ISSN 1725-2407

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 120

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

48. Jahrgang
20. Mai 2005


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II   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

412. Plenartagung vom 27./28. Oktober 2004

2005/C 120/1

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Rückversicherung und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG, 92/49/EWG und der Richtlinien 98/78/EG und 2002/83/EG(KOM(2004) 273 endg. – 2004/0097 (COD))

1

2005/C 120/2

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung von Toluol und Trichlorbenzol (achtundzwanzigste Änderung der Richtlinie 76/769/EWG)(KOM(2004) 320 endg. – 2004/0111 (COD))

6

2005/C 120/3

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Fähigkeit der Anpassung der KMU und der sozialwirtschaftlichen Unternehmen an die durch die wirtschaftliche Dynamik vorgegebenen Änderungen

10

2005/C 120/4

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die gesamteuropäischen Verkehrskorridore

17

2005/C 120/5

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Hochgeschwindigkeitsverbindungen für Europa: Neue Entwicklungen in der elektronischen Kommunikation(KOM(2004) 61 endg.)

22

2005/C 120/6

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verbesserung der Gefahrenabwehr in Häfen(KOM(2004) 393 endg. – 2004/0031 (COD))

28

2005/C 120/7

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung bestimmter polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe in Weichmacherölen und Reifen (Siebenundzwanzigste Änderung der Richtlinie 76/769/EWG des Rates)(KOM(2004) 98 endg. – 2004/0036 (COD))

30

2005/C 120/8

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2702/1999 über Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen für Agrarerzeugnisse in Drittländern und der Verordnung (EG) Nr. 2826/2000 über Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen für Agrarerzeugnisse im Binnenmarkt(KOM(2004) 233 endg. - 2004/0073 (CNS))

34

2005/C 120/9

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Industrieller Wandel und staatliche Beihilfen im Stahlsektor

37

2005/C 120/0

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Gesundheitssicherstellung: eine kollektive Verpflichtung, ein neues Recht

47

2005/C 120/1

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission – Reaktion auf den Reflexionsprozess auf hoher Ebene über die Patientenmobilität und die Entwicklungen der gesundheitlichen Versorgung in der Europäischen Union(KOM(2004) 301 endg.)

54

2005/C 120/2

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgender Kommissionsvorlage:

60

2005/C 120/3

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Ausbildung und Produktivität

64

2005/C 120/4

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Entscheidung des Rates zur Änderung der Entscheidung des Rates 2002/463/EG über ein Aktionsprogramm für Verwaltungszusammenarbeit in den Bereichen Außengrenzen, Visa, Asyl und Einwanderung (ARGO-Programm)(KOM(2004) 384 endg. – 2004/0122 (CNS))

76

2005/C 120/5

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht(KOM(2003) 808 endg. – 2003/0311 (CNS))

78

2005/C 120/6

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Durchführung der Lissabon-Strategie verbessern

79

2005/C 120/7

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen als Herausforderung

89

2005/C 120/8

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch zu öffentlich-privaten Partnerschaften und den gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften für öffentliche Aufträge und Konzessionen(KOM(2004) 327 endg.)

103

2005/C 120/9

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 92/12/EWG über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren(KOM(2004) 227 endg.)

111

2005/C 120/0

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Anpassung der Richtlinie 77/388/EWG aufgrund des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union(KOM(2004) 295 endg.)

114

2005/C 120/1

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Endenergieeffizienz und zu Energiedienstleistungen(KOM(2003) 739 endg. — 2003/0300 (COD))

115

2005/C 120/2

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Elektrizitätsversorgung und von Infrastrukturinvestitionen(KOM(2003) 740 endg. — 2003/0301 (COD))

119

2005/C 120/3

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vertrag über eine Verfassung für Europa

123

2005/C 120/4

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Umweltschutz als wirtschaftliche Chance

128

2005/C 120/5

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Modernisierung des Sozialschutzes für die Entwicklung einer hochwertigen, zugänglichen und zukunftsfähigen Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege: Unterstützung der einzelstaatlichen Strategien durch die offene Koordinierungsmethode(KOM(2004) 304 endg.)

135

DE

 


II Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

412. Plenartagung vom 27./28. Oktober 2004

20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Rückversicherung und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG, 92/49/EWG und der Richtlinien 98/78/EG und 2002/83/EG“

(KOM(2004) 273 endg. – 2004/0097 (COD))

(2005/C 120/01)

Der Rat beschloss am 10. Juni 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 6. Oktober 2004 an. Berichterstatter war Herr FRANK von FÜRSTENWERTH.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 158 Stimmen gegen 4 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Gegenwärtig besteht in der EU kein harmonisierter Rahmen für die Aufsicht über Rückversicherungsunternehmen. Entsprechend divergieren die Aufsichtssysteme für Rückversicherungstätigkeit zwischen den Mitgliedstaaten stark.

1.2

Vor diesem Hintergrund hat die Kommission am 21. April 2004 den Vorschlag für eine Richtlinie über die Rückversicherung und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG, 92/49/EWG und der Richtlinien 98/78/EG und 2002/83/EG vorgelegt. Der Richtlinienvorschlag weist die folgenden wesentlichen Merkmale auf:

ein auf Harmonisierung und gegenseitiger Anerkennung beruhender Aufsichtsansatz basiert auf den gegenwärtigen Regeln für die Direktversicherungsaufsicht;

ein beschleunigtes Verfahren durch eine auf den gegenwärtigen Regelungen für die Direktversicherung aufbauende Richtlinie;

Pflichtzulassungssystem;

Anforderungen für eine Solvabilitätsspanne gemäß denjenigen für die Direktversicherung, mit der Möglichkeit, diese im Komitologieverfahren zu erhöhen.

2.   Vorschläge der Kommission

2.1

Die Richtlinie soll einen harmonisierten Aufsichtsrahmen für Rückversicherungsunternehmen und Captives (1) in der Europäischen Union schaffen.

2.2

Der Richtlinienvorschlag setzt die Mindestvoraussetzungen fest, die erforderlich sind, um die amtliche Zulassung zu erlangen. Die Voraussetzungen sind u.a. Rechtsformerfordernis, Vorlage eines Betriebsplans und Vorhalten eines Mindestgarantiefonds. Tätigkeiten werden auf das Rückversicherungsgeschäft und damit verbundene Tätigkeiten beschränkt. Zusätzlich erfolgt eine Kontrolle der qualifizierten Anteilseigner und der Unternehmensführung. Eine erteilte Zulassung ist für die gesamte Gemeinschaft gültig.

2.3

Die Richtlinie verfolgt das Ziel, Depotstellung der Rückversicherer gegenüber den Erstversicherern zu untersagen, soweit diese durch nationale Gesetzgebung der Mitgliedstaaten zwingend vorgeschrieben sind. Vertragliche Depotstellungen bleiben hiervon unberührt. Neben der Schaffung eines funktionierenden Binnenmarktes verfolgt die Kommission auch die Absicht, eine internationale Benchmark zu setzen, um Belastungen durch Depotstellungen für europäische Rückversicherer weltweit zu verringern.

2.4

Im Rahmen der Bestimmungen zur Solvabilität der Unternehmen sollen dem Schadenrückversicherungsgeschäft die Anforderungen an die Solvabilität der Schadenerstversicherungsunternehmen zugrunde gelegt werden. Diese kann im Rahmen des Komitologieverfahrens um bis zu 50 % erhöht werden. Die Bestimmungen über die Solvabilität der Lebensrückversicherungsunternehmen sollen auf denjenigen über die Solvabilität der Lebenserstversicherungsunternehmen basieren. Bei gleichzeitiger Ausübung des Lebens- und des Schadenrückversicherungsgeschäfts ist der Gesamtbetrag durch Eigenmittel vorzuhalten. Wie Erstversicherungsunternehmen sollen auch Rückversicherungsunternehmen einen Mindestgarantiefonds in Höhe von nicht weniger als 3 Mio. EUR vorzuhalten haben. Für Captives kann der Betrag auf 1 Mio. EUR reduziert werden.

2.5

Für Fälle, in denen sich die finanzielle Lage eines Unternehmens verschlechtert, keine ausreichenden versicherungstechnischen Rückstellungen gebildet sind oder die Solvabilität nicht ausreichend ist, werden in dem Richtlinienvorschlag aufsichtsrechtliche Befugnisse konkretisiert. Die Befugnisse entsprechen denjenigen im Erstversicherungsbereich und umfassen die Vorlage eines Sanierungsplans zur Wiederherstellung gesunder Finanzverhältnisse, eines Finanzierungsplans und eines finanziellen Sanierungsplans sowie den Entzug der Zulassung.

2.6

Rückversicherungsunternehmen, die vor dem Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie zur Ausübung der Rückversicherungstätigkeiten befugt oder zugelassen waren, können ihre Tätigkeiten fortsetzen, ohne eine Zulassung zu beantragen. Sie unterliegen den materiellen Vorschriften der Richtlinie. Die Mitgliedstaaten können jedoch eine zusätzliche Übergangsfrist von zwei Jahren gewähren.

2.7

In dem Richtlinienvorschlag werden die Durchführungsbefugnisse der Kommission zur Vornahme technischer Anpassungen an der Richtlinie („Komitologie“) übertragen.

2.8

Ausgehend von den Vorschriften für die Beaufsichtigung der Rückversicherungsunternehmen sollen die Bestimmungen der Lebens-, Schadens- und Versicherungsgruppenrichtlinien angepasst werden. So

darf die Aufsicht einen Rückversicherungsvertrag nicht aus Gründen ablehnen, die unmittelbar mit der finanziellen Solidität eines EU-(Rück-)Versicherungsunternehmens im Zusammenhang stehen;

darf keine Vorschrift gelten, der zufolge in einem System versicherungstechnischer Bruttorückstellungen Beitragsüberträge und Rückstellungen noch nicht abgewickelter Versicherungsfälle durch Vermögenswerte zu besichern sind (Verbot der Depotstellung);

werden Erstversicherungsunternehmen, die Rückversicherung betreiben, denselben Solvabilitätsanforderungen wie Rückversicherungsunternehmen unterstellt;

wird die Versicherungsgruppenrichtlinie in der Weise angepasst, dass Rückversicherungsunternehmen den Erstversicherungsunternehmen gleichgestellt sind.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag der Kommission, der einen Beitrag zur Stärkung des europäischen Finanzplatzes leisten wird, indem er sicherstellt, dass Rückversicherungsunternehmen und Captives über ausreichend Kapital verfügen, um die übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen. Auf diese Weise wird die Position der europäischen Rückversicherungsunternehmen auf den internationalen Versicherungsmärkten nachhaltig gestärkt.

3.2

Der Ausschuss weist ausdrücklich auf die Bedeutung der Rückversicherungswirtschaft für den europäischen Finanzplatz hin. Im Jahr 2002 betrug der gesamte Prämienbestand der 40 größten Rückversicherer 138 601 200 000 USD, wovon 58 544 000 000 USD auf die Rückversicherer in der EU entfielen.

3.3

Rückversicherungsgeschäft betrifft primär die Beziehung zwischen Erst- und Rückversicherer. Ein Ausfall eines oder mehrerer Rückversicherer kann jedoch Auswirkungen auf den Verbraucher haben, wenn aufgrund dieser Ausfälle ein Erstversicherer seine Verpflichtungen nicht mehr erfüllen kann. Der Ausschuss erkennt daher an, dass durch den Richtlinienvorschlag indirekt auch das Verbraucherschutzniveau in der EU angehoben wird. Gleichzeitig weist der Ausschuss darauf hin, dass ein ausreichender Rückversicherungsschutz auch im Interesse des Verbrauchers ist. Dieses setzt voraus, dass hinreichend Rückversicherungskapazität zu angemessenen Prämien im Europäischen Markt vorhanden ist.

3.4

Der Ausschuss begrüßt den „Fast-Track“-Ansatz der Kommission, d.h. dass aufbauend auf den gegenwärtigen Regeln für die Erstversicherungsaufsicht Regelungen für die Rückversicherungsaufsicht erlassen werden sollen. Dieses erscheint insbesondere vor dem Hintergrund des bereits laufenden Solvency-II-Projektes der richtige Ansatz.

3.5

Von größter Bedeutung ist der Umstand, dass der Rückversicherungsmarkt ein durch seine Globalität geprägter Markt ist. Der Ausschuss fordert daher Parlament, Rat und Kommission auf, in den weiteren Beratungen zur Richtlinie der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Rückversicherungswirtschaft besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

3.6

Der Ausschuss erkennt an, dass gerade auch die europäische Rückversicherungswirtschaft nach den Anschlägen des 11. September 2001 ihre finanzielle Solidität unter Beweis gestellt hat. Vor diesem Hintergrund sollte jede neue Belastung der europäischen Rückversicherungswirtschaft einer genauen Kosten-Nutzen-Analyse unterworfen werden.

3.7

Der Ausschuss erkennt an, dass bisher unterschiedliche Aufsichtssysteme in der EU bestanden. Diese sind gekennzeichnet mit einer Kombination aus Solvenz-, Kapitalanlage- und Depotregelungen. Auf der Grundlage des Kommissionsvorschlages werden insbesondere bisherige Regelungen im Bereich der Depotstellung wegfallen. Hierbei ist sicherzustellen, dass die betroffenen Aufsichtsbehörden hinreichend Vertrauen in die künftig zur Verfügung stehenden Aufsichtsinstrumentarien und deren einheitliche Anwendung in der EU entwickeln.

4.   Solvenzvorschriften für das Lebensrückversicherungsgeschäft (Artikel 38)

4.1

Dem Richtlinienvorschlag zufolge sollen die Vorschriften über die Berechnung der Solvabilitätsspanne der Lebenserstversicherungsunternehmen auf das Lebensrückversicherungsgeschäft übertragen werden. Für die Lebensrückversicherung schlägt die Kommission die unveränderte Übernahme der Solvabilitätsregeln des Erstversicherungssektors vor. Diese Solvabilitätsberechnung enthält zwei Komponenten, nämlich 3‰ der Risikosumme (sum at risk) und 4 % der mathematischen Reserven. Hierdurch kommt es aus Sicht des Ausschusses zu einer unverhältnismäßigen Belastung der europäischen Lebensrückversicherungsunternehmen. Der Vorschlag der Kommission:

berücksichtigt nicht das Geschäft/Risikoprofil der Lebensrückversicherung und führt zu einer unangemessenen Überkapitalisierung der Lebensrückversicherer;

führt zu einer erheblichen Benachteiligung europäischer Lebensrückversicherer gegenüber ihren internationalen Konkurrenten (vgl. Anlage); lässt eine weitere Verknappung der Rückversicherungskapazitäten befürchten;

führt zu einer erheblichen Verteuerung des Rückversicherungsschutzes;

kann zu Destabilisierung der Finanzmärkte beitragen, wenn aufgrund gestiegener Kosten notwendiger Rückversicherungsschutz durch die Erstversicherungsunternehmen nicht eingekauft wird;

belastet den privaten Aufbau einer kapitalgedeckten Altersvorsorge mit erheblichen weiteren Kosten.

4.2

Lebenserstversicherungsunternehmen und Lebensrückversicherer in Europa unterscheiden sich erheblich in ihrer Risikostruktur. In der Lebensrückversicherung verbleibt das Kapitalanlagerisiko in der Regel beim Erstversicherer. Schon allein dieser Unterschied zeigt, dass die Solvabilitätsformel für die Lebenserstversicherung die Risikostruktur in der Lebensrückversicherung nicht angemessen abbilden kann.

