CCS-Demonstration so bald wie möglich beginnen, und zwar in einem integrierten politischen Rahmen, der gezielte FuE sowie Maßnahmen zur Information der Öffentlichkeit und zur öffentlichen Akzeptanz umfasst. Laut Europäischer Kommission könnte eine Verzögerung um 7 Jahre bei der Demonstration und eine entsprechend verspätete Einführung der CCS auf globaler Ebene bedeuten, dass bis 2050 weltweit über 90 Gt vermeidbarer CO2-Emissionen zu verzeichnen wären (4), was dem über Zwanzigfachen der derzeit jährlich in der EU insgesamt freigesetzten CO2-Emissionen entspräche.

3.7

Eindeutige Zusagen der europäischen Industrie, die durch Anreize und Garantien seitens der Europäischen Kommission unterstützt werden, sind unerlässlich, wenn Beiträge aus öffentlichen Mitteln erfolgen sollen. Insbesondere die Mitgliedstaaten, die die Kohle in ihrem künftigen Energiemix beibehalten wollen, sollten Maßnahmen zur Unterstützung einer frühzeitigen Demonstration der CCS ergreifen.

3.8

Es werden zwei Haupthindernisse angeführt:

Rechtliche und sicherheitstechnische Hindernisse: Diese können rechtzeitig und ohne erhebliche Zusatzkosten beseitigt werden. Sobald ein Rechtsrahmen für die Risikominimierung besteht, können die rechtlichen Hindernisse angegangen werden.

Wirtschaftliche Hindernisse: Die Kosten für CCS werden 2020 schätzungsweise 35 EUR/Tonne CO2 betragen; diese könnte, so der allgemeine Tenor, ohne Weiteres durch den Wert der Emissionsrechte gedeckt werden.

In der Kommissionsmitteilung wird ferner angeführt, dass die EU bei der Gestaltung internationaler Regelungen eine führende Rolle übernehmen kann.

3.9

Mit der Europäischen Industrie-Initiative sollten die Anstrengungen der Marktvorreiter in einem Netz für CCS-Demonstrationsprojekte zusammengeführt werden. Dieses Netz sollte dazu dienen, Informationen und Erfahrungen austauschen, die Bürger zu sensibilisieren und Maßnahmen zur Schaffung einer umfassenden CCS-Wertkette anzustoßen. Ferner sollten mit dieser Europäischen Industrie-Initiative nationale und internationale Fördermittel angelockt werden.

3.10

Die Europäische Kommission hält fest, dass sie nur eine Mindestunterstützung bereitstellen kann und ihre Bemühungen daher darauf abstellt, die Finanzierung durch die Marktvorreiter selbst sowie durch öffentliche Mittel seitens der Mitgliedstaaten und internationalen NGO zu mobilisieren.

3.11

Es werden drei Aktionsfelder festgelegt:

Mobilisierung der Marktvorreiter durch das „Vorzeigeprogramm“ und Schaffung eines echten kommerziellen Nutzens;

Bereitschaft der Europäischen Kommission, im Einzelfall Beihilfen und andere Präferenzmaßnahmen seitens der Mitgliedstaaten zu genehmigen;

Mobilisierung von Finanzmittel auf EU-Ebene: eine spezifische Initiative der Europäischen Kommission mit der EIB zur Entwicklung einer Fazilität für Finanzierungen auf Risikoteilungsbasis.

Außerdem betont die Europäische Kommission, dass die politischen Entscheidungsträger umso eher die Möglichkeit verbindlicher Maßnahmen in Erwägung ziehen werden müssen, je länger es dauert, bis die Industrie mit der Übernahme der CCS-Technologie beginnt.

3.12

Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Infrastruktur für Transport und Speicherung von CO2 wird ebenfalls angegangen. Die Überarbeitung der TEN-E-Leitlinien einschl. CCS ist vorgesehen.

4.   Hintergrund zur Befassung durch die Europäische Kommission

4.1

Als Folge der den Klimaschutz und die Energie-Versorgungssicherheit betreffenden Ratsbeschlüsse vom März 2007 hat die Kommission — in Form separater Dokumente — ein ganzes Bündel von Maßnahmen vorgeschlagen, um die in den Ratsbeschlüssen formulierten Ziele zu erreichen. Der Schwerpunkt der Maßnahmen betrifft Energieeffizienz, den Ausbau erneuerbarer Energieträger sowie die Entwicklung und Anwendung dementsprechender innovativer Technologien. Hierzu hat der Ausschuss jeweils spezifische Stellungnahmen erarbeitet (5).

4.2

In diesem Rahmen spielen auch jene Verfahren eine wichtige Rolle, mit denen die Emissionen von Treibhausgasen, die bei der Nutzung fossiler Energieträger entstehen, nachhaltig reduziert werden sollen. Darum geht es in der vorliegenden Stellungnahme.

4.3

Die vorliegende Stellungnahme wird ergänzt durch eine der gleichen Technik gewidmete Stellungnahme des Ausschusses (6) zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die geologische Speicherung von Kohlendioxid“.

5.   Allgemeine Bemerkungen

5.1

In ihrer Mitteilung betont die Europäische Kommission wiederholt, dass es für die erfolgreiche Durchführung ihrer Vorhaben von grundlegender Bedeutung ist, frühzeitig zu demonstrieren, dass das EU-EHS eine Schlüsselrolle einnehmen wird und Raum für einen „echten kommerziellen Nutzen“ besteht. Das EU-EHS verspricht ganz klar einen echten kommerziellen Nutzen für Marktvorreiter. Allerdings wird dies zu spät kommen, sollte die Europäische Kommission bis Ende 2009 keine klaren und endgültigen Bestimmungen für das EU-EHS nach 2012 vorlegen.

Die Industrie muss bis Ende 2009 über eine solide Grundlage für Investitionsentscheidungen verfügen, um Entwurf und Ausführung der ersten CCS-Standorte in Angriff zu nehmen, die 2015 in Betrieb gehen sollen. Dieser Aspekt wurde nicht deutlich genug hervorgehoben, insbesondere in Anbetracht der fehlenden Klarheit in Bezug auf das EU-EHS und der vagen Forderungen der Europäischen Kommission an die Industrie und die Mitgliedstaaten, wodurch die Finanzierung nach wie vor in der Luft hängt.

5.2

Das EU-EHS ist ein wichtiger Handelsplatz für Kohlenstoff und könnte sich durchaus als sehr effizient erweisen, sofern das System klar auf die Festlegung eines Preises für Emissionsrechte ausgelegt ist, der die durch kohlenstoffeffiziente Maßnahmen entstehenden Zusatzkosten deutlich übersteigt. Gibt die Europäische Kommission keine klaren Modalitäten für die Versteigerungen sowie einen angemessenen Einsatz der dadurch erzielten Einnahmen vor und übernimmt sie keine Überwachungsfunktion, werden potenzielle Investoren angesichts der zu großen Unwägbarkeiten wohl eher eine abwartende Haltung einnehmen.

5.3

Eine gemeinsame europäische Infrastruktur für Transport und Speicherung von CO2 würde die Umsetzung von CCS in großem Maßstab in Europa eindeutig erleichtern. Einige Mitgliedstaaten sind vielleicht nicht in der Lage, selbst Speichereinrichtungen zu bauen (7). Wo immer möglich sollte auf bestehende, allerdings nicht mehr genutzte Infrastruktur zurückgegriffen oder eine neue Infrastruktur in andere Einrichtungen eingegliedert werden. Um dem wichtigen Aspekt Transport Rechnung zu tragen, schlägt der Ausschuss sogar vor, die Abkürzung CCTS (Carbon Capture, Transport and Storage) zu verwenden, obgleich die Abkürzung CCS bereits international be- und anerkannt ist.

5.4

Die Europäische Kommission erlegt den Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Finanzierung der CCS eine erhebliche Belastung auf, da sie in ihrem Haushalt über keinerlei Spielraum für einen signifikanten Beitrag ihrerseits verfügt. Da dieses Thema für die EU von großer Bedeutung ist und es eine Überwachung auf Gemeinschaftsebene geben muss, um den Erfolg der Demonstrationsprojekte sicherzustellen, sollte die Europäische Kommission sich viel stärker als bisher geplant an der Finanzierung von CCS-Vorhaben beteiligen. Diese Finanzierung sollte gegebenenfalls durch Beiträge der Mitgliedstaaten ergänzt werden (8).

5.4.1

Die Versteigerung von Emissionsrechten im EU-EHS bietet Gelegenheit, die unzureichende Finanzierung seitens der Europäischen Kommission anzugehen. Derzeit werden nur 20 % der Einnahmen für die Förderung von CO2-armen und CO2-freien Technologien aufgewendet. Die Mitgliedstaaten sollten ausdrücklich dazu angehalten werden, ihre Standpunkte zu den Einnahmen aus dem EU-EHS grundlegend zu überdenken und die gesamten Einnahmen aus diesem System für CO2-arme Technologien bereitzustellen mit einem besonderen Schwerpunkt auf CCS (9). Auf diese Weise könnten die Millionenbeträge, die der Europäischen Kommission derzeit fehlen, die jedoch zur Förderung der frühzeitigen Demonstration der CCS-Technologie in großem Maßstab erforderlich sind, aufgebracht werden.

5.4.2

Der Ausschuss hat außerdem bereits den Vorschlag unterbreitet, die im Siebten F&E-Rahmenprogramm für das Energiewesen zur Verfügung gestellten Mittel erheblich, und zwar um 15 %, aufzustocken, was einer Erhöhung des in Forschung und Entwicklung investierten BIP-Anteils von 2 auf 3 % gleichkommt. Auf diese Weise könnte ein echter Beitrag zur Förderung der CCS-Demonstration über dieses Rahmenprogramm erzielt werden.

5.4.3

In diesem F&E-Rahmenprogramm werden zahlreichen Maßnahmen gefördert, die ebenfalls der Vorbereitung von Demonstrationsprojekten in großem Maßstab dienen. Die einzelnen Maßnahmen sollten klar an die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Förderung der Demonstration gekoppelt sein.

5.5

Die Frage, wie die Europäische Industrie-Initiative sich in die zahlreichen sonstigen Maßnahmen und Initiativen der Europäischen Kommission einreiht, wird übergangen (10). Um einen integrierter Ansatz sicherzustellen, müssen die geplanten Maßnahmen aufgelistet werden.

5.6

Es ist davon auszugehen, dass die Entwicklung und die Umsetzung der CCS-Technologie umfangreiche positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt in Europa mit sich bringen werden. Einige wichtige CCS-Ausstattungs- und Transportinfrastrukturunternehmen sind in Europa ansässig. Sie entwickeln beispielsweise Ausrüstung und Pipelines, die sie dann bei der weltweiten Nutzung von CCS vermarkten und installieren würden. Europa könnte seine weltweite Führungsrolle in Bezug auf CCS durch eine erfolgreiche frühzeitige Demonstration der CCS-Technologie in großem Maßstab in Europa noch weiter festigen (11).

5.7

Der Ausschuss schlägt vor, den Begriff „nachhaltige“ fossile Brennstoffe durch „saubere“ fossile Brennstoffe zu ersetzen. Nachhaltig trifft eher auf Sonnen- und Bioenergie denn auf CCS-Technologien zu, einer Brückentechnologie, die die „saubere“ Nutzung von fossilen Brennstoffen ermöglicht, bis der Wandel hin zu einer nachhaltigen Energieversorgung erfolgreich abgeschlossen ist.

5.8

Wie nachstehend erläutert gibt es bereits umfangreiche Erfahrungen mit der Machbarkeit einer sicheren CO2-Speicherung:

i)

Erdgaslagerstätten: Deckschichten erwiesenermaßen undurchlässig für Erdgas; Potenzial für Ausbeutesteigerung von Erdgaslagerstätten (enhanced gas recovery — EGR) noch nachzuweisen;

ii)

Erdöllagerstätten: Deckschichten erwiesenermaßen undurchlässig für Erdöl; im Südwesten der Vereinigten Staaten seit Mitte der 70er Jahre als Begleitmaßnahme zur Erdölförderung (enhanced oil recovery — EOR) angewendet;

iii)

Aquifere: hohes Potenzial, mit allerdings großen Unwägbarkeiten; speicherstättenspezifische Bewertung erforderlich, langjährige positive Erfahrung mit dem Sleipner-Gasfeld im norwegischen Sektor der Nordsee in Verbindung mit dem salinaren Utsira-Aquifer;

iv)

Kohleflöze: interessante Nische für die Speicherung von CO2 in Kombination mit der gleichzeitigen Entnahme von Flözgas (enhanced coal bed methane — ECBM); dies befindet sich allerdings noch im Forschungsstadium;

v)

Bei Demonstrationsvorhaben in großem Maßstab muss aufgezeigt und belegt werden, dass die CO2-Speicherung u.a. in Gaslagerstätten genauso sicher wie die Erdöl- und Erdgasförderung aus derartigen Lagerstätten ist. Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission auf, angemessene Maßnahmen zur Unterrichtung der Bürger zu treffen.

6.   Besondere Bemerkungen

6.1

Der Ausschuss unterstützt die in der Kommissionsmitteilung dargelegten Maßnahmen zur Förderung der Demonstration von CCS in Kraftwerken, möchte im Folgenden jedoch eine Reihe von besonderen Bemerkungen vorbringen.

6.1.1

Die Europäische Kommission sollte eine Strategie ausarbeiten, um sicherzustellen, dass die Europäische Industrie-Initiative sich nicht mit dem europäischen Vorzeigeprogramm und der Europäischen Technologieplattform für das mit fossilen Brennstoffen betriebene emissionsfreie Kraftwerk (ETP-ZEP) überschneidet. Diese Initiativen sollten sinnvoll koordiniert werden und einander ergänzen.

6.1.2

Die Europäische Kommission verfolgt in ihrer Mitteilung die „Ausweitung der Europäischen Industrie-Initiative [für CCS] über den Gegenstandsbereich eines Projektnetzes hinaus“. Das Ziel dieser Aussage ist unklar. Ferner wird auch betont, dass die erforderlichen Finanzmittel erst noch aufgebracht werden müssen. Welchen zusätzlichen Nutzen würde eine derartige Ausweitung bringen, und wie reiht sie sich in die oben genannten Maßnahmen für CCS ein?

6.2

Der Ausschuss spricht sich gegen den Vorschlag für die Mobilisierung der Finanzmittel für CCS aus, da er nicht weit genug geht.

6.2.1

Die Europäische Kommission schlägt einen fallweisen Ansatz vor, bei dem sie für ihr unterbreitete nationale Initiativen festlegen würde, welche Art von Beihilfen und sonstigen Maßnahmen der Mitgliedstaaten zulässig sind. Um den Erfolg der Demonstrationsprojekte im europäischen Vorzeigeprogramm sicherzustellen, sollte die Europäische Kommission eine grundlegende Koordinierungs- und Überwachungsfunktion einnehmen, das heißt, die Verantwortung für die allgemeine Finanzierung übernehmen. Diese Finanzierung seitens der Europäischen Kommission könnte dann durch spezifische Beiträge der betreffenden Mitgliedstaaten ergänzt werden, die wiederum als zulässige staatliche Beihilfen anerkannt werden. Gleichzeitig müsste sich auch die Industrie zur Finanzierung und Durchführung verpflichten.

6.2.2

Sollte die Europäische Kommission — unter bestimmten Bedingungen — anteilig zu den spezifischen Beiträgen der Mitgliedstaaten eine EU-Kofinanzierung garantieren, könnte dies ein Anreiz für die nationalen Behörden sein. Mit einer derartigen vorab festgelegten Kofinanzierung könnte die Unsicherheit in Bezug auf die Finanzierung der Projekte zumindest teilweise beseitigt und ihre Entwicklung beschleunigt werden.

6.2.3

Die Mobilisierung der Finanzmittel für Demonstrationsprojekte durch die Nutzung neuer Finanzquellen ist an sich eine interessante Idee. Derartige Konzepte werden sich letztlich allerdings nur dann als wirksam erweisen, wenn das Risiko vertretbar und auch klar ist, wie diese langfristigen Zusatzkosten im Einzelfall abgedeckt werden können.

6.3

Der Ausschuss stimmt dem Standpunkt zu, dass die Einbindung von CCS in das EU-EHS einen wichtigen Impuls für die Konzipierung und Verwirklichung von Demonstrationsprojekten in großem Maßstab auf EU-Ebene gibt. Des Weiteren unterstreicht die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung, dass Marktvorreiter einen „echten kommerziellen Nutzen“ erkennen können müssen.

6.4

Die Europäische Kommission hält allerdings fest, dass die Zusatzkosten im Einzelfall über das EU-EHS zumindest kompensiert werden sollten — wenn nicht sogar mehr. Beim heutigen Stand der Dinge kann dieses Szenario aus folgenden Gründen keinesfalls gewährleistet werden:

Die Zukunft des EU-EHS nach 2012 ist nach wie vor unklar;

Unter der Annahme, dass CCS in das EU-EHS aufgenommen wird, besteht nach wie vor Unsicherheit in Bezug auf die Bepreisung der Emissionsrechte. Insbesondere zu klären ist beispielsweise die Art, der Umfang und der Zeitpunkt der Versteigerungen in den Mitgliedstaaten im Rahmen der EU-weiten Höchstgrenzen oder der Einfluss des Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (Clean Development Mechanism — CDM).

Die tatsächlichen Kosten für CCS nach 2012 (frühzeitige Demonstration) und nach 2020 (Vermarktung) hängen in großem Maße von den Fortschritten in Forschung und Entwicklung und der Wirtschaftentwicklung ab (z. B. Kraftstoffpreis, Kosten für Entwurf und Ausführung).

6.5

Das EU-EHS bietet Marktvorreitern umfangreiche Möglichkeiten, sich gegenüber anderen Akteuren echte kommerzielle Vorteile zu verschaffen. Es bedarf jedoch weiterer Maßnahmen, um das EU-EHS in einen verlässlichen und langfristigen Handelsplatz umzuwandeln, der Marktvorreitern einen Wettbewerbsvorteil gegenüber später auf den Markt eintretenden Akteuren an die Hand gibt. Außerdem sollten Anstrengungen unternommen werden, um stärkere und womöglich unterschiedliche Marktimpulse zu schaffen.

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die geologische Speicherung von Kohlendioxid und zur Änderung der Richtlinien 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates sowie der Richtlinien 2000/60/EG, 2001/80/EG, 2004/35/EG, 2006/12/EG und der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006“, CESE 1203/2008 (NAT/401) — Ziffer 4.

(2)  Siehe insbesondere den Bericht der Internationalen Energie-Agentur (IEA), die Analyse „Energy systems analysis of CCS Technology; PRIMES model scenarios“ und die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die geologische Speicherung von Kohlendioxid und zur Änderung der Richtlinien 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates sowie der Richtlinien 2000/60/EG, 2001/80/EG, 2004/35/EG, 2006/12/EG und der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006“, CESE 1203/2008 (NAT/401) — Ziffer 5.3.2, 5.15.1 und 5.15.2.

(3)  Eine effizientere Verbrennung ist unbedingt notwendig, wird jedoch allein nicht ausreichen, um die erforderliche Verringerung der CO2-Emissionen zu erreichen.

(4)  Zusammenfassung der Folgenabschätzung.

(5)  Und zwar NAT/399, NAT/400 und NAT/401 sowie TEN/334, TEN/338 und TEN/341.

(6)  Siehe die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die geologische Speicherung von Kohlendioxid und zur Änderung der Richtlinien 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates sowie der Richtlinien 2000/60/EG, 2001/80/EG, 2004/35/EG, 2006/12/EG und der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006“ (KOM(2008) 18 endg. — 2008/0015 (COD)), CESE 1203/2008 (NAT/401).

(7)  Siehe die in Fußnote 2 erwähnte Analyse „Energy systems analysis of CCS Technology; PRIMES model scenarios“ mit den beigefügten einschlägigen Karten.

(8)  Es gibt jedoch noch andere Vorschläge zur Überbrückung dieser Finanzierungsprobleme — siehe den „EurActiv.com“-Artikel zum Thema „Financing woes plague EU Climate technologies“ vom Mittwoch, den 27. Februar 2008.

(9)  Im Europäischen Parlament werden derzeit Vorschläge erörtert, Einnahmen in Höhe von 60 bis 500 Mio. EUR aus dem EU-EHS für kommerzielle Demonstrationsvorhaben in großem Maßstab bereitzustellen (Änderungsvorschläge zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG zwecks Verbesserung und Ausweitung des EU-Systems für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten“ (KOM(2008) 16 endg.)).

(10)  Hier sei u.a. auf das europäische Vorzeigeprogramm und die Europäische Technologieplattform für das mit fossilen Brennstoffen betriebene emissionsfreie Kraftwerk (ETP-ZEP) verwiesen.

(11)  Siehe den IEA-Bericht.


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/54


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die erste Bewertung der durch die Richtlinie 2006/32/EG über Energieeffizienz und Energiedienstleistungen vorgeschriebenen nationalen Energieeffizienz-Aktionspläne — Gemeinsame Fortschritte bei der Energieeffizienz“

KOM(2008) 11 endg.

(2009/C 77/14)

Die Europäische Kommission beschloss am 23. Januar 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die erste Bewertung der durch die Richtlinie 2006/32/EG über Energieeffizienz und Energiedienstleistungen vorgeschriebenen nationalen Energieeffizienz-Aktionspläne — Gemeinsame Fortschritte bei der Energieeffizienz“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 16. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr IOZIA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) mit 142 gegen 6 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

In einigen kürzlichen Stellungnahmen zur Energieeffizienz im Allgemeinen (1) und zur Energieeffizienz von Gebäuden im Besonderen (2) hat sich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss praktisch einstimmig nachdrücklich für eine seriöse Energieeffizienz-Politik ausgesprochen.

1.2

Der EWSA bedauert, dass die Mitgliedstaaten nicht schon frühzeitig nationale Energieeffizienz-Aktionspläne (NEEAP) aufgestellt haben. Leider werden — von wenigen Ausnahmen abgesehen — aus den analysierten Dokumenten auch keine ernsthaften und nachdrücklichen Bemühungen der Mitgliedstaaten zur Verwirklichung der Ziele ersichtlich. Dies gilt insbesondere für die Bereiche mit dem größten Energieverbrauch, nämlich motorisierter Individualverkehr und Wohnhäuser.

1.3

Lediglich zwei Mitgliedstaaten haben die Fristen eingehalten, andere 15 haben ihre Pläne mit zwei bis sechs Monaten Verspätung eingereicht, zwei zu dem Zeitpunkt, als die Bewertung der Kommission bereits abgeschlossen war, und die übrigen acht haben sich noch mehr verspätet. Erst Anfang April lagen sämtliche Pläne vor, das heißt, mit einer Verspätung von 10 Monaten gegenüber der Vorgabe.

1.4

Der EWSA stellt fest, dass nach den Energieeffizienzplänen im Rahmen der Programme der Kommission die Energieeinsparungen in erster Linie zu einer Verringerung der Treibhausgase führen sollen. Das Ziel einer Senkung des Energieverbrauchs bis zum Jahr 2020 um 20 % soll zu einer Verringerung der CO2-Emissionen um 780 Mio. t CO2-Äquivalente führen. Angesichts von Emissionen in Höhe von 5 294 Mio. t CO2-Äquivalente in der EU-25 im Jahr 2006 (Bericht 2006 der Europäischen Umweltagentur) liegt es auf der Hand, dass mit Hilfe der Energieeffizienz ein großer Beitrag dazu geleistet werden kann.

1.5

Der EWSA erinnert daran, dass für die Einhaltung einer Erwärmung von (nur) 2 °C die Konzentration der Treibhausgase (die derzeit ca. 425 ppm CO2-Äquivalent pro Jahr bezogen auf das Volumen beträgt) deutlich unterhalb des Grenzwerts von 550 ppm (3) bleiben muss. In Anbetracht dessen, dass die Konzentration jährlich um 2-3 ppm steigt, würde eine Stabilisierung auf 450 ppm mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % zur Erreichung des Ziels führen, die Zunahme der durchschnittlichen Erwärmung auf unter 2 °C zu halten.

1.6

Die Mitgliedstaaten haben himmelweit unterschiedliche Pläne verfasst. Es wurden solche mit 13 Seiten und solche mit 221 Seiten vorgelegt, was praktisch jeden Vergleich zwischen ihnen unmöglich macht. Viele Pläne wurden lediglich in der Landessprache verfasst, was ihr Verständnis noch weiter erschwert. Deshalb empfiehlt der EWSA die Annahme eines Modells wie dasjenige für das Vorhaben EMEES (Bewertung und Überwachung der EU-Richtlinie über EndEnergieeffizienz und Energiedienstleistungen), das in Zusammenarbeit mit dem „Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie“ durchgeführt wird.

1.7

So haben etwa die Mitgliedstaaten mit der Europäischen Umweltagentur ein Modell für die jährlichen Datenerhebungen namens NIR (National Inventory report) vereinbart. Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Vorgehensweise gewählt werden könnte, vorausgesetzt, dass das Modell mit Hilfe von Anhängen für die einzelnen Maßnahmenbereiche (Gebäude, Verkehr usw.) flexibler gestaltet werden kann.

1.8

Der EWSA hält das Instrument „freiwillige Vereinbarungen“ mit den einzelstaatlichen Akteuren für sinnvoll, aber in ihnen muss deutlich gemacht werden, dass bei Nichterreichen der festgelegten Ziele verbindliche Regelungen eingeführt werden.

1.9

Im Übrigen trifft die Kommission bereits einige Maßnahmen, die sie im Jahr 2006 angekündigt hatte und die Energieeinsparungen verbindlich machen; so beabsichtigt sie, dem Beispiel Australiens folgend, Glühbirnen aus dem Markt zu nehmen, die 90 % der Energie für Wärme verbrauchen und nur 10 % in Licht umwandeln! Der EWSA hofft, dass die Hersteller Möglichkeiten zur Preissenkung von Fluoreszenzlampen finden und die staatlichen Institutionen der EU-Mitgliedländer die Ausweitung ihrer Herstellung fördern, dass die Energiesparlampen langlebiger und kompakter werden und die Probleme im Zusammenhang mit ihrer Verwertung gelöst werden.

1.10

Im nächsten Bericht der EEA, der bis Juni 2008 veröffentlicht werden soll, wird gezeigt, dass zwischen 2005 und 2006 eine Verringerung der Treibhausgase um 35,8 Mio. t CO2-Äquivalente stattfand; interessanterweise stammte der größte Beitrag dazu — mit 15,1 Mio. t CO2-Äquivalente — aus Wohnungen und Büros. Aber die Erzeugung von elektrischer Energie und Wärme hat zu einer Zunahme um 14 Mio. t CO2-Äquivalente geführt. Das heißt, aus dem Bericht geht hervor, dass in der EU-27 trotz der Verringerung lediglich eine Einsparung von weniger als 0,5 % gegenüber dem Jahr 1990 erfolgt ist und manche Mitgliedstaaten ihre Anstrengungen intensivieren müssen.

1.11

Die Liberalisierung des Energiemarktes könnte zu einer Beschleunigung der Energieeinsparungen führen, da sich auf dem Markt unterschiedlich effiziente Produktions- und Verteilsysteme gegenüberstehen, was die Forschung und Investitionen zu Senkungen der Energieverluste stimulieren könnte. Denn bereits bei der Erzeugung gehen mehr als 30 % der Energie verloren. Der EWSA hat kürzlich in einer Stellungnahme (4) die Vorschläge der Kommission zum dritten Energie-Legislativpaket unterstützt, mit dessen Hilfe der europäische Energiemarkt effizienter werden soll.

1.12

Der EWSA ist davon überzeugt, dass mehr als bisher getan werden muss und fordert, dass die Kommission ihn nach Abschluss der Bewertung der Aktionspläne ausführlicher über die Bewertungen unterrichtet und ihn mit einer Stellungnahme zu deren Ergebnissen befasst.

1.13

Der EWSA hat bereits mehrmals gefordert, die Zivilgesellschaft sowohl auf europäischer Ebene als auch in den Mitgliedstaaten einzubeziehen, weil er es für die Umsetzung der Energieeffizienzziele für unerlässlich hält, dass die europäischen Bürger sie genau kennen und sie voll unterstützen. Auch sind die Empfehlungen aus der Zivilgesellschaft zu berücksichtigen. Bei den Maßnahmen, die durchgeführt werden sollen, muss immer berücksichtigt werden, dass Millionen europäischer Bürger bereits Schwierigkeiten haben, ihren Lebensalltag zu bewältigen. Energieeinsparprogramme, die notwendigerweise zu Belastungen führen, müssen die Maßnahmen sorgfältig auswählen und angemessene Unterstützungen für die wirtschaftlich schlechter Gestellten vorsehen, die andernfalls wachsenden Belastungen aufgrund der steigenden Energiekosten ausgesetzt wären, ohne die Ursache der Kosten verringern zu können, wie etwa Heizkosten für ihre Wohnungen.

1.14

Der EWSA betont, dass die Initiativen zu Gunsten der Energieeffizienz konkret und durchführbar sein müssen und fragt sich, ob angesichts der Diskrepanz zwischen den Plänen und den konkreten Ergebnissen nicht ernsthaft erwogen werden sollte, zumindest einige Maßnahmen verbindlich zu machen, wie dies bei den Emissionen der Kraftfahrzeuge zur generellen Senkung von CO2, den Emissionen von Treibhausgasen und den erneuerbaren Energien geschehen ist.

1.15

In den nationalen Energieeffizienz-Aktionsplänen (NEEAP) wird nicht klar und deutlich angegeben, welche Maßnahmen und welche Mittel eingesetzt werden sollen, um die Endverbraucher an dem großen europäischen Vorhaben der Energieeffizienz und Energieeinsparungen zu beteiligen. Der EWSA hat mehrfach die wichtige Rolle der organisierten Zivilgesellschaft betont, die sie bei der Festlegung von vorbildlichen Verfahren für die Verbreitung von Informationen und exemplarischen Beispielen wahrnehmen kann. Der EWSA möchte diese Frage im Detail mit den europäischen Institutionen erörtern, die dafür nicht besonders engagiert und sensibilisiert zu sein scheinen.

1.16

Der EWSA schlägt der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten die Einrichtung eines eigenen integrierten Überwachungssystems vor, wie es zum Beispiel bei der Wasserschutzpolitik bereits besteht. Ein solches System ist dringend erforderlich, denn es fehlen Informationen und Folgenabschätzungen zu den Maßnahmen der Europäischen Union zur Energieeffizienz für die Endverbraucher (insbesondere die KMU), ferner eine Methode, mit der die Kohärenz zwischen den internationalen und den europäischen Zielen überprüft werden könnte, und schließlich eine Überwachung der von den Endverbrauchern erzielten Resultate.

1.17

In einigen Sektoren wie etwa dem sozialen Wohnungsbau besteht der Baubestand großenteils aus sehr alten und nicht energieeffizienten Wohngebäuden. Über 25 Millionen bewohnte Einheiten erfordern dringende und umfassende Maßnahmen. Der EWSA wünscht sich die Aufstellung von Renovierungsplänen für die staatlichen Wohnungen, die aus Mitteln der EIB zu finanzieren wären. Von solchen Maßnahmen ist in den NEEAP nirgendwo die Rede.

1.18

Nach Ansicht des EWSA kann mit Marktinstrumenten, ähnlich denjenigen, die bereits im Einsatz sind, ein beachtlicher Beitrag geleistet werden. Auch den Endverbrauchern den Markt für „Stromspar-Zertifikate“ („negawatts“) bzgl. der elektrischen Energieeffizienz zu eröffnen, könnte ein sinnvoller Anreiz für die Bürger sein, um sich umweltverträglich zu verhalten. Wenn man berücksichtigt, dass allein die Ersetzung der Glühbirnen Einsparungen erzielen würde, die mindestens 80 Kraftwerken von 1 000 MW entsprechen (etwa dem Gesamtwert der in Italien produzierten Kapazität), liegt das Interesse der Stromerzeuger an der Energieeffizienz auf der Hand: Sie können bei gleicher Energieerzeugung die Nachfrage von mehr Kunden decken.

1.19

Der EWSA hofft, dass wieder ein positiver Kurs eingeschlagen wird und die Mitgliedstaaten die Politik der Energieeffizienz und Energieeinsparung ernst nehmen und nationale Pläne entwickeln, die seriös, glaubwürdig und realistisch sind und messbare Zielgrößen enthalten. Auch muss angegeben werden, welche Finanzmittel die Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen werden, um die erforderlichen Investitionen der Bürger und der Unternehmen angemessen zu unterstützen.

2.   Einführung

2.1

Mit ihrer Mitteilung über die erste Bewertung der nationalen Energieeffizienz-Aktionspläne unter dem Titel Gemeinsame Fortschritte bei der Energieeffizienz kommt die Kommission ihrer Verpflichtung aus der Richtlinie 2006/32/EG nach, die in Artikel 14 Absatz 5 die Veröffentlichung eines Berichts mit den Bewertungen der 27 nationalen Aktionspläne vor dem 1. Januar 2008 vorsieht. Ein zweiter Bericht soll vor dem 1. Januar 2012 und der dritte vor dem 1. Januar 2015 vorgelegt werden.

2.2

Die Ziele, auf die sich die Mitteilung bezieht, sind in derselben Richtlinie in Artikel 4 Absatz 1 aufgeführt, in dem es heißt: „Die Mitgliedstaaten legen für das neunte Jahr der Anwendung dieser Richtlinie einen generellen nationalen Energieeinsparrichtwert von 9 % fest, der aufgrund von Energiedienstleistungen und anderen Energieeffizienzmaßnahmen zu erreichen ist, und streben dessen Verwirklichung an“.

2.3

Die Kommission betont, dass lediglich zwei Mitgliedstaaten die vorgesehene Frist eingehalten haben (Finnland und Vereinigtes Königreich), weitere 15 ihre Berichte verspätet eingereicht haben (Österreich, Bulgarien, Zypern, Dänemark, Estland, Deutschland, Irland, Italien, Litauen, Malta, Niederlande, Polen, Tschechische Republik, Rumänien und Spanien), und Belgien und die Slowakei ihre nationalen Aktionspläne erst Ende 2007 vorgelegt haben, zu spät, um noch in das Dokument aufgenommen werden zu können.

3.   Die Mitteilung der Kommission

3.1

Aus der Prüfung der Pläne geht hervor, dass fünf Mitgliedstaaten Einsparungsziele festgelegt haben, die über die Richtwerte der Richtlinie hinausgehen; andere haben sogar weit höhere Ziele gesetzt, aber ohne jegliche offizielle Selbstverpflichtung. Von den 17 bewerteten Plänen decken sechs nicht den gesamten in der Richtlinie vorgesehenen Planungszeitraum, das heißt, sie erstrecken sich nicht bis zum Jahr 2016. Was die Vorbildfunktion des öffentlichen Sektors betrifft, wird Irland genannt, das ein bis 2020 zu erreichendes Einsparungsziel von 33 % beschlossen hat, und Deutschland, das sich verpflichtet hat, bis 2012 die CO2-Emissionen um 30 % zu reduzieren; das Vereinigte Königreich strebt für 2012 CO2-neutrale Gebäude der Zentralregierung an.

3.2

In dem Bericht werden landesweite Kampagnen genannt, wie etwa Power of One in Irland, die im Internet für den Austausch bewährter Praktiken zwischen Behörden und Privatpersonen eingerichtet wurde; Energieaudits der staatlichen Gebäude in Dänemark, mit verbindlicher Umsetzung der Empfehlungen; in Deutschland ein Sanierungsprogramm für Bundesgebäude, für die ein Betrag von 120 Millionen EUR bereitgestellt wird; in Malta die Ernennung von Öko-Beauftragten („green leaders“), d.h. Beamten, die sich in jedem Ministerium um die Energieeffizienz kümmern und Initiativen zur Förderung der Nutzung erneuerbarer Energien durchführen sollen.

3.3

Das Vereinigte Königreich setzt auf den Code for Sustainable Homes (Gesetz für nachhaltiges Wohnen und wendet Stufe 3 des Codes an, was eine 25-prozentige Verbesserung der Energieleistung gegenüber der Bauordnung von 2006 bedeutet. Österreich möchte die Gebäude des öffentlichen Sektors energieeffizienter gestalten als es die rechtlichen Bestimmungen verlangen, während Spanien die veralteten Straßenbeleuchtungssysteme durch effizientere Anlagen ersetzen und die Energieeffizienz bei der Trinkwasseraufbereitung und -versorgung erheblich verbessern will.

3.4

Polen und Finnland verpflichten den öffentlichen Sektor, Energieeinsparungen mindestens auf dem Niveau des nationalen Ziels zu realisieren, wie es bereits für städtische Gebäude gilt. Die Niederlande streben eine Vorreiterrolle an, indem bis zum Jahr 2010 die öffentlichen Ausschreibungen auf staatlicher Ebene zu 100 % und bei der Kommunal- und Regionalverwaltung zu 50 % auf der Grundlage von Nachhaltigkeitskriterien erfolgen sollen.

3.5

Die Politik steuerlicher Anreize wird für sehr wichtig gehalten. Deutschland und Österreich zielen auf die Energieeffizienz von Gebäuden, auf den ja 40 % des gesamten Endenergieverbrauchs entfallen; Litauen sieht die Einführung einer Senkung des Mehrwertsteuersatzes von 18 auf 9 % für Wohngebäude vor, die mit öffentlichen Mitteln finanziert werden. Die Niederlande beabsichtigen, für privatwirtschaftliche Unternehmen einen „Steuernachlass für Energieinvestitionen“ zu gewähren, während in Italien eine Regelung erarbeitet wurde, die einen Bruttosteuerabschlag von bis zu 55 % beim Kauf von Elektro-Haushaltsgeräten mit hoher Energieeffizienz (Kühlgeräte der Energie-Effizienzklasse A+, Boiler), für Leuchten sowie für Renovierungsmaßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz vorsieht.

3.6

Freiwillige Vereinbarungen werden als ein nützliches Instrument betrachtet, insbesondere in Finnland (im Untersuchungszeitraum galten sie für 60 % des Endverbrauchs an Energie; Ziel ist es, dass sie bis zum Jahr 2016 für 90 % des Energieverbrauchs gelten), in den Niederlanden, wo sie im Wesentlichen für Unternehmen gelten, in Dänemark, wo sie hingegen auf die öffentlichen Ausschreibungen beschränkt sind. Spanien, Polen, Vereinigtes Königreich, Rumänien und Irland haben erklärt, freiwillige Vereinbarungen als Hauptinstrument für die Erzielung von Energieeinsparungen einführen zu wollen.

3.7

In den nationalen Plänen werden Marktinstrumente („weiße Zertifikate“) zwar bejaht, aber noch werden sie nur in wenigen Ländern verwendet. Italien sieht vor, die Geltungsdauer seines Systems bis zum Jahr 2014 zu verlängern, Polen möchte dieses System einführen, während im Vereinigten Königreich das Energy Efficiency Commitment (EEC) bis zum Jahr 2020 gelten soll: unter dem neuen Namen Carbon Emission Reduction Target hat es doppelt so hohe Einsparziele wie diejenigen für den Zeitraum 2008-1011. Große Bedeutung wird den „Energiedienstleistungsunternehmen“ (ESCO) beigemessen, die allerdings noch nicht die erwartete Entwicklung genommen haben. Diesbezügliches Interesse gibt es in Österreich, Deutschland, Irland, Italien, Polen und Spanien.

3.8

Bulgarien, Rumänien und das Vereinigte Königreich planen die Einrichtung von Fonds und Finanzierungsmechanismen vor allem für den Handel und Wohnungsbau. Die Politik der Erziehung und Information wird von den nationalen Agenturen nicht einheitlich betrieben, die voneinander abweichende Aufgaben haben; einige Länder wie Dänemark und Italien haben beschlossen, diese Aufgaben regionalen und kommunalen Einrichtungen zu übertragen.

3.9

Der Verkehr, auf den mehr als ein Drittel des Energieverbrauchs entfällt, wird von vielen besonders kritisch betrachtet, aber in der Praxis schlagen nur Österreich und Irland konkrete Maßnahmen für eine Verlagerung auf öffentliche Verkehrsmittel vor.

3.10

Der größte Teil der vorgelegten Pläne sieht eine Beibehaltung der gegenwärtigen Situation vor, und bei einigen Mitgliedstaaten ist eine auffallende Diskrepanz zwischen den politischen Selbstverpflichtungen und den getroffenen Maßnahmen und bereitgestellten Ressourcen festzustellen.

3.11

Die Kommission verfolgt und überwacht nicht nur genau die Umsetzung der Richtlinie, sondern möchte auch deren Anwendung mithilfe ihres Arbeitsprogramms Intelligente Energie für Europa erleichtern. Die Kommission wird eine Internet-Plattform einrichten, um Beiträge der Beteiligten zu sammeln und vorzustellen, die zur Unterstützung der Anwendung der Richtlinie herangezogen und bei der Annahme der einzelstaatlichen Maßnahmen und der Ausarbeitung der nächsten NEEAP einbezogen werden sollen. Die nationalen Pläne werden durch das Projekt Energy Efficiency Watch geprüft.

3.12

In ihrem Fazit erinnert die Kommission an die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit und an ihre Initiative für eine internationale Plattform zur Energieeffizienz, die die Entwicklung von Normen, den Handel und den Technologietransfer fördern soll. Angesichts der großen Aufgaben, vor denen Europa steht, und der Verantwortung, die es in den Bereichen Klimawandel, sichere und nachhaltige Energieversorgung und Verringerung der Treibhausgas-Emissionen übernehmen will, sind wirksame Programme zur Verbesserung der Energieeffizienz unerlässlich.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der erste, ins Auge fallende negative Aspekt dieser Mitteilung besteht darin, dass die in der Richtlinie vorgesehene Frist für die Vorlage der nationalen Energieeffizienz-Aktionspläne (NEEAP) lediglich von zweien der 27 Mitgliedstaaten eingehalten wurde, während 15 weitere etwas später nur Zusammenfassungen geliefert haben, zwei andere weit nach der Frist und die restlichen acht Mitgliedstaaten gar nichts vorgelegt haben. Ein Jahr nach Ablauf der Frist (30.6.2007) fehlt noch immer ein Mitgliedstaat.

4.2

Der zweite negative Aspekt aus der Zusammenfassung der Kommission liegt darin, dass die untersuchten Dokumente nicht von so engagierten und ernsthaften Bemühungen zeugen, wie es die Situation verlangen würde. Es geschieht immer häufiger, dass die Staats- und Regierungschefs als Repräsentanten ihrer Mitgliedstaaten leichtfertig Richtlinien in Brüssel absegnen, die sie bei sich zu Hause dann nicht einhalten können oder wollen. Die Agenda von Lissabon ist das deutlichste Beispiel dafür, aber es gibt auch viele andere Fälle von derart inkonsequenten Verhaltensweisen — und wird es wohl weiterhin geben.

4.3

Bei der Betrachtung der nationalen Aktionspläne ist festzustellen, dass ein Referenzschema fehlt, dass die Pläne so völlig unterschiedlich aufgestellt wurden, dass ihre Lektüre schwierig und ihre Vergleichbarkeit fast unmöglich ist. Im Zusammenhang mit dem Projekt EMEES (Bewertung und Überwachung der EU-Richtlinie über EndEnergieeffizienz und Energiedienstleistungen), das mit dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie durchgeführt wird, wurde eine Modell speziell für die Abfassung von nationalen Aktionsplänen entwickelt. In einem Schreiben hat sich Belgien darüber beklagt, dass dieses wichtige Modell erst am 11. Mai vorgestellt wurde, d.h. einige Tage vor Ablauf der Frist für die Vorlage der nationalen Pläne.

4.4

Was die neuen Mitgliedstaaten angeht, umfassen die Pläne der Tschechischen Republik und Litauens 13 Seiten, die Rumäniens 41 und Maltas 89 Seiten. Von den größeren Staaten legte Frankreich 37 Seiten, Deutschland 102 Seiten, Spanien 211 und das Vereinigte Königreich 214 Seiten vor. Belgien schließlich hat aufgrund seiner föderalen Struktur vier Dokumente mit insgesamt 221 Seiten vorgelegt. Alle 25 Mitgliedstaaten zusammen (Schweden und Portugal erscheinen bislang nicht auf der Internetseite der Kommission) haben 2 161 Seiten Pläne mit Daten, Tabellen und Maßnahmen von völlig unterschiedlicher Form vorgelegt. Jedes Land hat seine eigenen Bezugsgrößen, Methoden und Kommunikationsmodelle gewählt: das Ergebnis ist entmutigend, weil keine einheitliche Marschrichtung zu erkennen ist.

4.5

Das von Frankreich, Slowenien, Griechenland (lediglich ein Entwurf), den Niederlanden und Luxemburg vorgelegte Material ist jeweils nur in der eigenen Nationalsprache abgefasst (ein unüberwindliches Hindernis für den Berichterstatter). Es ist schwer vorstellbar, dass der Austausch von beispielhaften Praktiken stattfinden kann, wenn die Dokumente in der Originalsprache gelesen werden müssen, aber es war weder vorgesehen noch gar Pflicht, eine ganz bestimmte Sprache zu verwenden. Die Kommission hat geplant, alle Dokumente zu übersetzen, aber leider haben sich die Verzögerungen bei der Vorlage der Aktionspläne auch auf die Übersetzungsarbeit ausgewirkt.

4.6

Der EWSA weist auf die Widersprüchlichkeit zwischen den Zielen der nationalen Aktionspläne und diesen beiden hier erwähnten Elementen hin: enzyklopädische Pläne, extrem kurze Zusammenfassungen: weder das eine noch das andere verhelfen zu einem genauen Verständnis der vorgesehenen Marschrichtung. Ein Übermaß an Details oder zu starke Synthesen führen gleichermaßen zu Lektüre- und Verständnisschwierigkeiten. Insofern kann das Modell des Projekts EMEES ein guter Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen sein. Der EWSA empfiehlt für die nächste Auflage der nationalen Aktionspläne nachdrücklich die Annahme eines gemeinsamen Modells, das eine leichtere Lektüre und Vergleichbarkeit zulässt.

4.7

Von einigen lobenswerten Ausnahmen abgesehen, die in dieser Stellungnahme erwähnt wurden, beklagt der EWSA den großen Mangel an Initiativen im öffentlichen Bereich und in der Landwirtschaft. Über diese äußerst wichtigen Bereiche wird in den Aktionsplänen kein Wort verloren.

5.   Allgemeine Bemerkungen

5.1

Im Januar 2007 hatte der Rat die Kommission aufgefordert, in den Bereichen Energie und Klimawandel Maßnahmen zu treffen, um ehrgeizige Ziele zu verwirklichen. Diese Ziele wurden konkretisiert: im dritten Energiepaket, im Paket über erneuerbare Energien und Klimawandel, in der Richtlinie über die Senkung der CO2-Emissionen bei neuen Kraftfahrzeugen, in der neuen Energy Star-Verordnung, in dem Grünbuch über Mobilität in Städten, das u.a. Anreize für energieeffiziente Fahrzeuge vorsieht, und in dem Europäischen Strategieplan für Energietechnologie.

5.2

Was kennzeichnet alle diese Maßnahmen? Sie enthalten einige Empfehlungen und viele Vorschriften. Leider können die Regierungen nach der förmlichen Annahme dieser Maßnahmen dem Druck nationaler Unternehmen nicht standhalten und die getroffenen Entscheidungen aufrechterhalten, wie etwa im Fall der CO2-Emissionen, und fordern wieder Abänderungen an dem, was sie gemeinsam verabschiedet haben.

5.3

Weshalb sich die Mitgliedstaaten darum anscheinend nicht viel Gedanken machen, liegt in der Richtlinie selbst begründet. So heißt es im 12. Erwägungsgrund: „Selbst wenn die Mitgliedstaaten sich verpflichten, Anstrengungen zur Erreichung des festgelegten Richtwerts von 9 % zu unternehmen, handelt es sich bei dem nationalen Energieeinsparziel lediglich um ein Richtziel, das für die Mitgliedstaaten keine rechtlich erzwingbare Verpflichtung zur Erreichung dieses Zielwerts beinhaltet.“

5.4

Diese Regelungspraxis (Richtlinien mit unverbindlichen Zielen und ohne Sanktionen im Falle der Nichterfüllung) war Kennzeichen der Gesetzesinitiativen in bestimmten Jahren und gewissen Politikbereichen. Die Mitgliedstaaten haben bis vor einigen Jahren ihre Souveränität auf dem Gebiet der Energieerzeugung, -versorgung und -übertragung geltend gemacht. Dies hat zu einer in jener Zeit charakteristischen Form von „weichen Vorschriften“ geführt. Auch die Biokraftstoffrichtlinie RI 2003/30/EG hatte zwar Mengenziele festgelegt, aber ohne irgendwelche Verpflichtung, sie auch zu erreichen.

5.5

Unter solchen Bedingungen und Voraussetzungen ist das Ziel einer Senkung des Verbrauchs um 20 % bis zum Jahr 2020 auf dem Wege der Energieeffizienz kaum zu erreichen, wenn nicht entsprechende verbindliche Maßnahmen und/oder Zielvorgaben auferlegt werden.

5.6

Der EWSA unterstützt nach wie vor jedwede Initiative zur Erreichung einer immer besseren Energieeffizienz, da er der Auffassung ist, dass sowohl die CO2-Emissionen als auch die Energieabhängigkeit der EU zwei Probleme ersten Ranges sind.

5.7

Der EWSA weist gleichzeitig auf die Widersprüchlichkeit zwischen den unverbindlichen allgemeinen Maßnahmen und den verbindlichen Einzelmaßnahmen hin, durch welche die Ergebnisse erzielt werden sollen. Sind etwa die Gesamtziele unverbindlich, aber die einzelnen Teile verbindlich? Die Kommission selbst müsste mit gutem Beispiel vorangehen, indem sie die Ergebnisse der Energieeffizienz und -einsparungen, die sie bei ihren eigenen Gebäuden erzielt hat, und die dazu getroffenen Maßnahmen und bereitgestellten Mittel bekannt gibt. Ein in einem „föderalen“ Ansatz gehaltener Anhang würde das Verständnis für die Wichtigkeit solcher Maßnahmen verbessern.

5.8

Der EWSA betont das enorme Missverhältnis zwischen den diffusen Erwartungen, die an die Annahme der für eine signifikante Steigerung der Energieeffizienz geeigneten Maßnahmen geknüpft werden, und den von den Mitgliedstaaten vorgelegten, insgesamt enttäuschenden und wenig ehrgeizigen Vorhaben; er weist nachdrücklich auf die Notwendigkeit hin, konkrete kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen zu treffen, durch die den angegebenen Zielen auch Substanz verliehen wird.

5.9

Wird diese Notwendigkeit gesehen, empfiehlt es sich, geeignete Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele zu treffen, anstatt, wie in anderen Fällen, bloße Kosmetik zu betreiben.

5.10

Der EWSA hatte sowohl den Erlass der Richtlinie 2006/32/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2006 über Energieeffizienz und Energiedienstleistungen (1) wie auch den anschließenden Aktionsplan vom 19. Oktober 2006 (KOM(2006) 545 endg.) mit dem Titel: Aktionsplan für Energieeffizienz: Das Potenzial ausschöpfen begrüßt, aber beide Maßnahmen waren noch im Kontext relativ niedriger Erdölpreise konzipiert worden. Als die Richtlinie angekündigt wurde, im Jahr 2004, schwankte der Preis um 42 US $ pro Barrel; bei ihrer Vorlage, im Jahr 2006, lag er schon bei knapp 62 US $.

5.11

Vor diesem Hintergrund war es auch verständlich, dass die Ziele lediglich Richtwerte waren und die Kommission in ihrer Richtlinie den Mitgliedstaaten keine verbindlichen Vorschriften zur Realisierung der vorgeschlagenen Ziele gemacht hatte. Damals schrieb der Wirtschafts- und Sozialausschuss: „Die beste Energie ist die gesparte“. Aber wenn die Einsparungsziele den Mitgliedstaaten und ihrem guten Willen ohne weitere Anreize als dem des Verantwortungsgefühls anheim gestellt bleiben, wird das Ziel nur zufällig oder genau genommen gar nicht erreicht werden.

5.12

Aber kann sich die Union erlauben, die Energieeinsparungsziele von jährlich 1,5 % nicht zu erreichen und 390 MTÖ nicht einzusparen, was 780 Mio. t CO2 entspricht? Einerseits werden ehrgeizige und verbindliche Ziele aufgestellt wie etwa eine Senkung der Treibhausgas-Emissionen um 20 % oder das Ziel, 20 % der Energie aus erneuerbaren Quellen zu beziehen, während andererseits das unmittelbar erreichbare Ziel, das sofort zu Einsparungen führt, wie eine bloße Hoffnung links liegen gelassen wird.

5.13

Der EWSA weist darauf hin, dass in einigen Mitgliedstaaten die Umsetzung der Aktionspläne den Regionalregierungen obliegt, ohne dass es eine angemessene Koordinierungsebene gibt, was zu fehlender territorialer Harmonisierung und Kohärenz führt.

5.14

Der EWSA bemängelt das Fehlen echter Wahlmöglichkeiten bei den Angeboten und ist der Auffassung, dass solche Möglichkeiten erweitert werden müssen, begleitet von Anreizen vor allem für die schwächsten Bevölkerungsgruppen, die Verbraucher insgesamt und die kleinen und mittleren Unternehmen, um rasch die angestrebten Ergebnisse zu erzielen. In einigen Mitgliedstaaten hatten Anreize bereits zu sehr ermutigenden Ergebnissen geführt, wie etwa im Fall der „weißen Haushaltsgeräte“.

5.15

Der EWSA betrachtet die Erfahrungen mit den „Energiedienstleistungsunternehmen“ (ESCO) als Erfolg und fordert, solche Dienstleistungen auch für die Bürger und Unternehmen bereitzustellen. Neue Berufsfelder, neue Möglichkeiten für qualifizierte Arbeit, positive Ergebnisse im Bereich der Energieeffizienz und der Verringerung der Treibhausgase sind nur einige positive Elemente solcher Dienstleistungsunternehmen.

5.16

Der EWSA stellt fest, dass die Mitgliedstaaten nicht genügend zur Verwirklichung der festgelegten Ziele unternehmen und ist davon überzeugt, dass wie im Falle der Emissionen im Straßenverkehr, alle Initiativen der Kommission unterstützt werden müssen, die darauf abzielen, die Mitgliedstaaten stärker in die Pflicht zu nehmen. Im vergangenen Jahr hat die Kommission positive Initiativen ergriffen wie etwa die neue Energy Star-Verordnung (106/2008/EG), deren Normen nunmehr bei öffentlichen Ausschreibungen für Bürogeräte verbindlich sind; das Grünbuch zur städtischen Mobilität, das u.a. den Vorschlag der finanziellen Unterstützung für energieeffizientere Fahrzeuge enthält; das dritte Energiepaket, das die einzelstaatlichen Regulierungskompetenzen zugunsten der Energieeffizienz stärkt; den Strategieplan für Energietechnologie und die Regelung für Emissionen neuer Pkw-Modelle.

5.17

Weitere Initiativen sind für die nächsten Monate geplant und reichen von neuen Richtlinien über Energieeffizienz oder Umweltkennzeichen bei einer Vielzahl von Produkten (z.B. öffentliche Beleuchtung und Bürobeleuchtung, Stand-by- und Ein-/Ausschaltfunktionen mit minimalem Verbrauch), bis hin zu einer neuen Verordnung, voraussichtlich im Jahr 2009, über Fernseher, Kühlschränke und Gefriertruhen für den Haushalt, Waschmaschinen und Trockner, Elektromotoren, Wärmepumpen und Klimaanlagen. Für das Jahr 2009 sieht die Kommission auch eine Initiative für Glühbirnen vor, durch die ihre rasche Ersetzung gefördert werden soll. Die Überarbeitung der Richtlinie für die Kennzeichnung von Kraftfahrzeugen, für die Effizienz von Autoreifen und die Systeme zur konstanten Überwachung des Luftdrucks und der Qualität der Reifen werden die Leitlinien der neuen Strategie für den Verkehrsbereich bilden.

5.18

Der EWSA hält es für unerlässlich, einen einheitlichen Energie-Binnenmarkt zu schaffen, auf dem die Preisbildung gemäß der Strom- und Gas-Richtlinie im Rahmen eines gesunden Wettbewerbs geschieht.

5.19

Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass in den EU-Mitgliedstaaten Erziehungsprogramme für die Schulen vorzusehen sind (die sich folglich auch aktiv an den Programmen zu Gunsten der Energieeffizienz beteiligen müssen), aber auch Kommunikationsprogramme zur Sensibilisierung der Bürger für die Bedeutung und Erfordernisse eines verantwortungsbewussten und sparsamen Energieverbrauchs.

5.20

Was die Schulen betrifft, sind einige Wettbewerbe zwischen technischen Ausbildungsstätten unter aktiver Einbeziehung der Schüler zugunsten der Erzielung besserer Energieeinsparungen von besonderem Interesse. Beispielsweise hat in Italien das Vorhaben „Datti una scossa“ („Gib Dir einen Ruck!“), das mit Prämien bis zu 25 000 EUR für die Verwirklichung von Projektvorschlägen ausgestattet ist, großen Erfolg gehabt. Ein weiteres gutes Beispiel ist der internationale Öko-Marathon, bei der ein französisches Institut einen Prototyp vorgestellt hat, der mit einem Liter Benzin 3 039 km weit gekommen ist. Ein Team aus Dänemark, das einen Verbrennungsmotor mit einem Emissionswert von lediglich 9 g/km entwickelt hat, wurde mit dem „Climate Friendly Award“ 2007 ausgezeichnet.

5.21

Die ökonomischen Instrumente, die verfügbar sein werden, müssen auch über die Zeit hinweg effizient und nachhaltig sein. Der EWSA ist der Auffassung, dass der Verteilung der Anreize, die sich unmittelbar an die Endverbraucher richten, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Ferner muss in Betracht gezogen werden, einen Teil der Anreize auch für die Lieferanten von Energiedienstleistungen bereitzustellen und damit ein gemeinsames und übereinstimmendes Interesse an Energieeffizienzmaßnahmen herzustellen.

5.22

Um den Kunden angemessene Preissignale zu übermitteln, die einen vernünftigeren und effizienteren Energieverbrauch fördern, ersucht der EWSA die Europäische Kommission, darüber zu wachen, dass Dumping-Tarife aus dem Markt genommen werden, aber dabei zu berücksichtigen, was die europäischen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der angemessenen Förderung der erneuerbaren Energien zulassen und was in der Strom- und Gasrichtlinie in Bezug auf die schwächeren Verbrauchergruppen vorgesehen ist.

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  CESE 242/2006, Berichterstatter: Herr BUFFETAUT; CESE 1243/2007, Berichterstatter: Herr IOZIA.

(2)  CESE 270//2007, Berichterstatter: Herr PEZZINI.

(3)  ppm = 10–6 = Teile pro Million.

(4)  CESE 758/2008, Berichterstatter: Herr CEDRONE.


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/60


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Das Internet der Dinge“

(2009/C 77/15)

Die Europäische Kommission beschloss am 7. Februar 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

„Das Internet der Dinge“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 16. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr RETUREAU.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 18. September) mit 118 Ja-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss fordert die Europäische Kommission auf,

1.1

in die Forschung zu investieren, die Verbreitung von Informationen (nach dem Vorbild der Veranstaltungen der vorangegangenen Ratsvorsitze) zu fördern und die Standardisierung voranzubringen, da das Internet der Dinge ein wichtiger Bereich ist;

1.2

Hindernisse für die Durchsetzung der Technologie abzubauen;

1.3

zu prüfen, ob zentralisierte Systeme das für Anwendungen des Internet der Dinge zu erwartende Ausmaß des Datenverkehrs bewältigen können und ob nicht eine dezentrale Verwaltung (in Bezug auf Namen und Dienste) ein besserer Ansatz für den Einsatz im großen Maßstab wäre;

1.4

zu untersuchen, ob die geltenden Rechtsvorschriften für den Datenschutz und die Sicherheitsanforderungen ausreichen oder ob neue Rechtsvorschriften erforderlich sind;

1.5

die Frage aufzugreifen, ob nicht Labors in Europa eingerichtet werden sollten, die von Hochschulen und Privatinvestoren finanziert werden, um sicherzustellen, dass die Forschungsergebnisse in Europa Anwendung finden und die Forscher nicht in Forschungseinrichtungen und Unternehmen in anderen Teilen der Welt (Vereinigte Staaten) abwandern;

1.6

sich mit möglichen Risiken elektromagnetischer Strahlung auseinanderzusetzen (für dieses neue Umfeld mit einer hohen Dichte an Funkfrequenzlesegeräten und insbesondere für Arbeitnehmer in diesem Umfeld sollte das Vorsorgeprinzip gelten; es gilt, die Arbeitnehmer über etwaige Risiken zu unterrichten und entsprechende Schutzvorkehrungen zu treffen), und eine umfassende wissenschaftliche Bewertung vorzunehmen;

1.7

zu berücksichtigen, dass jedwede technologische Entwicklung den Menschen zum Wohl gereichen sollte und daher auch einschlägige ethische Fragen angegangen werden müssen;

1.8

die Erfordernisse des Internet der Dinge für transeuropäische Dienste in Bezug auf das Funkfrequenzspektrum zu prüfen. Dies könnte auch Aufgabe einer unabhängigen Verwaltungsbehörde sein, die in Zukunft für die Funkfrequenzverwaltung zuständig wäre;

1.9

zu bedenken, dass die Forschung von grundlegender Bedeutung sein wird, um das Rennen um die Bereitstellung der Rechenkapazität zu gewinnen, die für das Funktionieren von Anwendungen des Internet der Dinge in Echtzeit erforderlich ist.

2.   Die Vorschläge der Europäischen Kommission

2.1

Im Anschluss an ihre Mitteilung über Funkfrequenzkennzeichnung (RFID) aus dem Jahr 2007 (1) und die einschlägige Konferenz in Lissabon im November 2007 nimmt die Europäische Kommission mit der geplanten Mitteilung die nächste Etappe in Angriff, und zwar das Internet der Dinge (2).

2.2

Ferner sei auf zahlreiche Mitteilungen sowie Initiativstellungnahmen des Ausschusses der letzten Jahre verwiesen (3). Das i2010-Programm war Gegenstand einer Halbzeitüberprüfung (4).

3.   Bemerkungen und Analysen

3.1   Einleitung

3.1.1

Die Entwicklung der Informationstechnologie ist eine grundlegende Herausforderung für unsere Gesellschaft. Europa mit seinem Binnenmarkt ist prädestiniert, um eine der Schlüsselregionen für die digitale Wirtschaft zu werden, sofern es die erforderlichen Maßnahmen im Bereich der Grundlagenforschung sowie der Forschung und Entwicklung im Allgemeinen als auch auf politischer Ebene für die Verwaltung dieses Internets der Zukunft ergreift.

3.1.2

Das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit Europas hängen in starkem Maße hiervon ab; es ist höchste Zeit, dass Europa sich in Bezug auf die politische Governance dieses Internet behauptet und die erforderlichen Technologien und Investitionen sowie das einschlägige Sach- und Fachwissen fördert.

3.1.3

Selbst in Zeiten des interaktiven und mobilen Web 2.0 beruht Internet nach wie vor auf einem weltweiten Netz unzähliger Server und Router, das heißt feststehender Rechner, die miteinander über Festnetz oder Glasfaser verbunden sind. Die Verbindung zu mobilen Endgeräten wie Mobiltelefonen oder Internet-Tablets erfolgt dagegen mittels Funkwellen; derartige Verbindungen, für die verschiedene Normen verwendet werden (z.B. 3G, 3G+, HSPDA, EDGE, WiFi und WiMax), haben explosionsartig zugenommen.

3.1.4

Das Web 2.0 ist interaktiv, die Nutzer schaffen bzw. übertragen Inhalte, entweder im eigenen Namen oder in Form einer Zusammenarbeit (Wikipedia, Freeware usw.). Zahlreiche KMU bieten Software, kreative Inhalte und vor allem unterschiedlichste Dienste an (Einrichtung und Wartung von Netzen, Informationssicherheit, IT-Schulungen usw.).

3.1.5

Computerchips werden immer kleiner, gleichzeitig aber auch immer komplexer und energieeffizienter. Sie werden in immer leichtere mobile Endgeräte eingebaut, in denen die installierte Software und die Rechenleistung im Hinblick auf die Integration von Telefonen, die Einwahl ins Internet und Ortungsdienste (SiRF 3 Chipsatz) genutzt werden.

3.2   Hin zum Internet der Dinge

3.2.1

Das Internet der Dinge findet nunmehr langsam, aber sicher Anwendung in einem komplexen technologischen Umfeld ausgehend von Web 2.0 und verwandten Technologien, die großteils bereits bestehen und deren Zusammenführung ein wichtiger Schritt zur Verwirklichung des Internet der Dinge ist:

IPv6 (5), HTTP (6), FTP, usw. sowie ein neuer universeller HTML-Standard (HTML 5) für das Webbrowsen (dieser muss allerdings noch ausgefeilt werden),

RFID-Etiketten (7) und Radiofrequenz-Lesegeräte, die diese mit den Datenbanken verbinden;

Ortung (GPS und in naher Zukunft Galileo);

zusammengeschaltete Netze und Datenspeicherkapazität;

künstliche Intelligenz (AI), insbesondere in Web 3.0 (semantisches Web, dessen Sprache der natürlichen Sprache ähnlicher sein wird), zur Datenverwaltung zwischen Rechnern;

Nanotechnologie, insbesondere zur Anwendung in Mikroprozessoren;

2D-Etiketten (Strichcodes, Data Matrix), die weiterhin zum Einsatz kommen können, bei denen insbesondere Inhalte mit hoher Informationsdichte mit einer mittels Data Matrix kodierten Internetadresse verbunden werden, die über ein mobiles Endgerät bildlich erfasst wird, das wiederum einen direkten Zugang zu der Website herstellt (verschiedene Nutzungsmöglichkeiten: Tourismus, Werbung, Information usw.).

3.2.2

Bei der Förderung dieser Bestandteile der künftigen Netze nehmen massiv-parallele Computer einen immer größeren Stellenwert ein. Unzählige Prozessoren können parallel anstatt in Reihe geschaltet werden (8); dadurch können die Rechenvorgänge erheblich beschleunigt werden, was wiederum die Schaffung komplexer virtueller Parallelräume ermöglicht. Mittels Virtualisierung kann die PC-Rechenleistung bereits besser genutzt werden, indem virtuell mehrere Rechner in einem einzigen Rechner arbeiten, auch mit unterschiedlichen Betriebssystemen. Diese Technologie setzt sich sehr rasch immer stärker durch.

3.2.3

Europa muss die Forschung voranbringen und hochwertiges theoretisches und praktisches Sachwissen in diesen Bereichen schaffen, um die Forscher zu halten, die von den großen universitären und privaten Forschungslabors in den Vereinigten Staaten und bald auch in China und Indien „abgeworben“ werden. Werden keine umfassenden Initiativen auf den Weg gebracht, um das Internet der Zukunft in den Griff zu bekommen, besteht die Gefahr, dass Europa ins technologische Abseits gerät.

3.2.4

Die Massenspeichertechnologie entwickelt sich ebenfalls rasant weiter. Sie ist der Grundbaustein der Datenbanken, die die Informationen über die mittels ihrer Internetadresse identifizierten Objekte enthalten. Diese Kapazitäten in Verbindung mit den Datenverarbeitungskapazitäten ebnen den Weg für das intelligente Internet, in dem neues Wissen durch den Abgleich und die Verarbeitung von Daten, die von den Objekten und den Identifizierungsdatenbanken übermittelt werden, in noch umfassenderen Datenbanken gesammelt wird. Gleichzeitig übernimmt das Netz selbst die Funktion eines Computers und wird zum Speicherplatz für Programme, die die Nutzung der Datenbanken und Interventionen seitens der Nutzer (wie komplexe Anfragen, Berichte usw.) ermöglichen.

3.3   Erste Anwendungen

3.3.1

Einige Anwendungen sind im Experimentierstadium, andere wiederum können bereits mit den derzeit zur Verfügung stehenden Mittel genutzt werden, beispielsweise in folgenden Wirtschaftssektoren:

Einzelhandel (Wal-Mart);

Transportlogistik und Güterverfolgung;

Sicherheit (in einigen Unternehmen).

3.3.2

In Objekte wie Zugangspässe oder im Supermarkt angebotene Waren eingebaute RFID-Etiketten ermöglichen einem in der Nähe befindlichen Lesegerät (die Entfernung hängt von der verwendeten Frequenz ab) sowohl die Registrierung des Etiketts als auch der Merkmale aller gleichzeitig gescannten Objekte (Einkaufskorb, Container usw.) und ziehen daraus die entsprechenden Schlüsse (Preis, detaillierte Zollerklärung). In Japan können bereits Einkäufe mit einem derartigen System getätigt werden; diese werden dann mittels einer anderen im Mobiltelefon eingebauten Chipkarte bezahlt (Multifunktions-Endgerät).

3.3.3

Für die Transportlogistik (im Zusammenhang mit Ortungsdiensten) können Informationen zum Ausführungsstand einer Lieferung einschl. ihres Standorts in Echtzeit abgerufen werden.

3.3.4

Das Internet der Dinge ist überall verbreitet. Man spricht auch von einem „allgegenwärtigen Internet“, in dem die von den Lesegeräten in den verschiedenen Datenverarbeitungsetappen übertragenen Daten automatisch verarbeitet werden können.

3.3.5

Bei zahlreichen Anwendungen kommunizieren die Objekte miteinander, das Netz „lernt“ und kann die entsprechenden Entscheidungen treffen, z.B. für Domotik-Anwendungen: biometrische Identifizierung von Personen, Fernöffnung von Türen, programmierte Haussteuerung, Heizung und Kühlung, Sicherheitswarnhinweise für Kinder.

3.3.6

Die Genehmigung des Zugangs zu bestimmten Rechnern bzw. Informationen kann über Fingerabdruck- oder Handform-Lesegeräte erfolgen.

3.4   Allgegenwärtigkeit der Netze, Privatsphäre und Datenschutz

3.4.1

Diese Art der Datenverarbeitung kann allerdings ein erheblich höheres Risiko der Verletzung der Privatsphäre oder der Vertraulichkeit von Geschäftsbeziehungen bzw. der Beziehungen zwischen einem Kunden und dem Güter- oder Diensteanbieter mit sich bringen, da das gute Funktionieren dieses allgegenwärtigen Internet darauf beruht, dass die Netze eine Vielzahl an personenbezogenen Daten, ja sogar vertraulichen und rein privaten Daten (beispielsweise in medizinischen Anwendungen) enthalten.

3.4.2

Es stellt sich die Frage, ob der geltende Rechtsrahmen der Gemeinschaft für den Schutz personenbezogener Daten in diesen Netzen der Zukunft ausreicht.

3.4.3

Ohne Stärkung der Schutzmaßnahmen und der vertraulichen Behandlung sensibler Daten könnte dieses Internet ein Instrument zur Schaffung des „gläsernen Menschen“ werden (dies ist bereits der Fall für Haustiere im europäischen Veterinärsystem zur Identifizierung von Haustieren).

3.4.4

Es gilt, insbesondere den Abgleich verstreuter Daten zu überwachen, d.h. den Datenabgleich in Bezug auf Objekte zu reglementieren und in Bezug auf Personen zu verbieten. Die Verbreitung von Daten setzt ihre vorherige Unkenntlichmachung voraus; damit werden die Bedenken derjenigen ausgeräumt, die sich unter dem Vorwand des Schutzes der Privatsphäre weigern, personenbezogene Daten zu übermitteln. Es bedarf keiner vorherigen Zustimmung der betroffenen Personen, wenn die Daten unkenntlich gemacht und anschließend statistisch vor Veröffentlichung der Ergebnisse ausgewertet werden.

3.4.5

Rechtlich festzulegende vertrauliche Daten müssen durch eine gründliche Verschlüsselung geschützt werden, um ausschließlich befugten Personen (oder Rechnern) den Zugriff zu erlauben.

3.4.6

Die Frage der Unbedenklichkeit bzw. der Gefahr in Verbindung mit stärkeren UHF, die schon bald in großem Rahmen zum Einsatz kommen werden, steht — wie die Europäische Kommission einräumt — nach wie vor im Raum.

3.4.7

Die Rechtsvorschriften zum Schutz der Arbeitnehmer vor elektromagnetischer Strahlung könnten sich für eine dauerhafte Belastung durch Hoch- und Ultrahochfrequenzen als unzureichend erweisen. Die diesbezüglichen Untersuchungen, die im Grunde zu den möglichen Auswirkungen von Mobiltelefonen auf die Gesundheit der Nutzer durchgeführt wurden, haben keine eindeutigen Schlüsse zugelassen. Daher müssen die Forschungsarbeiten dringend vorangetrieben und auf die potenziellen Risiken und möglichen Abhilfen ausgeweitet werden, ehe sich bestimmte Arten der neuen RFID-Generation unkontrolliert entwickeln (9).

3.4.8

Es gilt, nach Möglichkeit universelle, zumindest aber europäische Vorschriften für die Verwendung von RFID-Etiketten festzulegen, die dem Schutz des Rechts auf Privatsphäre Vorrang einräumen und sich dabei eventuell nicht nur auf natürliche Personen beschränken, denn das geltende Recht wird uneinheitlich angewendet und deckt nicht alle Situationen im Zusammenhang mit den derzeitigen und künftigen Nutzungsmöglichkeiten der RFID-Etiketten und des Internet der Dinge ab.

3.5   Das Internet der Zukunft

3.5.1

Sofern überhaupt mittelfristige Prognosen in einem Bereich, der sich ständig weiterentwickelt, gemacht werden können, wird das Internet der Zukunft voraussichtlich auf einer Kombination aus Web 3.0 und dem Internet der Dinge beruhen.

3.5.2

Die meisten Bestandteile des Internet der Zukunft sind bereits vorhanden; sie werden derzeit noch ausgefeilt bzw. sind sogar schon in Gebrauch. Dies bedeutet, dass dieses neue Internet demnächst „online“ gehen und einen Paradigmenwechsel in Bezug auf den Platz und die Rolle der allgegenwärtigen Netze im Alltagsleben der Bürger und das Wirtschaftswachstum in einem bislang kaum vorstellbaren Ausmaß bewirken wird. Dies könnte auch zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel führen und Impulse für einen bis dahin ungekannten Aufschwung derjenigen Unternehmen und Ländern geben, die dieses neue Internet in all seinen Facetten zu handhaben wissen, d.h. die rechtzeitig die erforderlichen Investitionen in Forschung, Bildung, Normung und neue Dienste getätigt haben. Dadurch könnte sich das weltweite wirtschaftliche und wissenschaftliche Kräfteverhältnis verschieben. Alles in allem ist dies eine Herausforderung, der Europa sich unbedingt stellen muss.

3.5.3

Das Internet der Dinge sorgt für die Zusammenführung der physischen und der digitalen, der reellen und der virtuellen Welt. Intelligente Objekte („smart objects“) sind Teil eines allgegenwärtigen Netzes, in das sie voll eingebunden sind und in dem sie einen weitaus größeren Stellenwert als im „Internet der Personen“ des Web 2.0 einnehmen, das auf einer höheren Ebene in diesem erweiterten Netz aufgehen wird.

3.5.4

Dieses neue Internet bringt jedoch angesichts seiner Dimension und seiner neuen Inhalte auch Verwaltungsprobleme mit sich. So müssen hunderte Milliarden von Namen standardisiert und allgemein gültige Normen entwickelt werden. Die Standards für die Nutzung von RFID werden bisher nach privaten Vorgaben und über EPC global festgelegt, doch ist es fraglich, ob dieser Ansatz auch für die volle Entfaltung des Internet der Zukunft praktikabel ist.

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Funkfrequenzkennzeichnung (RFID) in Europa: Schritte zu einem ordnungspolitischen Rahmen (KOM(2007) 96 endg.).

(2)  Siehe „Towards an RFID policy for Europe“, Workshop-Bericht von Maarten Van de Voort und Andreas Ligtvoet, 31. August 2006.

(3)  Siehe u.a. die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Funkfrequenzkennzeichnung (RFID)“, Berichterstatter: Herr MORGAN, ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 66 (TEN/293).

(4)  Siehe Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: „Vorbereitung der digitalen Zukunft Europas: i2010 — Halbzeitüberprüfung“ (KOM(2008) 199 endg.).

(5)  Internet Protocol Version 6.

(6)  Hypertext Transfer Protocol: HTTP ist ein Kommunikationsprotokoll für die Übertragung von Informationen im Intra- oder Internet. Ursprünglich war es dazu gedacht, Hypertext-Sites über Internet zu veröffentlichen oder abzurufen.

(7)  Radio Frequency Identification Device.

(8)  Die Universität von Standfort hat ein neues Labor in Betrieb genommen, das „Pervasive Parellelism Lab“, das von den größten IT-Unternehmen in den Vereinigten Staaten, darunter HP, IBM und Intel, finanziert wird.

(9)  In einer britischen Studie über Mobiltelefonie wurde deren Unbedenklichkeit über einen Zeitraum von mehreren Jahren belegt; sie kann unter:

http://www.mthr.org.uk aufgerufen werden.


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/63


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über kreative Online-Inhalte im Binnenmarkt“

KOM(2007) 836 endg.

(2009/C 77/16)

Die Europäische Kommission beschloss am 3. Januar 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über kreative Online-Inhalte im Binnenmarkt“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 16. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr RETUREAU.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 18. September) mit 115 Ja-Stimmen bei 1 Gegenstimme und 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Verbraucherrechte

1.1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss befürwortet einen Verbraucherschutz auf hohem Niveau und sieht daher der Ausarbeitung des Leitfadens für Verbraucher und Nutzer der Dienste der Informationsgesellschaft mit Interesse entgegen.

1.1.2

Nach Meinung des Ausschusses sollten in diesem Leitfaden zumindest folgende Aspekte aufgegriffen werden:

Netzneutralität zur Erweiterung der Auswahlmöglichkeiten für die Verbraucher;

Gewährleistung eines angemessenes Schutzes personenbezogener Daten sowie ein hohes Sicherheitsniveau des elektronischen Umfelds;

Erleichterung der Ausarbeitung von freiwilligen Normen und von Gütesiegeln im elektronischen Geschäftsverkehr;

Gültigkeit der Verbraucherrechte in der digitalen Wirtschaft, und zwar der Zugangsrechte, des Universaldienstes sowie des Schutzes gegen unlautere Geschäftspraktiken;

Festlegung von Qualitätskriterien für Online-Dienste;

Erstellung eines einfachen und europaweiten Online-Formulars zur Meldung von betrügerischen Machenschaften;

Einrichtung eines Online-Systems zur außergerichtlichen Streitbeilegung.

1.2   Interoperabilität

1.2.1

Der Ausschuss betont, dass die Interoperabilität ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor ist. Offene Standards sind von grundlegender Bedeutung für die Erleichterung der Interoperabilität und tragen zur Erhöhung von Sicherheit und Zuverlässigkeit bei.

1.2.2

Aufgrund der nach wie vor mangelnden Interoperabilität sind die Unionsbürger in ihrem Zugang zu Geräten, Diensten und Inhalten eingeschränkt und gezwungen, höhere Preise für die Geräte zu zahlen. Gleichzeitig bedeutet dies jedoch auch eine Einschränkung ihrer Auswahlmöglichkeiten an Geräten. Die Bürger müssen „Überbrückungslösungen“ anwenden, da bestimmte Interessengruppen diese unnötigen technischen Unterschiede befürworten, um sich eine Monopolstellung zu verschaffen.

1.2.3

Das Konzept europaweit kompatibler DRM (1) ist nach Ansicht des Ausschusses nur eine vermeintlich gute Idee, da mehr Probleme geschaffen denn gelöst werden; außerdem könnten einige Inhalte-Schaffende von der Online-Verbreitung ausgeschlossen werden. Darüber hinaus ist der Inhalte-Markt ein weltweiter Markt, auf dem durch die Zoneneinteilung die Auswahlmöglichkeiten der Nutzer eingeschränkt werden.

1.3

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die mehr oder weniger chaotische und in den einzelnen Mitgliedstaaten stark unterschiedliche Gebührenerfassung für jedwede Art digitaler Datenträger oder Speichermedien zu enormen Wettbewerbsverzerrungen führt.

1.4

Die Strafmaßnahmen und die Ausnahmeregelungen, die in dem französischen Gesetzesentwurf „Olivennes“ vorgesehen sind, gehen über die Anforderungen der WTO in dem 1994 in Marrakesch unterzeichneten Abkommen hinaus. Wie der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache „Promusicae“ festgehalten hat, muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Wahl der Mittel zur Einhaltung der Urheberrechte gewahrt werden; es gilt, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den Rechten und den Freiheiten einerseits und den Interessen andererseits zu finden.

1.5

Daher sieht der Ausschuss der Veröffentlichung der Empfehlung mit Interesse entgegen, die die Europäische Kommission zu den kreativen Online-Inhalten vorzulegen beabsichtigt, um sich konkret zu folgenden Aspekten zu äußern: Transparenz (Kennzeichnung), neue Formen der Festlegung und Verwaltung digitaler Rechte auf europäische Ebene, Förderung und Unterstützung innovativer Systeme für die Verbreitung kreativer Online-Inhalte sowie Suche nach effizienten Mitteln, um der Erstellung von Raubkopien zu kommerziellen Zwecken und jedweder anderer Form der Schädigung der Urheber einen Riegel vorzuschieben.

2.   Vorschlag der Europäischen Kommission

2.1

Die wichtigsten Aspekte der Mitteilung und der Fragen der Europäischen Union heben auf folgende Punkte an:

Reglementierung und Harmonisierung des europäischen Marktes der kreativen Online-Inhalte;

Schaffung eines europäischen Urheberrechts und verwandter Schutzrechte; gebietsübergreifende Lizenzen; besserer Schutz der Rechte an literarischem und künstlerischem Eigentum;

datenträgerspezifische interoperable europäische DRM, insbesondere für Online-Inhalte;

Gewährleistung der Sicherheit der Kommunikation und der Finanztransaktionen, Bekämpfung von Piraterie und Betrug zur Stärkung des Vertrauens in die digitale Wirtschaft (eEconomy) und zum Ausbau von Online-Diensten;

das größte Problem ist sicherlich die Frage der Erstellung von Kopien zu privaten Zwecken, die im Mittelpunkt zahlreicher polemischer Auseinandersetzungen in Europa steht, da die diesbezügliche Gesetzgebung in den EU-Mitgliedstaaten noch bei weitem nicht einheitlich ist.

2.2

Gemäß dem 41-seitigen Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen (2), das getrennt von der Mitteilung und nur auf Englisch veröffentlicht wurde, muss die Politik der EU aufgrund des grenzübergreifenden Charakters der Online-Kommunikation und der für die neuen Technologien erforderlichen neuen Handelsmodelle auf die Förderung und die rasche Durchsetzung dieser neuen Modelle zur Online-Verbreitung von Inhalten und Wissen ausgerichtet sein. „Kreative, online verbreitete Inhalte“ sind Inhalte und Dienste wie audiovisuelle Online-Medien (Film, Fernsehen, Musik und Hörfunk), Online-Spiele, Online-Publikationen, Bildungsinhalte und von Nutzern selbst erzeugte Inhalte (soziale Netze, Blogs usw.).

2.3

Das oberste Ziel, das bereits in der i2010-Mitteilung (3) hervorgehoben wurde, ist die Schaffung eines einheitlichen europäischen Informationsraums. Die ermittelten Probleme bestehen jedoch nach wie vor, wohingegen die technologischen Verbreitungsplattformen immer mannigfaltiger werden und sich immer weiter durchsetzen.

2.4

In Bezug auf das Vertrauen in die digitale Wirtschaft stellt sich immer wieder die Frage der Interoperabilität der Programme, Dienste und Plattformen. Einige sind der Ansicht, dass die Kriminalisierung des Austausches von Dateien über „Peer-to-Peer“-Systeme („P2P“) oder „Big Torrent“-Protokolle sowie Systeme zum Schutz der Rechte des geistigen Eigentums, die drakonische Strafe vorsehen, nicht dazu beitragen, ein Klima des Vertrauens zu schaffen, zumal da die explosionsartige Zunahme der durch Nutzer geschaffenen Inhalte, die die Rolle der Nutzer in der digitalen Wirtschaft um eine neue Dimension bereichert, in mancherlei Hinsicht zur Herausforderung für öffentliche Anliegen wie Vertrauen und Sicherheit wird.

2.5

Die Nutzung von DRM steht im Kreuzfeuer der Kritik der Verbraucherschutzorganisationen, die diese als Eingriff in die grundlegenden Verbraucherrechte werten. Sie bergen außerdem Gefahren für den Datenschutz und sind für den Nutzer nicht einfach zu handhaben. Einige Industrievertreter hingegen verfechten DRM und betonen, dass die Probleme der Interoperabilität von den Hardware- und Software-Erzeugern verursacht werden.

2.6

Auf dem Weltmarkt müssen sich die auf den nationalen Märkten agierenden Betreiber der Sprachenvielfalt und der sehr geringen Größe bestimmter Märkte sowie einer Mannigfaltigkeit an nationalen Lizenzvorschriften stellen. Die Internet-Diensteanbieter befürworten gebietsübergreifende Lizenzen und Vorschriften, die jedoch in anderen Industrienzweigen eher auf Ablehnung stoßen. Das System der nationalen Lizenzen ermöglicht eine bessere Entlohnung der Urheber; allerdings gibt es in zahlreichen Ländern diverse Verwertungsgesellschaften. Neben Musikorganisationen fordern auch Mobilfunkbetreiber eine Vereinfachung der Nutzungsgebührenerfassung.