4.3

Ein Vergleich mit den Berechnungsmethoden von Rating-Agenturen zeigt, dass die Anforderungen des EU-Vorschlags überhöht sein dürften. So basieren die Solvenzanforderungen in den USA zwar auf der Risikosumme, setzen hier aber einen variablen Faktor ein, der sich nach der Größe des jeweiligen Portefeuilles richtet (0,8‰ bei Beständen über 25 Mrd. EUR - Anlage). Die Ansätze der kanadischen Aufsichtsbehörden und Rating-Agenturen sind ähnlich strukturiert.

4.4

Während das Erstversicherungsgeschäft zwischen Versicherer und Kunden nach wie vor national geprägt ist, stellt die Rückversicherung seit jeher ein internationales Geschäft dar. Dieses ergibt sich bereits aus dem Erfordernis, Risiken international zu diversifizieren. Es ist daher ein Level-Playing-Field zwischen Anbietern innerhalb der Union mit den internationalen Wettbewerbern in den USA, den Bermudas und der Schweiz erforderlich.

4.5

Die europäischen Rückversicherer, die im weltweiten Wettbewerb stehen, müssten erhebliche Nachteile gegenüber ihren außereuropäischen Konkurrenten befürchten, weil diese geringeren Eigenkapitalanforderungen unterliegen. Das Rückversicherungsgeschäft könnte vermutlich in beträchtlichem Umfang in außereuropäische Rückversicherungszentren wie Bermudas oder USA abwandern. Eine Verlagerung von Rückversicherungskapazitäten würde zu einer erheblichen Schwächung des Finanzplatzes Europa führen. Die überhöhten Anforderungen würden zwangsläufig zu einer Verknappung der Rückversicherungskapazität und/oder Verteuerung der Rückversicherungspreise führen. Diese Verteuerung der Rückversicherungspreise wird zwangsläufig auf die Produktkosten der Erstversicherer und damit auf die Verbraucher durchschlagen. Höhere Preise werden sich dann zwangsläufig negativ auf den zwingend notwendigen Aufbau einer kapitalgedeckten privaten Altersvorsorge auswirken.

4.6

All dies ist aus Sicht des Ausschusses nicht dazu geeignet, den europäischen Binnenmarkt zu fördern. Speziell auch die neuen Mitgliedstaaten der EU haben Interesse an einem funktionierenden europäischen Binnenmarkt der Rückversicherung und wären von nachteiligen Veränderungen der Rückversicherungsangebotsstruktur besonders betroffen.

4.7

Der Ausschuss kommt daher zu der Schlussfolgerung, dass der Richtlinienvorschlag zur Berechnung der Solvabilitätsspanne in der Lebensrückversicherung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Rückversicherer schaden könnte. Aus diesen Gründen ist der Ausschuss der Auffassung, dass der Vorschlag der Kommission zu den Bestimmungen der Solvabilität der Lebensrückversicherungsunternehmen deutlich zu modifizieren ist.

4.8

Der Ausschuss schlägt hierauf aufbauend vor, sich auch im Bereich der Lebensrückversicherung von der Solvabilitätsberechnung der Schadenrückversicherer leiten zu lassen.

4.8.1

Sowohl unter Risiko- als auch unter Wettbewerbsgesichtspunkten ist die Methode zur Solvabilitätsberechnung der Schadenrückversicherer mehr als ausreichend. Die Schadenssolvabilitätsformel entspricht weitgehend den Solvenzanforderungen im internationalen Vergleich, so dass Wettbewerbsnachteile für die europäische Rückversicherungswirtschaft weitgehend ausgeschlossen wären.

4.8.2

Die Schadensformel bildet das Lebensrückversicherungsgeschäft in adäquater Weise ab. Durch die überwiegende Übernahme von Sterblichkeitsrisiken entspricht das Lebensrückversicherungsgeschäft eher dem Geschäft der Schadenerstversicherer und Schadenrückversicherer als dem Geschäft der Lebenserstversicherer.

4.8.3

Einzelrisiken, die im Rahmen der Schadensformel nicht berücksichtigt werden, können im Rahmen des Solvency-II-Projektes leicht einbezogen werden.

4.8.4

Die Schadensformel ist gesetzestechnisch einfach zu implementieren, da die Kommission in dem Entwurf des Vorschlags zur Richtlinie (Revision 3) bereits einen fertigen Richtlinientext vorgelegt hatte.

4.8.5

Die Schadensformel ermöglicht es den Lebensrückversicherungsunternehmen, ihre Solvabilitätsanforderungen zeitnah zu bestimmen, da die erforderlichen Daten bereits heute in den Unternehmen vorliegen und nicht erst erhoben werden müssten. Insbesondere aufgrund mangelnder Informationen im internationalen Geschäft erscheint die Schadensformel vorteilhaft.

4.8.6

Die Schadenssolvabilitätsformel bietet sich insbesondere für einen Fast-Track-Approach an. Sie ist leicht umzusetzen, da keine weiteren zusätzlichen Adjustierungen der Formel erforderlich sind, für Fälle, in denen beispielsweise vertragliche Depots gestellt werden.

5.   Solvenzvorschriften für das Schadenrückversicherungsgeschäft (Artikel 37, 55)

5.1

Der Richtlinienvorschlag sieht vor, die Vorschriften über die Berechnung der Solvabilitätsspanne der Schadenerstversicherung auf das Schadenrückversicherungsgeschäft zu übertragen. Damit verbunden soll es möglich sein, im Rahmen des Lamfalussy-Verfahrens die Solvabilitätsanforderungen an die Schadenrückversicherung um bis zu 50 % zu erhöhen.

5.2

Der Ausschuss hält die unveränderte Übertragung der Solvenzregelungen für Schadenerstversicherer auf Schadenrückversicherer im Rahmen des Fast-Track-Ansatzes für angemessen. Der Ausschuss hat jedoch erhebliche Bedenken gegen die Ausweitung des Lamfalussy-Verfahrens im Bereich der Solvenzanforderungen.

5.3

Die vorliegende Richtlinie wurde als Fast-Track-Projekt und nicht als Rahmenrichtlinie innerhalb des Lamfalussy-Verfahrens konzipiert. Anpassungen der Solvenzanforderungen sollten erst im Rahmen des weiter reichenden Solvency-II-Projektes erfolgen.

5.4

Eine Anwendung des Lamfalussy-Verfahrens ist jedoch auch in der Sache nicht gerechtfertigt. Eigenkapitalanforderungen der Rückversicherungsunternehmen sind keinesfalls Durchführungsmaßnahmen, für deren Erlass das diesbezügliche Lamfalussy-Verfahren vorgesehen ist. Wie aus den langwierigen Verhandlungen im Bankenbereich zu Basel II leicht zu erkennen ist, handelt es sich bei den Eigenkapitalanforderungen um das „Herzstück“ des zukünftigen Aufsichtssystems und keinesfalls um eine nachgelagerte Detailregelung.

5.5

Die konkreten Eigenkapitalanforderungen sollten aus Sicht des Ausschusses bereits aus der Richtlinie selbst und nicht aus nachgelagerter Gemeinschaftsgesetzgebung erkennbar sein. Diese Unterscheidung wird auch durch den aktuellen Konventsentwurf unterstützt, der fordert, dass die wesentlichen Regelungen in der Richtlinie selbst zu finden sind. Der Hinweis der Kommission auf eine umfassende Konsultation der betroffenen Kreise greift daher zu kurz.

6.   Faktoren für Rückversicherung und Retrozession (Artikel 37, 38)

6.1

Der Richtlinienentwurf sieht vor, dass Retrozessionen an andere Rückversicherer lediglich bis zu einer Höhe von 50 % der Bruttoschadenbelastung bei der Berechnung der Solvabilität zu berücksichtigen sind. Dieses entspricht der gültigen Regelung für Erstversicherer im Lebens- und Schadensbereich. Die vorgelegte Richtlinie zur Beaufsichtigung von Rückversicherungsunternehmen sollte erheblich zur Stärkung der finanziellen Solidität der Rückversicherungsbranche innerhalb der Europäischen Union beitragen. Vor diesem Hintergrund hält der Ausschuss es für gerechtfertigt, Zessionen der Erstversicherer und Retrozessionen der Rückversicherer voll anzuerkennen, soweit der Zessionar oder Retrozessionar der Aufsicht innerhalb der Europäischen Union unterliegt.

6.2

Eine Erhöhung der Rückversicherungs- und Retrozessionsfaktoren empfiehlt sich aus Sicht des Ausschusses auch vor dem Hintergrund der gestiegenen Anforderungen an die Versicherungswirtschaft bei der Lösung gesamtgesellschaftlicher Problemstellungen. Insbesondere soweit nach den Anschlägen des 11. September 2001 der Ruf nach Deckung gegen Terrorrisiken für Industrie und Luftfahrt erfolgte, konnten kostengünstigere Lösungen aufgrund des niedrigen Rückversicherungs- und Retrozessionsfaktors teilweise nicht angeboten werden. In einzelnen Mitgliedstaaten konnten aufgrund des niedrigen Retrozessionsfaktors noch keine Versicherungslösungen für Terrorrisiken entwickelt werden.

7.   Anlageregeln (Artikel 34)

7.1

Der Ausschuss akzeptiert den in Artikel 34 verankerten Ansatz für qualitative Aufsichtsregeln (Prudent-Person-Principle). Aufgrund der Besonderheiten und insbesondere der Internationalität des Rückversicherungsgeschäfts ist dieser Ansatz besser geeignet als ein starrer quantitativer Ansatz. Die EU implementiert hiermit einen modernen Ansatz, der auch seitens der International Association of Insurance Supervisors (IAIS) empfohlen wird. Gleichzeitig erkennt der Ausschuss allerdings an, dass ein qualitativer Ansatz kein Freibrief ist, sondern von den Unternehmen eine ständige Kontrolle und Verbesserung des Kapitalanlageprozesses fordert.

7.2

Da mit der Richtlinie bislang bestehende Aufsichtsregeln (wie die Depotstellung) einzuschränken oder aufzuheben sind, wird empfohlen, in der Richtlinie den Mitgliedstaaten ein Wahlrecht einzuräumen, für die in ihrem Gebiet ansässigen Rückversicherer die Anwendung ergänzender quantitativer Anlagevorschriften zu verlangen. Dabei muss Voraussetzung sein, dass diese Vorschriften vor dem Hintergrund des „Prudent-Person-Principle“ sowie der übernommenen Verpflichtungen gerechtfertigt sind.

8.   Übergangsfristen (Artikel 51)

Rückversicherungsunternehmen unterliegen derzeit keinem einheitlichen EU-Rechtsrahmen. Der Ausschuss empfiehlt der Kommission daher umfassend zu prüfen, ob weitere Übergangsregelungen erforderlich sind. Diese könnten z.B. aktuell genutzte Eigenkapitalinstrumente der Rückversicherer betreffen, die im Rahmen der Eigenkapitalanforderungen für Erstversicherer nicht anerkannt werden.

9.   Schlussfolgerungen

9.1

Der Ausschuss unterstützt im Rahmen der geäußerten Vorbehalte den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Rückversicherung und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG, 92/49/EWG und der Richtlinien 98/78/EG und 2002/83/EG. Er ist der Auffassung, dass der Vorschlag fast alle Bereiche der Aufsicht von Rückversicherungsunternehmen umfasst. Mit der vollständigen Umsetzung der Richtlinie wird ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung und Stabilität der Rückversicherungsmärkte in der Europäischen Union geleistet, was der Zielsetzung der Kommission entspricht.

9.2

Nach Prüfung des Kommissionsvorschlages hat der Ausschuss ausgewählte Aspekte des Richtlinienvorschlags aufgegriffen, um der Kommission konkrete Hinweise und Anregungen auch für weiterführende Überlegungen und Analysen zu geben. Der Ausschuss schlägt vor, auch im Bereich der Lebensrückversicherung die Solvabilitätsberechnung der Schadenrückversicherer zugrunde zu legen. Weiterhin sollten die Solvenzanforderungen nicht in den Anwendungsbereich des Lamfalussy-Verfahrens fallen. Da der Ausschuss das Richtlinienvorhaben als wichtig ansieht, plädiert er für ein zügiges Gesetzgebungsverfahren.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Bei einer Captive, die Rückversicherungsgeschäft betreibt, handelt es sich um einen Rückversicherer, der zu einem Unternehmen oder einer Gruppe von Unternehmen gehört, wobei das Unternehmen oder die Gruppe von Unternehmen nicht als Erst- oder Rückversicherer tätig sind. Die Geschäftstätigkeit einer Captive ist darauf beschränkt, diesem Unternehmen oder dieser Gruppe von Unternehmen Rückversicherungsschutz anzubieten.


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/6


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung von Toluol und Trichlorbenzol (achtundzwanzigste Änderung der Richtlinie 76/769/EWG)“

(KOM(2004) 320 endg. – 2004/0111 (COD))

(2005/C 120/02)

Der Rat beschloss am 11. Mai 2004 gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 6. Oktober 2004 an. Berichterstatter war Herr Sears.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 165 Stimme bei 1 Gegenstimme und 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

„Altstoffe“ sind chemische Stoffe, die zwischen dem 1. Januar 1971 und 18. September 1981 in der Europäischen Gemeinschaft in Verkehr gebracht wurden. 100.195 solcher Stoffe sind identifiziert und in das Europäische Verzeichnis der im Handel erhältlichen Stoffe (EINECS, European Inventory of Existing Commercial Chemical Substances) aufgenommen worden, das 1990 im Amtsblatt veröffentlicht wurde (1). Nach dem 18. September 1981 in Verkehr gebrachte Stoffe werden als „Neustoffe“ definiert und erfordern eine dem Inverkehrbringen vorausgehende Anmeldung gemäß den einschlägigen EU-Rechtsvorschriften.

1.2

Die Risiken dieser Altstoffe für die menschliche Gesundheit und die Umwelt werden im Rahmen der Verordnung (EWG) 793/93 des Rates (2) regelmäßig bewertet. Bislang sind vier Listen mit Vorrang zu prüfender Stoffe (Prioritätenlisten) erstellt worden, wobei die Bewertung von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten vorzunehmen ist. Die letzte dieser Listen stammt vom 25. Oktober 2000 (3). Darin wurden 141 Stoffe identifiziert, bei denen entweder aufgrund ihrer spezifischen Strukturen oder bekannter bzw. voraussichtlicher biochemischer Wechselwirkungen ein Risiko vermutet wird oder bei denen die hohen Produktionsvolumen (HPV) Anlass zu Besorgnis gaben.

1.3

Die Mitgliedstaaten bewerten jeden einzelnen Stoff in sämtlichen Herstellungs- und Verwendungsstufen sowohl im Hinblick auf die sein Gefahrenpotenzial als auch auf die Exposition, um festzustellen, ob tatsächlich Risiken für Gesundheit und Umwelt bestehen und welche Risikobegrenzungsmaßnahmen gegebenenfalls erforderlich sind. Wird festgestellt, dass – obwohl der Stoff in einer Prioritätenliste steht – bei einer tatsächlichen oder geplanten Verwendung keine oder nur sehr geringe Risiken bestehen, werden Kontrollmaßnahmen entweder nicht vorgeschrieben oder wirken sich kaum aus.

1.4

Im Gegenzug sind die von den Mitgliedstaaten vervollständigten Risikobewertungsberichte vom Wissenschaftlichen Ausschuss für Toxizität, Ökotoxizität und Umwelt (CSTEE) ausgewertet worden. Ist der Wissenschaftliche Ausschuss für Toxizität, Ökotoxizität und Umwelt mit den Schlussfolgerungen einverstanden und unterstützt das allgemeine Bewertungsverfahren, können gegebenenfalls Risikobegrenzungsmaßnahmen zur Änderung von Anhang 1 der Richtlinie 76/769/EWG des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen vorgeschlagen werden (4). Dieser Vorschlag ist die achtundzwanzigste Änderung dieser Art.

1.5

Die beiden in dem Vorschlag genannten Stoffe (Toluol und Trichlorbenzol) sind entsprechend dem oben genannten Verfahren bewertet worden. Beide wurden in die zweite Prioritätenliste aufgenommen, die als Verordnung Nr. 2268/95 der Kommission vom 27. September 1995 veröffentlicht wurde (5). Der Bewertungsprozess wurde für beide Stoffe Dänemark zugewiesen. Der Wissenschaftliche Ausschuss für Toxizität, Ökotoxizität und Umwelt bestätigte die anschließenden Risikobewertungsberichte grundsätzlich in den Stellungnahmen, die er auf seiner 24. und 25. Plenartagung am 12. Juni 2001 bzw. 20. Juli 2001 vorlegte.

1.6

Dieser Vorschlag enthält Risikobegrenzungsmaßnahmen für beide Stoffe, die von den Mitgliedstaaten innerhalb von achtzehn Monaten nach Inkrafttreten der Richtlinie umgesetzt werden sollen. Die Kommission veröffentlichte den Vorschlag am 28. April 2004. Nach Befolgung der einschlägigen Verfahren und sofern Einvernehmen über die erforderlichen Änderungen erzielt werden kann, dürfte er spätestens im Juni 2006 auf Ebene der Mitgliedstaaten in Kraft treten.

2.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags

2.1

Der Vorschlag hat den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt sowie die Errichtung (bzw. Erhaltung) des Binnenmarktes für diese beiden Stoffe zum Ziel. Es dürften dadurch nur geringe oder überhaupt keine Kosten entstehen, da die Verwendungen in den genannten Anwendungen bereits rückläufig sind und davon ausgegangen wird, dass Alternativen leicht zugänglich sind.

2.2

Bei Toluol, das als vielseitiger Stoff mit hohem Produktionsvolumen gilt und als wesentlicher Rohstoff für die Chemikaliensynthese und Lösungsmittel in zahlreichen Industrie- und Verbraucheranwendungen eingesetzt wird, sollen die Beschränkungen für Verwendungen bei einer Massenkonzentration von 0,1 % oder darüber in frei verkäuflichen Klebstoffen und Sprühfarben gelten. Dies gilt nicht für Industrieanwendungen und soll dem Gesundheitsschutz der Verbraucher dienen.

2.3

Bei Trichlorbenzol, dessen Verwendung als Zwischenprodukt bei der Herstellung bestimmter Herbizide und Prozesslösungsmittel in geschlossenen Systemen stärker begrenzt ist, sollen die Beschränkungen für alle Verwendungszwecke außer als Zwischenprodukt bei einer Massenkonzentration von 0,1 % oder darüber gelten. Dadurch wird ein möglicher Verkauf an die allgemeine Öffentlichkeit beschränkt und für zusätzlichen Gesundheitsschutz bei der Arbeit gesorgt.

2.4

Die beiden Produkte, auf die sich diese Änderung bezieht, sind durch ihre CAS-Nummern 108-88-3 bzw. 120-82-1 im Anhang zu diesem Vorschlag definiert. Die Beschränkungen der Verwendung werden zu Anhang 1 von Richtlinie 76/769/EWG hinzugefügt.

2.5

Die Mitgliedstaaten veröffentlichen spätestens ein Jahr nach ihrem Inkrafttreten die erforderlichen Rechtsvorschriften, um dieser Richtlinie nachzukommen, wobei die Kontrollen innerhalb weiterer sechs Monate effektiv sein sollen. Dies gilt ab dem Datum des Inkrafttretens dieses Vorschlags nach Anhörung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) gemäß den Bestimmungen von Artikel 95 des Vertrags und nach dem Mitentscheidungsverfahren mit dem Europäischen Parlament.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Wie schon in der sechsundzwanzigsten Änderung der Richtlinie 6/769/EWG des Rates („Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen (Nonylphenol, Nonylphenolethoxylat und Zement)“) (6), zu der der EWSA im März 2003 eine Stellungnahme abgegeben hat (7), geht es in diesem Vorschlag um nicht miteinander in Beziehung stehende Stoffe, auf die aus Gründen der Klarheit hier separat eingegangen wird. (Die siebenundzwanzigste Änderung über polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe in Weichmacherölen und Reifen wurde zwar schon veröffentlicht, wird aber derzeit noch überprüft.)

4.   Toluol

4.1

Toluol ist eine klare, farblose Flüssigkeit mit einem charakteristischen Geruch. Der chemische Stoff, der auch unter der Bezeichnung Methylbenzol bekannt ist, weist nach Benzol die einfachste aromatische Struktur auf – einen sechsgliedrigen Kohlenstoffring mit einer eingliedrigen (Alkyl-)Kohlenstoffkette. Toluol kommt in der Natur in Rohöl, einigen Pflanzen- und Baumarten sowie in den Emissionen aus Vulkanen und Waldbränden vor und kann aus Kohle oder Rohöl in sehr großen Mengen bewusst hergestellt werden.

4.2

Nach Angaben der Industrie beliefen sich die weltweiten Kapazitäts- und Produktionsniveaus für bewusst hergestelltes Toluol 2002 auf 20 Mio. Tonnen bzw. 14 Mio. Tonnen. 75 % dieser Kapazität befindet sich in den USA, Asien und Japan. In der Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses für Toxizität, Ökotoxizität und Umwelt wird die EU-Produktion im Jahr 1995 auf 2,6 Mio. Tonnen beziffert. Weit größere Mengen, die in diesen Gesamtbeträgen jedoch nicht enthalten (8) sind, fallen bei der routinemäßigen Herstellung von Benzin an und tragen zu den Gesamtexpositionen bei.

4.3

Toluol wird in erster Linie als ein Rohstoff verwendet, der in geschlossenen Systemen zur bewussten Herstellung von Benzol, Polyurethanschäumen und anderen chemischen Produkten dient, sowie – in wesentlich geringeren Mengen – als Lösungsmittelträger in Lacken, Farben, Klebstoffen, Arzneimitteln und Kosmetika. Seine Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt wurden umfassend untersucht und von allen Betroffenen weithin akzeptiert. Es besteht eindeutig Bedarf, jede unnötige aktuelle oder potenzielle unkontrollierte Exposition auf ein Mindestmaß zu verringern, insbesondere dann, wenn es Alternativen mit vergleichbarer Lösungsfähigkeit gibt.

4.4

Letzteres trifft auf die beiden in diesem Vorschlag genannten Endverwendungszwecke zu. Die Verwendung von Toluol als Lösungsmittel für frei verkäufliche Klebstoffe und Lacke ist weder notwendig, noch wird sie von den Herstellern in Europa unterstützt. Die derzeitigen Verkaufszahlen betreffend diese beiden Endverwendungszwecke werden niedrig bzw. auf Null veranschlagt. Daher ist dies großenteils eine Vorsorgemaßnahme, die vermutlich nur geringe Auswirkungen auf die Herstellungskosen bzw. die Wahl oder Gesundheit der Verbraucher haben wird.

4.5

Der EWSA erkennt an, dass das vorrangige Erfordernis darin besteht, die sichere Handhabung großer Mengen von Toluol in geschlossenen Systemen am Arbeitsplatz zu gewährleisten. Mit diesem Vorschlag wird sichergestellt, dass die allgemeine Öffentlichkeit – außerhalb eines kontrollierten Arbeitsumfelds – heute und künftig angemessen vor einer unnötigen Exposition geschützt wird. Der EWSA unterstützt daher diesen Teil des Vorschlags.

5.   Trichlorbenzol

5.1

Da sich die Situation für Trichlorbenzol erheblich von der für Toluol unterscheidet, sind einige Änderungen und Klarstellungen des Vorschlags vonnöten.

5.2

„Trichlorbenzol“ ist eine bewusst hergestellte Chemikalie, die in der Natur einzig und allein durch den Abbau anderer chlorierter aromatischer Verbindungen vorkommt. Je nach Anordnung der Chloratome um den sechsgliedrigen Kohlenstoffring gibt es drei verschiedene Isomere. Jedes dieser Isomere hat (geringfügig) andere physikalische Eigenschaften und biochemische Wechselwirkungen, etwa in Bezug auf die jeweiligen LD50-Werte, und jedes hat eine andere CAS- und EINECS-Nummer. Außerdem ist sowohl im CAS- als auch im EINECS-Verzeichnis ein Eintrag für „Trichlorbenzol“ im Allgemeinen enthalten. Alle drei Isomere sind in den USA und auch andernorts im Handel erhältlich. 1,3,5-Trichlorbenzol wird in Europa höchstwahrscheinlich nicht mehr hergestellt. Die im Verzeichnis enthaltenen Angaben sind nachstehend im Einzelnen aufgeführt (9):

EINECS-Nummer

201-757-1

204-428-0

203-686-6

234-413-4

CAS-Nummer

87-61-6

120-82-1

108-70-3

12002-48-1

Isomer

1,2,3-

1,2,4-

1,3,5-

-

Form

weiße Flocken

klare Flüssigkeit

weiße Flocken

klare Flüssigkeit

Schmelzpunkt (°C)

52-55

17

63-65

-

Oral/Ratten, LD50 (mg/kg)

1830

756

800

-

UN-Nummer

2811

2321

2811

-

5.3

Der Risikobewertungsbericht und die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses für Toxizität, Ökotoxizität und Umwelt beziehen sich gezielt auf 1,2,4-Trichlorbenzol, wobei die EINECS- und CAS-Nummern die gleichen sind wie oben. Im vorliegenden Vorschlag wird diese eine CAS-Nummer (und somit das spezifische Isomer, das untersucht wurde) zwar im Anhang bestätigt – nicht jedoch im Titel oder im Text.

5.4

Die verschiedenen Isomere werden in geschlossenen Systemen auf hohem Reinheitsniveau als Zwischenprodukte für die Synthese bestimmter Herbizide, Pestizide, Farben und anderer spezieller Chemikalien hergestellt. In Fällen, in denen die spezifische Isomerform nicht so wichtig ist, kann in geschlossenen Systemen ein Isomerengemisch verwendet werden, und zwar als Lösungsmittelträger für Farben, als Prozessregulator oder Wärmeübertragungsmedium, als Korrosionshemmer in Sprays sowie in Kühlschmierstoffen.

5.5

In der EU (und andernorts) wird hauptsächlich 1,2,4-Trichlorbenzol (1,2,4-TCB) von unterschiedlicher Reinheit verwendet. Es wird angenommen, dass die Herstellung seit den 1980er Jahren kontinuierlich zurückgegangen ist. Gemäß den Daten, die der OSPAR-Kommission (OSPAR-Übereinkommen zum Schutz der Meeresumwelt des Nordostatlantiks) vorliegen, wurden 1994 ca. 7 000 - 10 000 Tonnen 1,2,4-TCB, weniger als 2 000 Tonnen 1,2,3-TCB und weniger als 200 Tonnen 1,3,5-TCB hergestellt (10). Im Juni 2000 wurden alle drei Isomere als Einzeleinträge in die OSPAR-Liste der vorrangig zu behandelnden Chemikalien aufgenommen. Des Weiteren wird und Umwelt vom Juli 2001 für 1994/95 in Europa eine Produktion von 7 000 Tonnen angeführt. Die Produktion ist weiterhin rückläufig und liegt derzeit schätzungsweise bei ca. 50 % dieser Niveaus, wobei der größte Teil für den Export bestimmt ist (11).

5.6

Heute wird davon ausgegangen, dass es in der EU/OSPAR-Region nur noch einen einzigen Hersteller gibt. Der Verkauf soll auf die Isomere 1,2,4-TCB und 1,2,3-TCB zur ausschließlichen Verwendung als Zwischenprodukte beschränkt sein, wobei dies vor der Lieferung von jedem Kunden in schriftlichen Verwendungsangaben zu bestätigen ist.

5.7

Eine begrenzte Anzahl weiterer Verwendungszwecke in geschlossenen Systemen, wie etwa als Prozesslösungsmittel ohne Freisetzung, sind der Kommission und dem Wissenschaftlichen Ausschuss für Toxizität, Ökotoxizität und Umwelt bekannt und von ihnen anerkannt. Da dieser Vorschlag darauf abzielt, zwar die Herstellung selbst zu genehmigen, die Emissionen aufgrund einer offenen Verwendung jedoch stark einzuschränken, wäre es sinnvoll, die zulässigen Verwendungszwecke im Anhang zu diesem Vorschlag entsprechend zu ergänzen.

5.8

Nach Auffassung des EWSA dürften mit diesem Vorschlag – vorbehaltlich der oben genannten spezifischen Punkte – sowohl der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz erhöht als auch die Expositionsrisiken außerhalb des Arbeitsumfelds völlig beseitigt werden. Die Hersteller und Verwender von Trichlorbenzol und konkurrierender Produkte haben sich auf diesen Vorschlag anscheinend bereits großenteils eingestellt. Er dürfte daher nur geringe Auswirkungen auf die Kosten der Hersteller und Verwender zeitigen. Der EWSA unterstützt daher diesen Teil des Vorschlags.

6.   Besondere Bemerkungen

6.1

Der EWSA stellt fest, wie er dies oben bereits angemerkt hat, dass sich dieser Vorschlag auf den einschlägigen Risikobewertungsbericht und die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses für Toxizität, Ökotoxizität und Umwelt stützen muss und sich daher ausschließlich auf 1,2,4-TCB beziehen darf. Dies sollte sowohl aus dem Titel als auch dem Text eindeutig hervorgehen. Die Auswirkungen der Beschränkungen der Verwendung werden glücklicherweise dieselben sein, da dieses Isomer der Hauptbestandteil von TCB-Isomerengemischen ist, die früher zur Verwendung in Lösungsmitteln oder Sprays verkauft wurden.

6.2

Weitere Verwendungen in geschlossenen Systemen sollten durch Anfügen des Wortlauts „oder in anderen geschlossenen Systemen, die keine Freisetzung in die Umwelt ermöglichen“ am Schluss der jeweiligen Beschränkung gestattet werden.

6.3

Der EWSA bedauert es, dass ebenso wie bei früheren Änderungen der Richtlinie 76/769/ EWG des Rates nicht miteinander in Beziehung stehende Stoffe in einem einzigen Text verknüpft werden, der möglicherweise immer wieder gezielt geändert werden muss, um den praktischen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Dies ist nicht im Sinn einer guten, zeitgerechten und wirksamen Governance. Sollte dies das Ergebnis von Ressourcenknappheit in dieser letzten und kritischen Phase der Einigung auf spezifische Maßnahmen zur Risikobegrenzung sein, dann sollte dem schleunigst abgeholfen werden.

6.4

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die letzte Prioritätenliste im Oktober 2000 zur Bewertung veröffentlicht wurde. Er stellt mit Bedauern fest, dass man von dieser Vorgehensweise anscheinend abgekommen ist, lange bevor andere Verfahren wie REACH zur Anwendung kommen können, und beklagt den so entstandenen Verlust an Wirkungsvermögen.

6.5

Der EWSA anerkennt die wichtige Rolle, die der Wissenschaftliche Ausschuss für Toxizität, Ökotoxizität und Umwelt in der Vergangenheit gespielt hat, und vertraut darauf, dass alles getan wird, damit er diese Funktion ungeachtet der jüngst angekündigten Änderungen in Struktur und Verantwortung der wissenschaftlichen Ausschüsse auch weiterhin wahrnehmen kann.