2.7

Die Internet-Diensteanbieter kritisieren außerdem die Vielfalt der Erfassungssysteme und der Gebühren für Kopien zum privaten Gebrauch, die immer strenger und komplexer werden, und hinterfragen ihre Sinnhaftigkeit angesichts der Verwendung von DRM.

2.8

Da es an Inhalten für die Online-Verbreitung fehlt, der Markt aufgesplittert ist und die Verträge für verschiedene Nutzungsarten sehr unterschiedlich sind, wird eine rasche Online-Verfügbarkeit der Inhalte eingeschränkt und die Entwicklung von Diensten beträchtlich gebremst.

2.9

Das Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen beruht auf den Ergebnissen von zwei Konsultationen und spiegelt die Vielfalt der Meinungen der verschiedenen Interessenträger wider. Die Europäische Kommission verfolgte dennoch die Absicht, Fortschritte in Bezug auf (umstrittene) Fragen wie multiterritoriale Lizenzen und ein europäisches Urheberrecht sowie insbesondere die allgemeine Verbreitung von interoperablen DRM zu erzielen und einen echten europäischen Binnenmarkt unter Wahrung der kulturellen Vielfalt zu schaffen.

2.10

Ziel ist, dass der europäische Markt der Online-Inhalte (Musik, Film, Spiele usw.) bis 2010 um das Vierfache wächst und sein Umsatz von 1,8 Mrd. EUR im Jahr 2005 auf 8,3 Mrd. EUR steigt.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Ausschuss ist sich bewusst, dass das Internet die Möglichkeit eröffnet, Güter und Dienste in digitaler Form zusammenzustellen bzw. zu verbreiten, und zwar mittels Methoden, die gegen die immateriellen Eigentumsrechte der Urheber und der Vertreiber von kreativen Online-Inhalten verstoßen und Verletzungen der Privatsphäre sowie neue Formen von Betrug gegenüber juristischen und natürlichen Personen sind.

3.2

Am häufigsten werden zeitgenössische Musik und in verstärktem Maße auch audiovisuelle Werke und jedwede Art von Software illegal online gestellt. Dieses Phänomen ist in dem Zeitraum explosionsartig angewachsen, in dem die Vertreiber kein Geschäftsmodell vorgeschlagen hatten, das den neuen Möglichkeiten für Verstöße gegen die immateriellen Eigentumsrechte Rechnung getragen hätte. Auch die notwendige Bildungsinitiative für die Internetnutzung durch junge Menschen ist auf der Strecke geblieben.

3.3

Die ersten Reaktionen schlugen häufig ins Extreme aus, doch manchmal, viel seltener allerdings, wurde auch eine laxe Haltung an den Tag gelegt. Die Vertreiber haben im Allgemeinen Kopierschutzmaßnahmen (die so genannten DRM) getroffen und gleichzeitig Forderungen nach finanzieller Entschädigung für die Rechteinhaber und Strafmaßnahmen mit äußerst abschreckender Wirkung erhoben; angesichts des Ausmaßes dieser Art von Betrug — außer im Falle von massiven Raubkopien vor allem aus Osteuropa und Asien — ließen sich diese in der Praxis allerdings nicht anwenden. Einige Übeltäter wurden als abschreckendes Beispiel hart verurteilt, doch kann diese abschreckende Wirkung aufgrund fehlender unabhängiger Studien und realistischer Daten über die Höhe der Verluste aufgrund von Raubkopien nicht wirklich bewertet werden.

3.4

Der Ausschuss nimmt jedoch mit einiger Verwunderung den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Kenntnis, „europäische“ interoperable DRM für Online-Inhalte zu schaffen. So stehen auf dem Gebiet der Musik bereits Millionen an Titeln auf kommerziellen Websites ohne DRM zur Verfügung; der Trend geht dahin, diese Sites schrittweise zu schließen. Die Vertreiber arbeiten an verschiedenen Vertriebssystemen für diese Art von Inhalten, einschl. Möglichkeiten, die Musik direkt ohne vorheriges Speichern anzuhören, Sonderabos zum Download einer bestimmten Zahl an Werken, kostenlosen Angeboten gekoppelt an „verpflichtende“ Werbeeinschaltungen usw.

3.5

Der Kopierschutz auf mobilen Datenträgern bzw. Terminals wird nun vielmehr als Behinderungen für den „Fair Use“, die angemessene Verwendung, denn als effiziente Schutzvorrichtungen gegen Piraten angesehen; er kann auch zu einer vertikalen Integration führen (Websites, Verschlüsselung durch den Rechteinhaber mit mehr oder weniger großem Qualitätsverlust, eigene Lesegeräte wie das Apple-Vertriebssystem mit AAC-Verschlüsselung oder iPod bzw. iPhone), die ein wettbewerbswidriges Verhalten zeitigt. Ein häufig verwendeter Schutzmechanismus, insbesondere für Software und Spiele sowie für einige Online-Veröffentlichungen, beruht auf einem digitalen Entschlüsselungszugangscode, der dem Nutzer nach Erwerb der Einzelware oder des Abonnements für eine bestimmte Dauer übermittelt wird; dieser Mechanismus ist sehr effizient und bereits weit verbreitet.

3.6

Nach Ansicht des Ausschusses sind integrierte interoperable digitale DRM in der Praxis bereits überholt. Es wäre zweckdienlicher, die Entwicklungen in den verschiedenen Sektoren des Online-Inhalte-Marktes zu beobachten, in denen der Trend offenbar in Richtung des Schutzes des Urheberrechts und verwandter Schutzrechte geht, insbesondere auf der Grundlage von angemessenen Verhaltenskodizes und realistischen Geschäftsmodellen (4), anstatt mittels einer europäischen Initiative ein Übergangsszenario, das raschen Änderungen unterworfen ist, in eine feste Form gießen zu wollen.

3.7

Für das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte bieten die geltenden internationalen Übereinkommen und Konventionen eine im Grunde gemeinsame Rechtsgrundlage für die Mitgliedstaaten wie auch für die Beziehungen mit Drittländern. In der Praxis bestehen allerdings nach wie vor trotz gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften Unterschiede. So würde mit dem Vorschlag für ein „europäisches Urheberrecht“ für den Binnenmarkt der Schutz eines Werkes automatisch in allen EU-Mitgliedstaaten gelten, sobald es von einem Mitgliedstaat anerkannt wird, und ein einheitlicher Schutz sichergestellt.

3.8

Im Zeitalter von Internet und Wissensgesellschaft muss ein echtes Gleichgewicht zwischen Allgemein- und Einzelinteressen hergestellt werden. Verfasser und Vertreiber müssen das gleiche Entgelt enthalten. Die Leser- bzw. Zuhörerschaft und die Nutzer müssen die Möglichkeit haben, legal erworbene Inhalte im privaten Rahmen, für öffentliche Lesungen oder zu Bildungszwecken in den verschiedenen Bildungseinrichtungen sinnvoll zu verwenden.

3.9

In zahlreichen Ländern besteht ein strenges Strafrecht, in dem das Urheberrecht geschützt und überzogene Sanktionen gegen Einzelpersonen vorgesehen sind, die Inhalte zu nichtkommerziellen Zwecken verwenden, obwohl die Nutzungs- und Kopierrechte für Privatpersonen begrenzt wurden; im Gegenzug scheinen die den Internet-Betreibern auferlegten „Spitzelmethoden“, die sich für die Bekämpfung des Terrorismus als sinnvoll erweisen können, unverhältnismäßig und bergen durchaus die Gefahr von Eingriffen in die Privatsphäre in einem Rechtsrahmen, der einseitig die Vertreiber begünstigt. Diese Art von Gesetzgebung könnte vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der für den Schutz der Privatsphäre Sorge trägt, in Frage gestellt werden. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat seinerseits zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und zur Suche nach einem Gleichgewicht zwischen den verschiedenen betroffenen Rechten aufgerufen (siehe das Urteil in der Rechtsache „Promusicae“).

3.10

Außerdem erheben einige Länder — zumeist dieselben — Gebühren auf alle Arten digitaler Datenträger, da diese ungeachtet ihres Verwendungszweckes als Mittel für Piraterie angesehen werden. Auch wenn diese Gebühren oft als „Abgabe für Kopien zu privaten Zwecken“ eingestuft werden, so bringen sie doch erhebliche Einnahmen mit sich, deren Umverteilung manchmal keinesfalls transparent abläuft. Dieser Ansatz, in dem jede Kopie zum privaten Gebrauch oder zu „Fair Use“-Nutzungen einer Verletzung des Urheberrechts und verwandter Schutzrechte gleichgestellt wird, ist für die ehrlichen IKT-Nutzer, das heißt die große Mehrheit, und für Unternehmen, die derartige Datenträger zu anderen Zwecken als zur Kopie von Musik oder Spielen verwenden, absolut inakzeptabel. Derartige Abgaben müssten zumindest gemäßigt sein und den effektiven Kosten der Speicherung von Dateneinheiten entsprechen (Prozentsatz des Verkaufspreises des Datenträger dividiert durch beispielsweise die Gesamtzahl an Gigabytes, da erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Datenträgern bestehen).

3.11

Die Rechte der verschiedenen Interessenträger müssen gewahrt werden, allerdings im Einklang mit den geltenden Vorschriften und gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie der Europäische Gerichtshof eindeutig in seinem Urteil in der Rechtssache „Promusicae“ (5) festgehalten hat.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss schließt sich der Meinung an, dass die Interoperabilität, die eine grundlegende Voraussetzung für den freien Wettbewerb ist, nur erreicht werden kann, wenn die Nutzer den Datenträger ihrer Wahl für das Abrufen eines Werkes nutzen können. Hierfür müssen alle Werke gemäß offenen und allgemein zugänglichen Standards kodiert werden. Die DRM-Systeme machen jedoch automatisch jedwedes Abrufen eines auf einem Datenträger (Hard- oder Software) gespeicherten Werkes ohne ausdrückliche Genehmigung des DRM-Erzeugers unmöglich. DRM beruhen per definitionem auf der Verschlüsselung ihrer geschlossenen Formate, deren technische Spezifikationen nicht öffentlich zugänglich sind. Vom DRM-Erzeuger nicht genehmigte und zertifizierte Systeme sind daher von jedwedem Wettbewerb ausgenommen. Bislang gibt es noch kein DRM-System, das auf offenen Standards beruht. Für diese Lösung wäre ein komplexes Lizenzaustausch-System erforderlich. Einige Inhalte-Schaffende könnten vom Markt ausgeschlossen werden, weil sie z.B. keine DRM verwenden. Ein Teilbereich des digitalen Schaffens einschl. wissenschaftlichen Instituten und Forschungszentren, Hochschulen, Freeware-Erzeugern und Inhalte-Schaffenden, die mit Alternativlizenzen arbeiten, könnte insgesamt vom Markt ausgeschlossen werden, in dem nur kommerzielle Inhalte zugelassen sind; dies läuft der Idee einer Informations- und Wissensgesellschaft zu wider, in der Europa die führende Rolle einnehmen möchte.

4.2

Keine dieser Hypothesen ist beispielsweise für die Einfuhr von Werken und Inhalten aus Drittländern in die EU sowie für die Ausfuhr aus der EU in Drittländer zufriedenstellend. Europäische DRM-Software müsste außerdem mit den Erzeugnissen kompatibel sein, die auf den in audiovisueller Hinsicht oftmals viel aktiveren Drittmärkten vertrieben werden. DRM öffnen Tür und Tor für wettbewerbsschädigendes Verhalten und für Versuche einer vertikalen Integration im Multimediabereich. Das Beispiel der iTunes-Software von Apple veranschaulicht dieses Problem: Für diese Software wird ein DRM und ein Verschlüsselungscode seitens des Eigentümers verwendet, wodurch in der Praxis ein Lesegerät des Typs iPod oder iPhone erforderlich ist.

4.3

Ist nur die Programmierschnittstelle („application programming interface“ — API) der DRM-Software und nicht das gesamte Quellprogramm zugänglich (einige Vertreiber könnten durchaus der Versuchung erliegen), so wäre die Sicherstellung einer echten Interoperabilität immer noch gefährdet.

4.4

Die Piraten sind in der Lage, äußerst schnell jedwedes Schutzsystem zu umgehen bzw. zu reproduzieren, so dass die Inhaltevertreiber ihr Vertrauen in DRM verloren haben und auf neue kommerzielle Verbreitungsmodelle setzen, z.B. Pauschalabos, kostenloses Anhören eines Werkes, das dann — allerdings nur kostenpflichtig — erworben werden kann, Werbeeinschaltungen usw. Man sollte viel eher dem Markt vertrauen als voreilig und ohne Kenntnis der Sachlage Rechtsvorschriften zu erlassen wie im Falle Frankreichs, wo ein Gesetz das andere jagt und so widersprüchliche Urteile gefällt werden. Der Druck der „Majors“ (der Musiksektor wird von fünf und der audiovisuelle Sektor von sechs oder sieben internationalen Unternehmen beherrscht) trug bislang entscheidend dazu bei, dass in einigen Ländern das Recht auf Privatkopien aufgehoben und der Datenaustausch zwischen Privatpersonen unter Strafe gestellt worden ist. So reiht sich auch der jüngste Gesetzentwurf in Frankreich in diese übermäßig repressiven Rechtsvorschriften ein, die lediglich in eine Sackgasse führen.

4.5

Der Ausschuss hat bereits in seinen früheren Stellungnahmen betont, dass das Strafrecht ausschließlich auf Raubkopien zu kommerziellen Zwecken (Erzeugung und Vertrieb, manchmal durch organisierte Banden) Anwendung finden sollte; in einigen EU-Mitgliedstaaten ist es sehr einfach, Raubkopien von Software, Musik oder audiovisuellen Werken zu erhalten, und zwar auch auf Straßenmärkten. Es werden zwar auch in Europa Raubkopien hergestellt, das Gros der Kopien wird jedoch in Asien erzeugt. Dieses massive Raubkopieren zu kommerziellen Zwecken sollte ins Visier genommen und vorrangig bestraft werden; außerdem sollte die Zusammenarbeit von Polizei und Justiz gestärkt werden, um die internationalen Verbrecherringe zu sprengen.

4.6

In Bezug auf den Datenaustausch, insbesondere zwischen Jugendlichen, müssen in erster Linie Aufklärungskampagnen über die Notwendigkeit, dass die Urheber und Produzenten für ihre Arbeit angemessenen entlohnt werden müssen (vor allem die Urheber, die oftmals nur einen verschwindend geringen Anteil der Entgelte erhalten), durchgeführt und die politische Bewusstseinsbildung gefördert werden.

4.7

Ein umfassender Datenaustausch ist nicht zwangsmäßig ein Austausch von durch immaterielle finanzielle Rechte geschützte Daten. So kann es sich dabei um den Austausch kostenloser Daten oder Veröffentlichungen mit unterschiedlichem Inhalt handeln (z.B. wissenschaftliche Studien- und Forschungsergebnisse, lizenzfreie Werke, die keinerlei Kopie- oder Verbreitungsschutz unterliegen).

4.8

Gemäß dem in Frankreich vorgelegten Gesetzesentwurf soll jedoch das gesamte Internet überwacht und sollen die personenbezogenen Daten der Nutzer langfristig gespeichert und dann den Vertretern der Majors zur Verfügung gestellt werden, obwohl in einem derartigen System einzig und allein rechtlich befugte Behörden Zugriff zu dieser Art von Daten haben sollten.

4.9

Das Recht auf Privatkopien wird zur Ausnahme und ist als Gegenstand von schwer verständlichen „Verträgen“ seitens der Inhaltevertreiber starken Einschränkungen unterworfen, die dem Kaufverhalten der Verbraucher zuwiderlaufen, die oftmals spontan oder je nach dem, was gerade „in“ ist, entscheiden.

4.10

Die Urheber und die professionellen Vertreiber sind in der Praxis die einzigen, die von einem derartig übermäßigen Rechtsschutz profitieren; dagegen werden individuelle Inhaltevertreiber oder Künstler, die der breiten Öffentlichkeit noch unbekannt sind, und Nutzer von Alternativlizenzen (GPL, LGPL, Creative Commons usw., d.h. von rund 50 verschiedenen derartigen Lizenzen) ihrerseits nicht gesondert geschützt, obwohl diese Lizenzen Gegenstand des Urheberrechts und nicht unbedingt kostenlos sind. Sie müssen erst vor Gericht gehen, um Klage wegen Nachahmung zu erheben. So würde eine immense Ungleichheit vor dem Gesetz zwischen den großen internationalen Verbreitern einerseits und Kleinunternehmen bzw. Einzelpersonen andererseits geschaffen.

4.11

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass der Rechtsrahmen den Schutz gutgläubiger Verbraucher sowie die gerechte Entlohnung der Urheber für ihre Werke als grundlegende Aspekte sicherstellen muss.

4.12

Die restriktiven Vorschriften für die Nutzung einer rechtlich erworbenen Lizenz und der Zugang zu personenbezogenen Daten durch Vertreter der „Majors“ laufen den gesteckten Zielen zuwider, da die „kommerziellen“ Nachahmer jedwede technische Hindernisse zu überwinden und ihre Spur im Internet zu verwischen wissen; daher wird die Kontrolle lediglich auf den nicht zu kommerziellen Zwecken erfolgenden legalen oder illegalen Datenaustausch zwischen Internetnutzern Anwendung finden, auch wenn festzuhalten ist, dass ein erheblicher Teil davon illegal ist und dieser illegale Datenaustausch mit verhältnismäßigen Mitteln bekämpft werden muss. Einige Verurteilungen, mit denen ein Exempel statuiert werden sollte, sowie deren Publikmachung zur „Abschreckung“ gewisser Internetnutzer werden nicht ausreichen, um dieses Problem zu lösen, da die Chancen, erwischt zu werden, statistisch verschwindend gering sind und beispielsweise Jugendliche überhaupt nicht beunruhigen, die sich des Schadens, den sie ihren Lieblingskünstlern zufügen, gar nicht bewusst sind.

4.13

Die langfristige Speicherung der personenbezogenen Daten aller Internetnutzer durch die Internet-Diensteanbieter ist an sich ein schwerwiegender Eingriff in die Privatsphäre dieser Nutzer. Ist sie wirklich notwendig, um die Wahrung des Urheberrechts und verwandter Schutzrechte sicherzustellen? Oder ist sie im Hinblick auf das zu erreichende Ziel nicht eher überzogen? Sind diese Rechte derart absolute Rechte, dass sie eine dauerhafte Einschränkung der Privatsphäre der Internetnutzer rechtfertigen?

4.14

Diese gespeicherten Daten könnten zwar für die Terrorismusbekämpfung dienen, doch müssen die Internetnutzer unbedingt über rechtliche Garantien in Bezug auf die Vertraulichkeit ihres Internetanschlusses verfügen, die allerdings aufgrund eines vorrangigen allgemeinen Interesses von einer entsprechend befugten Behörde aus einem konkreten Grund, der durch die Angaben in der richterlichen Anordnung genau festgelegt wird, aufgehoben werden dürfen.

4.15

Bestimmte Arten der Datennutzung können ganz allgemein zu Wissens- und Analysezwecken genehmigt werden, allerdings unter bestimmten Bedingungen wie insbesondere der Unkenntlichmachung der Daten. Der Abgleich von Namensdateien, die Erhebung namentlicher Daten zur Erstellung eines Profils zum Zwecke einer effizienteren Werbung sowie ihre Speicherung und der Abgleich mit einer Liste von Schlagworten in Suchmaschinen und weitere bereits gängige Praktiken, insbesondere zugunsten der „Majors“ und anderer Großkonzerne, sollten verboten werden, da auch sie Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger sind.

4.16

In zahlreichen Ländern werden Gebühren auf jedwede Art von Datenträger (fest oder mobil) ausschließlich zugunsten der Rechteinhaber erhoben (insbesondere für audiovisuelle Inhalte), auch auf Datenträger, die nicht für derartige Zwecke bestimmt sind. In diesem System wird jeder Nutzer eines Datenträgers jedweder Art als potenzieller Pirat angesehen. Einige Nutzerkategorien, in erster Linie Unternehmen, sollten von derartigen Gebühren ausgenommen sein. Die Anbieter von Breitband-Internetanschlüssen hingegen, die ihre Netze im Bewusstsein der in bestimmten Fällen möglicherweise illegalen Nutzung ausgebaut haben, könnten mit einer Gebühr belegt werden, die zwar relativ niedrig angesetzt ist, jedoch von der Intensität des Verkehrs zwischen den Nutzern abhängt, um zur Sicherung der Urheberrechte und zur Förderung neuer Inhalte beizutragen; allerdings dürfen die Mitgliedstaaten diese Gebühren weder insgesamt noch teilweise — mit Ausnahme der Kosten für die Einziehung und Umverteilung — für ihre eigenen Zwecke abzweigen.

4.17

Für die Rechteverwaltung sollten vielmehr die skandinavischen Länder, insbesondere Schweden, zum Vorbild genommen werden als Frankreich mit seinen zahlreichen Gesetzen und Gesetzesentwürfen, die hinsichtlich der Förderung von jungen Inhalte-Schaffenden und von KMU unausgeglichen und kaum überzeugend sind.

4.18

Nach Ablauf eines zweckdienlichen Zeitraums, in dem die Exklusivrechte garantiert werden, könnte nach dem Vorbild Schwedens ein globales System eingeführt werden.

4.19

Bereits bei der Prüfung des Vorschlags für eine Richtlinie über die Maßnahmen und Verfahren zum Schutz der Rechte an geistigem Eigentum (Rechte an gewerblichem sowie literarischem und künstlerischem Eigentum sowie verwandte bzw. Ad-hoc- und in der EU geschützte Rechte) forderte der Ausschuss eine strikte, aber gemäßigte Vorgehensweise für die Bekämpfung von Raubkopien zu kommerziellen Zwecken.

4.20

Die WTO ihrerseits warnte in dem Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) vor möglichem Missbrauch seitens der Rechteinhaber, die zu Wettbewerbsverzerrungen führen oder dem allgemeinen Interesse zuwiderlaufen könnten.

4.21

„Ziele: Der Schutz und die Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums sollen zur Förderung der technischen Innovation sowie zur Weitergabe und Verbreitung von Technologie beitragen, dem beiderseitigen Vorteil der Erzeuger und Nutzer technischen Wissens dienen, in einer dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wohl zuträglichen Weise erfolgen und einen Ausgleich zwischen Rechten und Pflichten herstellen.“

4.22

„Grundsätze: […] (2) Geeignete Maßnahmen, die jedoch mit diesem Übereinkommen vereinbar sein müssen, können erforderlich sein, um den Missbrauch von Rechten des geistigen Eigentums durch die Rechtsinhaber oder den Rückgriff auf Praktiken, die den Handel unangemessen beschränken oder den internationalen Technologietransfer nachteilig beeinflussen, zu verhindern.“

4.23

Die früheren Bemerkungen des Ausschusses, die er in seiner Stellungnahme zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Maßnahmen und Verfahren zum Schutz der Rechte an geistigem Eigentum“ vom 29. Oktober 2003 (6) ausgesprochen hat, entsprechen insbesondere den Zielen des TRIPS-Übereinkommens (Artikel 7) und seinen Grundsätzen (Artikel 8 Absatz 2), die unter den Erwägungsgründen der Richtlinie genannt werden sollten, da bei eventuellen Sanktionen weder ganz vom materiellen Recht abgesehen noch der mögliche Rechtsmissbrauch seitens der Inhaber von Rechten an gewerblichem sowie literarischem und künstlerischem Eigentum außer Acht gelassen werden kann (7).

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Digital Rights Management — Verwaltung digitaler Rechte („politisch korrekte“ Bezeichnung für Programme oder technische Maßnahmen, die das Kopieren verhindern, sprich Kopierschutzmechanismen).

(2)  Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen — Begleitdokument zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über kreative Online-Inhalte im Binnenmarkt {KOM(2007) 836 endg.} SEK(2007) 1710 endg.

(3)  Mitteilung der Kommission „i2010 — Eine europäische Informationsgesellschaft für Wachstum und Beschäftigung“ (KOM(2005) 229 endg.).

(4)  Da Musik im Internet zu gleichen Preisen wie eine CD im Geschäft verkauft wird, erwirtschaften die Vertreiber einen übermäßig hohen Umsatz; dies ist der Suche nach realistischen Geschäftsmodellen abträglich, die dem echten Herstellungspreis und einem nicht überzogenen Geschäftsgewinn Rechnung tragen.

(5)  Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 29. Januar 2008

in der Rechtssache C-275/06

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen

[…] hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt (‚Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr‘), die Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, die Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums und die Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) gebieten es den Mitgliedstaaten nicht, in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens im Hinblick auf einen effektiven Schutz des Urheberrechts die Pflicht zur Mitteilung personenbezogener Daten im Rahmen eines zivilrechtlichen Verfahrens vorzusehen. Die Mitgliedstaaten sind gemäß dem Gemeinschaftsrecht jedoch dazu verpflichtet, sich bei der Umsetzung dieser Richtlinien auf eine Auslegung derselben zu stützen, die es ihnen erlaubt, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten sicherzustellen. Bei der Durchführung der Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinien haben die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit diesen Richtlinien auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung dieser Richtlinien stützen, die mit diesen Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, wie etwa dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, kollidiert.

(6)  ABl. C 32 vom 5.2.2004, S. 15.

(7)  Das TRIPS-Übereinkommen, das Anhang 1C des am 15. April 1994 in Marrakesch unterzeichneten Abkommens zur Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) bildet, welches durch den Beschluss 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986 — 1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche (ABl. L 336 vom 23.12.1994, S. 1) genehmigt wurde, trägt den Titel „Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums“. In Artikel 41 Absatz 1 dieses Anhangs 1C heißt es: „Die Mitglieder stellen sicher, dass die in diesem Teil aufgeführten Durchsetzungsverfahren in ihrem Recht vorgesehen werden, um ein wirksames Vorgehen gegen jede Verletzung von unter dieses Übereinkommen fallenden Rechten des geistigen Eigentums einschließlich Eilverfahren zur Verhinderung von Verletzungshandlungen und Rechtsbehelfe zur Abschreckung von weiteren Verletzungshandlungen zu ermöglichen. Diese Verfahren sind so anzuwenden, dass die Einrichtung von Schranken für den rechtmäßigen Handel vermieden wird und die Gewähr gegen ihren Missbrauch gegeben ist. […]“.


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/69


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2005/35/EG über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen für Verstöße“

KOM(2008) 134 endg. — 2008/0055 (COD)

(2009/C 77/17)

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 4. April 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 80 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2005/35/EG über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen für Verstöße“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 16. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr RETUREAU.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Der Vorschlag der Europäischen Kommission

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss wird mit den Änderungen befasst, die die Europäische Kommission für die Richtlinie aus dem Jahr 2005 über die Bekämpfung der Meeresverschmutzung durch Schiffe vorschlägt, um die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich Umweltkriminalität, die jeweiligen Zuständigkeiten der Gemeinschaftsinstitutionen, die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts und den Vorrang des EG-Vertrags gegenüber dem EU-Vertrag in Bezug auf die in den Verträgen verankerten Gemeinschaftspolitiken und -ziele zu wahren.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

In strafrechtlicher Hinsicht hält der Ausschuss erneut fest, dass der Gemeinschaft in den Verträgen im Grunde keine Zuständigkeit in diesem Bereich übertragen wird.

2.2

Die Europäische Kommission muss allerdings für die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, für das sie das Initiativrecht innehat, Sorge tragen, um die im EG-Vertrag verankerten Politiken, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, erfolgreich zu gestalten; hierfür kann sie in ihren Legislativvorschlägen anregen, dass die Mitgliedstaaten in nationalem Recht angemessene, wirksame und abschreckende Sanktionen, auch strafrechtlicher Art, gegen natürliche oder juristische Personen vorsehen, die vorsätzlich oder fahrlässig als Täter oder Mittäter Straftaten begehen oder zu derartigen Taten anstiften, wodurch die Anwendung dieser strafrechtliche Sanktionen gerechtfertigt ist.

2.3

In seiner einschlägigen Stellungnahme (1) hat der Ausschuss die überzogene Haltung der Europäischen Kommission in Bezug auf den Umfang der Zuständigkeiten der Gemeinschaft im Strafrecht kritisiert, und sich für eine gemäßigtere Auslegung ausgesprochen, die sich letztlich als im vollen Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (2) erwiesen hat. Seit 2000 wurde viel Zeit aufgrund eines interinstitutionellen Konflikts vergeudet, in dem nunmehr eine klare Entscheidung gefallen ist; dies wird für die Zukunft eine bessere Durchsetzung der Rechtsvorschriften im Umweltbereich ermöglichen.

2.4

Die mitunter geäußerte Befürchtung, dass die künftige Änderung der Verträge zu Veränderungen der Zuständigkeitsbereiche und somit des Rechtsrahmens mit dem einhergehenden Mangel an Stabilität und Sicherheit führen würde, erscheint weder angesichts der derzeitigen institutionellen Situation noch bei Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon gerechtfertigt. Die Mitgliedstaaten sind augenscheinlich keinesfalls geneigt, ihre strafrechtlichen Zuständigkeiten aufzugeben, die unter ihre Hoheitsgewalt fallen und somit als Teil der einzelstaatlichen Kernzuständigkeiten angesehen werden. Selbst eine durchaus denkbare, allerdings nicht radikale Weiterentwicklung der Zuständigkeiten der einzelnen Legislativorgane wäre nicht ipso facto eine Rechtfertigung für eine grundlegende rechtliche Änderung.

2.5

Außerdem hat sich der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache C-308/2006 betreffend die Rechtmäßigkeit der Richtlinie 2005/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 in Bezug auf das Völkerrecht für nicht zuständig erklärt und die erhobene Anfechtung somit unterbunden; auch vor anderen internationalen Gerichtsbarkeiten wäre dieser Fall aus rechtlichen und politischen Gründen, deren Erörterung allerdings den Rahmen dieser Stellungnahme sprengen würde, nicht weiterverfolgt worden, selbst wenn ein Gericht sich für zuständig erklärt hätte, über einen Rechtsakt der Gemeinschaft in einem Rechtsgutachten zu befinden. Dies reicht nicht aus, um dem Gemeinschaftsgesetzgeber die Stirn zu bieten, der aufgrund der Oberhoheit seines Rechts gegenüber nationalem und internationalem Recht in einer Position der Stärke ist und auf den internationales Recht keine Anwendung findet.

2.6

In dem neuen Vorschlag über die Meeresverschmutzung durch Schiffe werden die Mitgliedstaaten nun im vollen Einklang mit der gemeinschaftlichen Rechtsprechung aufgefordert, in einer beschränkten Zahl an schwerwiegenden Fällen, für die die Gemeinschaft eine strafrechtliche Sanktion seitens der Mitgliedstaaten fordert, angemessene, wirksame und abschreckende strafrechtliche Sanktionen für diese Straftaten vorzusehen und in ihr Strafrecht aufzunehmen, um gegen diese im Gemeinschaftsrecht klar festgelegten Verstöße vorzugehen.

2.7

Auch wenn es sich um keine Harmonisierung des geltenden Strafrechts handelt, da die Mitgliedstaaten nur aufgefordert werden, Verstöße, die der Gemeinschaftsgesetzgeber lediglich ermittelt, als solche einzustufen und strafrechtlich zu ahnden, so ermöglicht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes doch die Einführung von strafrechtlichen Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten. Dies ist ein effizienteres Mittel, um die europäischen Rechtsvorschriften und ihre Einhaltung in grundlegenden Fragen zu stärken.

2.8

Der Ausschuss begrüßt und unterstützt daher den Vorschlag zur Änderung der Richtlinie aus dem Jahr 2005 und ist der Ansicht, dass die schrittweise einzuführenden neuen Instrumente zur Identifizierung und Verfolgung von Schiffen die uneingeschränkte Beachtung des Gemeinschaftsrechts ermöglichen werden, indem widerrechtliche Handlungen wirksam und systematisch geahndet werden.

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  ABl. C 220 vom 16.9.2003, S. 72.

(2)  Siehe Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 23. Oktober 2007 in der Rechtssache C-440/05 „Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Rat der Europäischen Union“.


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/70


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erleichterung der grenzübergreifenden Durchsetzung von Verkehrssicherheitsvorschriften“

KOM(2008) 151 endg. — 2008/0062 (COD)

(2009/C 77/18)

Der Rat beschloss am 13. Mai 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe c des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erleichterung der grenzübergreifenden Durchsetzung von Verkehrssicherheitsvorschriften“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 16. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr SIMONS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1

Die Kommission legt über diesen Richtlinienvorschlag Vorschläge vor für eine effizientere und wirksamere Durchsetzung der Verkehrsregeln und Ahndung von Verkehrsdelikten, die in einem anderen Mitgliedstaat begangen wurden.

1.2

Der Vorschlag ist ein Schritt im Rahmen der Verwirklichung des Ziels, das sich die Kommission im Jahr 2001 gesetzt hat: eine Halbierung der Zahl der Verkehrstoten im Zeitraum 2001-2010.

1.3

Ohne ergänzende Maßnahmen kann dieses Ziel nicht erreicht werden. Dieser Vorschlag ist eine dieser Maßnahmen und konzentriert sich auf das Vorgehen bei Verkehrsdelikten, die in einem anderen Mitgliedstaat begangen wurden.

1.4

Der Ausschuss hält den Richtlinienvorschlag für ein gutes Mittel, um Verstöße, die in einem anderen Mitgliedstaat begangen wurden, adäquat ahnden zu können. Einhergehen muss dies jedoch mit einer wirksamen und effizienten Kontrolle und Ahndung. Der Ausschuss fordert daher den Rat und die Mitgliedstaaten diesbezüglich dringend zu Verbesserungen auf.

1.5

Der Ausschuss weist darauf hin, dass die Liste der Verstöße, die die Kommission in ihrem Vorschlag nennt, um diejenigen Verstöße erweitert werden müsste, die im Zusammenhang mit einer Verbesserung der Verkehrssicherheit stehen, um so die Wirkung der Richtlinie zu steigern.

1.6

Mit Blick auf Effizienz und Wirkung vertritt der Ausschuss die Auffassung, dass für den Datenaustausch ein bestehendes elektronisches Netz genutzt werden sollte. Hier könnte z.B. an das EUCARIS-System gedacht werden, da es mit geringen Kosten verbunden ist. Der Kommission wird empfohlen, zumindest eine Machbarkeitsprüfung hinsichtlich der Ausweitung vorhandener Systeme um den geplanten Datenaustausch durchzuführen bzw. in Auftrag zu geben.

1.7

Bezüglich der Ahndung der Verkehrsdelikte regt der Ausschuss an, etwa einen Führerschein mit Punktesystem, die Beschlagnahmung des Fahrzeugs und die zeitweilige Einziehung des Führerscheins, die auch in Kombination mit Geldbußen auferlegt werden können, in Erwägung zu ziehen.

1.8

Mit Blick auf die Effizienz hält der Ausschuss die Bestimmung einer zentralen Behörde in jedem Mitgliedstaat für die Durchsetzung der in dem Richtlinienvorschlag enthaltenen Maßnahmen für eine gute Idee.

1.9

In dem von der Kommission vorgeschlagenen Muster für das „Formblatt für den Deliktsbescheid“ sieht der Ausschuss keinen zusätzlichen Nutzen. Seiner Ansicht nach geht es hier eher um den Inhalt als um die Form. Die Kommission sollte sich daher darauf beschränken, die für die Zwecke der Richtlinie erforderlichen Angaben genau zu beschreiben.

1.10

Der Ausschuss kann dem von der Kommission vorgeschlagenen Komitologieverfahren für die Durchsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen zustimmen.

2.   Einleitung

2.1.1

Im Weißbuch über die europäische Verkehrspolitik aus dem Jahr 2001 wurde das Ziel aufgestellt, dass die EU bis 2010 die Zahl der Verkehrstoten zu halbieren vermag. Konkret bedeutet dies, dass die Zahl der Verkehrstoten von 54 000 im Jahr 2001 im Jahr 2010 in den 27 EU-Mitgliedstaaten auf 27 000 pro Jahr verringert werden muss.

2.1.2

Zwischen 2001 und 2007 sank die Zahl der Verkehrstoten um 20 %. Um bis 2010 eine Halbierung zu erreichen, hätte sie jedoch um 37 % zurückgehen müssen. Eine Intensivierung der Bemühungen ist also erforderlich.

2.2   Der Kommissionsvorschlag

2.2.1

Zur Vorbereitung dieses Richtlinienvorschlags hat die Kommission eine öffentliche Informationssitzung veranstaltet und eine Sitzung mit interessierten und repräsentativen Kreisen durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Treffen sind in den vorliegenden Richtlinienentwurf eingeflossen.

2.2.2

Die Kommission hält den Richtlinienvorschlag für ein wirksames Instrument, um das Ziel doch noch zu erreichen und für eine Gleichbehandlung der Unionsbürger zu sorgen.

2.2.3

Durch den Richtlinienvorschlag soll die Ahnung von Verkehrsverstößen erleichtert werden, die in einem Mitgliedstaat mit einem Fahrzeug begangen werden, das in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen ist.

2.2.4

Momentan werden Verkehrsdelikte mit einem Fahrzeug, das in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen ist, häufig nicht geahndet. Beispielsweise ist bekannt, dass der Anteil der ausländischen Fahrer bei Geschwindigkeitsübertretungen zwischen 2,5 % und 30 % beträgt.

2.2.5

Da sich herausgestellt hat, dass Geschwindigkeitsübertretungen in 30 % der Fälle die Ursache für Unfälle mit Todesfolge sind, könnte ein diesbezügliches wirksames Vorgehen die Zahl der Verkehrstoten deutlich verringern.

2.2.6

Großen Einfluss haben auch die anderen Verstöße, die in den Vorschlag aufgenommen wurden, nämlich Trunkenheit am Steuer (25 %), das Nichtanlegen des Sicherheitsgurts (17 %) und das Überfahren eines roten Stopplichts (4 %).

2.2.7

Die Kommission beabsichtigt weder eine Harmonisierung der Verkehrsregeln noch eine Harmonisierung der Sanktionen für Verkehrsdelikte. Dies bleibt die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten. Der Vorschlag umfasst lediglich rein administrative Bestimmungen zur Einrichtung eines wirksamen und effizienten Systems für die grenzübergreifende Verfolgung der wichtigsten Verkehrsdelikte, um das Ziel, die Halbierung der Zahl der Verkehrstoten bis 2010, zu erreichen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

In seiner Stellungnahme vom 11. Dezember 2003 zu der Mitteilung der Kommission „Europäisches Aktionsprogramm für die Straßenverkehrssicherheit — Halbierung der Zahl der Unfallopfer im Straßenverkehr in der Europäischen Union bis 2010: eine gemeinsame Aufgabe“, stellte der Ausschuss bereits die seiner Ansicht nach ehrgeizige Zielsetzung der Kommission in Frage. Nun hat sich also herausgestellt, dass tatsächlich zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind, um das Ziel zu erreichen.

3.2

Der Ausschuss sieht daher auch einen deutlichen Mehrwert in einem europäischen Ansatz bei grenzüberschreitenden Durchsetzungsmaßnahmen im Verkehrsbereich. Er stimmt der Kommission zu, dass alles getan werden muss, um das im Jahr 2001 aufgestellte Ziel, die Zahl der Verkehrstoten bis 2010 zu halbieren, doch noch zu erreichen. Er sieht in dem Richtlinienvorschlag eine Möglichkeit für einen diesbezüglich großen Schritt nach vorne. Einhergehen muss dies jedoch mit einer wirksamen und effizienten Kontrolle und Ahndung. Der Ausschuss fordert daher den Rat und die Mitgliedstaaten dringend auf, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten und entsprechend der Sachlage diese Kontrolle und Ahndung zu verbessern.

3.3

Der von der Kommission vorgeschlagene Ansatz klingt einfach: Ein noch näher zu bestimmendes EU-Netz für den elektronischen Datenaustausch soll es den Mitgliedstaaten ermöglichen, Haltern von Fahrzeugen aus anderen Mitgliedstaaten, die in ihrem Gebiet Verstöße begangen haben, einen Bescheid zu übermitteln. Ungewiss bleibt, welche Art von Netz und welches System der Kommission vor Augen schwebt.

3.4

In Artikel 4 des Richtlinienvorschlags gibt die Kommission an, dass der Informationsaustausch schnell geschehen muss, über ein innerhalb von 12 Monaten einzurichtendes EU-weites elektronisches Netz. An anderer Stelle in dem Dokument heißt es, dass hinsichtlich des Informationsaustauschs ein bereits bestehendes EU-Informationssystem zum Einsatz kommt, wodurch die Kosten gering gehalten werden können. Die Kommission sagt jedoch nicht, welches System für den Datenaustausch genutzt werden soll. Der Ausschuss teilt die Ansicht der Kommission, dass aus Zeit- und Kostengründen am besten ein bereits bestehendes Informationssystem der Europäischen Union genutzt werden sollte.

3.5

Konkret denkt der Ausschuss hier an einen ähnlichen Ansatz wie hinsichtlich des auf den Weg gebrachten Ratsbeschlusses über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität, bei dem das EUCARIS-System eingesetzt wird. Dieses System wird derzeit von 18 Mitgliedstaaten und nach Inkrafttreten des Ratsbeschlusses von allen 27 Mitgliedstaaten eingesetzt. Die Kosten für das System sind im Vergleich zu anderen Netzen sehr gering.

3.6

Der Ausschuss spricht sich dafür aus, dass die Kommission für alle vorhandenen Systeme, einschließlich des EUCARIS-Systems, zumindest eine Machbarkeitsprüfung hinsichtlich der Ausweitung vorhandener Systeme um den geplanten Datenaustausch durchführen lassen sollte.

3.7

Der Ausschuss hält den Vorschlag der Kommission, dass sich die Richtlinie auf die Regelung einer Rechtsgrundlage für den Austausch von Fahrzeugzulassungsdaten beschränkt, für richtig. Die Mitgliedstaaten müssen selbst die Verfolgung regeln. Damit wird dem Subsidiaritätsprinzip Genüge getan.

3.8

Der Ausschuss weist jedoch darauf hin, dass sich die Effizienz der Durchsetzung verbessert, wenn in der gesamten EU Vereinbarungen in den Mitgliedstaaten in einheitlicher Weise umgesetzt und kontrolliert werden, beispielsweise die Harmonisierung der Höchstgeschwindigkeiten, des höchstzulässigen Blutalkoholspiegels, der Sanktionsmechanismen usw. Der Rat müsste hier endlich einmal zu einer Einigung gelangen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Angesichts des angestrebten Ziels — Halbierung der Zahl der Verkehrstoten bis 2010 im Vergleich zu 2001 — und der Ende 2007 durchgeführten Zwischenbilanz, aus der hervorgeht, dass dieses Ziel ohne ergänzende Maßnahmen nicht erreicht werden kann, ist der Ausschuss der Ansicht, dass die von der Kommission vorgeschlagene grenzüberschreitende Zusammenarbeit in den vier Bereichen

Geschwindigkeitsübertretung

Trunkenheit im Straßenverkehr

Nichtanlegen von Sicherheitsgurten

Überfahren eines roten Stopplichts

ein Schritt in die richtige Richtung ist. Denn so kann den Angaben der Kommission zufolge die Zahl der Verkehrstoten jährlich um zwischen 200 und 250 verringert werden.

4.2

Der Ausschuss hält es für erforderlich, dass die Kommission in Artikel 1 des Richtlinienentwurfs weitere grenzüberschreitende Verstöße, wie etwa das Benutzen eines Mobiltelefons am Steuer ohne Freisprechanlage, aggressives Fahrverhalten, die Missachtung von Überholverboten, Fahren in verbotener Fahrtrichtung und das Fahren unter Drogeneinfluss, hinzufügt. Wie der Ausschuss bereits in seiner Stellungnahme zu der Mitteilung der Kommission „Europäisches Aktionsprogramm für die Straßenverkehrssicherheit — Halbierung der Zahl der Unfallopfer im Straßenverkehr in der Europäischen Union bis 2010: eine gemeinsame Aufgabe“ ausführte, müssen alle verfügbaren Mittel eingesetzt werden, um das Ziel zu erreichen.

4.3

Bezüglich der Ahndung der Verkehrsdelikte regt der Ausschuss an, etwa einen Führerschein mit Punktesystem, die Beschlagnahmung des Fahrzeugs und die zeitweilige Einziehung des Führerscheins, die auch in Kombination mit Geldbußen auferlegt werden können, in Erwägung zu ziehen.

4.4

Der Ausschuss kann dem Vorschlag der Kommission in Artikel 6 des Richtlinienvorschlags zustimmen, dass jeder Mitgliedstaat eine zentrale Behörde bestimmen muss, die die Durchsetzung der vorgeschlagenen Richtlinie koordiniert.

4.5

Der Ausschuss hält es unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität für nicht wünschenswert, dass die Kommission in Artikel 5 des Richtlinienvorschlags ein Muster für einen Deliktsbescheid vorgibt. Hier geht es vor allem um den Inhalt und nicht so sehr um die Form. Nach Auffassung des Ausschusses sollte sich die Kommission auf eine genaue Beschreibung der Angaben, die aufgenommen werden müssen, beschränken.

4.6

In Artikel 8 des Richtlinienvorschlags legt die Kommission fest, dass sie durch einen Ausschuss für Rechtsdurchsetzung im Bereich der Straßenverkehrssicherheit unterstützt wird. Der Ausschuss kann diesem vorgeschlagenen Komitologieverfahren zustimmen.

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/73


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Internationale Klimaschutzverhandlungen“

(2009/C 77/19)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung vom 16./17. Januar 2008, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Internationale Klimaschutzverhandlungen“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz (Beobachtungsstelle für nachhaltige Entwicklung) nahm ihre Stellungnahme am 2. September 2008 an. Berichterstatter war Herr OSBORN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) mit 130 gegen 3 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1

Der Klimawandel ist eine der größten globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Eine echte Katastrophe lässt sich nur verhindern, wenn der weltweite Klimagasausstoß insgesamt erheblich und der Ausstoß der Industrieländer bis 2050 um 60-80 % des 1990 verzeichneten Niveaus gesenkt wird.

1.2

Die im Dezember 2007 auf Bali aufgenommenen internationalen Klimaschutzverhandlungen sind von entscheidender Bedeutung für den Umfang der Maßnahmen, die weltweit bis 2020 eingeleitet werden sollen. Es ist unerlässlich, diese Verhandlungen 2009 in Kopenhagen zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.

1.3

Die Europäische Union hat sich auf das verbindliche Ziel festgelegt, den Klimagasausstoß bis 2020 um 20 % im Vergleich zu 1990 zu senken, und für die Verhandlungen das Angebot vorgelegt, eine noch weiter gehende Senkung von insgesamt 30 % im Vergleich zu 1990 vorzunehmen, wenn andere Staaten mitziehen. Die Europäische Kommission legte am 23. Januar 2008 im Rahmen ihres Energiepakets Vorschläge für die Verwirklichung dieser Klimaziele vor.

1.4

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss befürwortet nachdrücklich die Initiativrolle der Europäischen Union in den Verhandlungen und insbesondere ihre einseitige Verpflichtung, die Emissionen bis 2020 um 20 % zu mindern, um die Verhandlungen voranzubringen.

1.5

Nach Meinung des Ausschusses hat der Klimawandel jedoch bereits ein derartiges Ausmaß angenommen, dass alle nur erdenklichen weiteren Anstrengungen zu seiner Bekämpfung unternommen werden sollten. Die EU sollte sich die für 2020 unter bestimmten Bedingungen angebotene 30 %-Senkung zum Ziel setzen und in den Verhandlungen versuchen, eine vergleichbare Selbstverpflichtung seitens anderer Industrieländer zu erwirken, wobei auch bedeutende Beiträge der Schwellenländer, deren Klimagasemissionen rasch zunehmen, erforderlich sind.

1.6

Zur Stärkung ihres Einflusses in den Verhandlungen muss die EU ihre Glaubwürdigkeit dadurch untermauern können, dass sie das Versprochene einhält. Ein Maßnahmenpaket zur Verwirklichung des 20 %-Ziels muss unbedingt bis Ende 2008 vorliegen.

1.7

Zur Erreichung des nach Ansicht des Ausschusses einzig sinnvollen Ziels einer Emissionsminderung um 30 % bis 2020 werden auf europäischer und nationaler Ebene wohl weitere Maßnahmen erforderlich sein. Der Ausschuss fordert, dass so bald wie möglich die Ausarbeitung eines zweiten Maßnahmenpakets zur Verwirklichung dieses Ziels in Angriff genommen wird.

1.8

Der Ausschuss sieht den angekündigten Vorschlägen der Kommission zur Anpassung an den Klimawandel mit Interesse entgegen und empfiehlt, diese durch eine Anpassungsstrategie jedes einzelnen Mitgliedstaats zu ergänzen.

1.9

Der Ausschuss empfiehlt ferner die Entwicklung neuer Initiativen zur Förderung des Aufbaus der Kapazitäten und des Transfers der Technologien, die zur Eindämmung des Klimawandels und zur Anpassung an diesen notwendig sind.

1.10

Für eine angemessene Reaktion auf den Klimawandel ist eine Umsteuerung der Weltwirtschaft sowie der Investitionsströme unumgänglich. Der Ausschuss empfiehlt eine weitreichendere Analyse der hierfür erforderlichen Ressourcen sowie der geeigneten öffentlichen und marktwirtschaftlichen Instrumente. Er geht davon aus, dass es eines ähnlichen Engagements und politischen Willens wie für die Festlegung des Marshall-Plans für den Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg bedarf. Die EU sollte als einer der Hauptinitiatoren dieses unbedingt notwendigen Plans auftreten.

1.11

Es wird spezieller Fonds bedürfen, um Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und zur Anpassung an diesen in den Entwicklungsländern zu fördern. Eine Möglichkeit ist die Ausweitung der CDM-Mechanismen, allerdings müssten die Kriterien verschärft und die Umsetzung verbessert werden. Europa könnte einen Teil der zusätzlich erforderlichen Mittel aus den Erlösen aus der Versteigerung von CO2-Emissionsrechten bereitstellen.

1.12

Sämtliche öffentliche Einrichtungen auf allen Ebenen sind ebenso zum Handeln aufgefordert wie die Verbraucher und die breite Öffentlichkeit.

1.13

Der EU kommt bei der Leitung und Durchführung dieses tiefgreifenden Wandels eine bedeutende Aufgabe zu. Der Ausschuss fordert alle EU-Institutionen auf, ihrer Verantwortung bei der Verwirklichung der EU-Klimaziele voll nachzukommen. Er selbst wird alles in seiner Macht Stehende tun, um die Zivilgesellschaft für die Unterstützung dieses großen gemeinsamen Vorhabens zu mobilisieren.

1.14

Die Parameter des Global Deal, dessen Formulierung Gegenstand der für die kommenden 18 Monate anberaumten internationalen Verhandlungen ist, müssen so schnell wie möglich festgelegt werden, damit die politischen Bemühungen dann darauf ausgerichtet werden können, diese Problematik zu vermitteln und die Unterstützung, das Vertrauen und das Engagement aller Akteure weltweit in Bezug auf die kommenden grundlegenden Veränderungen zu gewinnen. Dieser Global Deal darf nicht hinter verschlossenen Türen ausgehandelt werden, es müssen vielmehr alle Akteure eingebunden werden. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels müssen realistisch, wirtschaftlich und sozial verträglich und in dem vorgeschlagenen Zeitraum durchführbar sein.

2.   Hintergrund

2.1

Der Klimawandel ist eine der größten globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Im 2007 veröffentlichten 4. Sachstandsbericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (Weltklimarat — IPCC) werden die Klimaveränderungen dokumentiert, die auf den drastischen Anstieg der durch den Menschen verursachten Klimagasemissionen in den letzten beiden Jahrhunderten zurückzuführen sind, sowie alarmierende weitere Klimaveränderungen prognostiziert, sofern nicht umgehend Maßnahmen zur Eindämmung des weltweiten Klimagasausstoßes in den kommenden Jahren ergriffen werden. Der IPCC riet, weltweit das Ziel zu verfolgen, die durchschnittliche Temperaturerhöhung auf 2oC gegenüber vorindustrieller Zeit zu begrenzen, um katastrophale Folgen zu verhindern. Hierfür muss der weltweite Klimagasausstoß insgesamt erheblich und der Ausstoß der Industrieländer bis 2050 um 60-80 % des 1990 verzeichneten Niveaus gesenkt werden.

2.2

Seit 20 Jahren ist die internationale Gemeinschaft bestrebt, sich auf ein gemeinsames Handeln zur Begrenzung der Klimagasemissionen zu einigen. So wurde 1992 in Rio die Klima-Rahmenkonvention (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) verabschiedet, die 1997 durch das Kyoto-Protokoll gestärkt wurde, mit dem die Signatarstaaten sich zu spezifischen Maßnahmen zur Verringerung der Emissionen bis 2012 verpflichtet haben. Es wird jedoch allgemein eingeräumt, dass diese Vereinbarungen und Maßnahmen nur ein erster Schritt sind und in den kommenden Jahren viel einschneidendere und weitreichendere Maßnahmen erforderlich sein werden, um das 2050-Ziel zu erreichen. Die 2007 in Bali auf den Weg gebrachten internationalen Klima-Verhandlungen sind daher von grundlegender Bedeutung, haben sie doch einen entscheidenden Einfluss auf den Umfang der Maßnahmen, die bis 2020 weltweit umgesetzt werden. Diese Verhandlungen müssen 2009 in Kopenhagen zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden.

2.3

Ziele für 2020: Die Bali Roadmap (das auf Bali beschlossene Verhandlungsmandat für ein neues Klimaschutzabkommen) nimmt Bezug auf eine Aussage im 4. Sachstandsbericht des IPCC, der zufolge die Industrieländer ihre Emissionen bis 2020 um 25-40 % unter das Niveau von 1990 absenken müssen, um das langfristige Ziel der Begrenzung der Erderwärmung auf 2 Grad gegenüber vorindustriellen Werten zu erreichen.

2.4

Es liegt auf der Hand, dass die Industrieländer diejenigen Länder sind, die ihre Emissionen in absoluten Zahlen am stärksten senken sollten, trugen und tragen sie doch pro Kopf gemessen am meisten zum Klimawandel bei. Europa muss seiner Verantwortung nachkommen. Die Vereinigten Staaten müssen wieder in die internationale Strategie eingebunden und zu einer ernst zu nehmenden Selbstverpflichtung zur Verringerung ihrer Klimagasemissionen gebracht werden. Auch Russland wird sich auf ein realistischeres Ziel einlassen müssen als in der Kyoto-Runde.

2.5

Der EU kommt in diesen Verhandlungen eine maßgebliche Rolle zu. Der Rat hat eine Langzeitperspektive zur Verringerung der Emissionen seitens der Industrieländer um 60-80 % bis 2050 angenommen. Als Übergangsmaßnahme bis zur Verwirklichung dieses langfristigen Ziels hat sich die EU auf das verbindliche Ziel geeinigt, den Klimagasausstoß bis 2020 um 20 % im Vergleich zu 1990 zu senken, und für die Verhandlungen das Angebot vorgelegt, eine noch weiter gehende Senkung von insgesamt 30 % im Vergleich zu 1990 vorzunehmen, wenn andere Staaten mitziehen. In der Folge hat die Europäische Kommission am 23. Januar 2008 im Rahmen ihres Energiepakets Vorschläge für die Verwirklichung des 20 bzw. 30 %-Ziels vorgelegt.

2.6

Die Entwicklungsländer müssen ihrerseits ebenfalls ein ernsthaftes Klimaschutz-Engagement an den Tag legen. Die wichtigsten Schwellenländer China, Indien und Brasilien sowie einige weitere Länder zählen bereits zu den größten Verursachern von Klimagasemissionen — oder werden in Kürze zu diesen zählen. Sie müssen daher ihre Wirtschaft so ausrichten, dass ihre Emissionen erheblich weniger zunehmen als in einem „Business-as-usual“-Modell.

2.7

In dem globalen Abkommen, das von den Verhandlungsführern angestrebt wird, sollten die Industrieländer sich im Wesentlichen auf ehrgeizige Emissionsreduktionsziele und -maßnahmen festlegen und den Entwicklungsländern finanzielle und technische Unterstützung anbieten, wenn diese sich ihrerseits dazu verpflichten, ihr Wachstum und ihre Entwicklung so zu gestalten, dass ihr Klimagasausstoß so wenig wie möglich zunimmt.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Ausschuss hat sowohl die allgemeinen Fortschritte im Verhandlungsverlauf als auch das von der Kommission unterbreitete Maßnahmenpaket, mit dem die EU ihren Verpflichtungen nachkommen soll, von Anfang an verfolgt. Zur Begleitung der Verhandlungen vor Ort entsandte der Ausschuss kleine Delegationen im Namen der europäischen Zivilgesellschaft als Teil der EU-Delegationen zur Bali-Konferenz der Konventionsparteien und zu dem anschließenden Zwischentagungstreffen in Bonn. Er nutzt außerdem seine Kontakte mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gruppen in anderen führenden Ländern, um die jeweiligen Standpunkte und die mögliche Rolle der Zivilgesellschaft im Hinblick auf die Förderung und Durchführung von Vereinbarungen auszuloten.

3.2

Der Ausschuss hat die verschiedenen Elemente des Klima- und Energiepakets der Kommission in einer Reihe von Einzelstellungnahmen bewertet, die nun in dieser allgemeinen Stellungnahme, in der der Ausschuss die Verhandlungsfortschritte und -aussichten im Allgemeinen sowie die Rolle Europas im Besonderen analysieren wird, zusammengefasst und miteinander in Bezug gesetzt werden. Nach Verabschiedung dieser Stellungnahme beabsichtigt der Ausschuss, parallel zu den Verhandlungstagungen in Poznan im Dezember 2008 sowie in Kopenhagen im Dezember 2009 Veranstaltungen zu organisieren, um der Zivilgesellschaft eine Möglichkeit zur Begleitung der laufenden Verhandlungen und zur Reaktion darauf zu bieten.

3.3

In dem in Bali vereinbarten Verhandlungsfahrplan wurden vier Hauptverhandlungsstränge festgelegt:

verpflichtende nationale Ziele und Maßnahmen zur Begrenzung der Klimagasemissionen bis 2020 und als Beitrag zur Eindämmung des Klimawandels;

Maßnahmen zur Anpassung an die unvermeidbaren Klimaveränderungen;

Maßnahmen zur Förderung des Technologietransfers und des Kapazitätenaufbaus, die zur Eindämmung des Klimawandels und zur Anpassung an diesen notwendig sind;

Abschluss angemessener Finanzvereinbarungen zur Förderung von Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und zur Anpassung an diesen, zur Förderung des Technologietransfers usw.

3.4

Die Stellungnahme setzt bei diesen vier zentralen Verhandlungssträngen an.

4.   Verstärkte Eindämmung des Klimawandels durch Begrenzung oder Senkung der Emissionen (erster Verhandlungsstrang)

4.1

Ziele: Der Ausschuss stimmt der Feststellung des IPCC zu, dass Emissionsreduktionen in den Industrieländern in Höhe von 25-40 % gegenüber dem Jahr 1990 für die Festlegung der 2020-Ziele ehrgeizig genug sind. Umfangreichere Reduktionen bis 2020 wären derzeit wohl kaum durchführbar.

4.2

Der Ausschuss unterstützt ausdrücklich die Führungsrolle der EU in den Verhandlungen und begrüßt die Initiativrolle, die die EU durch ihre einseitige Verpflichtung zum Emissionsabbau um 20 % bis 2020 übernommen hat, um die Verhandlungen in Gang zu bringen. Nach Meinung des Ausschusses hat der Klimawandel jedoch bereits jetzt ein derartiges Ausmaß angenommen, dass alle nur erdenklichen weiteren Anstrengungen zur Durchsetzung der 30 %-Senkung, die unter bestimmten Bedingungen für 2020 angeboten wurde, unternommen werden sollten. Außerdem sollte in den Verhandlungen darauf hingewirkt werden, ein vergleichbares Engagement seitens anderer Industrieländer sicherzustellen, wobei auch bedeutende Beiträge der Schwellenländer, deren Klimagasemissionen rasch zunehmen, erforderlich sind.

4.3

Werden die Verhandlungen lediglich mit einer Verpflichtung der EU zur Emissionsminderung um 20 % und vergleichsweise geringfügigen Zusagen anderer Länder abgeschlossen, wäre dies nach Ansicht des Ausschusses als Misserfolg zu werten.

4.4

Durchführung: Die von der Kommission im Klima- und Energiepaket für die EU vorgeschlagenen Maßnahmen stellen zusammengenommen einen sehr tauglichen, sinnvollen Durchführungsplan dar, mit dessen Hilfe die EU ihre Emissionsminderungsziele von 20 % bis 2020 erreichen kann. Der Ausschuss hat separate Stellungnahmen zu den einzelnen Bausteinen dieses Plans vorgelegt. Unter Berücksichtigung folgender Bemerkungen befürwortet der Ausschuss insgesamt alle Bausteine dieses Planes:

Er unterstützt die vorgeschlagenen Reformen und die Ausweitung des Emissionshandelssystems. Die Senkung der Emissionsobergrenzen und die Versteigerung eines größeren Anteils der Emissionsrechte werden begrüßt, da sie im Einklang mit dem Verursacherprinzip stehen, Mitnahmegewinne verhindern, Anreize setzen und zur Bildung von Kapital beitragen, das in CO2-arme Anlagen und Produkte investiert werden kann; sie sind somit innovationsfördernd. Angesichts der Höhe der sowohl in Europa als auch in den Entwicklungsländern notwendigen Umrüstungsinvestitionen sollten wenigstens 50 % der Erlöse — anstelle der von der Kommission vorgeschlagenen 20 % — aus der Versteigerung von Zertifikaten für Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und zur Anpassung an diesen aufgewendet werden (1). Er begrüßt außerdem den Beschluss des Rates und des Europäischen Parlaments, den Luftverkehr ab 2012 in das EU-EHS einzubeziehen.

Er befürwortet die Stoßrichtung der vorgeschlagenen Lastenverteilung auf die nicht unter das EU-Emissionshandelssystem fallenden Sektoren und fordert die Institutionen dringend auf, in den Detaildiskussionen über die Grundlagen dieser Lastenverteilung nicht das übergeordnete Ziel auszuhöhlen (2).

Er spricht sich nachdrücklich für rasche Fortschritte auf dem Gebiet der erneuerbaren Energieträger aus. Die Verwirklichung des 20 %-Ziels bis 2020 wäre eine gute Voraussetzung dafür, ihren Anteil bis 2050 noch viel weiter zu erhöhen (3).

Er bedauert, dass der zentralen Frage der Energieeffizienz — die bis 2020 anvisierte Steigerung von 20 % ist kein verbindliches Ziel — nicht die gebührende Bedeutung eingeräumt wird, wie aus dem Bericht der Kommission zu den nationalen Energieeffizienzplänen deutlich hervorgeht. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten hat ihre nationalen Pläne nicht rechtzeitig aufgestellt, die Pläne sind von unterschiedlicher Qualität und teilweise auch nicht ehrgeizig genug, wenngleich umfangreiche Energieeffizienzgewinne häufig bei relativ geringen Erstinvestitionskosten und mit sehr kurzer Amortisationsdauer erreicht werden können (4).

Er begrüßt zwar den von der Kommission vorgeschlagenen Rechtsrahmen für die CO2-Abscheidung und -Speicherung, sieht aber auch mit Sorge, dass keine ausreichende Finanzierung für die geplanten Demonstrationsprojekte bereitgestellt und die Entwicklung bis zur Anwendung im industriellen Maßstab zu langsam vonstatten gehen wird, obwohl dieser Technologie entscheidende Bedeutung zukommt, wenn einige Länder noch viele Jahre lang auf Kohle und andere fossile Energieträger angewiesen sind (5).

4.5

Die Europäische Union baut fest darauf, mit Hilfe ihres Emissionshandelssystems als wesentlichem politischem Instrument die notwendigen Emissionsreduktionen zu erreichen. Das EU-EHS ist schon jetzt das weltweit umfangreichste Emissionshandelssystem und wird sich nach 2012 noch ausweiten. Ursprünglich hat sich das System allerdings nur in begrenztem Maße auf die europäischen Emissionen ausgewirkt, da die anfänglichen Emissionsobergrenzen und -berechtigungen großzügig bemessen waren und zu einem sehr niedrigen Kohlenstoffpreis geführt haben. Mit strengeren Obergrenzen ist der Kohlenstoffpreis angestiegen, so dass sich in Verbindung mit weiteren Faktoren, die zu einer Preissteigerung für fossile Brennstoffe führen, vermutlich eine stärkere Wirkung auf die europäische Energieerzeugung und andere Industriezweige ergeben wird.

4.6

Der Ausschuss ist ganz allgemein der Auffassung, dass die Stärkung des EU-EHS positive Auswirkungen für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt in Europa zeitigen wird, da die rasche Entwicklung energieeffizienter CO2-armer Verfahren und Produkte gefördert wird, die die Marktführer der Zukunft sein werden. Auf diese Weise werden nicht nur neue Arbeitsplätze geschaffen, sondern auch die europäische Abhängigkeit von Importen verringert und somit die Energieversorgungssicherheit erhöht.

4.7

Die EU hat in diesem Bereich die Initiative ergriffen, doch muss nunmehr alles daran gesetzt werden, dass auch in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern Emissionshandelssysteme aufgebaut werden, die in der Folge in einem weltweiten Kohlenstoffmarkt miteinander vernetzt werden. Der Aufbau eines echten weltweiten Kohlenstoffmarktes könnte der wirksamste und kosteneffizienteste Weg zur Gewährleistung der Verringerung des CO2-Ausstoßes weltweit sein. Der Ausschuss unterstützt ausdrücklich die Initiative der Internationalen Kohlenstoff-Aktionspartnerschaft (ICAP), mit der eine abgestimmte Entwicklung der in verschiedenen Teilen der Welt im Entstehen begriffenen Handelssysteme hin zu einem einzigen Weltmarkt angestrebt wird. Erfolgt der Aufbau eines globalen Kohlenstoffmarktes innerhalb eines Systems mit weltweiten Emissionsobergrenzen, dürfte sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit der EU durch ein einseitiges europäisches Handelssystem verringern.

4.8

Als ebenfalls sinnvoll könnten sich internationale sektorbezogene Vereinbarungen erweisen, in denen detailliertere Pläne und Strategien zur Gewährleistung einer fortschreitenden Minderung der durch die wichtigsten einschlägigen Sektoren bzw. ihre Erzeugnisse verursachten Emissionen festgelegt werden. Sie sollten jedoch nur als Unterstützungsmaßnahme für die Durchführung strenger, auf internationaler Ebene vereinbarter nationaler Ziele angesehen werden und nicht als Alternative zu verbindlichen nationalen Zielen, da die Entwicklung in den letzten 20 Jahren gezeigt hat, dass freiwillige sektorspezifische Vereinbarungen in diesem Bereich allein zu wenig — und dies auch nur zu spät — bringen und letztlich nicht effizient durchgesetzt werden können.

4.9

In Bezug auf den Verkehr bekräftigt der Ausschuss seinen Standpunkt, dass eine sektorspezifische langfristige Nachhaltigkeitsstrategie von einer grundlegenden Neubewertung der Nachfragefaktoren in diesem Bereich ausgehen muss, wobei auch die Frage, wie Maßnahmen auf den Gebieten Raumplanung, Infrastruktur und öffentlicher Verkehr den unaufhaltsam scheinenden Zuwachs der Verkehrsnachfrage eindämmen und diese Nachfrage letztlich sogar verringern könnten, aufgegriffen werden muss. Die Planung sollte keinesfalls auf der Annahme beruhen, dass ein Verkehrszuwachs unvermeidbar ist und die einzige Möglichkeit zur Verringerung der verkehrsbedingten Emissionen in technischen Verbesserungen der Kraftstoffe und Motoren besteht, auch wenn diese natürlich wichtig sind.

4.10

In Bezug auf technische Maßnahmen plädiert der Ausschuss dafür, nicht nur kurzfristige strenge Emissionsgrenzwerte für Kraftfahrzeuge (120 g CO2 pro km bis 2012/2015) festzulegen, sondern auch mittelfristig einen noch niedrigeren Emissionsgrenzwert bis 2020 vorzusehen (6). Gleichzeitig sollte die Entwicklung und möglichst frühzeitige Einführung kohlenstofffreier strom- oder wasserstoffbetriebener Fahrzeuge gefördert werden.

4.11

Der Ausschuss bewertet das Potenzial für die Verwirklichung des 10 %-Ziels für Biokraftstoffe im Verkehrswesen pessimistischer als die Kommission. In Anbetracht der Probleme in Verbindung mit dem Klimagasminderungspotential von Biokraftstoffen und den ökologischen und sozialen Auswirkungen ihrer Erzeugung bedarf es strengerer Nachhaltigkeitskriterien als der von der Kommission vorgeschlagenen, um sicherzustellen, dass Biokraftstoffe nur dann eingeführt werden, wenn sie tatsächlich erheblich zur Verringerung der Netto-CO2-Emissionen beitragen und zu keiner unannehmbaren Beeinträchtigung der landwirtschaftlichen Böden und Nahrungsmittelerzeugung führen. Außerdem geht aus den aktuellen wirtschaftlichen Überlegungen klar hervor, dass Biomasse (zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in naher Zukunft) effizienter zur Strom- oder Wärmeerzeugung genutzt werden kann als in Form von Biokraftstoffen.

4.12

Weitere Maßnahmen zur Erreichung des 30 %-Ziels: Wenn das Energiepaket Ende 2008 angenommen und ab 2009 umgehend durchgeführt wird, hat die EU gute Aussichten, ihr 20 %iges Emissionsreduktionsziel bis 2020 zu verwirklichen.

4.13

Allerdings bezweifelt der Ausschuss, dass eine 30 %ige Emissionsminderung bis 2020 erreicht werden kann, indem — wie die Kommission bislang vorschlägt — einfach die Zielvorgaben der einzelnen Bausteine des Energiepakets ehrgeiziger formuliert werden und verstärkt CDM-Gutschriften verwendet werden können. Der Ausschuss ist vielmehr der Meinung, dass dazu vermutlich ein umfassenderes und breiteres Spektrum von Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene erforderlich sein wird.

4.14

Der Ausschuss schlägt vor, folgende Aspekte auf europäischer Ebene für ein zweites Paket in Betracht zu ziehen:

eine stärkere Förderung der Energieeffizienz in allen zentralen Bereichen und bei allen wichtigen Erzeugnissen durch Regelung und Normung;

weitere Maßnahmen zur Beschleunigung der Entwicklung und Einführung erneuerbarer Energieträger;

eine stärkere Förderung der Entwicklung strom- oder wasserstoffbetriebener Fahrzeuge;

eine Ausweitung des EU-EHS auf Schiffsemissionen (der Ausschuss bezweifelt, dass die laufenden Diskussionen im Rahmen der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation rasch genug zufriedenstellende Ergebnisse bringen werden);

umfassendere gemeinsame Anstrengungen zur Festlegung strengerer nationaler Reduktionsziele im Rahmen der Vereinbarung über die Lastenverteilung.

4.15

Zur Erreichung strengerer individueller Ziele im Rahmen der Vereinbarung über die Lastenverteilung müssen sich die Mitgliedstaaten und ihre Entscheidungsträger nach Meinung des Ausschusses stärker um eine partnerschaftliche Einbindung der Öffentlichkeit, der Unternehmen, der Gewerkschaften und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen in die gemeinsamen Anstrengungen bemühen.

Die Bürger müssen dazu angehalten bzw. dabei unterstützt werden, ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen und beispielsweise die Energieeffizienz ihres Hauses/ihrer Wohnung zu verbessern, auf umweltfreundlichere Energieträger für Beleuchtung und Heizung zurückzugreifen, energieeffizientere Güter zu erwerben und Dienstleistungen zu nutzen und ihren CO2-Fußabdruck als Verkehrsteilnehmer und Ferienreisende zu verringern. Nach Meinung des Ausschusses wäre ein wachsender Anteil der Bevölkerung und der Organisationen der Zivilgesellschaft bei klaren Vorgaben durch eine konsequente und sinnvolle politische Orientierung und bei entsprechenden Anreizen bereit, sich konkret zu engagieren.

Viele lokale und regionale Gebietskörperschaften haben in Sachen Klimawandel bereits mit Weitblick und Mut die politische Initiative ergriffen. Sie müssen ermutigt werden und Anreize vorfinden, noch weiter zu gehen.

Unternehmen müssen in ähnlicher Weise dazu angeregt werden, weitere Fortschritte sicherzustellen. Sie müssen mit Anreizen dazu bewogen, ja gedrängt werden, ihre Energieeffizienz kontinuierlich zu verbessern und ihren Energiebedarf aus kohlenstoffarmen Energiequellen zu decken. Durch entsprechende Rechtsvorschriften sollte systematischer und nachdrücklicher auf eine Verbesserung der Energieleistung sämtlicher Arten von Produkten und Dienstleistungen hingewirkt werden. Die Bauindustrie muss dazu verpflichtet werden, sowohl bei der Errichtung der Gebäude als auch bei deren Betrieb eine noch höhere Energieeffizienz zu gewährleisten.

Auch den Gewerkschaften kommt eine wichtige Rolle zu. Viele ihrer Mitglieder arbeiten an vorderster Front an Verbesserungen der Energieeffizienz und der Verbreitung praktischer Informationen und ihr möglicher Beitrag muss gewürdigt und gefördert werden. Die Gewerkschaften müssen außerdem umfassend in die Umstellung von Industrie und Wirtschaft auf weniger Kohlenstoffintensität eingebunden werden. Eine richtige Steuerung dieses Wandels vorausgesetzt sollten die neuen Produktionsverfahren ebenso viele Beschäftigungsmöglichkeiten unter Wahrung guter Arbeitsbedingungen bieten wie die herkömmlichen kohlenstoffintensiven Produktionsverfahren.

4.16

Im Interesse der Glaubwürdigkeit der EU auf internationaler Ebene ist es außerordentlich wichtig, dass jeder einzelne Mitgliedstaat alles daran setzt, nicht nur das Kyoto-Gesamtziel für die EU-15, sondern auch die Kyoto-Einzelziele bis 2012 zu verwirklichen. Laut der jüngsten Mitteilung der Kommission über Fortschritte bei der Umsetzung der Ziele von Kyoto (7) sind erst drei Mitgliedstaaten der EU-15 auf gutem Wege, ihre Emissionsziele allein mithilfe ihrer bestehenden politischen Maßnahmen zu erreichen; acht weitere Mitgliedstaaten werden ihre Ziele voraussichtlich erst erreichen, „wenn die Kyoto-Mechanismen, Kohlenstoffsenken und die bereits erörterten zusätzlichen nationalen Konzepte und Maßnahmen in ihrer Wirkung erfasst sind“. Drei Mitgliedstaaten dürften ihr Kyoto-Ziel wohl verfehlen. Auch zeigt die umfangreiche Anwendung der im Kyoto-Protokoll vereinbarten flexiblen Mechanismen, insbesondere des CDM, dass viele Mitgliedstaaten den dringend erforderlichen Wandel hin zu einer kohlenstoffarmen Gesellschaft noch lange nicht vollzogen haben.

5.   Anpassung an den Klimawandel (zweiter Verhandlungsstrang)

5.1

Selbst wenn die Maßnahmen zur Verringerung der globalen Emissionen in Zukunft Erfolge bringen, so ist bereits absehbar, dass die Erderwärmung in den kommenden Jahrzehnten weiter zunehmen wird, da die Emissionen bereits in die Atmosphäre gelangt sind. Der Ausschuss hat bereits eine Stellungnahme zum Grünbuch der Kommission zur Anpassung an den Klimawandel verabschiedet (8). Seines Erachtens muss die EU sich eine übergeordnete Strategie zur Bewältigung des Klimawandels innerhalb der EU geben, in deren Rahmen detailliertere nationale Anpassungspläne von den Mitgliedstaaten ausgearbeitet werden sollten. Forschung und Analyse, Haushaltsmittel und Investitionsprogramme sowie weitere Maßnahmen sollten noch vorrangiger auf die Anpassung an den Klimawandel ausgerichtet werden. Der Ausschuss bringt seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die Kommission in ihrem für Herbst 2008 geplanten Weißbuch detaillierte Maßnahmen für Fortschritte in diesem Bereich vorschlagen wird.

5.2

Viele noch in der Entwicklung begriffene Regionen außerhalb der EU sind bereits stark vom Klimawandel betroffen und werden in Zukunft noch stärker unter seinen Folgen zu leiden haben, verfügen aber nicht über ausreichende Ressourcen, diese Folgen zu bewältigen. Es muss daher eine wesentliche Priorität der EU und anderer OECD-Staaten sein, die besonders verletzlichen Regionen finanziell und in anderen Bereichen zu unterstützen, damit sie den Klimawandel bewältigen können. Überlegungen zum Klimawandel müssen in alle Bereiche der Entwicklungspolitik einfließen.

5.3

Des Weiteren sind umfangreiche Anstrengungen zur Unterstützung einer nachhaltigen Bewirtschaftung der Wälder in den Entwicklungsländern notwendig. Auch muss den kommerziellen Interessen entgegengewirkt werden, die nach wie vor in vielen für das Weltklimasystem relevanten Regionen großflächige Waldrodungen verschulden. Der Ausschuss arbeitet derzeit eine gesonderte Stellungnahme zum Thema „Beitrag der Forst- und Holzwirtschaft zur Erreichung der Klimaschutzziele der EU“ aus.

6.   Entwicklung und Transfer von Technologien (dritter Verhandlungsstrang)

6.1

Für einen erfolgreichen Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft ist weltweit eine neue industrielle Revolution erforderlich. Not tut ein klarer Kurswechsel hin zu saubereren Formen der Energieerzeugung, neuen Technologien zur Abscheidung von Kohlendioxid- und anderen Klimagasemissionen und einer kontinuierlichen und nachdrücklichen Förderung energieeffizienterer Erzeugnisse und Verbrauchsmuster. Dazu sind eine erhebliche Ausweitung der einschlägigen öffentlichen und privaten Forschungsprogramme und umfangreiche Investitionsprogramme zur Umrüstung der Industrie und zur Veränderung von Produkten und Dienstleistungen erforderlich. Viele der erforderlichen Technologien bestehen bereits, doch muss ihre Anwendung noch viel weiter verbreitet werden.

6.2

In der EU sind dazu radikale Prioritätenverlagerungen in den finanziellen Programmen der EU und der Regierungen nötig, um die geeigneten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten und Investitionen zu unterstützen. Unternehmen und andere müssen durch steuerliche und sonstige Anreize dazu bewegt werden, die notwendigen Investitionen zu tätigen.

6.3

Zunächst muss festgestellt werden, welche Arten von Technologie und Diensten in Schwellenländern und Entwicklungsländern eine bestmögliche nachhaltige und emissionsarme Weiterentwicklung sicherstellen können, und dann muss ein Transfer dieser Technologien und Dienste zu geeigneten Bedingungen gefördert werden. Es sollten Mittel und Wege gefunden werden, neue Technologien, die Entwicklungsländer besonders wirkungsvoll bei der Anpassung an den Klimawandel und bei der Eindämmung der Kohlenstoffintensität ihrer künftigen Entwicklung unterstützen können, rasch in großem Maßstab und zu erschwinglichen Preisen einzuführen. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Schwellenländer zum Teil selbst die benötigten neuen Technologien entwickeln. Durch den Technologietransfer, der eben nicht nur auf einer Nord-Süd-Einbahnstraße verläuft, soll die rasche Verbreitung der einschlägigen Technologien in der ganzen Welt, unabhängig von ihrem Entwicklungsort, erleichtert werden.

6.4

Die EU und ihre Partner sollten dringend Möglichkeiten ausloten, wie den Entwicklungsländern problemlos und zu erschwinglichen Preisen Zugang zur modernsten und CO2-effizientesten Technologie ermöglicht werden kann, insbesondere im Bereich der Elektrizitätserzeugung, der energieintensiven Industrien, des Verkehrssektors und, sobald sie technisch ausgereift ist, der CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS). Länder, die wahrscheinlich weiterhin auf Kohle zur Energieerzeugung angewiesen sind, werden Unterstützung zur Einführung der modernsten sauberen Kohletechnologie (CCT) und der CCS-Technologie benötigen, sobald diese verfügbar ist.

6.5

Mit einem derartigen Technologietransfer sollten die Entwicklungsländer in die Lage versetzt werden, ihre Entwicklung weniger kohlenstoffintensiv zu gestalten, als es sonst der Fall wäre; es dürfte vertretbar sein, diese Unterstützung an angemessene Verpflichtungen seitens der Entwicklungsländer zu binden, ihrerseits weitere Maßnahmen zur Eingrenzung ihrer potenziellen Emissionssteigerung zu ergreifen.

6.6

Parallel zu den Klimaverhandlungen sollten die EU und die USA eine neue Initiative für eine Liberalisierung des Handels mit klimafreundlichen Gütern und Dienstleistungen im Rahmen der WTO auf den Weg bringen. Diese Initiative sollte so konzipiert sein, dass Industrieländer, Entwicklungsländer und Schwellenländer gleichermaßen Nettovorteile aus einer solchen Liberalisierung ziehen könnten, beispielsweise durch die Förderung der (Weiter)Entwicklung von Umwelttechnologien und -diensten in Entwicklungsländern.

7.   Aufstockung der Finanzmittel und Investitionen zur Förderung der Eindämmung und der Anpassung (vierter Verhandlungsstrang)

7.1

Die Entwicklungsländer werden in großem Umfang auf die Unterstützung der Industrieländer angewiesen sein, um ihren Beitrag zur Bewältigung des Klimawandels leisten zu können, ohne ihre eigene Entwicklung aufs Spiel zu setzen. Vor allem muss sichergestellt werden, dass die künftige Entwicklung der Entwicklungsländer so kohlenstoffarm wie möglich gestaltet wird und nicht, wie bei den „alten“ Industrieländern, allein auf der kohlenstoffintensiven Produktion aufbaut, die deren Entwicklung kennzeichnet (und mittlerweile hemmt).

7.2

Die Entwicklungsländer, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind und kaum eigene Ressourcen haben, um sich daran anpassen zu können, bedürfen auch zusätzlicher Hilfe in Form von Programmen für Küsten- und Hochwasserschutzmaßnahmen, Dürrebekämpfung, Umstellung der Landwirtschaft, neue Gesundheitsschutzerfordernisse usw.

7.3

Der Ausschuss begrüßt die allseitig auf Bali gewonnene Erkenntnis, dass neue und zusätzliche Ressourcen sowie Investitionskanäle und -mechanismen für diesen Transfer erforderlich sein werden. Allerdings waren die Industrieländer bis auf einige lobenswerte Ausnahmen bei der Einhaltung vergangener Versprechen zur Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen für die Ziele der nachhaltigen Entwicklung wenig erfolgreich. Daher muss nun die gesamte Welt weitere Ressourcen mobilisieren und diesen Zielen widmen.

7.4

Dem Ausschuss liegen u.a. Schätzungen des Sekretariats der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) vor, denen zufolge der Mittelbedarf aus dem öffentlichen und privaten Sektor zusammen Hunderte Milliarden Dollar jährlich erreichen kann, wenn die Programme erst einmal angelaufen sind. Sie empfehlen, dass das UNFCCC, die Europäische Kommission und/oder die OECD und die internationalen Finanzinstitutionen den Mittelbedarf genauer beziffern, damit durch verbindliche Mittelzusagen und Verpflichtungen eine ausreichende Finanzierung und durch die Programme ein entscheidender Beitrag zur Bewältigung des Klimawandels sichergestellt werden kann. Die Versteigerung von Emissionsrechten in künftigen Entwicklungsphasen des EHS könnte eine Finanzierungsquelle sein, dürfte allein aber nicht für alle notwendigen Maßnahmen ausreichen.

7.5

Der Kyoto-Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (CDM) hat sich in gewissem Maße bei der Unterstützung geeigneter Investitionen in Nicht-Anhang I-Ländern bewährt. Allerdings findet die Projektförderung schwerpunktmäßig in China und anderen Schwellenländern statt, und es bestehen erhebliche Zweifel an der Zusätzlichkeit und Qualität zahlreicher Projekte. Eine wirksame Anwendung und Überwachung der Kriterien für die Genehmigung von Projekten ist unerlässlich, wenn die Mechanismen wie geplant dazu beitragen sollen, dass echte Emissionsminderungen auf möglichst effiziente Weise erreicht werden.

7.6

Die EU und andere Betroffene sollten schleunigst prüfen, wie Mängel im System im nächsten Zeitraum vermieden und der Anwendung des Mechanismus eine neue Dynamik verliehen werden kann. In Zukunft sollten im Rahmen von CDM und JI vorrangig Vorhaben gefördert werden, die nicht nur wesentlich zur Emissionsminderung beitragen, sondern auch den Wandel hin zu einer CO2-armen Wirtschaft voranbringen. Die Direktfinanzierung von Energieeffizienz-Vorhaben („rasche Ernte“) ist offenbar insbesondere in Schwellenländern, in denen diese ohnehin durchgeführt würden, wenig sinnvoll. Für diese Länder könnten „sektorspezifische CDM“, nach Möglichkeit in Verbindung mit so genannten „No Lose Targets“, sprich sanktionsfreien Zielen (9), eine zweckdienliche Alternative sein.

7.7

In der ganzen Welt werden umfangreiche Investitionen des Privatsektors in eine weniger kohlenstoffintensive Produktion unabdingbar sein. Die europäischen und nationalen Maßnahmen sollten dem Privatsektor gezielte Anreize bieten.

7.8

Die Kosten und Investitionen in den kommenden 50 Jahren werden sich auf Billionen US-Dollar belaufen. Das sind riesige Summen. Derartige Investitionen sind jedoch angesichts der knapper werdenden Vorräte an fossilen Energieträgern und der Preissteigerungen bereits jetzt erforderlich. Ganz unabhängig vom Klimawandel werden daher eine Diversifizierung weg von den fossilen Brennstoffen und die effizientere Nutzung der verbleibenden Vorräte aus wirtschaftlicher Sicht immer wichtiger. Sicherheitsüberlegungen gehen in dieselbe Richtung, da sowohl die Knappheit an fossilen Brennstoffen wie auch der Klimawandel die Wurzel für Instabilität und Konflikte in zahlreichen Weltregionen sind.

7.9

Unter diesem Gesichtspunkt ist die Notwendigkeit, der Gefahr des Klimawandels unverzüglich entgegenzutreten, keine zusätzliche Belastung für die Weltwirtschaft, sondern schlicht ein weiterer wichtiger Grund, den in jedem Fall unerlässlichen wirtschaftlichen und industriellen Wandel rasch voranzubringen. Im Stern-Bericht wurden die Kosten für die in den kommenden 50 Jahren zur Eindämmung des Klimawandels erforderlichen Maßnahmen bei einem Ölpreis von 60 USD pro Barrel auf 1 % des globalen BIP geschätzt. Bei dem derzeitigen Preis von über 100 USD pro Barrel erscheinen Investitionen in erneuerbare Energieträger und Energieeffizienz-Maßnahmen jedweder Art in wirtschaftlicher Hinsicht bereits um einiges interessanter. Aus dem gleichen Grund werden die Netto-Zusatzkosten für Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels wahrscheinlich weitaus geringer ausfallen; in einigen Fällen könnten sie sogar Gewinne bringen — ein Beweis dafür, dass ein effizientes Vorgehen gegen den Klimawandel in den kommenden Jahren einen Nettovorteil für die Weltwirtschaft bringen wird.

7.10

Eine angemessene Antwort auf das Klimaschutzproblem sollte daher nicht als übergroße, erdrückende und folgenschwere Verpflichtung angesehen werden, die die Wirtschaftsentwicklung bremst, sondern vielmehr als Chance, sich an die Spitze der nächsten Wirtschafts- und Industrierevolution zu setzen. Die EU hat die Klimaschutzdebatte entscheidend mitgestaltet. Sie muss jedoch noch mehr tun, damit auf dem Boden dieser zukunftsorientierten politischen Einstellung ein ebenso aktives wie lebendiges Wirtschaftsumfeld entsteht, das Anreize für die Unternehmen und die Gesellschaft bietet, die erforderlichen Investitionen zu tätigen, um Vorreiter und Wettbewerbssieger in der künftigen CO2-armen Wirtschaft zu werden.

7.11

Manch einer beschwört die Notwendigkeit eines neuen Marshallplans, und der Ausschuss hält dieses Bild für geeignet, um eine Vorstellung vom Ausmaß der Problematik und der notwendigen Anstrengungen zu vermitteln. Wir brauchen eine Vision im Marshallplan-Maßstab, die uns zeigt, wie sich alle Länder der Erde gemeinsam einer globalen Bedrohung entgegenstellen können, wobei die stärksten und wohlhabendsten Länder mit gutem Beispiel vorangehen und anderen großzügigste Hilfe angedeihen lassen.

7.12

Nicht nur sämtliche nationale Behörden und öffentliche Einrichtungen auf allen Ebenen müssen tätig werden, sondern es sind auch die Unternehmen, die Verbraucher und die breite Öffentlichkeit gefordert.

8.   Schlussfolgerungen

8.1

Der Klimawandel ist bereits Wirklichkeit und hat bereits massive Auswirkungen in der ganzen Welt, die sich in den kommenden Jahren mit zunehmender Treibhausgaskonzentration und Erderwärmung noch verschärfen werden. Es bedarf unverzüglicher Maßnahmen für die Festlegung und Umsetzung ehrgeiziger Ziele für die Emissionssenkung bis 2020 im Hinblick auf noch weitreichendere Verringerungen in den Folgejahren. Je früher diese Verringerungen erreicht werden können, desto stärker werden sie die Erderwärmung verlangsamen.

8.2

Die Industrieländer weisen eine weitaus höhere Pro-Kopf-Emissionsquote als die übrigen Länder auf und müssen daher ihr Engagement und ihre Maßnahmen zur Emissionsverringerung deutlich voranbringen. Die EU muss sicherstellen, dass sie ihre 2012-Ziele auch tatsächlich erreicht, und sich anschließend zu einer 30 %-Senkung bis 2020 — dem letztlichen Ziel — verpflichten. Um auch wirklich glaubhaft zu sein, muss sie ein weiteres Paket aufeinander abgestimmter und realistischer Maßnahmen annehmen, mit denen diese Ziele erreicht werden können, und bereits jetzt die weiteren, nach 2020 erforderlichen Verringerungen ins Auge fassen.

8.3

Die Entwicklungsländer müssen ebenfalls in die Pflicht genommen werden. Es gilt, besondere Anstrengungen zur Umstellung der energieintensivsten Industriezweige dieser Länder auf die energieeffizientesten und CO2-ärmsten Herstellungsmethoden zu unternehmen. Hierfür werden die Entwicklungsländer auf erhebliche und gezielte Unterstützung seitens der Industrieländer angewiesen sein.

8.4

Die Parameter des Global Deal, dessen Formulierung Gegenstand der für die kommenden 18 Monate anberaumten internationalen Verhandlungen ist, müssen so schnell wie möglich festgelegt werden, damit dann die politischen Bemühungen darauf ausgerichtet werden können, diese Problematik zu vermitteln und die Unterstützung, das Vertrauen und das Engagement aller Akteure weltweit in Bezug auf die kommenden grundlegenden Veränderungen zu gewinnen. Dieser Global Deal darf nicht hinter verschlossenen Türen ausgehandelt werden, es müssen vielmehr alle Akteure eingebunden werden. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels müssen realistisch, wirtschaftlich und sozial verträglich und in dem vorgeschlagenen Zeitraum durchführbar sein.

8.5

Der notwendige weltweite Wandel ist hinsichtlich seiner Größenordnung und der industriellen Revolution der letzten beiden Jahrhunderte zu vergleichen, in deren Rahmen die fossilen Brennstoffe zur Energieerzeugung genutzt wurden, um eine massive Steigerung von Produktionskapazität und gesellschaftlicher Produktivität zu erzielen. Es bedarf nun einer zweiten industriellen Revolution, um die fossilen Brennstoffe durch andere Energieträger zu ersetzen und die Energieeffizienz zu optimieren, damit ein vergleichbares Produktivitäts- und Wachstumsniveau erreicht werden kann, ohne allerdings die Atmosphäre mit Treibhausgasemissionen in nicht nachhaltiger Höhe zu belasten. Hierfür sind umfassende Investitionen ebenso erforderlich wie grundlegende Änderungen des wirtschaftlichen und menschlichen Verhaltens. Jeder Bürger muss sich der Problematik bewusst sein und seinen Beitrag zu den erforderlichen Veränderungen leisten.

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses CESE 1201/2008, am 9. Juli 2008 verabschiedet.

(2)  Siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses CESE 1202/2008, am 9. Juli 2008 verabschiedet.

(3)  Siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses CESE 1511/2008, am 17. September 2008 verabschiedet.

(4)  Siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses CESE 1513/2008, am 17. September 2008 verabschiedet.

(5)  Siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses CESE 1203/2008, am 9. Juli 2008 verabschiedet.

(6)  Siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses CESE 1500/2008, am 17. September 2008 verabschiedet.

(7)  KOM(2007) 757 endg.

(8)  ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 38.

(9)  „No Lose Targets“: eine Verpflichtung zur Emissionsminderung in einer bestimmten Größenordnung. Wird diese nicht erreicht, werden keine Sanktionen verhängt; wird sie jedoch sogar überschritten, kann der „Überschuss“ verkauft werden.


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/81


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel“

KOM(2008) 40 endg. — 2008/0028 (COD)

(2009/C 77/20)

Der Rat beschloss am 10. März 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 2. September 2008 an. Berichterstatter war Herr ESPUNY MOYANO.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 18. September) mit 77 gegen 3 Stimmen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt diese Initiative der Kommission, die nicht nur für eine Vereinfachung der Rechtsvorschriften sorgt, sondern den Verbrauchern zudem das Verständnis erleichtern soll.

1.2

Der EWSA möchte jedoch darauf hinweisen, dass die in Ziffer 3.4.1 angegebenen Informationen einen Großteil ihres Wertes und ihrer Ziele verlieren, wenn sie im Vorfeld nicht mit entsprechenden Maßnahmen zur Aufklärung der Endverbraucher einhergehen. In diesem Zusammenhang bedauert der EWSA, dass der Vorschlag nicht von Maßnahmen zur Förderung der Aufklärung der Verbraucher — sowohl auf einzelstaatlicher als auch auf europäischer Ebene — begleitet ist. So könnte zumindest ein Leitfaden mit entsprechenden vorrangigen Maßnahmen als Anhang zur Verordnung einen sehr nützlichen ersten Schritt bilden.

1.3

In Bezug auf die Erwähnung des Ursprungslands werden die Bestimmungen der derzeitigen Verordnung beibehalten. Angesichts des Interesses, das die Verbraucher dem Ursprung von Lebensmitteln entgegenbringen, bedauert der EWSA, dass in dem neuen Verordnungsvorschlag die Angabe des Ursprungslands auf dem Etikett nicht zwingend vorgeschrieben wird. Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass zwischen Erst- und Zweitverarbeitungserzeugnissen unterschieden werden sollte, wobei bei Letzteren von Fall zu Fall entschieden werden sollte, ob eine Angabe der darin enthaltenen landwirtschaftlichen Grundstoffe zwingend erforderlich ist.

1.4

Der EWSA bringt seine große Besorgnis über die in Kapitel VII des Vorschlags beschriebene Entwicklung zusätzlicher „nationaler Systeme“ zum Ausdruck, die keine ergänzenden positiven Elemente beitragen, sondern zu einem Vorwand werden, um den freien Verkehr im Binnenmarkt zu beeinträchtigen. Diese Gefahr ist für die KMU besonders groß, da — wie die Kommission in ihrer Mitteilung selbst hervorhebt — 65 % der Lebensmittelunternehmen ihre Erzeugnisse in anderen Mitgliedstaaten in Verkehr bringen und die KMU daher größere Schwierigkeiten haben werden, ihre Erzeugnisse in andere Mitgliedstaaten auszuführen, was sich auf ihre Kosten und ihre Wettbewerbsfähigkeit auswirkt. Derartige negative Auswirkungen können nur dann vermieden werden, wenn die „nationalen Systeme“ als ergänzende, für die Kennzeichnung nicht zwingende Informationen beibehalten werden, die jedoch über andere Medien (Internet, gebührenfreie Rufnummern usw.) abgerufen werden können.

1.5

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission aus Gründen der Kohärenz plant, dieselbe Ausnahmeregelung auf Erzeugnisse mit Alkoholgehalt anzuwenden, und ist der Auffassung, dass diese Regelung innerhalb von fünf Jahren nach dem entsprechenden Bericht überdacht werden könnte.

1.6

Der EWSA schlägt daher vor, dass sich die Mitgliedstaaten der notwendigen Liste der Verstöße und Sanktionen bedienen, um der Nichterfüllung dieser gemeinsamen Bestimmungen vorzubeugen, die harmonisiert werden müssen, damit dieselben Vorgehensweisen in allen Mitgliedstaaten mit vergleichbarer Schärfe bestraft werden.

1.7

Ebenso fordert der EWSA die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, Anstrengungen zur Schaffung von Informationsinstrumenten zu unternehmen, speziell einer öffentlich abrufbaren Datenbank über diejenigen Informationen, die zwingend auf dem Etikett der Lebensmittel erscheinen müssen, damit die Unternehmen, Verbraucher und Behörden bei der Anwendung der Rechtsvorschriften ein und dieselben Leitlinien verwenden.

1.8

Was die Lesbarkeit betrifft, erscheint die praktische Umsetzung der von der Kommission vorgeschlagenen Anforderung (3 mm) nicht machbar. Es sollten verschiedene Aspekte berücksichtigt werden, wie die Menge an Informationen, Größe und Form der Verpackung usw. Ein vertretbarer Bezugswert könnte die Schriftgröße des EU-Amtsblatts sein.

1.9

Schließlich vertritt der EWSA im Interesse der angestrebten Klarheit und Vereinfachung die Meinung, dass die Verweise auf die aufgehobenen Rechtsvorschriften unmissverständlicher sein sollten, wodurch die Lesbarkeit und die Anwendung der Verordnung verbessert würden.

2.   Zusammenfassung des Vorschlags der Kommission

2.1

Zweck dieses Vorschlags ist es, die derzeitigen Rechtsvorschriften über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (einschließlich der Nährwertkennzeichnung) zu Zwecken der Modernisierung, Vereinfachung und Klarstellung in einer Verordnung zu konsolidieren.

2.2

Mit dem Vorschlag werden die bislang geltenden Bestimmungen im Bereich der Lebensmittelkennzeichnung aufgehoben, und zwar die Richtlinien 2000/13/EG, 90/496/EWG (innerhalb von fünf Jahren), 87/250/EWG, 94/54/EG, 1999/10/EG, 2002/67/EG, 2004/77/EG sowie die Verordnung 608/2004.

2.3

Die grundlegenden Ziele des Vorschlags sind ein hohes Verbraucherschutzniveau und das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes.

2.4

Der Anwendungsbereich wird auf sämtliche Aspekte der den Verbrauchern seitens der Wirtschaftsteilnehmer zur Verfügung gestellten Lebensmittelinformationen ausgeweitet und erstreckt sich auch auf Lebensmittel, die von Anbietern von Gemeinschaftsverpflegung abgegeben werden, sowie auf Lebensmittel, die für die Lieferung an Anbieter von Gemeinschaftsverpflegung bestimmt sind.

2.5

Die in den vorhergehenden Rechtsvorschriften festgelegten allgemeinen Grundsätze und die Kennzeichnungspflichten werden beibehalten, während einige Aspekte, wie die Zuständigkeiten der einzelnen Glieder der Lebensmittelkette oder die zwingende Angabe des Ursprungslands, erweitert werden.

2.6

Die Nährwertkennzeichnung wird im Vergleich zu den vorher geltenden Rechtsvorschriften wesentlich dahingehend geändert, dass nunmehr sechs Nährwertgruppen oder Stoffe mengenmäßig und als Prozentsatz der empfohlenen Tagesdosis angegeben werden müssen.

2.7

Ein weitere wesentliche Änderung besteht darin, dass zusätzlich zu der Verordnung „nationale Systeme“ der Nährwertkennzeichnung eingeführt werden können, mit denen die Modalitäten für die Darstellung der auf den Etiketten angegebenen Nährwertinformationen um freiwillige, auf nationaler Ebene festgelegte Anforderungen ergänzt werden.

2.8

Der Vorschlag sieht vor, dass viele der für diesen Vorschlag für erforderlich erachteten Änderungen im Wege des Komitologieverfahrens vorgenommen werden. Es sind verschiedene Übergangsfristen vorgesehen, um das Inkrafttreten zu erleichtern.

2.9

In den Anhängen werden folgende Punkte detailliert beschrieben: Zutaten, die Allergien oder Unverträglichkeiten auslösen; vorgeschriebene zusätzliche Angaben; Ausnahmen für die Nährwertkennzeichnung; Bezeichnung des Lebensmittels; quantitative Angabe und Bezeichnung der Zutaten; Angabe der Nettomenge; Verbrauchsdatum; Alkoholgehalt; Referenzmengen; Energiewert; Abfassung und Gliederung der Nährwertdeklaration.

2.10

Schließlich ist vorgesehen, dass die Verordnung am zwanzigsten Tag nach ihrer Verabschiedung in Kraft tritt, obwohl die effektive Umsetzung der vorgeschriebenen Angaben und der Nährwertdeklaration erst drei Jahre später erfolgt (bzw. fünf Jahre für Letztere im Falle von KMU).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Konsolidierung, Aktualisierung und Vereinfachung

3.1.1

Die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür hat im Laufe der letzten nahezu 30 Jahre zur Aufrechterhaltung eines hohen Verbraucherschutzniveaus und zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts beigetragen.

3.1.2

Mit dem Vorschlag wird bezweckt, die geltenden Rechtsvorschriften zu konsolidieren und zu aktualisieren sowie den Verwaltungsaufwand zu reduzieren und für die Verbraucher mehr Transparenz zu schaffen. Der EWSA begrüßt die verfolgten Ziele, bemängelt jedoch die Komplexität des vorgeschlagenen Textes, die einer unmittelbaren Anwendbarkeit der Verordnung entgegensteht.

3.2   Entwicklung von zusätzlichen „nationalen Systemen“

3.2.1

Eine Verordnung, mit der die verstreuten geltenden Rechtsvorschriften konsolidiert und aktualisiert werden sollen, wird zu größerer Einheitlichkeit des Verbraucherschutzniveaus und besserer Harmonisierung führen. Der EWSA bringt jedoch seine Besorgnis über die Einführung der in Artikel 44 ff. vorgesehenen so genannten „nationalen Systeme“ zum Ausdruck, da sie eine Bedrohung für die erwünschte Harmonisierung und Einheitlichkeit sein können. Gemäß dieser neuen Rechtsvorschriften wird es nämlich erlaubt sein, dass in den einzelnen Mitgliedstaten nationale Systeme mit zusätzlichen Anforderungen verabschiedet werden, die — auch wenn sie freiwillig sind — zu einer Zunahme der Informationen auf den Etiketten führen und die Verbraucher dadurch verwirren könnten.

3.2.2

Das Problem verstärkt sich noch, wenn man berücksichtigt, dass auf jedem nationalen Markt Erzeugnisse aus vielen anderen Mitgliedstaaten zu finden sind. Diese Erzeugnisse können unterschiedliche, in den betreffenden Staaten beschlossene Angaben enthalten, die von den Verbrauchern, die nicht an sie gewohnt sind, möglicherweise nicht verstanden werden.

3.3   Pflichten zur Information über Lebensmittel

3.3.1

Der Vorschlag gibt in seinen Artikeln praktisch die meisten der vorgeschriebenen Angaben wieder, die auch schon in den geltenden Rechtvorschriften vorgesehen sind und sich für den Schutz der Gesundheit und der Verbraucherinteressen als nützlich erwiesen haben (wie Bezeichnung, Zutatenverzeichnis, Menge, Daten, Name oder Firma und Anschrift eines Verantwortlichen). Einige dieser Angaben werden in den Anhängen detaillierter ausgeführt.

3.3.2

Die Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, dass solche Pflichtinformationen zweckmäßig sind und beibehalten werden müssen. In Anbetracht dieser Erfahrungen dringt der EWSA darauf, auch die Angabe des Ursprungs der Lebensmittel und Erstverarbeitungserzeugnisse sowie — auf der Grundlage einer Fall-zu-Fall-Bewertung der Zweitverarbeitungserzeugnisse — der wichtigsten für die Verarbeitung des Produkts verwendeten Zutaten zwingend vorzuschreiben.

3.4   Nährwertdeklaration

3.4.1

Es ist zweckmäßig, über das Erfordernis einer Nährwertaufklärung der europäischen Verbraucher nachzudenken, um ihnen eine ausgewogenen Ernährung zu ermöglichen. Die europäischen Verbraucher benötigen eine Grundausbildung in Ernährungsfragen, da sie ansonsten die Informationen, die sie erhalten, weder verstehen noch korrekt nutzen. Denkbar sind Maßnahmen zur Steigerung der Menge an Nährwertinformationen, wobei allerdings nicht vergessen werden darf, dass derartige Maßnahmen ohne eine entsprechende Ernährungsschulung nicht die erwartete Wirkung haben.

3.4.2

Angesichts der Ernährungsungleichgewichte der europäischen Bevölkerung ist es notwendig, dass jede Informationsmaßnahme mit intensiven Bemühungen um Aufklärung einhergeht.

3.4.3

Der Vorschlag bringt aus verschiedenen Gründen erhebliche Veränderungen im Vergleich zu den geltenden Rechtsvorschriften mit sich. Erstens werden Informationen zum Nährwert als verpflichtend erachtet, während sie in Richtlinie 90/496/EWG freiwillig waren. Zweitens wird die Deklaration folgender Elemente vorgeschrieben: Energiewert/Fett/gesättigte Fettsäuren/Kohlenhydrate/Zucker/Salz. Drittens soll nicht nur die Menge dieser Stoffe, sondern auch der Prozentsatz der empfohlenen Tagesdosis angegeben werden, um den Verbrauchern auf diese Weise Anhaltspunkte bezüglich der angemessenen Menge zu geben, die im Rahmen einer ausgewogenen Ernährung verzehrt werden kann. Viertens schreibt der Entwurf vor, dass diese Informationen im Hauptblickfeld der Verpackung erscheinen und in einer bestimmten Reihenfolge dargeboten werden.

3.4.4

Angesichts des Umfangs der vorgeschriebenen Informationen, die auf den Etiketten stehen sollen, muss gründlich abgewogen werden, welche Nährwertinformationen für die Verbraucher von Nutzen sind. Der Übergang von einer freiwilligen zu einer obligatorischen Nährwertkennzeichnung wird für viele KMU der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft schon an sich eine große Änderung bedeuten. Die vorgeschriebenen Informationen könnten sich deshalb auf die derzeit empfohlenen freiwilligen Angaben beschränken, nämlich den Energiewert und den Eiweiß-, Kohlenhydrat- und Fettgehalt.

3.4.5

Der grundlegende Vorzug des von der Kommission vorgeschlagenen Modells für die Nährwertkennzeichnung besteht darin, dass es Informationen (empfohlene Tagesdosis) liefert, die den Verbrauchern Anhaltspunkte darüber geben, wie das Erzeugnis in das gewünschte Ernährungsschema integriert werden muss, und dass es das Erzeugnis nicht als solches, sondern im Gesamternährungskontext charakterisiert, wie dies von Ernährungsexperten empfohlen wird.

3.5   Ausweitung der vorgeschriebenen Angaben über das Ursprungsland des Lebensmittels

3.5.1

In den geltenden Rechtvorschriften war bereits vorgeschrieben, dass in Fällen, die zur Verwirrung der Verbraucher führen könnten, das Ursprungsland angegeben werden muss.

3.5.2

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Angabe des Ursprungslands nicht nur den Verbraucherbedürfnissen gerecht wird, sondern auch effizient zur Verbesserung der Transparenz auf den Märkten und zur Förderung der künftigen Entwicklung des Agrarsektors und der ländlichen Gebiete in der gesamten EU beiträgt. Die Herstellung einer direkten Verbindung zum Ursprungsgebiet der Lebensmittel und die Angabe der Produktionsmodelle, die im Zusammenhang mit den Lebensmitteln stehen, bilden die wichtigsten Faktoren, auf dem das europäische Entwicklungsmodell beruht. Dieses Entwicklungsmodell gründet auf der Einhaltung von Vorschriften, die Lebensmittelsicherheit, Umweltsicherheit, Tierschutz und angemessene Standards für die öffentliche Gesundheit gewährleisten.

3.5.3

Deshalb muss die Angabe des Ursprungslands für alle nichtverarbeiteten oder erstverarbeiteten Agrarerzeugnisse und Lebensmittel verbindlich vorgeschrieben werden. Bei zweitverarbeiteten Lebensmitteln muss von Fall zu Fall bewertet werden, ob die Herkunft der landwirtschaftlichen Rohstoffe angegeben werden muss, die bei der Herstellung des Enderzeugnisses im Wesentlichen zum Einsatz kamen.

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/84


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Inverkehrbringen und die Verwendung von Futtermitteln“

KOM(2008) 124 endg. — 2008/0050 (COD)

(2009/C 77/21)

Der Rat beschloss am 18. März 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 37 und Artikel 152 Absatz 4 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Inverkehrbringen und die Verwendung von Futtermitteln“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 2. September 2008 an. Berichterstatter war Herr Allen.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) einstimmig folgende Stellungnahme.

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt die von der Kommission vorgeschlagene Verordnung.

1.2

Der EWSA befürwortet den in Artikel 4 Absatz 1 und Artikel 5 Absatz 1 enthaltenen Vorschlag, die einschlägigen Abschnitte der Verordnung über Futtermittelhygiene und der Verordnung über das EU-Lebensmittelrecht sowohl auf Heimtierfuttermittel als auch auf Futtermittel für zur Lebensmittelerzeugung gehaltene Tiere anzuwenden.

1.3

Um überprüfen zu können, ob die Kennzeichnungsangaben exakt sind, müssen die kontrollierenden Behörden Zugang zu allen Informationen über die Zusammensetzung oder die behaupteten Eigenschaften des auf den Markt gebrachten Futtermittels haben.

1.4

Futtermittelunternehmer, die erstmalig Futtermittel auf den EU-Markt bringen und die Futtermittel oder Futtermittel-Ausgangserzeugnisse verwenden, die in die EU importiert wurden, müssen gewährleisten, dass diese Importe den Normen entsprechen, die auch für Ausgangserzeugnisse innereuropäischen Ursprungs gelten. Dies muss durch die Kontrollbehörden nachprüfbar sein.

1.5

Es muss gewährleistet sein, dass die Person, die für die auf der Tierfutterverpackung angebotenen kostenlosen telefonischen Auskünfte zuständig ist, hinreichend qualifiziert ist, um die Kundenfragen kompetent und umgehend zu beantworten.

1.6

Artikel 17 Absatz 1 Buchstaben a) und b) sollte in jedem Fall Anwendung finden, d.h. die Tierkategorie, für die das Futtermittel bestimmt ist, und die Anweisungen für die ordnungsgemäße Verwendung müssen stets auf der Verpackung eines Mischfuttermittels angegeben werden.

2.   Hintergrund

2.1

Zurzeit wird das Inverkehrbringen von Futtermittel-Ausgangserzeugnissen und Mischfuttermitteln von fünf alten Richtlinien des Rates und ungefähr 50 Änderungs- oder Durchführungsakten geregelt. Die Rechtsvorschriften sind extrem zerfasert und enthalten so viele Verweise, dass sie nur schwer zu verstehen und einheitlich in den einzelnen Mitgliedstaaten umzusetzen sind. So haben z.B. zwei Mitgliedstaaten die Richtlinie hinsichtlich der erlaubten Menge von Vitamin D3 in Mischfutter unterschiedlich angewendet.

2.2

Nur 2,6 % der hergestellten EU-Mischfuttermittel gelangen gegenwärtig in den innergemeinschaftlichen Handel — möglicherweise ein Hinweis auf Handelshemmnisse und eine Uneinheitlichkeit bei der Umsetzung der bestehenden Richtlinien.

2.3

2005 erzeugten fünf Millionen Viehhalter in der EU-25 Milch, Schweinefleisch, Geflügel, Rind- und Kalbfleisch im Gesamtwert von 129 Milliarden EUR. Es wurden Mischfuttermittel im Wert von 37 Milliarden EUR gekauft. Die europäische Futtermittelindustrie (ohne Heimtierfuttermittel) bietet direkte Beschäftigung für 100 000 Personen in ungefähr 4 000 Betrieben.

2.4

Bei etwa 48 % der Futtermittel handelt es sich um Raufutter, das in den landwirtschaftlichen Betrieben produziert wird, z.B. Gras, Silage, Heu, Mais usw. Zugekauftes Mischfutter macht 32 % der Futtermittel aus.

2.5

Ungefähr 62 Millionen EU-Haushalte halten Haustiere. Der EU-Markt für Heimtierfuttermittel wird auf eine Größenordnung von ungefähr 9 Milliarden EUR pro Jahr, die direkte Beschäftigung auf 21 000 Personen geschätzt.

2.6

Die Kennzeichnung dient der Durchsetzung, Rückverfolgbarkeit und Kontrolle sowie der Information der Verwender.

2.7

Kritische Stimmen mahnen, dass die Verbraucher durch die gegenwärtige Rechtslage hinsichtlich der Kennzeichnung von Heimtierfuttermitteln über die Qualität und die Art der Inhaltsstoffe des jeweiligen Tierfutters irregeführt werden können.

3.   Begriffsbestimmungen für Tierfutter

3.1

Tierfutter kann in vier Kategorien eingeteilt werden:

a)

Futtermittel-Ausgangserzeugnisse, die direkt verfüttert werden können, wie Gras oder Getreide, bzw. Futtermittel-Ausgangserzeugnisse, die Bestandteil von Mischfuttermitteln sein können.

b)

Futtermittelzusatzstoffe, d.h. Substanzen wie Mikroorganismen oder Zubereitungen (keine Futtermittel-Ausgangserzeugnisse oder Vormischungen), die dem Futter zu bestimmten Zwecken zugesetzt werden.

c)

Mischfuttermittel bestehen aus einer Mischung von Futtermittel-Ausgangserzeugnissen und können Zusatzstoffe enthalten, die zur oralen Fütterung in Form eines Alleinfuttermittels oder Ergänzungsfuttermittels bestimmt sind.

d)

Fütterungsarzneimittel, d.h. Futtermittel, die Tierarzneimittel zur Verabreichung an Tiere ohne weitere Bearbeitung enthalten.

3.2

Futtermittel-Ausgangserzeugnisse und Mischfuttermittel sind die mit Abstand am häufigsten verwendeten Arten von Futtermitteln.

4.   Der Vorschlag der Kommission

4.1

Der Vorschlag ist Teil des fortlaufenden Programms der Kommission zur Vereinfachung des Gemeinschaftsrechts; er steht im Einklang mit dem Bemühen der Kommission um eine bessere Rechtsetzung und mit der Strategie von Lissabon.

4.2

Zurzeit sind die allgemeinen Bestimmungen über das Inverkehrbringen von Futtermitteln, einschließlich Heimtierfutter, je nach Art der Futtermittel auf mehrere Richtlinien verteilt. Die Richtlinie 79/373/EWG bezieht sich auf Mischfuttermittel, und die Richtlinie 93/74/EWG regelt den Verkehr mit Futtermitteln für besondere Ernährungszwecke („Diätfuttermittel“). Die Richtlinie 96/25/EG enthält die allgemeinen Bestimmungen für das Inverkehrbringen und die Verwendung von Futtermittel-Ausgangserzeugnissen, und die Richtlinie 82/471/EWG legt die Vermarktungsbedingungen für bestimmte Produkte fest, die zur Kategorie der Futtermittel-Ausgangserzeugnisse zählen und für die Tierernährung verwendet werden („Bioproteine“). Mit dem nun vorgelegten Vorschlag sollen alle genannten Bestimmungen zusammengefasst, vereinfacht, weiterentwickelt und auf den neuesten Stand gebracht werden.

4.3

Die TSE-Verordnung (999/2001) verbietet die Verfütterung von Fleisch- und Knochenmehl an zur Lebensmittelerzeugung gehaltene Tiere. Die Verordnung über tierische Nebenprodukte (1774/2002) legt die Bedingungen für die Verwendung dieser Produkte als Tierfuttermittel fest. Die Verordnung über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel (1829/2003) enthält Bestimmungen für die Verwendung genetisch veränderter Futtermittel. Die Verordnung über Futtermittelhygiene (183/2005) regelt Fragen der Sicherheit bei der Herstellung von Futtermitteln. Diese Verordnungen, die dem neuen integrierten Ansatz für die Lebensmittelsicherheit „vom Hof auf den Tisch“ entsprechen, bleiben unverändert bestehen.

4.4

Ziel der vorgeschlagenen neuen Verordnung ist es, die bestehenden Richtlinien über das Inverkehrbringen von Futtermittel-Ausgangserzeugnissen und Mischfuttermitteln und deren Kennzeichnung zu konsolidieren, zu überarbeiten und zu modernisieren.

4.5

Das Subsidiaritätsprinzip gilt insofern, als der Vorschlag nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt. Der Vorschlag entspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da damit der Regelungsrahmen für das Inverkehrbringen und die Verwendung von Futtermitteln harmonisiert wird.

4.6

Mit dem Vorschlag sollen unnötige und ineffiziente Kennzeichnungspflichten abgeschafft werden. Es wird vorgeschlagen, dass für die Kennzeichnung der Inhaltsstoffe die gleichen Anforderungen gelten wie für die Lebensmittelkennzeichnung. Nach den neuen Bestimmungen wäre es nicht mehr erforderlich, alle Ausgangserzeugnisse in Prozentzahlen, sondern lediglich in der Reihenfolge ihrer Gewichtsanteile anzugeben. Zurzeit müssen alle Futtermittel-Ausgangserzeugnisse, die in Mischfuttermitteln für Tiere für die Lebensmittelerzeugung verwendet werden, mit ihrem prozentualen Anteil am Gesamtgewicht angegeben werden, allerdings mit einer Toleranz von +/- 15 %. Wie groß der zugemischte Anteil genau ist, kann der Landwirt daraus nicht ersehen. Dem neuen Vorschlag zufolge müssen vom Hersteller freiwillig gemachte Angaben über den prozentualen Anteil jedoch exakt sein. Außerdem muss der Prozentanteil von Ausgangserzeugnissen in Mischfuttermitteln, auf deren Etikett diese genannt sind, genau angegeben sein. Ferner können Viehhalter Informationen zu der Zusammensetzung der Futtermittel anfordern, die über die Reihenfolge der Ausgangsstoff-Gewichtsanteile hinausgehen. Diese können vom Hersteller nur dann verweigert werden, wenn es sich um Geschäftsgeheimnisse handelt.

4.7

Der Name des Futtermittelunternehmers, der erstmalig ein Mischfuttermittel auf den EU-Markt bringt, muss auf dem Etikett deutlich angegeben sein.

4.8

Alle freiwillig auf dem Etikett vermerkten Angaben müssen zutreffend und für den Endnutzer verständlich sein.

4.9

Die Kommission wird verpflichtet, eine Liste von Stoffen, deren Inverkehrbringen verboten ist, zu erstellen und fortlaufend zu aktualisieren. Zudem kann die Kommission Leitlinien zur Klärung der Unterscheidung zwischen Futtermittel-Ausgangserzeugnissen, Futtermittelzusatzstoffen und Tierarzneimitteln herausgeben.

4.10

Das Erfordernis einer vorherigen Zulassung für das Inverkehrbringen muss im Verhältnis zum Risiko stehen, und es muss gewährleistet sein, dass die richtige Verwendung neuer Futtermittel-Ausgangserzeugnisse ordnungsgemäß angegeben ist. Der integrierte Ansatz für die Lebensmittelsicherheit „vom Hof auf den Tisch“ (im Rahmen der Verordnung 178/2002) ermöglicht einen unbedenklichen Abbau von Verwaltungsaufwand in diesem Bereich. Es besteht kein Grund, Bioproteine und neue Futtermittel-Ausgangserzeugnisse generell einem Zulassungsverfahren zu unterziehen.

4.11

Tendenziell lässt sich aufgrund des stärkeren Wettbewerbs um die Grundgetreidearten zur Erzeugung von Futtermitteln, Lebensmitteln und Kraftstoffen eine zunehmende Verfügbarkeit von Nebenerzeugnissen für Futterrationen beobachten. Das Fehlen eindeutiger Produktinformationen trägt zu einer unzureichenden Nutzung dieser Ausgangserzeugnisse bei.

4.12

Es wird vorgeschlagen, alle betroffenen Kreise (und die Verwender) in die Erstellung eines Gemeinschaftskatalogs der Futtermittel-Ausgangserzeugnisse einzubeziehen, der umfassender und besser an Marktentwicklungen anpassbar ist als die derzeitige unvollständige Liste in der Richtlinie. Die betroffenen Kreise sollen zudem aufgefordert werden, im Rahmen der freiwilligen Kennzeichnung gemeinschaftliche Verhaltenskodizes für die gute Kennzeichnungspraxis zu erarbeiten. Heimtierfuttermittel und Futtermittel für Tiere für die Lebensmittelerzeugung sollen dabei jeweils in einem eigenen Kodex behandelt werden. Die Kommission wird an der Erarbeitung des freiwilligen Gemeinschaftskatalogs und der Verhaltenskodizes beratend beteiligt sein, beide Maßnahmen unterliegen der abschließenden Billigung durch die Kommission (Koregulierung).

4.13

Die Kennzeichnung von Futtermittelzusatzstoffen wäre generell nur für kritische Zusatzstoffe zwingend erforderlich. Die übrigen Zusatzstoffe könnten entsprechend dem im Wege der Koregulierung gebilligten und für die jeweilige Sparte geltenden Verhaltenskodex für die gute Kennzeichnungspraxis angegeben werden.

4.14

Bei Heimtierfuttermitteln soll die Kennzeichnung verbessert werden, um Kaufentscheidungen zu erleichtern und Irreführung zu vermeiden. Alle nährwertbezogenen Angaben müssen wissenschaftlich als korrekt überprüfbar sein. Nach Artikel 19 ist auf dem Etikett von Heimtierfutter eine kostenfreie Telefonnummer anzugeben, über die der Kunde Informationen über Futtermittelzusatzstoffe und die nach Kategorien genannten Futtermittel-Ausgangserzeugnisse erhalten kann.

4.15

Ein Futtermittel für besondere Ernährungszwecke darf nur als solches in Verkehr gebracht werden, wenn es den wichtigsten angegebenen Ernährungsmerkmalen entspricht und wenn es genehmigt und in das Verzeichnis gemäß Artikel 10 aufgenommen wurde. Nach Artikel 13 Absatz 3 darf durch die Kennzeichnung oder Aufmachung eines Futtermittels nicht behauptet werden, dass es eine Krankheit verhindert, behandelt oder heilt.

4.16

Die Kennzeichnung und Aufmachung von Futtermitteln dürfen nicht zur Irreführung der Verwender führen. Die verbindlichen Kennzeichnungsangaben müssen vollständig und deutlich sichtbar auf der Verpackung angebracht sein.

4.17

Der Futtermittelunternehmer, der erstmalig Futtermittel auf den EU-Markt bringt, ist für die Kennzeichnungsangaben verantwortlich und sichert das Vorhandensein der angegebenen Stoffe und die inhaltliche Genauigkeit der Angaben zu.

5.   Allgemeine Bemerkungen

5.1

Durch das neue allgemeine Lebensmittelrecht, die Verordnung zur Futtermittelhygiene und deren Umsetzungsmaßnahmen hat sich die Nahrungsmittel- und Futtermittelsicherheit deutlich verbessert. Das verbesserte System zur Rückverfolgbarkeit und die Einführung des HACCP-Prinzips (Hazard analysis and critical control point) in Futtermittelbetrieben gewährleistet allgemein eine höhere Futtermittelsicherheit.

5.2

Durch die vorgeschlagenen Veränderungen dürfen die Sicherheitsstandards, die für zur Lebensmittelerzeugung gehaltene Tiere notwendig sind, in keiner Weise beeinträchtigt werden.

5.3

Futtermittelunternehmer müssen den zuständigen Behörden alle Informationen zukommen lassen, die erforderlich sind, um eine ordnungsgemäße Einhaltung der Bestimmungen zu gewährleisten.

5.4

Ein reduzierter Verwaltungsaufwand ist generell zu begrüßen, da in Anbetracht der bürokratischen Anforderungen in vielen Fällen eine Überregulierung festzustellen ist.

5.5

Die Verfütterung von Fleisch- und Knochenmehl an Wiederkäuer, die zur Lebensmittelerzeugung gehalten werden, darf selbstverständlich auf keinen Fall zugelassen werden. Die TSE-Verordnung (999/2001) verbietet derzeit die Verfütterung von Fleisch- und Knochenmehl an Wiederkäuer. Es kann in Heimtierfuttermitteln verwendet werden. In der vorgeschlagenen Verordnung sind insofern keine Veränderungen hinsichtlich der Verwendung von Fleisch- und Knochenmehl vorgesehen, als diese Frage nicht den Anwendungsbereich des vorliegenden Vorschlags für eine Verordnung betrifft. Dieses Thema müsste im Rahmen des Vorschlags für eine Verordnung über Hygienevorschriften für nicht für den menschlichen Verzehr bestimmte tierische Nebenprodukte behandelt werden.

5.6

Mischfuttermittel werden in der Regel in Gegenden hergestellt, wo es Viehhaltung gibt. Die Produktionsanlagen befinden sich daher häufig in ländlichen Gebieten, die nur in eingeschränktem Maße über anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten verfügen. Auch für den Transport von Tierfuttermitteln zu den landwirtschaftlichen Betrieben ist es zweckmäßig, über ein lokales Vertriebssystem zu verfügen, das lange Lieferanfahrten per Lkw erspart und somit zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen beiträgt.

5.7

Die Kommission hebt hervor, dass der innergemeinschaftliche Handel mit Mischfuttermitteln von geringem Umfang ist, und vertritt die Auffassung, dass mit der vorgeschlagenen Verordnung der Wettbewerb durch die Förderung des innergemeinschaftlichen Mischfutterhandels verbessert wird.

6.   Besondere Bemerkungen

6.1

Der EWSA begrüßt allgemein den Vorschlag, die Vorschriften für die Tierfuttermittelbranche zu vereinfachen, zusammenzufassen und zu verbessern.

6.2

Die vorgeschlagene neue Verordnung gibt den Futtermittelunternehmern mehr Freiheit und mehr Verantwortung. Nach Artikel 12 Absatz 1 ist der Futtermittelhersteller für die Kennzeichnungsangaben verantwortlich, gewährleistet ihr Vorhandensein und ihre inhaltliche Genauigkeit. Darüber hinaus müssen auch die Vorschriften der vorliegenden Verordnung sowie die Vorschriften der anderen einschlägigen Verordnungen (wie z.B. 183/2005, 178/2002 und 1831/2003) eingehalten werden. Es besteht Unklarheit darüber, inwieweit die zuständigen Behörden dies prüfen und überwachen werden. Durch die Verordnung 882/2004 werden allgemeine Bestimmungen für die Durchführung amtlicher Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung der Rechtsvorschriften festgelegt, die konsequente Umsetzung muss jedoch durch das Lebensmittel- und Veterinäramt gewährleistet werden. Futtermittelunternehmer, die erstmalig Futter auf den EU-Markt bringen und in die EU importierte Erzeugnisse verwenden, müssen entsprechenden Kontrollen unterzogen werden, um sicherzustellen, dass diese Importe den gleichen Normen entsprechen wie Erzeugnisse innereuropäischen Ursprungs.

6.3

Der Umstand, dass den Futtermittelherstellern in ihrer unternehmerischen Tätigkeit mehr Verantwortung übertragen wird, kann dazu führen, dass im Falle eines gravierenden Problems durch die Kontaminierung von Futtermitteln mit giftigen Substanzen oder durch Futtermittel, die sich für die Tierhaltung oder die Umwelt als schädlich erweisen (was besonders für neue Futtermittel-Ausgangserzeugnisse gilt), der Branche, die Tiere für die Lebensmittelerzeugung hält, ernsthafter Schaden entsteht, noch bevor entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Probleme dieser Art könnten noch ernsthaftere Konsequenzen nach sich ziehen, wenn der Hersteller nicht über ausreichend finanzielle Mittel zu ihrer Bewältigung verfügt.

6.4

Die Verwender von Tierfuttermitteln, also die Viehhalter, müssen vor den aus einer solchen Krise resultierenden finanziellen, sozialen und wirtschaftlichen Verlusten angemessen geschützt werden. Darum ist es sinnvoll, dieses Thema in einem eigenen Rechtsrahmen und vor dem Hintergrund des „Berichtes der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die in den Mitgliedstaaten und auf Gemeinschaftsebene geltenden Rechtsvorschriften, Systeme und Gepflogenheiten hinsichtlich der Haftung im Lebens- und Futtermittelsektor und über die auf Gemeinschaftsebene anwendbaren Systeme für Finanzgarantien im Futtermittelsektor“ zu behandeln (1).

6.5

Da in der Vergangenheit gravierende Fehler gemacht wurden, muss in diesem Bereich das Vorsorgeprinzip gelten.

6.6

Da lokale Futtermittelunternehmer von der Kundschaft bevorzugt werden, ist es unwahrscheinlich, dass der innergemeinschaftliche Handel mit Mischfuttermitteln für zur Lebensmittelerzeugung bestimmte Tiere zunehmen wird. Dies könnte sich ändern, falls multinationale Konzerne die Kontrolle über einen großen Teil der Tierfuttermittelbranche übernehmen.

6.7

Es besteht die Gefahr, dass multinationale Konzerne versuchen werden, große Teile der Futtermittelbranche unter ihre Kontrolle zu bringen und so den Wettbewerb einzuschränken. Dies könnte dazu führen, dass die Anzahl der Futtermittelfabriken drastisch sinkt und der innergemeinschaftliche Handel zunimmt. Ein stärkerer Wettbewerb ergibt sich daraus nicht.

6.8

Heimtierhalter benötigen eher gute Ratschläge darüber, welches Futter für ihre Haustiere am besten geeignet ist, als eine Auflistung von Inhaltsstoffen. Erforderlich sind auch Angaben über die angemessene Futtermenge für bestimmte Haustiere sowie darüber, ob es sich um ein Ergänzungsfuttermittel oder ein Alleinfuttermittel handelt.

6.9

Da weltweit die Nachfrage nach Proteinen steigt, muss in der Tierfutterbranche deutlich mehr in Forschung und Entwicklung investiert werden.

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  ABl. C 246 vom 20.10.2007, S. 12.


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/88


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Auswirkungen der aktuellen Entwicklung auf den Energiemärkten auf die industriellen Wertschöpfungsketten in Europa“

(2009/C 77/22)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Januar 2008 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die Auswirkungen der aktuellen Entwicklung auf den Energiemärkten auf die industriellen Wertschöpfungsketten in Europa“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 24. Juni 2008 an. Berichterstatter war Herr ZBOŘIL, Ko-Berichterstatter Herr KERKHOFF.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) mit 62 gegen 5 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Ausschuss nimmt die veränderten Rahmenbedingungen der Energiemärkte zur Kenntnis und erkennt an, dass der vom Menschen verursachte Klimawandel durch eine Senkung der Treibhausgasemissionen eingedämmt werden muss. Die Kosten des Klimawandels und kostenwirksame Ansätze zur Senkung des Klimagasausstoßes sind wichtige Aspekte in der Diskussion über eine Klimapolitik, umso mehr als die globale Energieversorgung bis 2050 verdoppelt werden muss, um den Energiebedarf aller Menschen auf der Erde zu decken. Eine nachhaltige Energie- und Klimapolitik muss so aufgebaut sein, dass einerseits die Erreichung der Zielvorgaben und andererseits die Wahrung der industriellen Wertschöpfungsketten als dem eigentlichen Rückgrat der europäischen Wirtschaft auch unter Berücksichtigung der mit dem Klimawandel verbundenen Schadenskosten gewährleistet ist. Dies liegt in erster Linie im Eigeninteresse der EU.

1.2

Da für die Erzeugung von Grundstoffen durch die Verarbeitung von Rohstoffen zwangsläufig große Mengen von Energie notwendig sind, wirken sich veränderte Energiepreise und Energiesteuern und ähnliche finanzielle Maßnahmen stark auf die Grundstoffindustrie aus. Beim energetischen „Fußabdruck“ der Grundstoffe muss jedoch die gesamte industrielle Wertschöpfungskette einbezogen werden, eine isolierte Betrachtung ist nicht sinnvoll.

1.3

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass sich in der europäischen Wirtschaft Wachstum und Innovation nur auf der Grundlage einer überlebensfähigen Industrie erreichen lassen. Eine wettbewerbsfähige und innovative Grundstoffindustrie ist eine grundlegende Voraussetzung für die industriellen Wertschöpfungsketten. Die Förderung der Umwelttechnik und der erneuerbaren Energien ist ein wichtiges Ziel. Aber auch für Entwicklungen im Bereich der Umwelttechnik bedarf es höchst leistungsfähiger industrieller Wertschöpfungsketten. Sie hängen nämlich weitgehend vom Vorhandensein einer Grundstoffindustrie und von deren Knowhow ab. Innovationen im Umweltschutzbereich lassen sich nur aufgrund einer Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Gliedern der Wertschöpfungskette erzielen. Nur ein allumfassender, die gesamte Wertschöpfungskette umspannender Ansatz ist Garant für den Erfolg.

1.4

Der Ausschuss verweist darauf, dass 40 % des Endenergieverbrauchs in der Europäischen Union auf Gebäude entfallen und diese der größte Einzelenergieverbraucher sind. Bis zu 50 % der Energieeffizienzgewinne können im Gebäudebereich erzielt werden, und zwar unter Verringerung der wirtschaftlichen Kosten. Schon mit derartigen Einsparungen allein könnte die EU ihre Verpflichtungen aus dem Kyoto-Protokoll einhalten. Außerdem können diese Energieeinsparungen mit der heute bereits vorhandenen Technologie erreicht werden. Die Verbesserung der Energieeffizienz von Gebäuden hat überdies ausschließlich positive Auswirkungen wie die Schaffung nutzbringender Arbeitsplätze, niedrigere Betriebskosten, ein verbesserter Komfort und eine sauberere Umwelt. Dies sollte eine absolute Priorität für die Europäische Union sein. Der Ausschuss betont ferner, wie wichtig neue und weiterentwickelte Grundstoffe für Haushalts- und Bürogeräte und andere Sektoren wie den Verkehrs- oder Energiesektor sind.

1.5

Sollten womöglich die energieintensiven Industriezweige an Standorte außerhalb der EU verlagert werden, so hätte dies zur Folge, dass der Industriestandort Europa erheblich an Attraktivität einbüßt, das Wirtschaftswachstum gebremst wird, Arbeitsplätze verloren gehen und das europäische Sozialmodell in Bedrängnis gerät. Aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeiten innerhalb der industriellen Wertschöpfungsketten können diese Verluste nicht kurzfristig durch andere Sektoren, beispielsweise die Umwelttechnik, kompensiert werden. Vielmehr würden diese Sektoren auch an Wettbewerbsfähigkeit verlieren.

1.6

Auch die energieintensiven Industriezweige müssen natürlich einen Beitrag zur Erreichung der politischen Ziele in den Bereichen Energie und Bekämpfung des Klimawandels leisten. Die an sie gestellten Anforderungen müssen aber so gestaltet werden, dass Wettbewerbsnachteile auf den internationalen Märkten weitgehend ausgeschlossen werden können. Die Grundstoffindustrie wird naturgemäß besonders stark von der Entwicklung der Energiepreise beeinflusst. Aus diesem Grund muss bei der Planung energie- und umweltschutzpolitischer Maßnahmen eingehend geprüft werden, inwiefern sie sich auf die Wettbewerbsfähigkeit der Grundstoffindustrie auswirken, und sie müssen entsprechend konzipiert werden.

1.7

Die energieintensiven Industriezweige brauchen eine verlässliche Energieversorgung im Rahmen eines geeigneten europäischen Energiemixes, der keinen Energieträger ausschließt (Kohle, erneuerbare Energieträger, Kernenergie) und sich auf einen effizienten Wettbewerb auf den Strom- und Gasmärkten stützt — letztendlich der Garant für vernünftige Energiepreise. Die nationalen energiepolitischen Interessen sollten stärker auf ein integriertes europäisches Konzept ausgerichtet werden, denn der Energiemarkt bleibt hinter dem Binnenmarkt für Industrieerzeugnisse zurück. Ungeachtet der Entscheidung einiger Mitgliedstaaten, auf die Kernenergienutzung zu verzichten, impliziert die Beibehaltung der Energieerzeugung aus Kernenergie in Europa, dass das entsprechende technologische Fachwissen in Europa aufrechterhalten werden muss. Eine weitere Nutzung der Kernenergie würde ein hohes Sicherheitsniveau und gut ausgebildete Fachkräfte erfordern (1).

1.8

Der Abschluss eines ehrgeizigen internationalen Klimaschutzabkommens ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Bekämpfung des Klimawandels. Es muss Emissionsreduktionsverpflichtungen für alle großen Verursacher von Treibhausgasen beinhalten (entsprechend dem Grundsatz der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten), und zwar auch für die energieintensiven Industrien, um einen fairen Wettbewerb und gleiche Ausgangsbedingungen für alle zu gewährleisten. Solange es ein solches Abkommen noch nicht gibt, sollte im Rahmen des EU-EHS die kostenlose Zuteilung von Emissionsrechten für die energieintensiven Industriezweige bei denen die Gefahr einer Kohlenstoffverlagerung (carbon leakage) besteht, in Betracht gezogen werden, um Risiken für die Wettbewerbsfähigkeit industrieller Standorte und das Wirtschaftswachstum in Europa entgegenzuwirken. Letztendlich sollte ein leistungsorientiertes Zuteilungsverfahren (z.B. Benchmarking) auf der Grundlage der besten verfügbaren Technik gewählt werden.

1.9

Um die Voraussetzungen für einen langfristigen Beitrag zu den Energie- und Klimazielen zu schaffen, empfiehlt der EWSA nachdrücklich, sich auf die Erforschung und Entwicklung neuer Techniken zu konzentrieren, vor allem weil die verfügbaren Herstellungsverfahren weitgehend ausgereift sind. In den Bereichen, in denen es bislang noch keine technischen Lösungen gibt, können die strengeren Energieeffizienz- und Emissionsreduktionsauflagen nicht erfüllt werden. Es gibt bereits funktionierende Strukturen wie bspw. Technologieplattformen, doch müssen die Anstrengungen wesentlich stärker koordiniert werden, wie z.B. auch im SET-Plan (2) gefordert. Um die geplanten technischen Fortschritte und die im Hinblick auf die globale Wettbewerbsfähigkeit erforderliche Absatzfähigkeit zu erzielen, muss jedoch ausreichend Zeit eingeräumt werden.

1.10

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss sollte in Anbetracht seiner besonderen Beziehungen zu wirtschaftlichen Interessenträgern die Probleme der industriellen Wertschöpfungsketten darlegen, denen seitens der politischen Institutionen nicht immer gebührend Rechnung getragen wird.

2.   Auswirkungen des Produktionsfaktors Energie auf die industriellen Wertschöpfungsketten in Europa

2.1

Die Erzeugung von Grundstoffen wie Stahl, Aluminium und anderen Nichteisenmetallen, Chemikalien, Zement, ungelöschtem Kalk, Glas, Zellstoff und Papier bildet die unabdingbare Basis für industrielle Wertschöpfungsketten. Für die Herstellung von Industrieerzeugnissen sind Bau- und Verarbeitungsgrundstoffe mit genau definierten mechanischen, physikalischen und chemischen Eigenschaften erforderlich, die in dieser Form nicht in der Natur vorkommen. Es ist unbestritten, dass die Qualität von Industrieerzeugnissen von den zur Herstellung verwendeten Materialien abhängt, die jeweils für einen bestimmten Verwendungszweck gedacht sind, auf den sie hinsichtlich Material- und Energieverbrauch, Qualität, Belastbarkeit, wirtschaftliche Effizienz, Langlebigkeit, Auswirkungen auf die Umwelt usw. optimal zugeschnitten werden. Die ständige Weiterentwicklung solcher Materialien ist daher ein wichtiger Faktor für das Maß an technischer Innovation bei allen denkbar möglichen Produkten. Eine Wertschöpfungskette besteht aus einer Reihe von Unternehmen oder Akteuren, die zusammenarbeiten, um die Marktnachfrage nach bestimmten Produkten oder Dienstleistungen zu erfüllen. Die Fertigungsverfahren in den nachgeordneten Bereichen der industriellen Wertschöpfungsketten sind vergleichsweise weniger energieintensiv; deshalb ist eine getrennte Betrachtung des Enderzeugnisses nicht sinnvoll. Bei der Bewertung des energetischen Fußabdrucks muss die gesamte Wertschöpfungskette betrachtet werden. Ein Anstieg der Energiekosten wirkt sich nicht nur auf der Ebene der Grundstofferzeugung aus, sondern die Grundstoffkostensteigerung kann, sofern der Markt dies zulässt, auch zu Preissteigerungen bei den nachgeordneten industriellen Zwischen- und Enderzeugnissen führen.

2.2

Das Vorhandensein einer wettbewerbsfähigen und innovativen Grundstoffindustrie spielt eine wichtige Rolle bei der Entscheidung über die Ansiedlung nachgelagerter Produktionsstandorte innerhalb industrieller Wertschöpfungsketten wie der Kfz-Herstellung, dem Maschinenbau und der Bauindustrie. Sie ist Garant für die gemeinsame Entwicklung maßgeschneiderter Materialien, die auf die individuellen Bedürfnisse der Abnehmer abgestimmt sind. Auch der Wunsch nach Just-in-time-Lieferung macht einen Produktionsstandort in der Nähe der Abnehmer erforderlich. Industrielle Wertschöpfungsketten verlieren an Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit, wenn eine entsprechende Versorgungsbasis fehlt. Dies gilt insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, von denen es in der stahlverarbeitenden Industrie viele gibt.

2.3

Im Allgemeinen und insbesondere im Vergleich zu den nachgelagerten Produktionsschritten sind für die Erzeugung von Grundstoffen große Energiemengen notwendig. Der Energiebedarf energieintensiver Branchen liegt je Wertschöpfungseinheit mindestens zehn (und bis zu 50) Mal höher als jener nachgelagerter Wirtschaftszweige, wie z.B. des Maschinenbaus. In Deutschland besipielsweise liegt der Primärenergieverbrauch pro Wertschöpfungseinheit von Zement bei 4,5 kg SKE, von Stahl bei 2,83 kg SKE und von Papier bei 2,02 kg SKE, im Maschinenbau jedoch nur bei 0,05 kg SKE (3). Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Grundstoffe durch physikalische bzw. chemische Verarbeitung aus natürlichen Rohstoffen gewonnen werden müssen. Dies erfordert hohe Temperaturen für das Brennen, Schmelzen und Reduktionsprozesse sowie Strom für die Elektrolyse. Auch bei der Erzeugung von Halbfertigprodukten ist der Energieverbrauch hoch. Oftmals werden die primären Energiequellen nicht zur Wärme- und Stromerzeugung genutzt, sondern als Rohstoffe oder Reduktionsmittel, etwa im Rahmen der Reduktionsprozesse bei der Stahlerzeugung. Zu beachten ist auch, dass die Rohstoffqualität allmählich nachlässt und ihre Verarbeitung daher energieaufwendiger wird.

2.4

Der Gesamtenergiebedarf eines Industrieerzeugnisses muss sowohl mit den möglichen Energieeinsparungen aufgrund von das Produkt betreffenden Innovationen als auch mit dessen Einsatz in anderen Branchen in Relation gesetzt werden. Ein solcher Vergleich ist nur durch die Zusammenarbeit zwischen den Grundstoffherstellern und der nachgelagerten Industrieproduktion möglich, für die Materialneuentwicklungen eine erhebliche Rolle spielen. Energieeffizientere Kraftwerke mit einem geringeren Verbrauch an primären Energieträgern brauchen hitzeresistenten Hochleistungsstahl. Außerdem lässt sich z.B. der Kraftstoffverbrauch im Verkehrsbereich durch den Einsatz von Leicht-Werkstoffen im Fahrzeugbau verringern.

3.   Situation auf den einzelnen Energiemärkten (Kohle, Erdöl, Gas, Strom) und Auswirkungen auf energieintensive Industriezweige (4)

3.1

Die Grundstoffindustrie — Zement, Eisen und Stahl, NE-Metalle, Chemieerzeugnisse, Glass, Zellstoff und Papier — verwendet fossile Brennstoffe als Energieträger sowie als Rohstoffe und ist auf vielerlei Art von den Kostenschwankungen für die einzelnen Energieträger betroffen. Rohöl etwa gelangt in der Chemieindustrie als Rohstoff für die Herstellung von Kunststoffen und anderen petrochemischen Produkten zum Einsatz. Darüber hinaus wirkt sich die Entwicklung auf den Ölmärkten auch auf die Einkaufspreise für Gas und Strom aus, da der Gaspreis nach wie vor an den Ölpreis gekoppelt ist. Auch die Entwicklung auf dem Kohlemarkt beeinflusst die Stromkosten, die energieintensive Branchen zu tragen haben. Gleichzeitig werden Kohle und Koks in der Stahlindustrie als Reduktionsmittel eingesetzt.

3.2

Die Ölreserven, d.h. die Vorkommen, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf rentable Weise und mit den verfügbaren technischen Mitteln abgebaut werden können, werden voraussichtlich für weitere 40 Jahre reichen. Sie könnten sich erheblich vergrößern, wenn künftig weitere Vorkommen auf wirtschaftliche Weise erschlossen würden, insbesondere nichtkonventionelle Erdölvorkommen wie Ölsand. Die Entwicklung der Ölpreise steht im Zusammenhang mit den Verbrauchssteigerungen, insbesondere in China und Indien. Dieser Effekt wird durch die zunehmende Vormachtstellung der OPEC-Staaten auf dem Ölmarkt weiter verstärkt, so dass eine Diversifizierung der Versorgungsquellen aufgrund der ungleichen Verteilung der Reserven immer schwieriger wird. Die regionale Konzentration der Ölproduktion auf Länder, die von einer erheblichen politischen und wirtschaftlichen Instabilität gekennzeichnet sind, wird aufgrund der kaum kalkulierbaren Möglichkeit künftiger Lieferbeschränkungen zu noch mehr Unsicherheit führen, was sich entsprechend auf die Preise auswirken wird.

3.3

Die Erdgasreserven werden voraussichtlich weitere 60 Jahre und somit länger als die Ölreserven reichen. Erdgas ist in Europa der primäre Energieträger mit der rasantesten Verbrauchssteigerung. Noch schneller als der Verbrauch steigt die Abhängigkeit der EU von Erdgasimporten. Die Öl- und Gasreserven einiger europäischer Staaten, wie der Niederlande, Norwegens und des Vereinigten Königreichs, schwinden zunehmend, während die Gasimporte — weitgehend von einem einzigen Lieferanten, Russland — stetig steigen. Langfristig ist mit steigenden Gaspreisen zu rechnen, und darüber hinaus könnte Russland wegen der Beschränkung auf diese eine Lieferquelle politischen Druck auf die EU ausüben. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Entwicklung ist aufgrund der von Natur aus beschränkten strategischen Gasreserven in der EU nicht zu vernachlässigen.

3.4

Die Kohlevorkommen, deren Abbau rentabel wäre, sind deutlich größer als die Öl- und Gasreserven. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Kohlevorkommen für die kommenden 150 Jahre reichen. Außerdem sind diese Vorkommen auf breitere Gebiete auf den einzelnen Kontinenten verteilt und befinden sich auch in politisch stabilen Ländern wie den USA oder Australien. Wie bei anderen Energieträgern hat auch der Kohlepreis in den letzten Jahren aufgrund der gesteigerten Nachfrage merklich angezogen.

3.5

Strom ist ein sekundärer Energieträger, der hauptsächlich aus Kohle und Gas sowie nuklearen und erneuerbaren primären Energieträgern erzeugt wird, wobei die Stromerzeugung in manchen Mitgliedstaaten nach wie vor zu einem nicht unerheblichen Anteil aus Erdöl erfolgt. Der Stromerzeugungspreis wird weitgehend von der Zusammensetzung des Energiemixes für die Stromerzeugung bestimmt. Strom aus Kohle und nuklearen Energieträgern ist eine kostenwirksame Variante zur Sicherstellung der Grundversorgung, während die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern in der EU noch weiter ausgebaut werden muss. Im Vergleich zu anderen primären Energieträgern waren die Kosten für erneuerbare Energieträger bislang relativ hoch, auch weil im Preis der konventionellen Energien externe Effekte zu einem Großteil nicht reflektiert sind. Im Fall von Wind- und Solarenergie kommt noch eine geringe und schwankende Verfügbarkeit mit den entsprechenden Schwierigkeiten für die Netze hinzu, die im Hinblick auf die künftig zunehmende Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern angepasst werden muss. Einige erneuerbare Energieträger sind — je nach Region — weniger kostspielig als andere. So kann die Solarenergie in sonnigen Regionen wie Südeuropa wirtschaftlich interessant sein, während sie in Nordeuropa unrentabel ist.

4.   Verändertes Umfeld für Energiemärkte

4.1

Die Energiemärkte sind in ein Umfeld eingebettet, das sich in Abhängigkeit von wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Einflüssen mit komplexen Wechselwirkungen laufend verändert. Die Wirtschaft sieht sich einer Veränderung der Konditionen und der Kosten für die Energieversorgung gegenüber, was zu extremer Unsicherheit führt. Die zunehmende Importabhängigkeit Europas im Energiebereich und die voraussichtlich weiter steigenden Energiepreise verstärken die Sorge hinsichtlich der Befriedigung der künftigen Energienachfrage. Es ist weithin anerkannt, dass eine sichere und zuverlässige Energieversorgung zu tragbaren, stabilen Preisen eine wesentliche Voraussetzung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ist und ein fester Bestandteil einer soliden, konsequenten Energiepolitik sein sollte.

4.2

Angesichts des jüngst in Europa und weltweit zu verzeichnenden raschen Wandels der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen muss der Energiesektor neue Konzepte und Maßnahmen konzipieren, um besser eine sichere Energieversorgung gewährleisten zu können. Während in der Vergangenheit die Energieversorgungssicherheit üblicherweise in erster Linie als eine Verantwortung der Mitgliedstaatregierungen angesehen wurde, kommt bei der jetzigen Lage auf dem europäischen Energiemarkt den Marktkräften eine ergänzende Rolle zu. In einem liberalisierten Markt haben Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit ihren Preis. Mit Blick auf die langfristige Versorgungssicherheit kommt der gemeinsamen europäischen Energiepolitik eine zentrale strategische Bedeutung zu (5).

4.3

Fossile Energieträger sind nicht erneuerbar. Ein Großteil der Öl- und Gasreserven der EU ist bereits vollkommen ausgeschöpft. In diesem Zusammenhang sollte stets auch der steigende Energieverbrauch in Schwellenländern wie China und Indien berücksichtigt werden. Insbesondere für Erdöl gilt, dass es eine Reihe zusätzlicher, nichtkonventioneller Ressourcen (z. B. Ölsande) gibt, deren Förderung aber nach wie vor kompliziert und teuer und mit einem enormen Klimagasausstoß verbunden ist. Somit werden aufgrund des Schwindens der Reserven aller Voraussicht nach die Förderkosten steigen, was schlussendlich zu höheren Preisen führen wird.

4.4

Derzeit stammen in der Europäischen Union etwa 50 % des Gesamtverbrauchs an primären Energieträgern aus dem Import, wobei davon auszugehen ist, dass dieser Anteil in der nahen Zukunft (2030) auf 70 % steigen wird. Die EU ist also insbesondere bei Öl- und Gas von Importen aus einigen wenigen Ländern abhängig (etwa den OPEC-Staaten oder Russland), die den Markt dominieren. Da diese Länder in vielen Fällen politisch wie auch wirtschaftlich äußerst instabil sind, ist keine Versorgungssicherheit gewährleistet. Die jüngsten Ölpreissteigerungen haben die wirtschaftliche Anfälligkeit der EU gezeigt. Daher ist die Erschließung neuer und die nachhaltige Entwicklung bestehender EU-eigener Ressourcen eine wichtige Aufgabe. Die Abhängigkeit von Importen von Energieträgern hat für die Sicherheit erhebliche Konsequenzen. Dies gilt für alle Energieformen außer Kohle, da Kohle aus einer größeren Anzahl von Staaten importiert wird, die außerdem als stabil angesehen werden. Darüber hinaus besitzt Europa eigene Kohlevorkommen, die sich auf rentable Weise abbauen lassen: der Braunkohleabbau in der EU ist relativ kostengünstig.

4.5

Die Strom- und Gasmärkte, bislang natürliche Monopolmärkte innerhalb einzelstaatlicher Grenzen, werden liberalisiert und integriert. Während die Netze reguliert werden, sollten durch den Wettbewerb in den Bereichen Erzeugung und Firmenkunden sinkende Preise und Effizienzsteigerungen erzielt werden. Diese Strategie hat zu einer gewissen Angleichung der Preise zwischen Nachbarstaaten geführt. Doch die Segmentierung in nationale Märkte und die historischen Engpässe in den Übertragungsnetzen haben zur Beeinträchtigung des Wettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten geführt.

4.6

In den letzten Jahren sind außerdem die Gas- und anderen Primärenergiepreise — die den Löwenanteil der Stromerzeugungskosten ausmachen (s. Ziffer 3.5) — enorm gestiegen. Und schließlich gibt es auch keine Stromerzeugungs-Überkapazitäten mehr, und die Stromwirtschaft muss umfangreiche Investitionen tätigen. All diese Faktoren haben Preissteigerungen bewirkt, ungeachtet laufender Verbesserungen (wie z.B. der neue westeuropäische Stromverbund zwischen Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten).Auch außerhalb der Europäischen Union ist eine Konzentration bei der Energieerzeugung und -versorgung festzustellen, ohne dass jedoch ein Zusammenhang mit den Gas- und Strompreisen bestünde.

4.7

Die in der EU getroffene politische Entscheidung zur Eindämmung des vom Menschen verursachten Klimawandels durch eine weitreichende Senkung der Treibhausgasemissionen spielt bereits heute eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Energiemärkte, die in Zukunft noch bedeutender werden wird. Die Energieeffizienz steht folglich im Zentrum der Aufmerksamkeit und muss drastisch verbessert werden, um die Kohlendioxidintensität des Energieverbrauchs sicher zu senken. Im Hinblick darauf sinkt die Akzeptanz für stark kohlenstoffhaltige fossile Brennstoffe, während kohlenstoffarme Energieträger (z.B. Gas) bzw. Technologien, die quasi keine CO2-Emissionen verursachen (wie die erneuerbaren Energieträger und, in gewisser Hinsicht, die Atomenergie) — wenn auch nicht in allen Mitgliedstaaten — an Bedeutung gewinnen.

4.8

Die Sicherstellung einer ausreichenden Energieversorgung ist im Hinblick auf die Nutzung geeigneter und verfügbarer Technologien zu einer entscheidenden Aufgabenstellung für die EU geworden, die zunehmend zu einem Wettlauf gegen die Zeit wird. In der Vergangenheit haben sich einige Mitgliedstaaten unter Inkaufnahme aller damit einhergehenden Einschränkungen des für die Stromerzeugung zur Verfügung stehenden Energiemixes zu einem Atomausstieg entschlossen. Zusätzlich ist die Errichtung von Kohlekraftwerken und der erforderlichen Stromverteilungsinfrastruktur bei der Bevölkerung auf gewissen Widerstand gestoßen. Dies könnte zunehmend dazu führen, dass Vorhaben für den Bau von Kohlekraftwerken wieder gestoppt werden, wie beispielsweise in Ensdorf, Deutschland, infolge von Bürgerinitiativen geschehen. Selbst gegen bestimmte erneuerbare Energieträger wie Windkraftanlagen regt sich verstärkt Widerstand. Die öffentliche Akzeptanz verschiedener Energieformen, nicht nur der Kernenergie, ist ein zunehmend kritischer Aspekt, dem äußerst sorgfältig Rechnung getragen werden muss, wenn der Umfang der Stromerzeugung den Bedarf der Bürger und Wirtschaft decken soll.

4.9

Dies hat dazu geführt, dass die Energieerzeugungskapazität der EU stagniert, nur einige wenige neue Projekte in Angriff genommen wurden und es nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, dass die EU in Zukunft mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben wird. Die zurzeit anstehende Modernisierung des europäischen Kraftwerkparks ist Herausforderung und Chance zugleich. Es ist jetzt unerlässlich, umgehend potenziellen Investoren das Signal zu geben, dass nur Investitionen in low-carbon-Technologien wirtschaftlich sinnvoll sein werden.

5.   Anpassungsstrategien der Industrie

5.1

Die energieintensive Grundstoffindustrie ist in vielerlei Hinsicht Anpassungsdruck ausgesetzt, und zwar im Hinblick auf die Globalisierung der Märkte und die sich verändernde Lage auf den Energiemärkten. Einerseits müssen die Unternehmen dem internationalen Wettbewerb standhalten, indem sie innovative Produkte und Verfahren entwickeln. Andererseits sind sie gezwungen, mit den steigenden Energiekosten zurechtzukommen und die politischen Beschlüsse über eine entsprechende Senkung des Kohlendioxidausstoßes und des Energieverbrauchs umzusetzen.

5.2

Aufgrund der Globalisierung nimmt die weltweite Verflechtung der Wirtschaft zu. Unternehmen aus Entwicklungsländern haben in technologischer Hinsicht aufgeholt und können heutzutage arbeitsintensive Erzeugnisse kostengünstiger herstellen. Produzenten von Grundstoffen haben auf diese Entwicklung reagiert, indem sie ihre Herstellungsverfahren optimiert und sich auf hochwertige High-Tech-Produkte spezialisiert haben und in enger Zusammenarbeit mit den Abnehmern maßgeschneiderte Produkte fertigen. Es gibt immer mehr Partnerschaften zwischen den Unternehmen, die die Grundstoffe herstellen und jenen, die sie verarbeiten, in deren Rahmen eine breite Palette an Dienstleistungen angeboten wird.

5.3

In energieintensiven Industriezweigen machen die Energiekosten einen erheblichen Anteil der Materialproduktionskosten aus. Die Senkung des Energieverbrauchs liegt somit im Eigeninteresse der energieintensiven Branchen. In den letzten Jahrzehnten sind in diesem Bereich enorme Fortschritte erzielt worden. Die energieintensiven Industriezweige liegen hinsichtlich der Energieeffizienz ihrer Produktion an der Weltspitze.

5.4

Die jüngsten politischen Forderungen nach einer Senkung des CO2-Ausstoßes und einer Steigerung der Energieeffizienz stellen die energieintensiven Industriezweige vor weitere Herausforderungen. Die derzeitigen Technologien und Herstellungsverfahren stoßen in vielen Fällen diesbezüglich bereits an ihre physikalischen bzw. chemischen Grenzen (6). So wurde etwa in der Stahlindustrie der Verbrauch an Reduktionsmitteln bei der Stahlerzeugungsroute Hochofen-Konverter auf das chemisch/physikalisch mögliche Minimum gedrosselt und kann nur auf Kosten der Nachfrage und des Produktionsvolumens noch weiter gesenkt werden. Für weitere nennenswerte Steigerungen der Energieeffizienz wären grundlegende technische Neuerungen nötig, die aber erst noch konzipiert, erforscht und zur Anwendungsreife gebracht werden müssen. Dazu sind umfangreiche Anstrengungen seitens der Industrie erforderlich. Aus diesem Grund werden im Rahmen der EU-Technologieplattformen bereits langfristige gemeinsame Forschungs- und Demonstrationsprojekte und bspw. Versuche auf dem Gebiet der CCS durchgeführt. Dies gilt auch für andere Industriezweige, bei deren Herstellungsverfahren ebenfalls Emissionen anfallen, wie die Kalk- und die Zementindustrie. Auch im Energieversorgungsbereich ist die Forschung und Entwicklung eine wichtige langfristige Aufgabe, z.B. in Bezug auf CCS oder erneuerbare Energietechnologien.

5.5

Die Grundstoffindustrie braucht für die Entwicklung revolutionär neuer Herstellungsverfahren mit geringerem Energieverbrauch Zeit. Technische Neuerungen sind zwar notwendig, ihre Einführung muss aber auf die Investitionszyklen der Unternehmen abgestimmt werden. Das entscheidende Kriterium für die Einführung neuer Verfahren ist letztendlich deren Wirtschaftlichkeit, die wiederum im Zusammenhang mit dem Wettbewerb auf den internationalen Märkten gesehen werden muss. Aus diesem Grund und wegen weiterer Faktoren (verwaltungstechnischer Aufwand, beschränkte finanzielle Ressourcen und damit einhergehende wirtschaftliche Unwägbarkeiten) wird es vermutlich mehrere Jahrzehnte dauern, bis die Grundstoffindustrie nennenswerte Fortschritte im Bereich Energieeinsparungen erzielen kann. Insofern unterscheiden sich die energieintensiven Industriezweige von der Stromerzeugungsbranche, in der Effizienzsteigerungen zwar auch schrittweise und unter Berücksichtigung der Innovationszyklen umgesetzt werden, aber die Mehrkosten für diese Effizienzsteigerungen und andere administrative Kosten (etwa für das EU-Emissionshandelssystem) leichter an die Endverbraucher weitergegeben werden können.

5.6

Deutlich gesteigert werden kann die Energieeffizienz von Industrieerzeugnissen durch den Einsatz neuer, in Zusammenarbeit mit anderen Branchen, etwa Fahrzeugherstellern oder Kraftwerkbauern, entwickelter High-Tech-Grundstoffe, die hitzeresistenter bzw. leichter sind. Auch mit geeigneten Prozesssteuerungssystemen lassen sich qualitative Verbesserungen im Bereich der Energieeffizienz erzielen. Auch die Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energie werden aus Bau- und Verarbeitungsgrundstoffen hergestellt (Windkraftwerke z.B. aus Stahl und Hochleistungskunststoffen). Trotz des großen Potenzials ist der Bedarf an Materialforschung weiterhin entsprechend hoch, da die meisten Neuentwicklungen noch nicht ausgereift genug für eine kommerzielle Nutzung sind.

6.   Auswirkungen der Energiepolitik auf die industriellen Wertschöpfungsketten

6.1

Die Energiepolitik beeinflusst die Energiemärkte durch eine Kombination verschiedener Instrumente. Hierzu gehört einerseits die langsam voranschreitende Schaffung eines europäischen Regelwerks für einen Elektrizitäts- und Erdgasbinnenmarkt, was jedoch noch nicht zu der gewünschten Preisstabilisierung geführt hat. Andererseits werden die Energieerzeugung und der Energieverbrauch der Industrie massiv vom EU-Emissionshandelssystem beeinflusst, das als wesentliches Instrument zur Emissionssenkung dienen soll. Der Wert des EU-Systems für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten (EHS) wird sich an seinen Auswirkungen auf die europäischen Treibhausgasemissionen und an seiner Bedeutsamkeit und Beispielwirkung dafür messen lassen müssen, globale Maßnahmen anzustoßen bzw. sich zu einem umfassenden, globalen System weiterzuentwickeln. Das Hauptproblem besteht darin, dass das EHS nicht weltweit angewandt wird, sondern auf die EU beschränkt ist, so dass die Gefahr der Verlagerung von Emissionen in Drittländer besteht. Auch deshalb ist von Seiten der EU bei den Klimaverhandlungen darauf zu dringen, dass der Handel mit Treibhausgasen international angewandt wird. Den problematischen Aspekten des vorgeschlagenen überarbeiteten Systems sollte daher umfassend Rechnung getragen werden, um die absehbaren finanziellen Belastungen möglichst gering zu halten.

6.2

2005 wurden absolute Obergrenzen für die Kohlendioxidemissionen von Kraftwerken und Produktionsanlagen der energieintensiven Wirtschaftszweige eingeführt. Im Falle dieser energieintensiven Branchen, deren CO2-Ausstoß aufgrund der beschränkten technischen Möglichkeiten direkt von der Produktionsmenge abhängt, führt dies zu einer erheblichen Verteuerung etwaiger Produktionssteigerungen, sollte das zugeteilte Emissionsvolumen überschritten werden. Der für 2013 geplante Start der Versteigerung von Emissionszertifikaten würde erhebliche Mehrkosten bei der Herstellung von Grundstoffen aller Art verursachen, die in den meisten Fällen nicht an die nachgelagerten Verbraucher weitergegeben werden können.

6.3

Ziel der EU ist es, die CO2-Emissionen zu senken, die Abhängigkeit von Importen auf einem vertretbaren Niveau zu halten und durch die Ausweitung des Anteils erneuerbarer Energieträger exportorientierte Technologien zu fördern. Eine Anlauffinanzierung wäre in diesem Zusammenhang sinnvoll, doch sollten dauerhafte Subventionen vermieden werden, denn die erneuerbaren Energieträger müssen letztendlich wettbewerbsfähig werden. Die derzeitige Entwicklung der Energiepreise sowie der technische Fortschritt bei den erneuerbaren Energien hat bereits die Wettbewerbsfähigkeit der Erneuerbaren deutlich erhöht. Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern wird in der EU derzeit über einzelstaatliche Fördersysteme unterstützt, bei denen Quotenregelungen, der Handel von Emissionszertifikaten und Einspeisetarife für Strom aus erneuerbaren Energieträgern auf unterschiedliche Art miteinander kombiniert werden. Die Mehrkosten für erneuerbare Energieträger werden in der Regel über den Strompreis an den Endverbraucher weitergegeben. Die energieintensiven Industriezweige müssen derzeit noch, wie alle Verbraucher, über die Strompreise zur Finanzierung erneuerbarer Energien beitragen.

6.4

Zwar bringen die Märkte für erneuerbare Energieträger einigen Sektoren, wie beispielsweise manchen Bereichen des Maschinenbaus, Vorteile, doch stehen ihnen negative Auswirkungen in der Grundstoffindustrie entgegen. Darüber hinaus würde ihrer Lieferkette und somit ihrer Wettbewerbsfähigkeit geschadet, wenn die Grundstoffe aufgrund der durch die Förderung der erneuerbaren Energien entstehenden Zusatzkosten verdrängt würden (7). Zumindest das kann durch eine Kostenbegrenzung zugunsten dieser Industriezweige vermieden werden. Die Entwicklung des Markts für erneuerbare Energien erschließt zwar Exportmärkte in geeigneten Regionen für erneuerbare Energietechnologien wie Windkraftanlagen, doch sollte bedacht werden, dass die geförderten Märkte nicht nur den europäischen Unternehmen, sondern auch der europäischen Wirtschaft zugute kommen — so wird beispielsweise ein Großteil der Photovoltaik-Materialien in Europa aus Japan importiert.

6.5

In zahlreichen EU-Mitgliedstaaten ist Atomenergie ein wichtiger Bestandteil des Energiemixes; in einigen anderen wiederum wurde beschlossen, künftig auf diese Form der Stromerzeugung zu verzichten. In diesen Ländern gibt es aber keine kostengünstige und CO2-arme Alternative zur Sicherstellung der Stromgrundversorgung, die ersatzweise mit Hilfe fossiler Brennstoffe bzw. erneuerbarer Energieträger gewährleistet werden muss (8). In der Folge würden die Strompreise, der Kohlendioxidausstoß und die Preise für CO2-Emissionszertifikate steigen, was sich entsprechend auf die energieintensiven Industriezweige auswirken würde.

6.6

Viele EU-Mitgliedstaaten führen Steuern ein, mit deren Hilfe der Energieverbrauch bzw. die CO2-Emissionen gesenkt werden sollen. In einem Grünbuch zu wirtschaftlichen Instrumenten für die Klimapolitik erwägt die Europäische Kommission neben einer europaweiten Harmonisierung dieser Instrumente auch, mehr Anreize zur Senkung des Kohlendioxidausstoßes zu setzen. Energieintensive Industriezweige müssten mit erheblichen Preissteigerungen für Strom und Energieträger rechnen. Wie bereits vorstehend erläutert, könnten diese Kosten aber nur teilweise durch Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz ausgeglichen werden.

7.   Globales Umfeld

7.1

Energie- und Klimapolitik enden nicht mehr an den nationalen bzw. regionalen Grenzen. Die Versorgungssicherheit, die Verknappung von Energieressourcen und vor allem der Klimawandel sind globale Herausforderungen. Letzterer kann nur unter Einbindung aller Weltregionen wirksam bekämpft werden. Gleichzeitig werden die ehrgeizigen Maßnahmen der EU zur Senkung der Emissionen wirkungslos bleiben, solange diese Einsparungen durch die Steigerung der Industrieproduktion in Ländern mit einem starken Wirtschaftswachstum wie China sehr schnell wieder zunichte gemacht werden können.

7.2

Die zunehmende Verflechtung zwischen Welthandel und Kapitalflüssen führt global zu einem härteren Wettbewerb zwischen den einzelnen Standorten. Auch die energieintensiven Industriezweige sind vermehrt einem weltweiten Wettbewerb um Kunden und Kapital ausgesetzt. Erstens stehen sie in unmittelbarem Wettbewerb zu anderen Grundstofflieferanten aus Drittstaaten. Zweitens gibt die verarbeitende Industrie, die in hohem Maße von Exporten abhängt, wie z.B. der Fahrzeug- oder der Maschinenbau, den von den Weltmärkten ausgeübten Kostendruck an die Grundstoffindustrie weiter. Die energieintensiven Industriezweige unterscheiden sich hinsichtlich der globalen Wettbewerbssituation von den regionalen Branchen wie der Strombranche.