6.6

Der EWSA teilt die weithin geäußerten Bedenken hinsichtlich der Zeit, die die Bewertung dieser Stoffe im Rahmen des derzeitigen Systems in Anspruch nimmt. Bis zum Inkrafttreten der Rechtsvorschriften für diese beiden Stoffe werden nahezu 11 Jahre vergangen sein, fünf Jahre davon werden verstreichen, nachdem der Wissenschaftliche Ausschuss für Toxizität, Ökotoxizität und Umwelt die Risikobewertungsberichte abgesegnet hat. Wenn die Rechtsvorschriften dann endlich in Kraft treten, werden den Beteiligten nahezu keine Kosten – bzw. messbare Gesundheits- oder Umweltnutzen – entstehen. In Ermangelung weiter gehender Informationen lässt sich unmöglich sagen, inwiefern dies gut (d.h. der Markt hat sich unter dem Druck der fortlaufenden Risikobewertungen angepasst) oder schlecht ist (durch den Prozess wurde nur wenig erreicht, und dies mit erheblichen Kosten für alle Beteiligten) bzw. wie wünschenswerte Verbesserungen herbeigeführt werden können.

6.7

Nach dem Dafürhalten des EWSA sollten die Gründe für den langsamen Fortschritt – in Ergänzung zu anderen Vorschlägen wie REACH und um sicherzustellen, dass diese die bestehenden Prozesse auch wirklich verbessern und nicht etwa behindern – deshalb unverzüglich bewertet werden. Dies sollte parallel zu anderen derzeit laufenden Studien erfolgen, um die Auswirkungen, Kosten und Nutzen für alle Beteiligten an diesen Prozessen messen zu können – Prozessen, die so konzipiert sind, dass sie im Rahmen einer erfolgreichen und wettbewerbsfähigen europäischen Wissensgesellschaft der Gesundheit und der Umwelt zugute kommen.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  ABl. C 146A vom 15.6.1990.

(2)  ABl. L 84 vom 5.4.1993.

(3)  ABl. L 273 vom 26.10.2000.

(4)  ABl. L 262 vom 27.9.1976.

(5)  ABl. L 231 vom 28.9.1995.

(6)  ABl. L 178 vom 17.7.2003.

(7)  ABl. C 133 vom 6.6.2003.

(8)  Daten des APA (Verband der Aromatenhersteller), einem Mitglied des CEFIC (Europäischer Rat der Verbände der Chemischen Industrie).

(9)  Website des Europäischen Büros für chemische Stoffe (http://ecb.jrc.it).

(10)  Daten von Eurochlor, einem Mitglied des CEFIC (Europäischer Rat der Verbände der Chemischen Industrie).

(11)  Die Gutachten des Ausschusses für Toxizität, Ökotoxizität und Umwelt können auf der Website der GD SANCO abgerufen werden.


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/10


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Fähigkeit der Anpassung der KMU und der sozialwirtschaftlichen Unternehmen an die durch die wirtschaftliche Dynamik vorgegebenen Änderungen“

(2005/C 120/03)

Am 27. April 2004 ersuchte Frau Loyola de PALACIO, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss im Namen der Kommission um Abgabe einer Sondierungsstellungnahme zum Thema: „Fähigkeit der Anpassung der KMU und der sozialwirtschaftlichen Unternehmen an die durch die wirtschaftliche Dynamik vorgegebenen Änderungen“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 6. Oktober 2004 an. Berichterstatterin war Frau FUSCO.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 169 gegen 2 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

Vorbemerkung

Gemäß dem von der Europäischen Kommission vorgebrachten Anliegen soll die vorliegende Stellungnahme das zu behandelnde Thema unter dem Gesichtspunkt der existierenden und potenziellen Interaktion zwischen den KMU – darin inbegriffen auch Kleinstunternehmen – einerseits und den sozialwirtschaftlichen Unternehmen (im Folgenden: SWU) andererseits analysieren und dabei verschiedene von den SWU erprobte Typen von Instrumenten und Modellen untersuchen, die sowohl für die KMU als auch für die SWU selbst eine entscheidende Auswirkung auf die Fähigkeit der Anpassung haben oder haben können.

1.   Ziele und rechtlicher Rahmen

1.1

Die Europäische Kommission ersuchte den EWSA um diese Sondierungsstellungnahme in dem Bewusstsein, dass die Rolle der KMU und der SWU in der Lissabon-Strategie von besonderer Bedeutung ist, und sie forderte ihn auf, die Grundlagen für die Ermittlung der für diese Akteure notwendigen rechtlichen und förderpolitischen Rahmenbedingungen zu entwickeln.

1.2

Diesem Ersuchen ging die Veröffentlichung einer Initiativstellungnahme des EWSA zur Rolle der KMU und der SWU bei der wirtschaftlichen Diversifizierung in den Beitrittsstaaten voraus, die am 1. April 2004 einstimmig verabschiedet wurde. Diese Stellungnahme hatte bereits beide Unternehmenstypen zum Gegenstand; sie wurden beschrieben und ihre Bedeutung für die gesamte EU hinsichtlich ihres Beitrags zur Wirtschaft, zur Beschäftigungsstruktur und zum sozialen Zusammenhalt unterstrichen; gleichzeitig wurde auf ihre tiefgreifenden Interaktionen und Synergien aufmerksam gemacht. Dabei wurde auch deutlich herausgestellt, dass wirtschaftlicher Wandel einen viel weiter ausgreifenden und dynamischeren Prozess bezeichnet als Umstrukturierung. In dieser Stellungnahme wurde auf den Gyllenhammar-Bericht der von der Europäischen Kommission eingerichteten hochrangigen Gruppe „Strategie für den industriellen Wandel“ hingewiesen, in dem die Schaffung von Arbeitsplätzen im Mittelpunkt stand und die Gültigkeit einer Strategie anerkannt wurde, die auf Benchmarking, Innovation und sozialen Zusammenhalt abzielt. Ferner wurde im Rahmen der wirtschaftlichen Diversifizierung der Beitrittsländer ein 10 Punkte umfassendes, integriertes Programm zur Förderung der KMU und der SWU vorgeschlagen, ein Programm, das von zahlreichen bewährten Verfahren der SWU in der EU inspiriert wurde.

1.3

Die SWU in der EU könnten in der Tat mit ihren bewährten Verfahren die Grundlagen für Interaktionen und Synergien zwischen ihnen und den KMU legen, indem sie durch ihren Kooperations- und Innovationsgeist, ihre Dynamik und ihr großes Einsatzpotenzial für die KMU innovatorische Wege aufzeigen und den KMU bei ihrer Expansion eine wertvolle Stütze sind, weil sie mithilfe ihrer eigenen Struktur deren Zusammenarbeit und Repräsentanz gewährleisten und das notwendige Vertrauen unter ihnen herstellen.

1.4

Die Strategie von Lissabon wurde im März 2000 vom Europäischen Rat beschlossen, der das Ziel aufstellte, Europa zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen, wobei „die Schaffung eines günstigen Umfelds für die Gründung und Entwicklung innovativer Unternehmen, insbesondere von KMU“ angestrebt wurde, denn „die Wettbewerbsfähigkeit und die Dynamik von Unternehmen hängen unmittelbar von einem ordnungspolitischen Klima ab, das den Investitionen, der Innovation und der unternehmerischen Initiative förderlich ist (1). Auf dieser Grundlage billigte der Europäische Rat von Feira am 19./20. Juni 2000 die Europäische Charta für Kleinunternehmen, in der es heißt: „Kleine Unternehmen sind das Rückgrat der europäischen Wirtschaft [sowie] Hauptträger der Beschäftigung und Nährboden für Geschäftsideen (2). In der Lissabon-Strategie wird ferner unterstrichen, dass das Wirtschaftswachstum ein Schlüsselfaktor zur Gewährleistung des wirtschaftlichen Zusammenhalts in Europa ist. Die Kommission hat später zum Ausdruck gebracht, dass die Herausforderungen für die Annahme der Agenda von Lissabon darin bestehen, das Arbeitsplatzangebot und die Beschäftigungsquote zu erhöhen, die technischen Kenntnisse zu verbessern sowie einen geregelten Arbeitskräftefluss von Landwirtschaft und Industrie in das Dienstleistungsgewerbe sicherzustellen, ohne dass es dadurch zu einer Verschärfung der regionalen Unterschiede in den Ländern selbst kommt (3).

1.5

Die KMU – ein Begriff, der auch die Kleinst- oder Mikrounternehmen mit ihren spezifischen Eigenheiten umfasst – sind Unternehmen, die den von der Europäischen Kommission folgendermaßen festgelegten Kriterien entsprechen (4):

Unternehmenskategorie

Anzahl der Beschäftigten

Umsatz

oder

Bilanzsumme

Mittleres Unternehmen

< 250

= 50 Millionen Euro

 

= 43 Millionen Euro

Kleines Unternehmen

< 50

= 10 Millionen Euro

= 10 Millionen Euro

Kleinstunternehmen

< 10

= 2 Millionen Euro

= 2 Millionen Euro

1.6

Die SWU umfassen eine Gruppe von vier Familien, und zwar Genossenschaften, Vereinigungen auf Gegenseitigkeit, gemeinnützige Vereine und Stiftungen. Diese Unternehmen sind dadurch gekennzeichnet, dass ihre soziale Zielstellung über der Gewinnmaximierung steht, was häufig zu einer Verbundenheit mit einem Gebiet und seiner lokalen Entwicklung führt. Ihre grundlegenden Werte sind: Solidarität, sozialer Zusammenhalt, soziale Verantwortung, demokratische Verwaltung, Mitwirkung, Autonomie (5).

1.7

Die meisten SWU fallen unter die EU-Standarddefinition von KMU (6). Diejenigen Unternehmen, die aufgrund ihrer Größe nicht unter diese Definition fallen, haben in der Regel bestimmte Merkmale mit den KMU gemein, wie einen geringen externen Investitionsanteil, fehlende Börsennotierung, die Nähe zu den Inhabern/Aktionären und eine enge Verbundenheit mit dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gefüge vor Ort.

1.8

Die europäischen Institutionen haben einen normativen Rahmen bezüglich der Politik für die KMU abgesteckt. Bis 2005 gilt eine wichtige bindende Maßregel für die KMU, und zwar die Entscheidung des Rats 2000/819/EG über ein Mehrjahresprogramm (2001-2005) für Unternehmen und unternehmerische Initiative, insbesondere für die KMU. Dieses Programm, das gleichzeitig dazu dient, die Verwirklichung der durch die Europäische Charta für Kleinunternehmen festgesetzten Ziele voranzutreiben, sieht Folgendes vor:

Steigerung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen;

Förderung der unternehmerischen Initiative;

Vereinfachung der administrativen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die Unternehmen;

Verbesserung der finanziellen Rahmenbedingungen für die Unternehmen;

Vereinfachung des Zugangs der Unternehmen zu unterstützenden Dienstleistungen, zu den Gemeinschaftsprogrammen und -netzwerken.

1.9

Am 21. Januar 2003 präsentierte die Kommission in ihrer Mitteilung [KOM(2003) 26 endg.] fünf Berichte über die EU-Politik zur Förderung der KMU: zwei Berichte über die Umsetzung der Europäischen Charta für Kleinunternehmen in der EU und in den Beitrittsländern; einen Bericht über die Aktivitäten der Union zur Förderung von KMU; einen Bericht des KMU-Beauftragten und das Grünbuch über den Unternehmergeist. Beispielhaft für die bewältigten Herausforderungen zeigt der Bericht über die Aktivitäten der EU das Engagement der Union insbesondere im Bereich der Strukturfonds, des bereits erwähnten Mehrjahresprogramms und des Rahmenprogramms für Forschung und technologische Entwicklung (RP6). Schließlich wurde, ausgehend vom Grünbuch, ein gemeinsamer Aktionsplan zugunsten des Unternehmergeistes und der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen (2006-2010) aufgestellt.

1.10

Die Europäische Kommission hat auch für die sozialwirtschaftlichen Unternehmen einen rechtlichen Rahmen abgesteckt. Die wichtigsten von ihnen, die Genossenschaften, waren Gegenstand der „Mitteilung über die Genossenschaften in Europa“ vom 23.2.2004. In der Mitteilung wird vorgeschlagen, die Genossenschaften stärker ins Bewusstsein zu rücken, ihnen mehr Verständnis entgegenzubringen und die Vereinheitlichung ihrer rechtlichen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten der EU zu fördern (7). Es werden die für diesen Unternehmenstyp geltenden Grundnormen erwähnt, wie sie in der Empfehlung der IAO zur Förderung der Genossenschaften definiert werden, die im Juni 2002 auf Weltebene verabschiedet wurde, und zwar besonders durch die Regierungsvertreter der 25 EU-Mitgliedstaaten und die Vertreter des Großteils der nationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, eine Empfehlung, die gleichzeitig auf wichtige internationale Arbeitsnormen Bezug nimmt, indem sie darauf hinweist, dass diese in gleicher Weise für die Beschäftigten der Genossenschaften gelten. Des Weiteren wurde von der Europäischen Kommission am 3.10.2003 ein Arbeitsdokument über die „Vereine auf Gegenseitigkeit in einem erweiterten Europa“ veröffentlicht, in dem auf die Grundnormen für diesen Typ der SWU hingewiesen wird (8).

2.   Wirtschaftlicher und sozialer Rahmen

2.1

Die Kommission hat die Tatsache anerkannt, dass die KMU mit 66 % der Gesamtbeschäftigtenzahl und 60 % der Gesamtwertschöpfung der EU - ohne Landwirtschaft - die Grundlage der europäischen Wirtschaft bilden. Regionen, die wie die Emilia Romagna, Baden-Württemberg und Jütland eine hohe Konzentration von KMU aufweisen, gehören zu den Gebieten mit dem höchsten BIP pro Kopf und der höchsten Beschäftigungsquote (9).

2.2

Der EWSA hat in seiner Stellungnahme „Sozialwirtschaft und Binnenmarkt“  (10) die sozialwirtschaftliche Bedeutung der SWU unterstrichen und darauf verwiesen, dass sie im Hinblick auf die unternehmerische Vielfalt und die wirtschaftliche Diversifizierung von grundlegender Bedeutung seien (11). Eine derartige Anerkennung kam von Seiten der Kommission selbst, besonders in der Mitteilung über die Genossenschaften in Europa und in dem Konsultationspapier „Vereine auf Gegenseitigkeit in einem erweiterten Europa“, die weiter oben in Ziffer 1.10 erwähnt werden. In der EU nimmt die wirtschaftliche und soziale Bedeutung der sozialwirtschaftlichen Unternehmen und Organisationen zu; mit etwa 9 Millionen Beschäftigten in Vollzeitäquivalent machen sie 7,9 % der zivilen abhängig Beschäftigten aus (12). Darüber hinaus binden sie einen beachtlichen Teil der Zivilgesellschaft: nach Angaben der Europäischen Kommission umfassen die Genossenschaften 140 Mio. und die Vereine auf Gegenseitigkeit 120 Mio. Mitglieder. Demnach gehören schätzungsweise über 25 % der EU-Bürger den SWU als Erzeuger, Verbraucher, Sparer, Bewohner einer Wohnung, Versicherte, Studenten, ehrenamtlich Tätige usw. an. Die SWU entwickeln sich auf allen Gebieten, besonders im Bereich der Dienstleistungen von gemeinnützigem oder allgemeinem Interesse (13), wie Gesundheit, Umwelt, soziale Dienstleistungen und Bildung (14). Sie spielen daher eine wichtige Rolle für die Bildung von Geschäftskapital, die Fähigkeit, Angehörige von benachteiligten Gruppen zu beschäftigen, für den gesellschaftlichen Wohlstand, die Wiederbelebung lokaler Wirtschaftstätigkeiten und die Modernisierung der lokalen Verwaltungsmodelle. Teilweise verfügen sie über Systeme zur sozialen Bilanzierung, mit deren Hilfe ihre Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt bewertet werden.

2.3

Die KMU und die SWU sind im Rahmen der vor sich gehenden industriellen Veränderungen ein bedeutsamer Faktor für Beschäftigung und Wiederbeschäftigung und sorgen dafür, dass Beschäftigte aus im Niedergang begriffenen oder Arbeitsplätze abbauenden Sektoren in den traditionellen Bereichen (Handwerk, Gewerbe) und anderen, expandierenden Branchen wie Dienstleistungen für Unternehmen, dem Bereich der NIKT, der Spitzentechnologie, dem Hoch- und Tiefbau, den personenbezogenen Leistungen (darunter auch der Gesundheitssektor) sowie dem Tourismus einen neuen Broterwerb finden.

2.4

Dennoch sehen sich KMU und SWU mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. Die Europäische Charta für Kleinunternehmen erkennt an, dass diese Unternehmen am empfindlichsten auf Veränderungen des unternehmerischen Umfelds reagieren. Im Grünbuch der Europäischen Kommission zum Unternehmergeist in Europa heißt es: „Die Solidarwirtschaft und die Sozialunternehmen wenden unternehmerische Grundsätze und Effizienz zur Verwirklichung sozialer und gesellschaftlicher Ziele an [und] sehen sich besonderen Herausforderungen beim Zugang zu Finanzmitteln, beim Managementtraining und bei der Beratung gegenüber“  (15).

2.5

Die KMU und die SWU können auf verschiedene Weise eine bedeutende Rolle im sozialen und wirtschaftlichen Wandel spielen, was zahlreiche Fälle vorbildlicher Verfahren zeigen: so durch die Einstellung neu auf den Arbeitsmarkt gekommener Personen, die Unterstützung der innovativen Fähigkeit von Klein- und Kleinstunternehmen, die Wiedereinstellung von Personen, die in die Arbeitslosigkeit entlassen wurden, weil Industrieunternehmen Personal abbauen oder schließen mussten, durch Sozialversicherungen auf Gegenseitigkeit, durch neue Start-up-Unternehmen in Entwicklungssektoren, durch die Entwicklung der Dienstleistungen und der Untervergabe von Aufträgen, durch die Übernahme von Krisenunternehmen durch ihre Arbeitnehmer, durch Unterstützung bei der Gründung von Kleinstunternehmen und selbständigen Arbeitsplätzen und durch Qualitätswandel innerhalb eines Sektors. Außerdem können die SWU sowohl durch ihre bereits bewiesene Fähigkeit zur unternehmerischen Ausbildung wie auch durch die von ihnen geförderten Werte wie sozial verantwortliches Unternehmertum, Demokratie und bürgerschaftliche Mitwirkung, Beteiligung – auch finanzielle – der Arbeitnehmer am Unternehmen, soziale Eingliederung, Interesse für die lokale und die nachhaltige Entwicklung u.a. ganz spezifische Beiträge leisten.

2.6

In der EU findet eine weitreichende Interaktion zwischen den herkömmlichen KMU und den SWU statt, die sich noch sehr viel weiter entwickeln kann. Diese Interaktion geht auf mindestens dreierlei Art und Weise vonstatten:

a)

Die KMU greifen in großem Maßstab auf die Dienste der SWU zurück, über die sie selber nicht verfügen. So unterstützen die Genossenschaftsbanken häufig Projekte zum Aufbau und zur Entwicklung von konventionellen KMU.

b)

Die KMU verwenden von den SWU stammende Strukturen, um miteinander Verbundsysteme zu bilden (Netze, Gruppen, gemeinsame Förderstrukturen), um Kosteneinsparungen zu erzielen (Genossenschaften von KMU für den Einkauf und den Vertrieb) sowie um gegenseitige Bürgschaftsmechanismen für Bankdarlehen einzurichten usf. Durch diese Strukturen wird ihre Wettbewerbsfähigkeit maßgeblich erhöht.

c)

Modelle sozialwirtschaftlicher Unternehmen (wie Gegenseitigkeitsfonds, die Bereitstellung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, Netzwerke für Fair-Trade-Produkte etc.) können den KMU als Inspiration für ihre Entwicklung dienen.

3.   Beispiele für vorbildliche Verfahren, die die Politik inspirieren sollen und über die eingehende Untersuchungen vonnöten wären

3.1   Allgemeine Überlegungen

3.1.1

Die Kommission hat in verschiedenen Dokumenten über BEST-Aktionen im Rahmen des Mehrjahresprogramms Fälle von vorbildlichen Verfahren veröffentlicht, d.h. „Verfahrensweisen, die aktuelle Entwicklungen im Bereich der Unternehmensförderung illustrieren, die das Interesse der Fachleute aus der Praxis verdienen“  (16) . Es handelt sich nicht notwendigerweise um die besten Verfahrensweisen („best practice“), sondern um Praktiken, die den Anstoß geben sollen zu Veränderungen und besseren Verfahrensweisen („better practice“), die es gestatten, zu Schlussfolgerungen zu gelangen und Leitlinien für die Politik der EU aufzustellen.

3.1.2

Dem EWSA ist bekannt, dass in den letzten Jahren bereits wichtige Arbeiten zur Modellierung bewährter Praktiken auf dem Gebiet der KMU-Förderung geleistet worden sind (vgl. die oben erwähnten BEST-Aktionen). Die folgenden vorbildlichen Verfahren betreffen ausschließlich eine bereits existierende oder potenzielle Interaktion zwischen KMU und SWU. Sie werden in der beigefügten Anlage durch konkrete Beispiele untermalt, die gleichzeitig auch die Fähigkeit zur Anpassung und Weiterentwicklung dieser Modelle angesichts der von Binnenmarkt und Globalisation ausgelösten wirtschaftlichen Dynamik verdeutlichen.

3.1.3

Die Extrapolation jedes Typs führt über einen Induktionsschluss zu politischen Vorschlägen, die die Dynamik der KMU und der SWU im Hinblick auf die Lissabon-Strategie zu stärken vermögen. Es handelt sich um Fälle von bewährten Verfahren zwischen SWU, die durch die KMU übernommen werden konnten, oder von Interaktionen zwischen KMU und SWU, in denen letztere unmittelbar von den KMU in Anspruch genommen wurden und noch stärker genutzt werden könnten.

3.1.4

Die Arbeitshypothese, die in einigen Fällen bereits teilweise dargestellt wurde, besteht darin, dass durch jede dieser Modalitäten erhebliche „Opportunitätskosten“ (opportunity cost) (17) bzw. mittelfristig Nettogewinne für den öffentlichen Haushalt entstehen.

3.2   Typologie der vorbildlichen Verfahrensweisen

3.2.1

Schaffung und Bewahrung von Arbeitsplätzen durch Aufbau und Umstrukturierung von Unternehmen. Erfahrungen von SWU in verschiedenen Mitgliedstaaten der EU zeigen, dass Finanzierungssysteme zugunsten von Arbeitnehmern, die im Begriff stehen, ihre Arbeit zu verlieren, mit dem Ziel, ihnen zu helfen, ihren bedrohten Betrieb neu aufzubauen oder mit ausreichender Unterstützung einen neuen zu gründen, dazu beitragen können, nicht nur Arbeitsplätze zu schaffen oder zu retten bzw. wirtschaftliche Aktivitäten zu initiieren oder aufrechtzuerhalten, sondern es gleichermaßen dem Staat und/oder anderen Geldgebern erlauben, in relativ kurzer Frist die Gesamtsumme der bewilligten Mittel oder sogar mehr zurückzuerhalten (18).

3.2.2

Unternehmenssysteme und -verbundnetze („clusters“) zur Förderung von Entwicklung, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit. Etliche SWU haben regionale Verbundnetze gebildet, die später in horizontale oder paritätische Systeme oder Gruppen integriert wurden, besonders in Norditalien und im spanischen Baskenland. Diese Unternehmen (mehrheitlich kleine und mittlere Betriebe) wurden dadurch zu einem der führenden wirtschaftlichen Akteure ihrer jeweiligen Region und zu Innovationszentren für Technologie und Spitzenmanagement.

3.2.3

Zusammenlegung von Ressourcen zur Erzielung von Kosteneinsparungen. In mehreren europäischen Staaten hat sich ein wesentlicher Teil der konventionellen KMU verschiedener Branchen, darunter auch Kleinstunternehmen und Selbständige (wie Einzelhändler in Italien, Friseure und Fleischer in Frankreich, Bäcker in Deutschland), in Gruppierungen organisiert, vor allem in Form von Genossenschaften für einen gemeinsamen Einkauf, für den Vertrieb oder für Dienstleistungen. Jedes KMU bleibt vollständig autonom und kann individuell seine Wettbewerbsfähigkeit erhöhen, seine Märkte beibehalten und ausweiten, Zulieferung und Zwischenhändler vermeiden sowie Kosteneinsparungen erzielen. Für die gesamte Gesellschaft ist dieses System Garant für den Erhalt von Arbeitsplätzen und für lokale Entwicklung (19).

3.2.4

Zugang zu Finanzmitteln und Risikominimierung. Die gegenseitige Bürgschaft erlaubt es den KMU – darunter auch den Kleinstunternehmen und Selbständigen –, die keine ausreichenden Sicherheiten zu bieten haben, Zugang zu Darlehen zu erhalten. Die Gesellschaft für gegenseitige Bürgschaft (häufig in Form einer Gesellschaft auf Gegenseitigkeit) soll dabei als Bürge zum ausschließlichen Nutzen des Geldgebers fungieren. Im Falle einer Nichtzurückzahlung trägt die Gesellschaft die letztendlichen Kosten aus den Mitteln des Garantiefonds, der durch die beteiligten KMU gespeist wird. Die gemeinsamen Fonds sozialwirtschaftlicher Unternehmen dienten in Projekten zur Gründung, Umstrukturierung oder Entwicklung von Unternehmen dazu, Bankkredite zu erhalten, indem sie nämlich den Banken eine Sicherheit boten (20).

3.2.5

Dienstleistungen für die Allgemeinheit. Die SWU haben sich als wichtiger Akteur auf dem Gebiet der sozialen, gesundheitlichen, erzieherischen und kulturellen Dienstleistungen erwiesen, insbesondere im Rahmen von Privatisierungen, wobei sie Unternehmergeist mit der Wahrung des Allgemeininteresses verbanden, das diesen Diensten zugrunde liegt. Auf diese Weise wurde gezeigt, dass diese Unternehmen im Vergleich zum Staat häufig qualitativ bessere Leistungen zu einem geringeren Preis erbringen. In einigen Fällen werden diese Dienstleistungen, soweit sie von öffentlichem Nutzen sind, wie Beschäftigungszentren, Versorgungszentren, Heimhilfen und häusliche Pflege etc. als Teil von öffentlich-privaten Partnerschaften zwischen SWU und lokalen Gebietskörperschaften erbracht.

3.2.6

Produktions- und Vermarktungsketten für qualitativ hochwertige und ethische Produkte. Einige SWU haben sich auf die Vermarktung von Produkten spezialisiert, deren dauerhafte Qualität sie garantieren können und die aus einem Produktionsprozess stammen, für dessen dauerhaft ethischen Charakter sie sich verbürgen können (keine Ausbeutung, Achtung der Arbeitsnormen, gerechte Vergütung etc.).

4.   Empfehlungen zu einem Forschungs- und Aktionsprogramm, das auf langfristige politische Konzepte zur Förderung der KMU und der SWU durch gegenseitige Interaktion abzielt

4.1   Allgemeine Überlegungen

4.1.1

Die außerordentliche gemeinsame Bedeutung der KMU und der SWU sowohl in der europäischen Wirtschaft als auch bei der Umsetzung der Lissabon-Strategie, ferner die potenzielle positive Interaktion, die zwischen diesen zwei Unternehmensarten durch die Verwendung von Modellen und Strukturen der SWU zustande kommen kann, sprechen dafür, neue gemeinsame Anstrengungen auf EU-Ebene zu unternehmen, um KMU und SWU zu fördern und zu unterstützen.

4.1.2

Der EWSA hat die bestehenden Programme zur Unterstützung besonders der KMU berücksichtigt, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass die Strukturen zur Förderung der SWU sowie zur Unterstützung von Initiativen zur Interaktion zwischen KMU und SWU unbefriedigend sind.

4.1.3

Er stellt ferner das Fehlen von zuverlässigen, umfassenden, gesamteuropäischen und interdisziplinären Studien fest, die die Kosten aufzeigen und berechnen, die durch die Nichtanwendung vorbildlicher Verfahren zur Stärkung der KMU und der SWU im Wege der gegenseitigen Interaktion entstehen.

4.1.4

Durch dieses Desiderat wird die Entwicklung einer politischen Konzeption zur Förderung von KMU und SWU durch gegenseitige Interaktion in erheblichem Maße erschwert. Um eine solche Politik zu entwickeln, sind ständige Beobachtung und Analysen ihres Kosten-Nutzen-Verhältnisses unerlässlich.

4.2   Besondere Empfehlungen

4.2.1   Einrichtung einer Europäischen Beobachtungsstelle für sozialwirtschaftliche Unternehmen und Start einer mehrjährigen Untersuchung zu den Interaktionen SWU-SWU sowie KMU-SWU

4.2.1.1

Der EWSA schlägt die Einrichtung einer Europäischen Beobachtungsstelle für sozialwirtschaftliche Unternehmen vor, die Untersuchungen nicht nur über die SWU selbst anstellt, sondern auch über die bestehenden und potenziellen Interaktionen zwischen KMU und SWU, darüber, wie eine solche Interaktion zur Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung von KMU und SWU werden kann, sowie über die Förderung der sozialen Verantwortung der Unternehmen und des Kampfes gegen die Ausgrenzung.

4.2.1.2

Diese Beobachtungsstelle sollte von der Europäischen Kommission und den Regierungen der 25 Mitgliedstaaten der EU getragen werden. Sie sollte die Organisationen der SWU sowie universitäre Forschungszentren, die sich mit den SWU befassen, mit einbeziehen. Sie sollte auch mit der Beobachtungsstelle für die KMU zusammenarbeiten.

4.2.1.3

Der EWSA schlägt ferner die Einleitung einer interdisziplinären und gesamteuropäischen, von dieser Beobachtungsstelle durchgeführten dreijährigen Untersuchung vor, um die bewährten Verfahren der SWU zu ermitteln, die direkt zur Entwicklung von KMU beitragen oder an deren Vorbild sich die Entwicklung eines KMU ausrichten kann, besonders in den unter Punkt 3 genannten Bereichen.

4.2.1.4

Diese Untersuchung wird darauf abzielen, die Kosten durch ungenutzte Möglichkeiten („opportunity cost“) aufzuzeigen und insbesondere Folgendes zu berechnen:

unmittelbare mikroökonomische Kosten und Nutzen;

Kosten und Nutzen auf allen Ebenen der Wirtschaftskette;

Wert der immateriellen Güter;

soziale Kosten und Nutzen (durch die soziale Rechnungsprüfung);

Multiplikatoreffekte;

Kostengefälle, das auftritt, wenn das in Frage stehende Modell nicht angewandt wird (zum Beispiel sind die „Kosten einer Nicht-Genossenschaft“ die zusätzlichen Kosten für den Staat und die Allgemeinheit bei einer unerwarteten Auflösung der Genossenschaften).