7.3

Durch die Kombination aus globalen energie- und klimapolitischen Herausforderungen und weltweitem Industriewettbewerb ergibt sich eine übermäßige Kostenbelastung für die energieintensiven Industriezweige, die zu Standortverlagerungen führt. Zu Standortverlagerungen kommt es dann, wenn Drittstaaten keine vergleichbare Kostenbelastung für die Industrie einführen. Alle Elemente der Klima- und Energiepolitik der EU sollten sich fest auf eine realistische Einschätzung der (natürlichen, humanen und sozialen) Ressourcen und deren Entwicklung in einem bestimmten zeitlichen Rahmen (bspw. Lissabon-Strategie) stützen, um die Nutzung dieser Ressourcen auf die Sicherung einer nachhaltigen Zukunft für alle abzustimmen. Die strategischen Überlegungen der EU sollten diese Grundsätze widerspiegeln.

7.4

Die Verlagerung von Produktionsstandorten würde voraussichtlich zu einem Anstieg der Emissionen in Drittstaaten führen, deren Produktionsverfahren sehr wahrscheinlich weniger energieeffizient als jene an den ursprünglichen Standorten sind. Und durch den Transport der „verlagerten“ Erzeugnisse nach Europa entstehen noch zusätzliche Emissionen. Selbst wenn die Produktionsverlagerung in effiziente Anlagen erfolgen würde, wäre dies nicht nachhaltig, da die Produktion aus Europa verdrängt würde, was dazu führen würde, dass Arbeitsplätze und technisches Fachwissen, auch bei der Umwelttechnik, verloren gehen. Entscheidend für die EU-Politik sollte die weltweite Senkung der Treibhausgasemissionen sein.

7.5

Eine Verlagerung der energieintensiven Industriezweige würde den Verlust von Arbeitsplätzen und ein geringeres Wirtschaftswachstum nach sich ziehen. Der Wegfall des Näheverhältnisses zur Grundstoffindustrie würde außerdem die Attraktivität eines Standortes für nachgelagerte Industrieproduktionen schmälern und hätte eine negative Wirkung auf sämtliche Glieder der industriellen Wertschöpfungskette. Die europäische Wirtschaft ist jedoch auf ihren industriellen Kern angewiesen. Eine ausschließlich auf dem Dienstleistungssektor aufgebaute Wirtschaft wäre nicht tragfähig, da zahlreiche Dienstleistungen mit hoher Wertschöpfung in direktem Zusammenhang mit der Industrieproduktion erbracht werden und somit Gefahr laufen, ihre industrielle Grundlage zu verlieren. Darüber hinaus kann die EU nur dann eine Spitzenposition bei Technik und Innovation (sowohl im Umweltbereich als auch in anderen Bereichen) behaupten, wenn sie über eine Grundstoffindustrie verfügt.

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  World Nuclear Association, „World Nuclear Power Reactors 2007-2008 and Uranium requirements“

http://www.world-nuclear.org/info/reactors.html

(2)  SET-Plan, KOM(2007) 723 endg.

(3)  Statistisches Bundesamt.

(4)  Z.B. BP Statistical Review of World Energy vom Juni 2007.

(5)  TEN/312, Stellungnahme zum Thema „Hin zu einer gemeinsamen Energiepolitik“, CESE 236/2008 fin.

(6)  Vorträge anlässlich der öffentlichen Anhörung zu diesem Thema am 7. Mai 2008. Abrufbar in englischer Sprache unter:

http://eesc.europa.eu/sections/ccmi/Hearingsandconferences/Thepast/Energy/index_en.asp

(7)  S.u.a. Pfaffenberger, Nguyen, Gabriel (Dezember 2003): Ermittlung der Arbeitsplätze und Beschäftigungswirkungen im Bereich Eneuerbarer Energien.

(8)  Wasserkraft beispielsweise kann nur in einer begrenzten Anzahl Länder mit entsprechend günstigen natürlichen Voraussetzungen, wie in Skandinavien, genutzt werden.


ANHANG 1

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Die folgenden Änderungsanträge, auf die mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen entfiel, wurden im Verlauf der Beratungen abgelehnt:

1.   Ziffer 1.9

Neue Ziffer mit folgendem Wortlaut einfügen:

Mittel- und langfristig ist es allerdings zwingend, dass die europäische Wirtschaft auf ‚low carbon‘-Produktionsmethoden und Produkte umschwenkt. Wenn wir die zur Vermeidung eines unkontrollierbaren Klimawandels als notwendig erachteten Reduktionen des CO 2 -Ausstoßes von 60-80 % bis 2050 in den industrialisierten Ländern erreichen wollen, ist es kontraproduktiv, CO 2 -intensive Industriezweige zu schützen. Es ist vielmehr notwendig, dass Europa voranschreitet im Umbau seiner Wirtschaft, um sich hier als Speerspitze der technologischen Innovation einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen und um Veränderungen in anderen Ländern anzustoßen. Mit einem ‚business as usual‘, begleitet von bescheidenen Effizienzsteigerungen bei energieintensiven Produkten, wird es nicht möglich sein, diese dritte industrielle Revolution durchzuführen.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 23 Nein-Stimmen: 27 Stimmenthaltungen: 12

2.   Ziffer 6.7

Neue Ziffer mit folgendem Wortlaut einfügen:

Mittel- und langfristig ist es allerdings zwingend, dass die europäische Wirtschaft auf ‚low carbon‘-Produktionsmethoden und Produkte umschwenkt. Wenn wir die zur Vermeidung eines unkontrollierbaren Klimawandels als notwendig erachteten Reduktionen des CO 2 -Ausstosses von 60-80 % bis 2050 in den industrialisierten Ländern erreichen wollen, ist es kontraproduktiv, CO 2 -intensive Industriezweige zu schützen. Es ist vielmehr notwendig, dass Europa voranschreitet im Umbau seiner Wirtschaft, um sich hier als Speerspitze der technologischen Innovation einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen und um Veränderungen in anderen Ländern anzustoßen. Mit einem 'business as usual', begleitet von bescheidenen Effizienzsteigerungen bei energieintensiven Produkten, wird es nicht möglich sein, diese dritte industrielle Revolution durchzuführen.

Derselbe Wortlaut wie in Ziffer 1.9 (Schlussfolgerungen und Empfehlungen), hier jedoch in Ziffer 6 (Auswirkungen der Energiepolitik auf die industriellen Wertschöpfungsketten). Da der Änderungsantrag zu Ziffer 1.9 abgelehnt wurde, ist der Änderungsantrag zu Ziffer 6.7 hinfällig.

3.   Ziffern 7.4 und 7.5

Die Ziffern 7.4 und 7.5 werden zusammengefasst und wie folgt geändert:

Die Eine Verlagerung von Produktionsstandorten könnte würde voraussichtlich zu einem Anstieg der Emissionen in Drittstaaten führen, wenn deren Produktionsverfahren sehr wahrscheinlich weniger energieeffizient als jene an den ursprünglichen Standorten sind, was aufgrund der gestiegenen Energiepreise bei Neubauten aber unwahrscheinlich ist. Und durch den Transport der ‚verlagerten‘ Erzeugnisse nach Europa entstehen noch zusätzliche Emissionen. Selbst wenn die Produktionsverlagerung in effiziente Anlagen erfolgen würde, wäre dies nicht nachhaltig, da die Produktion aus Europa verdrängt würde, was dazu führen würde, dass Arbeitsplätze und technisches Fachwissen, auch bei der Umwelttechnik, verloren gehen. Entscheidend bleibt daher das Erreichen eines Klimaabkommens, das eine für die EU-Politik sollte die weltweite Senkung der Treibhausgasemissionen sein bewirkt .

Eine Verlagerung der energieintensiven Industriezweige würde den Verlust von Arbeitsplätzen und ein geringeres Wirtschaftswachstum nach sich ziehen. Der Wegfall des Näheverhältnisses zur Grundstoffindustrie würde außerdem die Attraktivität eines Standortes für nachgelagerte Industrieproduktionen schmälern und hätte eine negative Wirkung auf sämtliche Glieder der industriellen Wertschöpfungskette. Die europäische Wirtschaft ist jedoch auf ihren industriellen Kern angewiesen. Eine ausschließlich auf dem Dienstleistungssektor aufgebaute Wirtschaft wäre nicht tragfähig, da zahlreiche Dienstleistungen mit hoher Wertschöpfung in direktem Zusammenhang mit der Industrieproduktion erbracht werden und somit Gefahr laufen, ihre industrielle Grundlage zu verlieren. Darüber hinaus kann die EU nur dann eine Spitzenposition bei Technik und Innovation (sowohl im Umweltbereich als auch in anderen Bereichen) behaupten, wenn sie über eine Grundstoffindustrie verfügt.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 21 Nein-Stimmen: 41 Stimmenthaltungen: 3


ANHANG 2

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Die folgenden Textstellen der Stellungnahme der CCMI wurden zugunsten von im Plenum angenommenen Änderungsanträgen abgelehnt, hatten jedoch jeweils mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen als Ja-Stimmen auf sich vereinigt:

1.   Ziffer 4.9

Das Gefahrenpotential bestimmter Technologien wird übertrieben, während ihre wirtschaftlichen Vorteile weit unterschätzt werden. So geht die Deutsche Energie-Agentur (DENA) davon aus, dass es Deutschland im Jahr 2020 je nach Entwicklung der Stromnachfrage an gesicherter Kraftwerksleistung im Umfang von 11.700 bis 15.800 MW fehlen wird (1). Daraus ist zu schließen, dass die EU kurz vor einer Unterkapazität im Bereich der Stromerzeugung steht, und eine weitere Untätigkeit würde uns teuer zu stehen kommen. Anderen Studien zufolge könnte die Kluft durch eine Steigerung der Energieeffizienz und den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energieträger überbrückt werden. Um eine solche Entwicklung zu verhindern, wäre jedoch ein Energiemix aus sämtlichen Energieträgern erforderlich, und die Akteure sollten die Bürger klar und offen über derartige Notwendigkeiten aufklären.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 36 Nein-Stimmen: 20 Stimmenthaltungen: 5

2.   Ziffer 6.3

Durch die Festlegung finanzieller Obergrenzen für die energieintensiven Industrien kann dies vermieden und gleichzeitig die Förderung der erneuerbaren Energieträger mit der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Grundstoffindustrie vereinbart werden. Abgesehen davon gefährdet eine unausgewogene Förderung erneuerbarer Energieträger die Grundstofflieferketten bestimmter Industriezweige, etwa der Holzverarbeitung (2). Dies könnte möglicherweise zum Verschwinden traditioneller Wirtschaftszweige in der EU führen, z.B. der Zellstoff- und Papierindustrie.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 37 Nein-Stimmen: 20 Stimmenthaltungen: 4


(1)  DENA, Kurzanalyse der Kraftwerks- und Netzplanung in Deutschland, März 2008.

(2)  Bio-energy and the European Pulp and Paper Industry – An Impact Assessment; McKinsey, Pöyry, for CEPI, August 2007.


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/96


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Weißbuch „Gemeinsam für die Gesundheit: Ein strategischer Ansatz der EU für 2008-2013“

KOM(2007) 630 endg.

(2009/C 77/23)

Die Europäische Kommission beschloss am 23. Oktober 2007, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Weißbuch „Gemeinsam für die Gesundheit: Ein strategischer Ansatz der EU für 2008-2013“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. Juli 2008 an. Berichterstatterin war Frau CSER.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 18. September) mit 114 gegen 4 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt das Weißbuch mit dem Titel „Gemeinsam für die Gesundheit“, da auch ihm der Zusammenhang zwischen Gesundheit einerseits und wirtschaftlichem Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit andererseits wichtig erscheint und er die Rechte von Bürgern auf Förderung ihrer geistigen und körperlichen Gesundheit und auf eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung anerkennt.

1.2

Der EWSA stimmt dem Rat zu, wenn er grundlegende und gemeinsame europäische Wertvorstellungen im Gesundheitsbereich, die flächendeckende Versorgung, das Recht auf Zugang zu qualitativ hochwertiger Versorgung, Verteilungsgerechtigkeit und Solidarität anerkennt (1). Der EWSA erwartet Entwicklungen im öffentlichen Gesundheitswesen, die auf diesen Grundprinzipien beruhen, sowie einen Ansatz, der auf dem Prinzip „Gesundheit in allen Politikbereichen“ basiert. Deshalb ist er der Ansicht, dass Handels-, Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik im Binnenmarkt harmonisiert und auf das politische Ziel der EU ausgerichtet werden müssen, ein hohes Niveau der öffentlichen Gesundheit zu garantieren, um die menschliche Gesundheit zu stärken, zu erhalten und zu verbessern.

1.3

Der Ausschuss teilt und unterstützt die Auffassung der Kommission, dass eine aktive Unionsbürgerschaft nur möglich ist, wenn die Grundrechte — dies betrifft insbesondere die Rechte der Kranken — bekannt, niedergelegt und garantiert sind und wenn angemessene Informationen verfügbar sind. Ohne diese Punkte ist eine europäische Gesundheitspolitik nicht denkbar.

1.4

Der EWSA ist mit den Prioritäten der Kommission einverstanden, insbesondere den Maßnahmen zur Bekämpfung der weit verbreiteten grenzüberschreitenden schweren Krankheiten und ernsten Gesundheitsgefahren — sowie den Maßnahmen zur Beobachtung und frühzeitigen Meldung von Katastrophen, zur Bekämpfung des Tabakkonsums und des Alkoholmissbrauchs sowie zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung.

1.5

Selbstständige und abgestimmte Impulse der von der EU verwalteten Agenturen (2) können ein wichtiger Beitrag zur Akzeptanz und Umsetzung der Strategie sein.

1.6

Der EWSA unterstützt eine gezieltere Datenerhebung auf Gemeinschaftsebene und eine gemeinsame Auswertung der Daten, um die Erfolgschancen der Strategie zu erhöhen. Über reelle und vergleichbare Indikatoren hinaus sollten Anstrengungen unternommen werden, um die Datenbanken zu aktualisieren und Methoden zur Kontrolle der Exaktheit der erhobenen Daten zu entwickeln. Der EWSA hebt aber auch die Notwendigkeit eines besonders strikten Schutzes persönlicher Daten hervor.

1.6.1

Nach Ansicht des EWSA sollten die Patienten, die grenzüberschreitende Gesundheitsdienstleistungen benötigen, besser über ihr Recht auf hochwertige Versorgung informiert werden. Die Mitgliedstaaten sollten ferner gewährleisten, dass ein freier Dienstleistungsverkehr nicht zu Sozialdumping führt, denn dies wäre nachteilig für das Gesundheitspersonal, ihre Professionalität und schließlich auch für die Patienten.

1.7

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission sich für die Überwindung der tiefgehenden Unterschiede ausgesprochen hat, die selbst innerhalb einzelner Mitgliedstaaten, aber auch zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten existieren. Er weist die Kommission gleichwohl darauf hin, dass eine Stärkung der Rechte der Patienten auf Mobilität und eine Verbesserung der Freizügigkeit der Beschäftigten im Gesundheitswesen nicht zu einer Vergrößerung dieser Unterschiede führen darf.

1.8

Der EWSA unterstützt die Absicht der Kommission, die Prävention auszubauen und zu fördern und begrüßt, dass die Kommission Programme zur Förderung der Gesundheitskompetenz verschiedener Altersgruppen unterstützt. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte dabei eine wichtige Rolle spielen und sich an Menschen in Armut richten, die einen großen Teil der Bevölkerung der Europäischen Union ausmachen, und hier insbesondere der Kinder und Jugendlichen, die keine Möglichkeit haben, anders objektive und für sie wertvolle Informationen zu erhalten.

1.9

Der EWSA schlägt vor, ein Programm oder eine langfristige Kampagne zu dem Thema „Gesunde Unionsbürger“ als flankierende Maßnahme für die gesamte Dauer der Fünfjahresstrategie zu starten. Auf diese Weise könnte die Strategie mit Hilfe eines fortlaufenden jährlichen Programms und des entsprechenden Feedbacks kontinuierlich bewertet und ggf. angepasst werden. Der Ausschuss empfiehlt der Kommission, sowohl die Laufzeit der Strategie als auch des Programms bzw. der langfristigen Kampagne auf 10 Jahre zu verlängern, um bei den Bürgern der EU die Entwicklung eines gesundheitsbewussteren Verhaltens zu unterstützen.

1.10

Der EWSA unterstreicht die Notwendigkeit einer umfassenden Beteiligung der Akteure an den Maßnahmen zur Bekanntmachung der Strategie, zur Anregung der Diskussion darüber und zu ihrer Umsetzung, denn durch Transparenz und Kooperation kann diese Akzeptanz erreicht und die partizipative Demokratie Wirklichkeit werden.

1.11

Der EWSA weist die Kommission auf die Bedeutung der Rolle der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz hin und fordert, die koordinierte Zusammenarbeit in der Gemeinschaftspolitik zu konsolidieren, indem die Sozialpartner und die Mitgliedstaaten einbezogen sowie Prävention und Schutz gestärkt werden.

1.12

Der Ausschuss schlägt vor, dass Sachverständige verschiedener Politikbereiche und Vertreter der Sozialpartner, der Berufsverbände und der Zivilgesellschaft auf lokaler, regionaler, nationaler und gemeinschaftlicher Ebene Foren bilden. Diese Foren für Zusammenarbeit auf mehreren Ebenen könnten ein Netz bilden, das dem Austausch von Informationen und der Darstellung verschiedener Interessen dient und es ermöglicht, die nationalen und gemeinschaftlichen Politiken klar zu unterscheiden und zu deren Akzeptanz beizutragen. Ein Teil dieser Foren, die ein breites Publikum erreichen, muss der Einübung der Bürger zu individuellen und kollektiven Verhaltensweisen bei schwerwiegenden gesundheitlichen Krisen gewidmet sein; dies würde ggf. eine rasche Bewältigung der schwierigen Phase im Interesse aller gestatten.

1.13

Der EWSA empfiehlt, durch die Schaffung ähnlicher Foren im Bereich der internationalen Politik der EU im Rahmen der Zusammenarbeit mit den internationalen Organisationen und unter Beteiligung der betreffenden Akteure die Erörterung politischer Fragen und die Ausarbeitung und Durchführung von Strategien zu gewährleisten.

1.14

Der EWSA unterstützt die Innovation in den Gesundheitssystemen der Mitgliedstaaten und begrüßt die Entwicklung der elektronischen Gesundheitsdienste. Um jedoch das Subsidiaritätsprinzip und die effektive Wahrnehmung der Patientenrechte sicherzustellen, sollten die Untersuchung dieser Frage und die Erarbeitung von Vorschlägen fortgesetzt werden.

1.15

Der EWSA bedauert, dass für eine Strategie, die jeden Bürger der Union betrifft, kein eigenständiges Budget vorgesehen ist. Zur wirksamen Umsetzung der neuen Strategie empfiehlt der EWSA, den EU-Haushalt (3) zu überprüfen, die Projekte festzulegen, welche die Gesundheit der Bürger betreffen, und ihre ständige Bewertung und Weiterverfolgung ebenso wie ihre letztendliche Harmonisierung zu gewährleisten. Während der gesamten Laufzeit der Strategie müssen neben der Projektfinanzierung Anstrengungen unternommen werden, um auch eine Haushaltsfinanzierung für neue sich wiederholende Aufgaben im Zeitraum nach 2013 zu schaffen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Die Gesundheitsversorgung in hoher Qualität ist Bestandteil des europäischen Sozialmodells, das wesentliche Werte wie Solidarität umfasst und auf aufgeklärte Weise weiterentwickelt werden sollte (4).

2.2

Das Recht auf Förderung der geistigen und körperlichen Gesundheit und auf Zugang zur geistigen und körperlichen Gesundheitsversorgung gehört zu den Grundrechten der europäischen Bürger und stellt eine der stärksten Antriebskräfte für eine aktive Unionsbürgerschaft dar.

2.3

Im Mittelpunkt müssen die Bürger stehen und der Aufbau einer gemeinschaftlichen Gesundheits- und Sicherheitskultur muss gemeinsam erfolgen.

2.4

Es ist außerordentlich wichtig, in der Europäischen Union die Armut zu bekämpfen und allen Menschen Zugang zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsdiensten zu gewährleisten — dies ist ein wesentlicher Indikator für eine erfolgreiche Gesundheitspolitik, aber auch für die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit (5).

3.   Inhalt des Weißbuchs

3.1

Die Europäische Kommission hat zwei Konsultationen zum Thema Gesundheit durchgeführt. Bei der Anhörung hat sich sowohl eine allgemeine Zustimmung zur Einführung einer neuen gesundheitspolitischen Strategie als auch der Wunsch nach einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten gezeigt, um den Gesundheitsschutz innerhalb der Union noch weiter zu verbessern.

3.2

Mehrere grundlegende Fragen wurden im Lauf der öffentlichen Konsultation herausgestellt:

der Kampf gegen Gesundheitsgefahren,

die Ungleichheiten im Bereich der Gesundheit, einschließlich der geschlechtsbedingten Unterschiede,

die Bedeutung der Bürgeraufklärung,

die Qualität und Zuverlässigkeit der grenzüberschreitenden Gesundheitsdienstleistungen,

die Bestimmung der wichtigsten Gesundheitsfaktoren im Zusammenhang mit der Lebensweise wie Ernährung, körperliche Betätigung, Alkohol- und Tabakkonsum und psychische Gesundheit,

die Notwendigkeit der Entwicklung eines europäischen Informationssystems zur Unterstützung der EU-Gesundheitsstrategie.

3.3

Der am 13. Dezember 2007 unterzeichnete Vertrag von Lissabon vervollständigt und präzisiert Artikel 152 des EG-Vertrags durch Ersetzung des Begriffs der menschlichen Gesundheit durch den Begriff der körperlichen und geistigen Gesundheit. Er erweitert den Inhalt des EG-Vertrags, indem er die Beobachtung, frühzeitige Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren vorsieht.

3.4

Das Weißbuch betont die gemeinsamen Werte wie das Recht auf Zugang zu qualitativ hochwertiger Versorgung, Verteilungsgerechtigkeit und Solidarität. Die Kommission hat der gemeinsamen Strategie vier Kernprinzipien zugrunde gelegt:

gemeinsame Gesundheitswertvorstellungen,

Gesundheit ist das höchste Gut,

Gesundheit in allen Politikbereichen,

mehr Mitsprache der EU in der globalen Gesundheitspolitik.

3.5

Auf dieser Grundlage werden drei wesentliche Ziele für die kommenden Jahre genannt:

Förderung der Gesundheit in einem alternden Europa,

Schutz der Bürger vor Gesundheitsgefahren,

Förderung dynamischer Gesundheitssysteme und neuer Technologien.

Im Übrigen schlägt die Kommission 18 Maßnahmen vor, um diese Ziele zu erreichen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der EWSA stimmt den im Weißbuch festgelegten Grundprinzipien zu. Deshalb begrüßt er den Grundsatz „Gesundheit in allen Politikbereichen“ (HIAP/Health in All Policies), der eine deutlich engere Zusammenarbeit zwischen der Kommission, den Sozialpartnern, der organisierten Zivilgesellschaft, den Hochschulen und den Medien erfordern wird, um die Strategie fördern und durchführen zu können.

4.2

Der Ausschuss würdigt die drei Hauptaufgaben, welche die Gesundheitspolitik weltweit zu bewältigen hat: die Bekämpfung von ständig mutierenden Mikroorganismen, die Veränderung der menschlichen Gewohnheiten und Verhaltensweisen, und der Kampf um mehr Öffentlichkeitswirkung und Finanzmittel für Gesundheitsfragen (6). Er skizziert ferner die Herausforderungen der EU und die Möglichkeiten, die ihr zur Bewältigung zur Verfügung stehen:

die Alterung der Bevölkerung, die in den Bereichen Diagnose, medizinische Versorgung und Behandlung eine ständige Herausforderung darstellt;

Gesundheitsgefahren wie Pandemien ansteckender Krankheiten und Bioterrorismus, die Gegenstand wachsender Besorgnis sind;

der Klimawandel und die versteckten Gefahren der Globalisierung;

die dynamische Entwicklung der neuen Technologien und die ebenso dynamische Entwicklung der Mittel zur Gesundheitsförderung, Prävention und Krankheitsbehandlung.

4.3

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, dass die beteiligten Akteure (öffentliche Stellen, Sozialpartner, organisierte Zivilgesellschaft und vor allem die repräsentativen Patienten- und Verbraucherschutzorganisationen) eine aktive und maßgebliche Rolle spielen können bei der Ermittlung und Lösung von Problemen und der Entwicklung gesundheitsbewusster Verhaltensweisen.

4.4

Der Ausschuss bedauert, dass die Sozialpartner, die Akteure der Zivilgesellschaft, die Berufsverbände und die repräsentativen Patientenorganisationen nicht einbezogen worden sind. Seines Erachtens bedarf es der Zusammenarbeit mit den öffentlichen Stellen (auf lokaler, regionaler, nationaler und gemeinschaftlicher Ebene) im Rahmen der Sozialpartnerschaft, wobei eine effiziente Nutzung der finanziellen Ressourcen eine Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung der Gesundheitsstrategie und den wirtschaftlichen Erfolg der Europäischen Union ist.

5.   Die Gesundheit der Unionsbürger

5.1

Der EWSA stimmt mit der Kommission darin überein, dass die EU-Gesundheitspolitik im Rahmen der bürgernahen Agenda die Rechte der Bürger und Patienten als Hauptausgangspunkt nehmen muss. Im Interesse der individuellen Gesundheit gilt es, die Solidarität als treibende Kraft des europäischen Sozialmodells tatkräftig auszubauen (7).

5.2

Der Ausschuss befürwortet die aktive Unionsbürgerschaft im Bereich der Gesundheit, die ohne eine entsprechende Einstellung undenkbar ist. Trotz der bisherigen Bemühungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten bestehen bei den Bürgern immer noch große Unterschiede im Gesundheitszustand (8) und bei ihren Möglichkeiten, ein gesundes Leben zu führen; auch die Chancengleichheit — insbesondere (9) zwischen den Geschlechtern und in benachteiligten und schutzbedürftigeren Bevölkerungsgruppen — lässt weiterhin zu wünschen übrig. Der EWSA fordert die Kommission auf, nach der Ermittlung der Hürden, vor denen diese Gruppen stehen, spezifische Lösungen und Hilfssysteme zu verwirklichen und dabei der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang einzuräumen. Darüber hinaus hätten in Anbetracht der demografischen Entwicklung spezifische Programme für die Bewertung und Erhaltung der Gesundheit älterer Menschen positive Auswirkungen auf die Gesellschaft insgesamt.

5.3

Angesichts der Unterschiede innerhalb der Mitgliedstaaten und zwischen ihnen unterstützt der EWSA das gemeinsame Ziel, dem zufolge die Gesundheitspolitik zu den Strategien zur Verringerung und Beseitigung der Armut beitragen sollte. Zwar steigen die Ausgaben für das Gesundheitswesen ständig, doch darf dies keinesfalls zu einer Verringerung des Lebensstandards bzw. Verarmung von Alleinstehenden oder Familien führen — weder in den Mitgliedstaaten noch in Drittstaaten. Daher müssen ein angemessener Umfang erschwinglicher öffentlicher Gesundheitsfürsorge- und Sozialdienste, die Chancengleichheit im Bereich des Gesundheitswesens und die finanzielle Zugänglichkeit dieser Dienste vor Ort sichergestellt werden. Es muss vermieden werden, die gesellschaftliche Kluft zwischen Arm und Reich weiter zu vertiefen.

5.4

Der EWSA ist der Ansicht, dass alle Unionsbürger hinsichtlich ihrer geistigen und körperlichen Gesundheit gefördert werden und gleiche Rechte auf geistige und körperliche Gesundheitsversorgung haben sollten. Sie wird nur zu erreichen sein, wenn benachteiligten Gruppen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, z.B. von Langzeitarmut betroffenen, marginalisierten und aus Gründen der Religion ausgeschlossenen Menschen. Die Verbesserung des öffentlichen Gesundheitswesens erfordert, dass der geistigen Gesundheit — vor allem in benachteiligten Gruppen — mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird (10).

5.5

Der EWSA schlägt vor, dass die Mitgliedstaaten den interkulturellen Dialog weiter fördern sollten, um die Aktivitäten der EU und ihrer Bürger zu unterstützen, insbesondere was die Bereitstellung und Nutzung von Gesundheitsdiensten angeht. Die Anerkennung und Förderung der kulturellen Vielfalt und der Mehrsprachigkeit kann erheblich dazu beitragen, die Sensibilisierung für Gesundheitsfragen zu legitimieren und zu verankern und sogar die gegenseitige Unterstützung anzuregen (11) sowie eine rechtzeitige Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten, Vorsorgeuntersuchungen und Behandlungen sicherzustellen.

5.6

Der Ausschuss ersucht die Kommission um Ausarbeitung von Vorschlägen, mit denen ein gesundheitsbewusstes Verhalten entwickelt werden kann. Diese ehrgeizige Zielvorgabe sollte dann in sämtliche EU-Politiken aufgenommen werden. Auf diese Weise können unabhängige Informationen über geistige und körperliche Gesundheit auch den Bürgern ohne Internetanschluss und den benachteiligten Personen zugänglich gemacht werden, deren Zahl leider stetig wächst. Zielführend wäre eine Zusammenarbeit mit öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsendern, um Informationen über die öffentliche Gesundheit und gesundheitsbezogene (insbesondere präventionsbezogene) Daten sowie unerlässliche Hinweise zum etwaigen Zugang zu medizinischen Einrichtungen zu verbreiten. Möglich wäre auch der Einsatz von Kommunikationsinstrumenten wie des Internets, das sowohl für Patienten als auch Beschäftigte im Gesundheitsbereich zugänglich ist.

5.7

Der EWSA unterstreicht, dass die Aufklärungskampagnen zum Thema Gesundheitserziehung, der Kampf gegen das Rauchen, die Festlegung von Gemeinschaftsvorschriften zur Etikettierung von Lebensmitteln und die pharmazeutische Forschung ebenso wie die Entwicklung und Verbreitung der elektronischen Gesundheitsdienste einen Mehrwert darstellen. Der Austausch vorbildlicher Verfahrensweisen und die Leistungsfähigkeitsbewertung können in vielen Bereichen eine entscheidende Rolle für einen effizienten und effektiven Umgang mit den begrenzten finanziellen Mitteln spielen.

5.8

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine Politik zur Familienförderung sowie angemessene Bildungs- und Unterstützungsmaßnahmen für die Entwicklung eines gesundheitsbewussten Verhaltens wichtig sind. Diese Art der Sensibilisierung kann zum Zeitpunkt einer Schwangerschaft beginnen (12). Der Ausschuss schlägt deshalb vor, zur Förderung der Unionsbürgerschaft die langfristige Kampagne „Gesunde Unionsbürger“ auf den Weg zu bringen.

5.9

Auch wenn er die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Patientenrechte anerkennt, möchte der EWSA die Kommission darauf hinweisen, dass die Mobilität von Patienten und Beschäftigten im Gesundheitsbereich keinesfalls die bereits im Gesundheitswesen bestehenden Ungleichheiten weiter verstärken darf. Vielmehr müssen diese Unterschiede beseitigt werden (13).

5.10

Nach Ansicht des Ausschusses sind genügende und hochwertige öffentliche Sozial- und Gesundheitsdienste eine unerlässliche Voraussetzung für eine angemessene Ausbildung und eine ausreichende Zahl von Arbeitnehmern in diesen Sektoren. Deshalb sollten diese besser bezahlt werden. Auch sollte ihre soziale und moralische Anerkennung verbessert werden. Auf diese Weise werden die entsprechenden Berufe attraktiver für Jugendliche. Der EWSA zeigt sich besorgt über den Gesundheitszustand der Berufstätigen in diesen Sektoren, die gekennzeichnet sind durch Überalterung, Burn-out und berufsbedingten Stress. Er ist der Auffassung, dass die Wertschätzung für die im Sozial- und Gesundheitsbereich geleistete Arbeit verbessert werden muss, und unterstreicht, dass die Arbeitnehmer in diesen Branchen eine wertvolle Arbeit zur Förderung der Gesundheit der Gesamtgesellschaft leisten.

5.11

Auf nationaler Ebene muss bewusst eine Gesundheitspolitik entwickelt werden, die nur dann umsetzbar ist, wenn aus dem Haushalt bzw. vonseiten der Sozialversicherung ausreichend finanzielle Unterstützung gewährt wird. Die Mitgliedstaaten müssen tatsächlich nicht nur in den Wohlstand ihrer Bevölkerung, sondern auch in das Wohlergehen ihrer Bürger investieren.

6.   Grenzüberschreitende und globale Aspekte

6.1

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die EU in den Bereichen Globalisierung und Gesundheit sowohl inner- als auch außerhalb ihrer Grenzen eine wichtige Funktion übernehmen kann, indem sie zur Lösung globaler Gesundheitsprobleme beiträgt, europäische Lösungen für Katastrophen, Pandemien und neue Herausforderungen aufgrund des Klimawandels anbietet und den weltweiten Arbeitskräftemangel im Gesundheitswesen mit Hilfe eines besonderen Ausgleichsfonds (14) angeht. Außerdem kann sie einen Mehrwert bei der Verbesserung der Arzneimittelversorgung schaffen.

6.2

Die aktuellen (HIV/Aids) und neuen Gesundheitsgefahren, die keine Staatsgrenzen kennen, zeigen immer mehr, dass die EU Mehrwert schaffen kann, da die einzelnen Mitgliedstaaten nicht mehr in der Lage sind, diesen Problemen (Zugang zu Dreifach-Kombinationstherapien) effektiv zu begegnen. Dies gilt vor allem für die Intensivierung der Kontroll- und Schutzmaßnahmen gegen übertragbare Krankheiten sowie deren koordinierte Prävention.

6.3

Der EWSA bedauert, dass die Kommission keine spezifischen Maßnahmen für die Akteure vorschlägt, von denen der Erfolg der europäischen Gesundheitsstrategie in hohem Maße abhängt, nämlich die Berufstätigen in diesem Sektor. Der Zusammenhang zwischen dem Mangel an Arbeitskräften im Gesundheitsbereich und den Problemen, die durch fehlende bzw. unzureichende Versorgung hervorgerufen werden, ist eindeutig.

6.4

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung einer ethischen Wahrnehmung der Patientenrechte im Rahmen der Beziehungen Arzt — Patient — Gesundheitspersonal. In einer Welt, die sich ändert und weiterentwickelt (man denke vor allem an die dynamische Entwicklung der Gesundheitstechnologien), müssen Ethik und der Schutz persönlicher Daten eine wichtigere Rolle spielen. Deshalb ist diesen Aspekten bei der Aus- und Fortbildung besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

6.5

Der EWSA weist auf den zunehmenden Arbeitskräftemangel im Gesundheitsbereich und die Überalterung dieser Bevölkerungsgruppe hin. Deshalb macht die Einstellung des betreffenden Personals auch einen wirklich ethischen Ansatz erforderlich. Die Situation der Gesundheitsfachkräfte aus Mitglieds- oder Drittstaaten erfordert eine spezifische Integrations-, Qualifikations- und Gehaltspolitik. Man sollte sich mit der Frage befassen, wie die Rückkehr der im Ausland arbeitenden qualifizierten Fachkräfte gefördert werden kann, damit sie zur Entwicklung des Gesundheitssystems in ihren Herkunftsländern beitragen. Was die Wanderungsbewegungen des Gesundheitspersonals innerhalb der Gemeinschaft betrifft, sollten die Mitgliedstaaten darauf achten, dass ein freier Dienstleistungsverkehr nicht zu Sozialdumping führt, denn dies wäre nachteilig für das Gesundheitspersonal, ihre Professionalität und schließlich auch für die Patienten.

7.   Annahme und Umsetzung der Strategie

7.1

Der EWSA bedauert, dass keine ausreichenden, objektiven, vergleichbaren und analysierbaren Daten und Informationen zur Situation der Unionsbürger zur Verfügung stehen. Es gibt kein Überwachungssystem, das Vergleiche zwischen Mitgliedstaaten oder Regionen erlauben würde. Die vorliegenden Informationen aus dem Bereich der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz lassen ebenfalls große Unterschiede und zahlreiche Lücken erkennen (15). Einigen Agenturen der Europäischen Union kommt hier eine wichtige Rolle zu.

7.2

Der Ausschuss plädiert dafür, auf lokaler, regionaler, nationaler und gemeinschaftlicher Ebene weitere Anstrengungen zur Erstellung relevanter Statistiken und zur Festlegung von Indikatoren zu unternehmen.

7.3

Der Erfolg der erneuerten Lissabon-Strategie hängt weitgehend von der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz ab. Das Arbeitsumfeld ist von herausragender Bedeutung für die Gesundheit, da der erwachsene Mensch ein Drittel seines Lebens am Arbeitsplatz verbringt. Ein gefährliches und schädliches Arbeitsumfeld führt zum Verlust von 3-5 % des BIP. Prävention ist das wichtigste Mittel zur Förderung und stetigen Gewährleistung von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Die KMU, in denen mehr als 80 % der Arbeitnehmer beschäftigt sind, sollten — in dem Maße, wie sie die Tarifvereinbarungen annehmen und einhalten — besondere Unterstützung erhalten, da sie hinsichtlich ihrer Möglichkeiten und Finanzquellen (im Vergleich zu den multinationalen Konzernen) benachteiligt sind. Der EWSA bedauert, dass der Arbeitsschutz nicht die selbständig Erwerbstätigen umfasst.

7.4

Der Ausschuss unterstützt die Anpassung der einzelstaatlichen Gesundheitssysteme, durch die eine Erhöhung der Qualität der Gesundheitsfürsorge angestrebt wird. Bei der Beseitigung der Unterschiede in den Mitgliedstaaten und zwischen ihnen ist nicht nur zu untersuchen, welche Zuständigkeiten die Mitgliedstaaten haben, sondern auch welche Rolle die Regionen spielen — eine Rolle, die keinesfalls dazu führen darf, dass den Mitgliedstaaten Kompetenzen weggenommen werden. In diesem Zusammenhang ist der EWSA zutiefst beunruhigt über die Reformen des Gesundheitswesens, die in einigen Mitgliedstaaten durchgeführt werden mit dem Ziel, die öffentlichen Krankenversicherungssysteme zu beschneiden und das öffentliche Gesundheitswesen im großen Stil zu privatisieren.

7.5

Der EWSA unterstützt das Ziel der Kommission, die Prävention zu fördern und auszubauen, da sie beabsichtigt, die Gesundheit von älteren Menschen, Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Die Erreichung dieses Ziels hängt auch maßgeblich von den Maßnahmen in den Bereichen Tabakkonsum, Ernährung, Alkoholmissbrauch, psychische Gesundheit (einschließlich Alzheimer-Krankheit) und Krebsvorsorge ab (16).

7.6

Der Ausschuss begrüßt die Fortschritte der technologischen Entwicklung, ist aber der Auffassung, dass die Forderungen hinsichtlich der Chancengleichheit durch die vorgeschlagene Lösung der elektronischen Gesundheitsdienste nicht erfüllt werden. Tatsächlich sind die Konzepte der Fachleute in dieser Frage unbekannt. Auch wenn es gerechtfertigt ist, die Kostensenkung und einen stärker auf den einzelnen Menschen konzentrierten Ansatz herauszustellen, werden die effektive Wahrnehmung der Patientenrechte und die Aufgaben der Mitgliedstaaten im Bereich Entwicklung und Überwachung nicht angemessen dargestellt.

7.7

Der EWSA befürwortet die verstärkte Zusammenarbeit und die Entwicklung neuer Initiativen mit internationalen Organisationen. Die EU spielt eine wichtige Rolle bei der Gewährung internationaler Hilfen. Der Ausschuss stimmt der Intensivierung der Zusammenarbeit mit der WHO zu.

7.8

Die EU kann die Umsetzung der Ziele der WHO für das 21. Jahrhundert nur dann fördern, wenn sie effektiv mit den Mitgliedstaaten, den Sonderorganisationen der UNO, der WHO, der ILO, anderen internationalen Organisationen und der Internationalen Organisation für Migration zusammenarbeitet. Außerdem müssen die Beziehungen zu den internationalen Finanzorganisationen wie dem IWF und der Weltbank gestärkt werden, und es gilt, die Bildung von internationalen Diskussionsforen mit den Sozialpartnern, den Berufsverbänden und der Zivilgesellschaft und insbesondere mit den repräsentativen Patienten- und Verbraucherschutzorganisationen zu fördern.

7.9

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass er im Rahmen einer verstärkten Präsenz der EU auf internationaler Ebene und innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs eine aktivere Rolle in den einschlägigen internationalen Diskussionen spielen sollte — insbesondere dort, wo es um die Folgen der durch den Klimawandel bedingten Probleme für die menschliche Gesundheit geht.

7.10

Die Gesundheitsstrategie muss ein ständiges Thema auf der Tagesordnung der europäischen Nachbarschaftspolitik und der internationalen Politik der EU werden, damit gemeinsam gegen neue Gesundheitsgefahren und Pandemien, gegen die Folgen von Naturkatastrophen und gegen die neuen Gesundheitsprobleme im Zuge des Klimawandels und anderer Faktoren gekämpft werden kann.

8.   Ressourcen und Finanzmittel

8.1

Der EWSA hält es für wichtig, die Gesundheitsstrategie in allen EU-Politikbereichen zu berücksichtigen. Die erforderlichen Finanzmittel müssen gewährleistet sein, da der Haushaltsplan der EU laut Weißbuch hierfür keine zusätzlichen Mittel vorsieht. Deshalb bezweifelt der Ausschuss, ob die Überwachung auf Gemeinschaftsebene und die Vorschläge zur Stärkung der Mechanismen zur Überwachung und Bewältigung von Gesundheitsgefahren ohne entsprechende finanzielle Ausstattung erfolgreich sein werden. Es wäre daher sowohl hinsichtlich einer effizienten Finanzierung als auch hinsichtlich der Kontinuität der Gemeinschaftspolitiken empfehlenswert, speziell für jede Einzelmaßnahme eine durchgängige Finanzierung sicherzustellen (17).

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Schlussfolgerungen des Rates zu den gemeinsamen Werten und Prinzipien in den Gesundheitssystemen der Europäischen Union (C 2006, 146/01).

(2)  Die Agentur für Grundrechte in Wien, die Agentur in Bilbao, das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten u.a.

(3)  Siehe Stellungnahme des EWSA vom 12. März 2008 zum Thema „Der EU-Haushalt und seine künftige Finanzierung“, Berichterstatterin: Frau FLORIO (ABl. C 204 vom 9. August 2008).

(4)  Stellungnahme des EWSA vom 6. Juli 2006 zum Thema „Sozialer Zusammenhalt: Ein europäisches Sozialmodell mit Inhalt füllen“, Berichterstatter: Herr EHNMARK (ABl. C 309 vom 16.12.2006).

(5)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Umsetzung der Lissabon-Strategie: Sachstand und Zukunftsperspektiven“.

(6)  Rede von Margaret CHAN, Generaldirektorin der WHO: „Rede vor dem Regionalkomitee für Europa“, 18. September 2007, Belgrad, Serbien:

http://www.who.int/dg/speeches/2007/20070918_belgrade/fr/index.html

(7)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Patientenrechte“ (Initiativstellungnahme), Berichterstatter: Herr BOUIS (ABl. C 10 vom 15.1.2008).

(8)  Vgl. Folgenabschätzung: in Italien belaufen sich die gesunden Lebensjahre von Männern auf 71, in Ungarn indes auf 53.

(9)  Stellungnahme des EWSA zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006-2010“, Berichterstatterin: Frau ATTARD, (ABl. C 318 vom 23.12.2008).

(10)  Stellungnahme des EWSA vom 17. Mai 2006 zum „Grünbuch: Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern — Entwicklung einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen Union“, Berichterstatter: Herr BEDOSSA (ABl. C 195 vom 18.8.2006).

(11)  Stellungnahme des EWSA vom 20. April 2006 zum „Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs (2008)“, Berichterstatterin: Frau CSER (ABl. C 185 vom 8.8.2006).

(12)  Z.B. das Netz der ungarischen Krankenschwestern, die Kinder und ihre Familien vom Beginn der Schwangerschaft bis zur Volljährigkeit der Kinder begleiten.

(13)  Stellungnahme des EWSA vom 17. Mai 2006 zu der Mitteilung der Kommission „Reaktion auf den Reflexionsprozess auf hoher Ebene über die Patientenmobilität und die Entwicklungen der gesundheitlichen Versorgung in der Europäischen Union“, Berichterstatter: Herr BEDOSSA (ABl. C 120 vom 20.5.2005).

(14)  Stellungnahme des EWSA vom 11. Juli 2007 zum Thema „Migration und Entwicklung: Chancen und Herausforderungen“, Berichterstatter: Frau CSER und Herr SHARMA, (ABl. C 256 vom 27.10.2007).

(15)  Stellungnahme der EWSA vom 29. Mai 2008 zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: ‚Die Arbeitsplatzqualität verbessern und die Arbeitsproduktivität steigern: Gemeinschaftsstrategie für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2007-2012‘“, Berichterstatterin: Frau CSER (ABl. C 224 vom 30. August 2008).

(16)  Stellungnahme des EWSA vom 30. Mai 2007 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: ‚Eine EU-Strategie zur Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Verringerung alkoholbedingter Schäden‘“, Berichterstatter: Frau VAN TURNHOUT und Herr JANSON (ABl. C 175 vom 27.7.2007) und Stellungnahme des EWSA vom 28. September 2005 zum Thema „Übergewichtigkeit in Europa — Rolle und Verantwortung der Partner der Zivilgesellschaft“ (Initiativstellungnahme), Berichterstatterin: Frau SHARMA (ABl. C 24 vom 30.1.2006).

(17)  Stellungnahme des EWSA vom 5. Juli 2006 zum „Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaft (//EG, Euratom)“, Berichterstatterin: Frau CSER (ABl. C 309 vom 16.12.2006).


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/102


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Ausweitung der Antidiskriminierungsmaßnahmen über die Beschäftigung hinaus auf andere Bereiche und Zweckmäßigkeit einer einzigen umfassenden Antidiskriminierungsrichtlinie“

(2009/C 77/24)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Januar 2008, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Ausweitung der Antidiskriminierungsmaßnahmen über die Beschäftigung hinaus auf andere Bereiche und Zweckmäßigkeit einer einzigen umfassenden Antidiskriminierungsrichtlinie“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr CROOK.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 18. September) mit 112 gegen 3 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Das Recht auf Gleichbehandlung ist sowohl ein universelles Recht als auch ein Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts. Es ist in der Charta der Grundrechte verankert und gründet sich auf die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die übrigen von allen Mitgliedstaaten unterzeichneten internationalen Übereinkommen und die verfassungsmäßigen Traditionen, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind.

1.2

Gemäß Artikel 13 EGV ist die EU verpflichtet, jede Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse oder ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung in allen Bereichen, für die sie zuständig ist, zu bekämpfen. Der Lissabon-Vertrag erhebt die Bekämpfung der Diskriminierung zu einem spezifischen Ziel der EU.

1.3

Die Diskriminierung aus den in Artikel 13 genannten Gründen könnte die in Artikel 2 EGV festgelegten Ziele der Europäischen Gemeinschaft aushöhlen, darunter die Förderung eines hohen Beschäftigungs- und Sozialschutzniveaus, die Gleichheit von Frauen und Männern, die Anhebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt und die Solidarität unter den Mitgliedstaaten.

1.4

Ein wirksamer Schutz gegen Diskriminierung über den Beschäftigungsbereich hinaus ist wichtig, um die Entwicklung demokratischer und toleranter Gesellschaften zu gewährleisten, die den Ausdruck der Vielfalt sowie die uneingeschränkte Beteiligung und Einbindung aller Menschen in das wirtschaftliche und soziale Leben ermöglichen.

1.5

Angesichts der anhaltenden Ungleichheit und Diskriminierung in der EU muss gehandelt werden. Diskriminierung schadet dem Einzelnen, aber auch der europäischen Gesellschaft insgesamt. Das geltende EU-Recht ist in dieser Hinsicht ungeeignet. Neben dem Schutz vor Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf aus den in Artikel 13 angeführten Gründen gewährleistet das EU-Recht auch den Schutz vor Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft in Teilbereichen des Sozialsystems (z.B. soziale Sicherheit und Gesundheitsversorgung, Sozialleistungen, Bildung, Zugang zu Waren und Dienstleistungen und Wohnraum) sowie aus Gründen des Geschlechts beim Zugang zu Waren und Dienstleistungen. Hingegen besteht in der EU über den Beschäftigungsbereich hinaus kein rechtlicher Schutz vor Diskriminierung aus Gründen der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters und der sexuellen Orientierung. In den Gemeinschaftsvorschriften zur Bekämpfung der Diskriminierung wird weder die Mehrfachdiskriminierung anerkannt noch ein diesbezüglicher Schutz geboten.

1.6

Die derzeitige Situation des rechtlichen Schutzes in der EU ist komplex. Viele Mitgliedstaaten haben Gesetze erlassen, die über die Anforderungen der EU hinausgehen, auch wenn sie bezüglich des Inhalts, der Art und des Umfangs des gebotenen Schutzes sehr unterschiedlich sind; andere setzen jedoch gerade einmal die Mindeststandards um. Auch wenn Fachbehörden bei der Bekämpfung der Diskriminierung und der Förderung der Gleichstellung nachweislich von Nutzen sind, fordert das EU-Recht das Handeln solcher Einrichtungen nur im Zusammenhang mit der Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder ethnischen Herkunft und des Geschlechts. In zahlreichen Mitgliedstaaten existieren Gleichstellungsbehörden, die gegen die Diskriminierung aus allen bzw. einigen der in Artikel 13 genannten Gründen vorgehen.

1.7

Nach Auffassung des EWSA spricht nichts dafür, dass die EU ein Rechtssystem, das auf einer eindeutigen vertraglichen Verpflichtung zur Bekämpfung der Diskriminierung aus sechs expliziten Gründen beruht, aufrechterhält, wenn dieses weiterhin unterschiedliche Schutzniveaus — für bestimmte Fällen einen geringeren Schutz und eine geringere Garantie der Gleichbehandlung aus bestimmten Gründen — ermöglicht. Wenn die Mitgliedstaaten nicht eindeutig dazu verpflichtet sind, einen EU-weiten Standard zu erfüllen, gibt es für sie keinen Anreiz, Gesetze zu erlassen, die für einheitliche Rechte bezüglich aller Diskriminierungsgründe sorgen.

1.8

Der EWSA hat die Sorge, dass die Verwirklichung der Ziele der EU durch diesen hierarchischen Aufbau des Diskriminierungsschutzes erheblich erschwert wird. Diese Struktur könnte die Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Waren behindern; so könnten Arbeitnehmer zögern, in Länder mit weniger einklagbaren Rechten umzusiedeln, während es für Anbieter von Waren oder Dienstleistungen negativ wäre, wenn sie in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Gleichstellungsstandards erfüllen müssten. Diese Situation wäre dem sozialen Zusammenhalt abträglich und würde die Teilhabe an der Zivilgesellschaft einschränken.

1.9

Der EWSA ist der Ansicht, dass es jetzt neuer EU-Rechtsakte bedarf, die über den Beschäftigungsbereich hinaus die Diskriminierung aus Gründen der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters und der sexuellen Orientierung untersagen. In Einklang mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gemäß Artikel 5 EGV kann ein hoher gemeinsamer Standard des rechtlichen Schutzes in allen Mitgliedstaaten nur durch ein Handeln auf Gemeinschaftsebene erreicht werden.

1.10

Die EU sollte in Form einer einzigen, alle vier Gründe abdeckenden Richtlinie tätig werden. Im Interesse der Kohärenz und der Kompatibilität zwischen dem EU-Recht und den nationalen Rechtsvorschriften sollte die neue Richtlinie auf alle anderen Bereiche als den Bereich Beschäftigung und Beruf angewandt werden, für den die Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse gilt. Der EWSA ist der Ansicht, dass eine einzige Richtlinie wesentliche Vorteile aufweist: Sie würde größtmögliche Klarheit für Unternehmen und andere Anbieter von Waren und Dienstleistungen schaffen, indem sie diese dazu anhält, die Anforderungen frühzeitig zu erfüllen; sie würde einen effektiven Schutz gegen Mehrfachdiskriminierung garantieren; und schließlich würde sie den sozialen Zusammenhalt stärken.

1.11

Der EWSA begrüßt deshalb den am 2. Juli 2008 veröffentlichten Beschluss der Kommission, eine neue Richtlinie zur Umsetzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung vorzuschlagen.

1.12

Es ist wichtig, dass der neue Rechtsakt das Recht auf Gleichheit weder verwässert noch verringert und nicht zu einer Minderung des Diskriminierungsschutzes im Rahmen der geltenden Antidiskriminierungsvorschriften der EU oder der Mitgliedstaaten führt. Eine neue Richtlinie sollte einen Rahmen für die Einhaltung der Gleichstellungsverpflichtungen gemäß den Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte der Menschen mit Behinderungen bieten und die Pflicht vorsehen, Zugangsmöglichkeiten und angemessene Wohnungen zu schaffen, damit behinderte Menschen voll und ganz am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Sie sollte Maßnahmen ermöglichen, die ein positives Vorgehen und eine mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbare Vorzugsbehandlung aufgrund des Alters oder einer Behinderung gestatten. Sie darf keine pauschale Begründung für direkte Diskriminierung liefern, sollte jedoch eine unterschiedliche Behandlung dann erlauben, wenn sie der Gleichheit und der Achtung der Menschenwürde förderlich ist. Schließlich sollte sie die Einrichtung bzw. den Aufbau von Fachbehörden vorsehen, um die Gleichbehandlung hinsichtlich der übrigen vier Gründe abzudecken.

2.   Gleichheit ist ein Grundprinzip des EU-Rechts

2.1

Das Recht auf Gleichheit ist sowohl ein universelles Recht als auch ein Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts. Es gründet sich auf die von allen Mitgliedstaaten unterzeichneten internationalen Übereinkommen und die verfassungsmäßigen Traditionen der Mitgliedstaaten und ist in Artikel 21 und 22 der Charta der Grundrechte verankert.

2.2

Das Recht auf Gleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz, das vor über 30 Jahren vereinbart wurde, ist ein Meilenstein in der Geschichte der Union. Die Gleichbehandlung von Frauen und Männern bleibt für die Gerechtigkeit im Binnenmarkt, die Freizügigkeit und den Aufbau einer starken und solidarischen europäischen Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung.

2.3

In den 90-er Jahren stieg das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung aus anderen Gründen als dem Geschlecht und in anderen Bereichen als der Beschäftigung. Die Aufnahme von Artikel 13 in den Amsterdamer Vertrag war ein wichtiger Schritt, der zur Übertragung neuer Zuständigkeiten und ein stärkeres Engagement zugunsten der Gleichstellung führte. Gemäß Artikel 13 EGV ist die EU nunmehr verpflichtet, die Diskriminierung nicht nur aus Gründen des Geschlechts zu bekämpfen, sondern auch aus Gründen der Rasse oder ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters und der sexueller Orientierung.

2.4

Angesichts der Dringlichkeit der Maßnahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung aus den anderen Gründen erließ der Rat im Jahr 2000 zwei Richtlinien: die Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (2000/43/EG) und die Beschäftigungsrahmenrichtlinie (2000/78/EG) zur Schaffung eines allgemeinen Rahmens für die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. 2004 billigte der Rat die Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (2004/113/EG).

2.5

In den Erwägungsgründen aller drei Richtlinien wird auf Artikel 6 des EU-Vertrags Bezug genommen und bekräftigt, dass das Recht auf Gleichheit ein Grundrecht darstellt, das auf den Rechten beruht, die in den von allen Mitgliedstaaten unterzeichneten internationalen Übereinkommen und den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen verfassungsmäßigen Traditionen verankert sind.

2.6

Diese Auffassung wurde vom Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache Mangold gegen Helm  (1) in seinem vorläufigen Urteil über die Auslegung der Richtlinie des Rates 2000/78/EG über Altersdiskriminierung bekräftigt:

74. […] Nach ihrem Artikel 1 bezweckt diese Richtlinie [2000/78] nämlich lediglich ‚die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung‘, wobei das grundsätzliche Verbot dieser Formen der Diskriminierung, wie sich aus der ersten und der vierten Begründungserwägung der Richtlinie ergibt, seinen Ursprung in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten hat.

75. Das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters ist somit als ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anzusehen […].“

Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass der Gerichtshof die Anwendung dieses Prinzips nicht auch auf die anderen in der Richtlinie 2000/78 genannten Gründe bekräftigen würde.

2.7

In der Rechtssache Coleman gegen Attridge Law — einem Verfahren, in dem der Europäische Gerichtshof ein vorläufiges Urteil fällen soll — hat sich der Generalanwalt in seinem Schlussantrag wie folgt geäußert (2):

8. Bei Art. 13 EG handelt es sich um eine Ausprägung des Bekenntnisses der gemeinschaftlichen Rechtsordnung zum Grundsatz der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung. […] Die Rechtsprechung des Gerichtshofs in Bezug auf die Rolle von Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung in der gemeinschaftlichen Rechtsordnung ist klar. Gleichheit ist nicht nur ein politisches Ideal und Bestreben, sondern einer der tragenden Grundsätze des Gemeinschaftsrechts […]“.

2.8

Die Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse (3) wie auch die Beschäftigungsrahmenrichtlinie (4) spiegeln die Auffassung des Rates wider, dass die Diskriminierung aus den in Artikel 13 genannten Gründen die in Artikel 2 EGV festgelegten Ziele der EU unterminieren könnten, darunter die Förderung eines hohen Beschäftigungs- und Sozialschutzniveaus, die Gleichheit von Frauen und Männern, die Anhebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, sowie der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt und die Solidarität unter den Mitgliedstaaten.

2.9

Der Lissabon-Vertrag verleiht der Bekämpfung der Diskriminierung aus den in Artikel 13 (5) genannten Gründen neues Gewicht, indem sie zu einem spezifischen Ziel der EU bei der Entwicklung und Umsetzung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen erklärt wird (6).

3.   Bedeutung eines wirksamen Schutzes gegen Diskriminierung über den Beschäftigungsbereich hinaus

3.1

Die Beschäftigungsrahmenrichtlinie enthält allgemeine Rahmenbedingungen für die Gleichbehandlung hinsichtlich der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung im Bereich Beschäftigung und Beruf. Durch die Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft wird der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht nur auf den Bereich Beschäftigung und Beruf angewandt, sondern auch auf den Sozialschutz, einschließlich sozialer Sicherheit und Gesundheitsversorgung, Sozialleistungen, Bildung, Zugang zu Waren und Dienstleistungen für die Öffentlichkeit, einschließlich Wohnungen.

3.2

Die Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen ergänzt den Schutz vor sexuellen Diskriminierung im Bereich Beschäftigung und Beruf in den gemäß Artikel 141 EGV verabschiedeten Richtlinien (7).

3.3

Sowohl in der Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse (8) als auch in der Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (9) hat der Rat anerkannt, dass, um die uneingeschränkte Teilhabe aller Menschen zu gewährleisten, der Schutz vor Diskriminierung über den Beschäftigungsbereich hinausgehen sollte.

3.4

Der EWSA hat die Bedeutung der elektronischen Zugänglichkeit (eAccessibility) (10) bei der Bekämpfung der Diskriminierung und der Ermöglichung der uneingeschränkten gesellschaftlichen Teilhabe aller Gruppen anerkannt und Rechtsvorschriften gemäß Artikel 13 empfohlen, um einen hohen Standard für einschlägige Maßnahmen zu erreichen.

3.5

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Beseitigung der Diskriminierung inner- und außerhalb des Arbeitsmarkts für die Erreichung der Lissabon-Ziele wesentlich ist. Umgekehrt erschwert die Diskriminierung im Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Wohnungswesen oder beim Zugang zu wichtigen öffentlichen oder privaten Dienstleistungen Fortschritte hin zur Verwirklichung des nachhaltigen Wachstums und zur Schaffung neuer und besserer Arbeitsplätze.

4.   Derzeitige Situation der Gleichstellung und der Nichtdiskriminierung in der EU

4.1

Das Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle 2007 war eine gute Gelegenheit für EU-Institutionen, nationale Regierungen und die Zivilgesellschaft, über die Bedeutung der Gleichstellung und der Beseitigung der Diskriminierung für die Stärkung des Zusammenhalts in der Gesellschaft nachzudenken. Es führte vor Augen, dass, wie der Rat ausdrücklich festgestellt hat, Ungleichheit und Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse oder ethnischen Herkunft, des Alters, einer Behinderung, der Religion oder Weltanschauung oder der sexuellen Orientierung „in der EU nach wie vorkommen [sic!], was für die einzelnen betroffenen Frauen und Männer und für die Gesellschaft der jeweiligen Mitgliedstaaten insgesamt erhebliche nachteilige Auswirkungen hat (11).

4.2

Das Europäische Jahr zeigte auch die Unterschiede beim Schutz vor Diskriminierung in den geltenden EU-Rechtsvorschriften auf (siehe dazu Ziffern 3.1 und 3.2). Der EWSA hat die Sorge, dass die Verweigerung einer gerechten Behandlung (einschließlich institutioneller diskriminierender Praktiken) im Sinne aller in Artikel 13 genannten Gründe — z.B. im Gesundheits- oder Bildungswesen, beim Zugang zu Gütern oder Dienstleistungen oder zu Wohnraum — zur fortbestehenden Ungleichheit beim Zugang zu Beschäftigung beitragen und die Lebensqualität der Menschen und ihre Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe erheblich beeinträchtigen könnte.

5.   Mehrfachdiskriminierung

5.1

Der Rat hat darauf hingewiesen, dass „das Europäische Jahr deutlich gemacht hat, wie sich die Probleme durch Mehrfachdiskriminierung verschärfen (12).

5.2

Der Begriff „Mehrfachdiskriminierung“ trägt der Tatsache Rechnung, dass jeder Mensch über eine komplexe Identität verfügt. Er bezeichnet den Umstand, dass ein Mensch aus mehreren Gründen, die seine Identität betreffen, diskriminiert oder angefeindet werden kann.

5.3

Im Dezember 2007 legte das Dänische Institut für Menschenrechte einen Bericht über den Umgang mit Mehrfachdiskriminierung (Methoden, Maßnahmen, Gesetze) vor (13). Aus ihren akademischen und juristischen Forschungen und Konsultationen von Interessenträgern schließen die Autoren, dass, um der realen Diskriminierung und Ungleichheit Herr zu werden, praktikable Lösungen zur Bekämpfung der Mehrfachdiskriminierung gefunden werden müssen (14).

5.4

Die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien und die nationalen Gesetze zu deren Umsetzung sollten einen ausreichenden Schutz und eine ausreichende rechtliche Absicherung gegen sämtliche Formen der Mehrfachdiskriminierung bieten können. Dazu bedarf es aber des gleichen Schutzes vor Diskriminierung aus allen genannten Gründen. Das EU-Recht ermöglicht dies derzeit aber nur im Beschäftigungsbereich.

6.   Rechtlicher Schutz vor Diskriminierung in der gesamten EU

6.1

Auch wenn die Mitgliedstaaten die Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse und die Beschäftigungsrahmenrichtlinie noch nicht angemessen umgesetzt haben (15), haben viele Mitgliedstaaten Gesetze zum Verbot von Diskriminierung geschaffen, die über die Bestimmungen der Richtlinie im Sinne von Artikel 13 hinausgehen.

6.2

Gegenstand einer im Dezember 2006 veröffentlichten „Mapping-Studie“ (16) waren die nationalen Rechtsvorschriften zur Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters und der sexuellen Orientierung außerhalb des Bereichs Beschäftigung und Berufs. Die Verfasser stellen fest:

Bei der Untersuchung der europäischen Länder fällt zunächst auf, dass 1. die meisten Länder weit über die Anforderungen aus dem gegenwärtigen EG-Recht hinausgehen und einen gewissen Rechtsschutz vor den im vorliegenden Bericht erörterten Diskriminierungen bieten, und dass sich 2. die Länder bezüglich des Ausmaßes und der Art dieses Schutzes stark voneinander unterscheiden.“  (17).

6.3

Die Verfasser konstatieren große Unterschiede bei den Gründen für den Schutz im Zusammenhang mit den einzelnen Tätigkeitsbereichen und bei der Frage, ob der Schutz in nationalen Verfassungen, allgemeinen Antidiskriminierungsgesetzen, nationalen oder regionalen Rechtsvorschriften oder Sondergesetzen für bestimmte Einzelbereiche (z.B. Wohnungs- oder Bildungswesen) verankert ist. In Bezug auf jeden Grund und jeden Bereich gibt es Abweichungen zwischen den Ländern in Art, Form und Umfang der Ausnahmeregelungen in den Antidiskriminierungsgesetzen (18). Die vergleichende Analyse von Bell, Chopin und Palmer (19) bekräftigt dieses Untersuchungsergebnis, d.h. die Variation und Inkohärenz zwischen den Mitgliedstaaten.

6.4

Wie der Rat in seiner Entschließung zu den Folgemaßnahmen zum Europäischen Jahr festgestellt hat, sind spezifische Gleichstellungsbehörden (mögliche) maßgebliche treibende Kräfte bei der Bekämpfung von Diskriminierung und der Förderung der Gleichheit in jedem Mitgliedstaat. Insbesondere tragen sie zur Bewusstseinsbildung bei. Die Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse, die Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen und die Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Frauen und Männern in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung) (20) verpflichten die Mitgliedstaaten zur Einrichtung spezifischer Gleichstellungsbehörden mit dem Ziel der Förderung der rechtlichen Gleichstellung aus Gründen der Rasse oder ethnischen Herkunft und des Geschlechts, nicht aber aus Gründen der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, der sexuellen Orientierung oder des Alters. Die Fachbehörden in den Mitgliedstaaten sind jedoch für ganz unterschiedliche Diskriminierungsgründe zuständig: einige nur für Rasse und ethnische Herkunft, andere für sämtliche in Artikel 13 aufgeführten Gründe sowie weitere Gründe (21). Auf europäischer Ebene gibt es das Netz „Equinet“ (22), dem autonome Einrichtungen und Regierungseinrichtungen angehören, die in den Mitgliedstaaten für die Anwendung der Antidiskriminierungsvorschriften zuständig sind.

6.5

Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte hat nach einer EU-weiten Überprüfung des rechtlichen Schutzes vor Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Orientierung (23) empfohlen, im EU-Recht gleiche Rechte auf Gleichbehandlung aus allen in Artikel 13 genannten Gründen sicherzustellen.

6.6

Nach Auffassung des EWSA existieren keine nachvollziehbaren Argumente für ein System von EU-Antidiskriminierungsvorschriften, das auf der vertraglichen Pflicht zur Bekämpfung der Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse oder ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alter und der sexuellen Orientierung beruht und das geringere Schutzniveaus und beschränkter Garantien für die Gleichbehandlung aus einigen der genannten Gründe ermöglicht und verstetigt.

6.7

Ohne kohärente, alle Gründe abdeckende Rechtsvorschriften auf EU-Ebene gibt es keinen wirklichen Anreiz für die Mitgliedstaaten, kohärente Gesetze zu erlassen, und auch keine Rechtsgrundlage für ein Tätigwerden der Kommission oder des Rates, da die Niveaus des Schutzes vor Diskriminierung ungleichmäßig oder unangemessen sind (so wie derzeit der Fall).

6.8

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Erlass von Rechtsvorschriften zum Verbot der Diskriminierung allein nicht ausreicht, um ein Land von der Geißel der Diskriminierung zu befreien; es kann aber gesagt werden, dass er die Tatsache widerspiegelt, dass ein Land die durch die Diskriminierung hervorgerufenen Schäden für den Einzelnen und die Gesellschaft anerkennt und sich in der Pflicht sieht, dagegen mit rechtlichen Mitteln vorzugehen. Das Fehlen von Antidiskriminierungsgesetzen vermittelt jedoch eine ganz andere Botschaft: Es vermittelt den (irrigen) Eindruck, dass es keine Diskriminierung gibt bzw. diese kein gravierendes Problem darstellt, das formelle Präventivmaßnahmen erforderlich machen würde; in politischer Hinsicht bedeutet es, dass die Einwände potenzieller „Diskriminatoren“ gegen jede Form der Regulierung mehr Gewicht haben als die Bemühungen, die Lebensqualität für alle Bürger zu verbessern und den sozialen Zusammenhalt zu stärken.

6.8.1

Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass es informelle nichtlegislative Maßnahmen zur Förderung bewährter Methoden nicht vermocht haben, tief verwurzelte Diskriminierungspraktiken auszumerzen.

6.8.2

Antidiskriminierungsgesetze ohne umfassendes Sensibilisierungs- und Bildungsprogramm und ohne effektive Umsetzung werden ihre Ziele verfehlen.

7.   Eine Hierarchie der Gleichstellungsrechte ist der Verwirklichung der Ziele der EU abträglich

7.1

Der EWSA ist der Auffassung, dass die gegenwärtige Hierarchie der Antidiskriminierungsmaßnahmen in der EU inkonsistent und damit der Verwirklichung der Unionsziele abträglich ist:

Sie behindert die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die in einigen Mitgliedstaaten weniger einklagbare Rechte auf Nichtdiskriminierung haben als in anderen. Beispielsweise gaben 69,2 % der Personen, die an der Internet-Umfrage der Kommission „Ist Diskriminierung von Bedeutung?“ teilnahmen, an, dass das Niveau des rechtlichen Schutzes vor Diskriminierung aus Gründen des Alters, einer Behinderung, der Religion und der sexuellen Orientierung über den Beschäftigungsbereich hinaus ihre Entscheidung, in einen anderen Mitgliedstaat umzusiedeln, beeinflussen würde (24).

Sie kann die Freizügigkeit von Waren behindern, da Lieferanten in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedliche Gleichstellungsstandards im Bereich Güter und Dienstleistungen erfüllen müssen. Beispielsweise gaben 26,3 % der Unternehmen, die an der Umfrage des Europäischen Unternehmens-Testpanels zum Thema „Antidiskriminierung“ (25) teilnahmen, an, dass das Niveau des rechtlichen Schutzes vor Diskriminierung aus Gründen des Alters, einer Behinderung, der Religion und der sexuellen Orientierung in den Bereichen Güter und Dienstleistungen sowie Wohnungen ihre Unternehmenstätigkeit in dem betreffenden Land beeinflussen würde.

Sie beeinträchtigt die Lebensqualität, da mit hoher Wahrscheinlichkeit Fälle von Diskriminierung und Belästigung ohne gesetzliches Verbot ungeahndet bleiben und wirtschaftliche und soziale Rechte weiterhin nicht in vollem und gleichem Umfang in Anspruch genommen werden können.

Sie wirkt dem sozialen Zusammenhalt entgegen, da nicht alle gesellschaftliche Gruppen umfassend und gleichermaßen anerkannt werden.

Sie schränkt die Teilhabe von größeren Gruppen und Gemeinschaften an der Zivilgesellschaft ein.

7.2

In seiner Entschließung zu den Folgemaßnahmen zum Europäischen Jahr stellt der Rat in Bezug auf die Diskriminierung mit Besorgnis fest, dass

„Diskriminierung zu Armut und sozialer Ausgrenzung führen kann, indem sie die Teilhabe an den Ressourcen und den Zugang zu ihnen verhindert“;

„das Europäische Parlament und die Zivilgesellschaft zu einer Ausdehnung des gesetzlichen Schutzes vor Diskriminierung in Bereichen, die über Beschäftigung und Beruf hinausgehen, aufgerufen haben“ und

die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission „die Bemühungen zur Verhütung und Bekämpfung von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der Rasse oder der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung innerhalb und außerhalb des Arbeitsmarktes […] verstärken [sollten]“.

8.   Notwendigkeit einer neuen Richtlinie

8.1

Um den Bedenken des Rates Rechnung zu tragen und ein einheitliches Mindestschutzniveau in der gesamten EU sicherzustellen, sind neue Rechtsakte erforderlich, mit denen der Grundsatz der Gleichbehandlung ungeachtet einer Behinderung, der Religion oder Weltanschauung, der sexuellen Orientierung oder des Alters über den Beschäftigungsbereich hinaus umgesetzt werden soll.

8.2

Angesichts der Art und des Ausmaßes der Phänomene im Zusammenhang mit den derzeitigen Diskriminierungsniveaus und ihren Auswirkungen auf die Verwirklichung der Ziele der EU sowie der Notwendigkeit eines gemeinsamen hohen Schutzniveaus in allen Mitgliedstaaten reichen Maßnahmen auf nationaler Ebene nicht aus. Deshalb muss auf Gemeinschaftsebene entsprechend dem in Artikel 5 EG-Vertrag festgelegten Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gehandelt werden.

8.3

Zu diesem Zweck empfiehlt der EWSA, eine einzigen Richtlinie zu erarbeiten, die die Diskriminierung aus Gründen einer Behinderung, der Religion oder Weltanschauung, der sexuellen Orientierung oder des Alters über den Beschäftigungsbereich hinaus und im Rahmen der Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse untersagt sowie die Einrichtung bzw. den Ausbau einer Gleichstellungsbehörde mit umfassenden Befugnissen hinsichtlich aller in den Geltungsbereich dieses Rechtsakts fallenden Fragen fordert. Dies entspricht der wichtigsten Empfehlung der EU-Agentur für Menschenrechte (26).

8.3.1

Der EWSA räumt zwar ein, dass der Schutz im Rahmen der geltenden Antidiskriminierungsrichtlinien verstärkt werden könnte (einschließlich einer deutlicheren Anerkennung der institutionellen Diskriminierung); seine derzeitige Priorität geht dahin sicherzustellen, dass für die vorgenannten Gründen das gleiche Schutzniveau existiert wie jetzt schon für die Rasse und die ethnische Herkunft.

8.4

Der EWSA ist sich bewusst, dass zahlreiche Organisationen, insbesondere Kleinunternehmen, angesichts der damit verbundenen Kosten zunächst mit echter Besorgnis auf einen neuen Legislativvorschlag reagieren werden. Die verschiedenen Regelungsebenen machen die Einhaltung von Rechtsvorschriften für Unternehmen „äußerst schwierig“ (27). Der EWSA ist nicht der Überzeugung, dass die Umsetzung einer einzigen Richtlinie zur Schaffung eines EU-weiten Standards für den Schutz vor Diskriminierung über den Beschäftigungsbereich hinaus zu erheblichen neuen Kosten führen würde. Vielfach würden die Kosten für die Anpassung der Methoden an die Rechtsvorschriften durch eine Erhöhung der Zahl der Kunden infolge der Beseitigung der Diskriminierung wettgemacht. Beispielsweise waren 89,8 % der Teilnehmer an der Umfrage des Europäischen Unternehmens-Testpanels zum Thema „Antidiskriminierung“ der Ansicht, dass Rechtsvorschriften erforderlich sind, um in ganz Europa ein einheitliches Niveau des Schutzes vor Diskriminierung zu gewährleisten (28).

8.5

Der EWSA kennt die Argumente für gesonderte Richtlinien für jeden Diskriminierungsgrund. Er ist aber der Ansicht, dass eine einzige Richtlinie für alle vier Gründe besser ist,

um größtmögliche Klarheit und Transparenz für Privatpersonen sowie Waren- und Dienstleistungsanbieter sicherzustellen. Der EWSA weiß, dass Privatunternehmen nur selten neue Regulierungsformen begrüßen: Werden EU-Antidiskriminierungsstandards für jeden Grund einzeln und zu verschiedenen Zeitpunkten und ohne Gewissheit kohärenter Anforderungen festgelegt, so ist die Einhaltung der Vorschriften insbesondere für kleine Unternehmen mit beschränkten Mitteln weitaus schwieriger;

um wirkungsvolle Reaktionen und Mittel zur Bekämpfung der Mehrfachdiskriminierung zu ermöglichen. Wenn es einen kohärenten und äquivalenten Schutz für alle Gründe gibt, dann können Personen, die wegen mehrere Identitätsmerkmale diskriminiert oder ausgegrenzt werden, geeignete Rechtsmittel einlegen;

um den Rechtsakt verständlich und zugänglich zu gestalten. In seiner Entschließung zu den Folgemaßnahmen zum Europäischen Jahr hat der Rat auf die geringe Bekanntheit der Antidiskriminierungsvorschriften in der Öffentlichkeit hingewiesen (29). Die Aufgabe, den Bekanntheitsgrad zu erhöhen, wird oftmals dadurch erschwert, dass komplexe Unterschiede zwischen den Rechten auf Gleichbehandlung unter verschiedenen Aspekten und in verschiedenen Bereichen in den Rechtsvorschriften der EU und der Mitgliedstaaten existieren;

um jede Form der Hierarchie innerhalb eines europäischen Systems der Rechte auf Gleichbehandlung zu vermeiden. Der soziale Zusammenhalt hängt von dem gemeinsamen Engagement und dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Mitglieder einer Gesellschaft ab; er wird viel schwerer zu erreichen sein, wenn die verschiedenen Gruppen feststellen, dass in den Gesetzestexten die Gleichbehandlungsrechte einer Gruppe mehr wiegen als die einer anderen Gruppe.

8.6

Durch die Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse wurden über den Beschäftigungsbereich hinaus Kernbereiche festgelegt, für die die EU zuständig ist und in denen es für die Verwirklichung der Ziele der EU wichtig und notwendig ist, die Diskriminierung aus Gründen einer Behinderung, der Religion oder Weltanschauung, der sexuellen Orientierung und des Alters zu unterbinden. Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, genau diese Bereiche durch die neue Richtlinie gänzlich abzudecken.

8.7

Der EWSA erkennt an, dass entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip und in bestimmten Tätigkeitsbereichen (z.B. Wohnungs- und Bildungswesen oder bestimmte öffentliche Dienstleistungen) die Organisation und Erbringung von Dienstleistungen und/oder andere Aspekte der Regulierung vornehmlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf nationaler oder regionaler Ebene fallen. Der EWSA ist der Auffassung, dass gemäß Artikel 5 EGV ein umfassender und hoher gemeinsamer Standard für die Gleichbehandlung in all diesen Tätigkeitsbereichen nur durch Rechtsakte auf europäischer Ebene erreicht werden kann.

8.8

Der EWSA begrüßt deshalb die am 2. Juli 2008 veröffentlichte Entscheidung der Kommission, eine neue Richtlinie vorzuschlagen, mit der das Prinzip der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung über den durch die Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse abgedeckten Beschäftigungsbereich hinaus umgesetzt werden soll. Da der Kommission bereits Vorfassungen dieser Stellungnahme übermittelt wurden, hoffen wir, dass die Argumente und die vorläufigen Schlussfolgerungen der EWSA-Studiengruppe, die eine Richtlinie in der jetzigen Form empfohlen hat, der Kommission bei ihrer Entscheidungsfindung dienlich gewesen sind. Darüber hinaus hoffen wir, dass diese Stellungnahme in ihrer Endfassung die Mitgliedstaaten dazu ermutigen wird, den Wert und die Bedeutung eines einschlägigen Rechtsakts der EU anzuerkennen, und ihnen helfen wird, zur positiven Entwicklung und Akzeptanz dieses Rechtsakts beizutragen.

8.9

Der EWSA unterstützt die Entscheidung der Kommission, eine Richtlinie vorzuschlagen, die mit anderen Richtlinien im Sinne von Artikel 13 weitestgehend auf einer Linie liegt — mit denselben Definitionen der Begriffe „direkte und indirekte Diskriminierung“, „Belästigung“ und „positive Maßnahme“, derselben Geltung für alle in einem Mitgliedstaat lebenden Menschen (einschließlich Drittstaatsangehörigen) und denselben Pflichten für die Mitgliedstaaten, Klagerechte, wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen, Schutz vor Schikanen und die Festlegung der Verlagerung der Beweislast sicherzustellen. Ebenso wichtig sind entsprechende Pflichten, Sensibilisierungsmaßnahmen durchzuführen und den Dialog mit den Sozialpartnern und Nichtregierungsorganisationen zu fördern.

8.10

Der EWSA empfiehlt dem Rat und den anderen EU-Institutionen, bei ihrer Prüfung der vorgeschlagenen Richtlinie folgende Aspekte zu berücksichtigen, um sicherzustellen, dass sie in ihrer endgültigen Form die vorgenannten Ziele erreicht:

8.10.1

Sicherung des Schutzniveaus: Die Erarbeitung einer neuen Richtlinie darf nicht dazu dienen, den Schutz vor Diskriminierung in einem Rechtsakt der EU zu verringern. Auch sollten die Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit haben, die Umsetzung der Richtlinie als Grund für die Absenkung des nationalen Schutzniveaus heranzuziehen.

8.10.2

Gleichbehandlungsrechte und angemessener Wohnraum für Behinderte: Die uneingeschränkte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen stößt nicht nur im Beschäftigungsbereich auf Schwierigkeiten, wobei diese in anderen Bereichen noch größer sein können. Die neue Richtlinie sollte für alle Mitgliedstaaten einen Rahmen schaffen, innerhalb dessen diese ihren Gleichbehandlungs- und Nichtdiskriminierungsverpflichtungen entsprechend dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte der Menschen mit Behinderung nachzukommen. haben

8.10.2.1

Die neue Richtlinie sollte vorsehen, dass alle Personen, die soziale Dienstleistungen (u.a. in den Bereichen soziale Sicherheit, Gesundheitsversorgung, Sozialleistungen, Bildung, Waren und Dienstleistungen, Wohnungswesen) erbringen,

a)

die Bedürfnisse von Behinderten antizipieren, z.B. hinsichtlich des Zugangs zu Gebäuden und Verkehrsmitteln sowie zu Informationen für Behinderte; und

b)

Unterkünfte behindertengerecht gestalten, z.B. durch die Beseitigung von Barrieren im Interesse einer größtmöglichen Teilhabe und eines größtmöglichen Nutzens seitens der Betroffenen.

8.10.2.2

Als eine Form der Diskriminierung sollte in der neuen Richtlinie das Versäumnis definiert werden, angemessene Zugangsmöglichkeiten zu schaffen oder einen angemessenen Wohnraum für eine bestimmte behinderte Person bereitzustellen, es sei denn, diese Maßnahmen würden eine unverhältnismäßige Belastung für den Verantwortlichen darstellen.

8.10.3

Mehrfachdiskriminierung: In der Richtlinie sollte bekräftigt werden, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung den Schutz vor Mehrfachdiskriminierung einschließt, damit diesem Umstand im Recht der EU und der Mitgliedstaaten Rechnung getragen wird.

8.10.4

Positive Maßnahmen: Ungleichheit ist ein tief verwurzeltes Phänomen auch in anderen Bereichen als Beschäftigung und Beruf wie Bildungs-, Gesundheits- und Wohnungswesen, Zugang zu Dienstleistungen in Hotels, Gaststätten usw., Finanzdienstleistungen, Reisen usw. Zur Gewährleistung der absoluten Gleichbehandlung in der Praxis sollte die neue Richtlinie den Mitgliedstaaten ausdrücklich erlauben, Maßnahmen zu ergreifen bzw. fortzusetzen, die darauf abzielen, Nachteile aus Gründen der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung zu verhindern oder auszugleichen.

8.10.5

Vorzugsbehandlung aus Gründen einer Behinderung oder des Alters: In der neuen Richtlinie sollten die nationalen Methoden der Vorzugsbehandlung von Personen aus Gründen ihres Alters oder einer Behinderung anerkannt werden, da viele dieser Methoden die soziale Integration von alten, jungen und behinderten Menschen verbessern. Die neue Richtlinie sollte öffentliche oder private Organisationen nicht davon abhalten, Hilfen anzubieten, mit denen konkrete, finanzielle oder mentale Hürden für die gleichberechtigte Teilhabe überwunden oder abgebaut werden sollen. Sie sollte es den Mitgliedstaaten ermöglichen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, vorausgesetzt, dass sie ein legitimes Ziel verfolgen, das mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz in Einklang steht, und dass die Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels angemessen sind.

8.10.6

Ausnahmeregelungen müssen genau festgelegt sein. Der EWSA räumt ein, dass es Umstände gibt, unter denen eine Sonderbehandlung aus einem bestimmten Schutzgrund angemessen und erforderlich ist; er lehnt aber die Einführung einer Pauschalbegründung für direkte Diskriminierung ab. Ausnahmen vom Diskriminierungsverbot dürfen nicht so weit gefasst sein, dass sie die Wirkung des durch die Richtlinie angestrebten Schutzes beeinträchtigen; andererseits sollte die Richtlinie nicht durch eine lange Liste spezifischer Ausnahmen für bestimmte Situationen oder Gründe übermäßig kompliziert gestaltet werden. Eine Sonderbehandlung sollte im Rahmen der Antidiskriminierungsvorschriften nur dann zulässig sein, wenn sie dazu dient, Gleichheit und Menschenwürde zu fördern und zu stärken, und nicht die Wirkung von Antidiskriminierungsbestimmungen schmälert.

8.10.7

Durchsetzung der Rechte: In der neuen Richtlinie sollten die Bedeutung und der Wert der organisierten Zivilgesellschaft anerkannt und sichergestellt werden, dass Vereinigungen oder Organisationen, die ein berechtigtes Interesse an der Einhaltung der Rechtsvorschriften haben, im Namen bzw. zugunsten von Diskriminierungsopfern auf gerichtliche oder administrative Verfahren zurückgreifen können.

8.10.8

Fachbehörden: Sehr günstig für die Bekanntheit und Umsetzung nationaler Gesetze sowie die Förderung der Gleichbehandlung wäre wohl zweifelsfrei eine unabhängige Fachbehörde, die angemessen ausgestattet und befugt ist, die in der Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse (30) oder der Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (31) genannten Funktionen auszuüben. Die neue Richtlinie sollte die Einrichtung oder den Ausbau einer Behörde bzw. mehrerer Behörden zur Bekämpfung der Diskriminierung aus Gründen der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung vorsehen. Darüber hinaus sollte(n) diese Behörde(n) regelmäßig die Ergebnisse von Antidiskriminierungsmaßnahmen bewerten.

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  [2005] EuGH C-144/04 vom 22. November 2005.

(2)  [2008] EuGH C-303/06 vom 31. Januar 2008.

(3)  Erwägungsgrund 9.

(4)  Erwägungsgrund 11.

(5)  Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (konsolidierte und durch den Vertrag von Lissabon geänderte Fassung), Artikel 19.

(6)  Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (konsolidierte und durch den Vertrag von Lissabon geänderte Fassung), Artikel 10.

(7)  Z.B. Richtlinien 76/207/EWG und 2002/73/EG.

(8)  Erwägungsgrund 12.

(9)  Erwägungsgrund 9.

(10)  Stellungnahme des EWSA vom 30.5.2007 zum Thema „Künftige Rechtsvorschriften zur eAccessibility“, Berichterstatter: Herr HERNÁNDEZ BATALLER (ABl. C 175 vom 27.7.2007).

(11)  Entschließung des Rates zu den Folgemaßnahmen zum Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle (2007), S. 1.

(12)  Ebenda, S. 3.

(13)  Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europpäischen Gemeinschaften, 2007 ISBN 978-92-79-06953-6.

(14)  Ebenda, S. 7.

(15)  Siehe: M. Bell, I. Chopin und F. Palmer, „Entwicklung des Antidiskriminierungsrechts in Europa — Ein Vergleich in den 25 EU-Mitgliedstaaten“, Juli 2007, Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 2007, ISBN 978-92-79-06572-9.

(16)  Siehe: A. McColgan, J. Niessen und F. Palmer: „Vergleich der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zur Bekämpfung von Diskriminierung außerhalb von Beschäftigung und Beruf“, VT/2005/062, Migration Policy Group und Human European Consultancy, Dezember 2006.

(17)  Ebenda, S. 3.

(18)  Ebenda: Vergleichende Übersichten auf S. 72ff.; vgl. auch M. Bell, I. Chopin und F. Palmer (siehe dazu Fußnote 15).

(19)  Ebenda: Vergleichende Übersichten auf S. 83-113.

(20)  2006/54/EG.

(21)  Siehe: M. Bell, I. Chopin und F. Palmer, „Entwicklung des Antidiskriminierungsrechts in Europa — Ein Vergleich in den 25 EU-Mitgliedstaaten“, Juli 2007, Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 2007, ISBN 978-92-79-06572-9, S. 108-113.

(22)  Vgl. www.equineteurope.org

(23)  „Homophobia and Discriminination on Grounds of Sexual Orientation in the EU Member States: Part I — Legal Analysis“, Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, 2008 (Verfasser: Olivier de Schutter).

(24)  Online-Befragung Juli-Oktober 2007.

(25)  12.7. — 31.8.2007, Frage 4a.

(26)  „Homophobia and Discriminination on Grounds of Sexual Orientation in the EU Member States: Part I — Legal Analysis“, Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, 2008 (Verfasser: Olivier de Schutter).

(27)  Antwort des Europäischen Arbeitgeberverbands auf die Umfrage der Europäischen Kommission „Diskriminierung — Ist Diskriminierung von Bedeutung?“ (12. Oktober 2007).

(28)  12.7. — 31.8.2007, Frage 4b.

(29)  Online-Befragung Juli-Oktober 2007, S. 1.

(30)  Artikel 13.

(31)  Artikel 12.


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/109


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Mehrsprachigkeit“

(2009/C 77/25)

In einem Schreiben vom 4. Februar 2008 ersuchte die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Margot WALLSTRÖM, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um eine Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema:

„Mehrsprachigkeit“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. Juli 2008 an. Berichterstatterin war Frau LE NOUAIL MARLIÈRE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 18. September) mit 144 gegen 8 Stimmen bei 13 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

Wesentlicher Inhalt der Stellungnahme und Zusammenfassung der Schlussfolgerungen

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stellt fest, dass dieses Thema zunehmende politische und wirtschaftliche Bedeutung erlangt, bedauert jedoch, dass die Kommission es vorgezogen hat, für das Ende ihres Mandats eine neue Strategie vorzustellen, anstatt in Anknüpfung ihrer „neuen Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit“ von 2005 ein konkretes Programm vorzuschlagen.

Der Ausschuss empfiehlt der Kommission und den Mitgliedstaaten, die Debatte über die angestrebten Zielsetzungen zu beschleunigen und erst anschließend zu erläutern, welche Handlungsentscheidungen in Rahmen einer Koordinierung in den Bereichen Kultur und Bildung getroffen werden sollten.

Er fordert die Mitgliedstaaten und die Kommission insbesondere mit Blick auf die Auswahl der ersten unterrichteten und erlernten lebenden Sprache auf, die Wahl anderer Optionen als des Angloamerikanischen aufzuwerten und das Erlernen und Sprechen europäischer Sprachen auf der Ebene des außergemeinschaftlichen Austauschs zu fördern.

Der Ausschuss stellt fest, dass ein enger Zusammenhang zwischen den Bedürfnissen der Unionsbürger im sprachlichen Bereich, der europäischen Beschäftigungsstrategie und den Konvergenzzielen der Programmplanung der Europäischen Strukturfonds — insbesondere des Kohäsionsfonds — besteht, und fordert die Bürger auf, diese Fonds für die Beherrschung der eigenen Muttersprache plus zweier lebender Sprachen in Anspruch zu nehmen und die Verwendung dieser Fonds sogar zur Priorität zu machen. Er fügt hinzu, dass diese Zielsetzung zwei qualitative Teilziele enthalten sollte: den Erhalt der Lebendigkeit der europäischen Sprachen und die Diversifizierung der Kenntnisse hin zu den für den kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Austausch der Europäer nützlichen sonstigen Sprachen durch die Förderung der Kenntnis der Kulturen sowie des Friedens und der Freundschaft zwischen den Völkern.

Der Ausschuss stellt fest, dass sich für diejenigen Bevölkerungsgruppen, die am weitesten von menschenwürdiger, d.h. deklarierter und sozial geschützter Arbeit entfernt sind, und für diejenigen, die am weitesten von den städtischen oder touristischen Zentren entfernt sind, nichts zum Positiven wendet, und er fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, bei ihren geplanten Maßnahmen keine Diskriminierungen oder Behandlungsunterschiede zu schaffen und dafür zu sorgen, dass die Maßnahmen nicht zu neuen Ausgrenzungen und neuen Frustrationen führen. Er empfiehlt ihnen daher insbesondere, die Sozialpartner und die in diesen Bereichen tätigen Organisationen der Zivilgesellschaft zu konsultieren.

Da die Kommission darum bemüht ist, eine interne dienstellenübergreifende Konsultation durchzuführen, sollten die vorgeschlagenen Maßnahmen den Kontext der besseren Rechtsetzung berücksichtigen, um die Wettbewerbsfähigkeit der KMU nicht zu beeinträchtigen.

Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten sich gerade im Rahmen des europäischen Zertifizierungssystem darum bemühen, nicht nur die formellen, sondern auch die informellen Bildungsangebote zu bewerten, damit ihr Umfang gemessen werden kann und sie Gegenstand von Qualifikationsübertragungen und -anerkennungen für alle Bürger und Arbeitnehmer unabhängig von deren Status sein können.

Im Rahmen der sozialen Konzertierung ruft der Ausschuss die Mitgliedstaaten und die Kommission ferner dazu auf, die Sprachberufe Lehrer, Übersetzer und Dolmetscher zu fördern, um die Verwendung der Amtssprachen in der institutionellen Kommunikation bewältigen zu können, und erinnert daran, dass der Bedarf hierfür auch in der Wirtschaft nicht hinreichend gedeckt ist.

1.   Einleitung

Kurz vor der Schaffung des neuen Geschäftsbereichs „Mehrsprachigkeit und interkultureller Dialog“ und der Ernennung von Leonard ORBAN als hierfür zuständiges Mitglied der Kommission hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) am 6. September 2006 eine Stellungnahme verabschiedet, in der er für „eine neue Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit“ (1) plädierte.

Wenig später, am 25. Oktober 2007, sprach das Kommissionsmitglied auf Einladung des Präsidenten des EWSA, Dimitris DIMITRIADIS, vor dem Plenum des Ausschusses und bekundete sein Interesse an dessen Arbeiten.

Da Leonard ORBAN beabsichtigte, eine neue Strategie zu diesem Thema vorzustellen, befasste er den Ausschluss mit der Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme.

Der EWSA wünscht daher:

die Folgemaßnahmen zur vorherigen Strategie der Kommission und zu den Empfehlungen, die er zum damaligen Zeitpunkt vorgelegt hatte, zu bewerten;

die von der Kommission ergriffenen Maßnahmen zusammenzufassen;

auf seine Befassung, die im Rahmen einer von der Kommission organisierten, umfassenden öffentlichen Konsultation sowie der Anhörung vom 15. April 2008 erfolgte, rechtzeitig zu reagieren, damit seine Empfehlungen in der von der Kommission für September 2008 geplanten Mitteilung berücksichtigt werden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stellt fest, dass das Thema Mehrsprachigkeit immer stärker an Bedeutung gewinnt, und zwar nicht etwa als Modeerscheinung, sondern im durchaus realen Kontext der Globalisierung, die immer mehr und immer unterschiedlichere Akteure auf den Plan ruft. Neue Situationen erfordern neue Lösungen und Antworten. Die Welt verändert sich nicht nur in Wirtschaft und Technik, sondern auch in den Bereichen Soziales, Politik, Kultur und Staatsbürgerschaft. Bestimmte Erscheinungen, die es schon von jeher bzw. seit langem gibt, treten verstärkt hervor und werden sichtbar, ja unübersehbar.

2.2

Die kulturelle Dimension hat in den unterschiedlichsten Bereichen, von der Arbeits- über die Geschäftswelt bis hin zu Freizeit und Tourismus, eine Entwicklung genommen, die der EWSA in all ihren Ausprägungen verstehen lernen muss, damit er die Anliegen der Bürger an die Institutionen herantragen sowie praktische und intelligente Lösungen vorschlagen kann, und zwar insbesondere durch die Teilnahme an Konsultationen und durch Impulse für die Einleitung von Debatten.

Die Vielzahl unterschiedlicher Meinungen ist ein Beleg für das Interesse der Unionsbürger an dieser Frage, von der sie als Menschen alle gleichermaßen betroffen sind.

2.3

In der bereits genannten Stellungnahme empfahl der EWSA Folgendes:

„Die Kommission klärt die Mitgliedstaaten auf, indem sie ihnen die in den geforderten nationalen Plänen herzustellenden Verbindungen oder in deren Rahmen durchzuführenden zusätzlichen Maßnahmen genauer erläutert, und macht deutlich, dass die Mehrsprachigkeit einen möglichen Beitrag zur politischen und kulturellen Integration der EU leistet und ein Katalysator für Verständigung und soziale Eingliederung ist,

der Umfang des Bildungsangebots muss auf europäischer Ebene abgestimmt werden, wenn langfristig Ergebnisse erzielt werden sollen, und das potenzielle Fähigkeitenreservoir darf nicht auf eine begrenzte Zahl von Sprachen reduziert werden,

alle mehrsprachigen Praktiken im beruflichen, kulturellen, politischen, wissenschaftlichen und sozialen Bereich müssen gefördert und unterstützt werden,

als Sachverständige sollten nicht nur Fachleute aus sozialen und wissenschaftlichen Fächern, sondern auch Sprachpraktiker, Linguisten, Dolmetscher, Übersetzer sowie Sprachlehrer und Sprachenspezialisten hinzugezogen werden,

die heutigen Generationen junger und weniger junger Erwachsener müssen im Rahmen dieser Zielsetzungen mit Hilfe des lebenslangen Lernens und durch die Achtung ihrer kulturellen Rechte angemessen und stärker berücksichtigt werden, wenn die Kommission mit der Programmphase beginnt,

die Kommission sollte sich nicht nur auf die akademischen Arbeiten stützen, sondern auch auf die Maßnahmen der in diesem Bereich aktiven Verbände, und die von der Zivilgesellschaft ergriffenen Initiativen unterstützen.“

2.4

Insgesamt verwies der EWSA auf die Notwendigkeit, die größtmögliche Zahl von Bürgern in diese Strategien zur Förderung des Erlernens, Praktizierens und Beherrschens von Sprachen einzubeziehen und realistische Mittel zu finden, um dieses Ziel zu erreichen. Er warnte vor neuen sozialen Diskriminierungen und rief dazu auf, auch in anderen Weltsprachen zu kommunizieren und sich nicht auf die im Binnenmarkt praktizierten Sprachen zu beschränken, damit Europa seine sprachlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Barrieren überwinden kann. Er plädierte für einen Ansatz, in dem die wirtschaftlichen, kulturellen und staatsbürgerlichen Aspekte ausgewogen berücksichtigt werden, und sprach sich für ein massives Aufholen im Bereich Arbeit und Beschäftigung aus.

2.5

Der EWSA erinnerte auch daran, dass sich die Sprach- und Kulturräume und die politischen und wirtschaftlichen Strukturen in der Welt verändert haben und die Tendenz zum Aussterben bestimmter Sprachen bedauerlicherweise mit der Assimilierung bzw. dem Verschwinden bestimmter sozialer und politischer Einheiten einhergeht. Europa ist mit denselben Herausforderungen wie andere Regionen der Welt konfrontiert, d.h. 1) mit der Tendenz, dass sich in den länderübergreifenden Beziehungen die Verwendung einer einzigen Sprache durchsetzt, 2) mit der Vielfalt der Regionalsprachen und der Gefahr, dass bestimmte Idiome verloren gehen — allerdings mit einem Unterschied: dem Status der offiziellen Nationalsprachen in diesem vereinten (bzw. — je nach Sichtweise des Integrationsgrads der EU — sich auf dem Weg zur Einheit befindenden) politischen Gebilde.

2.6

Die EU ist mit der gleichen Identitätsangst konfrontiert, die jeder kulturelle oder sprachliche Ansatz freilegt; sie hat aber auch Stärken, die sie im Laufe ihres Aufbauprozesses erworben hat, wie etwa die Instrumente zur Förderung ihres sozialen und territorialen Zusammenhalts, die gemeinsamen Kriterien der repräsentativen und partizipativen Demokratie oder die auf Solidarität beruhenden Sozialmodelle.

2.7

Sind demografische Herausforderungen und kulturelle Interessen miteinander verknüpft, so ergeben sich jedoch wichtige Fragen, die man durchaus mutig stellen sollte: Welches Interesse haben die Europäer an ihren eigenen Sprachen? Daran, sie mit anderen zu teilen, sie zu bewahren, sie lebendig zu halten und nicht sterben zu lassen, kurzum: sie untereinander und mit anderen zu sprechen?

3.   Besondere Bemerkungen

3.1

Die Kommission leitete am 14. September 2007 eine öffentliche Konsultation ein, die am 15. April 2008 mit einer Konferenz endete, auf der sie vor zahlreichen im Kultur- und Bildungsbereich tätigen Vereinigungen und Verbänden folgende Ergebnisse der Arbeitsgruppen präsentierte:

Bericht der Intellektuellengruppe unter Leitung von Amin MAALOUF;

Wirtschaftsforum unter dem Vorsitz von Etienne DAVIGNON;

ELAN-Bericht: „Auswirkungen mangelnder Fremdsprachenkenntnisse in den Unternehmen auf die europäische Wirtschaft“ des National Centre for Languages (nationales Zentrum für Sprachen), Vereinigtes Königreich;

offizielle Konsultationen der Ausschüsse (AdR und EWSA);

Konsultation der Mitgliedstaaten: Ministerkonferenz, Februar 2008;

Empfehlungen der hochrangigen Gruppe zum Thema Mehrsprachigkeit;

Beiträge aus der Online-Konsultation.

3.2

Im Rahmen der Debatten wurden verschiedene Herausforderungen angesprochen:

Wirtschaftliche Herausforderungen.

Politische Herausforderungen (Mehrsprachigkeit und regionale Integration).

Herausforderungen im kulturellen Bereich (Mehrsprachigkeit und Interkulturalität).

Die persönliche und kollektive Kommunikation kann dazu führen, dass Sprache als ein Kommunikationshilfsmittel unter vielen erachtet wird. Zukunft der Literatur?

Mehr- und Vielsprachigkeit: Einige Teilnehmer stellen sich die Frage, ob wir in einem einsprachig werdenden Sprachumfeld individuelle Vielsprachigkeitskompetenzen brauchen.

Der Europarat hat unterstrichen, dass es wichtig ist, Minderheitensprachen zu schützen und ihre Verwendung zu erleichtern, wenn man folgende Fragen wirksam angehen will: Nationalismus: Die Mehrsprachigkeit im Dienste der Vielfalt darf keine Gefahr von Ausgrenzung bergen.

Zahlreiche Teilnehmer thematisieren die Frustration und Ungleichheit gegenüber den Sprachen, die Konfrontation der europäischen Sprachen untereinander und mit den übrigen Sprachen in der Welt sowie die Gegenüberstellung der einzelstaatlichen Kulturpolitiken.

Kulturelle Rechte und soziale Rechte: Viele Teilnehmer fragen sich, welche Mittel für derartige Verpflichtungen zur Verfügung stehen. Es wurde auch der Sonderfall Roma angesprochen, und zwar bezüglich ihrer Integration im Allgemeinen und der Möglichkeit, ihre Sprache zu erlernen und zu bewahren, im Besonderen.

In Bezug auf Arbeit und Beschäftigung das Recht der Arbeitnehmer, in ihrer eigenen Sprache arbeiten zu dürfen, ohne dass ihnen Sprachkenntnisse abverlangt werden, die mit den zur Erfüllung der Aufgaben erforderlichen Kenntnissen in keinem Verhältnis stehen, sowie Fragen der Sicherheit, die sich aufgrund eines Umfelds mit mehreren nicht bzw. nur unzureichend beherrschten Sprachen ergeben.

3.3   Allgemeine Ziele, die von der Kommission auf dieser Anhörung zur Förderung der Sprachenvielfalt vorgestellt wurden

3.3.1

Diversifizierung der Sprachkompetenzen innerhalb der EU („Englisch allein reicht nicht aus“).

Das Ziel, das von dem für Mehrsprachigkeit zuständigen Kommissionsmitglied Leonard ORBAN in seinem Referat im Rahmen dieser Anhörung wie auch an anderer Stelle zum Ausdruck gebracht worden ist, besteht eindeutig darin, die nur auf das Englische ausgerichtete Tendenz umzukehren.

3.3.2

Sozialer Bereich:

Betonung der Bedeutung der Sprachen für den sozialen Zusammenhalt;

Erleichterung der Integration von Einwanderern, Ermutigung zum Erlernen der Sprache des Aufnahmelandes, Förderung der Verwendung und Bewahrung der Muttersprache und ihrer Weitergabe an die Nachfahren; Anerkennung der Sprachen der Migranten als Ressource und Bereicherung.

3.3.3

Wirtschaftlicher Bereich:

Ausbau der Sprachkompetenzen mit Blick auf die Beschäftigung der Arbeitnehmer und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen;

transversale Integration der Mehrsprachigkeitsaspekte in die europäische Politik, ausgehend von einer Bestandsaufnahme.

3.3.4

Mehrsprachigkeitsaspekt im Zusammenhang mit der Außenpolitik der EU:

Die Kommission bestätigt das „Ziel von Barcelona“, das heißt: 1 Muttersprache + 2 lebende Sprachen je Bürger, aufgegliedert in 1 Muttersprache + 1 internationale Sprache + 1 so genannte „Sprache des Herzens“ oder „persönliche Adoptivsprache“ (in Anlehnung an den von der Intellektuellengruppe unter Leitung von Amin MAALOUF erstellen Bericht).

3.3.5

Mittel und Methoden:

Die Kommission möchte das informelle Lernen vom Typ „Unternehmenskompetenzsystem“, fördern, mit dem das Verständnis und der Zugang beschleunigt werden, sie hat dieses Thema jedoch nicht im Einzelnen ausgeführt. Sie macht deutlich, dass den Unionsbürgern die Gelegenheit gegeben werden soll, beispielsweise im Bus oder an anderen öffentlichen Orten mit ausländischen Sprachelementen in Kontakt zu kommen, und sich der Lerneffekt durch „Gewöhnung“ einstellen würde.

3.3.6

In Bezug auf die Zukunft:

Zur Weiterentwicklung dieser Politik möchte sich die Kommission innerhalb einer mittelfristigen Rahmenstrategie auf eine strukturelle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten stützen und europäischen Mehrwert beisteuern.

3.4   ELAN-Bericht (2):

Im ELAN-Bericht wird ausgeführt, inwiefern es für die Unternehmen von Nutzen ist, über qualifizierte vielsprachige Arbeitskräfte zu verfügen. Es wird jedoch keine Typologie des Bedarfs im Verhältnis zu den besetzten Arbeitsplätzen und Stellen bzw. nach Wirtschaftszweig aufgestellt. Die Kommission täte gut daran, von der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen mit Sitz in Dublin (oder einer anderen europäischen Einrichtung) eine präzisere Typologie des berufsspezifischen Bedarfs von Unternehmen und Arbeitnehmern entwerfen zu lassen.

3.4.1

Bericht des Wirtschaftsforums unter dem Vorsitz von Etienne DAVIGNON (3):

In diesem Ende Juni 2008 veröffentlichten Bericht wird aus Sicht des Wirtschaftsforums aufgezeigt, weshalb es wichtig ist, in Sprachkenntnisse zu investieren. Es wird eine Bilanz der bereits ergriffenen Maßnahmen zur Förderung von Sprachen in Unternehmen gezogen, und es werden Empfehlungen formuliert, wie die Unternehmen ihre Leistungsfähigkeit in der „mehrsprachigen“ Geschäftskommunikation verbessern können. So sollen sie „… feststellen, welche Sprachkenntnisse in ihrem Unternehmen vorhanden sind; die Einstellungsverfahren und die Entwicklungsstrategien im Personalmanagement überarbeiten; in Sprachunterricht investieren; Muttersprachler verschiedener Sprachen beschäftigen; Sprachtechnologie von Übersetzern, Dolmetschern, Kommunikatoren und Kulturmediatoren einsetzen; die internationale Mobilität der Beschäftigten ausbauen“. Auf diese Weise werden in dem Bericht auch Empfehlungen für Europa und die EU-Institutionen sowie für die lokalen, regionalen und nationalen Regierungen formuliert und Argumente zugunsten der Mehrsprachigkeit entwickelt.

3.5   Bericht der Intellektuellengruppe unter Leitung von Amin MAALOUF (4):

Der Ausschuss billigt die Initiative der Kommission, eine Gruppe namhafter Intellektueller zu konsultieren, deren Bericht vom Vertreter der Gruppe im Rahmen der Anhörung am 15. April als „wahrscheinlich den bestgeschriebenen und lesbarsten aller bisherigen Berichte der Kommission“ bezeichnet wurde — was in gewisser Weise zutrifft, und die vorschlug, das Erlernen einer internationalen Sprache und einer „affektiven oder Adoptivsprache“ zur Überlegung zu unterbreiten, mit anderen Worten: ein Erlernen ohne Eigeninteresse oder wirtschaftliche Hintergedanken, rein aus persönlicher Neigung. Auch wenn es sich hierbei um einen großzügigen Vorschlag handelt, der die Vektorrolle der Kultur und Kommunikation der Sprachen anerkennt, wird mit ihm postuliert, dass alle Bürger die gleiche Lust auf und Zeit für eine linguistische Betätigung dieser Art haben, was bei weitem nicht der Fall ist — aus kulturellen Gründen oder auch deshalb, weil die Mehrheit der Unionsbürger nicht über die nötige Kaufkraft verfügt für „qualifizierende“ kulturelle Praktiken, wie diese von Professor Pierre BOURDIEU definiert wurden.

So lässt sich zwar sagen, immer mehr (junge) Europäerinnen und Europäer würden den Nutzen einer Beherrschung lebender europäischer oder nichteuropäischer Fremdsprachen erkennen; immer mehr Menschen merken jedoch auch, welche Schwierigkeiten sie haben, ihr Leben zu bestreiten und ihre Kinder großzuziehen. Auch ist festzustellen, dass die europäische Gesellschaft — ohne überall den Klassenkampf sehen zu wollen — nach wie vor segmentiert ist und dass auf die Kohäsionsfonds zurückgegriffen werden sollte, gerade zur Erfüllung der Lissabon-Ziele.

Der potenzielle Beitrag des Grundtvig-Programms, der Programme für Erwachsenenbildung und des lebenslangen Lernens sollte daher bei der Konzertierung zwischen den Dienststellen der Kommission quantifiziert und konkret beziffert werden, bevor sie den Mitgliedsatten, dem Rat und dem Parlament vorgelegt werden. Dies würde es ermöglichen, die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bildungsbereich um einen europäischen Mehrwert zu ergänzen.

Der Ausschuss stellt fest, dass dadurch die Frage der Wahl des Englischen als erste lebende Sprache nicht gelöst wird, es sei denn, man überließe die Problematik ganz den Mitgliedstaaten und den Eltern, und die Kommission stellte sie gar nicht erst zur Diskussion. Gewiss, „Englisch allein genügt nicht“, auch wenn das Englische von der EU nach wie vor als Sprache des internationalen Handelsaustauschs akzeptiert wird. Der Ausschuss macht die Kommission, die Mitgliedstaaten, den Rat und das Europäische Parlament darauf aufmerksam, dass der vorgeschlagene Weg ein Ansatzpunkt, aber keine Lösung ist.

3.6   Stellungnahmeentwurf des AdR (5)

In der Stellungnahme des AdR wird argumentiert, die Sprachenproblematik für die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften sei von größter Bedeutung, da sie nicht nur die Frage der Beschäftigung, sondern auch des Zusammenlebens zwischen Europäern und Nichteuropäern bestimme, und zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen und in allen Bereichen, angefangen vom Gesundheitswesen („Arbeitkräftemangel“) über personenbezogene Dienstleistungen, Vorschul- und Schulunterricht und die Integration von Migranten bis hin zum Tourismus. Zudem präge sie das Leben einer wachsenden Zahl von Regionen. Der AdR schlägt daher zu Recht vor, die Kohäsionsfonds in Anspruch zu nehmen und im Vorfeld der strategischen Entscheidungen konsultiert zu werden.

3.7   Informationsbericht „Arbeitsdokument der Kommission — Bericht über die Durchführung des Aktionsplans ‚Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt‘“ (6)

Der Ausschuss befürchtet, dass es zu Lethargie führen könnte, würde die Notwendigkeit einer Zuweisung von EU-Mitteln verleugnet, d.h. zu einer Zunahme der Vorschriften, die in keinem gesunden Verhältnis zum Anstieg des Bedarfs steht, und das Ergebnis könnte sich mittel- und langfristig als enttäuschend erweisen. Der Ausschuss fordert die Mitgliedstaaten daher zum Nachdenken auf: denn das Fernsehen allein genügt nicht, und die informellen Bildungsangebote müssen messbar sein. Der Ausschuss erkennt jedoch an, dass die Koordinierungsmethode der Kommission ein administrativer Fortschritt wäre, wenn auch nicht unbedingt ein Schritt in Richtung der Bürger.

4.   Fazit

4.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist der Ansicht, dass der offenkundige gute Wille der Kommission wie eine Beschwörung wirkt, dass sie jedoch — über die Forderungen an die Mitgliedstaaten bezüglich der Anpassung der Bildungssysteme hinaus — kein konsequentes Handeln der Europäischen Union vorschlägt.

4.2

Der Ausschuss empfiehlt den Mitgliedstaaten, den Ansatz fortzuführen und dabei die Diversifizierung hin zu anderen internationalen Verkehrssprachen als dem Englischen zu berücksichtigen.

4.3

Die Mitgliedstaaten sollten bei ihrem Angebot an europäischen Sprachen auf sämtlichen Bildungsstufen (Vorschulen, Primar- und Sekundarstufe, Hochschulbildung sowie lebenslanges Lernen) auch weiterhin verwandtschaftliche Bindungen und Bezüge der sprachlichen und geografischen Nähe fördern und dabei auf ihre Vielfalt achten.

4.4

Im Rahmen der Erwachsenenbildung, wie sie die Kommission anstrebt  (7) , muss die Notwendigkeit berücksichtigt werden, mehr Bürgerinnen und Bürger in die Bemühungen einzubeziehen, ihre Muttersprache plus zwei lebende Sprachen zu beherrschen, und zwar dadurch, dass das Angebot angepasst und das Interesse und die Motivation durch konkrete bürgernahe Maßnahmen gefördert, das Sachwissen der bereits vor Ort tätigen Organisationen der Zivilgesellschaft und der Fachkräfte des öffentlichen und privaten Sektors mit einbezogen, der soziale und staatsbürgerliche Dialog erleichtert sowie dafür gesorgt wird, dass die neuen Initiativen keine diskriminierenden Ungleichheiten zwischen Bürgern schaffen, die kaum Zugang zum kulturellen Austausch haben.

4.5

Die Demokratisierung und das informelle Lernen, wie sie von der Kommission propagiert werden, müssen im Rahmen des europäischen Zertifizierungssystems präzise bewertet werden, damit

die Resonanz der von den Mitgliedstaaten, der Kommission und anderen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren auf den Weg gebrachten Maßnahmen gemessen werden kann;

sie Gegenstand von Qualifikationsübertragungen und -anerkennungen für alle Bürger und Arbeitnehmer unabhängig von deren Status sein können.

4.6

Die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften müssen konkret in die Entwicklung des künftigen pädagogischen Angebots eingebunden werden, und zwar mit Mitteln, die den ehrgeizigen Zielen der Kommission angemessen sind.

4.7

Da von den Erwägungen der Kommission über die wirtschaftlichen Erfordernisse der Unternehmen in erster Linie Unternehmen und Arbeitnehmer betroffen sind, müssen die Mitgliedstaaten und die Kommission die Sozialpartner dazu anhalten, diese Frage im Rahmen des sozialen Dialogs zu thematisieren, um sich gemeinsamen mit den Herausforderungen zu befassen und die am besten geeigneten Lösungen und Verfahren zu finden.

4.8

Das Eintauchen in ein lebendiges Umfeld, das für das Sprechen einer Sprache erforderlich ist und untrennbar mit ihrer gefestigten Beherrschung einhergeht, muss auf allen Ebenen und für alle Zielgruppen erlaubt sein und gefördert werden. Hierbei besteht bei denjenigen Bevölkerungsschichten, die weniger Erfahrung mit dem länderübergreifenden Austausch haben, d.h. Menschen mit geringerer Mobilität, besonders dringender Bedarf, und es müssen konkrete Mittel und Ausrüstungen gefunden werden. Niemand kann zum Reisen gezwungen werden, nur können es sich einige weniger leisten als andere. Englisch allein reicht nicht aus — Fernsehen ebenso wenig.

4.9

Bei den Sprachen der Migranten sollte das Hauptaugenmerk auf ihre Ressourcenfunktion gerichtet werden. Hier gibt es mehrere Denkschulen: die einen vertreten die Meinung, Migranten hätten die Pflicht, die Sprache des Aufnahmelandes zu erlernen, um sich zu integrieren, ja um Zugang zum Hoheitsgebiet der EU zu erlangen, während die anderen der Ansicht sind, Migranten hätten ein Recht darauf, die Sprache des Aufnahmelandes zu beherrschen, um dort arbeiten, leben und für ihre Rechte eintreten zu können, und die öffentlichen Instanzen trügen die Verantwortung dafür, diese Ausbildung zu organisieren. Wie dem auch sei: Von der Theorie zur Praxis ist es ein weiter Weg. Mehrere Experimente zeigen, dass nicht alle beispielhaften Verfahren gefördert wurden, sondern dass — ganz im Gegenteil — die Zuschüsse für zahlreiche Vereinigungen sogar gestrichen wurden. Die pädagogische Herausforderung, die es heute zu bewältigen gilt, ist enorm, denn die Menschen lernen nicht in allen Altersstufen auf gleiche Weise. Der Ausschuss empfiehlt in diesem Zusammenhang die Lektüre von Forschungsarbeiten, in denen der jedem Spracherwerb zugrunde liegende interkulturelle Austausch veranschaulicht wird  (8). Der Ausschuss unterstreicht die Notwendigkeit, sämtliche Lehrer und Erzieher — aus der Vorschul- über die Erwachsenenbildung bis hin zum lebenslangen Lernen — zu konsultieren und mit einzubeziehen. Die zwei am meisten betroffenen Parteien sind die Lernenden und die Unterrichtenden, auch mit Blick auf die künftige Anerkennung der so genannten informell erworbenen Kenntnisse (9).

4.10

Zu den Sprachen, die in Europa gesprochen werden, zählen die Regional- und Nationalsprachen sowie die Sprachen der Migranten. Dies ist ein ganz erheblicher Beitrag, und zur Erhaltung der kulturellen Vielfalt in Europa sind denn auch zwei wesentliche Aspekte maßgeblich: die Förderung der kulturellen Vielfalt in Europa sowie Toleranz und Respekt gegenüber den Migranten. Der soziale und territoriale Zusammenhalt der EU ist längst nicht mehr nur wirtschaftlicher oder politischer Natur und wird heute wie auch in Zukunft untrennbar mit seiner kulturellen Dimension verbunden sein.

4.11

Deshalb müssen die Sprachen der Migranten ebenso wie die europäischen Idiome an die Nachfahren weitergegeben werden, und da eine Sprache nur weiterlebt, wenn sie gesprochen wird, sollten auch die Migranten als Ressourcen für die Unterrichtung bzw. Weitergabe ihrer Muttersprache an die Zielgruppen angesehen werden, die ihre Kommunikationsmöglichkeiten erweitern wollen.

4.12

Dies bedeutet, dass die europäische Zivilgesellschaft heute andere Ziele anstrebt und es nicht genügt, ihr die Vorzüge der Vielsprachigkeit in einem mehrsprachigen Umfeld anzupreisen; sie möchte, dass ihre Initiativen in Vereinigungen, ja ihre Bedürfnisse, anerkannt werden, und verlangt in jedem Fall entsprechende Mittel aus öffentlicher oder privater Hand zur Erreichung dieses Ziels.

4.13

Dies bringt auch mit sich, dass die Sozialpartner akzeptieren, dass sie langfristig denken und gemeinsamen festzulegen müssen, welche Qualifikationen erforderlich sind, welche Schulungsmaßnahmen im Rahmen der Erstausbildung und des lebenslangen Lernens eingeführt werden müssen und welche öffentlichen und privaten Investitionen es zu erwägen gilt, wobei auf die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu achten ist.

4.14

Wird das Sprachenlernen auch als notwendige Voraussetzung für die Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit und das Erreichen der Ziele der Lissabon-Strategie gesehen, wird die Relevanz der vorstehenden Empfehlung besonders deutlich.

4.15

In der Charta der Grundrechte ist in Artikel 21 und 22 vorgesehen, die sprachliche Vielfalt zu fördern und Diskriminierungen aufgrund der Sprache zu verbieten. Die Kommission sollte daher prüfen, welche Mitgliedstaaten über einschlägige Rechtsvorschriften verfügen. Sie sollte im Bedarfsfalle die Agentur für Grundrechte befassen und sie prüfen lassen, ob die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten unterschiedliche Durchführungssysteme haben, zu Verzerrungen oder Ungleichbehandlungen unter Europäern führt, insbesondere im Bereich der Mobilität, der Einstellung usw. Zu diesem Zweck muss z.B. zwischen zwei Relevanzstufen unterscheiden: einerseits dem Niveau der Sprachkenntnisse, die für die Ausführung von Aufgaben im Zusammenhang mit der Stelle erforderlich sind (Kontakt mit ausländischen Zielgruppen oder Kunden), und andererseits dem Niveau der Sprachkenntnisse, das für die Übermittlung von Anweisungen für die Ausführung einer Aufgabe in der Sprache des Ausführenden erforderlich sind.

4.16

Der Ausschuss wird speziell in Bezug auf diese Durchführung darauf achten, was die Kommission in der für September 2008 erwarteten Strategie vorschlagen wird, und welche Fortschritte im Vergleich zu ihrer vorherigen Strategie zu verzeichnen sind.

4.17

Bezüglich der kulturellen Rechte der Unionsbürger, der aufhältigen Drittstaatsangehörigen und der Außenzusammenarbeit der EU könnte sich die Kommission auf die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt stützen und in Absprache mit den bereits auf kulturellem Gebiet tätigen Vereinigungen und den nichtstaatlichen Organisationen Leitlinien vorschlagen, die aus der Ratifizierung der Konvention durch die Mitgliedstaaten Konsequenzen für Europa ziehen.

4.18

Die Mobilität wird einerseits von den Sozialpartnern gefördert und andererseits von einigen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und öffentlichen Instanzen wie der Kommission als ein Allheilmittel gegen Arbeitslosigkeit und Arbeitskräftemangel erwartet. Das sprachliche Hindernis wird allerdings noch zu wenig herausgestellt. Anzuführen sind hier beispielsweise die Schwierigkeit, im Rahmen des lebenslangen Lernens Berufsbildungsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen und gleichzeitig Ziele im sprachlichen Bereich zu verfolgen, oder auch die fehlende Möglichkeit für beruflich mobile Eltern, ihre Kinder in den Schulen ihrer Wahl einzuschreiben, wie dies etwa bei den Roma in mehreren europäischen Ländern und bestimmten Gruppen von Italienern in Deutschland der Fall ist. Die Kommission sollte diese Frage nicht allein den Mitgliedstaaten überlassen, sondern eine Informationsanfrage zum Thema sprachliche Diskriminierung von Kindern verschiedener europäischer Nationalität in der Schule starten.

4.19

Weiterhin sind auch die Schwierigkeiten anzuführen, auf die die Verwaltungen der Mitgliedstaaten wie auch die Sozialpartner bei der Anwendung der „Entsenderichtlinie“ aus Gründen des Verständnisses vor Ort gestoßen sind; diese wurden von der Kommission nicht vernachlässigt, müssen jedoch — wie oben ausgeführt — im Wege einer ordnungsgemäßen Konzertierung mit den Parteien (Kommission, Mitgliedstaaten, Sozialpartner, lokale und nationale Behörden, Arbeitsagenturen usw.) angegangen werden (10).

4.20

Und schließlich muss auch an die Mittel gedacht werden, die jenseits der offiziellen interinstitutionellen Kommunikation für die Sprachenregelung der Institutionen zur Verfügung stehen: Der Ausschuss stellt fest, dass dies nach wie vor eine heikle Frage ist, da zahlreiche öffentlich zugängliche Dokumente nicht übersetzt sind, was einmal mehr die Frage der Mittel aufwirft. Dazu zählen u.a. die Seiten nach der Startseite im Internetauftritt der europäischen Institutionen, insbesondere des Europäischen Rates oder des EU-Ratsvorsitzes.

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Stellungnahme des EWSA vom 26.10.2006 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine neue Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit“, Berichterstatterin: Frau LE NOUAIL MARLIÈRE (ABl. C 324 vom 30.12.2006).

(2)  Vgl. Bericht „ELAN: Auswirkungen mangelnder Fremdsprachenkenntnisse in den Unternehmen auf die europäische Wirtschaft“

(http://ec.europa.eu/education/policies/lang/doc/elan_de.pdf).

(3)  Vgl. Bericht des Wirtschaftsforums für Mehrsprachigkeit bei der Europäischen Kommission

(http://ec.europa.eu/education/languages/news/news1669_en.htm).

(4)  Vgl. Bericht der von der Kommission eingesetzten Intellektuellengruppe für den interkulturellen Dialog unter dem Vorsitz von Amin MAALOUF: „Eine lohnende Herausforderung: Wie die Mehrsprachigkeit zur Konsolidierung Europas beitragen kann“

(http://ec.europa.eu/education/languages/pdf/doc1646_de.pdf).

(5)  Vgl. Stellungnahme des Ausschusses der Regionen zum Thema Mehrsprachigkeit, Berichterstatter: Roberto PELLA (CdR 6/2008).

(6)  Vgl. KOM(2007) 554 endg./2 vom 15.11.2007.

(7)  Vgl. insbesondere KOM(2006) 614 endg. und KOM(2007) 558 endg.

(8)  Vgl. http://www.newcomersinturkey.com — Noureddine ERRADI hat lange Jahre für Informationszentren für Migranten in den Niederlanden gearbeitet und pädagogische Instrumente für Ausbilder und politische Berater in den lokalen und regionalen Agenturen und Gebietskörperschaften erstellt.

(9)  Stellungnahme der Fachgruppe SOC vom 11.9.2008 zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Leistungspunktesystems für die Berufsbildung (ECVET)“, Berichterstatterin: Frau LE NOUAIL MARLIÈRE (CESE 1066/2008).

(10)  Stellungnahme des EWSA vom 29.5.2008 zum Thema „Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen — Vorteile und Potenziale bestmöglich nutzen und dabei den Schutz der Arbeitnehmer gewährleisten“, Berichterstatterin: Frau LE NOUAIL MARLIÈRE (ABl. C 224 vom 30.8.2008).


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/115


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Berücksichtigung der Bedürfnisse älterer Menschen“

(2009/C 77/26)

Die Europäische Kommission beschloss am 18. Februar 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Berücksichtigung der Bedürfnisse älterer Menschen“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 11. September 2008 an. Berichterstatterin war Frau HEINISCH.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 18. September) mit 106 gegen 32 Stimmen bei 20 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1   Begründung

1.1.1

Der demografische Wandel in Europa ist durch einen stark wachsenden Anteil der älteren Bevölkerung bei gleichzeitig abnehmender Gesamtbevölkerung charakterisiert (1). Der Rat hat bereits mehrfach zum Thema „Altern“ Stellung genommen. Dieser Prozess verläuft regional unterschiedlich. Damit steht die Europäische Union vor großen gesellschaftlichen Herausforderungen (2). Die Kommission wird bis Ende 2008 eine Mitteilung verabschieden, in der Vorschläge unterbreitet werden, wie die Bedürfnisse einer alternden Bevölkerung mit Unterstützung der Strukturfonds berücksichtigt werden können.

1.1.2

Im Vordergrund dieser Stellungnahme stehen die Anerkennung, Wertschätzung, Verhinderung von Diskriminierung und Sicherung der Würde alternder Menschen. Es muss berücksichtigt werden, dass ältere Menschen im Hinblick auf ihre Fähigkeiten, ihre finanzielle Sicherheit, ihre Gesundheit und ihre sozialen Bedürfnisse keine homogene Gruppe sind. Daher müssen Politik und Dienstleister der Tatsache gerecht werden, dass Pauschalmaßnahmen oder eine Unterteilung nach Alter nicht angebracht sind.

1.1.3

In dieser Stellungnahme wird daher die gesamte Bandbreite der Themen behandelt, die Personen von der offiziellen Pensionierung bis ins hohe Alter hinein betreffen. Dies schließt selbstverständlich — ohne dies jeweils ausdrücklich zu erwähnen — Männer und Frauen, ältere Behinderte und Ältere mit Migrationshintergrund ein.

1.1.4

Die Erfordernisse der Themenfelder „Ältere Arbeitnehmer“ und „abhängige, pflegebedürftige ältere Menschen“ werden nicht untersucht, denn darüber wurde bereits eine Vielzahl von Vorschlägen erarbeitet (3). Demgegenüber betont der EWSA die Bedeutung des lebenszyklusorientierten Ansatzes für eine alternde Gesellschaft zur Verhinderung von Diskriminierung und Vorurteilen sowie die Notwendigkeit generationsübergreifender integrierter Politiken.

1.1.5

Damit ältere Menschen weiter am gesellschaftlichen Leben teilhaben und menschenwürdig leben können, ist es unabdingbar, dass sie finanziell abgesichert sind und ihnen auf freiwilliger Basis sinnvolle Aktivitäten, wie beispielsweise lebenslanges Lernen, bezahlte und freiwillige Arbeit, sowie die Nutzung neuer Technologien offen stehen. Außerdem sollten Verkehrsmittel, Energie, Wohnraum und medizinische Versorgung verfügbar, bezahlbar und zugänglich sein.

1.2   Empfehlungen

1.2.1

Um für die wachsende Zahl alter Menschen in Stadt und Land unter den veränderten Rahmenbedingungen tragfähige Lebensbedingungen und Beschäftigungsfelder zu sichern, beantragt der Ausschuss folgende Maßnahmen:

Regelmäßige nationale und regionale Situationsberichte;

Sammlung und Verbreitung von Beispielen bewährter Verfahrensweisen aus erfolgreichen Maßnahmen in den Mitgliedstaaten;

Förderung eines neuen Altersbildes, das die Lebensleistung älterer Menschen (einschl. der von Migranten und Migrantinnen) und die Würde des Alters in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft anerkennt;

Medienkampagnen „Aktives Altern“;

insbesondere in folgenden Bereichen besteht Handlungsbedarf: Dienste von allgemeinem Interesse, Infrastruktur, Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, Finanzwesen, Wohnen, Gesundheitsdienste, Vorkehrungen für das Lebensende, gesellschaftliche Partizipation.

Adressaten: Mitgliedstaaten, Europäisches Parlament, Ausschuss der Regionen, Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss.

Einrichtung einer ergänzenden Expertengruppe „Altern“ im Rahmen der Sachverständigengruppe für Fragen der Demografie (4) bei der Europäischen Kommission;

Gründung einer Europäischen Allianz „Aktives Leben im Alter“ in Anlehnung an die „Europäische Allianz für Familien“ (5), die u.a. europäische Workshops und Konferenzen organisiert.

Einrichtung eines Europäischen Zentrums für Alternsforschung zu Aufbereitung, Synthese und Austausch von Wissensbeständen und zur Feststellung von weiterem Forschungsbedarf und entsprechender Forschungsförderung;

Schaffung eines interdisziplinären Schwerpunktes „Alter“ mit eigenem Budget im 8. Forschungsrahmenprogramm;

Schaffung eines Europäischen Internetportals mit Informationen aller Generaldirektionen für die Öffentlichkeit über alternsrelevante Maßnahmen;

Schaffung lokaler, regionaler und nationaler Internetportale in Anlehnung an das Europäische Internetportal;

Unterstützung eines Demografiefonds  (6) im Rahmen der Strukturfonds zum finanziellen Ausgleich für Regionen, die aktiv dem Demografischen Wandel entgegenwirken (z.B. aktive Familienpolitik);

Ergänzung des Programms für lebenslanges Lernen um neue Prioritäten zur Ausbildung von Begleitern für Übergänge zwischen den Lebensphasen.

Adressaten: EU Ratspräsidentschaften; Europäisches Parlament; Europäische Kommission.

1.2.2

Um dies zu erreichen muss ein Ansatz für nachhaltiges Management betrieben werden, mit dem zugleich ein Beitrag zur Umsetzung der Lissabonstrategie für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung geleistet werden kann.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Die vorliegende Sondierungsstellungnahme zielt auf den Handlungsbedarf, der in den europäischen Regionen zu diesem Thema besteht. In allen Ländern ist eine Umverteilung vorhandener Mittel notwendig (7), die mit höheren Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger in Stadt und Land verbunden ist. Zugleich ergeben sich hohe Anpassungserfordernisse für kommunale Infrastrukturen (8). Erforderlich sind insbesondere innovative und integrative Konzepte, um Regionen und Kommunen „demografietauglich“ zu machen.

3.   Die Bereiche mit Handlungsbedarf

Für ein gesichertes, gesundes und aktives Leben im Alter müssen mehrere grundlegende Voraussetzungen erfüllt sein. Dazu gehören folgende Bereiche:

3.1   Daseinsvorsorge

3.1.1

Daseinsvorsorge ist eine Grundvoraussetzung für die Achtung der Menschenwürde und gewährleistet das Recht des Einzelnen auf eine umfassende Wahrung der Grundrechte. Sie trägt zur tatsächlichen Ausübung der Bürgerrechte bei. Konkret betrifft Daseinsvorsorge u.a. Raumordnung und Umwelt (9), insbesondere kommunale Infrastrukturen. Durch schrumpfende Einwohnerzahlen speziell in ländlichen Regionen (10) werden wesentliche Dienstleistungen zukünftig aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr verfügbar oder bezahlbar sein, ganz abgeschafft werden, oder veränderten Bedürfnissen nicht entsprechen. Dabei geht es jeweils um die Sicherung der Grundlagen und ihre Zugänglichkeit für die gesamte Bevölkerung unter besonderer Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse älterer und hilfsbedürftiger Personen. Betroffen sind:

Energieversorgung, insbesondere Elektrizität, Gas und Heizung;

Wasserver- und -entsorgung, Abfallwirtschaft, Abfallvermeidung;

Sicherheit und Sauberkeit des öffentlichen Raums;

Öffentliche Dienste und Verwaltung.

3.1.2   Verkehrsinfrastruktur und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungseinrichtungen des täglichen Bedarfs

Selbständigkeit und Mobilität sind wesentliche Voraussetzungen für Lebensqualität und Aktivität im Alter (11)  (12). Erforderlich hierfür sind:

Erreichbarkeit von und barrierefreier Zugang zu Geschäften mit bezahlbaren Gütern des täglichen Bedarfs sowie von relevanten Einrichtungen wie Post, Bank, Apotheke, Friedhof, öffentlichen Gebäuden und Einrichtungen, insbesondere der Angebote der Kommune zur gesellschaftlichen Beteiligung wie Behörden, Bürgerbüros, Beratungsstellen usw.;

Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Bezahlbarkeit öffentlicher Verkehrsmittel (ÖPNV);

Gewährleistung von Transportmöglichkeiten insbesondere in dünn besiedelten Regionen;

Verfügbarkeit und Zugänglichkeit des öffentlichen Raums (Gehwege, Sitzgelegenheiten, Straßenbeleuchtung, Verkehrssicherheit usw.).

3.1.3   Wohnen

Unter Berücksichtigung der Bedeutung des Fortbestehens der Selbständigkeit in eigenem Wohnraum kann die gegenwärtige Versorgung mit Wohnraum möglicherweise den Bedarf der alternden Bevölkerung in Europa nicht mehr decken. Die Gestaltung und die Standards für neu geschaffenen Wohnraum müssen die Abnahme physischer, sensorischer und geistiger Fähigkeiten berücksichtigen sowie energieeffiziente und technisch ausgereifte Systeme nutzen (beispielsweise „Ambient Assisted Living“), um weiterhin Selbständigkeit zu ermöglichen. Ein solcher Ansatz wäre auch generationsübergreifend von Vorteil.

Die in den Mitgliedstaaten für den Wohnraumbedarf zuständigen Behörden sollten dafür Sorge tragen, dass Dienststellen eingerichtet werden, um bestehenden Wohnraum nachzurüsten bzw. neue Konzepte für die Gestaltung des Wohnraums und für gemeinschaftliches Wohnen zu fördern; dies schließt angemessene finanzielle Mittel und rechtliche Maßnahmen ein.

3.1.4   Gesundheitsdienste

Mit zunehmendem Alter wird eine verlässliche, wohnortnahe und altersgerechte Gesundheitsversorgung immer wichtiger (13). Eine solche Versorgung ist in dünn besiedelten ländlichen und/oder abgelegenen Regionen durch einen weiteren Rückgang der Bevölkerungszahl bei gleichzeitiger Überalterung der derzeit noch praktizierenden Ärzteschaft ernstlich gefährdet. Es besteht dringender Bedarf zur Weiterentwicklung einer umfassenden und flächendeckenden medizinischen Versorgung. Dazu gehören (einschließlich der Wahrung der Rechte alter Menschen als Patienten (14)):

medizinische, insbesondere geriatrische Versorgung und Rehabilitation durch gerontologisch und geriatrisch ausgebildete Ärzte und Dienstleister;

ambulante Pflegedienste sowie einfache Hilfeleistungen durch aufsuchende Dienste;

Dienste der Palliativmedizin und der psychologischen Unterstützung für Familien;

Beratung und Information über Patientenrechte und Unterstützungsmöglichkeiten;

Beratungs- und Informationsdienste sowie Einrichtungen und Anreize zur Prävention (Einübung von gesunder Ernährung, physischer Bewegung, Vermeidung von Stürzen, gesundem Lebensstil verbunden mit Gratifikationen);

technische Hilfsmittel und Systeme zur Unterstützung ohne persönliche Zuwendung zu ersetzen (siehe Abschnitt „Zugang zu IKT“);

Förderung bzw. Schaffung formaler und informeller sozialer Unterstützungssysteme, einschließlich Bürgerbüros und Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und Gruppen für pflegende Angehörige sowie Nachbarschaftshilfen.

Zu den letztgenannten Unterstützungsmöglichkeiten gibt es bereits bewährte Modelle in verschiedenen Mitgliedsländern (15).

3.2   Vorkehrungen für Notfallsituationen und ein würdiges Lebensende

3.2.1   Notfallsituationen

Für den Fall von Notfallsituationen wie Überschwemmungen, längeren Hitzeperioden oder Katastrophen müssen Vorkehrungen getroffen werden, damit ältere Menschen rechtzeitig versorgt werden können, die nicht in der Lage sind, sich selbst zu helfen.

3.2.2   Fragen des Lebensendes

Die Gestaltung der Lebensendphase ist umstritten und unterliegt in den Mitgliedsländern unterschiedlichen Regelungen (aktive und passive Sterbehilfe). In dieser Hinsicht muss Rechtssicherheit geschaffen werden, damit der Wunsch älterer Menschen auch im Falle fortschreitender kognitiver Einschränkungen z.B. hinsichtlich des Einsatzes lebensverlängernder Mittel berücksichtigt werden kann. Patientenverfügungen können ein Mittel sein, doch muss der Schutz besonders verletzlicher Personen gewährleistet werden. Eine wichtige Rolle kommt in dieser Beziehung der Palliativmedizin und Hospizbewegung zu. Insgesamt muss Würde bis zuletzt die bestimmende Handlungsrichtlinie sein.

In einer EU, in der 25 % der Bürgerinnen und Bürger 60 Jahre und älter sind, muss ein Rahmen geschaffen werden, der die Mitgliedstaaten dazu anhält, in ihrem Recht Maßnahmen zur Gewährleistung jener Rechtssicherheit vorzusehen, die notwendig ist, um die Lebensendphase in Ruhe gestalten zu können.

Der Ausschuss möchte daher zwischen den Mitgliedstaaten eine Debatte über die Möglichkeiten anregen, einen Rechtsrahmen für Themenbereiche mit Bezug auf die Lebensendphase zu entwickeln, der dann unter Umständen zu Rechtsetzungsmaßnahmen in den Mitgliedstaaten führen könnte.

3.3   Soziale Integration und gesellschaftliche Partizipation

Soziale Integration und gesellschaftliche Teilhabe sind menschliche Grundbedürfnisse, die vielfältige Aspekte des Lebens älterer Menschen betreffen. Zu den wichtigsten Aspekten gehören Familien- und Freundschaftsbeziehungen, die Teilhabe an Erwerbsarbeit, freiwilligem Engagement und sinnstiftender Beschäftigung sowie Lebensbegleitende Bildung und kulturelle und gesellschaftliche Partizipation.

3.3.1   Soziale Integration in Familien- und Freundschaftsbeziehungen

Das soziale Umfeld älterer Menschen verändert sich dramatisch (16). Die Zahl allein lebender alter Menschen wächst. In Großstädten beträgt dieser Anteil teilweise bereits 50 % der Haushalte. Erforderlich sind deshalb sozialpolitische und/oder organisatorische Maßnahmen und technische Innovationen, die

familiäre und nicht-familiäre Netzwerke durch angemessene Maßnahmen stützen (17), die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für diejenigen, die ältere Menschen pflegen, verbessern;

insofern nimmt der EWSA die Arbeiten zur Kenntnis, die derzeit im Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowohl von der Kommission im Rahmen der erneuerten Sozialagenda als auch von den europäischen Sozialpartnern unternommen werden;

zu generationenübergreifenden Aktivitäten beitragen (18);

generell Eigeninitiative und bürgerschaftliches Engagement und

die Einrichtung von Mehrgenerationenhäusern fördern.

3.3.2   Integration und Partizipation durch sinnstiftende Beschäftigung

Soziale Integration und gesellschaftliche Teilhabe können sowohl durch die Beteiligung am Erwerbsleben als auch durch ehrenamtlich ausgeführte Aktivitäten erfolgen. Um ein möglichst langes gesellschaftlich aktives Leben zu ermöglichen ergibt sich Handlungsbedarf in beiden Bereichen:

3.3.2.1   Partizipation durch Erwerbsbeteiligung

Um denjenigen diese Art der gesellschaftlichen Teilhabe in Form einer Arbeit (Zielgruppe s. Ziffer 1.1.3) zu ermöglichen, die dies nach ihrer Pensionierung wünschen (ob aus finanziellen Gründen oder zur beruflichen Selbstverwirklichung), könnten folgende Maßnahmen erwogen werden:

Entsprechend der Richtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (19) sollte der Übergang von der Erwerbsarbeit in den Ruhestand flexibler gestaltet werden können. Dabei sind die Renten- und Steuersysteme im Rahmen eines alle Erwachsenengenerationen umfassenden Beschäftigungskonzepts entsprechend anzupassen (20) und der Grundsatz der Gleichheit auf dem Gebiet des Arbeitsentgelts zu beachten. Altersgrenzen sollen in den Mitgliedstaaten grundsätzlich nur als Recht auf Beendigung der Erwerbstätigkeit, nicht aber als Verbot freiwilliger Weiterarbeit ausgestaltet werden;

altersgemäße Gestaltung von Arbeitsplätzen und Arbeitsumfeld, einschließlich Verbesserung von körperlicher Beanspruchung, Gesundheit, Sicherheit, Arbeitsrhythmen und -organisation;

Nutzung und gegebenenfalls Anpassung der Technik zur Unterstützung von Arbeitsprozessen;

Beseitigung möglicher Hindernisse und Förderung neuer Vertragsformen, speziell für die Zeit des Übergangs vom Vorrenten- ins Rentenalter, die Rechtssicherheit gewährleisten, damit durch sie nicht neue prekäre Lebensumstände herbeigeführt werden;

Kulturwandel in Unternehmen hin zu einer ganzheitlichen Beschäftigungsstrategie, die individuelle Fähigkeiten unabhängig vom Lebensalter gezielt fördert (21).

3.3.2.2   Partizipation durch freiwilliges Engagement und sinnstiftende Beschäftigung

Um auf der einen Seite das Potenzial älterer Menschen aufzuwerten und ihnen zugleich sinnstiftende Aufgaben zu vermitteln, die ihren vielfältigen Fähigkeiten entsprechen, sind folgende Maßnahmen erforderlich:

Sammlung und Sicherung von Erfahrungswissen einschließlich Sozialverhalten und besonderer handwerklicher und künstlerischer Fertigkeiten;

Förderung innovativer Formen des Wissenstransfers einschließlich der Unterstützung anderer Generationen (22);

Ermöglichung von flexiblen Übergängen zwischen Arbeitsleben und Rente bzw. eines Mix von professionellem und ehrenamtlichem Engagement ohne finanzielle Einbußen und auf freiwilliger Basis;

Unterstützung freiwilligen ehrenamtlichen Engagements (23) durch Weiterbildung und Einbindung in lokale und überregionale Projekte;

Öffnung der Institutionen, um eine stärkere freiwillige Mitarbeit älterer Menschen zu ermöglichen, ohne dadurch bezahlte Arbeitsplätze zu ersetzen.

3.4   Bildung und gesellschaftliche Partizipation

Zentrale Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und aktives Engagement im Alter sind Bildung bzw. lebenslanges Lernen und die Einbindung in bedürfnisgerechte Aktivitäten. Dazu ist auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene eine Anpassung der Angebote erforderlich:

Lebensbegleitende Weiterbildungsangebote, um die Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer zu erhalten. In dieser Hinsicht sind auch Unternehmen gefordert, entsprechende Maßnahmen zu ermöglichen und zu unterstützen. Gleichzeitig müssen Anreize (z.B. steuerlicher Art) geschaffen werden;

allgemeine Weiterbildungsangebote (24) für die gesamte Lebensspanne auf allen Ebenen (von niedrigschwelligen Angeboten bis zu universitärer Bildung);

Qualitätsprüfung und Qualitätssicherung von Bildungsangeboten;

EU-weite Anerkennung auch von im höheren Lebensalter erworbenen Bildungsabschlüssen (25), Fertigkeiten und Kompetenzen zur Ermöglichung von länderübergreifender Mobilität (26) sowie Wertschätzung des Wissens, das auf informellem Weg erworben wurde;

Bildungsangebote, um sich auf den Ruhestand vorzubereiten;

Ausbildung von Übergangsbegleitern zur Vorbereitung auf neue Lebensphasen (27);

generationsübergreifendes statt alterssegregiertes Lernen (gegenseitiges Geben und Nehmen);

Bildungsangebote für generationsübergreifendes Engagement (beispielsweise Großeltern-Dienste);

Bildungsangebote zu grundlegenden finanziellen und rechtlichen Fragen (28) (zum Schutz der Belange Älterer, insbesondere auch im Internet-Handel);

Bildungsangebote zu neuen Informations- und Kommunikationstechnologien;

Erreichbarkeit und Zugänglichkeit von Informationsmöglichkeiten (Zeitung, Radio, TV, Internet);

differenzierte Sportangebote für unterschiedliche Fähigkeiten und Interessen;

Freizeitangebote und Tourismus (29) unter Berücksichtigung spezifischer kultureller Bedürfnisse (30).

3.5   Ältere Menschen als Verbraucher

Ältere Menschen haben vielfältige Bedürfnisse sowohl im Hinblick auf ihre Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs (siehe 3.1.2) und langlebigen Gebrauchsgütern als auch in Bezug auf technische Hilfsmittel und Assistenzsysteme (siehe 3.6) sowie Dienstleistungen aller Art, was jüngeren Menschen neue Beschäftigungsperspektiven eröffnen müsste.

Voraussetzungen im Einzelnen:

Eine allgemeine Produktgestaltung nach Prinzipien des „Universal Design“ oder „Design for All“ (31), einschließlich gut lesbarer und verständlicher Informationen über Gebrauchsmittel;

Vermeidung von Diskriminierung aufgrund des Alters und einer Behinderung beim Zugang zu Dienstleistungen, insbesondere zu finanziellen Dienstleistungen (32);

Durchsetzung der Konsumentenrechte auch für ältere Menschen.

Das Bild der Migranten im Ruhestand hat sich über die Jahre verändert. Viele werden im Ruhestand über geringere Mittel verfügen und Gesundheits- bzw. Sozialfürsorge benötigen, die von den gegenwärtigen Gesundheits- und Sozialhilfesystemen kaum abgedeckt wird. Pensionierte Migranten fallen in eine Lücke zwischen den Einzelstaaten, da ihre Ansprüche weder von ihrem Heimatland noch von ihrem Gastland gedeckt werden. Überall in der EU muss dieses Problem deutlicher ins Bewusstsein treten und stärker diskutiert werden, um einen Wandel herbeizuführen, wofür die europäische Ebene geeignet und für die Bürger von Vorteil ist.

3.6   Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT)

In den Bereichen Wohnen, Gesundheit, gesellschaftliche Teilhabe und Bildung sowie für den Zugang zur elektronischen öffentlichen Verwaltung ist die Nutzung neuer Technologien als Voraussetzung für ein selbständiges und aktives Leben im Alter zunehmend erforderlich. Dies gilt sowohl für die Dienste von allgemeinem Interesse für die älteren Menschen selbst, als auch für die entsprechenden Maßnahmen zur wirtschaftlichen Entwicklung auf regionaler und überregionaler Ebene (33). Zentral hierfür sind:

frühzeitiges Arbeiten an einer möglichst benutzerfreundlichen Software und einer Hardware, die einen optimalen Gebrauch auch durch unerfahrene bzw. nicht mehr geübte Nutzer erlaubt;

Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Informations- und Kommunikationstechnologien, einschließlich Ambient Assisted Living Systemen, Technologien für e-Learning, e-Health, e-Care und e-Rehabilitation. Technologien können unterstützen, ohne persönlichen Kontakt zu ersetzen (34);

Vereinfachung von Zugang und Nutzung entsprechender technischer Geräte und Netze angesichts wachsender Komplexität der Systeme und Anpassung an spezielle Bedürfnisse älterer Menschen (z.B. Sehprobleme, Einschränkungen des Tastsinns);

Berücksichtigung der Bedürfnisse älterer Nutzer und Nutzerinnen und Maßnahmen zur Erhöhung ihrer Nutzungsmotivation;

Einbeziehung aller Beteiligten sowie Wahrung ethischer und rechtlicher Gesichtspunkte insbesondere beim Einsatz elektronischer Kontrollsysteme im Falle einer dementiellen Erkrankung;

Begleitmaßnahmen wie integrierte Beratungs-, Installations- und Wartungsdienste sowie soziale Dienste;

Beachtung von Veränderungen durch gesellschaftlichen Wandel und neue Erfahrungen und Interessen nachrückender Alterskohorten.

3.7   Finanzielle Sicherung

Die Mitgliedstaaten sollten veranlasst werden, eine Existenzsicherung und damit würdige Lebensbedingungen für ältere Menschen zu gewährleisten, und zwar unabhängig davon, ob sie einen Beitrag zum gesellschaftlichen Leben leisten, und während ihres gesamten Rentnerdaseins.

Angesichts der strukturellen Veränderungen, der aktuellen Reformen der Renten- und Sozialsysteme und der steigenden Lebenshaltungskosten bei gleichzeitig sinkender Kaufkraft wächst der Anteil der Menschen, die von Altersarmut bedroht sind. Vor allem alte Frauen und Arbeitnehmer mit längeren Phasen der Arbeitslosigkeit leben in einigen Mitgliedstaaten in Armut.

Um den Bestand der Sozialschutzsysteme dauerhaft zu sichern, müssen die Mitgliedstaaten diejenigen, die noch berufstätig sind, dazu aufrufen, auf kollektive oder individuelle Altersvorsorge zurückzugreifen und auf die Solvenz der privaten Anbieter auf diesem Gebiet zu achten. Sie müssen außerdem ein allgemeines Mindesteinkommen für alle sicherstellen, das jedem älteren Menschen ein Leben in Würde ermöglicht, auch im Falle etwaiger unvorhersehbarer Schwierigkeiten, die das Leben für ihn bereithält.

4.   Besondere Bemerkungen und Empfehlungen

Zur Schaffung einer fundierten Basis für die notwendigen Umstrukturierungs- und Innovationsstrategien beantragt der Ausschuss Maßnahmen sowohl auf der Ebene der Mitgliedstaaten als auch auf europäischer Ebene:

4.1   Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten

4.1.1   Erstellung nationaler und regionaler Situationsberichte

Eine genaue Analyse der regionalen Situationen ist zunächst erforderlich. Die Kommission wird ersucht, regelmäßig entsprechende Situationsberichte der einzelnen EU-Mitgliedstaaten einschließlich Angaben zu den Aktivitätspotenzialen Älterer erstellen zu lassen.

4.1.2   Bereitstellung und Verbreitung von Informationsmaterial

Als wesentlich erachtet der Ausschuss, dass relevante Informationen, Wissens- und Erfahrungsbestände einschließlich bisheriger Forschungsergebnisse sowie neu gewonnene Erkenntnisse den Fachgremien, der interessierten Öffentlichkeit sowie älteren Menschen selbst zur Verfügung gestellt werden. Insbesondere müssen Forschungsergebnisse besser zwischen Wissenschaft, Politik und Nutzern (älteren Menschen und ihren Vertretern) vermittelt werden.

4.1.3   Aufbereitung und Verknüpfung bestehender Erfahrungen aus den Mitgliedstaaten

Der Ausschuss beantragt, regional bewährte Erfahrungen zu sammeln, zu vergleichen, auf ihre Verknüpfbarkeit mit anderen Bereichen und die Übertragbarkeit auf andere Regionen zu prüfen. Ziel ist es, eine Sammlung von Best Practice Beispielen zur Verfügung zu stellen (35).

4.1.4   Förderung eines neuen Altersbildes

In einer alternden Gesellschaft können Menschen nicht mehr als „inaktiv“ betrachtet werden, sobald sie aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. In dieser Beziehung ist ein Umdenken auf allen Ebenen (Politik, Wirtschaft, Gesellschaft) erforderlich. Die Staaten und Regionen sind besonders in der Lage, regelmäßig Kampagnen zur Förderung des Themas „Aktives Altern“ in Gang zu setzen.

4.1.5

Der Ausschuss schlägt eine europäischen Medienkampagne vor, die zu einem Altersbild beiträgt, das die Lebensleistung älterer Menschen (einschl. älterer Migranten und Migrantinnen) zugunsten der Gesellschaft und die Würde des Alters anerkennt.

4.2   Maßnahmen auf europäischer Ebene

4.2.1

Einrichtung einer ergänzenden Expertengruppe „Altern“ im Rahmen der Sachverständigengruppe für Fragen der Demografie bei der Europäischen Kommission.

4.2.2

Gründung einer Europäischen Allianz „Aktives Leben im Alter“ entsprechend der Europäischen „Allianz für Familien“ (36) mit dem Ziel, durch einen Erfahrungsaustausch der Mitgliedstaaten Impulse für ein aktives Altern zu geben und Zusammenarbeit und wechselseitiges Lernen in der Europäischen Union zu fördern. Diese Allianz wäre bestens in der Lage, europäische Konferenzen und Workshops zu veranstalten.

4.2.3   Einrichtung eines Europäischen Zentrums für Alternsforschung

Auf der Basis der Situations- und Erfahrungsberichte ergibt sich, zu welchen inhaltlichen Aspekten und regionalen Besonderheiten noch Forschungsbedarf besteht (37). Auch Ergebnisse aus bisherigen Forschungsrahmenprogrammen und statistische Daten erfordern eine Synthese und sind umfassender zu verbreiten sowie in Politik und Praxis zu berücksichtigen (38). Zur Bündelung, Integration und Weiterführung der bereits vorhandenen statistischen und anderen relevanten Wissensbestände wäre ein Europäisches Zentrum für Alternsforschung nach dem Muster des US-amerikanischen „National Institute on Ageing“ besonders geeignet.

4.2.4   Schaffung eines interdisziplinären Schwerpunktes „Altern“ im 8. Forschungsrahmenprogramm

Die Einführung eines interdisziplinären Schwerpunktes „Altern“ mit eigenem Budget in das 8. Forschungsrahmenprogramm würde die Bündelung der Forschungsaktivitäten sichern.

4.2.5   Schaffung eines gemeinsamen europäischen Internetportals

In einem solchen Portal sollen der Öffentlichkeit — insbesondere den älteren Menschen — alle alternsrelevanten Maßnahmen der einzelnen Generaldirektionen zur Verfügung gestellt werden. Das Informationsmaterial soll mittels entsprechender Links abrufbar sein.

4.2.6   Schaffung lokaler, regionaler und nationaler Internetportale in Anlehnung an das Europäische Internetportal

4.2.7   Unterstützung des Demografiefonds im Rahmen der Strukturfonds (39)

Der europäische Demografiefonds soll angesichts der besonders prekären Lage schrumpfender Regionen insbesondere ländlichen Regionen und Regionen mit unterdurchschnittlichen Wachstumsraten zugute kommen und gute Initiativen fördern.

4.2.8

Ergänzung des Programms für lebenslanges Lernen um neue Prioritäten, um die Ausbildung von Begleitern für Übergänge zwischen Lebensphasen zu ermöglichen.

4.3

Auf der Basis der vorgeschlagenen Maßnahmen können bedarfsgerechte Konzepte für Handlungsempfehlungen und politische Maßnahmen entwickelt werden. Der EWSA ersucht die Kommission, diese Vorschläge in der vorgesehenen Mitteilung zu berücksichtigen.

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Siehe z.B. den Informationsbericht der Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft CES 930/99 endg. SEC(2007) 638 Commission Staff Working Document „Europe's Demographic Future: Facts and Figures“.

(2)  Siehe KOM(2006) 571 vom 12. Oktober 2006; SEC(2007) 638; EPC & EC (DG ECFIN): „The impact of ageing on public expenditure“, Special Report No 1/2006.

(3)  Siehe u.a EWSA-Stellungnahme vom 16.12.2004 zu dem Thema „Strategien/Anhebung des Erwerbsaustrittsalters“, Berichterstatter: Herr DANTIN (ABl. C 157 vom 28.6.2005); EWSA-Stellungnahme vom 28.10.2004 zu dem Thema „Gesundheitsversorgung und Altenpflege“, Berichterstatter: Herr BRAGHIN (ABl. C 120 vom 20.5.2005); EWSA-Stellungnahme vom 26.9.2007 zu dem Thema „Patientenrechte“, Berichterstatter: Herr BOUIS (ABl. C 10 vom 15.1.2008); EWSA-Stellungnahme vom 24.10.2007 zu dem Thema „Misshandlung alter Menschen“, Berichterstatterin: Frau HEINISCH (ABl. C 44 vom 16.2.2008); EWSA-Stellungnahme vom 13.3.2008 zu dem Thema „Sicherung des allgemeinen Zugangs zur Langzeitpflege und eine nachhaltige Finanzierung der Langzeitpflegesysteme für ältere Menschen“, Berichterstatterin: Frau KLASNIC (ABl. C 204 vom 9.8.2008).

(4)  Entscheidung der Kommission 2007/397/EG.

(5)  Siehe http://ec.europa.eu/employment_social/families/index_de.html.

(6)  Siehe Ziffer 4.5.2 der EWSA-Stellungnahme vom 13.12.2007 zu dem Thema „Vierter Kohäsionsbericht“, Berichterstatter: Herr DERRUINE (ABl. C 120 vom 16.5.2008).

(7)  Siehe EWSA-Stellungnahmen vom 14.3.2007 zu dem Thema „Überalterung der Bevölkerung: Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Haushalte“, Berichterstatterin: Frau FLORIO (im ABl. C 161 vom 13.7.2007) und EWSA-Stellungnahme vom 15.9.2004 zu dem Thema „Demographischer Wandel und Forschungsbedarf“, Berichterstatterin: Frau HEINISCH (ABl. C 74 vom 23.3.2005).

(8)  Siehe EWSA-Stellungnahme vom 14.2.2008 zu dem Thema „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, Berichterstatter: Herr HENCKS (ABl. C 162 vom 25.6.2008).

(9)  Siehe EWSA-Stellungnahmen vom 18.1.2007 zu dem Thema „Strukturpolitik/Zusammenhalt in der EU“, Berichterstatter: Herr DERRUINE (ABl. C 93 vom 27.4.2007) und vom 25.4.2007 zu dem Thema „Territoriale Agenda“, Berichterstatter: Herr PARIZA (ABl. C 168 vom 20.7.2007).

(10)  Z.B. ländliche Regionen in Frankreich, Spanien und Portugal, in Ostdeutschland, einige osteuropäische Regionen und periphere ländliche Regionen in Schweden und Finnland; siehe „The Spatial Effects of Demographic Trends and Migration“, ESPON project 1.1.4, Final report 2002.

(11)  Siehe EWSA-Stellungnahme vom 29.5.2008 zu dem Thema „Grünbuch: Hin zu einer neuen Kultur der Mobilität in der Stadt“, Berichterstatter: Herr HERNÁNDEZ BATALLER, Mitberichterstatter: Herr BARBADILLO LÓPEZ (ABl. C 224 vom 30.8.2008), die Stellungnahme von AGE — the European Platform of Older People — zu diesem Grünbuch (COM(2007) 551 final); http://ec.europa.eu/transport/clean/green_paper_urban_transport/index_en.htm), oder auch Mollenkopf et al. (Eds.) (2005). „Enhancing mobility in later life — Personal coping, environmental resources, and technical support“. Amsterdam: IOS Press.

(12)  Beispiele für ergänzende Maßnahmen zur Erhaltung der Selbständigkeit gibt es u.a. in Frankreich (Hautes Corbières; CG VAL de Marne; France — discours colloque ANDASS), in Deutschland (Beispiele Berlin und Frankfurt/Main), UK (Newcastle).

(13)  Siehe z.B. die DG SANCO Veröffentlichung „Healthy Ageing: keystone for a sustainable Europe“

(http://ec.europa.eu/health/ph_information/indicators/docs/healthy_ageing_en.pdf).

(14)  Vgl. EWSA-Stellungnahmen 1447/2004; 1465/2007; 1256/2007; und 501/2008 in Fußnote 3.

(15)  Beispiel Finnland: Preventive work in Jyväskylä — Finland.ppt; Beispiel Frankreich: Poitiers.pdf; Strasbourg.pdf; „Le Guide de l'Aidant Familial“.

(16)  Siehe EWSA-Stellungnahme vom 15.9.2004 zu dem Thema „Demographischer Wandel und Forschungsbedarf“, Berichterstatterin: Frau HEINISCH (ABl. C 74 vom 23.3.2005). Vgl. auch mit EWSA-Stellungnahme vom 16.12.2004 zu dem Thema „Beziehungen zwischen den Generationen“, Berichterstatter: Herr BLOCH-LAINÉ (ABl. C 157 vom 28.6.2005); EWSA-Stellungnahme vom 14.3.2007 zu dem Thema „Die Familie und die demografische Entwicklung“, Berichterstatter: Herr BUFFETAUT (ABl. C 161 vom 13.7.2007); EWSA-Stellungnahme vom 11.7.2007 zu dem Thema „Rolle der Sozialpartner/Vereinbarung von Beruf, Familie und Privatleben“, Berichterstatter: Herr CLEVER (ABl. C 256 vom 27.10.2007) und EWSA-Stellungnahme vom 13.12.2007 zu dem Thema „Die Solidarität zwischen den Generationen fördern“, Berichterstatter: Herr JAHIER (ABl. C 120 vom 16.5.2007).

(17)  Siehe z.B. die Aktivitäten der Flemish Association VVSG (Flemish association Ageing VVSG-Vergrijzing-GRV-2006.pdf) und der Swedish Association of Local Authorities and Regions (Sweden — care for the elderly in Sweden today.pdf).

(18)  Siehe z.B. das Modellprogramm des BMFSFJ „Generationsübergreifende Freiwilligendienste“.

(19)  Richtlinie 2000/78/EG.

(20)  Das Beispiel Finnlands zeigt, wie durch positive Anreize (statt finanzieller Einbußen) und flexible Altersgrenzen (zwischen 63 und 68 Jahren) eine den individuellen Bedürfnissen entsprechende Gestaltung des Ausscheidens bzw. eines längeren Verbleibens im Erwerbsleben möglich ist.

(21)  Siehe z.B. Naegele, G. & Walker, A. (2006): „A guide to good practice in age management. European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions“, Dublin.

(22)  Der ESF finanzierte beispielsweise ein Projekt im Vereinigten Königreich, das ehemaligen Managern über 50 die Chance bietet, jüngere Kollegen und Postgraduates in über 200 KMU zu beraten und zu betreuen.

(23)  Siehe EWSA-Stellungnahme vom 13.12.2006 zu dem Thema „Freiwillige Aktivitäten, ihre Rolle in der europäischen Gesellschaft und ihre Auswirkungen“, Berichterstatterin: Frau KOLLER (ABl. C 325 vom 30.12.2006).

(24)  Vgl. EWSA-Stellungnahmen vom 9.2.2005 zu dem Thema „Integriertes Aktionsprogramm im Bereich des lebenslangen Lernens“, Berichterstatter: Herr KORYFIDIS (ABl. C 221 vom 8.9.2005); vom 18.5.2006 zu dem Thema „Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen“, Berichterstatterin: Frau HERCZOG (ABl. C 195 vom 18.8.2006); vom 30.5.2007 zu dem Thema „Lebenslanges Lernen“, Berichterstatter: Herr RODRIGUEZ (ABl. C 175 vom 27.7.2007); und EWSA-Stellungnahme vom 13.3.2008 zu dem Thema „Erwachsenenbildung“, Berichterstatterin: Frau HEINISCH (ABl. C 204 vom 9.8.2008).

(25)  Dies erfolgt unbeschadet der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen.

(26)  Z.B. bezüglich eines Praktikums oder Volontariats für Ältere.

(27)  Als Modell kann hier das Projekt „Transition — Ausbildung zum/zur Übergangsbegleiter/in für frühkindliche Bildungsprozesse“ im Rahmen des Socrates Grundtvig 1.1 Programms dienen

(http://www.elternverein-bw.de).

(28)  Siehe Mitteilung zu Vermittlung und Erwerb von Finanzwissen KOM(2007) 808 vom 18.12.2007, S. 8.

(29)  Vgl. hierzu z B. das Projekt „Travelagents“

(www.travelagentsproject.org).

(30)  Vgl. hierzu z.B. das Projekt „AAMEE“

(http://www.aamee.eu/).

(31)  Siehe dazu das „Europäische Netzwerk Design für alle und elektronische Zugänglichkeit“

(EDeAN; http://www.edean.org/).

(32)  So könnte sich z.B. die Vergabe von Kleinkrediten als nützlich erweisen, um älteren Menschen beim Ausscheiden aus einem Beschäftigungsverhältnis oder im Falle von Arbeitslosigkeit die Begründung einer selbständigen Tätigkeit zu ermöglichen.

(33)  Siehe EWSA-Stellungnahme vom 29.5.2008 zu dem Thema „Ältere Menschen/neue IKT“, Berichterstatterin: Frau DARMANIN (ABl. C 224 vom 30.8.2008); EU Parliament Report RR\39694EN.doc, PE396.494v03-00; Malanowski, N., Özcivelek, R. and Cabrera, M.: „Active Ageing and Independent Living Services: The Role of Information and Communication Technology“. JRC Scientific and Technical Report, EUR 2346 EN — 2008.

(34)  Siehe in diesem Zusammenhang den Aktionsplan „Wohltuendes Altern in der Informationsgesellschaft“ (KOM(2007) 332 endg.), das Ambient Assisted Living Joint Research Programm (http://www.aal-europe.eu/), die Forschungsaktivitäten des 7. Rahmenprogramms für Forschung und technologische Entwicklung (2007-2013) (http://ec.europa.eu/research/fp7/index_en.cfm) und „Seniorwatch 2 — Assessment of the Senior Market for ICT, Progress and Developments“

(http://ec.europa.eu/information_society/activfities/einclusion/research/ageing/index_en.htm).

(35)  In Wales gibt es beispielsweise einen Beauftragten für ältere Menschen, der aufbauend auf den Erfahrungen des Beauftragten für Kinder die politischen Maßnahmen und die Rechtsprechung beobachtet sowie wissenschaftliche Untersuchungen fördert bzw. in Auftrag gibt.

(36)  Siehe http://ec.europa.eu/employment_social/families/european-alliance-for-families-de.html

(37)  Vgl. dazu die EWSA-Stellungnahme vom 24.5.2000 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Hin zu einem europäischen Forschungsraum“, Berichterstatter: Herr WOLF (ABl. C 204 vom 18.7.2000).

(38)  Empfehlung aus dem 6. Rahmenprogramm für Forschung. Siehe EWSA-Stellungnahme vom 15.9.2004 zu dem Thema „Demographischer Wandel und Forschungsbedarf“, Berichterstatterin: Frau HEINISCH (ABl. C 74 vom 23.3.2005).

(39)  Siehe Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999. Siehe auch EWSA-Stellungnahme vom 13.12.2007 zu dem Thema „Vierten Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt“, Berichterstatter: Herr DERRUINE (ABl. C 120 vom 16.5.2008).


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/123


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Hin zu einer ausgewogenen städtischen Entwicklung: Herausforderungen und Möglichkeiten“

(2009/C 77/27)

Am 25. Oktober 2007 ersuchte Jean-Pierre JOUYET, Staatsminister im Ministerium für auswärtige und europäische Angelegenheiten und Verantwortlicher für europäische Angelegenheiten, im Namen des künftigen französischen EU-Ratsvorsitzes gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu dem Thema:

„Hin zu einer ausgewogenen städtischen Entwicklung: Herausforderungen und Möglichkeiten“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 14. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr van IERSEL und Mitberichterstatter Herr GRASSO.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) einstimmig folgende Stellungnahme:

STÄDTISCHE ENTWICKLUNG: HERAUSFORDERUNGEN UND CHANCEN

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Städte in all ihrer Vielfalt stehen im Mittelpunkt der demografischen und sozioökonomischen Entwicklung in Europa. Ihr Einfluss und ihre Leistungsfähigkeit hängen von ihrer Größe, der Palette ihrer Aktivitäten und der in ihnen vorhandenen Lebens- und Arbeitsqualität ab.

1.2

Der EWSA unterstützt die grundlegenden Ideen, die in der Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt und der Territorialen Agenda der Europäischen Union dargelegt sind (1). Er stellt fest, dass zahlreiche Generaldirektionen der Kommission sowie Europäische Programme und Agenturen zunehmend auf die Chancen und Herausforderungen der städtischen Entwicklung Bezug nehmen und dabei häufig auf die Lissabon-Agenda verweisen. Im Herbst 2008 wird die Veröffentlichung eines Grünbuchs zum territorialen Zusammenhalt erwartet.

1.3

Die europäische Debatte über flexible und nachhaltige Städte, Stadtregionen oder Ballungsräume in ganz Europa sollte weiter vertieft und ausgeweitet werden. Daher empfiehlt der EWSA die Einrichtung einer hochrangigen EU-Gruppe „Städtische Entwicklung und Nachhaltigkeit“.

1.4

In dieser hochrangigen Gruppe sollte eine gründliche Kenntnis spezifischer Interessen der Städte vertreten sein. Das Grünbuch zum territorialen Zusammenhalt kann als willkommener Ausgangspunkt dienen.