4.2.1.5

Die Schlussfolgerungen der Untersuchungen von Seiten der Europäischen Beobachtungsstelle für die SWU sollten den europäischen Institutionen, den Regierungen der Mitgliedstaaten und der Bevölkerung im Zuge einer Kommunikationskampagne vermittelt werden.

4.2.1.6

Der EWSA ist bereit, für einen reibungslosen Ablauf der Forschungsarbeiten der Beobachtungsstelle für die SWU zu sorgen und nach drei Jahren eine Bewertung ihrer Ergebnisse vorzunehmen, indem er die möglichen Auswirkungen dieser Schlussfolgerungen auf die Politik der Europäischen Kommission bezüglich der KMU und der SWU prüft.

4.2.2   Beteiligung der KMU und der SWU an den europäischen Programmen zur Unternehmensförderung

4.2.2.1

Der EWSA ersucht die Kommission zu gewährleisten, dass den SWU die Möglichkeit eingeräumt wird, gleichberechtigt am neuen Mehrjahresprogramm 2006-2010 für das Unternehmertum teilzuhaben, und ferner die Initiativen zu fördern, die auf eine Interaktion zwischen KMU und SWU abzielen, besonders im Hinblick auf die Einbeziehung der SWU in die Zusammenarbeit zwischen den KMU.

4.2.2.2

Der EWSA ersucht ferner darum, dass der Anteil der Beteiligung von KMU und SWU an den Programmen der EU zur Erleichterung des Zugangs zu Forschung, Innovation und zu den Weltmärkten unter die wichtigsten Prioritäten der europäischen Politik eingereiht wird.

4.2.2.3

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Gesamtumfang der Projekte zugunsten der KMU innerhalb der Strukturfonds aufrechterhalten werden und dass den Projekten zugunsten der SWU und der Interaktion zwischen KMU und SWU ein höherer Wert beigemessen werden sollte, besonders wenn durch solche Projekte die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Entwicklung der ländlichen Gebiete gefördert wird. Der Zugang zu den Strukturfonds darf nicht von der Branche, in der ein Unternehmen tätig ist, abhängig gemacht werden.

4.2.3   Berücksichtigung der Schlussfolgerungen der Ministerkonferenz der OECD von Istanbul für die Belange der KMU und ihre Ausdehnung auf die SWU

4.2.3.1

Der EWSA schlägt der Kommission vor, die politischen Schlussfolgerungen der Ministerkonferenz der OECD von Istanbul bezüglich der KMU zu übernehmen und sie auf die SWU auszuweiten. Er fordert demnach eine stärker auf die Bedürfnisse und Charakteristika der KMU und SWU abgestimmte Herangehensweise, insbesondere:

Eine Verbesserung des Zugangs zu Finanzmitteln für die KMU und SWU, zumal die Kriterien von Basel bezüglich der Bankdarlehen für gefährdete oder kapitalschwache Unternehmen demnächst strikter werden dürften;

die Förderung von Partnerschaften, Netzen und Verbünden zwischen KMU und SWU;

Aktualisierung und beständige Berücksichtigung der empirischen Daten über die Situation der KMU und SWU;

Erleichterung des Zugangs zu den Weltmärkten für die KMU und SWU, besonders durch den Abbau der administrativen Bürden und rechtlichen Hindernisse, mit denen sie konfrontiert sind;

Vermeidung von Unternehmenskrisen und Bankrotten sowie Rettung der betroffenen Unternehmen;

Förderung von Bildungsmaßnahmen und der Entwicklung von Humanressourcen;

Förderung von Informations- und Kommunikationstechnologien (21).

4.2.4   Verbesserung des sozialen Dialogs auf subnationaler, nationaler und gemeinschaftlicher Ebene

4.2.4.1

In mehreren Mitgliedstaaten der EU, besonders in einigen der neuen Länder, sind die KMU nicht ausreichend in den nationalen Gremien des sozialen Dialogs vertreten. Der EWSA ist der Ansicht, dass dies in stärkerem Maße gewährleistet sein müsste, allein schon aus Sorge um die Wirksamkeit der Politik zur Förderung und Beaufsichtigung dieser Unternehmen. Auch sollten große Unternehmen und KMU gleichberechtigt ihre Standpunkte vertreten können.

4.2.4.2

In den meisten Staaten der EU wie auch auf Gemeinschaftsebene sind die SWU überhaupt nicht im sozialen Dialog vertreten. Der EWSA regt an, dass die repräsentativen Organisationen der SWU, sowohl auf Gemeinschaftsebene als auch in den verschiedenen Mitgliedstaaten, sich in stärkerem Maße strukturieren und ihre Kräfte bündeln und dass sie auf beiden Ebenen in den sozialen Dialog miteinbezogen werden. Der Standpunkt dieser Organisationen müsste in Hinblick auf die Ausarbeitung von Normen für die Unternehmen stärker berücksichtigt werden (22).

4.2.5   Untersuchung über die Möglichkeiten zur Förderung der Arbeitnehmerbeteiligung an den Entscheidungen und am Unternehmenskapital

4.2.5.1

Die SWU haben eine besondere Sachkenntnis darüber entwickelt, wie Arbeitnehmer am Entscheidungsfindungsprozess und am Kapital ihrer Unternehmen beteiligt werden können. Insbesondere führte ein Teil der Genossenschaften das Konzept der Arbeitnehmerbeteiligung (23) ein, bei dem alle oder doch fast alle Gesellschafter Arbeitnehmer sind und umgekehrt. Wenn Entscheidungen getroffen werden, hat jeder eine Stimme, und zwar unabhängig von der Höhe seines finanziellen Beitrags zum Unternehmen, der übrigens nominell und nicht übertragbar ist. Diese Form der Arbeitnehmerbeteiligung ist einer der wichtigsten Gründe für den Erfolg einiger Beispiele von bewährten Verfahren. Die Arbeitnehmer stehen im Hinblick auf die Entwicklung ihres Unternehmens in unmittelbarer Verantwortung und haben somit die Möglichkeit, vollwertig an der Entwicklungsstrategie des Unternehmens mitzuwirken. Wenn mehr und mehr erkannt wird, dass im Rahmen der durch die Ziele der Lissabon-Strategie postulierten „wissensbasierten Wirtschaft“ das Humankapital die wichtigste Grundlage eines Unternehmens ist, wird der moderne und innovative Charakter dieser Art der Arbeitnehmerbeteiligung verstärkt zum Tragen kommen.

4.2.5.2

Der EWSA schlägt der Kommission vor, dass von der oben erwähnten Beobachtungsstelle und auf den von ihr durchgeführten thematischen Seminaren folgende Gesichtspunkte dieser speziellen Beteiligungsform untersucht werden:

ihre Opportunitätskosten, um festzustellen, in welchem Ausmaße und unter welchen möglichen Anpassungen sie für herkömmliche KMU nutzbringend und anwendbar ist;

ihr rechtlicher und regulatorischer Rahmen.

5.   Schlussfolgerungen

5.1

Die KMU bilden die Grundlage der Wirtschaft und der Beschäftigung in Europa und sind so die Hauptakteure bei der Umsetzung der Ziele von Lissabon. Die SWU spielen eine zunehmend wichtigere Rolle beim sozialen Zusammenhalt und der lokalen Entwicklung. Die Fähigkeit zur Interaktion zwischen KMU und SWU, besonders durch die breite Inanspruchnahme der SWU durch die KMU - im Interesse beider Unternehmenstypen - ist bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht genügend genutzt worden.

5.2

Folglich schlägt der EWSA der Kommission eine Überprüfung der bestehenden und potenziellen Interaktion zwischen KMU und SWU vor. Sie soll sich ferner daran beteiligen zu zeigen, dass diese Interaktion im Rahmen der tiefgreifenden, auf die wirtschaftliche Dynamik zurückgehenden Änderungen und besonders in der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums, zur Förderung des sozialen Zusammenhalts und der Innovation nutzbringend für die Entwicklung dieser zwei Unternehmenstypen ist.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzes – Lissabon, 23./24. März 2000 – Ziffer 14.

(2)  Die Europäische Charta für KMU, Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 2002. Wie die Kommission erklärt, wurde die Charta am 23. April 2002 in Maribor anerkannt (s. http://europa.eu.int/comm/enterprise/enterprise_policy/sme-package/index.htm). Der Ausschuss wie auch das Parlament fordern weiterhin nachdrücklich, der Charta Rechtswirkung zu verleihen und sie ausdrücklich in das Industriekapitel des Europäischen Konvents aufzunehmen.

(3)  „Eine Strategie für Vollbeschäftigung und bessere Arbeitsplätze für alle“ (KOM(2003) 006 endg.).

(4)  Empfehlung 2003/361/EG, die die Empfehlung 96/280/EG (ABl. L 124 vom 20. Mai 2003, S. 36) ersetzt und ab 1. Januar 2005 zur Anwendung kommt. Sowohl in der derzeit geltenden als auch in der neuen Empfehlung sind diese Definitionen gleich. Nur die Umsätze bzw. die Bilanzsumme ändern sich.

(5)  B. Roelants (Koord.): Vorbereitendes Dossier für die Erste Konferenz für Sozialwirtschaft in den Ländern Mittel- und Osteuropas, 2002, S. 34. Gemeinsame Nenner, erarbeitet auf der Grundlage von Definitionen der Europäischen Kommission, des Ausschusses der Regionen, der CEP-CMAF (Conférence européenne des Coopératives, Mutualités, Associations et Fondations) und der FONDA (steht mit Organisationen in Verbindung, die das Konzept der Sozialwirtschaft entwickelt haben).

(6)  McIntyre u.a.: Small and medium enterprises in transitional economies, Houndmills: Macmillan, S. 10.

(7)  Besonders im Rahmen der Durchführung der Verordnung über die Europäische Genossenschaft. Vgl. die Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 des Rates vom 22. Juli 2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE).

(8)  Europäische Kommission: Arbeitsdokument – „Vereine auf Gegenseitigkeit in einem erweiterten Europa“, 3. Oktober 2003, S. 5.

(9)  Europäische Kommission (2004): Eine neue Partnerschaft für den Zusammenhalt: Konvergenz, Wettbewerbsfähigkeit und Zusammenarbeit - Dritter Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, S. 5 und 8.

(10)  Stellungnahme CESE 242/2000 (ABl. C 117 vom 26.4.2000).

(11)  In einer neueren Studie präzisiert die OECD, dass die „Sozialwirtschaft“ ein umfassenderer Begriff als der Non-Profit-Sektor ist, da er weniger strikt an die Non Distribution Constraints gebunden ist, denen zufolge Organisationen ihren Überschuss gesetzlich nicht an ihre Eigentümer umverteilen dürfen (OECD 2003, „The non-profit sector in a changing economy“, Paris, S. 299).

(12)  Nicht eingerechnet sind die indirekt Beschäftigten wie in der Landwirtschaft beschäftigte Selbständige oder KMU, die Mitglieder von Kooperativen sind. CIRIEC 2000: „The enterprises and organisations of the third system: strategic challenge for employment“, Universität Lüttich.

(13)  Tang u.a. 2002, S. 44.

(14)  Siehe Charta der CEP-CMAF (Conférence européenne des Coopératives, Mutualités, Associations et Fondations).

(15)  Europäische Kommission: Grünbuch - Unternehmergeist in Europa, KOM(2003) 27 endg., Ziffer C ii.

(16)  GD Unternehmen (2002): Unternehmenswachstum fördern – Verzeichnis vorbildlicher Verfahrensweisen für Organisation im Bereich der Unternehmensförderung, S. 11.

(17)  Opportunity cost is „the income or benefit foregone as the result of carrying out a particular decision, when resources are limited or when mutually exclusive projects are involved. For example, the opportunity cost of building a factory on a piece of land is the income foregone by not constructing an office block on this particular site. Similarly, the income foregone by not constructing a factory if an office block is constructed represents the opportunity cost of an office block. Opportunity cost is an important factor in decision making, although it represents costs that are not recorded in the accounts of the relevant organization“ (Oxford Dictionary of Finance and Banking ; Oxford : Oxford University Press, 1997, S. 252)

(18)  Vgl. gleichfalls das System der „einmaligen Zahlung“ (pago único) in Spanien. Diese Maßnahme besteht in der Möglichkeit, zwei Jahre Arbeitslosengeld als einmalige Zahlung zu erhalten, und zwar für Arbeiter, die sich entschließen, eine Genossenschaft oder eine Arbeitervereinigung („sociedad laboral“) zu gründen oder sich in solche Betriebe als Mitglieder/Arbeiter einzuschreiben, mit der Bedingung, dass sie wenigstens 12 Monate lang in diesem Unternehmen gearbeitet haben.

(19)  Vgl. besonders die Internetseite des Französischen Verbandes der Genossenschaften und Handwerkervereinigungen (Fédération Française des Coopératives et Groupements d'Artisans) http://www.ffcga.coop sowie die Seite des italienischen Nationalverbandes der Einzelhandelsgenossenschaften (l'Associazione Nazionale Cooperative fra Dettaglianti) http://www.ancd.it.

(20)  Insbesondere der Fonds SOCODEN der französischen Produktionsgenossenschaften, vgl. http://www.scop-entreprises.com/outils.htm.

(21)  Vgl. Cordis Focus Nr. 247, 14. Juni 2004, S. 14.

(22)  Rechtsvorschriften, Rechnungslegungsnormen etc.

(23)  Engl. „Cooperative worker ownership“. Die Grundsätze dieses besonderen Systems von Arbeit sind in der „World Declaration of Cooperative Worker Ownership“ (Februar 2004) von der Internationalen Organisation der Produktivgenossenschaften in Industrie, Handwerk und Dienstleistungen (CICOPA) des Internationalen Genossenschaftsbundes festgeschrieben worden, nachdem anderthalb Jahre unter den weltweiten Mitgliedern verhandelt worden war. Diese besonderen Grundsätze der Genossenschaften mit Arbeitnehmerbeteiligung (engl. „worker cooperatives“) sind ergänzend zu den Grundsätzen der allgemeinen Genossenschaften zu verstehen, wie sie in der „Stellungnahme zur genossenschaftlichen Identität“ des Internationalen Genossenschaftsbundes sowie in der Empfehlung 193/2002 der Internationalen Arbeitsorganisation („Empfehlung betreffend die Förderung der Genossenschaften“) dargelegt sind.


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/17


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die gesamteuropäischen Verkehrskorridore“

(2005/C 120/04)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 23. Januar 2003, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Die gesamteuropäischen Verkehrskorridore“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 5. Oktober 2004 an. Berichterstatterin war Frau ALLEWELDT.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 164 Stimmen bei 2 Gegenstimmen und 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Mit einer Erweiterung der Themenstellung auf alle Fragen (1), die mit der Entwicklung der paneuropäischen Verkehrskorridore einhergehen, hat die ständige Studiengruppe im Januar 2003 ihre Arbeit wieder aufgenommen. Die Aktivitäten der vorherigen Mandatsperiode waren von der Plenarversammlung im Dezember 2002 mit großer Zustimmung zur Kenntnis genommen worden. Neben der Weiterführung und Entwicklung korridorbezogener Aktivitäten haben sich in den Jahren 2003/2004 auch wichtige neue Richtungsentscheidungen von Seiten der EU-Kommission hinsichtlich der Entwicklung der transeuropäischen Netze im Verkehr (TEN-V) ergeben, die auch die Arbeit in den 10 Helsinki-Korridoren betreffen. Die Erweiterung der Europäischen Union im Mai 2004 sowie die Beitrittsperspektive für die südosteuropäischen Staaten verändern gleichermaßen die Rahmenbedingungen für die gemeinsame Infrastrukturpolitik und die Kooperation in den Korridoren.

1.2

Mit dieser Initiativstellungnahme soll nicht nur über die Tätigkeiten und Erkenntnisse des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses im Rahmen der 'gesamteuropäischen Verkehrskorridore' während der vergangenen zwei Jahre Bericht erstattet werden, sondern auch Empfehlungen ausgesprochen werden, welche weiteren Schritte die Betroffenen unternehmen sollten und wie der EWSA hierbei behilflich sein kann.

2.   Neue Rahmenbedingungen in der gesamteuropäischen Verkehrsinfrastrukturpolitik

2.1

Mit dem Bericht der Expertengruppe unter Leitung von Karel van Miert leitete die Kommission Mitte 2003 ihre Revision der TEN-V ein. Im Ergebnis wurde die Liste prioritärer Projekte aus dem Jahre 1996 erweitert, neue Möglichkeiten der Finanzierung durch die EU und eine neue Form der besseren Koordinierung vorgeschlagen (2). Es gab Pläne, das Konzept der Verkehrskorridore in der EU-Infrastrukturpolitik zu verankern. Anstatt einer allgemein netzbezogenen Infrastrukturpolitik in der EU sollte man sich zukünftig auf Prioritäten entlang bestimmter Hauptverkehrsachsen konzentrieren. Dieser Ansatz der van Miert-Gruppe fand keine Zustimmung.

2.2

Der EWSA diskutierte das Thema „Zukunft der TEN-T“ ausführlich im Rahmen seiner externen Fachgruppensitzung in Rom im September 2003 zusammen mit der Kommission V „Große Bauvorhaben und Infrastrukturnetze“ des italienischen Rates für Wirtschaft und Arbeit (CNEL) und verabschiedete eine gemeinsame Erklärung dazu (3). Darin wird mehr Engagement zur Realisierung eines integrierten Verkehrsnetzes gefordert, das die neuen Mitgliedstaaten effektiv einbindet und zugleich darüber hinaus weist. Intermodalität und Nachhaltigkeit müssten in den Vordergrund treten und die Finanzierung gemeinsam verstärkt und unter Umständen mit Hilfe eines Gemeinschaftsfonds für das transeuropäische Verkehrsnetz unterstützt werden.

2.3

Eine Anfrage der italienischen Präsidentschaft an den EWSA führte zur Erarbeitung einer Initiativstellungnahme, die die in Rom begonnene Diskussion vertiefen sollte. Unter dem Titel „Die Verkehrsinfrastruktur zukunftsfähig gestalten: Planung und Nachbarländer – nachhaltige Mobilität – Finanzierung“ (4) fasste der Ausschuss seine aktuellen Kernpositionen zur europäischen Verkehrsinfrastrukturpolitik zusammen. In die Zukunft weisend schlägt der EWSA vor, neue Formen und Mittel der Finanzierung zu erproben, dem Umweltschutz und der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit mehr Priorität einzuräumen sowie in der Planung und Realisierung eines gesamteuropäischen Verkehrsnetzes sowohl die bewährte Arbeit in den Helsinki-Korridoren beizubehalten, wie auch mit neuen Methoden auf die veränderten Herausforderungen zu reagieren.

2.4

Dem friedlichen Wiederaufbau für die Region Südosteuropa hat die Europäische Union hohe Priorität eingeräumt und konsequenterweise den Aufbau einer funktionstüchtigen Verkehrsinfrastruktur mit Hochdruck voran getrieben. Ergänzend zu den schon bestehenden Korridoren mit Relevanz für die Region, X, V, VII, IV und VIII, sowie auf der Grundlage der Helsinki-Erklärung von 1997 und den Erfahrungen im TINA-Prozess (5) wurde ein Verkehrskonzept Südosteuropa entwickelt. Es umfasst ein intermodales Infrastrukturnetz, das sogenannte South East Europe Core Regional Transport Network, das in gemeinsamer koordinierter Vorgehensweise realisiert werden soll. Die betroffenen Staaten (6) haben ein Memorandum of Understanding (MoU) vorbereitet, das unter anderem explizit auf die Zusammenarbeit mit den sozioökonomischen Interessensverbänden in der Region und der ständigen Studiengruppe des EWSA Bezug nimmt.

2.5

Die Koordinierung der Arbeit der Lenkungsausschüsse in den 10 Helsinki-Korridoren (7) und 4 Verkehrsgebieten (PETRAs) (8) hat ein „neues Gesicht“ bekommen. Etwa einmal jährlich lädt die Kommission die Vorsitzenden und Leiter der Sekretariate der Korridore sowie eine Reihe weiterer Vertreter europäischer oder EU-Institutionen ein, um sich über den Sachstand und weitere Perspektiven der Arbeit auszutauschen. Die ehemalige G-24-Arbeitsgruppe Verkehr sollte durch eine kleinere effizientere Arbeitsstruktur ersetzt werden. Zugleich ist den Verantwortlichen in der Kommission klar, dass bestimmte Aspekte der Koordinierung und der technisch-organisatorischen Unterstützung nur von ihr geleistet werden können. Die letzten Treffen fanden im Juni 2003 und am 15. März 2004 statt. Die wichtigsten Erkenntnisse daraus fließen in die Ausführungen in Kapitel 3 und 4.

2.6

Die Erweiterung und die „Neue Nachbarschaftspolitik“ der EU werfen ihre Schatten auch auf die zukünftige verkehrspolitische Planung in Europa und darüber hinaus. Im Juni fand ein gemeinsames Strategietreffen von Kommission und Europäischem Parlament statt, zu dem Repräsentanten des europäischen Verkehrssektors, insbesondere aus den weiteren Nachbarstaaten der EU, eingeladen wurden. Man beschloss die Einsetzung einer hochrangigen Arbeitsgruppe, deren Aufgabe es sein wird, Vereinbarungen über den Ausbau transeuropäischer Hauptverkehrsachsen zu erarbeiten, vor allem in Richtung östliche Nachbarstaaten, Russische Förderation, Schwarzmeer-Region und Balkan. Für den Mittelmeerraum wurde ein Projekt zur Schaffung des Verkehrsnetzes Europa-Mittelmeer auf den Weg gebracht. Für die Türkei wird derzeit der Verkehrsinfrastrukturbedarf untersucht.

3.   Die Ausrichtung der Arbeit der ständigen Studiengruppe

3.1   Neue Entwicklungen und alte Aufgabe: Information und Transparenz

3.1.1

Selbst sieben Jahre Umsetzung der Helsinki-Erklärung und Konsolidierung der Zusammenarbeit in den Lenkungsausschüssen und übergreifend mit Beteiligung der EU-Kommission haben die Transparenz und die bessere Vernetzung der verschiedenen Planungsprozesse kaum erhöht. Die neuen Leitlinien TEN-V, die Korridore und Verkehrsgebiete, das „SEE Core Regional Transport Network“, die Arbeit von ECMT und UN-ECE sowie verschiedene regionale Initiativen der verstärkten Zusammenarbeit erschließen sich insgesamt nur einem kleinen Kreis von Experten.

3.1.2

Der Mangel an Transparenz verstärkt sich auf Ebene der organisierten Zivilgesellschaft. Eine wesentliche Aufgabe der ständigen Studiengruppe ist und bleibt die Funktion, als Informations-Bindeglied in den offiziellen Gremien wie auch gegenüber den interessierten zivilgesellschaftlichen Organisationen zu dienen.

3.2   Konsultationsverfahren nutzen: „europäische“ Verkehrswege brauchen einen „europäischen Konsens“

3.2.1

Die Bilanz der van Miert-Gruppe hat die Schwierigkeiten deutlich werden lassen, die zwischen ehrgeizigen europäischen Planungen und ihrer Realisierung eine Diskrepanz entstehen lassen, die nur schwer zu beeinflussen ist. Mehr grenzüberschreitende Planungsverfahren und mehr Beteiligung der zivilgesellschaftlichen Interessensgruppen wurden richtigerweise als Elemente einer zukünftigen Verbesserung erkannt und haben auch in den neuen TEN-Leitlinien Eingang gefunden.

3.2.2

Die Beteiligung der zivilgesellschaftlichen Organisationen ist ein Schlüssel zu einer ausgewogenen Entwicklung, welche die lokalen und regionalen Interessen mit berücksichtigt und den Betrieb und die Nutzung der Verkehrswege mit Leben erfüllt. Infrastrukturprojekte im europäischen Interesse erfüllen ihre Funktion erst dann, wenn sie Interessen der Nachhaltigkeit entsprechen und diese aufnehmen. Dazu braucht man eine Beteiligung von Wirtschaftsverbänden, Verkehrsunternehmen, Gewerkschaften, Umwelt- und Verbraucherverbänden, die auf europäischer Ebene grenzüberschreitend funktionieren muss. Die Impulse für die Umsetzung „europäischer“ Verkehrswege können nur von einem gesellschaftlich getragenen „europäischen“ Verständnis und Konsens getragen werden.

3.2.3

Der EWSA hat wiederholt seine Unterstützung angeboten, diesen Konsens mit herzustellen. Hierzu muss man das Instrument der Anhörungen auf europäischer Ebene systematisch nutzen. Der EWSA warnt jedoch davor, dies als Pflichtübung durchzuführen, ohne die Berücksichtigung der Ergebnisse zu gewährleisten. Die in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission vom EWSA durchgeführte Anhörung zum TINA-Prozess 1998 fand trotz großem Interesse und klaren Schlussfolgerungen keinerlei Berücksichtigung im Abschlussbericht.

3.3   Von der Konsultation zur konzeptionellen und praktischen Mitarbeit

3.3.1

In der langjährigen Arbeit des EWSA zur gesamteuropäischen Verkehrspolitik stand die Grundsatzforderung nach Beteiligung und Konsultation lange Zeit im Mittelpunkt. Heute hat sich dieses Grundverständnis bei den Beteiligten, die europaweit agieren, weitgehend durchgesetzt, und der EWSA hat gute Arbeitskontakte etabliert. Damit muss nun auch ein Anspruch eingelöst werden, konzeptionell und praktisch an der Arbeit der Lenkungsausschüsse und anderer Gremien mitzuwirken.

3.3.2

Die inhaltliche Grundlage für die konzeptionelle Zusammenarbeit bildet insbesondere die jüngste Initiativstellungnahme „Die Verkehrsinfrastruktur zukunftsfähig gestalten“, die ausdrücklich die Grundsätze der europäischen Verkehrspolitik aus Sicht des Ausschusses definiert. Das Ziel der Nachhaltigkeit, Überlegungen zur besseren Finanzierung und die gesamteuropäische Ausrichtung der Verkehrsinfrastruktur bilden drei Schwerpunkte. In bezug auf den Ausbau der Verkehrskorridore werden Handlungsprioritäten definiert, an denen sich die Arbeit der ständigen Studiengruppe orientiert und die deshalb hier – kurzgefasst – erwähnt werden (9):

Die bessere Verbindung von Wirtschaftsräumen sollte überprüft werden.

Die Intermodalität muss anhand nachvollziehbarer Kriterien erhöht werden.

Die Verbindung zu den Binnenwasserstraßen muss verbessert werden.

Der Kurstreckenseeverkehr sollte integriert werden.

Die Zusammenarbeit im Schienenverkehr zeigt teilweise Erfolge und sollte stärker propagiert werden.

Der Verbindung zwischen regionalen und lokalen Verkehrsnetzen und den Hauptverkehrsachsen sollte mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Qualitative, betriebsbezogene Entwicklungsziele müssen systematisch Eingang in die Korridorarbeit finden (Sicherheit, Verbraucherinteressen, Sozialbedingungen insbesondere im Straßenfernverkehr, Dienstleistungsqualität, Umweltbilanz).

Das Korridor-Konzept sollte weitgehend beibehalten und territorial weiter ausgedehnt werden.

3.3.3

Teilweise sind diese Ziele von der Kommission in den revidierten TEN-Leitlinien aufgegriffen worden. Das Kunststück liegt darin, ihre Umsetzung praktisch und nachvollziehbar voranzubringen und dies in gemeinsamer grenzüberschreitender Weise. Der EWSA hat gute Möglichkeiten, mit Hilfe spezifischer und praxisrelevanter Aktionen dazu beizutragen.

3.4   Korridor-Vernetzung und regionale Zusammenarbeit

3.4.1

Die Arbeit in den Lenkungsausschüssen läuft mittlerweile in allen Korridoren etwa gleichermaßen intensiv. Gleichzeitig ist generell festzustellen, dass es regionale Verknüpfungen gibt, so dass man heute mehr von einem Korridor-Netz als von einzelnen Verkehrsachsen sprechen kann. Zusammen mit den Ansätzen in den Verkehrsgebieten setzt sich zunehmend eine regionale Komponente der Kooperation durch, beispielsweise in Südosteuropa die Korridore IV, V, VII und X, oder im Ostseeraum die Korridore I, und IX. Dies steht im Kontrast zu den eher geringen Aktivitäten in den offiziell ausgewiesenen Verkehrsgebieten (PETRAs).

3.4.2

Beide Ansätze, die Realisierung von Hauptverkehrsachsen und die großräumig regionale Verknüpfung, ergänzen sich. In der Arbeit der ständigen Studiengruppe sollten regionale Entwicklungskonzepte zukünftig stärker bearbeitet werden. Die Verbindung zwischen Verkehrspolitik, Regionalentwicklung und den Schwerpunktbereichen in den Außenbeziehungen des EWSA (östliche Nachbarstaaten, Nördliche Dimension, Südosteuropa) ist ein wichtiger Fachgruppen-übergreifender Beitrag des EWSA.

3.5   Zukunftsaufgabe: neue Verbindungen herstellen

3.5.1

Das Strategietreffen von Kommission und EP im Juni 2004 ist begrüßenswert, hat doch der EWSA stets betont, dass mit der Erweiterung nicht die Initiative der EU für die Realisierung europäischer Verkehrsverbindungen schwächer werden sollte. In einem Briefwechsel mit dem EWSA versichert die Kommission, dass dies ein Auftakt sei für ein breiteres und offeneres Abstimmungsverfahren, in dem alle Beteiligten ihren Beitrag leisten könnten. Diese Öffnung ist entscheidend für das Gelingen und die Nachhaltigkeit neuer Verkehrsplanungen auf europäischer Ebene.

3.5.2

Die bisherigen Erfahrungen, insbesondere die Arbeit der Lenkungsausschüsse, bilden eine wichtige und unverzichtbare Grundlage für neue Planungen. Der spezifische Beitrag des EWSA, wie er in der vorliegenden Stellungnahme charakterisiert wurde und sich in langjähriger Praxis entwickelt hat, könnte nun in einem frühen Stadium der Infrastrukturplanung eingebracht werden. Diese Chance gilt es zu nutzen.

4.   Aktivitäten der ständigen Studiengruppe in den einzelnen Verkehrskorridoren

4.1

In Korridor II  (10) hat sich mittlerweile eine gewerkschaftliche Arbeitsgruppe gebildet. Eine erste Sitzung fand am 10./11. April 2003 in Moskau statt. Der EWSA nahm auch an der offiziellen Lenkungsausschusssitzung am 15./16. Mai 2003 in Berlin teil. Aus beiden Begegnungen lassen sich vielversprechende Ansätze für unsere Arbeit erkennen. Die Problematik in Korridor II liegt in der schwierigen Kooperation mit Belarus. Mittlerweile hat sich ein Trend durchgesetzt, wonach Belarus – und damit ein großer, sehr gut ausgebauter Teil des Korridors – nördlich umfahren wird. Der Grund sind Schwierigkeiten an den Grenzen. Eine Intensivierung der Kooperation der Eisenbahngesellschaften findet aktuell statt. Eine Ausweitung des Korridors bis Jekaterinenburg wurde kürzlich vorgeschlagen. Es gibt ein besonderes Interesse daran, die Probleme im Straßenverkehr und die praktischen Abläufe an den Grenzübergängen besser zu bewältigen und hierbei die Mithilfe des EWSA in Anspruch zu nehmen.