1.5

In Zusammenarbeit mit der Kommission (der dienststellenübergreifenden Gruppe Städtische Angelegenheiten), kann eine solche hochrangige Gruppe zu einer effizienteren und gezielten europäischen Debatte über Städte beitragen und u.a. eine zukunftsorientierte Agenda, eine Liste relevanter Themen für Städte, Ballungsräume und Regierungen  (2) erarbeiten. Die Diskussion wird auf eine neue Grundlage gestellt werden. Die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und dem Rat wird in operativer Hinsicht vereinfacht. Hierdurch würde auch die Verantwortung der Regierungen betont werden.

1.6

Da zuverlässige Daten entscheidend sind, können die Kommission und Eurostat dazu beitragen, indem sie die statistische Meldepflicht der Ebene 2 und 3 der Nomenklatur NUTS (3) auf Städte und Ballungsräume sowie deren Verbünde ausweiten. Für den Aufbau geeigneter Datenbanken sollten Vereinbarungen mit den Mitgliedstaaten, den nationalen Ämtern für Statistik und mit Forschungsinstituten (4) geschlossen werden.

1.7

Das ESPON-Netzwerk (5) ist als Wissens- und Forschungszentrum dazu prädestiniert, Entwicklungen zu beobachten und als Plattform für den Austausch von Analysen zwischen Mitgliedstaaten zu fungieren.

1.8

Zwar legen in zahlreichen Bereichen die Regierungen die Bedingungen fest, aber ihre Umsetzung und die konkreten Maßnahmen erfolgen vorwiegend auf dezentraler Ebene, wie etwa in Bezug auf interne und externe Zugänglichkeit, Umwelt, Bildung, Lebensbedingungen von Familien, Unternehmertum, Wissen und Forschung, Beschäftigung, Migration, Minderheiten sowie ethnische und kulturelle Vielfalt, öffentliche Investitionen und öffentliche Dienstleistungen, Anwerbung (ausländischer) Investitionen, Partnerschaften zwischen Behörden und von Behörden mit dem Privatsektor, auch solche mit privaten Finanzierungen usw.

1.9

Europa braucht gut ausgestattete Städte und Ballungsräume. Technologische Dynamik und internationale wirtschaftliche Integration bedeuten, dass Städte unmittelbar mit internationalen Tendenzen und Wettbewerb konfrontiert werden. Es überrascht keineswegs und ist vielmehr erfolgversprechend, dass viele Städte und Ballungsräume neue Ziele festlegen. Zu den besten Vorhaben gehören die Einrichtung von Wissenszentren auf allen Ebenen sowie Zentren für zukunftsorientierte Investitionen.

1.10

Aufgrund des demografischen Wandels, der Migration, ökologischer Anforderungen und Folgen globaler wirtschaftlicher Veränderungen stehen die Städte häufig vor schweren Herausforderungen, die eine starke Belastung für sie sein können und manchmal zu bedauernswerten Differenzen führen und positive Aussichten untergraben können.

1.11

Da sich in ganz Europa ähnliche Tendenzen und Besonderheiten in Städten unabhängig von ihren kulturellen und sozioökonomischen Unterschieden abzeichnen, werden eine kontinuierliche europäische Debatte und ein umfassendes Konzept den nationalen Rahmen und Kontext ergänzen. Neben den Analysen und der Festlegung anzustrebender Konzeptionen sind besonders Leistungsvergleiche und beispielhafte transparente Verfahrensweisen bei integrierten Ansätzen gefragt.

1.12

Da Ziele und (juristische, steuerliche und finanzielle) Instrumente der Regierungspolitik sowie deren Umsetzung auf regionaler und lokaler Ebene notwendigerweise aufeinander abgestimmt sein müssen, dürfte eine hochrangige Debatte über verschiedene Szenarien wie auch Analysen und Benchmarking, ungeachtet der kulturellen und institutionellen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten neue Perspektiven eröffnen.

1.13

Der EWSA weist auf die Notwendigkeit eines gemeinsamen Konzepts der Generaldirektionen der Kommission in Bezug auf Städte und Ballungsräume hin. Die Sichtbarkeit dieses gemeinsamen Konzepts sollte auch ein Anreiz für die nationalen Regierungen sein, integrierte Ansätze für Städte zu schaffen — eine Forderung, die Städte bereits häufig an die Regierungen und die EU stellen.

1.14

Im Mittelpunkt der Analysen und Leistungsvergleiche muss eine breite Themenpalette stehen, die in Ziffer 4.12 aufgeführt ist: Miteinander verknüpfte Aspekte einer Agenda für den Zusammenhalt verstädterter Gebiete und eine nachhaltige Stadt der Zukunft. Diese Aspekte sind großenteils Ausdruck der regionalen Dimension der Lissabon-Agenda, die einen sehr geeigneten Rahmen für sie bietet. Öffentliche und private Einrichtungen und Agenturen und auch zahlreiche Großstädte haben bereits umfangreiche Arbeiten in Angriff genommen, doch mangelt es noch an einem transparenten und kohärenten Konzept.

1.15

Die meisten Großstädte und Ballungsräume stehen vor komplexen und schwierigen Entscheidungen. Ein gesamteuropäisches Engagement und Unterstützungen für Analysen können ihnen bei der Ergreifung von Chancen und Bewältigung von Herausforderungen sicher behilflich sein. Beispielsweise wäre es empfehlenswert, (jährliche) Preise oder europäische Auszeichnungen für städtische Aspekte auszuschreiben. Es gibt hervorragende Beispiele in allen Bereichen, wie etwa Städteplanung, Baugestaltung, Migration, Minderheiten und Vielfalt, Mobilität, Technologie und Markt, ökologische Projekte, Energieeinsparung, hochwertiger Wohnraum u.a. Diese sollten in ganz Europa herausgestellt werden.

1.16

Politikgestaltung (Governance) ist ein wichtiges und komplexes Thema (6). Häufig wird übersehen oder vernachlässigt, wer wofür verantwortlich und rechenschaftspflichtig ist. Für Städte sind Führungsstärke, Weitsicht und Kohärenz jedenfalls Grundvoraussetzungen (7).

1.17

Komplizierte Verwaltungsstrukturen in Europa, die gewöhnlich seit langem bestehen, sind in der Regel nicht für die aktuelle langfristige Regionalpolitik in dicht besiedelten Regionen geschaffen. Auf europäischer Ebene kann eine Diskussion über die Möglichkeiten einer effizienteren Gestaltung des Regierens auf mehreren Ebenen besonders hilfreich sein. Gleiches gilt auch für Formen der Partnerschaften zwischen Behörden und öffentlich-privaten Partnerschaften in Städten, die zunehmend mehr eine unerlässliche Unterstützung sind.

1.18

Eine langfristige europäische Agenda, ein stärkeres Engagement der Kommission und eine Beobachtung auf europäischer Ebene können bei der Festlegung einer abgestimmten Ausrichtung der Maßnahmen auf regionaler und städtischer Ebene hilfreich sein. Diesbezüglich bietet die Lissabon-Agenda einen geeigneten Rahmen. Kohärenz ist auch unumgänglich, um andere öffentliche und private Akteure sowie Stadtfachleute in Programme und Projekte einzubeziehen. Hierzu gehören Schulen und Ausbildungseinrichtungen, der Bereich Hochschulen, Architekten und Städteplaner, regionale Sozialpartner, Handelskammern, Unternehmen, Entwicklungsunternehmen, der Bereich private Finanzierung, Gesundheitsdienste, Kulturorganisationen u.a.

1.19

Eine europäische Agenda würde ein neues Modell einer ausgeglichenen polyzentrischen Entwicklung in Europa begünstigen, das neue Gemeinschaftsformen hervorbringen und auch der Gesellschaft allgemein zu Gute kommen würde. Dieser Prozess ist bereits im Gange und sollte nach Ansicht des EWSA volle Anerkennung und Unterstützung erhalten.

2.   Hintergrund

2.1

Die demografische Landschaft der Welt ist im Wandel begriffen. Seit 2007 lebt erstmals in der Geschichte über die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Das Phänomen einer zunehmenden Urbanisierung tritt auf allen Kontinenten auf. In der Tendenz ist eine weitere Zunahme dieses Prozesses zu verzeichnen.

2.2

Zurzeit leben über 80 % der Bevölkerung in Europa in städtischen Gebieten, davon ein großer Teil in Städten und Ballungsräumen mit mehr als 500 000 Einwohnern. In vielen Gebieten ist eine weiter steigende Tendenz dieser Zahlen zu verzeichnen.

2.3

Neben Ballungsräumen wie Greater London und Ile-de-France sowie traditionellen Großstädten, meist Hauptstädte, werden andere, häufig ambitionierte Zentren zunehmend zu Anziehungspunkten für Menschen und Wirtschaftstätigkeiten.

2.4

Die EU-Politik berücksichtigt in gewissem Maße diesen demografischen Wandel und dessen soziale und wirtschaftliche Folgen. Stadt- und Urbanisierungsfragen gewinnen in vielen Generaldirektionen zunehmend an Bedeutung, darunter in denjenigen für Forschung, Umwelt, Energie und Verkehr, Unternehmen und Industrie, Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit. Die Regionalpolitik der EU behandelt ebenfalls das Thema Urbanisierung, wie in den Stadtentwicklungsprogrammen URBACT, JEREMIE und JESSICA (8) sowie in Stadtprojekten im Rahmen des Europäischen Sozialfonds (9) zum Ausdruck kommt. In der Kommission wurde eine dienststellenübergreifende Fachgruppe Städtische Angelegenheiten eingerichtet.

2.5

All dies ist Ausdruck eines wachsenden Interesses und gezielter Maßnahmen in den Mitgliedstaaten selbst zur Urbanisierung und der Entwicklung von Ballungsräumen.

2.6

Neben einer steigenden Zahl von Analysen und Studien zum Thema Städte und Urbanisierung in den Mitgliedstaaten wurden von dem Netzwerk ESPON zahlreiche geografische Karten zu aktuellen demografischen und sozioökonomischen Tendenzen erarbeitet.

2.7

1997 legte die Kommission ein globales Konzept für Städte unter dem Titel „Wege zur Stadtentwicklung in der Europäischen Union“ vor (10).

2.8

In mehreren informellen Ministertreffen zur Stadtentwicklung und zum territorialen Zusammenhalt im Zeitraum November 2004 (Rotterdam) bis Mai 2007 (Leipzig) betonten die für Raumplanung und städtische Angelegenheiten zuständigen Minister die Bedeutung der Stadtentwicklung und des territorialen Zusammenhalts in Europa und legten zahlreiche Bereiche von gemeinsamem Interesse fest.

2.9

Dieser Prozess führte zur Verabschiedung der „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ und der Territorialen Agenda im Mai 2007 in Leipzig, die während des slowenischen Ratsvorsitzes im Rahmen eines Follow-up zu dem Projekt „Territoriale und städtische Koordinierung“ konkretisiert wurden.

2.10

Parallel zu den informellen Ministertreffen werden die Kontakte zwischen führenden Beamten der Mitgliedstaaten intensiviert. Manchmal werden Forschungsinstitute aufgefordert, spezifische Aspekte zur Stadtentwicklung zu vertiefen (11).

2.11

Trotz vieler Untersuchungen und der Aufzählung der Gebiete, die einen dynamischen Urbanisierungsprozess verzeichnen, bleibt unklar, welchen globalen Ansatz Kommission und Rat hinsichtlich der Urbanisierung und ihrer künftigen Entwicklung in Europa verfolgen.

2.12

Im Februar 2008 verabschiedete das Europäische Parlament einen Bericht „Follow-up der Territorialen Agenda und der Charta von Leipzig — Ein europäisches Aktionsprogramm für Raumentwicklung und territorialen Zusammenhalt“ (12). In diesem Bericht wird betont, wie wichtig ein integrierter Ansatz bei der Regional- und Städteplanung ist, wenn die Regionen und Städte zu einer besseren Anpassung an den ökonomischen Wandel im Interesse der Lebensqualität der Bürger Europas befähigt werden sollen.

2.13

Im November 2007 verabschiedete der Ausschuss der Regionen eine Stellungnahme zu dem „Vierten Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt“ (13). In dieser Stellungnahme fordert der Ausschuss, „dass angesichts der zentralen Bedeutung der europäischen Städte für die Erreichung der Ziele der Strategien von Lissabon und Göteborg sowie für die soziale Integrationetwa von Zuwanderernim 5. Kohäsionsbericht die städtische Dimension in einem eigenen Kapitel behandelt wird“.

2.14

Zwischen europäischen Städten bestehen wesentliche Unterschiede: So gibt es große und kleine, dicht besiedelte und weniger dicht besiedelte Städte, unterschiedliche Stadtlandschaften wie etwa Großstädte und Städtegruppen sowie wohlhabende und weniger entwickelte Städte. Auffallend sind aber auch die Gemeinsamkeiten: So ist eine ungesteuerte demografische Verschiebung hin zu den Städten und eine wachsende wirtschaftliche Attraktivität von Großstädten zu verzeichnen, und diese Städte stehen vor ähnlichen Herausforderungen.

2.15

Die Gesamtheit der Chancen und Herausforderungen wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass heutzutage eine erfolgreiche Städteplanung nicht nur auf Raumplanung und Wohnungsbau begrenzt ist, sondern im Rahmen eines ganzheitlichen Ansatzes auch ausdrücklich alle relevanten sozioökonomischen Faktoren berücksichtigt. Zunehmend zukunftsorientierte urbanistische und Planungsprojekte werden auf der Grundlage integraler Konzepte territorialer, ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Aspekte erarbeitet.

2.16

Auch wenn Regierungen eine progressive Stadtentwicklung bevorzugen, bleiben die Ansätze dazu häufig unklar. Die Art und Weise, wie Entwicklungen umgesetzt und erfolgreich bewältigt werden, unterscheiden sich von Land zu Land und sogar von Stadt zu Stadt teilweise erheblich. Dies betrifft natürlich auch die Entwicklung von Großstadtregionen und Ballungsräumen.

2.17

Der EWSA formulierte seine allgemeinen Ansichten zum Thema Urbanisierung 1998 in einer Stellungnahme „Wege zur Stadtentwicklung“. Anschließend folgten weitere Stellungnahmen, darunter zwei spezifische in den Jahren 2004 und 2007 zu dem Thema „Die großstädtischen Ballungsgebiete: sozioökonomische Auswirkungen auf die Zukunft Europas“. Im Jahr 2007 wurde auch eine Stellungnahme zu der Territorialen Agenda der EU veröffentlicht. Darüber hinaus behandeln eine Reihe von Stellungnahmen des EWSA besondere Bereiche, die für Städte und Urbanisierung von Interesse sind (siehe Anhang).

3.   Analyse und Entwicklung

3.1

Städte und die Lebensweise von Menschen in Gemeinden spiegeln geschichtliche Zeitabschnitte und die entsprechende Entwicklung der Gesellschaft wider.

3.2

Neben strategischen und politischen Gründen waren Wirtschaft und Sicherheit die wichtigsten treibenden Kräfte bei der Gestaltung von Gemeinden und Städten und ihrer Wechselbeziehungen.

3.3

Die moderne Geschichte der europäischen Städte begann, als voll entwickelte Agrargesellschaften vor dem Hintergrund von Wirtschaft und Handel zur Entstehung von Städten auf dem ganzen Kontinent führten. Die darauf folgenden Stadien der Industrialisierung hatten einen Wandel der bereits bestehenden Städte bzw. die Entstehung neuer Städte zur Folge. Ab dem späten 19. Jahrhundert führte die Industrialisierung zu einem enormen Wachstum dieser Städte. Die lange historische Entwicklung mit dem kulturellen Erbe, den Industriegebieten und den Wohnvierteln usw. ist in den meisten Städten durchaus noch sichtbar.

3.4

In den letzten Jahrzehnten haben sich die traditionellen Industriezentren grundlegend verändert. Viele von ihnen erfuhren und erfahren immer noch schmerzhafte Umstrukturierungen, da die traditionellen industriellen Prozesse allmählich verdrängt werden.

3.5

Aufgrund der technologischen Dynamik und Globalisierung sind neue Prozesse im Gange. Es findet ein Übergang von der Massenproduktion zu maßgeschneiderter Produktion und zahlreichen Spezialisierungen sowie kontinuierlicher Erneuerung einerseits und einem sich stark ausdehnenden Dienstleistungssektor andererseits statt. Es ist ein enormer Anstieg der Mobilität zu verzeichnen, und es findet eine Verlagerung der Bevölkerung u.a. aus ländlichen Gebieten in die Städte sowie aufgrund der Migration statt.

3.6

Das Umfeld der Menschen der westlichen Welt wird grenzenlos und hat praktisch sehr weite Horizonte, und diese Entwicklungen haben auch Auswirkungen auf die Alltagsrealität in allen Bereichen des menschlichen Wirkens.

3.7

Dieses tägliche Umfeld ist für viele Menschen nicht mehr länger das einzelne Dorf oder die Stadt, sondern umfasst zunehmend größere regionale Verwaltungseinheiten, die eine neue Art der Urbanisierung schaffen.

3.8

Es bilden sich verstärkt spontan und/oder bewusst vernetzte Städte oder Regionen heraus: Dies ist am Beispiel der Entwicklung von Großstädten und Ballungsräumen in Europa zu sehen. Man beobachtet in der modernen urbanisierten Gesellschaft, dass eine neue geografische Realität entsteht, die aus einflussreichen Wirtschaftsregionen und einer großen Zahl untergeordneter Regionen besteht, die häufig nicht mehr mit den bestehenden Verwaltungseinheiten übereinstimmt.

3.9

Ein wesentliches Merkmal dieser neuen Stadtregionen ist ihre kritische Größenordnung, die für die angemessene Bewältigung der Urbanisierung zum Nutzen aller Bürger sowie für ihre Lebens- und Arbeitsqualität erforderlich ist. Das kritische Ausmaß kann in Abhängigkeit von besonderen geografischen, wirtschaftlichen und demografischen Umständen sehr unterschiedlich sein.

3.10

Nach einem Jahrzehnt durchgeführter Studien und Diskussionen auf nationaler Ebene über die „künftige Karte“ Deutschlands wurden im Jahr 2004 elf Ballungsräume festgelegt, die als einflussreiche Wirtschaftsregionen eingestuft wurden. Trotz anfänglicher skeptischer Reaktionen wird dieses Konzept nun weiter ausgearbeitet. Die Beziehungen und wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen städtischen Ballungsräumen und ländlichen Gebieten sind ein aktuelles Thema.

3.11

Gleichzeitig wurden Studien von DIACT (14) in Frankreich durchgeführt, nach denen eine Reihe von Metropolen festgelegt wurden. Im Januar 2008 wurde ein politisches Papier „Imaginer les métropoles d'avenir“ (Metropolen der Zukunft) (15) vorgestellt, das als Anreiz für eine weitere Förderung dieser Zentren in Frankreich und für eine geeignete diesbezügliche Gesetzgebung dienen kann. Auch im Vereinigten Königreich sind zahlreiche Maßnahmen in Bezug auf Stadtregionen zu verzeichnen.

3.12

Mehr oder weniger ähnlich ausgerichtete Initiativen werden von anderen Regierungen und/oder regionalen und lokalen Gebietskörperschaften unternommen: in den skandinavischen Ländern, den baltischen Staaten, Irland und Österreich überwiegend zu den Hauptstädten und ihren Umgebungen sowie in den Niederlanden zum Ballungsgebiet Randstad. In großen Mitgliedstaaten wie Spanien, Italien und Polen bilden sich mehrere vorherrschende Zentren heraus.

3.13

Neben den hauptsächlichen Zentren entstehen Strukturen von untergeordneten Zentren, die die Urbanisierung zu einem bedeutenden Merkmal der europäischen Landschaft machen, ohne gleichmäßig auf dem ganzen Kontinent verbreitet zu sein.

3.14

Soziale und wirtschaftliche Entwicklungen führen zu einem polyzentrisch urbanisierten Europa, das nicht mehr auf ein bestimmtes geografisches Gebiet wie die traditionelle „Blaue Banane“ oder auf eine exklusive Gruppe von Hauptstädten begrenzt ist.

4.   Chancen und Herausforderungen

4.1

Eine entscheidende Frage ist, wie die nachhaltige Stadt im Europa der Zukunft als eine attraktive Gemeinde für seine Bürger aussehen wird und muss? Mit Blick auf eine europäische Debatte über die komplizierten städtischen Entwicklungen ist eine Reihe von vorherrschenden Faktoren und Tendenzen zu unterscheiden, die oft verschiedene Realitäten in und zwischen Großstädten oder Stadtregionen in ganz Europa erfassen.

4.2

Unter diesen Faktoren und Tendenzen sind folgende hervorzuheben:

demografischer Wandel, darunter:

alternde Bevölkerung

Städte als Anziehungspunkte für junge Fachkräfte

zunehmende ethnische und kulturelle Vielfalt infolge der Einwanderung

Gruppen von Städten und Gemeinden, die als vernetzte Städte und Regionen oder Ballungsräume gelten;

Verkehr und Mobilität: einflussreiche Wirtschaftsgebiete erlangen in Europa und darüber hinaus einen immer größeren Verflechtungsgrad;

internationale Investitionen und Firmensitze, was Unternehmensdienstleistungen nach sich zieht;

zunehmende Zahl von Wissens- und Forschungszentren;

Entstehen neuer Industrie- und Dienstleistungsbranchen und Betonung der Kreativität;

sich dynamisch ändernde Arbeitsmärkte;

Ausbau der Verkehrsanbindungen;

moderner Wohnungsbau und entsprechende Raumplanung;

Entstehung neuer Zusammenschlüsse innerhalb verstädterter Gebiete;

Wiederbelebung städtischer Zentren und verringerte Zersiedlung;

Freizeit und Veranstaltungen;

Betonung der Kultur (darunter Geschichts- und Naturerbe) und kulturelle Einrichtungen.

4.3

Unterdessen verschärfen sich die bestehenden Probleme in kleineren Städten und es entstehen neue Herausforderungen:

Nachhaltigkeit, Umweltaspekte, Energie;

Entvölkerung von Stadtzentren;

Begrenzung des Umfangs öffentlicher urbaner Räume sowie Herausforderungen im Zusammenhang mit deren Qualität;

Infrastruktur, Verkehrssysteme und Erreichbarkeit;

Bewältigung der Mobilität;

Probleme geringqualifizierter Menschen: Arbeit, Bildung, Wohnen;

Probleme im Zusammenhang mit einer alternden Bevölkerung;

unzureichendes Unternehmertum, insbesondere in strukturschwachen Gebieten;

illegale Einwanderung;

Bildung und Fähigkeiten;

in einem früheren Stadium gescheiterte oder vernachlässigte Raumplanung, z.B. in Vororten;

Randgruppen und Kriminalität;

Terrorismusgefahr.

4.4

Die demografische Struktur von Großstädten und Ballungsräumen ist oft mit Herausforderungen, aber auch mit Chancen verbunden. Dies unterscheidet sich von Stadt zu Stadt in Abhängigkeit von der Bevölkerungszusammensetzung und den wirtschaftlichen Möglichkeiten sowie von der nationalen Politik. Eine erfolgreiche Integrationspolitik von Aufnahmeländern führt gewöhnlich zu einem höheren Grad der Eingliederung.

4.5

Die Beziehungen zwischen ländlichen Gebieten und Städten sind eine echte Herausforderung. Ungeachtet der allgemein verbreiteten und politischen Ansichten ist eine harmonische Beziehung zwischen ländlichen Gebieten und Städten für die Lebens- und Arbeitsbedingungen in Ballungsräumen von entscheidender Bedeutung und steht der gewöhnlichen Auffassung des „Entweder-Oder“ bzw. „Wir und die anderen“ entgegen. Dies passt hervorragend zu dem neuen Modell der polyzentrischen Entwicklung.

4.6

Obgleich die Ausgangspunkte für die Städte aufgrund unterschiedlicher Entwicklungsniveaus verschieden sein können, sind die meisten Unterschiede gradueller Art. Im Wesentlichen spiegeln die Muster der Urbanisierung in den neuen Mitgliedstaaten dieselben Phänomene wider, jedoch noch in einem gewissen Abstand. Die Stadterneuerung ist eines der ersten Ziele. Da das Wirtschaftswachstum zu höheren öffentlichen Ausgaben, zu mehr privaten Investitionen und höheren Einkommensniveaus führt, wird die Urbanisierung zunehmend in ganz Europa dieselben Merkmale aufweisen.

4.7

In politischen Dokumenten und Projektvorschlägen in Bezug auf die Urbanisierung bezieht sich die Kommission derzeit systematisch auf die Lissabon-Agenda. Die Dokumente des Rates und der Mitgliedstaaten verweisen ebenfalls immer häufiger auf dieselbe Verbindung. In den strategischen Leitlinien der Kommission wird von Städten als Motoren der regionalen Entwicklung und als Innovationszentren gesprochen, aber auch von dem Erfordernis, den inneren Zusammenhalt durch Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung und Kriminalität zu stärken und die Lebensqualität in benachteiligten Stadtvierteln zu erhöhen.

4.8

Die Lissabon-Agenda wurde als ein von oben nach unten gerichteter Prozess eingeleitet. Unterdessen sind die Kommission und der Rat zu der Überzeugung gelangt, dass auch von unten nach oben gerichtete Kräfte aktiviert werden müssen. Unter diesen Bottom-up-Kräften sind die sich entwickelnden Städte wichtige Akteure: ein entscheidender Teil der Modernisierung europäischer territorialer und sozioökonomischer Strukturen wird hauptsächlich über öffentliche und private Investitionen und konkrete Maßnahmen in Regionen und Städten abgewickelt. Städte sind gewöhnlich die beste geografische Ebene für den öffentlichen, privaten und universitären Sektor, um mit der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten und die für Europa erforderlichen Innovationen zu bewirken.

4.9

Deshalb ist der EWSA der Auffassung, dass Großstädte und Ballungsräume ihre eigene Lissabon-Agenda in den Bereichen Wettbewerbsfähigkeit, nachhaltige Entwicklung, sozialer Zusammenhalt und Integration festlegen müssen. Eine solche Agenda sollte politischen Entscheidungsträgern und alle anderen Betroffenen auf regionaler Ebene eine zukunftsorientierte Struktur und ein langfristiges Programm bieten. Auf diese Art wird das Selbstvertrauen der Städte und städtischen Regionen gefördert und ihre Ausdrucksmöglichkeiten auf nationaler und internationaler Ebene gestärkt.

4.10

In dichter besiedelten Gebieten muss eine langfristige regionale Agenda integriert oder ganzheitlich sein, d.h. alle Aspekte sollten miteinander verknüpft sein. Je besser die Bedingungen für private Investitionen sind, desto mehr Möglichkeiten bestehen für die Schaffung von Arbeitsplätzen und für öffentliche Dienstleistungen und die Betreuung schwacher Gruppen wie (vereinsamte) ältere Menschen und geringqualifizierte Menschen (16). Eine besondere und gezielte Beachtung der Nachhaltigkeit und der allgemeinen Qualität der bebauten Umwelt werden dazu beitragen, solche Städte und Regionen für die Bevölkerung und für (internationale) Investitionen attraktiver zu gestalten. Bessere Bedingungen für den sozialen Zusammenhalt werden die Schaffung von Arbeitsplätzen erleichtern. Globale und dauerhafte Strategien werden gegenüber der Bevölkerung an Glaubwürdigkeit gewinnen (17).

4.11

Es sollte auch bedacht werden, dass die Märkte oft infolge räumlicher Starre nicht funktionieren: Wohnungswesen, Entwicklungspolitik, Infrastruktur, Verkehr und Mobilität. Die Lösung für solche Unbeweglichkeit muss in der Regel auf Ebene der Großstadtregionen gefunden werden. Eine Integration von Märkten kann auch dazu führen, dass nationale Grenzen hinfällig werden (18).

4.12

Es seien folgende miteinander verknüpfte Aspekte einer Agenda für den Zusammenhalt qualitativ hochwertiger verstädterter Gebiete und für nachhaltige Städte der Zukunft genannt:

Schaffung von Bedingungen für eine moderne wirtschaftliche Entwicklung, für KMU, internationale Investitionen und Firmensitze durch Förderung von Wirtschaftsclustern;

korrekte Durchführung des Gemeinschaftsrechts und Vereinfachung regionaler und lokaler Vorschriften;

Beschäftigungspolitik und sozialer Dialog auf regionaler Ebene;

allgemeine und berufliche Bildung auf allen Ebenen für alle Kategorien, darunter lebenslanges Lernen, Vereinbarung von Arbeit und Bildung sowie e-Learning;

familienfreundliche Lebensbedingungen wie etwa erschwingliche Kinderbetreuung;

Forschung und Entwicklung, d.h. Forschungseinrichtungen, Technologie- und Wissenschaftsparks, Innovationen;

materielle Infrastruktur:

Beteiligung an transeuropäischen Netzen

Mobilitätsmanagement (19)

multimodale öffentliche Verkehrssysteme

öffentlich-private Partnerschaften, auch mit privater Finanzierung;

immaterielle Infrastruktur:

Telekommunikationen

IKT als grundlegende Anforderung, Verbreitung von Breitbandanschlüssen und Interkonnektivität;

nachhaltige Entwicklung:

Durchführung der Umweltpolitik

Vermeidung negativer Aspekte der Zersiedelung, Begünstigung städtischer Verdichtung

spezifische Bereiche wie Abfall- und Wasserbewirtschaftung und Energieeffizienz, z.B. im Bau- und Wohnungswesen und (öffentlichen) Verkehr, Straßengebührensysteme usw.

sozialer Zusammenhalt (20):

nachhaltige Stadtplanung und Architektur

sozialer Wohnungsbau für sozial schwache Gruppen

gleiche Dienstleistungen von öffentlichem Interesse (Gesundheitsfürsorge, Bildung, Sicherheit) in der Region

öffentliche Verkehrsnetze in der gesamten Region, einschließlich Verbindungen zu strukturschwachen Gebieten

gezielte Aufmerksamkeit für ethnische und kulturelle Vielfalt und interkulturellen Dialog

Beseitigung von Barrieren, die das Leben von Stadtbewohnern, insbesondere älteren und behinderten Menschen, erschweren

öffentliche Maßnahmen zur Verringerung hoher Arbeitslosenquoten unter Jugendlichen in benachteiligten Stadtgebieten: Bildung, neue Wirtschaftsmaßnahmen, Förderung von Unternehmertum, Veranstaltungen

Kultur, kulturelle Einrichtungen, Veranstaltungen

Sport und Freizeit

Tourismus

Förderung einer gemeinsam empfundenen regionalen Identität.

4.13

Für die moderne Stadt ist eine hochmoderne „Baukultur“ (21) ausschlaggebend, d.h. ein allgemeines architektonisches Konzept, das sich auf einen ganzheitlichen Ansatz stützt, bei dem Architekten, Planer, Designer, die Bauindustrie, Bauentwickler und Endverbraucher zusammenarbeiten, um eine bebaute Umgebung zu schaffen und zu erhalten, in der es um Qualität geht, damit Lösungen für nachhaltige Städte gefunden werden (22).

5.   Urbanisierung und Politikgestaltung

5.1

Europa benötigt flexible und umweltverträgliche Städte, Stadtregionen und Ballungsgebiete, die in der Lage sind, sich international zu präsentieren.

5.2

Damit wird Politikgestaltung zur obersten Priorität. Es gibt ein breites Einvernehmen über die Chancen und Probleme, es gibt einen zunehmenden Meinungsaustausch zwischen Städten, aber jenseits der unterschiedlichen Bedingungen zwischen Städten bleibt unklar, wer in welchen konkreten Situationen wofür zuständig ist:

wünschenswert wären gemeinschaftliche Begriffsbestimmungen für Großstädte und Stadtregionen (23);

die Verteilung der Tätigkeiten zwischen den Zentralregierungen und den Verwaltungen der Großstädte oder Ballungsgebiete und die Erwartungen an diese variieren erheblich;

in Mitgliedstaaten, in denen mehr als ein Ministerium für städtische Fragen zuständig ist, gibt es häufig Unklarheiten und Missverständnisse;

welche Rolle soll die Kommission spielen?

die vorhandenen Barrieren zwischen den regionalen und lokalen Verwaltungen bei der Politikgestaltung auf lokaler und regionaler Ebene sind häufig Hindernisse für notwendige Maßnahmen;

unbefriedigendes Regierungshandeln zwischen verschiedenen Ebenen ist häufig die Ursache für komplizierte Probleme;

bezüglich der Art und Weise, wie Stadtverwaltungen mit den Einwohnern und anderen wichtigen Akteuren kommunizieren, d.h. bezüglich der Organisation der „partizipativen Demokratie“ gibt es erhebliche Unterschiede;

die Rolle spezialisierter Nichtregierungsorganisationen wie zum Beispiel für Wohnungsbau, Bildung, Minderheiten, Wirtschaft und Sonstiges ist häufig nur vage definiert und somit auch der Umfang, in dem Städte und Stadtregionen von ihnen profitieren können;

für Partnerschaften zwischen Behörden und für öffentlich-private Partnerschaften zugunsten von städtischen Programmen, wichtigen Investitionen und kreativen Lösungen gibt es nicht immer ein kohärentes Konzept;

für die umweltverträgliche Stadt der Zukunft sind langfristige Konzepte erforderlich;

Transparenz und Legitimität sind unerlässliche Instrumente für langfristige Strategien.

5.3

Die Praxis zeigt, dass Führungsstärke, Weitsicht und Kohärenz in der Regel Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bewältigung des Wandels und für kontinuierliche Fortschritte der Städte sind.

5.4

Die Städte und Ballungsgebiete sind Anziehungspunkte und Lebensumfeld enorm vieler Menschen, und die Bedeutung ihres sozioökonomischen Potenzials für Europa steht außer Frage; deshalb hält der EWSA eine gründliche Diskussion ihrer Auswirkungen in ihrer Gesamtheit, also nicht nur auf einzelstaatlicher, sondern auch auf EU-Ebene, für unbedingt erforderlich.

5.5

Da der EG-Vertrag bis vor kurzem keine Bestimmungen über die räumliche Entwicklung aufwies und wegen der Subsidiarität blieben die Aufgaben der Kommission und des Rates unklar. Aber inzwischen führen die Generaldirektionen der Kommission in unmittelbarem Kontakt mit den Städten immer mehr und vielfältige Vorhaben in städtischen Gebieten durch. Arbeitsgebiete sind Forschung und Entwicklung, Umwelt, Beschäftigung und Verkehr (24).

5.6

Auch die Städte werden im Hinblick auf Brüssel zunehmend aktiver, weil die EU-Rechtsvorschriften sie unmittelbar betreffen, vor allem Themen wie Umweltrecht, öffentliches Auftragswesen, Jugendarbeitslosigkeit, öffentliche Ordnung und Sicherheit, Einwanderung und benachteiligte Gebiete.

5.7

Dasselbe gilt für die Agenda von Lissabon insgesamt. Die europäischen Kriterien für die verschiedenen Themenbereiche werden zunehmend mehr auf ihre regionale Anwendung hin beurteilt: Welche Auswirkungen hat die Durchführung der Vorschläge und/oder eine angenommene Rechtsvorschrift auf der städtischen oder metropolitanen Ebene? Es gibt Beispiele dafür, dass ohne Berücksichtigung der spezifischen städtischen Bedingungen die Durchführung eines Vorhabens teurer werden kann als der Nutzen durch die Zuwendungen aus den Strukturfonds.

5.8

Vor diesem Hintergrund begrüßt der EWSA die Absicht der Kommission, in Kürze ein Grünbuch zum territorialen Zusammenhalt vorzulegen. Eine Diskussion zu diesem Grünbuch bietet auch die Möglichkeit, die Debatte über die Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt zu vertiefen.

5.9

Die unter Ziffer 4.12 genannte Agenda ist ziemlich ehrgeizig. Gewöhnlich sind die Situationen sehr kompliziert. Bislang wurde eine kohärente strategische Sicht auf die Großstädte und die Stadtregionen nur in wenigen Fällen entwickelt. In vielen Fällen hingegen lässt sich keine klare Ausrichtung erkennen, was zum Teil durch die zwiespältige Standpunkte der Regierungen und unterschiedliche Ansichten in den einzelstaatlichen Verwaltungen wie auch auf der metropolitanen Ebene bedingt ist.

5.10

Andererseits ist eine langfristige Sicht und Kohärenz auf der metropolitanen Ebene für ein stärkeres Engagement der bestehenden und u.U. auch neuen Kommunen, für Beteiligte aus dem privaten Sektor und für die Schaffung von zweckmäßigen Allianzen innerhalb der organisierten Zivilgesellschaft unerlässlich. Gegenwärtig sieht dies noch sehr schwierig aus, weil das Konzept der Ballungsgebiete ein ziemlich neues Phänomen ist, das allerdings in Europa eine fruchtbare Debatte darüber umso wünschenswerter macht (25).

5.11

Dies heißt nicht, dass alle Fälle gleich sind, vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Abgesehen von den demographischen und sozioökonomischen Unterschieden in Europa gibt es eine breite Palette von unterschiedlichen administrativen und kulturellen Traditionen zwischen Ländern und Regionen. Konkrete Situationen, Lebensstile und die Einstellungen zum Thema Organisation weichen erheblich voneinander ab. In manchen Fällen war eine einzige Leitidee oder -vision entscheidend für die Zukunft. Allgemeiner betrachtet kann die Agenda von Lissabon hilfreich dafür sein, eine gemeinsame Grundlage für Diskussionen und Konzepte zu entwickeln.

5.12

Häufig lässt die Zentralregierung den Städten nicht genügend Spielraum für die Gestaltung ihrer eigenen Geschicke. Politik ist in erster Linie eine Bewegung von oben nach unten und das gleiche gilt für Verwaltungsverfahren. Hingegen könnte die Förderung der Selbstbestimmung geeignete Voraussetzungen für die Durchführung von passenden und wünschenswerten Strategien und Maßnahmen schaffen. Durch eine Neudefinition der Stellung der Großstädte und Stadtregionen oder Ballungsräume könnten diese zu echten „eigenverantwortlichen Kommunen“ gemacht werden.

5.13

Selbstbestimmung und gegenseitige Achtung zwischen Städten und Landkreisen werden die Eigenverantwortung und Verantwortungsbereitschaft der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften stärken und zu einer wünschenswerten engagierten Haltung der Zivilgesellschaft und des privaten Sektors führen.

5.14

Um effektiv sein zu könnnen, müssen in vielen Fällen die vorhandenen lokalen und regionalen Gebietsverwaltungen (Gemeinden u.a.) und ihre Zuständigkeiten neu geregelt werden.

5.15

Die Bevölkerung der europäischen Städte dürfte sich noch weiter ausdifferenzieren, sei es in Bezug auf Beschäftigung und Einkommen wie auch kulturell. Potenziell sind alle Voraussetzungen vorhanden, um eine reichere Stadtkultur zu schaffen, aber wenn die Prozesse nicht gut gesteuert werden, werden die in ihnen steckenden Möglichkeiten nicht entfaltet und kann der Zusammenhalt der Gesellschaft in Gefahr geraten.

5.16

Zielgerichtete Diskussionen, Festlegung der Prioritäten und wirksame Überwachung auf europäischer Ebene können äußerst hilfreich für die Festlegung einer konsequenten Ausrichtung auf regionaler Ebene sein. Eine solche Kohärenz ist nicht nur bei den staatlichen Akteuren nötig, sondern auch unerlässlich, um andere (halb-)öffentliche und private Beteiligte und Akteure anzuregen, sich zu engagieren.

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ und „Territoriale Agenda der Europäischen Union: Für ein wettbewerbsfähigeres nachhaltiges Europa der vielfältigen Regionen“, angenommen auf dem informellen Ministertreffen zur Stadtentwicklung und zum territorialen Zusammenhalt in Leipzig am 24./25. Mai 2007.

(2)  Bezüglich des Inhalts dieser Agenda könnte als Leitlinie dienen, was Herr FALCO, französischer Staatssekretär für Raumplanung, am 16. Juli 2008 vor dem REGI-Ausschuss des Europäischen Parlaments sagte: „Wir möchten in Partnerschaft mit den lokalen Entscheidungsträgern einen gemeinsamen Bezugsrahmen für eine nachhaltige und solidarische Stadt entwickeln. Konkret geht es darum, einen gemeinsamen Prozess für die Ausarbeitung von gemeinsamen Kriterien und Indikatoren ins Leben zu rufen, mit denen die Empfehlungen der Charta von Leizig einen maßnahmenorientierten Inhalt bekommen“.

(3)  Nomenklatur der Gebietseinheiten zu statistischen Zwecken, erstellt von EUROSTAT. NUTS 2: 800 000 bis 3 000 000 Einwohner; NUTS 3: 150 000 bis 800 000 Einwohner.

(4)  TNO, ein niederländisches Forschungsinstitut, hat ein Monitorsystem zu einer breiten Palette von Variablen auf Großstadtebene entwickelt: Demografie, Wirtschaft (Mehrwert und Arbeitsproduktivität), Arbeitsmarkt (Arbeitslosigkeit, Bildung, Erwerbsbevölkerung), Umwelt (Luftqualität), Infrastruktur, Büromarkt, Tourismus etc. Die Daten von Eurostat sind mit denen der OECD kompatibel. Sie werden jährlich erneuert. Auch andere städtische Ballungsräume könnten beobachtet werden.

(5)  Europäisches Raumbeobachtungsnetzwerk.

(6)  Siehe Abschnitt 5 „Urbanisierung und Politikgestaltung“.

(7)  In dieser Hinsicht ist die gezielte Entwicklung von BILBAO in den letzten zwanzig Jahren ein eindrucksvolles und überzeugendes Beispiel.

(8)  URBACT II (2007) ist Teil der Kommissionsinitiative „Regionen für den wirtschaftlichen Wandel“ zur Umsetzung der Strategien von Lissabon und Göteborg. JEREMIE oder Gemeinsame europäische Ressourcen für kleinste bis mittlere Unternehmen ist eine gemeinsame Initiative der Kommission, der Europäischen Investitionsbank und des Europäischen Investitionsfonds. JESSICA oder Gemeinsame europäische Unterstützung für nachhaltige Investitionen in städtische Gebiete (2006) ist eine gemeinsame Initiative der Kommission, der Europäischen Investitionsbank und der Entwicklungsbank des Europarats.

(9)  Siehe auch den Leitfaden „Die städtische Dimension der Gemeinschaftspolitik im Zeitraum 2007-2013“ der dienststellenübergreifenden Fachgruppe zur Stadtentwicklung.

(10)  KOM(97) 197 endg., ABl. C 226, 20.7.1998, S. 36.

(11)  Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang ein Projekt der dänischen Zweigstelle des „European Knowledge Network on Cities“ (Europäisches Städtepolitisches Wissensnetzwerk), dem Nicis Institute, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten bezüglich verwaltungsmäßiger, rechtlicher und finanzieller Instrumente zur Förderung nachhaltiger Städte. Das Projekt wird im Rahmen des französischen Ratsvorsitzes auf Ersuchen der „Délégation Interministérielle de la Ville“ durchgeführt. An dem Netz „Knowledge Network on Cities“ beteiligen sich 16 Mitgliedstaaten.

(12)  P6_TA-PROV(2008)0069.

(13)  CdR 97/2007 fin.

(14)  Délégation interministérielle à l'aménagement et à la compétitivité des territoires (ancienne DATAR) (Interministerielle Delegation für Raumordnung und Wettbewerbsfähigkeit (ehemals DATAR).

(15)  „Imaginer les métropoles d'avenir“, Bericht von Dominique Perben, Abgeordneter des Parlaments, ehemaliger Verkehrsminister, auf Ersuchen von Präsident Sarkozy und Premierminister Fillon. Herr Perben legt eine Diagnose der Urbanisierung und Metropolisation in Europa und Frankreich vor, gefolgt von einem Papier „Herausforderungen und Maßnahmen“ für Großstädte und Stadtregionen mit mehr als 500 000 Einwohnern in Frankreich. Ferner stellt er neunzehn konkrete Vorschläge für Maßnahmen und Gesetzgebung vor. Das Thema wird auch während des französischen Ratsvorsitzes im zweiten Halbjahr 2008 behandelt werden.

(16)  Konferenz der GD Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit zum Thema „Unternehmergeist für lokale Beschäftigungsentwicklung“,25. April 2008.

(17)  In Deutschland wird ein neues Konzept in Bezug auf Ballungsräume als „neue Verantwortungsgemeinschaft“ bezeichnet. Siehe Manfred Sinz, Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: „From Metropolitan Regions to Communities of Responsibilities“ (Von Ballungsräumen zu Verantwortungsgemeinschaften).

(18)  Ein Beispiel ist die Aufnahmekapazität des Finanzmarkts in London. In einem anderen Zusammenhang können Beispiele von Regionen wie Lille-Courtrai, Kopenhagen-Malmö und Wien-Bratislava genannt werden.

(19)  Siehe auch „Hin zu einer neuen Kultur der Mobilität in der Stadt“, KOM(2007) 551 endg.

(20)  Dieses Thema wird in dem französischen Bericht „Une Nouvelle Politique pour les Banlieues“ (Eine neue Politik für die Vororte), Palais de l'Elysée, 8. Februar 2008, vertieft. In dem Bericht werden zahlreiche Vorschläge zur Bekämpfung der Gefahr der Gettoisierung in Städten unterbreitet. Er stellt insbesondere staatliche und regionale bzw. lokale Initiativen zur allgemeinen und beruflichen Ausbildung, Schaffung von Arbeitsplätzen, Unternehmensgründungen in benachteiligten Stadtgebieten vor. Während des französischen Ratsvorsitzes sind mehrere EU-Konferenzen zu diesem Thema geplant.

(21)  „Baukultur als Wachstumsimpuls. Gute Beispiele für europäische Städte“ — Eine Studie des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, veröffentlicht im April 2007.

(22)  Konferenz des Rates der Europäischen Architekten: „Zukunft entwerfen: Architektur und Lebensqualität“, Brüssel, 10. April 2008.

(23)  Siehe z.B. die Metropolitan Statistical Area (MSA) [großstäditsche statistische Erhebungsgebiete] in den Vereinigten Staaten, vorher, seit 1959, Standard Metropolitan Statistical Area.

(24)  Ein anschauliches Beispiel ist der Bericht der GD Regionalpolitik über eine große Palette von Vorhaben: „Examples of Regional Innovation Projects“, März 2007. (http://ec.europa.eu/regional_policy/cooperation/interregional/ecochange/doc/proj_samples.pdf)

(25)  Die Sozial- und Wirtschaftsräte auf einzelstaatlicher oder regionaler Ebene können ebenfalls eine konstruktive Rolle spielen. Anschauliches Beispiel dafür ist der Bericht über die Zukunft des Ballungsraumes Randstad in den Niederlanden, der im April 2008 vom niederländischen Sozial- und Wirtschaftsrat vorgelegt wurde:

http://www.ser.nl/~/media/Files/Internet/Talen/Engels/2007/2007_04.ashx


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/131


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Wirtschaft der EU: Bilanz 2007 — Die Produktivitätsgrenze Europas verschieben“

(2009/C 77/28)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Januar 2008, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die Wirtschaft der EU: Bilanz 2007 — Die Produktivitätsgrenze Europas verschieben“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 3. Juni 2008 an. Berichterstatter war Herr MORGAN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 18. September) mit 108 gegen 4 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Dies ist die jüngste einer Reihe von Stellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) zu Fragen der Wirtschaftsführung in der EU. Sie wurde auf der Grundlage der Mitteilung der Kommission „Die Wirtschaft der EU: Bilanz 2007 — Die Produktivitätsgrenze Europas verschieben“ (KOM(2007) 721 endg.) erarbeitet.

1.2

Zu Beginn der Bilanz 2007 wird festgestellt, dass die Europäische Union zwar zu den fortschrittlichsten und produktivsten Wirtschaftsräumen der Welt gehört, allerdings ihr Lebensstandard — gemessen am BIP — nach wie vor ganz erheblich hinter dem der USA als der fortschrittlichsten Volkswirtschaft der Welt zurückbleibt. Hauptursache ist eine auseinander laufende Produktivitätsentwicklung in mehreren Wirtschaftszweigen und Mitgliedstaaten.

1.3

Die Daten aus den USA bilden zwar einen nützlichen Maßstab für die relative Leistungsstärke der Mitgliedstaaten, doch im Mittelpunkt der Stellungnahme steht der Ländervergleich innerhalb der EU. Faktoren wie Sozialmodelle, Arbeitszeit und Erwerbsbeteiligung betreffen zwar den transatlantischen Vergleich, sind aber nicht Gegenstand dieser Stellungnahme. Hier geht es schlicht um die Frage, warum einige Mitgliedstaaten mehr Wohlstand und Beschäftigung schaffen als andere.

1.4

Die Grundaussage des Kommissionsberichts lautet, dass die Umsetzung der Lissabon-Agenda den Mitgliedstaaten zugleich helfen wird, die Beschäftigungslage zu verbessern und den Wohlstand zu mehren. Verschiedene zentrale Politikmaßnahmen können in erheblichem Maße dazu beitragen. Diese Maßnahmen sollten auf folgende Ziele ausgerichtet sein:

mehr Investitionen in FuE;

Forschungs- und Bildungseinrichtungen von Weltklasseniveau, die in enger Partnerschaft mit der Wirtschaft zusammenarbeiten;

ein uneingeschränkt funktionierender, offener und wettbewerbsfähiger Binnenmarkt;

Förderung eines integrierten Ansatzes für größere Sicherheit und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt — wobei der EWSA daran erinnert, dass dieser Ansatz von den Sozialpartnern auszuhandeln ist;

eine qualitative Verbesserung der öffentlichen Finanzen.

1.5

Angesichts der Veränderungen, die die Weltwirtschaft seit dem EU-Gipfel in Lissabon im Jahr 2000 erfahren hat, kommt den vorstehend beschriebenen Maßnahmen noch größere Bedeutung zu. Zu den neuen Herausforderungen zählt nicht nur die derzeitige Finanzkrise, sondern auch das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage bei fossilen Brennstoffen, die Zeichen des Klimawandels, die zunehmende Lebensmittelknappheit und generell die schnell wachsende Nachfrage nach Rohstoffen. In dieser Hinsicht spielen FuE-Investitionen und Forschungsleistungen von Weltspitze eine noch entscheidendere Rolle. Auf der Hand liegt zudem die Notwendigkeit eines wettbewerbsfähigen Binnenmarktes und, ergänzend dazu, wirksamer Flexicurity-Systeme für den Arbeitsmarkt sowie gesunder und gut verwalteter öffentlicher Finanzen.

1.6

Sowohl angebots- als auch nachfrageseitige makroökonomische Faktoren wurden in den in der Einleitung genannten früheren EWSA-Stellungnahmen zur Wirtschaftsführung bereits eingehend behandelt. Der Ausschuss betonte darin, dass neben angebotsseitigen Maßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ein makroökonomischer Policy-Mix umgesetzt werden muss, welcher Einkommen, Nachfrage und Beschäftigung fördert. In dieser Stellungnahme soll vor allem aufgezeigt werden, dass es ungeachtet nachfrageseitiger Faktoren einen wichtigen Zusammenhang zwischen den in der Lissabon-Agenda enthaltenen angebotsseitigen Reformen und dem BIP-Wachstum gibt.

1.7

In der jüngst veröffentlichten Liste mit den Lissabon-Ergebnissen 2007 („Lisbon Scorecard“ (1)) belegen folgende Länder die ersten sieben Plätze: Dänemark*, Schweden*, Österreich*, die Niederlande*, Finnland*, Irland* und das Vereinigte Königreich* (in dieser Reihenfolge), gefolgt von Deutschland und Frankreich (2). Bei den neuen Mitgliedstaaten führen Slowenien* und Estland*. Am Schluss der Liste der EU-15 rangieren Spanien, Griechenland, Portugal und Italien. Insgesamt wurden die Niederlande, Österreich und Estland für die wirksamste Umsetzung der Lissabon-Strategie ausgezeichnet. Griechenland und Italien waren am wenigsten effizient. Wie wirkt sich nun eine führende Position bei der Lissabon-Umsetzung auf die Produktivität und Beschäftigung aus?

1.8

Aus der in dieser Stellungnahme vorgenommenen Untersuchung ergibt sich der Schluss, dass es trotz einer Vielzahl anderer relevanter Faktoren in der Tat einen engen Zusammenhang zwischen der Umsetzung der Lissabon-Strategie und Fortschritten bei Wachstum und Beschäftigung sowie beim BIP pro Kopf gibt. Grundsätzlich gilt auch der Umkehrschluss, das heißt, Länder mit schlechter Umsetzung der Lissabon-Reformen erbringen auch hier schlechte Leistungen. Ausgehend von dieser Schlussfolgerung empfiehlt der EWSA den Mitgliedstaaten, möglichst bald das komplette Lissabon-Programm umzusetzen.

1.9

Hervorzuheben ist, dass jedes einzelne Element des Programms wichtig ist. Der Ausschuss dringt insbesondere auf eine Anhebung der Investitionen in Wissen, Bildung und FuE. Es besteht kein Zweifel daran, dass Wettbewerb innovationsfördernd wirkt, weshalb sich die EU-Volkswirtschaften dem Wettbewerb stellen müssen, um im Hinblick auf die Globalisierung bestehen zu können. Zur Maximierung der Produktivität der Volkswirtschaften der EU-Mitgliedstaaten müssen Produktionsfaktoren von Industrie- und Wirtschaftszweigen, die sich im Niedergang befinden, hin zu aufstrebenden und dynamischen Industrie- und Wirtschaftszweigen umgeschichtet werden. Dies bedingt wiederum, dass die Mitgliedstaaten Mittel für die Schaffung eines Flexicurity-Systems bereitstellen. Klar ist zudem, dass die Wirtschaftsleistung der Mitgliedstaaten stark von einer guten Verwaltung der öffentlichen Finanzen abhängt.

1.10

Die EWSA hat in seiner Stellungnahme an den Europäischen Rat in Lissabon im März 2002 (3) erklärt: „Der Ausschuss ist davon überzeugt, dass Europa über genügend Innovationsfähigkeit, Kreativität, Wissen und Unternehmergeist verfügt, um bei der Realisierung des neuen Konzepts Herausragendes zu leisten. Wir müssen diese Fähigkeiten jedoch freisetzen. Chancen müssen an die Stelle von Hemmnissen, Anreize an die Stelle von Bestrafungen treten. Im letzten Jahrzehnt fand die Liberalisierung der europäischen Industrie statt. Jetzt müssen wir die Energien der Menschen in Europa freisetzen.“ Auch 2008 bleibt noch viel zu tun, doch die Lissabon-Agenda ist der Weg zum Erfolg.

2.   Einleitung

2.1

Dies ist die jüngste einer Reihe von Stellungnahmen des EWSA zu Fragen der Wirtschaftsführung in der EU. Sie wurde als Reaktion auf die Mitteilung der Kommission „Die Wirtschaft der EU: Bilanz 2007 — Die Produktivitätsgrenze Europas verschieben“ (KOM(2007) 721 endg.) erarbeitet. Die vorhergehende Stellungnahme vom September 2007 galt dem Thema „Die Wirtschaft der EU: Bilanz 2006 — Wirtschaftspolitische Prioritäten zur Stärkung der Euro-Zone“.

2.2

Der EWSA hat mit dieser Stellungnahme den Versuch unternommen, das Beschäftigungswachstum und das BIP pro Kopf zu den in der Mitteilung der Kommission empfohlenen Maßnahmen ins Verhältnis zu setzen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich diese Stellungnahme deutlich von der früheren Stellungnahme zur Wirtschaftsbilanz 2006, in der die jeweilige soziale und wirtschaftliche Situation in den Mitgliedstaaten und die voneinander abweichenden politischen Ziele, die den einzelstaatlichen Maßnahmen zugrunde liegen, erläutert wurden.

2.3

Frühere Stellungnahmen vom Oktober 2006 (4) und Februar 2006 (5) beschäftigten sich mit den Gründzügen der Wirtschaftspolitik für den Zeitraum 2005-2008; im März 2004 verabschiedete der Ausschuss zudem eine Stellungnahme zum Thema „Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2003-2005“ (6). Der EWSA hat zwar die Empfehlung der Kommission zu den Grundzügen der Wirtschaftspolitik für 2008-2010 erhalten, stellt jedoch fest, dass diese im Vergleich zu den Grundzügen für 2005-2008 unverändert geblieben sind. Aufgrund seiner früheren Arbeiten zu den Grundzügen der Wirtschaftspolitik hat der EWSA daher entschieden, die Mitteilung „Die Wirtschaft der EU: Bilanz 2007“ als Grundlage für die Erarbeitung dieser Stellungnahme heranzuziehen.

2.4

Im Oktober 2006 untersuchte der EWSA die Vorschriften zu den übergreifenden Zielsetzungen Preisstabilität, Wachstum und Beschäftigung. In der jetzigen Stellungnahme liegt der Schwerpunkt stärker auf den Maßnahmen als auf den Vorschriften. Im Februar 2006 legte der EWSA seine Stellungnahme zu den Grundzügen der Wirtschaftspolitik für 2005-2008 vor. Darin wurde zwar ein breites Spektrum von Fragen behandelt, doch im Wesentlichen die gleiche Politikagenda zugunsten eines Beschäftigungs- und Produktivitätswachstums befürwortet, die auch die Grundlage für vorliegende Stellungnahme bildet. In beiden Stellungnahmen untersuchte der EWSA nachfrageseitige Wirtschaftsfaktoren. In dieser Stellungnahme nun widmet sich der Ausschuss den von der Kommission unterbreiteten Vorschlägen für angebotsseitige Reformen.

2.5

Der Ausschuss betont jedoch, dass die angebotsseitigen Maßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit durch einen makroökonomischen Policy-mix ergänzt werden müssen, welcher Einkommen, Nachfrage und Beschäftigung fördert. Bezüglich eines angemessenen Policy-mix verweist der Ausschuss auf seine vorstehend genannte Stellungnahme vom März 2004, die nichts an Aktualität verloren hat.

2.6

Die von der Kommission herausgegebene Publikation „Europäische Wirtschaft“ Nr. 8/2007 enthält die Mitteilung „Die Wirtschaft der EU: Bilanz 2007 — Die Produktivitätsgrenze Europas verschieben“ sowie vier weitere Kapitel auf insgesamt 149 Seiten zu folgenden Fragen:

1)

Produktivitätsentwicklung in Europa: Licht am Ende des Tunnels?

2)

Bewertung der Produktivität in der Industrie

3)

Gibt es einen Zielkonflikt zwischen Produktivität und Beschäftigung?

4)

Maßnahmen für eine höhere Produktivität: aus einem anderen Blickwinkel.

Der Ausschuss stellt mit Bedauern fest, dass sich die Kommission auf angebotsseitige Empfehlungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit beschränkt.

In dieser Stellungnahme sollen die in Kapitel 4 vorgeschlagenen Maßnahmen evaluiert werden.

3.   Wesentlicher Inhalt der Kommissionsmitteilung

3.1

Zu Beginn der Bilanz 2007 wird festgestellt, dass die Europäische Union zwar zu den fortschrittlichsten und produktivsten Volkswirtschaften der Welt gehört, allerdings ihr Lebensstandard — gemessen am BIP — nach wie vor ganz erheblich hinter dem der USA als der fortschrittlichsten Volkswirtschaft der Welt zurückbleibt. Hauptursache ist eine auseinanderlaufende Produktivitätsentwicklung in mehreren Wirtschaftszweigen und Mitgliedstaaten.

3.2

Als die EU im März 2000 die Lissabon-Strategie ins Leben rief, stellte sie die Verbesserung der Produktivitätsentwicklung in Europa zusammen mit einem robusten Beschäftigungswachstum an vorderste Stelle. Die Hauptelemente dieser Strategie waren der Aufbau von Wissen, die Stärkung der Wettbewerbskräfte und die Flexibilisierung.

3.3

Der Aufbau von Wissen erfordert mehr und bessere Investitionen in FuE und Humankapital und ein wirksames und kosteneffizientes Bildungssystem in der gesamten Europäischen Union.

3.4

Sowohl für das Produktivitätsniveau als auch das Produktivitätswachstum spielen Wettbewerbsanreize eine zentrale Rolle. Empirische Studien bestätigen die positiven Effekte der Marktöffnung auf Produktivität und Wachstum, aber auch auf die Beschäftigung.

3.5

Mehr Flexibilität ist nötig, damit sich die Produktionsstrukturen ohne Spannungen an eine weitere Spezialisierung und Diversifizierung in neue Bereiche mit relativem komparativem Vorteil anpassen können. Die EU-Mitgliedstaaten haben in den letzten Jahren Maßnahmen ergriffen, um Unternehmen und Arbeitskräften die Mobilität zu erleichtern, doch es besteht weiterer Handlungsbedarf auf breiterer Basis.

3.6

Die Schlussfolgerung lautet, dass sich die Einstellungen ändern müssen. Verschiedene zentrale Politikmaßnahmen können in erheblichem Maße dazu beitragen. Diese Maßnahmen sollten auf folgende Ziele ausgerichtet sein:

mehr Investitionen in FuE;

Forschungs- und Bildungseinrichtungen von Weltklasseniveau, die in enger Partnerschaft mit der Wirtschaft zusammenarbeiten;

ein uneingeschränkt funktionierender, offener und wettbewerbsfähiger Binnenmarkt;

Förderung eines integrierten Ansatzes für größere Sicherheit und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt — wobei der EWSA daran erinnert, dass dieser Ansatz von den Sozialpartnern auszuhandeln ist;

eine qualitative Verbesserung der öffentlichen Finanzen.

3.7

Viele allgemein verbreitete Ansichten wurden widerlegt, beispielsweise dass nur große Länder und Unternehmen Technologieführer sein können und der Handel der wichtigste Weg zur Verbreitung von Technologie ist. Es zeigt sich, dass auch kleine Länder in Spezialbereichen führend sein können, dass neue Technologien häufig von Kleinunternehmen eingeführt werden und dass Technologie vor allem über die internationale Mobilität von Arbeitnehmern und Finanzierungskapital verbreitet wird.

3.8

Mittlerweile gibt es einen breiten Konsens darüber, welche Faktoren das Produktivitätswachstum bremsen und welche Maßnahmen erforderlich sind, um es zu steigern. Restriktionen bezüglich der Arbeits- und Produktmärkte, fehlende Offenheit für ausländische Direktinvestitionen, Marktzutrittsschranken sowie Hemmnisse für die Entstehung und Verbreitung neuer Technologien können das Produktivitätswachstum auf längere Sicht erheblich hemmen.

3.9

Die Erzielung von Produktivitätszuwächsen wird vom Ausscheiden der unproduktiven Unternehmen aus dem Markt beeinflusst, weshalb die Umschichtung von Ressourcen (Reallokation) durch entsprechende Maßnahmen gefördert werden sollte. Führt die höhere Produktivität zu höheren Einkommen, kann davon ausgegangen werden, dass die Bedürfnisse der Verbraucher sich zunehmend Dienstleistungen zuwenden. Solange viele Dienstleistungsbranchen eine hohe Wertschöpfung und Produktivität aufweisen, kann es sich die Wirtschaft leisten, auch in Sektoren mit einer inhärent niedrigen Produktivität neue Arbeitsplätze zu schaffen.

4.   Produktivität und Beschäftigung

4.1

Das Pro-Kopf-BIP hängt nicht nur von der Lissabon-Agenda ab. Es wird von Faktoren wie der Entwicklung aufstrebender Märkte in Osteuropa und Russland, von den Tendenzen im Energiebereich und bei den Rohstoffpreisen und -märkten, vom technischen Wandel und ganz allgemein von der Globalisierung beeinflusst. Die Binnennachfrage hängt vom Lohn- und Beschäftigungsniveau sowie von der Kaufkraft ab. Die Nachfragesteuerung hängt in großem Maße von der Steuer- und Geldpolitik ab, da die Kreditvergabe zur Ankurbelung der Nachfrage von Unternehmern und Verbrauchern letztlich von den Zentralbanken gesteuert wird. Solange die Finanzmärkte unter dem Einfluss der Krise stehen, werden Kredite voraussichtlich knapp bleiben, und die Nachfrage und das BIP werden beeinträchtigt sein.

4.2

Makroökonomische Faktoren wurden in den in der Einleitung genannten früheren EWSA-Stellungnahmen zur Wirtschaftsführung bereits eingehend behandelt. In der vorliegenden Stellungnahme soll vor allem aufgezeigt werden, dass es ungeachtet nachfrageseitiger Faktoren einen wichtigen Zusammenhang zwischen den in der Lissabon-Agenda enthaltenen angebotsseitigen Reformen und dem BIP-Wachstum gibt.

4.3

In Tabelle 1 wurden die Vergleichsdaten für das Pro-Kopf-BIP angegeben. Dafür wurden zwei Jahre ausgewählt, nämlich 1999 als Jahr der Einführung des Euro und 2007. Bei den neuen Mitgliedstaaten fällt der EU-Beitritt in diesen Zeitraum. In dem genannten Zeitraum kam es in den USA zu einem Rückgang des BIP von 161,8 % auf 150,9 % bezogen auf die EU-27. Dessen ungeachtet waren die sog. alten Mitgliedstaaten nicht in der Lage, von diesem vergleichweisen Rückgang in den USA zu profitieren. Die EU-15 verzeichnete eine rückläufige Entwicklung von 115,3 auf 111,7 %, und die Eurozone einen Rückgang von 114,5 auf 109,8 %, jeweils bezogen auf den EU-27-Durchschnitt.

4.4

Was sagen nun die Beschäftigungsstatistiken bezogen auf diese BIP-Daten aus? In Tabelle 2 sind die Beschäftigungsdaten für die Jahre 1998 (Beginn der Beitrittsverhandlungen mit den ersten neuen Mitgliedstaaten) bis 2006 (letzte verfügbare Daten) aufgeführt. Arbeitslosenziffern werden für den Zeitraum bis 2007 angegeben. Die Beschäftigungsquote in den USA ging im Referenzzeitraum von 73,8 % auf 72 % zurück, während die Arbeitslosigkeit von 4,5 % auf 4,6 % stieg. Gleichzeitig begann die Eurozone, Rückstand aufzuholen, wobei die Beschäftigungsquote von 59,2 % auf 64,8 % stieg und die Arbeitslosigkeit von 10,1 % auf 7,4 % fiel. Die Daten für die EU-15 sehen etwas besser aus als die Daten der Eurozone, während die Ziffern für EU-25 geringfügig schlechter sind.

4.5

In der jüngst veröffentlichten Liste mit den Lissabon-Ergebnissen 2007 („Lisbon Scorecard“) belegen folgende Länder die ersten sieben Plätze: Dänemark*, Schweden*, Österreich*, die Niederlande*, Finnland*, Irland* und das Vereinigte Königreich*, gefolgt von Deutschland und Frankreich. Bei den neuen Mitgliedstaaten führen Slowenien* und Estland*. Am Schluss der Liste der EU-15 rangieren Spanien, Griechenland, Portugal und Italien. Insgesamt wurde die Niederlanden, Österreich und Estland für die wirksamste Umsetzung der Lissabon-Strategie ausgezeichnet. Griechenland und Italien waren am wenigsten effizient. Wie wirkt sich nun eine führende Position bei der Lissabon-Umsetzung auf die Produktivität und Beschäftigung aus?

4.6

Beim Pro-Kopf-BIP-Vergleich liegen Luxemburg und Norwegen vor den USA. Mit maximal 20 % Rückstand auf die USA folgen Irland* (mit einem überragenden Ergebnis), die Niederlande*, Österreich*, Schweden*, Dänemark*, Belgien und — ganz knapp — das Vereinigte Königreich* und Finnland*. Von den Nicht-EU-Ländern liegen Island, die Schweiz und Japan innerhalb dieses Rückstands von 20 % auf die USA. Von den neuen Mitgliedstaaten kommen Zypern und Slowenien* dem EU-27-Durchschnitt am nächsten, während Estland die eindrucksvollsten Fortschritte verzeichnet, gefolgt von Lettland, Litauen, Ungarn und der Slowakei.

4.7

Auf der Ebene der Beschäftigung gibt es viele Parallelen zur Situation hinsichtlich des BIP. Die Beschäftigungsquote in den USA liegt bei knapp über 70 %. Für alle in der Tabelle aufgeführten Nicht-EU-Länder einschließlich Japan und alle drei nicht der Eurozone angehörenden Länder (Dänemark*, Schweden*, Vereinigtes Königreich*) wird ein Beschäftigungsniveau von über 70 % ausgewiesen. In der Eurozone verzeichnen lediglich die Niederlande* und Österreich* eine Beschäftigungsquote von über 70 %, Irland* und Finnland* sind nicht weit von dieser Schwelle entfernt. Bei den neuen Mitgliedstaaten führen Zypern und Estland* mit Beschäftigungsquoten von nahezu 70 %.

4.8

Die Arbeitslosigkeit liegt in den USA bei 4,6 %. Irland*, die Niederlande*, Österreich*, Dänemark*, Zypern und Litauen weisen hier bessere Ziffern auf als die USA, ebenso Norwegen. Luxemburg, das Vereinigte Königreich*, Tschechien, Estland* und Slowenien* liegen innerhalb von einem Prozentpunkt Abstand hinter den USA. Schweden*, Lettland und Malta folgen mit maximal zwei Prozentpunkten Rückstand auf die USA.

4.9

Aus dieser Analyse ergibt sich die Notwendigkeit einer näheren Untersuchung der Maßnahmen und Entwicklungen in den auf der Lisbon Scorecard führenden Ländern Dänemark*, Schweden*, Österreich*, Niederlande*, Finnland*, Irland* und Vereinigtes Königreich* und den führenden neuen Mitgliedstaaten Estland* und Slowenien*. Für die Zwecke dieser Stellungnahme wurden daher all diese Länder in eine Beobachtungsliste aufgenommen und mit einem Sternchen gekennzeichnet. Es soll untersucht werden, inwieweit Maßnahmen in den Bereichen Wissen, Wettbewerb, Innovation und öffentliche Finanzen zum relativen Erfolg dieser Länder beigetragen haben. Demgegenüber werden Spanien, Griechenland, Portugal und Italien in einer sog. Kontrollgruppe zusammengefasst und die Maßnahmen dieser Länder ebenfalls beobachtet. Überdies ist es für die EU von großer Bedeutung, welche Maßnahmen und Initiativen die großen Volkswirtschaften Frankreich und Deutschland in diesen Bereichen ergreifen. In beiden Ländern ist die Politik in entgegengesetzte Lager gespalten, was Reformen erschwert hat, obgleich sich mittlerweile erste Ergebnisse einstellen.

5.   Investitionen in Wissen

5.1

Das OECD-Programm zur internationalen Schülerbewertung heißt PISA. Tabelle 3 enthält auszugsweise Ergebnisse der 2006 durchgeführten Untersuchung der Fähigkeiten Fünfzehnjähriger in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften in den OECD-Ländern und anderen Staaten.

5.2

Neben Korea, Japan und der Schweiz bekamen folgende Länder in allen drei Bereichen die Note „A“: Finnland* (der eindeutige Sieger), die Niederlande*, Belgien und Estland*. Länder mit der Note „A“ in zwei Bereichen: Tschechien, Österreich*, Slowenien* und Irland*. Länder mit einem „A“ in einem der drei Bereiche sind Dänemark*, Schweden* und das Vereinigte Königreich*, Deutschland und Polen. Deutschland und das Vereinigte Königreich bekommen ihre Note „A“ im Bereich Naturwissenschaften. Das Vereinigte Königreich* hat nach Slowenien* und Finnland* das drittbeste Ergebnis bei den naturwissenschaftlichen Kompetenzen im Niveau 6. Alle Länder, die auf der Beobachtungsliste stehen, haben „A“-Noten erhalten. Die Länder aus der Kontrollgruppe dagegen rangieren zusammen mit den USA am Ende der Rangliste.

5.3

Da die Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme und der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten offenbar eng zusammenhängen, hat die Kommission — nach Ansicht des EWSA zu Recht — die Qualität der Bildung zu einer für die EU vorrangigen Aufgabe erklärt.

5.4

Die Jiao-Tong-Universität in Shanghai hat ein Verfahren für die Aufstellung einer Rangfolge von Universitäten entwickelt. Es gibt zwar auch andere Verfahren zur Einstufung von Universitäten, doch die Methode der Jiao-Tong-Universität entspricht der Schwerpunktsetzung der EU auf die Bereiche Wissenschaft und Forschung.

5.5

Die nach den PISA-Kriterien gemessene Leistungsfähigkeit des Schulsystems in den USA ist äußerst mittelmäßig. Auf dem Niveau der Hochschulbildung jedoch behalten die USA ihren Wettbewerbsvorteil. Tabelle 4 gibt auszugsweise die von der Jiao-Tong-Universität aufgestellte Rangliste wieder. Unter den 20 Spitzenuniversitäten gibt es 17 amerikanische, zwei britische und eine japanische Universität. Das Vereinigte Königreich hat 10 Einträge auf der Rangliste der 100 besten Universitäten und steht auf der Beobachtungsliste. Ebenfalls in diesem Ranking vertreten sind die Nicht-EU-Länder Japan (6 Einträge), Kanada (4), Australien (2), die Schweiz (3), Norwegen (1) und Israel (1). Fünf Länder von der Beobachtungsliste erscheinen auf der Rangliste der 100 besten Universitäten: Vereinigtes Königreich*, die Niederlande* (2), Dänemark* (1), Schweden* (4) und Finnland* (1). Aus der Kontrollgruppe ist kein Land vertreten. Es ist an der Zeit, dass Bologna, Salamanca und Coimbra wieder an ihre Blütezeiten anknüpfen. Darüber hinaus gibt es in dieser Rangliste sechs Einträge für Deutschland und vier für Frankreich.

5.6

Neben dem Vereinigten Königreich stehen gerade sechs EU-Länder auf der Liste der 100 besten Universitäten, das heißt 20 Mitgliedstaaten sind in diesem Ranking überhaupt nicht vertreten. Die Politik der Kommission zielt offenbar darauf ab, diese Lücke mit dem Europäischen Technologieinstitut zu schließen. Obgleich der EWSA dieses Projekt unterstützt, ist nicht erkennbar, wie es gedeihen kann, ohne die Präsenz von EU-Ländern auf der Liste der 100 besten Universitäten zu schwächen. Die Alternative wäre, dass die Mitgliedstaaten ihre Strategien zur Entwicklung ihrer Spitzenuniversitäten überprüfen und überarbeiten. Am dringendsten gebraucht wird eine engere Partnerschaft zwischen Universität und Wirtschaft, um Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten so zu entwickeln, dass die Wissenschaft und Technik des 21. Jahrhunderts für mehr Wohlstand und Beschäftigung genutzt werden können.

5.7

Eine weitere Messgröße für Hochschulbildung der Mitgliedstaaten ist die von Eurostat erhobene Anzahl der Hochschulabsolventen in naturwissenschaftlichen und technischen Studien pro 1 000 Einwohner in der Altersgruppe 20 bis 29. Die Zahl liegt in den USA bei 10,6. Die Mitgliedstaaten mit maximal einem Prozentpunkt Rückstand auf die USA sind Belgien, Deutschland, Griechenland, Italien, Lettland, Österreich*, Polen, Rumänien, Slowenien* und die Slowakei. Mitgliedstaaten mit einem weitaus höheren Ergebnis sind Dänemark* (14,7), Irland* (24,5), Frankreich (22,5), Litauen* (18,9), Finnland* (17,7), Schweden* (14,4) und das Vereinigte Königreich* (18,4). Alle mit einem Sternchen (*) gekennzeichneten Länder stehen auf der Beobachtungsliste. Italien und Griechenland sind die einzigen Länder aus der Kontrollgruppe, die in diesem Bereich punkten. Die Ausbildung von mehr Absolventen in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern muss ein Schwerpunkt für die sekundäre Schulbildung und die Hochschulbildung der Mitgliedstaaten sein.

5.8

Eines der Lissabon-Ziele lautet, die FuE-Ausgaben in der EU auf 3 % des BIP anzuheben. 2 % sollten dabei aus der Privatwirtschaft kommen. Zwei Länder von der Beobachtungsliste — Schweden* und Finnland* — gaben mehr als 3 % ihres BIP für FuE aus. Zwei weitere auf dieser Liste stehende Länder, nämlich Dänemark* und Österreich*, gaben zwischen 2 % und 3 % aus; in dieser Größenordnung lagen auch die FuE-Ausgaben von Deutschland und Frankreich. Die Länder, die zwischen 1 % und 2 % für FuE ausgaben, sind Belgien, Tschechien, Estland*, Irland*, die Niederlande*, Slowenien* und das Vereinigte Königreich* und stehen zumeist auf der Beobachtungsliste. Mit Ausnahme von Ungarn und Italien (beide 1 %) beliefen sich die FuE-Ausgaben in allen anderen Mitgliedstaaten — davon Italien und Spanien aus der Kontrollgruppe — auf weniger als 1 % des BIP. Um diese Lücke zu schließen, kann von den Regierungen durchaus ein Beitrag zu den FuE-Ausgaben in Höhe von 1 % des PIB erwartet werden. Im Idealfall sollten diese Gelder in Universitäten und Forschungseinrichtungen fließen, um deren Renommee und globale Präsenz in Wissenschaftskreisen zu verbessern. Gegenwärtig geben die Regierungen der EU-15 zwischen 0,30 % und 0,40 % für FuE aus, während sich dieser Anteil in den neuen Mitgliedstaaten auf 0,50 % bis 0,60 % beläuft. Es könnte und sollte hier mehr getan werden, nicht zuletzt im Hinblick auf die notwendige wissenschaftliche Entwicklung bei der Bekämpfung des Klimawandels und der Umweltverschmutzung.

5.9

Zur Frage von Steuervergünstigungen für die Privatwirtschaft im Zusammenhang mit Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten hat der EWSA der Kommission bereits seine Stellungnahme vorgelegt (7). Davon ausgehend sollten alle Mitgliedstaaten beispielhafte Verfahren übernehmen und steuerliche Anreize für privatwirtschaftliche FuE-Investitionen insbesondere durch KMU einführen.

5.10

Zwischen Bildung, Forschung, Innovation, technischem Wissen und Beschäftigungstrends gibt es eine Art Kreislauf. In einem positiven Kreislauf ziehen die Wissens- und Ausbildungsbasis eines Landes Investitionen von außen, Wissentransfer und Einwanderer an. Ohne diese Basis sind Fachkräfte versucht, nach einem anderen Wissensumfeld zu suchen, in dem ihre Fähigkeiten hoch im Kurs stehen. Das kann zu einem negativen Kreislauf mit Auswanderung und Braindrain führen.

5.11

Die Schlussfolgerungen für Maßnahmen auf dem Gebiet der Forschung und Bildung lauten, dass viele Mitgliedstaaten ihre Systeme weiterführender Schulen und Hochschulen modernisieren und mehr für FuE ausgeben sollten. Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Wirksamkeit von Maßnahmen auf diesem Gebiet und der Beschäftigung und Produktivität, was sowohl die Beobachtungsliste als auch die Kontrollgruppe gezeigt haben.

6.   Wettbewerbsfähigkeit und Innovation

6.1

In der Mitteilung der Kommission werden drei Maßnahmenbereiche zur Förderung des Wettbewerbs genannt. Dabei handelt es sich um die Liberalisierung und Regulierung der netzgebundenen Wirtschaftszweige, die Wettbewerbspolitik und die Nutzung der Vorteile des Binnenmarkts.

6.2

Zu den Vorteilen des Binnenmarkts gehören die Förderung der Innovation (die Unternehmen sind in stärkerem Maße dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt), Skalenerträge bei Produktion, Vertrieb und Marketing (größerer Markt) und der Technologietransfer (größere Offenheit gegenüber ausländischen Investitionen).

6.3

Die EU-Mitgliedstaaten sind nicht in gleicher Weise für ausländische Direktinvestitionen attraktiv. Hinsichtlich des Technologietransfers, der Managementmethoden, der Marktpräsenz und der Kapitalinvestitionen wird das für Mitgliedstaaten, die keinen ausländischen Direktinvestitionen erhalten haben, ein Nachteil sein. Von der Firma Ernst & Young erhobene Daten über die ausländischen Direktinvestitionen im Zeitraum 1997-2006 zeigen folgende Rangfolge der Empfänger dieser Investitionen nach der Anzahl der Projekte:

Vereinigtes Königreich

5539

Frankreich

3867

Deutschland

1818

Spanien

1315

Belgien

1190

Polen

1046

Ungarn

1026

Irland

884

Tschechien

849

Russland

843

6.4

Ausländische Direktinvestitionen waren auch von größter Bedeutung für das Wirtschaftswachstum in den neuen Mitgliedstaaten. Da die neuen Mitgliedstaaten immer stärker mit anderen Ländern der Welt (u.a. Indien und China) um ausländische Direktinvestitionen konkurrieren, müssen sie die wissensbasierte Wirtschaft übernehmen, um Wachstum und Beschäftigung zu sichern. Asiatische Länder stechen bei den PISA-Tests hervor und bilden an ihren Universitäten hunderttausende Absolventen mit Hochschulabschlüssen und Master-Abschlüssen in naturwissenschaftlichen und technischen Studien aus.

6.5

Die Liberalisierung und Regulierung der netzgebundenen Wirtschaftszweige kann erheblich zur Einsparung von Kosten und zur Verbesserung der Produktivität in der gesamten Wirtschaft beitragen. Dieser Maßnahmenbereich unterteilt sich in drei Phasen: zunächst Privatisierung, dann Regulierung, damit neue Mitbewerber die etablierten Unternehmen herausfordern können, und schließlich Trennung des Eigentums am Trägernetz von den Netzdienstleistungen. In ihrem Bericht über die Fortschritte bei der Schaffung des Erdgas- und Elektrizitätsbinnenmarktes  (8) nennt die Kommission den Wechsel des Versorgers durch den Kunden als Maßnahme für einen wirksamen Wettbewerb. Die folgende Tabelle veranschaulicht dies:

Versorgerwechsel in %

 

 

Strom

Gas

Deutschland

Großunternehmen

41

 (9)

 

KMU

7

 (9)

 

Private Haushalte

5

 (9)

Frankreich

Großunternehmen

15

14

 

Private Haushalte

0

0

Spanien

Großunternehmen

25

60

 

KMU

22

60

 

Private Haushalte

19

2

Ver. Königreich

Großunternehmen

50+

85+

 

KMU

50+

75+

 

Private Haushalte

48

47

Der Wettbewerb ist in einigen Ländern von der Beobachtungsliste am stärksten ausgeprägt, obgleich hier auch Italien und Spanien Fortschritte gemacht haben.

6.6

Bei der Umsetzung der Wettbewerbspolitik sollen Effizienz und Produktivität zum Vorteil des Verbrauchers gefördert werden. Diese Politik steht nachhaltig im Einklang mit dem Interessenausgleich, den der EWSA zwischen seinen einzelnen Interessengruppen anstrebt.

6.7

In der Mitteilung wird abschließend festgestellt, dass der Wettbewerb sowohl für das Produktivitätsniveau als auch das Produktivitätswachstum eine zentrale Rolle spielt. Es ist auffällig, dass die Länder auf der Beobachtungsliste die Volkswirtschaften mit der größten Offenheit in der EU sind. Sie verzeichnen die höchste Produktivität, die höchsten Beschäftigungsquoten und die größte Fähigkeit zur Aufnahme von Arbeitsmigranten. Mitgliedstaaten, die aus Angst vor dem Wettbewerb versuchen, einen Wall um ihre Volkswirtschaften zu errichten, sind auf dem falschen Weg.

7.   Maßnahmen zur Umschichtung von Ressourcen (Reallokation)

7.1

Unter Reallokation versteht die Kommission die Umschichtung von Produktionsfaktoren aus niedergehenden Branchen und Sektoren in aufstrebende und florierende Wirtschaftszweige.

7.2

Die Kernaussage der Mitteilung lautet, dass insofern das Wirtschaftswachstum auf der Weiterentwicklung der Spitzentechnologien beruht, die Wirtschaft einem Strukturwandel ausgesetzt sein wird. Neue Spitzentechnologiebranchen können Marktanteile von schrumpfenden Branchen erobern. Neue Unternehmen können zu wichtigen Akteuren werden und etablierte Firmen können sich zu Anpassungen gezwungen sehen oder ganz vom Markt verdrängt werden.

7.3

Da aber die Wirtschaft auf jeden Fall einem Strukturwandel ausgesetzt sein wird, ist ihre Anpassungsfähigkeit von zentraler Bedeutung, um möglichst umfassend vom technischen Wandel und der Mobilität der Wissensbasis zu profitieren. Nach Ansicht der Kommission sind die Mitgliedstaaten nur begrenzt in der Lage, die notwendigen Anpassungen vorzunehmen, was mit der von Institutionen und Rechtsvorschriften vorgegebenen geringen Arbeitsmarktflexibilität zusammenhängt.

7.4

In der Mitteilung werden vier zentrale Politikmaßnahmen für eine bessere Ressourcenreallokation vorgeschlagen: Erleichterung des Marktzugangs, Verringerung des Verwaltungsaufwands, Arbeitsmarktregulierung und Finanzmarktintegration.

7.5

Maßnahmen zur Erleichterung des Marktzugangs beinhalten eine Reihe von Initiativen, zu denen der EWSA bereits Stellungnahmen abgegeben hat. Dazu gehören die Verringerung des Verwaltungsaufwands bei Unternehmensgründungen, eine Reihe von Fördermaßnahmen für KMU-Neugründungen und Änderungen in den Rechtsvorschriften über Insolvenzen. Der Zugang zu Kapital und wettbewerbspolitische Maßnahmen zur Gewährleistung stärker umkämpfter Märkte sind wichtige Bestandteile jeder auf Unternehmensneugründungen basierenden Reallokationsstrategie.

7.6

Verwaltungskosten betreffen große wie kleine Unternehmen, doch für kleinere Firmen ist diese Belastung aufgrund ihrer geringen Größe viel erheblicher. Der Abbau des Verwaltungsaufwands ist eines der fünf Hauptziele auf der EU-Agenda, doch ist, wie in der Mitteilung eingeräumt wird, die Reduzierung von Rechtsvorschriften und Verwaltungsaufwand schwierig, da die meisten dieser Maßnahmen aus besonderen Gründen eingeführt wurden. Sie dienten dazu, Marktversagen zu korrigieren, Marktteilnehmer zu schützen oder politische Entscheidungsträger mit Informationen zu versorgen (10). Viele Interessengruppen in der EU würden argumentieren, dass der durch diese Rechtsvorschriften getragene Sozialschutz ein Kernelement des Aquis ist. Dennoch schlagen sich diese Vorschriften insgesamt in einem erheblichen finanziellen Aufwand nieder.

7.7

Diese Kosten können sich laut der britischen Taskforce „Bessere Rechtsetzung“ auf bis zu 3 % bis 4 % des Bruttoinlandsprodukts (11) belaufen, was vom niederländischen Central Planning Bureau (CPB) bestätigt wurde. Nach Schätzungen würde sich eine Verringerung der Verwaltungskosten in der EU um 25 % unmittelbar in einem Wachstum des realen BIP um 1 % niederschlagen. Die langfristigen Auswirkungen wären sogar noch stärker. Eine Verminderung dieser Kostenlast wäre sehr zu wünschen, doch deutet bisher nichts darauf hin, dass solche Bestrebungen von Erfolg gekrönt sein werden. Die EU ist auf der Ebene ihrer Institutionen zu stark auf ein mögliches Marktversagen fixiert, weshalb solche Verbesserungen eher unwahrscheinlich sind. Zudem ist es dem EWSA ein Anliegen, den Marktteilnehmern den größtmöglichen Schutz zu gewähren, weshalb er eine wesentliche Reduzierung des Verwaltungsaufwands wahrscheinlich nicht unterstützen würde.

7.8

Die Arbeitsmarktstrukturen haben einen großen Einfluss auf die Umschichtung der Arbeitskräfte. Marktreformen schlagen bei flexiblen Arbeitsmärkten stärker auf die Produktivität und Beschäftigung durch. Auch wenn es keine verlässlichen Untersuchungen der Arbeitsmarktflexibilität gibt, ist das Beschäftigungsniveau in den einzelnen Ländern der Beobachtungsliste sicher ein Maßstab für den Erfolg ihrer arbeitsmarktpolitischen Vorschriften bei der Bewältigung des Wandels.

7.9

Die in der EU bestehenden Beschäftigungsschutzvorschriften sind verständlicherweise umstritten. Anstatt den Kündigungsschutz bei unbefristeten Arbeitsverhältnissen zu ändern, haben viele Mitgliedstaaten parallel dazu befristete Arbeitsverträge eingeführt. Auf diese befristeten Arbeitsverträge ist ein Großteil des in Ziffer 4 angesprochenen Beschäftigungswachstums zurückzuführen. Auch wenn die Daten den tatsächlichen Anteil an Vollzeitbeschäftigten nicht erkennen lassen, ist der Umfang des Beschäftigungswachstums ermutigend, und die strukturelle Arbeitslosigkeit ist im Rückgang.

7.10

Natürlich ist es notwendig, Unternehmensschließungen abzufedern, wenn die arbeitsrechtlichen Bestimmungen flexibel genug sind, um eine optimale Ressourcen-Reallokation zu erzielen. Daher sind die Mitgliedstaaten aufgefordert, gleichzeitig flankierende Maßnahmen einzuführen. Flexicurity-Systemen kommt bei diesem Prozess entscheidende Bedeutung zu. Es müssen Ressourcen bereit gestellt werden, damit durch lebenslanges Lernen die Anpassungs- und Beschäftigungsfähigkeit verbessert werden kann und die sozialen Sicherungssysteme Anreize für die Teilnahme am Erwerbsleben bieten und die Umschichtung von Arbeitskräften fördern können, während arbeitsmarktpolitische Maßnahmen den Menschen helfen sollten, die mit dem Übergang zu einer neuen, sicheren Beschäftigung verbundenen Probleme des Wandels und der Arbeitslosigkeit zu bewältigen. Solche Maßnahmen sind bei gelockerten Beschäftigungsschutzbestimmungen unbedingt erforderlich.

7.11

Finanzmarktintegration ist die letzte Reallokationsmaßnahme. Das fragmentierte Finanzsystem in der EU könnte man als eine Produktivitäts- und Beschäftigungsbremse sehen, insbesondere für Unternehmensneugründungen. Abhilfe sollen hier die neuen Richtlinien über Finanzdienstleistungen schaffen. Zeitgleich mit dieser Stellungnahme arbeitet der EWSA an einer Stellungnahme über grenzüberschreitende Investitionen von Risikokapitalfonds (12). Die Bedeutung eines effizienten Finanzsystems für den Strukturwandel wird vor allem bei der Finanzierung von Unternehmensneugründungen deutlich.

8.   Verbesserung der öffentlichen Finanzen

8.1

In Tabelle 5 sind die Eurostat-Daten zu den öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten aufgeführt. Die durchschnittliche Staatsverschuldung in der Eurozone-12 liegt bei 68,8 % des BIP und damit über dem WWU-Konvergenzziel von 60 % und auch über den Durchschnittswerten der EU-15 (63 %) und der EU-25 (61,9 %). Im Allgemeinen liegt die Staatsverschuldung in den Ländern auf der Beobachtungsliste unter 50 % des BIP, in vielen Fällen sogar weit darunter. Eine Ausnahme bildet Österreich* (61,7 %). Zudem haben alle Länder auf der Beobachtungsliste ihre Staatsverschuldung im Zeitraum von 1999 bis 2006 abgebaut. Ein besonders bemerkenswerter Abbau der Verschuldung wurde in Irland*, den Niederlanden* und Schweden* erreicht. Von den Ländern der Kontrollgruppe weist nur Spanien eine Staatsverschuldung von unter 50 % BIP auf, nachdem das Land seine Schulden in diesem Zeitraum drastisch abbauen konnte. Schlusslichter sind Italien (106,8 %) und Griechenland (95,3 %).

8.2

Bezüglich der Haushaltsbilanz in der EU-15 konnten Belgien, Irland*, Spanien, Luxemburg, die Niederlande*, Finnland*, Dänemark* und Schweden* auf positive Haushaltssalden verweisen. Die übrigen Länder hatten um bis zu 3 % defizitäre Haushalte, nur in Italien (-4.4 %) und Portugal (-3.9 %) war das Defizit noch höher. Von den neuen Mitgliedstaaten konnten Bulgarien und Estland* positive Haushaltssalden vorweisen, während Ungarn, Polen und die Slowakei Haushaltsdefizite von über 3 % verzeichneten. Mit einem geringen Defizit von 1,2 % heben sich Zypern und Slowenien* ab. Von den Ländern auf der Beobachtungsliste ist das Vereinigte Königreich mit einem Defizit von 2,7 % von seinem Kurs abgekommen. Das Land hat es versäumt, in den Jahren günstiger Wirtschaftskonjunktur den Haushalt auszugleichen, so dass sein Platz in der Spitzengruppe jetzt gefährdet ist. Von den Ländern der Kontrollgruppe sticht vor allem das Ergebnis Spaniens positiv hervor, während Italien und Portugal ihre allgemein schlechten Platzierungen bestätigen.

8.3

In seinen jährlichen Stellungnahmen zur Wirtschaft in der EU hat der EWSA für solide öffentliche Finanzen plädiert. Die diesbezüglichen Ergebnisse der Länder der Beobachtungsliste und der Kontrollgruppe zeigen, dass solide öffentliche Finanzen ein wichtiger Faktor für die Beschäftigung und Produktivität in den Mitgliedstaaten sind.

8.4

Bei der Untersuchung der Ergebnisse, die in den Ländern der Beobachtungsliste und der Kontrollgruppe diesbezüglich erreicht wurden, stellt sich die Frage der Auswirkung der Besteuerung. Der Eurostat-Bericht über die Besteuerung in der EU im Jahr 2005 weist einen durchschnittlichen Steuersatz (in Prozent vom BIP) in Höhe von 39,6 % in der EU-27 aus. Das sind ungefähr dreizehn Prozentpunkte mehr als der Steuersatz in den USA und Japan. Von allen der OECD angehörenden Drittländern hat nur Neuseeland einen effektiven Steuersatz von über 35 %. Nach früheren Versuchen der Mitgliedstaaten, die Steuerlast zu verringern, geht der Trend jetzt wieder in die andere Richtung, wobei der durchschnittliche Steuersatz das Niveau von 1995 erreicht hat.

8.5

Schweden*, Dänemark* und Finnland* gehören neben Belgien und Frankreich zu den fünf Ländern mit der höchsten Steuerlast. Österreich* und Slowenien* sowie Italien befinden sich in der Gruppe der fünf darauf folgenden Länder. Die Niederlande* und das Vereinigte Königreich* liegen auf Platz 12 bzw. 13. Nur Estland* (Rang 22) und Irland* (Rang 23) erfreuen sich eines relativ geringen Steuerdrucks. Von den Ländern aus der Kontrollgruppe ist Italien mit einer Steuerlast zu nennen, die geringer oder ebenso hoch ist wie die von fünf Ländern auf der Beobachtungsliste. Die Steuerlast in Spanien, Portugal und Griechenland liegt unter der sämtlicher Länder auf der Beobachtungsliste, ausgenommen Irland und Estland. Es lässt sich nicht wirklich behaupten, die Länder der Kontrollgruppe hätten eine zu hohe Steuerlast.

8.6

Die EU verzeichnet eine höhere Besteuerung als die mit ihr konkurrierenden Wirtschaftsräume. In einigen Mitgliedstaaten wird der steuerpolitische Kurs stark durch die Höhe der Aufwendungen für den Sozialschutz beeinflusst. Aus einer reinen EU-Perspektive kann wohl kaum für Steuersenkungen argumentiert werden, solange die führenden Volkswirtschaften der EU die höchsten Steuersätze haben. Aus einer globalen Perspektive muss jedoch gesagt werden, dass konkurrierende Wirtschaftsräume ein niedrigeres Steuerniveau haben, und wahrscheinlich trägt dies zu dem hohen Maß an Innovation und Unternehmungsgeist in diesen Ländern bei.

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Centre for European Reform: The Lisbon Scorecard VIII, Is Europe ready for an economic storm? (Februar 2008).

(2)  Die mit einem Sternchen (*) gekennzeichneten Mitgliedstaaten wurden wie in Ziffer 4.9 erläutert auf eine Beobachtungsliste der Länder mit den besten Ergebnissen gesetzt.

(3)  Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialer ZusammenhaltFür ein Europa der Innovation und des Wissens (Gipfel von Lissabon — März 2000), ABl. C 117 vom 26.4.2000, S. 62, Ziffer 2.16.

(4)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die „Grundzüge der Wirtschaftspolitik und die Economic Governance — Bedingungen für eine bessere Abstimmung der Wirtschaftspolitiken in Europa“; ABl. C 324 vom 30.12.2006, S. 49.

(5)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Grundzüge der Wirtschaftspolitik (2005-2008)“; ABl C 88 vom 11.4.2006, S. 76.

(6)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2003-2005“, ABl. C 80 vom 30.3.2004, S.120.

(7)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Wege zu einer wirksameren steuerlichen Förderung von FuE“, ABl. C 10 vom 15.1.2008, S. 83.

(8)  Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament: Bericht über die Fortschritte bei der Schaffung des Erdgas- und Elektrizitätsbinnenmarktes — KOM(2005) 568 endg. vom 15.11.2005.

(9)  Keine Daten zum Gasmarkt in Deutschland verfügbar.

(10)  Die Wirtschaft der EU: Bilanz 2007 — Die Produktivitätsgrenze Europas verschieben, Europäische Kommission, Generaldirektion Wirtschaftliche und finanzielle Angelegenheiten; S. 136.

(11)  Die Wirtschaft der EU: Bilanz 2007 — Die Produktivitätsgrenze Europas verschieben, Europäische Kommission, Generaldirektion Wirtschaftliche und finanzielle Angelegenheiten; S. 137.

(12)  Abbau von Hindernissen für grenzüberschreitende Investitionen von Risikokapitalfond (INT/404).


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/139


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Anwendung von Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung im Bereich der direkten Steuern (innerhalb der EU und im Hinblick auf Drittländer)“

KOM(2007) 785 endg.

(2009/C 77/29)

Die Kommission beschloss am 10. Dezember 2007, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Anwendung von Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung im Bereich der direkten Steuern (innerhalb der EU und im Hinblick auf Drittländer)“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 14. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr BURANI.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Kommission will mit ihrem Dokument die Grundlage für eine Diskussion zwischen den Mitgliedstaaten über die direkten Steuern bei grenzüberschreitenden Vorgängen schaffen. Insbesondere versucht sie „koordinierte“ Lösungen für die Anwendung von Missbrauchsbekämpfungsmaßnahmen zu finden, da es in diesem Bereich an der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Verwaltungen mangelt und rein einzelstaatliche Ansätze verfolgt werden.

1.2

Der EWSA nimmt die — langfristig angelegte — Initiative erfreut zur Kenntnis, vor allem weil sie — so lautet zumindest die Absicht — in die Schaffung einer Art von gemeinschaftlichem „Corpus iuris“ auf der Grundlage zahlreicher Urteile des Europäischen Gerichtshofs münden soll. Die vom EuGH geprüften Einzelfälle sind umfangreich genug, um einen guten Bezugspunkt für die nationalen Steuerbehörden darzustellen, die jedoch anscheinend nicht immer willens sind, sich danach zu richten.

1.3

Als Ausgangsgrundlage muss zwischen den Mitgliedstaaten ein Einvernehmen über die Definition von „Missbrauch“ und somit über die Unterscheidung zwischen „Steuerhinterziehung“ und „Steuerumgehung“ erzielt werden. Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der EuGH-Urteile, denen zufolge — während es sich im ersten Fall zweifelsfrei um eine Straftat handelt — im zweiten Fall eine Unterscheidung vorgenommen werden muss: die Steuerumgehung wird nur dann zu einer Straftat, wenn „rein künstliche Konstruktionen“ benutzt, d.h. vorgetäuschte Sachverhalte geschaffen werden. In die Kategorie rechtswidriger Handlungen fällt auch nicht die Gründung von Niederlassungen mit der Absicht, in den Genuss staatlicher Beihilfen zu kommen, die von anderen Ländern gewährt werden: wenn diese nicht mit dem EG-Vertrag übereinstimmen, muss die Verzerrung an der Wurzel mit anderen Mitteln bekämpft werden, ohne dass einzelne Parteien davon betroffen sind.

1.4

Ein besonders wichtiger Aspekt ist die „Unterkapitalisierung“, d.h. die Bereitstellung von Finanzmitteln für ausländische Tochterunternehmen statt einer Kapitalerhöhung. In diesem Bereich gehen die Verwaltungen sehr subjektiv vor, und eine Beurteilung ist dann besonders schwierig, wenn es sich um Finanzinstitute handelt.

1.5

Ohne auf die Kasuistik einzugehen, bezüglich derer auf den Text der Stellungnahme verwiesen wird, macht der EWSA auf einige Grundprinzipien aufmerksam, auf die sich die Mitgliedstaaten verständigen und die sie möglicherweise sofort einführen sollten. An erster Stelle muss ein Gleichgewicht zwischen dem Interesse des Staates und dem des Steuerzahlers gefunden werden, wobei bei der Beurteilung von „rein künstlichen Konstruktionen“ stets der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angewandt werden muss; deshalb sind Regelungen für eine gerechte Verteilung der Beweislast erforderlich, vor allem aber auch Bestimmungen, die die Modalitäten für die Beschaffung von Beweismaterial durch die Steuerbehörden unter Einhaltung der Gesetze festlegen.

1.6

Abschließend vertritt der EWSA die Auffassung, dass in einem so facettenreichen und vielfältigen Bereich guter Wille und Bereitschaft zur Zusammenarbeit seitens der Mitgliedstaaten erforderlich ist, die einen Mittelweg zwischen dem Schutz ihrer finanziellen Interessen einerseits und der zentralen Stellung des Bürgers und der Wahrung seiner Rechte andererseits finden müssen. Zugleich betrachtet er es als seine Pflicht, die Rolle hervorzuheben, die die Finanzverwaltungen bei der Bekämpfung nicht nur von Missbrauch, sondern auch von künstlichen (bzw. auch realen) Konstruktionen spielen sollten, hinter denen sich kriminelle Aktivitäten verbergen.

2.   Einleitung

2.1

Wie im Jahr 2006 (1) angekündigt, hat die Kommission Maßnahmen zur Koordinierung der Regelungen der Mitgliedstaaten zu den direkten Steuern ergriffen. Das Problem ist recht klar zu fassen: Bei der Anwendung der Steuerbestimmungen, die grenzüberschreitende Tätigkeiten der Steuerpflichtigen betreffen, sind alle nationalen Steuerverwaltungen verpflichtet, angemessene Einnahmen des eigenen Landes zu gewährleisten, aber die Vielfalt der Systeme kann zu einer unterschiedlichen Auslegung oder Anwendung seitens anderer Verwaltungen führen. Diese Unterschiede können die Steuerpflichtigen missbräuchlich dazu nutzen, sich ganz oder teilweise ihren Verpflichtungen zu entziehen. Andererseits muss jedoch Doppelbesteuerung vermieden werden.

2.2

Um dies auszuschließen, haben die meisten Mitgliedstaaten eine Reihe von „Missbrauchsbekämpfungsvorschriften“ angenommen; es handelt sich dabei um teils spezifische, teils allgemeine Vorschriften, die von Land zu Land unterschiedlich sind. Bei einer solchen Sachlage kann es — und kommt es auch erwiesenermaßen — zu Rechtsstreitigkeiten mit den Steuerpflichtigen und mitunter auch zwischen den Mitgliedstaaten. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der sich zu verschiedenen Einzelfällen zu äußern hatte, liefern nützliche rechtliche Anhaltspunkte in diesem Bereich, der nicht durch gemeinschaftliche Rechtsvorschriften geregelt ist. Die Kommission hat sich bei der Ausarbeitung des hier erörterten Vorschlags auf diese Urteile gestützt.

2.3

Mit der Mitteilung „soll ein Rahmen für weitere Diskussionen mit den Mitgliedstaaten und Wirtschaftsteilnehmern geschaffen werden, um den Spielraum für mögliche koordinierte Lösungen in diesem Bereich abzustecken“. Die Kommission ist der Auffassung, dass es dringend erforderlich sei, „das öffentliche Interesse an der Bekämpfung des Missbrauchs von Steuervorschriften mit der Notwendigkeit in Einklang zu bringen, unverhältnismäßige Beschränkungen grenzübergreifender Tätigkeiten innerhalb der EU zu vermeiden“; außerdem müsse die Anwendung von Maßnahmen gegen den Missbrauch von Steuervorschriften im Hinblick auf Drittländer besser koordiniert werden.

2.4

Zu diesen Themen will die Kommission eine Debatte unter den Mitgliedstaaten unter Einbeziehung der interessierten Parteien anstoßen, um zu gemeinsamen Schlussfolgerungen zu gelangen, die in eine freiwillige Koordinierung der Vorschriften und Verfahren münden. Es ist hier weder von „Harmonisierung“ die Rede — die kurzfristig zu schwierig zu bewerkstelligen wäre — noch von Legislativmaßnahmen, die praktisch unmöglich durchzusetzen wären.

3.   Inhalt der Mitteilung

3.1

Besondere Aufmerksamkeit widmet die Kommission in ihrem Dokument den Begriffbestimmungen und der Darlegung der Hintergründe, wobei sie sich auf die Urteile des EuGH stützt, mit denen einige Grundprinzipien festgelegt wurden. An erster Stelle wird der Missbrauch definiert: Ein Missbrauch „liegt nur dann vor, wenn trotz formaler Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde und die Absicht vorliegt, sich einen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden“ (2). Es wird eine Abgrenzung gegenüber dem Begriff der Steuerumgehung vorgenommen, der beschränkt wird auf „rein künstliche Gestaltungen, die darauf ausgerichtet sind, der Anwendung der Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates zu entgehen“.

3.2

Ein weiteres Grundprinzip besteht darin, dass „die Notwendigkeit, Steuerumgehung oder Missbrauch zu vermeiden, von vorrangigem öffentlichen Interesse sein kann, was die Einschränkung der Grundfreiheiten rechtfertigen könnte“. Einschränkende Vorschriften sind jedoch nur dann rechtlich zulässig, wenn die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit eingehalten werden; außerdem müssen diese Vorschriften „den spezifischen Zweck verfolgen, rein künstliche Konstruktionen zu vermeiden “.

3.3

Der EuGH hat genaue Kriterien dafür festgelegt, wann eine rein künstliche Konstruktion vorliegt und wann nicht : die Tatsache, dass ein Tochterunternehmen im Ausland ansässig ist, fällt für sich genommen nicht unter diese Definition, und zwar auch dann nicht, wenn festgestellt wird, dass die von einer Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat ausgeführten Tätigkeiten ebenso gut vom Mutterunternehmen hätten durchgeführt werden können. Genauso wenig greift allein das Argument, dass einer Entscheidung über die Ansässigkeit einer Niederlassung steuerliche Überlegungen zugrunde lagen: Sofern keine missbräuchlichen Praktiken vorliegen, ist es durchaus zulässig, von den günstigeren steuerlichen Bedingungen eines anderen Mitgliedstaats zu profitieren. Unter die Definition fällt auch nicht die Tatsache, dass die Gründung einer Niederlassung beschlossen wird, um in den Genuss der staatlichen Beihilfen zu kommen, die von einem anderen Mitgliedstaat gewährt werden: Verzerrungen bei der Standortwahl infolge von mit dem EG-Vertrag unvereinbaren staatlichen Beihilfen müssen an der Wurzel mit anderen Mitteln bekämpft werden, berechtigen aber nicht zu einseitigen Maßnahmen, um die nachteiligen Auswirkungen auszugleichen.

3.4

Der EuGH hat einer weiten Auslegung dieser Prinzipien jedoch Grenzen gesetzt: sie gelten nicht, wenn ein weiteres Anzeichen für Missbrauch vorliegt, wie z.B. die Gründung einer „Briefkastenfirma“ oder einer „Strohfirma“ oder wenn die Voraussetzungen und Bedingungen für Finanzgeschäfte zwischen verbundenen Unternehmen in unterschiedlichen Mitgliedstaaten von denen abweichen, die zwischen nicht verbundenen Unternehmen vereinbart worden wären. Es kommt somit ein Kriterium des Vorrangs des Inhalts gegenüber der Form zur Anwendung.

3.5

Die Kommission weist darauf hin, dass sich die oben genannten Kriterien auf einzelne Fälle beziehen, es aber trotzdem sinnvoll wäre, die praktische Anwendung dieser Grundsätze auf verschiedene Arten der Geschäftstätigkeiten und -strukturen zu untersuchen.

3.6

Was die Verhältnismäßigkeit angeht, räumt der EuGH ein, dass die Mitgliedstaaten „safe harbour“-Kriterien festlegen können, um die Situationen zu erfassen, in denen das Auftreten von Missbrauch am wahrscheinlichsten ist: die Aufstellung bestimmter sachgerechter Kriterien liegt für die Steuerpflichtigen im Interesse der Rechtssicherheit und für die Steuerverwaltung im Interesse der Praktikabilität.

3.7

Die Kommission macht darauf aufmerksam, dass Billigkeitskriterien festgelegt werden müssen: die Beweislast sollte nicht ausschließlich beim Steuerpflichtigen liegen, und dieser sollte sich ohne überzogene Verwaltungsauflagen und mit der Garantie verteidigen können, dass die Ergebnisse der Prüfung durch die Steuerverwaltung einer unabhängigen rechtlichen Prüfung unterzogen werden. Darüber hinaus sollte das steuerbare Einkommen bei Anwendung der Missbrauchsbekämpfungsmaßnahmen nur für den Anteil geändert werden, der auf die rein künstliche Konstruktion zurückzuführen ist. Gruppeninterne Geschäftsvorgänge sollten überdies unter Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes („arm's length principle“) geprüft werden. All diese Kriterien sollten die Mitgliedstaaten aber letztendlich nicht davon abhalten, den Steuerpflichtigen, die missbräuchliche Praktiken zur Steuerumgehung angewendet haben, Sanktionen aufzuerlegen.

3.8

Nach der Festlegung der allgemeinen Grundsätze wendet sich die Kommission der praktischen Anwendung der Vorschriften zu; der Inhalt dieses Teils wird im Einzelnen in dem Abschnitt „Besondere Bemerkungen“ (siehe weiter unten) behandelt.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA begrüßt nachdrücklich die Initiative der Kommission: Erstens sollen — ohne der Versuchung eines Eingreifens von oben nachzugeben — Vorschriften und Verfahren nach einem pragmatischen Ansatz koordiniert werden, der nicht nur den Bestimmungen des Vertrags, sondern auch den Empfindlichkeiten der Mitgliedstaaten Rechnung trägt, und zweitens soll das „öffentliche Interesse“ (eines jeden Mitgliedstaats) mit der Notwendigkeit in Einklang gebracht werden, „unverhältnismäßige Beschränkungen“ im Binnenmarkt zu vermeiden.

4.1.1

Der EWSA empfiehlt, den Bürger/Steuerzahler in den Mittelpunkt zu stellen: die Koordinierung, falls und wann immer sie kommt, muss in erster Linie auf Gerechtigkeit ihm gegenüber ausgerichtet sein: eine Regel, die den Urteilen des EuGH zugrunde zu liegen scheint, in der Praxis jedoch nicht immer ohne Weiteres angewandt wird.

4.2

Die Bedenken des EWSA scheinen auch EuGH und Kommission zu teilen: wenn vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (siehe Ziffer 3.2 dieser Stellungnahme) die Rede ist, der angewandt werden muss, um zu stark einschränkende Vorschriften für Fälle von „rein künstlichen Vorschriften“ zu vermeiden (siehe Ziffer 3.3), ist klar, dass hierbei nicht auf theoretische Fälle Bezug genommen wird. Verstöße gegen die Vorschriften werden häufig begangen und wahrscheinlich nicht alle entdeckt, aber ebenso häufig wird auch die Rechtmäßigkeit von Tochterunternehmen im Ausland angezweifelt und in Frage gestellt. Würden sich die Steuerverwaltungen die in den Urteilen des EuGH enthaltenen Grundsätze zu eigen machen, könnten die Unternehmen in einem von Rechtssicherheit geprägten Umfeld ohne überzogene Bürokratie und ohne die Gefahr der Doppelbesteuerung operieren.

4.3

Zweifellos kann die Aussage der Kommission (siehe Ziffer 3.5) bejaht werden, dass die Kasuistik der rechtmäßigen und rechtswidrigen Einzelfälle zu vielfältig ist, um als Basis für allgemeine Grundsätze zu dienen, weshalb es notwendig wäre, die praktische Anwendung dieser Grundsätze auf die verschiedenen Arten der Geschäftstätigkeiten und -strukturen zu untersuchen. Jedoch würde es bereits die Analyse der Einzelfälle im Lichte der Urteile des EuGH den Unternehmen ermöglichen, selbst eine Vorabprüfung durchzuführen, ob ihre Entscheidung, ein Tochterunternehmen im Ausland zu gründen, wahrscheinlich auf Widerstand stoßen wird. Dies gilt natürlich nur dann, wenn sich die Verwaltungen von der Rechtsprechung des EuGH leiten lassen, allerdings mit der Möglichkeit, dieses an den jeweiligen Einzelfall anzupassen. Diese „Einzelfallmethode“ würde eine gerechte Beurteilung der jeweiligen Situation ermöglichen; dadurch könnte die formaljuristische Anwendung von Standardlösungen vermieden werden.

4.4

Bei einem derartigen Vorgehen der Unternehmen und der Verwaltungen könnten „Briefkastenfirmen“ oder „Strohfirmen“ (siehe Ziffer 3.4), bei denen es sich klar um Betrug handelt, leichter herausgefiltert werden. Die Analyse der Kasuistik in diesem Bereich könnte auch hilfreich sein, wenn die Mitgliedstaaten „safe harbour“-Kriterien (siehe Ziffer 3.6) festlegen, durch die Grundfreiheiten eingeschränkt werden.

4.5

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Ausführungen der Kommission zu den Billigkeitskriterien (siehe Ziffer 3.7). Ein Grundsatz des Naturrechts im Bereich des Strafrechts ist die Unschuldsvermutung, die die Beweislast der Anklage zuweist. Auch wenn sich das Steuerrecht nicht immer nach diesen Regeln richtet, steht außer Zweifel, dass schikanöse Auflagen seitens der Steuerverwaltungen eine Belastung für Unternehmen und Privatleute wären.

4.5.1

Der EWSA stimmt der Empfehlung zu, Bestimmungen für eine gerechte Verteilung der Beweislast festzulegen: die Wahrung der Grundfreiheiten und die Unschuldsvermutung müssen die Grundlage der Beziehungen zwischen den Steuerverwaltungen und den Bürgern bilden. Es ist ein Regelwerk erforderlich, das sowohl die Modalitäten für die Beschaffung von Beweismaterial durch die Steuerbehörden festlegt, wie auch die Grenzen der Unabhängigkeit dieser Behörden bei Vorliegen von Straftatbeständen wie z.B. Steuerumgehung mit illegalen Mitteln, die gleichbedeutend mit Steuerhinterziehung ist.

5.   Besondere Bemerkungen: Anwendung der Vorschriften innerhalb der EU/des EWR

5.1

Die Kommission verweist auf den Grundsatz, dass „Vorschriften zur Missbrauchsbekämpfung […] daher präzise auf rein künstliche Konstruktionen abzielen [müssen], mit denen nationale Rechtsvorschriften (oder in nationales Recht umgesetzte Vorschriften des Gemeinschaftsrechts) umgangen werden sollen“: diesem Grundsatz kann man zwar problemlos zustimmen, aber er lässt noch breiten Raum für Interpretationen. Das Gleiche gilt für die Empfehlung, dafür zu sorgen, dass die Vorschriften gegenüber dem Ziel der Eindämmung von Missbrauch nicht unverhältnismäßig sind.

5.2

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine Koordinierung der Maßnahmen — vorausgesetzt, dass dazu ein echter Wille besteht — nur dann möglich ist, wenn die Mitgliedstaaten diese Maßnahmen gemeinsam und mit der Unterstützung der Kommission prüfen. Die Vorschriften der einzelnen Verwaltungen sind auf den Schutz des Gemeinwohls ausgerichtet, wobei allerdings die dahinterstehenden Philosophien durch unterschiedliche Traditionen und Gegebenheiten geprägt sind: Man kann auf eine Verringerung der Unterschiede hoffen, aber es wird einige Zeit dauern, bis praktische Ergebnisse zu erkennen sein werden.

5.2.1

Der EWSA schließt sich dem Standpunkt der Kommission an, dass vermieden werden muss, die Maßnahmen, durch die eine grenzübergreifende Steuerumgehung verhindert werden soll, auf rein innerstaatliche Sachverhalte auszudehnen, bei denen die Gefahr von Missbrauch gar nicht besteht: Maßnahmen, die auch nach Auffassung des EuGH überflüssig und unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsfähigkeit kontraproduktiv sind.

5.3

Ein wichtiges Thema ist die Auslegung der Konzepte Fremdkapital und Eigenkapital: So kann in einem Mitgliedstaat ein Vorgang als Erhöhung des Eigenkapitals angesehen werden, während er in einem anderen Mitgliedstaat als Darlehen behandelt wird und die Zinsen steuermindernd geltend gemacht werden können; das Gleiche gilt auch für hybride Unternehmen, die in einem Mitgliedstaat als Kapitalgesellschaften und in einem anderen als Personengesellschaften betrachtet werden. Daraus ergibt sich die Möglichkeit von doppelten Steuerbefreiungen bzw. Doppelbesteuerungen. Es handelt sich um wohlbekannte Fälle, in denen Vorteile bzw. Nachteile nicht nur durch die unterschiedlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten entstehen, sondern auch durch die unterschiedliche Haltung der Verwaltungen, die grenzüberschreitende Investitionen eher fördern oder eher behindern.

5.3.1

Dies ist nach Auffassung des EWSA eines der heikelsten Probleme, das den Ausgangspunkt der künftigen Diskussionen bilden sollte.

5.4

Die Regelungen für beherrschte ausländische Unternehmen (CFC) sind ein Problem, das mit der in der vorhergehenden Ziffer beschriebenen Frage zusammenhängt. Im Allgemeinen werden die Gewinne eines CFC dem Mutterunternehmen zugerechnet und in dem Land versteuert, in dem dieses ansässig ist, wobei allerdings eine besondere steuerliche Behandlung angewandt wird. Diese unterschiedliche Behandlung stellt nach Auffassung der Kommission eine Diskriminierung dar, sofern sie nicht aufgrund einer „objektiven, relevanten andersgearteten Situation“ gerechtfertigt wird. Außerdem stellen (so die Kommission) diese Regelungen „ein Hindernis für das Mutterunternehmen dar, in einem anderen Mitgliedstaat Tochterunternehmen anzusiedeln“.

5.4.1

Der EWSA dringt darauf, die CFC-Vorschriften aufmerksam zu prüfen und gegebenenfalls zu überarbeiten. Sie sind für alle Unternehmen wichtig, aber ganz besonders für diejenigen des Finanzsektors. Wie die Kommission ausführt, ist es „wichtig, dass Steuerpflichtige … nachweisen können, dass mit ihren Geschäftsvorgängen echte Geschäftsziele verfolgt wurden“: eine Forderung, die von Handelsunternehmen mitunter schwer zu erfüllen ist, die aber für die Unternehmen des Finanzsektors zum zentralen Problem werden kann. Die in diesem Sektor geltenden rechtlichen und aufsichtsrechtlichen Bestimmungen stellen für die regelkonforme CFC eine Garantie dar; allerdings könnten durch ihre Komplexität und ihre Unterschiedlichkeit in den einzelnen Ländern bequeme Schlupflöcher für verschiedene Unregelmäßigkeiten ermöglicht werden. Dies gilt insbesondere für zum Teil fiktive oder aber scheinbar „normale“ Unternehmen, die zu spekulativen oder schlichtweg kriminellen Zwecken gegründet werden und sich spitzfindiger Methoden bedienen, um sich der Besteuerung und der Kontrolle durch die Aufsichtsbehörden zu entziehen. Gezielte Steuervorschriften können besser als Kontrollen durch die Aufsichtsbehörden dazu beitragen, solche Aktivitäten aufzudecken.

5.5

Die Vorschriften über die Unterkapitalisierung (Kapitalisierung über Darlehen, eine unechte Form der Eigenkapitalfinanzierung), die bereits in Ziffer 4.3 erwähnt wurden, sind ein weiterer wichtiger Punkt. Aufgrund divergierender Rechtsauffassungen und Rechtstraditionen sind diese häufig von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat grundverschieden. Die Zweckmäßigkeit, Tochterunternehmen mit Eigenkapital statt mit Darlehen zu finanzieren, ergibt sich aus der unterschiedlichen Behandlung von Dividenden und Zinsen und wird von den Unternehmen in Abhängigkeit von den Steuervorschriften bewertet, die in dem Land gelten, in dem das Tochterunternehmen niedergelassen ist. Es kommt relativ häufig vor, dass Tochterunternehmen, die von ein- und demselben Mutterunternehmen gegründet wurden, in den verschiedenen Mitgliedstaaten mal nach dem einen und mal nach dem anderen System finanziert werden.

5.5.1

Die Kommission will, dass die Unterkapitalisierungsvorschriften ganz aufgehoben werden oder zumindest Geschäfte mit Darlehensgebern in anderen Mitgliedstaaten aus ihrem Geltungsbereich herausgenommen werden. Dadurch würde die Ungleichbehandlung von gebietsansässigen Tochterunternehmen in Abhängigkeit vom Sitz des Mutterunternehmens beseitigt. Die Kommission fügt hinzu, dass „die Mitgliedstaaten jedoch in der Lage sein [sollten], ihre Steuerbemessungsgrundlagen durch strukturierte Schuldenfinanzierung auch innerhalb der EU/des EWR vor künstlicher Aushöhlung zu schützen“. Nach Auffassung des EWSA sollte nicht verallgemeinert werden: in bestimmten Fällen können unvorhergesehene Erfordernisse unabhängig von steuerlichen Überlegungen dazu führen, dass die Schuldenfinanzierung notwendig oder zumindest vorteilhafter ist.

5.5.2

Die Vorbehalte des EWSA scheinen durch das Urteil des EuGH in der der Rechtssache Thin Cap bestätigt zu werden, der eingeräumt hat, dass „Maßnahmen zur Verhinderung von Unterkapitalisierung nicht per se unzulässig sind. Ihre Anwendung muss sich aber auf rein künstliche Konstruktionen beschränken“. Diese Art der Kapitalisierung darf also nicht ausgeschlossen werden: Es geht lediglich darum, die Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung effizienter zu gestalten und genauere Bestimmungen festzulegen, die die Transparenz der Vorgänge sicherstellen.

5.6

Aus der Gesamtheit der vorstehenden Bemerkungen kann nach Ansicht des EWSA der Schluss gezogen werden, dass bei der Behandlung der verschiedenen Aspekte Konzepte zur Sprache kommen, die vage gefasst sind oder in den verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedlich — restriktiv oder extensiv — ausgelegt werden: Als Ausgangsgrundlage für die von der Kommission gewünschten Diskussion wird es daher notwendig sein, ein Einvernehmen über die zu verwendenden Begriffe und deren jeweiliges Bedeutungsspektrum herbeizuführen.

5.6.1

Das Gleiche gilt für die Steuerumgehung: Nach Auffassung des EuGH — der sich jedoch einige Steuerbehörden nicht anschließen — ist diese nicht an sich, sondern erst dann eine Straftat, wenn sie mit einer „rein künstlichen Konstruktion“ einhergeht — sie wird dann zu einem Betrug, der verwaltungs- und/oder strafrechtlich geahndet werden kann. Auch über diesen Grundsatz muss ein vorläufiges Einvernehmen hergestellt werden, das sich nicht nur auf seinen Geltungsbereich bezieht, sondern auch darauf, wie der Begriff der „rein künstlichen Konstruktion“ auszulegen ist.

6.   Besondere Bemerkungen: Anwendung von Missbrauchsbekämpfungsvorschriften gegenüber Drittländern

6.1

Die CFC-Vorschriften gelten grundsätzlich auch für in der EU gegründete Tochtergesellschaften von Unternehmen aus Drittländern sowie für die in Drittländern gegründeten Tochtergesellschaften von in der EU ansässigen Unternehmen; sie gelten jedoch nicht, wenn bilaterale Abkommen bestehen — was häufig der Fall ist. Mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist jedoch eine diskriminierende Behandlung bei der Niederlassung von Staatsangehörigen oder Unternehmen der Mitgliedstaaten in Drittländern und umgekehrt. Dies sollte auch für die Vorschriften zum Verbot oder zur Regulierung von Unterkapitalisierung, für die Körperschaftssteuern und insbesondere für die spezifischen Vorschriften zur Bekämpfung der Steuerumgehung gelten.

6.2

Der Ausschuss hat zu diesem Aspekt keine besonderen Bemerkungen vorzubringen. Er möchte allerdings unterstreichen, dass bei der Anwendung von Missbrauchsbekämpfungsmaßnahmen gegenüber neuen oder erst seit kurzem gegründeten Unternehmen, die aus bestimmten Drittländern stammen, sowie den Tochterunternehmen europäischer Unternehmen in diesen Ländern große Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Auf internationaler Ebene ist eine besorgniserregende weltweite Zunahme der Finanzkriminalität wie auch der Kriminalität in anderen Bereichen zu verzeichnen. Eine entschlossene und effiziente Zusammenarbeit bringt in diesem Bereich bessere und schnellere Ergebnisse als die Koordinierung zwischen den Verwaltungen. Hier handelt es sich weniger um ein steuerliches als vielmehr und vor allen Dingen um ein Sicherheitsproblem: Die Steuerbehörden können in diesem Bereich einen enorm wichtigen Beitrag leisten.

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  KOM (2006) 823 endg. vom 19.12.2006.

(2)  Emsland-Stärke C-110/99, Randnrn. 52-53; Halifax C-255/02, Randnrn. 74-75 (Fußnote der Kommission).


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/143


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Governance und Partnerschaft auf nationaler und regionaler Ebene und die Grundlage für Vorhaben im Bereich der Regionalpolitik“ (Befassung durch das Europäische Parlament)

(2009/C 77/30)

Das Europäische Parlament beschloss am 22. April 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

„Governance und Partnerschaft auf nationaler und regionaler Ebene und die Grundlage für Vorhaben im Bereich der Regionalpolitik“.

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt am 25. Mai 2008 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme. Den Stellungnahmeentwurf erarbeiteten Herr van IERSEL, Berichterstatter, und Herr PÁSZTOR, Mitberichterstatter.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 18. September) Herrn van IERSEL zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 96 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt die Initiative des Europäischen Parlaments zur Governance und Partnerschaft auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene im Bereich der Regionalpolitik.

1.2

Für den EWSA impliziert gute Regierungsführung ein „Regieren auf mehreren Ebenen“ und Partnerschaften mit repräsentativen zivilgesellschaftlichen Organisationen auf regionaler Ebene.

1.3

Der EWSA stimmt daher dem Rat und der Kommission zu, dass ein wirksames „Regieren auf mehreren Ebenen“ und eine bessere Governance bei der Anwendung der EU-Fonds und bei der Umsetzung von EU-Politiken wünschenswert sind. Dies ist keine Frage des Ob, sondern des Wie. Es ist eine Sache der Feinabstimmung zwischen den Bottom-up-Initiativen und den Rahmenbedingungen des Top-down-Prozesses.

1.4

Der EWSA billigt den Vorschlag des Parlaments zur Einrichtung eines formellen EU-Rates „Territoriale Entwicklung“. Dies würde die Bedeutung des „Regierens auf mehreren Ebenen“ unterstreichen, und Diskussionen und Vereinbarungen würden verbindlicher werden.

1.5

Nach Auffassung des EWSA ist „Regieren auf mehreren Ebenen“ ein flexibles Gefüge von Beziehungen zwischen der Kommission, den Regierungen sowie den regionalen und lokalen Behörden, das jeweils auf konkrete Situationen und thematische Erwägungen zugeschnitten wird; nicht aber eine starre Kompetenzhierarchie der verschiedenen Verwaltungsebenen. Eine gute Regierungsführung ist gekennzeichnet durch aufgeschlossene Beziehungen und eine weniger strenge Anwendung des „Subsidiaritätsprinzips“.

1.6

Europa braucht selbstbewusste, anpassungsfähige und nachhaltige Regionen und Städte. Wie verschiedene Beispiele zeigen, beziehen Regionen und Städte oft positive Impulse aus der Dynamik der wirtschaftlichen Internationalisierung. Dabei finden sie neue Wege, um sich erfolgreich zu behaupten.

1.7

Ungeachtet der breiten und oftmals komplexen Vielfalt der Verwaltungsstrukturen in den Mitgliedstaaten spricht sich der EWSA mit Blick auf die Zukunft nachdrücklich für Verfahren und Arbeitsmethoden aus, die die Verantwortung und Rechenschaftspflicht der Regionen und Städte stärken (1).

1.8

Belege aus der Praxis zeigen, dass durch die Dezentralisierung von Verantwortung und Rechenschaftspflicht Führungsstärke und Weitblick gefördert werden. Diese bilden in der Regel eine solide Grundlage für Partnerschaften unter öffentlichen Einrichtungen sowie für Partnerschaften zwischen öffentlichen Einrichtungen mit verschiedenen Beteiligten, z.B. Sozialpartnern, Handelskammern, Unternehmen, Entwicklungsagenturen, Wohnungsverbänden, Quangos, Umweltagenturen, Sozialagenturen, Bildungseinrichtungen aller Ebenen, Architekten und Künstlern.

1.9

Daher sollte der repräsentativen organisierten Zivilgesellschaft auf regionaler Ebene eine verantwortungsvolle und transparente Beteiligung an der Festlegung und Durchführung regionaler Programme der EU ermöglicht werden. Wenn die Gesichtspunkte von (nichtstaatlichen) Interessenträgern der lokalen und regionalen Ebene berücksichtigt werden, nehmen die Bürger die Werte der EU besser an.

1.10

Der EWSA ist der Auffassung, dass gut strukturierte Konsultationen in allen Phasen der Regionalpolitik — von der Festlegung, Überwachung bis zur Evaluierung — zu erfolgreichen Partnerschaften mit nichtstaatlichen Interessenträgern führen können (2).

1.11

Ein flexibles „Regieren auf mehreren Ebenen“ und gute Regierungsführung sowie die daraus erwachsenden Synergien bei der Erarbeitung maßgeschneiderter Lösungen können einen äußerst nützlichen Beitrag zur Erreichung des übergeordneten Ziels der Regionalpolitik der EU und der einzelnen Staaten leisten, das darin besteht, die vorhandenen Kräfte und verborgenen Potenziale der Regionen und Städte zu mobilisieren.

1.12

Es wäre sinnvoll, ein europäisches Austauschprogramm für Beamte der Regionen und Städte ins Leben zu rufen sowie ein gut strukturiertes System für den Erfahrungsaustausch und die Weitergabe bewährter Verfahren zu schaffen. Dabei können spezialisierte Forschungsinstitute und Hochschulen Hilfestellung leisten.

2.   Kontext

2.1

Der Begriff „Governance“ ist seit 2001 zu Recht in den Vordergrund gerückt, da es immer wichtiger wurde, eine direktere Verknüpfung zwischen den EU-Politiken und ihrer Einhaltung und Umsetzung durch die Mitgliedstaaten und in den Mitgliedstaaten herzustellen (3).

2.2

In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA den in Vorbereitung befindlichen Bericht des Europäischen Parlaments über Governance und Partnerschaft auf nationaler und regionaler Ebene (4). Dies ist ein positives Anzeichen dafür, dass sich das EP als europäisches Organ zunehmend dafür interessiert, wie die Regionalpolitik in den Mitgliedstaaten konkret gestaltet wird.

2.3

Generell lässt das EP-Papier erkennen, dass solche dynamischen Entwicklungen wie die Internationalisierung der Wirtschaft und der ständige Wandel zwangsläufig Anpassungen hinsichtlich der strikten Anwendung des „Subsidiaritätsprinzips“ verlangen. Benötigt werden flexiblere Interaktionen und Synergien zwischen den verschiedenen staatlichen Ebenen, um mit den weltweiten Entwicklungen Schritt zu halten und um die gemeinsam vereinbarten europäischen politischen Strategien erfolgreich zu verwirklichen. Die geänderten Verfahren zur Umsetzung der Lissabon-Strategie, bei denen sich Kommission, Rat und Mitgliedstaaten die Verantwortung teilen, sind ein anschauliches Beispiel für eine solche Interaktion und Umsetzung.

2.4

Das „Regieren auf mehreren Ebenen“, bei dem die Kommission, nationale Verwaltungen und Regierungen, regionale und lokale Behörden alle ihren eigenen Platz haben und sich gleichzeitig Zuständigkeiten in einem gemeinsamen Rahmen teilen, ist ebenfalls Ausdruck dieser Dynamik.

2.5

Regionalpolitik und regionale Projekte werden im Rahmen nationaler und regionaler Verwaltungsverfahren gestaltet, die in der Regel ausgesprochen kompliziert und vielfältig sind. Es liegt jedoch eindeutig im Interesse der Bürger und der Wirtschaft, dass politische Strategien und Projekte in ganz Europa korrekt und einheitlich umgesetzt werden.

2.6

Die Beachtung dieser Thematik durch das EP sowie die vielen Fragen, die es zu beantworten gilt, um eine Annäherung der Verfahren in der EU und damit optimale Erfolge in der Regionalpolitik zu erreichen, finden ihren Niederschlag in entsprechenden Überlegungen in Dokumenten der Kommission und des Rates.

2.7

Einige dieser Überlegungen und Grundsätze wurden im Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen „Innovation and regional policy“ (5) in Vorbereitung auf das Informelle Ministertreffen auf den Azoren zum Thema Territorialer Zusammenhalt und Regionalpolitik  (6) dargelegt. Sie wurden im Zeitraum 2000-2006 bereits in bestimmtem Umfang angewendet. Immer wieder weist die Kommission darauf hin, dass sich eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit nicht von einzelnen Mitgliedstaaten oder Regionen allein erreichen lässt: Es bedarf einer engen Zusammenarbeit zwischen allen maßgeblich beteiligten staatlichen Behörden, Unternehmen, Bürgern und Sozialpartnern in Partnerschaft mit der Europäischen Kommission und den europäischen Institutionen  (7). Außerdem erfordert eine erfolgreiche Evaluierung zeitgemäße administrative und institutionelle Kapazitäten.

2.8

Die Kommission führt aus, dass Fortschritte nur dann möglich sind, wenn Mehrebenensysteme für ein innovatives Regieren entwickelt werden. Dazu gehören eine strategische Koordinierung und ein angemessener Strategiemix für jede Region (es gibt keine allgemeingültige „Wunderstrategie“), der je nach Wahl Netzwerke, Cluster und Exzellenzzentren — möglicherweise unterstützt von regionalen Agenturen — einbezieht.

2.9

Für den Programmplanungszeitraum 2007-2013 nahm die Kommission in die Strategischen Kohäsionsleitlinien der Gemeinschaft erweiterte Zielsetzungen auf, deren Schwerpunkt auf Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Humanressourcen liegt. Im Rahmen des Ziels „Europäische territoriale Zusammenarbeit“ soll eine „Stärkung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit durch gemeinsame lokale und regionale Initiativen, der transnationalen Zusammenarbeit mit dem Ziel einer integrierten territorialen Entwicklung, der interregionalen Zusammenarbeit sowie des Erfahrungsaustauschs“ erreicht werden (8).

2.10

Die Minister für territorialen Zusammenhalt und Regionalpolitik legten in der Leipzig-Charta und in der Territorialen Agenda eine Agenda für Regionen und Städte fest (9). Auf den Azoren wurde beim Informellen Ministertreffen der nächste Schritt unternommen und aufgezeigt, wie die Agenda für Regionen und Städte umzusetzen ist. In dem Ersten Aktionsprogramm (10) unterstrichen die Minister nachdrücklich ihre „Überzeugung, dass das Regieren auf mehreren Ebenen ein grundlegendes Instrument für eine ausgewogene Raumentwicklung der EU darstellt“. Sie boten an, sich„mit ausgewählten Interessengruppen sowie lokalen und regionalen Behörden über die Umsetzung der Prioritäten der territorialen Agenda zu beraten“.

2.11

In diesem Programm unterstrichen die Minister ferner, dass die Ziele der Territorialen Agenda am besten im Rahmen der institutionellen Bestimmungen der einzelnen Mitgliedstaaten verfolgt werden können, und zwar durch die starke Einbindung nationaler, regionaler und lokaler Behörden und Akteure sowie durch einen Dialog mit der Europäischen Kommission und den anderen europäischen Institutionen (11). Auch hier ist festzustellen, dass die Betonung auf der Notwendigkeit von Gesprächen, gegenseitiger Unterstützung und gemeinsamen Maßnahmen in der gesamten Kette des Regierens — von den lokalen Akteuren in ganz Europa bis zur Europäischen Kommission und umgekehrt — liegt.

2.12

In den fünf Aktionslinien unterstrichen die Minister die Notwendigkeit einer Stärkung der territorialen Mehrebenen-Governance, neuer Formen der Partnerschaft und der territorialen Governance sowie einer territorialen/urbanen Dimension in den sektorbezogenen Politikbereichen.

2.13

Dennoch ist es enttäuschend, wenn auch typisch, dass im Aktionsprogramm die Zuständigkeit für die konkrete Umsetzung, zumindest in der dort angeführten Definition, nach wie vor fast ausschließlich bei den Mitgliedstaaten liegt und dass regionale und lokale Behörden und Beteiligte nur selten als unverzichtbarer Bestandteil des Prozesses erwähnt werden. Das traditionelle Konzept der „Subsidiarität“ hat weiterhin die Oberhand.

3.   Allgemeine Anmerkungen

3.1

Es bestehen Hindernisse für die Transparenz, Einheitlichkeit und Effizienz bei der Planung und Umsetzung der Regionalpolitik. Diese Hindernisse haben ihre Ursache teilweise in den Organisations- und Arbeitsmethoden der Generaldirektionen und der europäischen Fonds auf EU-Ebene sowie in deren Zusammenspiel. Zum großen Teil allerdings sind sie auf Versäumnisse und Defizite beim „Regieren auf mehreren Ebenen“ und bei der Umsetzung von politischen Strategien und Programmen zurückzuführen.

3.2

In dem Entwurf eines Berichts des EP wird zu Recht darauf verwiesen, dass eine Reihe positiver Initiativen ergriffen worden sind, um die Governance auf EU-Ebene zu verbessern, z.B. URBAN I und II, LEADER und Urbact.

3.3

Der EWSA hält jedoch einige der Initiativen für recht vage, so z.B. die Territoriale Agenda. Außerdem liegen keine praktischen Belege dafür vor, in welchem Umfang das „Regieren auf mehreren Ebenen“ zum Erfolg der genannten Programme beiträgt.

3.4

Obwohl das „Regieren auf mehreren Ebenen“ allmählich in der gesamten Union zur gängigen Praxis wird, fehlt es noch immer an transparenten und einheitlichen Arbeitsmethoden, und die Kommunikation lässt weiterhin zu wünschen übrig. Dies ist weitgehend darauf zurückzuführen, dass die EU nicht als Einheitsstaat wirkt.

3.5

Außerdem haben die nationalen Regierungen und die anderen Interessenträger wie z.B. dezentrale Behörden je nach nationaler Interessenlage und kulturellen Traditionen sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Rolle der EU im Konzept des „Regierens auf mehreren Ebenen“.

3.6

Eine dritte Überlegung hinsichtlich möglicher Probleme mit dem „Regieren auf mehreren Ebenen“ ergibt sich aus der breiten Vielfalt von verwaltungstechnischen und politischen Konzepten in den einzelnen Mitgliedstaaten, die tief verwurzelt und meist nicht wandlungsfähig sind.

3.7

Diese Überlegungen zeigen, dass ein allgemeingültiger Ansatz auf EU-Ebene bei der regionalen Planung und Programmierung nahezu unmöglich ist. Nationale und oftmals auch regionale Strukturen, Konzepte und Einstellungen sind nach wie vor ausschlaggebend. Dennoch erfordern praxisbezogene Umstände wie internationale finanzielle und sozioökonomische Entwicklungen, dass die Verfahren überprüft werden, damit die Regionen anpassungsfähiger und für Veränderungen empfänglich werden.

3.8

Die EU-Regionalpolitik sollte sowohl ein „Bottom-up“- als auch ein „Top-down“-Prozess sein. „Bottom-up“, weil die Regionen ihre sozialen und wirtschaftlichen, Umwelt- und Wettbewerbsbedingungen ermitteln und verbessern müssen und weil europäische (und nationale) Regionalpolitik notwendigerweise vor Ort umgesetzt werden muss. „Top-down“, weil die Finanzmittel und Rahmenbedingungen auf EU- und nationaler Ebene bereitgestellt bzw. festgelegt werden. Es handelt sich nie um eine Einbahnstraße.

3.9

Die Initiativen auf EU-Ebene und die guten Absichten der Mitgliedstaaten zur Förderung wirksamerer und stärker konvergierender Verwaltungsansätze in ganz Europa sind positiv zu beurteilen. Eine gute Regierungsführung in der Regionalpolitik verlangt jedoch zuallererst Anpassungen bei den starren Formen des „Regierens auf mehreren Ebenen“, was darauf hinausläuft, dass sich der Regierungsstil und die Mentalität ändern müssen.

3.10

Wie die in Abschnitt 2 genannten Dokumente zeigen, teilt der Rat diese Auffassung weitgehend. Das ist zweifellos ein großer Schritt nach vorn. Vom Wort bis zur Tat und Umsetzung ist es jedoch oft ein weiter Weg.

3.11

Eine wirksame Umsetzung ist in Ländern und Regionen mit dezentralen Traditionen einfacher als in Systemen mit Zentralverwaltung. Zu zusätzlichen Komplikationen kommt es in einigen Mitgliedstaaten, in denen es keine feinabgestimmte Regionalpolitik gibt und in denen regionale Behörden noch nicht vollständig etabliert sind.

3.12

Der EWSA verweist darauf, dass als grundlegende Voraussetzung für eine wirksame Regionalpolitik bessere und genauere europäische Statistiken benötigt werden.

3.13

Der Ausschuss unterstützt alle Bemühungen zur Verbesserung der europäischen Governance. Es kommt auf eine bessere und transparentere Verknüpfung zwischen politischen Strategien und deren Umsetzung an. Für die Umsetzung ist die Mitwirkung regionaler und lokaler Interessenträger sowohl des öffentlichen als auch des privaten Sektors unentbehrlich. Sie müssen sichtbarer einbezogen werden. Ihre Einbindung bewirkt in der Regel ein gemeinsames Engagement und gemeinsame Verantwortung, was nach Auffassung des EWSA von entscheidender Bedeutung ist.

4.   „Regieren auf mehreren Ebenen“: Interaktion zwischen der Kommission, den Regierungen und Regionen

4.1

Auf Kommissionsebene sollte für eine einheitlichere Präsentation der verschiedenen Gemeinschaftsfonds gesorgt werden, die einen Bezug zur Regionalpolitik aufweisen. Das Gesamtbild der Grundsätze, Vorgaben und Zielsetzungen der Gemeinschaftspolitiken in diesem Bereich ist für Außenstehende ziemlich verwirrend.

4.2

Es bedarf eines gemeinsam vereinbarten Ansatzes der verschiedenen Generaldirektionen der Kommission. In dieser Hinsicht kann die dienststellenübergreifende Arbeitsgruppe für Stadtentwicklung (12) gute Dienste leisten.

4.3

Eine einheitlichere Präsentation und ein sichtbarer gemeinsamer Ansatz auf EU-Ebene können auch Vorbildwirkung für Regierungen und Ministerien haben und sie zur Erarbeitung der bisher oftmals auf nationaler Ebene fehlenden integrierten Konzepte für Regionen und Städte anregen. Auf jeden Fall ließe sich damit in gewissem Umfang die Kluft zwischen der EU-Ebene und den Regionen und Städten überwinden.

4.4

Die flexible Umsetzung des „Regierens auf mehreren Ebenen“ und die daraus erwachsenden Synergien können ein willkommener Anreiz für die Anpassung der Verwaltungspraktiken in den Mitgliedstaaten sein. Da das oberste Ziel der Regionalpolitik darin besteht, die (verborgenen) Potenziale der Regionen und Städte in größtmöglichem Umfang zu aktivieren, müssen die staatlichen Strukturen transparent und kohärent aufgebaut sein.

4.5

Die EU-Fonds müssen bei guter Koordinierung mit den nationalen Programmen Anreize für die Förderung dieser Potenziale bieten.

4.6

Der Kommission kommt auch eine größere Rolle bei der Anbindung der Regionen und Städte an Europa und der Unterstützung selbstbewusster, anpassungsfähiger und umweltgerechter Regionen und Städte zu: indem sie auch auf dezentraler Ebene die Bedeutung der Lissabon-Agenda erläutert (die bisher immer noch nicht richtig verstanden wird), Städte und Ballungsgebiete für ihre künftige Rolle sensibilisiert und bewährte Verfahren in ganz Europa verbreitet (13). Dabei können spezialisierte Forschungsinstitute und Hochschulen Hilfestellung leisten.

4.7

Nach Auffassung des EWSA darf dies natürlich keine neuen bürokratischen Verfahren und Verwaltungsvorschriften nach sich ziehen, sondern bedeutet stattdessen weniger Bürokratie sowie eine gezielte und konsequente Dezentralisierung.

4.8

Der EWSA hält eine Dezentralisierung durchaus für erfolgversprechend, da sie die Verantwortung der regionalen und lokalen Behörden akzentuiert und deren Rechenschaftspflicht fördert.

4.9

Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht sind das A und O. Sie bilden das Fundament, in dem die Grundpfeiler der regionalen Entwicklung — Führungsstärke, Weitblick und Konsequenz — verankert sind. Dafür gibt es in Europa hervorragende Beispiele (14).

4.10

Die EU und die nationalen Regierungen sollten sich mit den Mechanismen und der Arbeitsweise der erfolgreichen Regionen, Städte und großstädtischen Ballungsgebiete befassen. Bei ihnen handelt es sich nicht um kleine „Staaten“. Sie sind anders geartet; ihre Verwaltung unterscheidet sich grundlegend von der Verwaltung auf staatlicher Ebene.

4.11

Ihr Herangehen wird oft von konkreten Zielsetzungen beherrscht, die Triebkraft für die Gesamtentwicklung sind (15); ihr Image wird meist von der Schaffung besserer Bedingungen für (ausländische) Investitionen, von Clustern und Humanressourcen bestimmt. Zugleich spielt heutzutage die nachhaltige Entwicklung eine große Rolle, ebenso wie die soziale Eingliederung und die Qualität der Arbeits- und Lebensbedingungen.

4.12

Für Beamte der Regionen und Städte könnte ein europäisches Austauschprogramm eingerichtet werden. Es zahlt sich aus, grenzüberschreitend voneinander zu lernen und sich mit anderen Ansätzen und Strategien z.B. in Sachen Raumentwicklung, Standortförderung und sozialer Wohnungsbau vertraut zu machen.

4.13

Der EWSA empfiehlt die Einrichtung von Regionen- und Städtepartnerschaften in ganz Europa, wie sie bereits in einigen anderen Politikbereichen bestehen, um die Regionen dieser Staaten an dezentrale Programme und Verfahren heranzuführen.

4.14

Solch ein gut strukturierter Austausch innerhalb Europas kann zu einem Mentalitäts- und Einstellungswandel beitragen und so die Ausdruckskraft und Anpassungsfähigkeit der Regionen und Städte fördern. Wie eine Reihe von Beispielen zeigt, beziehen Regionen und Ballungsgebiete oft positive Impulse aus der Dynamik der wirtschaftlichen Internationalisierung. Dabei finden sie neue Wege, um sich erfolgreich zu behaupten.

4.15

Diese Bewusstseinsbildung kann durch Gemeinschaftsprogramme unterstützt werden — entweder durch Projekte, die von den Fonds kofinanziert werden, oder mittels gezielter Kommunikation und Beratung durch Beamte der Kommission. Ihnen können spezielle Beratungsgremien zur Seite stehen, die grenzüberschreitend tätig sind. Sehr hilfreich wäre auch die Unterstützung des EP bei der Strukturierung dieses bereits angelaufenen Prozesses.

4.16

Der EWSA billigt den Vorschlag des Europäischen Parlaments zur Einrichtung eines formellen EU-Rates „Territoriale Entwicklung“. Dies würde die Bedeutung des „Regierens auf mehreren Ebenen“ unterstreichen. Ein solcher Rat wäre eine gute Plattform für die Entwicklung von Ideen zu einem ganzheitlichen Konzept für Regionen und Städte. Diskussionen und Vereinbarungen auf Ebene des Rates würden damit verbindlicher werden.

4.17

Auf der Grundlage des Ersten Aktionsprogramms (2007) (16) könnte eine europäische Debatte über die Modernisierung der Verwaltungssysteme und -praktiken im Hinblick auf das Verhältnis von Staat und Regionen/Städte in die Wege geleitet werden. Die Debatte sollte folgende Zielsetzungen haben: Bürokratieabbau, Vertrauensbildung, Förderung anpassungsfähiger und nachhaltiger Regionen und Städte, Transparenz, Verkürzung der Wege zwischen dezentralisierten Ebenen und EU-Ebene.

4.18

Diese Vorschläge sind als Bestandteil einer besseren „Governance“ im Verhältnis zwischen den staatlichen Stellen auf allen Ebenen zu verstehen. Dabei sollte dieses Verhältnis nicht oder nicht länger als starre Kompetenzhierarchie staatlicher Ebenen betrachtet werden. Vielmehr ist „Regieren auf mehreren Ebenen“ nach Ansicht des EWSA ein flexibles Gefüge von Beziehungen zwischen der Kommission, den nationalen Regierungen sowie den regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, das jeweils auf konkrete Situationen und thematische Erwägungen zugeschnitten wird.

5.   Gute Regierungsführung braucht Partnerschaft mit der organisierten Zivilgesellschaft

5.1

Nach Auffassung des EWSA erfordert eine zeitgemäße lokale und regionale Verwaltung die aktive Einbindung verschiedener Teile der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften. Diese können vielfältige Fähigkeiten und Ansichten einbringen, die spezifischen Bedürfnissen gerecht werden. Dies wird auch in verschiedenen Überlegungen des Rates explizit oder implizit anerkannt (17).

5.2

Bezüglich der „Partnerschaft“ ist besonders auf Artikel 11 der allgemeinen Strukturfondsverordnung hinzuweisen, in dem die Anwendung des Grundsatzes der Partnerschaft, d.h. die Konsultation und Einbeziehung sozialer und wirtschaftlicher Akteure und der organisierten Zivilgesellschaft gefordert wird (18).

5.3

Nach Ansicht des EWSA beinhaltet gute Regierungsführung in der Regionalpolitik die verantwortungsvolle und transparente Beteiligung einer repräsentativen und legitimierten Zivilgesellschaft, die aus klar umrissenen Akteuren der regionalen Ebene besteht. Diese sollten bei der Festlegung, Planung und Bewertung regionaler Projekte angehört und einbezogen werden. Die Zusammenarbeit sollte auch bei interregionalen und grenzüberschreitenden Projekten, unter anderem im Rahmen des Europäischen Verbunds für territoriale Zusammenarbeit, erfolgen (19).

5.4

Allgemein gesehen vertritt der EWSA die Ansicht, dass Dezentralisierung für die Förderung von Verantwortung und Rechenschaftspflicht lokaler und regionaler Gebietskörperschaften begrüßenswert ist; außerdem werden auf diese Weise nichtstaatliche Interessenträger wie Sozialpartner, Handelskammern, Unternehmen, Entwicklungsagenturen, Wohnungsverbände, Quangos, Umweltagenturen, Sozialagenturen, Bildungseinrichtungen aller Ebenen, Gesundheitseinrichtungen, Architekten und Künstler mobilisiert.

5.5

Trotz der Absichtserklärungen des Rates und eines ständigen Dialogs zwischen der Kommission, den Mitgliedstaaten und den Regionen zur Förderung solcher Partnerschaften werden diese bisher nur begrenzt praktiziert (20). In vielen Fällen gibt es sie einfach nicht. Bewährte Beispiele sollten veröffentlicht werden.

5.6

Eine repräsentative Zivilgesellschaft muss ihrerseits auch auf regionaler Ebene ausreichend organisiert sein und über die entsprechenden Zuständigkeiten verfügen. Die Schaffung solcher Bedingungen ist dort nicht einfach, wo die Zivilgesellschaft schwach entwickelt ist oder wo sie eine breite Palette von Interessen, die manchmal auch gegensätzlich sind, vertritt.

5.7

Der Kommission sollte die Möglichkeit gegeben werden, als Motor und Förderer des Lernprozesses bei einer dezentralen Governance zu fungieren.

5.8

Auch durch das Bewusstsein und den Weitblick dafür, dass in den Regionen und Städten Veränderungen und Anpassungen erforderlich sind, können mehr und bessere Partnerschaften gefördert werden. Die Erfahrung zeigt, dass ein konsequenter Weitblick staatlicher Behörden Raum für eine intensivere Zusammenarbeit mit anderen Interessenträgern schafft. Auch Artikel 11 über die Partnerschaft in der Strukturfondsverordnung sollte unter diesem Blickwinkel berücksichtigt werden.

5.9

Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten. Durch bessere Governance auf dezentraler Ebene wird die Gesellschaft insgesamt anpassungsfähiger und besser für die Zukunft gewappnet.

5.10

Angesichts der Tatsache, dass die Europäische Kommission beabsichtigt, zum Ende dieses Jahres ein spezielles Dokument zum Thema Partnerschaft im Rahmen der EU-Kohäsionspolitik zu veröffentlichen, schlägt der EWSA vor, auf dieses Thema in einer gesonderten Stellungnahme detaillierter einzugehen.

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Nach Ansicht des EWSA sind unter „Regionen“ und „Städten“ nicht unbedingt die vorhandenen Verwaltungseinheiten zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um eine dynamische Vorstellung von kohärenten sozioökonomischen Räumen, die Netzwerkregionen, Städte und deren Umland, miteinander verbundene Gemeinden und Ballungsgebiete umfassen.

(2)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Partnerschaft bei der Durchführung der Strukturfonds“, ABl. C 10 vom 14.1.2004, S. 21 .

(3)  Das Weißbuch Europäisches Regieren, KOM(2001) 428 endg. vermittelte u.a. eine neue allgemeine Vorstellung davon, wie die EU funktionieren könnte und sollte: Entscheidend sind eine bessere Einbindung aller Akteure, mehr Offenheit und die klare Darstellung der Zusammenhänge zwischen Politik, Rechtsetzung und konkreten Ergebnissen. Vor allem geht es darum, die Kluft zwischen der Union und ihren Bürgern zu überbrücken.

(4)  PE407.823v01-00 — Berichterstatter: Jean-Marie BEAUPUY.

(5)  SEC(2007) 1547 vom 14.11.2007.

(6)  Treffen während der portugiesischen Ratspräsidentschaft, 23./24. November 2007.

(7)  Ebenda S. 6. Siehe auch S. 18: entscheidende Faktoren für eine erfolgreiche Region.

(8)  Ebenda S. 17.

(9)  „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ und „Territoriale Agenda der Europäischen Union: Für ein wettbewerbsfähigeres nachhaltiges Europa der vielfältigen Regionen“, Informelles Ministertreffen zur Stadtentwicklung am 24./25. Mai 2007.

(10)  „Erstes Aktionsprogramm für die Umsetzung der Territorialen Agenda der Europäischen Union“, 23. November 2007.

(11)  Ebenda S. 8.

(12)  Die dienststellenübergreifende Arbeitsgruppe für Stadtentwicklung gibt es seit 2007. Es sind alle GD vertreten, die spezifische Interessenbereiche von Städten behandeln.

(13)  Die Kommission hat für 26 französische Regionen eine Studie in Form eines Leistungsvergleichs erstellt.

(14)  Eines dieser hervorragenden Beispiele ist Bilbao, wo zwanzig Jahre Führungsstärke, Weitblick und Konsequenz eine moderne, zukunftsorientierte Metropole in einer Region hervorgebracht haben, die Anfang der achtziger Jahre ein ausgesprochenes Problemgebiet war. Diese Initiative in Bilbao wurde von der Zentralregierung und baskischen Regierung und von der Provinz Bizkaia finanziell unterstützt, was ein Beispiel für eine effiziente Partnerschaft zwischen öffentlichen Einrichtungen und für überzeugende Partnerschaften mit der organisierten Zivilgesellschaft und dem privaten Sektor ist.

(15)  Interessante Beispiele hierfür sind die Hochgeschwindigkeitsanbindung von Lille, die Olympischen Spiele und die Begehung des 500. Jahrestags der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus in Barcelona sowie ein zukunftsorientiertes neues Stadtzentrum in Birmingham. In allen drei Fällen bildeten diese Zielvorhaben den Ausgangspunkt für eine neue Entwicklung.

(16)  Siehe Erstes Aktionsprogramm, S. 5: Es werden neue Formen der territorialen Governance benötigt, um einen besser integrierten Ansatz und eine flexible Zusammenarbeit zwischen verschiedenen territorialen Ebenen zu fördern.

(17)  Siehe Abschnitt 2.

(18)  Verordnung (EG) Nr. 1038/2006 des Rates (Juli 2006), die auf alle EU-Programme der Kohäsionspolitik für den Zeitraum von 2007 bis 2013 anzuwenden ist. Es versteht sich von selbst, dass Partnerschaften auf nationaler Ebene, auch wenn diese noch so wichtig sind, Partnerschaften mit der regionalen Zivilgesellschaft nicht ersetzen können.

(19)  Verordnung (EG) 1082/2006 (Juli 2006). Diese Verordnung bezüglich grenzüberschreitender Maßnahmen beschränkt sich auf Verwaltungspraktiken.

(20)  Der EWSA hat sich mehrfach für Partnerschaften bei der Umsetzung der Regionalpolitik ausgesprochen, z.B. in den Stellungnahmen zu der „Partnerschaft bei der Durchführung der Strukturfonds“, ABl. C 10 vom 14.1.2004, S. 21, und zu der „Rolle der Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Umsetzung der Kohäsionspolitik und der Politik der regionalen Entwicklung“, ABl. C 309 vom 16.12.2006. Regionale Partnerschaften sollten auch in anderen Bereichen wie in dem Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation und dem FRP7 sichergestellt werden (siehe Stellungnahme des EWSA zum Thema „Regionale und lokale Politik zur Bewältigung des industriellen Wandels: die Rolle der Sozialpartner und der Beitrag des Rahmenprogramms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation“, ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 12).


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/148


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Steuerbefreiungen bei der endgültigen Verbringung persönlicher Gegenstände durch Privatpersonen aus einem Mitgliedstaat (kodifizierte Fassung)“

KOM(2008) 376 endg. — 2008/0120 (COD)

(2009/C 77/31)

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 18. Juni 2008, den Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Steuerbefreiungen bei der endgültigen Verbringung persönlicher Gegenstände durch Privatpersonen aus einem Mitgliedstaat (kodifizierte Fassung)“

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags vollkommen zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 17. September) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

 

Brüssel, den 17. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


31.3.2009   

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Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/148


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die EU-Afrika-Strategie“

(2009/C 77/32)

Mit Schreiben vom 11. Juli 2007 ersuchte Kommissionsmitglied Louis MICHEL, zuständig für Entwicklung und humanitäre Hilfe, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema

„Die EU-Afrika-Strategie“.

Die mit den Vorarbeiten betraute Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 17. Juli 2008 an. Berichterstatter war Herr DANTIN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 18. September) mit 89 Ja-Stimmen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

In unserem von der Globalisierung geprägten 21. Jahrhundert müssen die Beziehungen zwischen Europa und Afrika unter Berücksichtung der Lehren aus der Vergangenheit in beträchtlichem Maße weiterentwickelt werden, wobei das Ziel vor allem eine Partnerschaft mit gleichen Rechten und Pflichten ist. Tatsächlich ist nach Jahrzehnten der Entwicklungszusammenarbeit und –hilfe eine weitere Verschärfung und Ausbreitung des Armutsproblems in Afrika festzustellen: Die Früchte eines falsch ausgerichteten und wenig beschäftigungsfördernden Wachstums sind ungleich verteilt, was die Ungleichheiten weiter verstärkt; mehr als 55 % der südlich der Sahara lebenden Afrikaner müssen mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen; fast 70 % aller Erwerbsquellen sind informelle Beschäftigungsverhältnisse, die nicht mehr als das Überleben sichern, davon mehr als 57 % in der Landwirtschaft. Dies zeigt, dass ein dramatischer Mangel an menschenwürdigen und produktiven Arbeitsplätzen herrscht.

1.2

Was letzten Endes auf dem Spiel steht, ist die Entwicklung und Stabilisierung des afrikanischen Kontinents, aber auch die Sicherheit des europäischen Kontinents und seine Fähigkeit zur Erzielung eines auf Dauer nachhaltigen Wachstums.

1.3

Mit der bisher in Anwendung der verschiedenen Abkommen (Lomé, Yaoundé, Cotonou) betriebenen Entwicklungspolitik der Europäischen Union und den dafür bereitgestellten Finanzmitteln sind die gewünschten Ergebnisse vor allem in Bezug auf die Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze nicht erreicht worden. Angesichts dieser Feststellung und der Tatsache, dass sich an der derzeitigen Lage etwas ändern muss und die Karten neu gemischt werden müssen, begrüßt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) den Erfolg des EU/Afrika-Gipfels, der am 8./9. Dezember 2007 in Lissabon stattfand.

1.3.1

Besonders begrüßt der Ausschuss, dass die Frage der Beschäftigung als Querschnittsthema berücksichtigt wurde.

1.4

Nach Auffassung des EWSA spielt die Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze eine zentrale Rolle bei der Verringerung der Ungleichheiten und der Armut sowie bei der sozialen Integration und beim Aufbau menschenwürdiger Lebensbedingungen, die eine notwendige Voraussetzung sind, um Extremismus und Konflikte zurückzudrängen und somit für die erforderliche Stabilität der Staaten zu sorgen.

1.5

Mit Blick auf die Schaffung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen hält es der Ausschuss für notwendig, speziell auf dieses Kernthema ausgerichtete Maßnahmen einzuleiten und sich dabei von den im Folgenden dargelegten Parametern leiten zu lassen. Diese sind zwar an sich unterschiedlicher Art, weisen jedoch aufgrund hoher Synergieeffekte Verbindungen und somit Wechselwirkungen auf, so dass sie sich in der Summe zu einem politischen Vorgehen zusammenfügen.

1.5.1

Ein Wachstum, das im Wesentlichen auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen beruht, schafft nur wenige Arbeitsplätze. Daher muss eine Neuausrichtung des Wachstums auf Erzeugnisse der Erstverarbeitung oder Fertigerzeugnisse stattfinden. Eben dieses Ziel muss mit den Investitionen verfolgt werden, indem sie sich auf Bereiche konzentrieren, die diesbezüglich eine hohe Wertschöpfung erwarten lassen.

1.5.2

Dem Privatsektorund somit auch den KMUkommt eine zentrale Bedeutung zu. Die EU muss die Entwicklung der KMU zu einem Schwerpunkt ihrer Entwicklungspolitik machen.

1.5.3

Die gegenwärtige Verteuerung der Rohstoffe ist ein weiterer Faktor, der dazu führen muss, den Agrarsektor zur strategischen Priorität der Entwicklungspolitik zu machen. Da bedeutende Gebietsteile landwirtschaftlich genutzt werden und ein großer Teil der ländlichen Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt ist, muss dieser Bereich einen Beitrag zur Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln, zur Entwicklung einer verarbeitenden Industrie und damit zur Eindämmung der Landflucht leisten.

Es gilt, eine kurz-, mittel- und langfristig angelegte Agrarpolitik zu konzipieren und dabei auch dafür Sorge zu tragen, dass vorrangig Mittel für ihre tatsächliche Umsetzung bereitgestellt werden. An der Gestaltung dieser Politik müssen die landwirtschaftlichen Organisationen mitwirken.

1.5.4

Die Entwicklung der Humanressourcen ist ein unumgänglicher Faktor einer jeden Entwicklungsstrategie. Daher ist es angezeigt, den Bedarf an Arbeitsplätzen und den Arbeitsmarkt zu analysieren, Prognosen zu erstellen und bereits im Vorfeld die Hauptaufgaben zu bestimmen, die sich bei der Abstimmung des Ausbildungsangebots auf die Arbeitsplätze stellen.

1.5.5

Zwar ist die regionale und subregionale Wirtschaftsintegration erheblich vorangeschritten, doch ist das Handelspotenzial bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Insbesondere müssen die Maßnahmen zur Harmonisierung der Zollverfahren aufeinander abgestimmt, Infrastrukturen entwickelt, der freie Personenverkehr gewährleistet werden usw. Vor diesem Hintergrund bedauert der Ausschuss, dass die regionalen Verhandlungen über den Abschluss von Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die auch eine regionale Integration zum Ziel haben, bislang nicht zu Ende geführt werden konnten.

1.5.6

Begleitend und unterstützend zu einer jeden Entwicklungspolitik muss ein sozialer Dialog geführt werden, und zwar insbesondere im Rahmen der Aushandlung von Tarifverträgen. Daher sollten starke und unabhängige Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände auf- bzw. ausgebaut werden.

1.5.7

Die Einbindung nichtstaatlicher Akteure ist untrennbar mit der Beschäftigungsentwicklung verbunden und muss im Mittelpunkt der gemeinsamen EU-Afrika-Strategie stehen. Daher müssen diese Akteure an der Konzipierung und Umsetzung der nationalen und regionalen Richtprogramme beteiligt werden.

1.5.8

Eine verantwortungsvolle Regierungs- und Verwaltungsführung (Good Governance) ist eine Vorbedingung für das Vertrauen von Investoren. So gesehen ist sie von wesentlicher Bedeutung für die Beschäftigung und muss insbesondere mit Blick auf die Wahrung der Menschen- und Arbeitnehmerrechte (gewerkschaftliche Rechte, Arbeitsnormen, Korruptionsbekämpfung u.a.) in ihrer Gesamtheit betrachtet werden. In Bezug auf diesen letzten Punkt müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre Finanzhilfen davon abhängig machen, dass der Verwendungszweck dieser Mittel rückverfolgbar sein muss.

2.   Einführung

2.1

Mit Schreiben vom 11. Juli 2007 ersuchte Kommissionsmitglied Louis MICHEL, zuständig für Entwicklung und humanitäre Hilfe, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) um Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme über einige Fragen, die sich aus der Mitteilung „Von Kairo nach Lissabon — die strategische Partnerschaft zwischen der EU und Afrika“ ergeben, insbesondere über die Frage, wie das Beschäftigungsdefizit in Afrika abgebaut werden kann.

2.2

Der EWSA begrüßt dieses Ersuchen, das, ohne die seit Jahrzehnten in Afrika geführte Entwicklungspolitik zu ignorieren, auf die Prüfung der Frage gerichtet ist, welcher Zukunftsentwurf insbesondere mit den in der Erklärung „Die strategische Partnerschaft“ enthaltenen Beschlüssen des EU-Afrika-Gipfels sowie dem beigefügten und für ihre Umsetzung vorgesehenen „Ersten Aktionsplan“ (2008-2010) verfolgt wird.

2.3

Indem die Kommission den Ausschuss mit dem Thema Beschäftigung befasst, zeigt sie einerseits, dass sie dieses Thema zu einem wesentlichen Ziel ihrer Entwicklungspolitik gemacht hat, und erkennt andererseits auch den wirtschaftlichen und sozialen Akteuren bei der Beseitigung der Armut durch Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze eine Rolle zu. Der EWSA nimmt dies mit Befriedigung zur Kenntnis.

Nach einem kurzen Blick auf die Politik der Vergangenheit und deren Ergebnisse sowie einer Betrachtung der heutigen Situation Afrikas und der künftigen Politik sollen in dieser Stellungnahme die Maßnahmen herausgestellt werden, die nach Meinung des Ausschusses für die Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze unerlässlich sind. Diese Untersuchung erfolgt vor dem Hintergrund der Leitlinien und des Aktionsplans, die auf dem EU-Afrika-Gipfel vom 8./9. Dezember 2007 in Lissabon verabschiedet wurden. Dabei stützt sich der EWSA insbesondere auf seine früheren Arbeiten zur Entwicklung in Afrika (1).

3.   Allgemeine Betrachtungen

3.1

Der afrikanische Kontinent ist durch eine große Vielfalt gekennzeichnet. Er besteht aus Staaten, die in Bezug auf Geschichte, Kultur, Ethnien, natürliche Ressourcen (Erze, Erdöl, Diamanten usw.), Klima sowie Demokratie, verantwortungsvolle Regierungs- und Verwaltungsführung und Achtung der Menschenrechte usw. zum Teil sehr unterschiedlich sind, woraus sich Unterschiede im wirtschaftlichen und sozialen Niveau ergeben. Es ist also heikel, den Kontinent als etwas Globales und Monolithisches begreifen und betrachten zu wollen. Dennoch gibt es gewisse gemeinsame Merkmale, darunter in erster Linie die Beziehungen zu Europa, wie sie in vergangenen Zeiten bestanden oder künftig bestehen werden oder aber aus einer gemeinsamen Geschichte herrühren, aus der im Rahmen einer ebenfalls gemeinsamen Dynamik des Wandels eine gemeinsame Zukunft entstehen kann.

3.2

Vor dem Hintergrund der globalisierten Welt dieses neuen Jahrhunderts muss die Lektion der Vergangenheit gelernt und das Verhältnis zwischen Europa und Afrika in beträchtlichem Maße weiterentwickelt werden. Es muss sich auf das Bewusstsein gründen, dass eine gemeinsame Zukunft errichtet werden muss, die eher auf den gemeinsamen Herausforderungen und Gefahren und der Logik beiderseitiger Interessen als auf zeitweilig geteilter Geschichte, auf Mitgefühl oder Treuegefühl beruht, auch wenn dies einige Partner auf beiden Kontinenten mit ihren Widersprüchen konfrontiert.

3.3

Es geht um enorm viel. Fünfzehn Kilometer vom europäischen Boden entfernt beherbergt der afrikanische Kontinent auf seinem Territorium alle „großen Gefahren“ der heutigen Welt, nämlich u.a. unkontrollierte Migration, Ausbruch von Epidemien, Klima- und Umweltkatastrophen, terroristische Bedrohung. Aber es ist auch der Kontinent mit dem bedeutendsten Potenzial, ob nun an natürlichen Ressourcen oder einer sich abzeichnenden Konsum- und Investitionsnachfrage.

3.4

Zwar wird die Europäische Union der erste Wirtschaftspartner Afrikas und der größte Geber bleiben. Dieses historische Monopol wird jedoch jetzt durch die Offensive der „Geldgeber aus den Schwellenländern“ durchbrochen, hier an erster Stelle China, aber auch aus Indien, den großen Staaten Lateinamerikas, den Golfmonarchien und sogar dem Iran, sowie durch die Rückkehr der USA, die sowohl auf die Sicherheit ihrer Energieversorgung bedacht sind, als auch die terroristische Bedrohung abwenden, das Feld der Verteidigung der christlichen Werte und der Demokratie erweitern und der für sie beunruhigenden chinesischen „Unterwanderung“ entgegentreten wollen (2).

3.5

Es steht jedoch außer Zweifel, dass die Sicherheit des europäischen Kontinents wie auch seine Fähigkeit, ein beständiges Wachstum zu gewährleisten, künftig eng und unmittelbar mit der Entwicklung und Stabilisierung des afrikanischen Kontinents verbunden sein wird. Europa kann nicht auf mittlere oder lange Sicht eine Insel des Wohlstands sein, wenn in fünfzehn Kilometern Entfernung ein Kontinent liegt, dessen Hauptmerkmal das Elend ist. Hier geht es um die dauerhafte Entwicklung der Europäischen Union, die zur Kenntnis nehmen muss, dass Afrika von nun an „ihre Grenze“ ist.

3.6

„Charakteristisch für die Afrika-Strategie Europas war lange Zeit eine asymmetrische Geber-Empfänger-Beziehung, die zudem durch ein in ideologischer Hinsicht falsches gutes Gewissen und eine einseitige Betrachtungsweise unserer Interessen verstärkt wurde. Diese archaische und unrealistische Betrachtungsweise war extrem schädlich. Deshalb muss es einen Neubeginn geben, um einem neuen Verständnis von Partnerschaft Platz zu machen, in der die Partner gleiche Rechte und Pflichten haben sowie gemeinsame Interessen teilen, und die sich auf Parameter wie nachhaltige Entwicklung, verantwortungsvolle Regierungs- und Verwaltungsführung im wirtschaftlichen, steuerlichen und sozialen Bereich, Technologietransfer usw. stützt […]“ (3).

3.6.1

Die auf einer asymmetrischen Beziehung zwischen „Geber und Empfänger“ bzw. „Kapitalgeber und Begünstigtem“ beruhende Strategie, die sich vor allem im Inhalt der verschiedenen Abkommen konkretisiert, mit denen die Beziehungen zwischen der EU und Afrika geregelt wurden oder werden, ist angesichts der heutigen wirtschaftlichen und sozialen Lage Afrikas als „Fehlschlag“  (4) zu bezeichnen. Dieser Zustand muss geändert werden.

Die bisherige Strategie hat die afrikanischen Staaten in eine — insbesondere finanzielle — Abhängigkeit geraten lassen und ist für die Dynamik, die sie für einen positiven Eintritt in die Weltwirtschaft benötigen, eine Belastung.

3.6.1.1

Die von der Europäischen Union, zahlreichen Mitgliedstaaten (oftmals ehemaligen Kolonialmächten) und internationalen Institutionen wie der Weltbank jahrzehntelang praktizierte Entwicklungshilfe hat die extreme Armut in Afrika nur verschärft und vertieft.

3.6.1.2

Während sich Schwellenländer oder -regionen wie China, Indien, Südostasien und Brasilien zu Wirtschaftsmächten entwickeln und ihren Platz im Welthandel finden, kommt Afrika bis auf wenige Ausnahmen nicht von der Stelle.

3.6.1.3

Warum ist nicht Afrika, sondern ein Land wie Südkorea, das noch vor wenigen Jahren „vom Reis und für den Reis“ lebte, zu einem der weltweit führenden Staaten in den Bereichen Elektronik, Schiffbau, IT-Dienstleistungen und Automobilbau aufgestiegen?

3.6.1.4

Auch wenn die Europäische Union weltweit immer noch der größte Importeur afrikanischer Erzeugnisse bleibt, ist das Volumen der Exporte aus den afrikanischen Ländern in die EU trotz fast 25 Jahren asymmetrischer Zölle um mehr als die Hälfte zurückgegangen und machte, nachdem es 1975 bei 8 % lag, im Jahre 2000 nur noch 2,8 % des Welthandelsvolumens aus. Diese Zollbegünstigung war nicht ausreichend. Durch die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der afrikanischen Produkte sind die Ausfuhren Afrikas für den europäischen Markt tief ins Defizit gesunken.

3.6.1.5

Die Früchte des Wachstums, insbesondere aus der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, sind ungleich verteilt und vertiefen die Ungleichheit, indem sie die Armen so arm wie zuvor oder noch ärmer und die Reichen noch reicher werden lassen. Dies alles ist weit entfernt von einer verantwortungsvollen und ethisch orientierten Wirtschaftsführung. Zahlreiche afrikanische Politiker prangern diese Situation an:

„Die in den Herkunftsländern illegal erworbenen und auf ausländischen Banken liegenden Gelder müssen zurückgeführt werden (5).“

„Unsere Krankheit heißt verantwortungslose Regierungs- und Verwaltungsführung, manche Länder sind ärmer als vor der Ausbeutung der Erdöl- und Diamantenvorkommen ... Es gibt Länder, in denen die Vermögen der Staatsführer höher sind als die Schulden des Landes! Das Übel kommt nicht von außen, sondern von uns selbst (6).“

4.   Von Kairo nach Lissabon: eine neue Strategie Afrika — Europäische Union

4.1

Die bislang verfolgte Politik und die dafür aufgewendeten Finanzmittel haben namentlich bei der Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze nicht immer die gewünschten Ergebnisse gebracht. Davon ausgehend und weil Änderungen unabdingbar sind, begrüßt der Ausschuss den Erfolg des Lissabon-Gipfels vom 8. und 9. Dezember 2007. Er begrüßt den politischen Willen, durch den es möglich geworden ist, die Zusammenarbeit und damit auch die Handelsbeziehungen und die politischen Beziehungen zwischen beiden Kontinenten auszubauen bzw. ihnen eine neue Orientierung zu geben.

4.2

Sieben Jahre nach dem Gipfel von Kairo hat das Lissabonner Gipfeltreffen den Grundstein für eine neue strategische Partnerschaft zwischen Afrika und der Europäischen Union gelegt, die die Partner „auf Augenhöhe“ vereint, auf gemeinsamen Werten, Grundsätzen und Interessen beruht und sich allen globalen Herausforderungen auf der internationalen Bühne stellt: Frieden und Sicherheit, Regierungs- und Verwaltungsführung sowie Menschenrechte, Migration, Energie und Klimawandel, Handel, Infrastruktur und Entwicklung.

4.3

Das Besondere und Neue an dieser Strategie besteht neben ihrem Inhalt darin, dass es außer der Erklärung auch eine operative Phase und acht Pläne für vorrangige Maßnahmen (siehe ANHANG I dieser Stellungnahme), also eine Art „Fahrplan“ bzw. Arbeitsplan geben wird, mit dem die von beiden Kontinenten festgelegten strategischen Entscheidungen und Prioritäten in eine konkrete Form gebracht werden sollen. Die Fortschritte bei der Umsetzung dieser acht Pläne, die nach dem Vorbild des Cotonou-Abkommens äußerst ehrgeizig sind, werden auf dem nächsten Gipfel im Jahre 2012 bewertet.

4.4

Der Ausschuss wertet es als positiv, dass für die sicherlich bedeutenden Grundsatzerklärungen ein Arbeitsrahmen gefunden wurde, der die operative und konkrete Umsetzung der Erklärungen gestattet. Dadurch wird es vor allem möglich, schon 2010 eine Bewertung der Umsetzung vorzunehmen.

4.5

Der EWSA unterstreicht, dass jede der acht durch Aktionspläne konkretisierten Partnerschaften zur Entwicklung menschenwürdiger Beschäftigung beitragen kann, sobald diese politische Entscheidung getroffen wurde und den Plänen spezifische Beschäftigungsprogramme hinzugefügt werden (siehe Ziffer 7).

4.6

Neben den schriftlichen Erklärungen konnte der auf diesem Gipfel von beiden Seiten demonstrierte gute Wille jedoch nicht über gewisse Schwierigkeiten und Klippen hinwegtäuschen, die von einigen afrikanischen Vertretern angeprangert werden. Sie lassen erkennen, dass mit einer neuen Strategie, wie innovativ sie für die Schaffung einer ausgewogenen Partnerschaft auch sein mag, das heute immer noch als Beziehung von Beherrschern und Beherrschten empfundene Verhältnis nicht so schnell zu überwinden sein wird:

So wird Kritik geübt an der Bürokratie der EU, denn „mit China ist es ganz einfach, die benötigten Traktoren sofort zu erhalten …“

Von der EU wird verlangt, Afrika für die Kolonialherrschaft und den Raub an seinen Gütern entweder Entschädigung zu leisten oder die afrikanischen Migranten aufzunehmen.

Es wird bezweifelt, dass die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) im Geist einer wirklichen Partnerschaft geschlossen werden können.

Es wird auf die sehr gegensätzlichen Haltungen zur Krise in Simbabwe verwiesen.

Für beide Seiten scheint der Weg zur Wiederherstellung des Vertrauens noch lang und voller Fallstricke zu sein.

4.6.1

Angesichts dessen ist der EWSA der Meinung, dass es im Rahmen einer ausgewogenen Partnerschaft in erster Linie bei den afrikanischen Regierungen selbst liegt, die Verantwortung für verantwortungsvolle Regierungs- und Verwaltungsführung und die Korruptionsbekämpfung zu übernehmen und die direkten bzw. ausländischen Investitionen zur Bekämpfung der Armut in ihren Ländern einzusetzen. Diese Übernahme von Verantwortung, die ihre Souveränität stärken wird, ist der einzige Weg zu einer erneuerten Partnerschaft. Deshalb ist der Grundsatz eines Beitritts zu dieser ausgewogenen Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Afrika von entscheidender Bedeutung und kommt bei einer Entwicklung in Richtung der Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze voll zum Tragen.

4.7

Der EWSA nimmt mit Befriedigung zur Kenntnis, welcher Platz der Zivilgesellschaft in institutioneller Hinsicht (Beziehungen zwischen dem EWSA der EU und dem ECOSOC der AU) (7), aber auch allen nichtstaatlichen Akteuren, die die organisierte Zivilgesellschaft vertreten, eingeräumt wird (8). Damit der bekundete Wille Gestalt annimmt und sich in Taten niederschlägt, müssen die Schwierigkeiten, die es bei der Umsetzung des Abkommens von Cotonou gegeben hat, überwunden werden. Andernfalls droht ein Scheitern.

Insgesamt billigt der Ausschuss die Fortschrittsorientierung der EU-Afrika-Strategie für den Kontinent als Ganzes.

5.   Menschenwürdige Arbeit als unumgängliches Ziel einer effizienten EU-Afrika-Strategie

5.1

In Ziffer 55 der EU-Afrika-Strategie heißt es: „Beschäftigungsfragen, insbesondere der Sozialschutz, der Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten und die Förderung menschenwürdiger Arbeit in Afrika, werden gemeinsam behandelt, wobei an erster Stelle die Schaffung produktiver Arbeitsplätze in der formellen Wirtschaft, die Verbesserung der schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen im Einklang mit der VN-Agenda für menschenwürdige Arbeit und die Integration der informellen Wirtschaft in die formelle Wirtschaft zu stehen haben.“

5.2

Der Ausschuss begrüßt, dass die Frage der menschenwürdigen Beschäftigung formalen Eingang in die EU-Afrika-Strategie gefunden hat, denn ihre Entwicklung ist seiner Ansicht nach quantitativ wie qualitativ der Dreh- und Angelpunkt für die Verringerung von Armut und Ungleichheit, für soziale Integration als notwendige Voraussetzung der Zurückdrängung von Extremismus und Konflikten und für die Stabilität der Staaten.

6.   Die Beschäftigungssituation in Afrika

Der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung ist hoch (68,6 %). Bei gleichfalls hoher Arbeitslosenquote (10,3 %) ist der Mangel an menschenwürdiger und produktiver Beschäftigung das schwerwiegendste Problem: 46,2 % der Bevölkerung, davon 55,4 % im südlich der Sahara liegenden Afrika, leben von weniger als 1 Dollar pro Tag. Anders gesagt, ein wesentlicher Teil der Erwerbsbevölkerung arbeitet für seinen Lebensunterhalt in der informellen Wirtschaft. Das sind 68 % der Gesamtbeschäftigung, davon wiederum 57,2 % in der Primärlandwirtschaft, in der zu einem erheblichen Teil Jugendliche und Frauen arbeiten. Letztere spielen, da sie im Mittelpunkt der Wirtschafts- und Familiengemeinschaft stehen und somit die Grundlage des Wirtschafts- und Sozialgefüges Afrikas verkörpern, eine bestimmende Rolle (siehe ANHANG II dieser Stellungnahme).

7.   Menschenwürdige und produktive Arbeitsplätze schaffen

Unter Berücksichtigung der bisherigen Ausführungen liegt die Priorität für Afrika in der Schaffung frei wählbarer, menschenwürdiger und produktiver Arbeitsplätze. Nur sie können wirksam zur Beseitigung der Armut, zu einem würdigen Leben und zur Umsetzung eines effizienten und für alle zugänglichen Systems des Sozialschutzes beitragen. Dabei ist auf allen Ebenen der Geschlechtergleichstellung wie auch der Jugend Rechnung zu tragen, die die Zukunft Afrikas und ein Pfeiler der Solidarität zwischen den Generationen ist.

Ohne produktive Arbeit ist es illusorisch, ein menschenwürdiges Lebensniveau sowie wirtschaftliche und soziale Entwicklung und Entfaltung des Individuums erreichen zu wollen. Diese Ziele werden vor allem über die Entwicklung der Humanressourcen und die Entwicklung der Unternehmen im Privatsektor verwirklicht. Damit diese Dynamik voll zur Geltung kommen kann, braucht sie einen günstigen Rahmen, der gekennzeichnet ist durch Demokratie, Rechtsstaat, verantwortungsvolle Regierungs- und Verwaltungsführung, Achtung der Menschenrechte und der sozialen Rechte usw.

Das Beschäftigungsproblem durchzieht die gesamte auf dem Lissabonner Gipfel verabschiedete EU-Afrika-Strategie. In diesem Kapitel soll diese zentrale Frage durch Analysen und Orientierungsvorschläge vertieft werden. Das geschieht im Nachdenken darüber, welche Hebel hauptsächlich zum Zielansatz beitragen können. Dieser Ansatz ist vor allem makroökonomischer Natur. Um jedoch eine Vorstellung von den jeweiligen Maßnahmen vermitteln zu können, sollten die verschiedenen Programme, die vor allem mit den Gebietskörperschaften und/oder lokalen Gruppierungen (Genossenschaften, Vereinigungen von Gemüsebauern, schulischen Einrichtungen, Gesundheitseinrichtungen usw.) durchgeführt werden und zur Entwicklung von Arbeitsplätzen beitragen, anhand einer Bestandsaufnahme der von den europäischen nichtstaatlichen Organisationen realisierten Entwicklungshilfemaßnahmen für Afrika veranschaulicht werden.

Darüber hinaus betont der Ausschuss mit Nachdruck, dass die Entwicklung Afrikas und damit die Schaffung menschenwürdiger und produktiver Arbeitsplätze nicht ohne eine größere Stabilität der Staaten dieses Kontinents erreicht werden kann. Viele Länder sind jedoch nach wie vor in nicht enden wollende Konflikte verstrickt. In den letzten zehn Jahren haben Konflikte in Guinea, Liberia und Sierra Leone, Ländern mit reichen Vorkommen an natürlichen Ressourcen wie vor allem Diamanten und Holz, die Region in eine schwere Krise gestürzt, die zu großen Flüchtlingsströmen führte. Ganz zu schweigen von dem im Sudan wütenden Darfur-Konflikt, dem „vergessenen Krieg“ im Norden Ugandas, der anhaltenden Unsicherheit im Norden und Osten der Zentralafrikanischen Republik und der Instabilität im Kongo, um nur einige zu nennen. Vor diesem Hintergrund kommt der Europäischen Union und im weiteren Sinne der internationalen Gemeinschaft eine wichtige Rolle in dieser für die Zukunft des Kontinents bestimmenden Frage zu. Über die begangenen Gräueltaten hinaus, die niemand übersehen darf und hinnehmen kann, ist klar, dass Arbeitsplätze zur Stabilität der Staaten beitragen können, wie auch Instabilität die Entwicklung dieser Staaten und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindert.

7.1   Für ein beschäftigungswirksames Wachstum

7.1.1

Für das Wirtschaftswachstum Afrikas war 2006 ein Glücksjahr mit einer Steigerungsrate von 6,3 % in Nordafrika und 4,8 % in den Ländern südlich der Sahara, wenn auch mit starken Unterschieden von Land zu Land.

7.1.2

Diese Zahlen sind beachtlich hoch, vor allem wenn man sie mit den Ergebnissen der Europäischen Union vergleicht. Angesichts der stagnierenden oder sogar sinkenden Produktivität, der schlecht platzierten Investitionen, einer geringen Wertschöpfung bei den meisten Industrie- oder Agrarprodukten, der Bevölkerungsexplosion und eines gewaltigen Defizits an menschenwürdigen Arbeitsplätzen wäre jedoch ein zweistelliges Wachstum erforderlich, um eine quantitative wie qualitative Verbesserung der Beschäftigungssituation zu erreichen. Schätzungen zufolge müsste das Wachstum bei mindestens 9 % liegen, wenn eine positive Entwicklung im Sinne der Millenium-Entwicklungsziele einsetzen sollte, die bedauerlicherweise keine beschäftigungspolitischen Zielsetzungen beinhalten.

7.1.3

Dieses Wachstum schafft wenig Arbeitsplätze, denn es hat nicht die richtigen Quellen und resultiert oft aus einer gesteigerten — und häufig unter kaum zumutbaren Arbeitsbedingungen bewerkstelligten — Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, deren Rentabilität namentlich in den Erdölstaaten aufgrund der gestiegenen Rohölpreise kürzlich nach oben geschnellt ist. Abgesehen von der Tatsache, dass diese Situation risikoreich ist, da sie von Preisschwankungen abhängt, entstehen dadurch keine zusätzlichen Arbeitsplätze. Das trifft auch auf die anderen natürlichen Ressourcen zu, da sie allgemein unverarbeitet exportiert werden. Darüber hinaus konsumiert die Mittelschicht, die die Gewinne aus der wirtschaftlichen Neubelebung einfährt, üblicherweise importierte Güter. Dieser Konsum hat somit ebenfalls keine Auswirkungen auf die lokale Beschäftigung.

7.1.4

Die Gewinne aus der Ölförderung, von denen nicht immer bekannt ist, wo und wie sie verwendet werden, müssen in die Herstellung verarbeiteter Erzeugnisse mit hoher Wertschöpfung investiert werden, die zu einem Wachstum mit vielen Arbeitsplätzen führen. Dies betrifft auch die anderen natürlichen oder landwirtschaftlichen Ressourcen, die im Rahmen einer strukturierten, finanzierten und gezielten Agrarpolitik zur Entwicklung einer Agrar- und Nahrungsmittelindustrie beitragen können (siehe 7.4 und ANHANG IV dieser Stellungnahme).

7.1.5

Ein Wachstum, das ein Optimum an Arbeitsplätzen schafft, kann nicht das Ergebnis der reinen Gewinnung von Rohstoffen oder der traditionellen landwirtschaftlichen Massenproduktion (Zuckerrohr, Baumwolle, Bananen, Erdnüsse, Kakao) sein. Wachstum entsteht auch durch die Entwicklung einer Verarbeitungsindustrie, die Erzeugnisse mit hoher Wertschöpfung produziert, was langfristig das beste Mittel ist, um eine Verschlechterung der Handelsbedingungen zu verhindern, an der subregionalen, regionalen und auch Weltwirtschaft teilnehmen zu können und daraus die Mittel für den Eintritt in eine neue Entwicklungsphase zu erzielen.

7.2   Für eine Neuausrichtung der Investitionen im Sinne der Diversifizierung

So wie ohne Wachstum keine oder nur wenig Arbeitsplätze geschaffen werden, gibt es auch ohne hochwertige Investitionen kein Wachstum.

Allgemein gilt, dass eine erhebliche Wachstumsrate über mehrere Jahre hinweg (siehe 7.1.2.) nur erreicht werden kann, wenn das Investitionsniveau zwischen 22 % und 25 % des BIP beträgt. Das Investitionsniveau lag in den letzten Jahren jedoch nur bei 15 %. Eine solche Akkumulationsgeschwindigkeit lässt sich mit Investitionen aus zwei Quellen erzielen.

7.2.1   Endogene Investitionen

7.2.1.1

Investitionen müssen in erster Linie in Wirtschaftsbereiche fließen, die eine starke Wertschöpfung und (oder) eine hohe Produktionskapazität mit einem starken Potenzial für die Schaffung von Arbeitsplätzen erwarten lassen: Infrastruktur, nachhaltige Landwirtschaft und Entwicklung, Erhaltung der Umwelt, Kulturindustrie, Verkehr, Fischerei, Forstwirtschaft, IKT, Industrie (erste Verarbeitungsstufe und Fertigerzeugnisse). Investiert werden sollte auch in Bereiche, mit deren Hilfe ein geeigneter Rahmen geschaffen werden kann, um ausländische Direktinvestitionen anzuziehen. Nötig ist ein Kreislauf: endogene Investitionen — Produktion — Handel — Gewinn, weitere endogene Investitionen usw.

7.2.1.2

Anders als es bei den ausländischen Direktinvestitionen der Fall ist, wird Afrika durch endogene Investitionen bzw. durch die Mobilisierung der inneren finanziellen Ressourcen in der Lage sein, selbst über die Prioritäten seiner Entwicklung zu bestimmen.

7.2.1.3

Wo lassen sich die Mittel für diese endogenen Investitionen finden?

Mobilisierung der enormen — sichtbaren oder verborgenen — Gewinne aus der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen (Öl, Gas, Kohle, Diamanten, Holz, Mineralien: Chrom, Platin, Kobalt, Gold, Mangan, Kupfer, Eisen, Uran) (9). (Was geschieht heute mit ihnen? Und was geschieht zum Beispiel mit den Gewinnen aus dem Zucker, für den das Dreifache des Weltmarktpreises gezahlt wurde?);

die Einführung einer Mehrwertsteuer hat nur begrenzt und unvollständig zu einer Erhöhung der öffentlichen Einnahmen beigetragen; Verbesserungen sind möglich;

eine verbesserte Steuererhebung könnte die Steuereinnahmen in einigen Ländern verdoppeln;

die erheblichen Unterschiede im Verhältnis Steuereinnahmen/BIP (von 38 % in Algerien und Angola bis unter 10 % im Niger, Sudan und Tschad) zeigen, dass die Länder mit einer sehr geringen Quote ihre Einnahmen spürbar erhöhen können;

Überführung informeller Beschäftigung in die formelle Wirtschaft, wodurch sich die Steuerbemessungsgrundlage erweitert, die wiederum die Basis der Eigenmittel ansteigen lässt;

Insgesamt dürften diese Verbesserungen dazu beitragen, die Maßnahmen der staatlichen Politik sowohl quantitativ als auch qualitativ zu stärken.

die Geldüberweisungen der Migranten sind in einigen Ländern eine wichtige Quelle der Entwicklung (10). Im Jahr 2004 betrugen sie rund 16 Milliarden US-Dollar. Die erfassten und nicht erfassten Mittel dieser Art dürften eine größere Finanzquelle als die öffentliche Entwicklungshilfe und die ausländischen Direktinvestitionen (ADI) darstellen. Dieses Kapital, das zu keiner Verschuldung führt und über das offizielle Bankensystem der afrikanischen Länder abgewickelt wird, könnte die Investitionskapazitäten erheblich beeinflussen — dazu müsste man allerdings von einem sicheren, glaubwürdigen und effizienten Bankensystem ausgehen; in diesem Zusammenhang wird deutlich, wie wichtig die Migration für die afrikanischen Länder ist. Aufgrund dieser Bedeutung ist es gerechtfertigt, intensive Gespräche zwischen der EU, den einzelnen Mitgliedstaaten und den betreffenden afrikanischen Ländern zu führen, wenn Änderungen in Bezug auf die Steuerung der Migrationsströme anstehen (11);

die Kapitalflucht entzieht den afrikanischen Ländern nach wie vor bedeutende Investitionsmittel. Der Betrag des abgewanderten Kapitals ist doppelt so hoch wie die gesamten Schulden des afrikanischen Kontinents  (12), was einige Experten Afrika als „Nettogläubiger“ des Restes der Welt bezeichnen lässt. Würden diese Ressourcen für produktive Investitionen eingesetzt, könnten Arbeitsplätze geschaffen und Einkommensmöglichkeiten für breite Schichten der Bevölkerung gesichert werden. Um das Ausbluten abzuwehren, könnten die Staaten nach dem Vorbild europäischer Länder eine vorübergehende Straffreiheit prüfen und so das Kapital wieder ins Land holen.

Mit diesen Perspektiven und mit der Realisierung der erforderlichen Reformen, namentlich in den Bereichen Haushalt und Finanzen, wäre Afrika in der Lage, deutlich mehr eigene Ressourcen für eine Finanzierung selbstgewählter produktiver Investitionen freizusetzen.

7.2.2   Ausländische Direktinvestitionen (ADI)

Die ausländischen Direktinvestitionen sind von tragender Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents. Richtig platziert spielen sie eine wichtige Rolle im Entwicklungsprozess der Aufnahmeländer, denen damit sowohl Kapital wie auch Technologien zufließen und die Kompetenz, Know-how und Marktzugang erhalten, was zu einer effizienteren Ressourcennutzung beiträgt und die Produktivität steigert.

7.2.2.1

In den 1980er Jahren hatten sich die jährlichen ADI für Afrika im Vergleich zu den 1970er Jahren durchschnittlich verdoppelt und eine Höhe von 2,2 Milliarden US-Dollar erreicht. In den 1990er Jahren kam es zu einer deutlichen Steigerung auf 6,2 Milliarden US-Dollar und in den Jahren 2000-2003 auf 13,8 Milliarden US-Dollar. Dennoch liegt der Anteil dieses Kontinents an den weltweiten Investitionen, der Mitte der 1970er Jahre einen Spitzenwert von 6 % erreicht hatte, gegenwärtig gerade noch bei 2 % bis 3 %, und weniger als 9 % der für die Entwicklungsländer bestimmten Investitionen fließen nunmehr nach Afrika, nach dem einstigen Spitzenwert von 28 % im Jahre 1976.

7.2.2.2

Das Kennzeichen der nach Afrika fließenden ADI ist die Konzentration auf den Rohstoffbereich. Das erklärt auch die ungleiche Verteilung der ADI über den Kontinent, denn so erhielten 24 Länder Afrikas, die als abhängig von der Öl- und Erzgewinnung eingestuft werden, in den letzten zwei Jahrzehnten durchschnittlich drei Viertel aller Investitionen aus dem Ausland.

7.2.2.3

Erforderlich ist eine Umorientierung der ADI, insbesondere auf das verarbeitende Gewerbe, um auf der Grundlage von Technologietransfers eine breite Diversifizierung wettbewerbsfähiger Produktion zu sichern. Will Afrika diversifizierte und effiziente ADI anziehen, muss es sich weiter um die Schaffung effizienter und angemessener allgemeiner Rahmenbedingungen bemühen. Die ADI können nur dann präsent sein und einen Beitrag zur Entwicklung leisten, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: Qualität des Wirtschaftsgefüges und der Infrastruktureinrichtungen, Größe des betreffenden Marktes — daher die Bedeutung der regionalen Integration — Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte (siehe Abschnitt „Humanressourcen“), Stärkung und Stabilität des Staates und verantwortungsvolle Regierungs- und Verwaltungsführung. Um effizient zu sein, müssen die ADI darüber hinaus auf die Zukunft der nationalen Wirtschaft ausgerichtet sein und sich in den subregionalen, regionalen und weltweiten Rahmen einordnen. Das zu erreichen erfordert die Ausarbeitung einer echten nationalen Entwicklungsstrategie, wie das in den 1970er und 1980er Jahren in den Ländern Südostasiens der Fall war.

7.2.2.4

Die ADI sind jedoch nicht für jedes Problem eine Lösung, vor allem wenn es um verantwortungsvolle Regierungs- und Verwaltungsführung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte, Korruption und Kapitalflucht usw. geht. Vor diesem Hintergrund muss auf die bedeutenden chinesischen ADI der letzten Jahre hingewiesen werden, die sich namentlich infolge der erheblichen diplomatischen Anstrengungen erhöht haben, deren Höhepunkt der China-Afrika-Gipfel war. Die chinesischen ADI konzentrieren sich fast ausschließlich auf die mineralgewinnenden Industriezweige und sollen die notwendigen Rohstoffe für den Aufschwung der chinesischen Wirtschaft sichern.

7.2.2.5

Der chinesisch-afrikanische Handel hat sich in zehn Jahren verzwanzigfacht und ist von drei Milliarden US-Dollar im Jahr 1998 auf 55 Milliarden US-Dollar in 2006 gestiegen. Im Hinblick auf die afrikanischen Interessen wirft jedoch die chinesische Methode viele Fragen auf. Oft führt sie zu einer Stärkung von Regierungen, die sich nicht von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Beseitigung der Armut leiten lassen (13). Aus dieser Sicht ist der Darfur-Konflikt ebenso aufschlussreich wie die Haltung Chinas zu Simbabwe. Auch was die Entwicklung angeht, ist die Methode Chinas zweifelhaft. (siehe ANHANG III dieser Stellungnahme).

7.2.2.6

Die EU-Mitgliedstaaten sind, wenn es um Investitionen in Afrika geht, sehr präsent. Für den Ausbau dieser Präsenz gäbe es folgende Möglichkeiten:

spürbare Anreize für Unternehmen aus der EU, z.B. in Form von Steuervergünstigungen;

Nutzung der bestehenden Entwicklungsinstrumente, nachdem diese überarbeitet und gestärkt wurden. Stärkung der Leistungsfähigkeit und der Investitionsfazilität der EIB, um diese für den privaten Sektor nutzbar machen;

Schaffung einer angemessen finanzierten Investitionsfazilität bzw. einer Stelle für Investitionsgarantien, wie dies in Artikel 77 Absatz 4 des Cotonou-Abkommens vorgesehen ist.

7.3   Die KMU zum Motor der wirtschaftlichen Entwicklung machen

Der Privatsektor, seine Stärkung und Diversifizierung ist von zentraler Bedeutung für die nachhaltige Entwicklung, die Schaffung von Arbeitsplätzen und somit für die Verringerung der Armut.

In den meisten afrikanischen Ländern fehlt jedoch eine Art Bindeglied zwischen dem informellen Sektor und den Kleinstunternehmen einerseits, in denen es eher um soziales Überleben als um Wirtschaftsförderung im eigentlichen Sinne geht, und den Niederlassungen der großen ausländischen Unternehmen andererseits, die quasi autark arbeiten und wenig zur lokalen Wirtschaft beitragen.

Daher stellt sich die Frage nach einer Begünstigung kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU), die ein zusammenhängendes Wirtschaftsgefüge schaffen könnten, das zur Herausbildung des für die Entwicklung des Kontinents unerlässlichen privaten Sektors beiträgt.

Um die Entwicklung der KMU zu begünstigen, ist es vor allem erforderlich:

die regionale Integration zu vertiefen (siehe Ziffer 7.8.), um die Enge der lokalen Märkte zu überwinden;

schwerfällige Verwaltungsverfahren abzubauen, die Glaubwürdigkeit der Justiz zu erhöhen und die Infrastruktur, auch die immaterielle (Kommunikation), den Bedürfnissen anzupassen;

ihnen finanzielle Möglichkeiten (siehe Ziffer 7.2.1. „Endogene Investitionen“) für die Unternehmensgründung und -finanzierung zu eröffnen. Dazu ist es insbesondere notwendig, das Umfeld für die Geschäftstätigkeit zu verbessern, indem beispielsweise Markt- und Vermarktungshilfen zur Verfügung gestellt werden, ihnen zu helfen, die Anforderungen des formalen Finanzmarkts zu erfüllen, und das Finanzierungsangebot dadurch zu erweitern, dass in größerem Maße auf den nichtfinanziellen Privatsektor zurückgegriffen wird.

Die Europäische Union muss die Entwicklung der KMU zu einem Schwerpunkt ihrer Entwicklungspolitik in Afrika machen. Über die Mitgliedstaaten und deren Unternehmen muss sie die Schaffung von KMU begünstigen und fördern, insbesondere: durch die Begünstigung von Investitionen durch steuerliche Anreize (Steuererstattungen, zinsbegünstigte Darlehen, Rolle der EIB u.Ä.);

durch systematischen Technologietransfer (Know-how, Wissensvermittlung), wodurch eventuell in der Folge Forschungs- und Entwicklungsprogramme angestoßen werden können. Jedes europäische Unternehmen, das einen Vertrag über die Lieferung beispielsweise von technischen Anlagen oder Industrieerzeugnissen unterzeichnet, sollte sich zu einem Transfer seiner Technologie verpflichten (Das funktioniert mit China in der Nukleartechnik, der Raumfahrt, warum nicht auch mit Afrika für Produkte einer niedrigeren Verarbeitungsstufe, selbst wenn der finanzielle Gewinn geringer ist?);

durch Spin-off-Unternehmen und die Schaffung von Gründerzentren, was dadurch begünstigt werden könnte, dass die Förderung des Unternehmergeistes in die berufliche Bildung einfließt;

durch die Entwicklung gemischter und gemeinsamer Unternehmen, in denen sowohl die afrikanische als auch die europäische Seite vertreten ist (Kapital, Arbeitskräfte, Unternehmensleitung).

7.4   Aufbau einer modernen und wettbewerbsfähigen Landwirtschaft

Als wichtige Faktoren für die ländliche Entwicklung müssen die Landwirtschaft, die Fischerei und die Forstwirtschaft bei den strategischen Prioritäten für die Entwicklung Afrikas an erster Stelle stehen. Diese Bereiche bilden das Fundament der primären Entwicklung, und da sie für weite Gebietsteile von Bedeutung sind, tragen sie zur Strukturierung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens bei. Für die angestrebte Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln ist dieser Bereich der Entwicklung unumgänglich, da er für die afrikanischen Ländern ein wesentlicher Teil ihrer Wirtschaft ist und zur Sesshaftigkeit der Bevölkerung beiträgt, zumal er ein großes Potenzial für die Schaffung von Arbeitsplätzen birgt. Angesichts des Stellenwerts der Landwirtschaft in Afrika — 57 % der Gesamterwerbsbevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig gegenüber 5 % in den Industrieländern — ist es verwunderlich, dass lediglich 1 % der Mittel aus dem 9. Europäischen Entwicklungsfonds für die Landwirtschaft vorgesehen wurden. Aus diesem Umstand ergibt sich ganz logisch der Gedanke, dass die Ausarbeitung der nationalen Richtprogramme unter Hinzuziehung der Zivilgesellschaft — insbesondere der Landwirte — erfolgen sollte. Zum Vergleich: Die Weltbank stellt 8 % ihrer Mittel für die Landwirtschaft zur Verfügung, sieht dies jedoch selbst als unzureichend an.

Da die Preise für landwirtschaftliche Rohstoffe und somit für Nahrungsmittel auf den internationalen Märkten jüngst angestiegen sind, trifft es mehr denn je zu, dass eine progressive Entwicklung der Landwirtschaft nur über die Schaffung einer seriösen und strukturierten Agrarpolitik erreicht werden kann, die kurz-, mittel- und langfristig geplant wird. Diese Politik muss budgetäre und finanzielle Priorität im weiteren Sinne erhalten, an die spezifischen Bedingungen der verschiedenen Länder und des Kontinents angepasst werden und gleichzeitig einen regional ausgerichteten Ansatz einbeziehen.

Damit eine solche Politik so erfolgreich wie möglich Fuß fassen kann, muss sie unter Mitwirkung der afrikanischen landwirtschaftlichen Organisationen konzipiert und umgesetzt werden und insbesondere Schutzmechanismen beinhalten. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob es sinnvoll ist, dass Senegal Reis aus Asien importiert, obwohl entlang des Flusses leicht zu bewässernde Flächen zur Verfügung stehen, die derzeit nicht genutzt werden.

Eine rationelle Politik der Beschäftigungsförderung im Agrarsektor könnte vor allem auf den in ANHANG IV dieser Stellungnahme zusammengestellten Aspekten beruhen.

7.5   Die Humanressourcen als Herzstück einer Beschäftigungspolitik

Die Entwicklung der Humanressourcen ist ein unabdingbarer Faktor jeder Entwicklungsstrategie. Eine vorrangige Rolle in diesem Prozess kommt der allgemeinen und beruflichen Bildung zu, denn dieser Bereich gewährleistet eine gute Ausbildung flexibler und unter dem Gesichtspunkt der Beschäftigungsfähigkeit anpassungsfähiger Arbeitskräfte. Die Planer der Humanressourcen müssen also in Abstimmung mit den Akteuren des wirtschaftlichen und sozialen Lebens den Beschäftigungsbedarf und den Arbeitsmarkt analysieren, mittel- und langfristige Prognosen anstellen und bereits im Vorfeld die Probleme und Hauptaufgaben erkennen, die mit dem Wechselverhältnis von Ausbildung und Beschäftigung verbunden sind. Aufschlussreich ist diesbezüglich allgemein das Beispiel der Schwellenländer bzw. der Länder, die wie Korea in jüngster Zeit Entwicklungsfortschritte erzielt haben.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen mithilfe ihrer Erfahrung im Bereich der beruflichen Bildung sowie gezielten und selektiven Finanzhilfen, deren Rückverfolgbarkeit gewährleistet sein muss, eine zentrale Rolle spielen. In diesem Sinne unterhält die EU eine Vielzahl von Bildungsprojekten, an denen afrikanische Studenten teilnehmen können. Dies ist wichtig, da die Entwicklung Afrikas von gut ausgebildeten Bürgerinnen und Bürgern abhängt.

Die verschiedenen Maßnahmen, mit denen die Humanressourcen in den Mittelpunkt der Beschäftigungsförderung gerückt werden könnten, sind in ANHANG V dieser Stellungnahme ausgeführt.

7.6   Die regionale Integration

Es besteht ein gewaltiges Potenzial für die Entwicklung des innerafrikanischen Handels und die Schaffung größerer Wirtschaftsräume — das ist allgemein anerkannt.

Zwar ist die regionale und subregionale Wirtschaftsintegration vor allem dank der Schaffung der Afrikanischen Union erheblich vorangeschritten, doch ist das Handelspotenzial bei weitem noch nicht voll ausgeschöpft. Dazu ist es erforderlich, die Maßnahmen zur Harmonisierung der Zollverfahren besser zu koordinieren, die tarifären und nichttarifären Hemmnisse abzubauen, durch erhöhte Investitionen in die regionale Infrastruktur das Verkehrs- und Kommunikationsnetz zu verbessern und namentlich durch Abschaffung der Visumspflicht den freien Personenverkehr zu gewährleisten. All dies sollte zur Gewährleistung der Gesamtkohärenz in eine Raumplanungspolitik eingebettet werden.

Die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas geschieht zuallererst und vor allem durch einen Ausbau seines Binnenmarktes, damit auf diese Weise ein endogenes Wachstum gewährleistet werden und sich der Kontinent stabilisieren und seinen Platz in der Weltwirtschaft finden kann. Regionale Integration und Entwicklung des Binnenmarktes sind der Ausgangspunkt, das Sprungbrett, das es Afrika erlaubt, sich in positivem Sinne dem Welthandel zu öffnen.

Vor diesem Hintergrund bedauert der Ausschuss, dass die regionalen Verhandlungen über den Abschluss von Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die gerade eben auch eine wirtschaftliche Integration zum Ziel haben, bisher nicht zu Ende geführt werden konnten.

7.7   Der soziale Dialog

Der soziale Dialog ist notwendig und von zentraler Bedeutung für die Entwicklung menschenwürdiger und produktiver Arbeitsplätze. Deshalb muss er als fester Bestandteil in die Umsetzung der gemeinsamen Strategie aufgenommen werden. Die umfassende Beteiligung der Sozialpartner am wirtschaftlichen und sozialen Leben, insbesondere über die Aushandlung von Tarifverträgen, entspricht nicht nur den Anforderungen der Demokratie, sondern ist auch eine Quelle der sozialen Entwicklung, des sozialen Friedens und der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Der soziale Dialog ist das vorrangige Instrument, mit dessen Hilfe jener sozioökonomische Konsens erreicht werden kann, der die Entwicklung trägt. Es kann keine optimale Wirtschaftsentwicklung geben, wenn sich nicht parallel dazu auch eine soziale Entwicklung vollzieht. Hier muss es zu einem Gleichklang kommen und die notwendige Dynamik dafür geschaffen werden, dass sich der wirtschaftliche Fortschritt als Ausgangspunkt für eine Verbesserung der Lebensweise, für menschenwürdige Arbeitsplätze und das Wohlergehen der Bevölkerung zu voller Wirksamkeit entfalten kann. Daher sollten gewerkschaftliche Rechte und Tarifverhandlungen ebenso eingeführt bzw. weiterentwickelt werden wie starke und unabhängige Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, die über die notwendigen fachlichen Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen, um ihrer Aufgabe voll gerecht zu werden.

7.8   Die organisierte Zivilgesellschaft

Die Beteiligung der nichtstaatlichen Akteure ist nicht loszulösen von der Entwicklung menschenwürdiger Arbeitsplätze und muss daher im Zentrum der Gemeinsamen Strategie stehen. Ihre Beteiligung entspricht den Forderungen der partizipativen Demokratie. Zugleich werden das Know-how und die spezifischen Kenntnisse derjenigen gefördert, die Tag für Tag unternehmerisch tätig sind, produzieren, anbauen. Aus diesem Grund müssen diese Akteure in die Ausarbeitung der nationalen und regionalen Richtprogramme einbezogen und als vollwertige Entwicklungsakteure angesehen werden. Sie müssen auch in den Genuss der öffentlichen Entwicklungshilfe und der Hilfe für den Aufbau von Kapazitäten kommen, die in den Bestimmungen des Cotonou-Abkommens vorgesehen sind. Interessant ist hierbei wieder Ziffer 3 der Stellungnahme 1497/2005 des Ausschusses über die strukturelle und institutionelle Formierung der organisierten Zivilgesellschaft (Plattform, Netze, Ausschuss etc.), die notwendig ist, um eine für ihre Debatten und die Definition ihrer Ausrichtung unumgängliche Einheit der Zeit und Einheit des Ortes zu erreichen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Beratende Ausschuss der Zivilgesellschaft, der durch das im Dezember 2007 geschlossene Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) zwischen dem CARIFORUM und der EU geschaffen wurde, ein nachahmenswertes Beispiel für Afrika (siehe Schlusserklärung des 25. Treffens der wirtschaftlichen und sozialen Interessengruppen AKP/EU, das unter dem Motto „Eine bessere Partnerschaft für eine bessere Entwicklung“ vom 4.- 6. März in Brüssel stattfand). In Erfüllung des Mandats, das ihm mit dem Abkommen von Cotonou übertragen wurde, hat der EWSA über seinen Begleitausschuss AKP/EU folgerichtig gehandelt und einen Beitrag zur Koordinierung, zum kollektiven Reflexionsprozess und zur Vernetzung der organisierten Zivilgesellschaft geleistet.

7.9   Verantwortungsvolle Regierungs- und Verwaltungsführung

Verantwortungsvolle Regierungs- und Verwaltungsführung (Good Governance) ist eine Vorbedingung für das Vertrauen von Investoren. Deshalb ist sie für die Entwicklung Afrikas von grundsätzlicher Bedeutung. Die Förderung einer demokratischen Governance, die auf allen Regierungs- und Verwaltungsebenen erforderlich ist, bildet also ein zentrales Element des partnerschaftlichen Dialogs zwischen Europa und Afrika. Sie muss in ihrer gesamten Breite betrachtet werden, wobei die Achtung der Menschenrechte und der Arbeitnehmerrechte, d.h. der gewerkschaftlichen Rechte und Arbeitsnormen, ebenso einzubeziehen sind wie der Rechtsstaat und die Stärkung der Institutionen und des Staatsapparates. Dessen Schwäche und unzureichende Kapazitäten wirken sich oft als Hemmnis für die Umsetzung von Maßnahmen der Zusammenarbeit, für die Beteiligung der Zivilgesellschaft an einer wirklichen partizipativen Demokratie und die Korruptionsbekämpfung aus. Bezüglich dieses letzten Punkts müssen die Europäische Union und die Mitgliedstaaten im Rahmen der Partnerschaft Forderungen erheben und ihre Finanzhilfen von der Rückverfolgbarkeit ihrer Verwendung abhängig machen. Denn von 100 Milliarden US-Dollar jährlicher Hilfe lösen sich 30 Milliarden US-Dollar „in Luft auf“ (14). (Siehe Ziffer 3.6.1.5 und Ziffer 7.2.1.3, dritter Spiegelstrich)

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  CESE 1205/2004 „Die Rolle der Frauenorganisationen bei der Umsetzung des Abkommens von Cotonou“, Berichterstatterin: Frau FLORIO, September 2004.

CESE 1497/2005 „Aufnahme sozialer Aspekte in die Verhandlungen über Wirtschaftspartnerschaftsabkommen“, Berichterstatter: Herr PEZZINI und Herr DANTIN, Dezember 2005.

CESE 753/2006 „Vorrang für Afrika: Der Standpunkt der europäischen Zivilgesellschaft“, Berichterstatter: Herr BEDOSSA. Mai 2006.

CESE 673/2007 „Migration und Entwicklung: Chancen und Herausforderungen“, Berichterstatter: Herr SHARMA, Dezember 2007.

Dokumente des Begleitausschusses AKP/EU des EWSA: „Humanressourcen für die Entwicklung“, Berichterstatter. Frau KING und Herr AKOUETE. Mai 2007.

(2)  Union Européenne/Afrique: „Le partenariat stratégique“ (Europäische Union/Afrika: „Die strategische Partnerschaft“), Nathalie DELAPALME, Elise COLETTE. Notes de la Fondation Robert SCHUMAN, Dezember 2007.

(3)  Rede von Kommissionsmitglied Louis MICHEL auf der von der Europäischen Kommission veranstalteten Konferenz „EU-China-Afrika“, Brüssel, 28. Juni 2007.

(4)  Antwort von Kommissar MICHEL auf eine Wortmeldung während der Paritätischen Parlamentarischen Versammlung in Kigali. 18.-22. November 2007.

(5)  Sondergipfel der Afrikanischen Union zu Beschäftigung und Armutsbekämpfung. 3.-9. September 2004 in Ouagadougou. Schlusserklärung (Artikel 16).

(6)  Wortmeldung des Vorsitzenden des WSR eines französischsprachigen westafrikanischen Staates auf der Vollversammlung der UCESA (Union der WSR Afrikas), 13./14. November 2007 in Ouagadougou.

(7)  Siehe Artikel 104 und 105 der Erklärung.

(8)  Siehe Artikel 106 bis 110 der Erklärung.

(9)  Afrika verfügt fast allein über die weltweiten Gesamtvorkommen an Chrom (hauptsächlich in Simbabwe und Südafrika), über 90 % der Platinreserven (u.a. Südafrika) und 50 % der Kobaltreserven (u.a. Zentralafrikanische Republik, Sambia).

(10)  Siehe CESE 673/2007 „Migration und Entwicklung: Chancen und Herausforderungen“, Berichterstatter Herr SHARMA, Dezember 2007.

(11)  Zweites gemeinsames Treffen EWSA/UCESA (Union der afrikanischen WSR), Erklärung der Präsidenten.

(12)  „Le développement économique en Afrique“ (Bericht über die wirtschaftliche Entwicklung in Afrika), UNCTAD-Bericht, 26. September 2007.

(13)  Paritätische Parlamentarische Versammlung AKP-EU. Entwurf eines Berichts über „Les IDE dans les Etats ACP“ (Die ADI in den AKP-Staaten). Berichterstatter: Astrid LULLING und Timothy HARRIS, KIGALI, November 2007.

(14)  „Le développement économique en Afrique“ (Bericht über die wirtschaftliche Entwicklung in Afrika), UNCTAD-Bericht 27. September 2007, Interview des Staatssekretärs für die Frankophonie der französischen Regierung, „Le Monde“16. Januar 2008.


31.3.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 77/157


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu den „Beziehungen EU-Ukraine: eine neue dynamische Rolle für die Zivilgesellschaft“

(2009/C 77/33)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 16./17. Januar 2008 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Beziehungen EU-Ukraine: eine neue dynamische Rolle für die Zivilgesellschaft“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 17. Juli 2008 an. Berichterstatterin war Frau HELLAM.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 447. Plenartagung am 17./18. September 2008 (Sitzung vom 18. September) mit 129 gegen 4 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung

1.1

Mit dieser Stellungnahme möchte der EWSA eine bessere Umsetzung des Grundsatzes der gemeinsamen Verantwortung und der Partnerschaft zwischen der ukrainischen Zivilgesellschaft, der ukrainischen Regierung und den EU-Institutionen fördern und sich für den Ausbau der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine sowie dafür einsetzen, dass die Ukrainepolitik der EU zu einem wirksamen Instrument für die Unterstützung des Reform- und Modernisierungsprozesses in der Ukraine wird.

1.2

Die Europäische Union ist für die Ukraine sowohl ein Ziel als auch eine Triebkraft für Veränderungen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die zwischen der Ukraine und der Europäischen Union eingeleitete Integration und der Reformprozess in der Ukraine eine starke und nachhaltige Zivilgesellschaft (1) voraussetzen, was eine nachhaltige Politik im Bereich der Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft sowohl vonseiten der EU als auch der ukrainischen Regierung erfordert.

1.3

Eine stärkere Rolle der Zivilgesellschaft erfordert ein förderliches politisches Gesamtumfeld im Bereich der Beziehungen EU-Ukraine.

1.4

Die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine wäre in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Ebenso sollte der Aussicht auf einen visumfreien Reiseverkehr Glaubwürdigkeit verliehen und der Ukraine ein entsprechender Fahrplan vorgelegt werden. Der EWSA schlägt vor, diese Elemente in das neue Assoziierungsabkommen (2) zwischen der EU und der Ukraine aufzunehmen, damit es als ein Instrument zur Förderung des Reformprozesses dienen und der Zivilgesellschaft eine gewichtige Rolle einräumen kann.

1.5

In Bezug auf gezielte politische Maßnahmen im Bereich der Zivilgesellschaft sollte die Ukraine für ein „zivilgesellschaftsfreundliches“ Regelungsumfeld sorgen und den zivilgesellschaftlichen Akteuren eine nachhaltige Rolle in der Politikgestaltung und im zivilen Dialog einräumen. Gleichzeitig sollte die EU die Ukraine bei der Entwicklung einer Strategie für den Aufbau von Kapazitäten der ukrainischen Zivilgesellschaft unterstützen. Die Entwicklung des sozialen Dialogs auf allen Ebenen muss mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt und dauerhaft unterstützt werden.

1.6

Der EWSA würdigt die Fortschritte der Ukraine im Hinblick auf die Konsolidierung der Demokratie sowie die Stärkung des Rechtsstaates und der Achtung der Menschenrechte. Dies wird zu besseren Beziehungen mit der EU, einer stärkeren wirtschaftlichen Integration und privilegierten politischen Verbindungen beitragen.

1.7

Der EWSA ruft zu einem raschen Abschluss der Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen auf. Darüber hinaus schlägt er in enger Abstimmung mit der ukrainischen Zivilgesellschaft vor, dass in dieses Abkommen eine Bestimmung über die Einrichtung eines gemeinsamen zivilgesellschaftlichen Organs aufgenommen wird, das der Zivilgesellschaft eine starke Stimme in den Beziehungen EU/Ukraine gibt.

2.   EU und Ukraine: Gesamtfortschritt der Zusammenarbeit und derzeitige Möglichkeiten

2.1

Die Förderung der Demokratie, des guten Regierens und der Marktwirtschaft in ihren Nachbarstaaten gehört nach wie vor zu den wichtigsten außenpolitischen Prioritäten der Europäischen Union. Zu diesem Zweck rief die EU die Europäische Nachbarschaftspolitik ins Leben, die auf den wichtigen Grundsätzen der Partnerschaft und der gemeinsamen Verantwortung sowie auf der Differenzierung und maßgeschneiderten Unterstützung beruht.

2.2

Im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik wurden im Januar 2004 Gespräche mit der Ukraine über den Aktionsplan EU-Ukraine eingeleitet, und im Dezember 2004 wurde dieser Aktionsplan vom Europäischen Rat verabschiedet. Die Zeit nach der „orangenen Revolution“ im Dezember 2004, die von dem großen Potenzial der ukrainischen Zivilgesellschaft zeugte, sowie die pro-europäische Haltung der orangenen Regierung unter Präsident Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko gaben der EU Anlass, den Aktionsplan um zusätzliche Anreize zu ergänzen. Am 21. Februar 2005 wurde der Aktionsplan für einen Zeitraum von drei Jahren vom Kooperationsrat EU-Ukraine offiziell verabschiedet. Er bot einen umfassenden und ehrgeizigen Rahmen für eine Zusammenarbeit mit der Ukraine und nannte die wichtigsten Reformbereiche (politischer Dialog und Reform, wirtschaftliche und soziale Reform und Entwicklung, Handel und Reform des Regulierungsumfelds, Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, Verkehr, Energie, Informationsgesellschaft, Umweltschutz, Kontakte auf der Ebene der Bürger).

2.3

Vorbehaltlich freier und gerechter Parlamentswahlen 2006 wurde der Ukraine die Aufnahme von Verhandlungen über die neuen vertraglichen Regelungen (Assoziierungsabkommen) und — sobald die Ukraine der WTO beitreten würde — die Aufnahme von Verhandlungen über die weitreichende Freihandelszone in Aussicht gestellt. Weitere Anreize für die Ukraine im Rahmen des Aktionsplans waren die Visumerleichterung, eine Aufstockung der Finanzmittel und mehr Möglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger.

2.4

Die Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen wurden im März 2007 und über die Freihandelsbestimmungen im Februar 2008 nach dem Beitritt der Ukraine zur WTO aufgenommen. Von März 2007 bis Juli 2008 fanden insgesamt neun Verhandlungsrunden statt. Das 2007 unterzeichnete Abkommen über Visumerleichterungen trat 2008 in Kraft.

2.5

Der Verhandlungsprozess über das Assoziierungsabkommen wird auf die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine sowie auf den innenpolitischen Reformprozess der Ukraine weitreichende Auswirkungen haben. Er bietet den ukrainischen öffentlichen Behörden eine gute Gelegenheit, einen transparenten und systematischen Prozess der Konsultation zivilgesellschaftlicher Organisationen einzuleiten, der dazu beitragen könnte, die innerukrainische Unterstützung für die im neuen Übereinkommen angestrebten Reformen zu sichern. Er eröffnet der ukrainischen Zivilgesellschaft auch die Chance einer Konsolidierung, um ihre Interessen zu formulieren und sie den Behörden, die das Übereinkommen aushandeln, darzulegen.

2.6

Es ist wichtig zu gewährleisten, dass die Verhandlungen zwischen der EU und der Ukraine transparent sind und die potenziellen Auswirkungen berücksichtigen, die das Übereinkommen auf die verschiedenen Gesellschaftsgruppen und die unterschiedlichen Bereiche des Reformprozesses in der Ukraine haben kann. Dieses Übereinkommen ist in dieser Form bisher einmalig, denn der Umfang der politischen Zusammenarbeit und der Anteil am gemeinsamen Markt stehen nicht im Voraus fest. Die EU hat keinen festen Plan, von dem sie sich bei der Aushandlung dieses Übereinkommens leiten lässt, daher werden unterschiedliche Akteure in der Ukraine und in der EU umfassend angehört und beteiligt werden müssen. Darüber hinaus soll das neue Übereinkommen mit der Ukraine als Muster für weitere Übereinkommen der EU mit anderen Nachbarländern dienen.

3.   Arbeiten des EWSA in Bezug auf die Ukraine

3.1

Seit 2003 baut der EWSA seine Beziehungen zu Organisationen der ukrainischen Zivilgesellschaft aus. 2004 widmete der Ausschuss der Zivilgesellschaft in der Ukraine, Russland, der Republik Moldau und Weißrussland eine Studie und eine Stellungnahme. Die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine haben in den letzten Jahren an Fahrt gewonnen. Die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen dauern an, und die Zivilgesellschaft und der EWSA wurden aufgefordert, in den künftigen Beziehungen eine umfassendere und bedeutendere Rolle zu übernehmen. Im Februar 2006 veranstaltete der EWSA in Kiew eine Konferenz über die Rolle der ukrainischen Zivilgesellschaft bei der Umsetzung der Europäischen Nachbarschaftspolitik. In der Schlusserklärung verpflichtete sich der EWSA, die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Organisationen in der Ukraine zu unterstützen.

3.2

Einige Monate später wurde der drittelparitätisch besetzte Wirtschafts- und Sozialrat der Ukraine (National Tripartite Social and Economic Council, NTSEC) gegründet. Am 24./25. Oktober 2007 besuchte eine Delegation des NTSEC unter Leitung des ukrainischen Arbeitsministers den EWSA. Eine Sondersitzung der Kontaktgruppe „Östliche Nachbarstaaten“ wurde der Zivilgesellschaft der Ukraine gewidmet.

3.3

Es besteht die allgemeine Bereitschaft, eine strukturierte Zusammenarbeit zwischen dem EWSA und dem NTSEC aufzunehmen. Der EWSA möchte jedoch sicherstellen, dass die ukrainische Zivilgesellschaft umfassender vertreten ist, wobei neben den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die im NTSEC vertreten sind, auch aktive Nichtregierungsorganisationen eingebunden werden sollen. Die ukrainische Zivilgesellschaft sollte daher eine Plattform errichten, der sowohl Vertreter des NTSEC als auch anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen angehören.

4.   Politische Lage und wirtschaftlich-soziale Gegebenheiten in der Ukraine

4.1

Seit 2004 und infolge der orangenen Revolution ist die Ukraine eine junge Demokratie, die die meisten ihrer postsowjetischen Nachbarstaaten hinter sich zurückließ. Freie und faire Wahlen sind in der Ukraine nunmehr Normalität, und die während der orangenen Revolution gewonnene Rede- und Versammlungsfreiheit wurde bewahrt.

4.2

Seit 2005, als die Begeisterung der orangenen Revolution nachließ, hat die Ukraine zunehmend mit politischer Instabilität und Rivalität zu kämpfen, was zu einer ernsten politischen Krise geführt hat, die unter allen Teilgewalten einen Konflikt ausgelöst und die ukrainischen Justiz- und Strafverfolgungsbehörden in Verruf gebracht hat. Seither ist die ukrainische Politik von politischer Instabilität und der Unfähigkeit, weitreichende Reformen auf den Weg zu bringen, gekennzeichnet. Die Europäische Nachbarschaftspolitik und der damit verbundene Handlungsplan boten der Ukraine zwar eine Art Wegweiser für die Durchführung von Reformen, die politische Elite und die Gesellschaft im Allgemeinen konnten jedoch für das Ziel der europäischen Integration im Großen und Ganzen nicht gewonnen werden.

4.3

Die ukrainische Wirtschaft wächst zwar, die Inflationsrate nimmt jedoch immer mehr zu und stieg 2007 auf über 16 %. Auch 2008 steigt sie aufgrund fehlender inflationsbekämpfender Maßnahmen vonseiten der Regierung weiter an. Obwohl die Armut in der Ukraine in den letzten Jahren beträchtlich zurückgegangen ist, leben immer noch mehr als 20 % der Ukrainer unter der Armutsgrenze, und das Durchschnittseinkommen liegt bei rund 150 EUR monatlich. Die Ukraine ist nach wie vor ein Land, in dem das Regelungsumfeld ausländische Direktinvestitionen und Unternehmensgründungen vor zahlreiche Hindernisse stellt. Im Großen und Ganzen hat es das Land versäumt, weitreichende gesamtwirtschaftliche Reformen auf den Weg zu bringen, und das Wirtschaftswachstum ist hauptsächlich auf Faktoren zurückzuführen, die außerhalb der Regierungspolitik liegen.

4.4

Trotz zahlreicher politischer Erklärungen hat die Ukraine im Bereich der Korruptionsbekämpfung keine wesentlichen Fortschritte zu verzeichnen. Aus der 2007 durchgeführten Umfrage von Transparency International geht hervor, dass rund 70 % der Ukrainer glauben, die Behörden seien bei der Korruptionsbekämpfung ineffizient. Feste Lobby-Interessen und Günstlingswirtschaft haben einen bestimmenden Einfluss auf den Beschlussfassungsprozess. Repräsentationsstruktur, Formen der Mediation zwischen Staat und Gesellschaft, Rechtsstaatlichkeit und Antikorruptionsmaßnahmen — all dies muss in der Ukraine dringend verbessert werden.

5.   Die Zivilgesellschaft und ihre Rolle bei der Heranführung der Ukraine an die Europäische Union

5.1   Eine Bestandsaufnahme der Zivilgesellschaft in der Ukraine

5.1.1

Aus amtlichen Statistiken geht hervor, dass es in der Ukraine über 50 000 eingetragene zivilgesellschaftliche Organisationen gibt. Amtlichen Quellen zufolge verfügen 90 % dieser Organisationen über ein jährliches Budget in Höhe von 50 000 bis 300 000 US-Dollar. Dass über 80 % der ukrainischen Bürger in keiner Freiwilligenorganisation mitwirken, zeigt andererseits, dass die Bürgerbeteiligung in der Ukraine sowohl im Vergleich zu den westlichen Demokratien als auch den mittel- und osteuropäischen Staaten sehr gering ist.

5.1.2

Für diese geringe Bürgerbeteiligung gibt es zahlreiche Gründe: verbreitetes Misstrauen gegenüber Organisationen und dem politischen Prozess im Allgemeinen, das aus den „Zwangsritualen“ der Sowjetzeit herrührt, Enttäuschung über die Ergebnisse der demokratischen und marktpolitischen Reformen, fehlende starke Mittelschicht und Fortbestehen informeller sozialer Netzwerke. Diese Merkmale haben neben dem Misstrauen des Staates gegenüber einem aktiven Bürgerengagement dazu geführt, dass die Ukraine in ihrem derzeitigen „halbdemokratischen“ Zustand stagniert.

5.1.3

Es gibt jedoch auch Fortschritte. In den Jahren 2005-2006 arbeiteten einige Verbände an einem Grundsatzpapier der Zivilgesellschaft, um Forderungen an die Behörden aufzustellen. Die meisten dieser Grundsatzvorschläge wurden in das Konzept zur Förderung des Instituts der Zivilgesellschaft durch die öffentlichen Behörden aufgenommen. Im November 2007 wurden auf der landesweiten Konferenz zum Thema „Politik zur Förderung der Entwicklung der Zivilgesellschaft — neue Prioritäten“ Vorschläge für die neue Regierung und das Parlament hinsichtlich der Entwicklung der Zivilgesellschaft und des zivilen Dialogs ausgearbeitet.

5.1.4

Zur Vervollständigung der Rechtsvorschriften über zivilgesellschaftliche Organisationen ist ein neues Gesetz über bürgerliche Organisationen erforderlich, das ein einfacheres und kostengünstigeres Verfahren zur Anmeldung zivilgesellschaftlicher Organisationen, die Genehmigung zur Gründung einer Organisation durch juristische Personen, die Beseitigung der derzeitigen räumlichen Einschränkungen für die Tätigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen und die Anerkennung als Wahrer der Rechte aller Einzelnen vorsieht.

5.1.5

Ein weiteres Problem bei der Entwicklung der Zivilgesellschaft in der Ukraine ist die mangelnde staatliche Finanzierung. Aus manchen Quellen geht hervor, dass die staatliche Finanzierung lediglich 2 % der Einnahmen zivilgesellschaftlicher Organisationen ausmacht. Dies ist extrem wenig, berücksichtigt man, dass sich dieser Anteil in den mitteleuropäischen Nachbarstaaten der Ukraine auf 30-40 % beläuft. In den meisten alten EU-Mitgliedstaaten sind staatliche Zuschüsse die Haupteinnahmequelle der zivilgesellschaftlichen Organisationen.

5.2   Sozialer Dialog

5.2.1

Die Gewerkschaften sind im Ukrainischen Gewerkschaftsbund (FTUU), der Nationalen Gewerkschaftsvereinigung und den Freien ukrainischen Gewerkschaften organisiert. Die Nationale Vereinigung der ukrainischen Gewerkschaften (NKPU) ist ein 2004 gegründetes nationales Gewerkschaftszentrum in der Ukraine. Es entstand infolge einer Abspaltung vom Gewerkschaftsbund FTUU. Trotz der formell gut entwickelten Strukturen spielen Gewerkschaften beim Schutz der Interessen ihrer Mitglieder, beispielsweise bei der Förderung der Sicherheit am Arbeitsplatz, eine geringe Rolle.

5.2.2

Einige Arbeitgeber- und Unternehmensverbände sind hingegen relativ einflussreich und in der Lage, ihre Interessen zu vertreten (Vereinigung ukrainischer Arbeitgeber, Ukrainische Industrie- und Handelskammer usw.). In der Ukraine gibt es jedoch weder Rechtsvorschriften über die Lobby-Arbeit noch eine strukturierte Konsultation zur Förderung der jeweiligen Interessen.

5.2.3

Gemäß dem Präsidialerlass (3) über die Entwicklung des sozialen Dialogs in der Ukraine wurde 2006 der drittelparitätisch besetzte Wirtschafts- und Sozialrat der Ukraine (National Tripartite Social and Economic Council, NTSEC) als ein Beratungsorgan des ukrainischen Präsidenten gegründet. Auch auf der regionalen Ebene entstanden drittelparitätisch besetzte Wirtschafts- und Sozialräte für ein bestimmtes Gebiet.

5.2.4

Diese Einrichtungen zielen darauf ab, den sozialen Dialog auszubauen und die Vertreter der Arbeitnehmer und Arbeitgeber in die Gestaltung und Umsetzung der ukrainischen Sozial- und Wirtschaftspolitik einzubinden.

5.3   Die Rolle der ukrainischen Zivilgesellschaft im europäischen Integrationsprozess

5.3.1

Obwohl der ukrainischen Zivilgesellschaft, wie gesagt, eine recht geringe Bedeutung zukommt, spielen einige aktive Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Förderung der europäischen Werte eine wichtige Rolle: Sie beobachten die Arbeit der Behörden und treten für bestimmte Handlungsansätze ein, stellen den Behörden ihr Fachwissen zur Verfügung, verfolgen die öffentliche Meinung und informieren über die EU. Solche Maßnahmen werden in der Regel finanziell von internationalen Gebern unterstützt, obwohl die Arbeit dieser Organisationen oftmals den Zielen einschlägiger staatlicher Programme entspricht und es gesetzliche Wege zur staatlichen Unterstützung der Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen gibt.

5.3.2

Die Auswirkungen dieser Maßnahmen auf den eigentlichen Fortschritt der Heranführung der Ukraine an die Europäische Union oder auf die Europäisierung der Ukraine sind eher gering. Dies hat mit der schwachen Stellung und der spärlichen Ausstattung der Zivilgesellschaft zu tun, die nicht ausreichend konsolidiert bzw. organisiert ist, um Einfluss auf die Entscheidungsträger auszuüben. Darüber hinaus besteht zwischen den Organisationen der Zivilgesellschaft und dem Durchschnittsbürger eine recht schwache Verbindung. Daher können die zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktivisten nur wenig ausrichten, um die Bürger zu mobilisieren und auf die öffentliche Meinungsbildung Einfluss zu nehmen. Ein weiteres großes Hindernis für die Einflussnahme der Zivilgesellschaft ist die instabile politische Lage.

5.3.3

Wenn es den Organisationen der Zivilgesellschaft jedoch tatsächlich gelingt, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen, dann liegt es an einzelnen Politikern oder Beamten, die sich offen und kooperativ zeigen. Die Ernennung des Vizeministerpräsidenten für europäische Integration im Dezember 2007 wirkte sich positiv auf die Beteiligung der Zivilgesellschaft aus. Zivilgesellschaftliche Experten werden nun an der Ausarbeitung staatlicher Programme im Bereich der europäischen Integration beteiligt und zu verschiedenen Themen, die in die Zuständigkeit des Vizeministerpräsidenten fallen, konsultiert.

5.3.4

Abgesehen von der durchaus aktiven Beteiligung einiger weniger Nichtregierungsorganisationen nimmt die Zivilgesellschaft die europäische Integration im Allgemeinen als etwas Abstraktes wahr. Solange die verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen (Gewerkschaften, Berufsverbände, Verbraucherorganisationen usw.) nicht einsehen, dass die europäische Integration für den Alltag von Bedeutung ist und sich die Reformen auf jeden Einzelnen auswirken werden, wird ihre Rolle weiterhin passiv bleiben.

6.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen für eine neue, dynamische Rolle der Zivilgesellschaft in den Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine

6.1

Damit die Zivilgesellschaft eine stärkere Rolle spielen kann, bedarf es sowohl eines günstigen gesamtpolitischen Umfelds in den Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine als auch spezifischer Maßnahmen zur Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft.

6.2

Folgenden Aspekten kommt im Hinblick auf das gesamtpolitische Umfeld und die Dynamik der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine eine grundlegende Bedeutung zu:

6.2.1

Im Rahmen des Assoziierungsabkommens sollte der Ukraine die Möglichkeit eines EU-Beitritts in Aussicht gestellt werden. Dies wird zu einer Stärkung der reformfreudigen Kräfte, darunter auch jener der Zivilgesellschaft, beitragen. Die von einer potenziellen EU-Mitgliedschaft ausgehenden Impulse werden die Umsetzung gesellschaftlicher Reformen fördern und deren Gegnern den Wind aus den Segeln nehmen. Sowohl ukrainische als auch internationale Experten sind sich darüber einig, dass selbst ein Verweis auf Artikel 49 des EU-Vertrags, der besagt, dass jedes europäische Land, das die Beitrittskriterien erfüllt, EU-Mitglied werden kann, bereits ein starkes Signal an die Ukraine darstellen würde.

6.2.2

Ebenso sollte der Aussicht auf einen visumfreien Reiseverkehr Glaubwürdigkeit verliehen und der Ukraine ein entsprechender Zeitplan vorgelegt werden. Aufgrund der gegenwärtigen Einschränkungen der Reisefreiheit haben zivilgesellschaftliche Akteure nur bedingt die Möglichkeit, Partnerschaften zu den Vertretern der Zivilgesellschaft der EU aufzubauen. Insgesamt würde die Visumfreiheit zu einer Förderung der persönlichen Kontakte und zur Verbreitung europäischer Standards, Werte und Vorgehensweisen in der Ukraine beitragen.

6.2.3

Sowohl die EU als auch die Ukraine sollten alles daran setzen, um zu gewährleisten, dass die Ukraine die Unterstützung aus den verfügbaren Gemeinschaftsprogrammen und durch die EU-Agenturen so gut wie möglich nutzen kann (4). Gleichzeitig müssen neue Möglichkeiten zur Stärkung der direkten Kontakte zwischen der Bevölkerung der EU und jener der Ukraine ausgelotet und umgesetzt werden.

6.3

Gezielte Maßnahmen zur Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft sollten auf folgenden drei Aspekten aufbauen:

6.3.1

Erstens sollte den zivilgesellschaftlichen Akteuren eine wichtigere Rolle in der Politikgestaltung (Planung, Umsetzung und Überwachung der Durchführung der politischen Maßnahmen) zugestanden werden, wobei dies insbesondere im Hinblick auf Maßnahmen im Zusammenhang mit der EU gilt.

6.3.2

Die zivilgesellschaftlichen Akteure müssen im Rahmen der Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine konsultiert werden, wobei jährlich Prioritäten für die Zusammenarbeit festzulegen sind (derzeit im Rahmen der Tätigkeit der aufgrund des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens eingerichteten gemeinsamen Gremien und nach Inkrafttreten des Assoziierungsabkommens nach Maßgabe der darin niedergelegten einschlägigen Bestimmungen), eine Halbzeitbewertung der aktuellen finanziellen Vorausschau durchzuführen ist (Länderstrategiepapier des Europäischen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstruments (ENPI) 2007-2013 für die Ukraine) sowie Einjahresprogramme im Rahmen des ENPI auszuarbeiten (und insbesondere Prioritäten für die Bereitstellung von Finanzmitteln für die Ukraine im Rahmen des ENPI festzulegen) sind.

6.3.3

Die EU und die Ukraine sollten eine unabhängige Überwachung durch die Zivilgesellschaft anregen, unterstützen und berücksichtigen.

6.3.4

Zweitens sollten sich die EU und die ukrainische Regierung für die Schaffung eines Regelungsumfelds einsetzen, das die Einbindung der Zivilgesellschaft begünstigt. In diesem Zusammenhang müsste gewährleistet werden, dass die ukrainischen Organisationen der Zivilgesellschaft u.a. Zugang zu ukrainischen Fördermitteln haben (einschließlich staatlicher Hilfen, die beispielsweise im Rahmen von Dienstleistungsverträgen gewährt würden), um ihre derzeitige Abhängigkeit von ausländischen Geldgebern zu verringern.

6.3.5

Drittens sollte die EU die Ukraine bei der Entwicklung einer Strategie für den Aufbau von Kapazitäten der ukrainischen Zivilgesellschaft unterstützen. Gegenwärtig ist die ukrainische Zivilgesellschaft ziemlich zersplittert und hat kaum bzw. gar keinen Einfluss auf die Politikgestaltung. Sowohl die Maßnahmen der EU als auch jene der ukrainischen Regierung sollten darauf abzielen, die Zivilgesellschaft zu einem starken Partner zu machen, wobei dem Kapazitätenaufbau eine immense Bedeutung zukommt. Unter anderem müssten folgende Maßnahmen ergriffen werden:

Schaffung eines breiteren und leichteren Zugangs zu EU-Fördermitteln, insbesondere für an der Basis tätige zivilgesellschaftliche Organisationen, wobei der Schwerpunkt nicht nur auf Projekte, sondern auch auf den Aufbau von Institutionen und die allgemeine Konsolidierung gelegt werden sollte;

Durchführung von Schulungen zum Thema Kapazitätenaufbau für die zivilgesellschaftlichen Organisationen der Ukraine mit Schwerpunkt auf Projektmanagement, Bildung von Netzen, Verhandlungsführung usw. Außerdem sollten die ukrainischen Organisationen der Zivilgesellschaft besser über die bereits bestehenden Möglichkeiten informiert werden, die die EU bietet (einschließlich des Zugangs zu Fördermitteln);

Unterstützungsangebote im Hinblick auf die Stärkung konkreter zivilgesellschaftlicher Initiativen, einschließlich der Bildung von Bündnissen und Kooperationsplattformen zwischen den zivilgesellschaftlichen Organisationen der Ukraine.

6.3.6

Darüber hinaus muss das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine als Instrument zur Förderung des Reformprozesses und Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft eingesetzt werden. Neben der bereits angesprochenen Beitrittsperspektive sollte der Ratsbeschluss über das Assoziierungsabkommen auch einen Verweis auf Artikel 310 EGV (5) enthalten, auf dessen Grundlage die EU Assoziierungsabkommen mit Drittstaaten abschließen kann.

6.3.7

In dem Übereinkommen sollte außerdem explizit festgehalten werden, dass sich beide Seiten (die EU und die Ukraine) zu einer Stärkung der ukrainischen Zivilgesellschaft sowie dazu verpflichten, ihr die Beteiligung am zivilen Dialog und an der Politikgestaltung zu ermöglichen.

6.4

Das Abkommen sollte die Einrichtung eines gemeinsamen zivilgesellschaftlichen Organs als Teil des Institutionengefüges EU/Ukraine vorsehen. Der EWSA empfiehlt in dieser Hinsicht den Aufbau eines dauerhaften, der Zukunft zugewandten Verhältnisses zur ukrainischen Zivilgesellschaft, indem unsere Beziehungen zunächst strukturiert werden, zum Beispiel durch die Veranstaltung eines Workshops im Oktober 2008, auf dem die Bildung dieses gemeinsamen Organs mit der ukrainischen Zivilgesellschaft weiter erörtert wird.

6.4.1

Das gemeinsame Organ würde sich aus einer bestimmten Anzahl an Mitgliedern des EWSA und ebenso vielen Mitgliedern eines Gremiums zusammensetzen, das die Zivilgesellschaft der Ukraine vertritt. Die ukrainische Delegation könnte sich aus Mitgliedern des ukrainischen Wirtschafts- und Sozialrats NTSEC (Arbeitgeber-, Gewerkschafts- und Regierungsvertreter) und aus Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen, die nicht im NTSEC repräsentiert sind, zusammensetzen. Den Vorsitz des gemeinsamen Organs würden zwei Ko-Vorsitzende führen, einer vom EWSA und einer aus der Ukraine. Das Organ könnte zwei Sitzungen pro Jahr (eine in Brüssel und eine in der Ukraine) abhalten, vom Gemeinsamen Rat konsultiert bzw. von sich aus tätig werden und diverse Themen erörtern, die von wechselseitigem Interesse und von Belang für die Zivilgesellschaft sind. Die Hauptziele des gemeinsamen Organs der Zivilgesellschaft EU/Ukraine könnten insbesondere in den folgenden Bereichen liegen:

Sicherstellung der Einbindung der organisierten Zivilgesellschaft in die Beziehungen EU/Ukraine;

Förderung der öffentlichen Debatte und der Bewusstseinsbildung in der Ukraine im Hinblick auf die ukrainischen Beziehungen zur EU und die Annäherung der Ukraine an die EU;

Bemühungen im Hinblick auf eine stärkere Einbindung der ukrainischen Zivilgesellschaft in die Umsetzung des Nationalen Aktionsplans und des neuen Assoziierungsabkommens nach dessen Inkrafttreten sowie auf eine bessere Beteiligung der Zivilgesellschaft an den innerukrainischen Beschlussfassungsprozessen;

Unterstützung beim Aufbau von Institutionen und der Konsolidierung zivilgesellschaftlicher Strukturen in der Ukraine durch unterschiedliche Maßnahmen, darunter Bildung informeller Netze, Besuche, Workshops sowie weitere Aktivitäten;

Gewährleistung des Zugangs von Vertretern der ukrainischen Zivilgesellschaft zu Informationen über den Ablauf der Konsultationsprozesse innerhalb der EU und, allgemeiner, den Dialog zwischen den Partnern des sozialen und des zivilen Dialogs in der EU.

Brüssel, den 18. September 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Für die Zwecke dieser Stellungnahme besteht die Zivilgesellschaft aus drei Arten von Einrichtungen, die sich nach ihrer Tätigkeit unterscheiden lassen: 1) Interessenorganisationen, die die Interessen und Werte bestimmter Gruppen oder der Gesellschaft als Ganzes vertreten und fördern, 2) Dienstleistungsorganisationen, die Dienstleistungen für ihre Mitglieder oder ein breiteres Spektrum an Nutzern erbringen, und 3) Hilfsorganisationen, die Ressourcen bereitstellen, um Bedürftigen zu helfen oder bestimmte Maßnahmen zu ermöglichen. Zu den zivilgesellschaftlichen Organisationen gehören Gewerkschaften, Arbeitgeber- und Unternehmensverbände, Organisationen, die für Rechte eintreten, Organisationen, die Sozialdienste erbringen oder benachteiligte Gesellschaftsgruppen vertreten, und Organisationen, die besondere Interessen vertreten, beispielsweise Jugendorganisationen oder Verbraucherverbände. Aus: Zimmer, A. und Priller, E. (Hrsg.), Future of Civil Society. Making Central European Nonprofit Organizations work. VS Verlag fűr Sozialwissenschaften, S. 16.

(2)  Dieses Abkommen wurde bisher als „neues, verbessertes Übereinkommen“ bezeichnet. Die Schlusserklärung des Gipfeltreffens EU/Ukraine (vom 9. September 2008) spricht vom Abschluss eines Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine.

(3)  Erlass des ukrainischen Präsidenten Nr. 1871 vom 29. Dezember 2005.

(4)  Mitteilung der Kommission vom 29.11.2006 an den Rat und das Europäische Parlament über das allgemeine Konzept zur Ermöglichung einer Beteiligung von ENP-Partnerstaaten an Gemeinschaftseinrichtungen und -programmen (KOM(2006) 724 endg.).

(5)  Näheres dazu siehe Sushko, O., Khorolsky, R., Shumylo, O., Shevliakov, I. (2007): The New Enhanced Agreement between Ukraine and the EU: Proposals of Ukrainian Experts. KAS Policy Paper 8. Siehe außerdem Hillion, C. (2007): „Mapping-Out the New Contractual Relations between the European Union and its Neighbours: Learning from the EU-Ukraine ‚Enhanced Agreement‘“, in European Foreign Affairs Review 12, S. 169–182.


ANHÄNGE

 

ANHANG I

STRUKTUR DER UKRAINISCHEN ZIVILGESELLSCHAFT UND INTENSITÄT DER TÄTIGKEIT IN DEN EINZELNEN REGIONEN

52 693

Nichtregierungsorganisationen und deren Büros

20 186

Religiöse Organisationen

18 960

Gewerkschaften

15 867

Politische Parteien und deren Büros

10 705

Wohlfahrts- und Hilfsorganisationen

6 003

Vereinigungen von Miteigentümern von Wohnhochhäusern

5 480

Konsumgesellschaften

982

Kreditgenossenschaften

473

Konsumgesellschaftsvereinigungen

Stand: 1. Juli 2007. Alle gemeldeten Organisationen der Zivilgesellschaft sind mitgezählt. Fachleute schätzen jedoch, dass von dieser Vielzahl gemeldeter Organisationen nur rund 2 500 wirklich gesellschaftlich aktiv sind.

Regionen mit der größten Tätigkeitsintensität:

L'viv (Lemberg) und Stadt Kiew

mehr als 4 000 zivilges. Org.

Bezirk Saporoschje (Gebiet)

rund 1 500 zivilges. Org.

Bezirk Dnjepropetrowsk

knapp 1 000 zivilges. Org.

Bezirk Odessa

rund 1 000 zivilges. Org.

Bezirk Lugansk

mehr als 750 zivilges. Org.

Quelle:

Latsyba,M. (2008): Development of Civil Society in Ukraine. Ukrainian Independent Centre for Policy Studies.

ANHANG II:

TÄTIGKEITSSCHWERPUNKTE ZIVILGESELLSCHAFTLICHER ORGANISATIONEN DER UKRAINE

Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

45 %

Lösung sozialer Probleme

35 %

Schutz der Menschenrechte

31 %

Öffentliche Bildung

28 %

Entwicklung der Zivilgesellschaft

19 %

Am 1. Januar 2007 waren beim ukrainischen Justizministerium 1791 landesweit tätige zivilgesellschaftliche Organisationen gemeldet:

412

Berufsverbände

77

Veteranen- und Behindertenverbände

332

Turn- und Sportvereine

56

Umweltorganisationen

168

Bildungs- und Kulturvereine

45

Frauenorganisationen

153

Wissenschafts-, Technik- und Kunstvereinigungen

36

Tschernobyl-Hilfsorganisationen

153

Jugendorganisationen

13

Kinderschutzverbände

137

Organisationen für nationale und freundschaftliche Beziehungen

9

Arbeitgebervereinigungen

114

Gewerkschaften und deren Untergliederungen

3

Organisationen für den Schutz von Geschichts- und Kulturdenkmälern

Quellen:

Latsyba, M. (2008), Development of Civil Society in Ukraine. Ukrainian Independent Centre for Policy Studies and Creative Centre Counterpart (2006), NGO Status and Development Dynamics, 2002-2005. Zitiert nach Latsyba op.cit.

ANHANG III:

VERGLEICHENDE ANALYSE DER EINNAHMEN ZIVILGESELLSCHAFTLICHER ORGANISATIONEN DER UKRAINE

Land

Finanzierungsquellen zivilges. Org. in Prozent

Staatliche Zuschüsse

Zahlungen für Dienstleistungen der zivilges. Org.

Private Zuwendungen (ohne Arbeitszeiten freiwilliger Helfer)

Großbritannien

45 %

43 %

11 %

Deutschland

64 %

32 %

3 %

Frankreich

58 %

35 %

8 %

Polen

24 %

60 %

15 %

Rumänien

45 %

29 %

26 %

Ungarn

27 %

55 %

18 %

Slowakei

21 %

54 %

25 %

Tschechische Republik

39 %

47 %

14 %

Russland

1 %

36 %

63 %

UKRAINE

2 %

25 %

72 %

Quelle:

Latsyba, M. (2008), Development of Civil Society in Ukraine. Ukrainian Independent Centre for Policy Studies, basierend auf folgenden Quellen:

 

Lester M. Salomon et al. (2003): Global Civil Society. An Overview. The Johns Hopkins University, USA.

 

Civil Society Institute (2005), NGO Funding in Ukraine. Analytical Study. Kiew.

 

Municipal Economy Institute Foundation (2003), The Role of Non-Commercial Sector in the Economic Development of Russia. Moskau.