4.2

Die Beteiligung an der Arbeit in Korridor IV  (11) hat sich kontinuierlich gefestigt. Im Rahmen der Sitzung des Lenkungsausschusses in Sopron/Ungarn am 20./21. Mai 2003 realisierte sich auch das Zusammentreffen zwischen Vertretern von Eisenbahnunternehmen und den Eisenbahngewerkschaften in Korridor IV und führte zu einer fruchtbaren Diskussion um die Förderung des Schienentransports, die weitergeführt werden soll. Dies geschah auf der letzten Sitzung am 10./11. November 2003 in Dortmund. Als thematischer Schwerpunkt für die weiteren Gespräche wurden technisch-organisatorische Hürden und Lösungsvorschläge an den Grenzübergängen identifiziert. Zur Wahrung der Kontinuität wird nun auch ein/e Vertreter/in der gewerkschaftlichen Kooperation der Eisenbahnbeschäftigten als Beobachter an den Lenkungsausschüssen teilnehmen. Es bietet sich nun an, die wirtschaftliche und soziale Lage im Straßengüterverkehr sowie technisch-organisatorische Aspekte in diesem Transportsektor in Korridor IV thematisch anzugehen.

4.3

Der EWSA selbst legt besonderen Wert auf die Förderung des Korridors X  (12). In diesem Sinne wurde der Kontakt zum dortigen Lenkungsausschuss intensiviert. Eine Konkretisierung möglicher EWSA Aktivitäten erfolgte im Rahmen der Lenkungsausschuss-Sitzung am 18./19. Juli 2003 in Slowenien. Am 3. November 2003 führte der EWSA eine sehr erfolgreiche Dialogkonferenz in Belgrad durch, die in eine gemeinsame Entschließung mündete (13). Daraus folgen weitere Schritte zur Intensivierung insbesondere im Schienenverkehr. Arbeitskontakte in Sarajewo sowie die Zusammenarbeit mit der Lenkungsgruppe des SEE Core Networks sind die weiteren Koordinaten dieser Arbeit. Unter dem Gesichtspunkt einer ausgewogenen Seehafenpolitik und deren Anbindung an die Hinterlandverkehre ist Korridor V  (14) eine wichtige Verbindungsachse in diesem Kontext.

4.3.1

Anfang November 2004 ist eine gemeinsame Veranstaltung mit der Arbeitsgemeinschaft der Bahnen, ARGE Korridor XLine, zur Förderung besserer Schienverkehrsdienste geplant mit einem besonderen Demonstrationszug und Aktionen in Villach (Österreich), Zagreb (Kroatien) und Sarajewo (Bosnien Herzegowina). (15)

4.4

Zur Förderung der Binnenschifffahrt und des Korridors VII  (16), Donau, hat der EWSA eine ganze Reihe von Vorschlägen erarbeitet (17). Im Juli 2004 fand die letzte Lenkungsausschusssitzung statt. Aktuell werden im Rahmen der ständigen Studiengruppe weitere Überlegungen angestellt, in deren Mittelpunkt die derzeitigen Hemmnisse bei der Entwicklung des Schiffsverkehrs im Korridor VII und geeignete Regelungen zur Beseitigung dieser Hemmnisse stehen. Zugleich geht es um die Möglichkeiten und den Investitionsbedarf für eine bessere Integration in ein multimodales Verkehrssystem. (18)

4.4.1

In seiner am 28. Januar 2004 (19) verabschiedeten Stellungnahme zum Thema „Die Verkehrsinfrastruktur zukunftsfähig gestalten“ hob der EWSA folgende Erfordernisse hervor: „die besondere Förderung des Binnenschifffahrtskorridors VII, Donau, die Verknüpfung mit Schienenverkehrslinien sowie angemessene technische und soziale Regelungen des grenzüberschreitenden Binnenschiffsverkehrs“ hervor.

4.4.2

Außerdem hat der Gemischte Beratende Ausschuss EU-Rumänien (auf seiner Tagung am 23./24.5.2002 in Bukarest) vorgeschlagen, zur besseren Nutzung der Donau als gesamteuropäischem Verkehrskorridor Maßnahmen für ihre Schiffbarkeit und ihren Anschluss an das Schwarze Meer zu ergreifen und diese stärker finanziell zu unterstützen.

4.5

Seit der Dialogkonferenz in Korridor III  (20) und VI  (21), in Katowice 2001, hat es keine eigenen Aktivitäten des EWSA in diesen Korridoren gegeben. Nun liegt ein Schreiben des Sekretariats für den Korridor III vom August 2004 vor mit der Aufforderung, mit Vorschlägen zum Arbeitsprogramm 2003/2004 zur weiteren Entwicklung beizutragen.

4.6

Besondere Unterstützung erhielt der EWSA in den letzten 1-2 Jahren von der sich neu formierenden Gewerkschaftszusammenarbeit der Beschäftigten im Verkehrssektor entlang der Korridore und im gesamteuropäischen Kontext, organisiert von der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF). Quer durch alle Verkehrssektoren und mit wichtigen konzeptionellen und praktischen Beiträgen hat das ETF-Projekt maßgeblich zum Gelingen der EWSA-Aktivitäten beigetragen und wird die Zusammenarbeit auch zukünftig stärken.

4.7

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der Vorsitzende der ständigen Studiengruppe in Zusammenarbeit mit dem Sekretariat der Fachgruppe TEN und mit Unterstützung der zuständigen Dienststellen der Europäischen Kommission zu jedem einzelnen Korridor eine Kurzbeschreibung von Basisdaten erstellt hat (22).

5.   Empfehlungen für die weitere Arbeit

5.1

Die neuen Koordinaten der gesamteuropäischen Verkehrspolitik, wie sie oben beschrieben wurden, sind von der ständigen Studiengruppe aufgegriffen worden und in die regionalen, praktischen und konzeptionellen Planungen eingeflossen. Noch mehr als vorher liegt die Stärke des EWSA in seiner Fähigkeit, Interessen zu integrieren und praktische Vorschläge zu machen. Aktionen und Präsenz vor Ort müssen dominieren.

5.2

Mit der ständigen Studiengruppe verfügt der EWSA über eine Art Clearingstelle, die Informations- und Anlaufstelle ist für Interessierte außerhalb und innerhalb des Ausschusses. Information, Moderation, Koordinierung der EWSA-Aktivitäten und verantwortliche Teilhabe an den übergreifenden Koordinierungstätigkeiten auf europäischer Ebene sind die zentralen Aufgaben der ständigen Studiengruppe, die ihr Fundament in 13 Jahren aktiver Mitgestaltung des Ausschusses an der gesamteuropäischen Verkehrspolitik erworben hat.

5.3

In den kommenden zwei Jahren sollte der Schwerpunkt der EWSA-Aktivitäten auf die praktische Mitarbeit und Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen vor Ort gelegt werden. Es geht um einen Beitrag zur Realisierung der in Absatz 3.3.2 dargelegten verkehrspolitischen Zielsetzungen, indem relevante zivilgesellschaftliche Organisationen ihre Einschätzung, Kritik und Verbesserungsvorschläge artikulieren können, jeweils auf einzelne Korridore, Regionen oder Infrastrukturprojekte bezogen.

5.4

Die Zusammenarbeit des EWSA mit den Korridor-Lenkungsausschüssen und der EU-Kommission sollte weiter intensiviert werden. Insbesondere ist die neue Rolle der ständigen Studiengruppe im Rahmen der Realisierung des „South East Europe Core Regional Transport Network“ (siehe Absatz 2.4) auszufüllen.

5.5

Die ständige Studiengruppe sollte Überlegungen anstellen, wie die operativen Aspekte des Verkehrsbetriebes besser bei der Realisierung der gesamteuropäischen Verkehrsachsen berücksichtigt werden können, insbesondere sollten die Aspekte Intermodalität, Umweltschutz, Sicherheit, Sozialbedingungen und Effizienz im Zusammenhang mit der Korridorpolitik konkretisierbar werden.

5.6

Die Planung neuer Verkehrsachsen im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) findet derzeit statt. Die EU-Kommission hat Offenheit in diesem Zusammenhang signalisiert, und die ständige Studiengruppe sollte hierzu einen Beitrag leisten.

5.7

Die Arbeit der EU-Kommission und die Arbeit der Lenkungsausschüsse in den Korridoren und Verkehrsgebieten sollte stärker miteinander verbunden werden. Die EU-Kommission hat hier eine wichtige koordinierende Funktion, die auch eine technisch-organisatorische Unterstützung beinhalten sollte. Wünschenswert wäre mehr Raum für eine, alle Beteiligten umfassende, gemeinsame Ausrichtung der verschiedenen Aktivitäten auf gesamteuropäischer Ebene und eine stärkere Teilnahme des Europäischen Parlaments.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Präsidiumsbeschluss vom 23. Oktober 2002.

(2)  Weitere Bewertung siehe EWSA-Stellungnahme ABl. C 10 vom 14.1.2004, S. 70.

(3)  CESE 1043/2003 fin – liegt im Fachgruppensekretariat TEN vor.

(4)  ABl. C 108 vom 30.4.2004, S. 35.

(5)  Transport-Infrastructure-Needs-Assessment (TINA), Infrastrukturplanung mit den Beitrittsländern in der 2. Hälfte der 90er Jahre.

(6)  Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Serbien-Montenegro, FYROM.

(7)  Eine ausführliche Karte der Korridore liegt im Fachgruppensekretariat TEN vor.

(8)  PETRAs: 4 Verkehrsregionen entsprechend Helsinki-Erklärung 1997: Barents-Euro-Arctic – Black Sea basin – Mediterranean basin – Adriatic/Ionean Seas.

(9)  ABl. C 108 vom 30.4.2004, S. 35, Absätze 1.8.1 bis 1.8.8.

(10)  Deutschland – Polen – Weißrussland – Russland.

(11)  Deutschland – Tschechien – Österreich – Slowakei – Ungarn – Rumänien – Bulgarien – Griechenland – Türkei.

(12)  Österreich – Kroatien – Serbien – FYROM – Slowenien – Ungarn – Serbien – Bulgarien.

(13)  Siehe Anhang 1.

(14)  Italien – Slowenien – Ungarn – Ukraine – Slowakei – Kroatien – Bosnien-Herzegowina.

(15)  Einzelheiten der Aktionen sind in laufender Vorbereitung und deshalb nicht in dieser Stellungnahme enthalten, sondern im Fachgruppensekretariat TEN abrufbar.

(16)  Deutschland – Österreich – Slowakei – Ungarn – Kroatien – Serbien – Bulgarien – Moldawien – Ukraine – Rumänien.

(17)  „Streben nach einer gesamteuropäischen Regelung der Binnenschifffahrt“, ABl. C 10 vom 14.1.2004, S.49.

(18)  Weitere Ausführungen dazu siehe Arbeitspapier von LEVAUX, zu beziehen über das Fachgruppensekretariat TEN.

(19)  Siehe Fußnote 4.

(20)  Deutschland – Polen – Ukraine.

(21)  Polen – Slowakei – Tschechien.

(22)  Siehe Anhang 2– inoffizielle Angaben, die eventuellen Änderungen unterworfen sind.


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/22


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Hochgeschwindigkeitsverbindungen für Europa: Neue Entwicklungen in der elektronischen Kommunikation“

(KOM(2004) 61 endg.)

(2005/C 120/05)

Die Kommission beschloss am 29. März 2004 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu der obenerwähnten Mitteilung zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 5. Oktober 2004 an. Berichterstatter war Herr McDonogh.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 163 gegen 1 Stimme bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Analyse und die Empfehlungen in der Mitteilung der Kommission „Hochgeschwindigkeitsverbindungen für Europa: Neue Entwicklungen in der elektronischen Kommunikation“ (KOM(2004) 61 endg.). Dieser zur rechten Zeit vorgelegte, scharfsinnige Bericht vereint strategische Klugheit mit dem energischen Willen, als Richtschnur für die Branche der elektronischen Kommunikation in Europa während ihrer nächsten Wachstumsphase zu dienen.

1.2

Mit dieser Stellungnahme unterstützt der Ausschuss die Analyse und den Tenor der Mitteilung; zugleich möchte er Bereiche hervorheben, die für ihn von besonderem Interesse sind.

2.   Hintergrund

2.1

Am 3. Februar 2004 nahm die Kommission ihre Mitteilung „Hochgeschwindigkeitsverbindungen für Europa: Neue Entwicklungen in der elektronischen Kommunikation“ an. Sie kommt mit dieser Mitteilung einem Ersuchen des Europäischen Rates auf seiner Frühjahrstagung 2003 nach, einen Bericht über die Entwicklungen in dieser Branche noch vor seiner Frühjahrstagung im Jahr 2004 vorzulegen. In dem Bericht wird die Lage in der Branche der elektronischen Kommunikation in Europa in ihrem Zusammenwirken mit der Lissabon-Strategie im Überblick dargestellt, wobei auch die für künftiges Wachstum wichtigsten Fragen untersucht werden. In dem Dokument wird zudem die Politik aufgerufen, die zur Förderung der künftigen Entwicklung dieser Branche erforderlichen Maßnahmen zu unterstützen.

2.2

In der Lissabon-Strategie wird anerkannt, dass die Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) entscheidende Triebkräfte für das Wachstum und für höhere Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit sind. Sie tragen zur Stärkung der Wirtschaftskraft wie auch zur Verbesserung des sozialen Zusammenhalts bei. In der Mitteilung wird betont, wie wichtig die Branche der elektronischen Kommunikation, die aus den zwei Segmenten Dienste und Ausrüstungen besteht, für das Gedeihen der europäischen Wirtschaft ist, und welche Schlüsselrolle sie für die Steigerung der Produktivität spielt. Diese Rolle fällt der Branche wegen ihrer Größe, ihrer Dynamik und ihrer Ausstrahlung auf fast alle wirtschaftlichen Tätigkeiten zu. Neuere Daten lassen erkennen, dass diese Branche am stärksten zum Zuwachs der Arbeitsproduktivität in Europa beigetragen hat.

2.3

Trotz des starken Wachstums in den frühen 90er Jahren und der ehrgeizigen Ziele der Lissabon-Strategie ist Europa in Bezug auf Produktionstempo und Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnologie hinter die USA und einige asiatische Länder zurückgefallen und der Mangel an Investitionen in die IKT schadet der europäischen Wettbewerbsfähigkeit (1). Entscheidende Voraussetzung für den Erfolg des Aktionsplans „eEurope 2005“ und für die langfristigen Ziele der Lissabon-Strategie sind Fortschritte in der Branche der elektronischen Kommunikation in den nächsten 18 Monaten. Die Branche der elektronischen Kommunikation ist in den späten 90er Jahren schnell gewachsen, aber in den Jahren 2000/2001 kam es zu einem starken Rückgang, der Rat und Kommission veranlasste, die Situation in der Branche der elektronischen Kommunikation aufmerksam zu verfolgen und für die Tagung des Europäischen Rates im Frühjahr 2003 einen Bericht vorzulegen.

2.4

Nach zwei Jahren der Konsolidierung scheinen die Bedingungen für eine Rückkehr zu höheren Wachstumsraten jetzt günstig zu sein. Der Kommission zufolge zählen zu diesen Bedingungen eine bessere finanzielle Ausstattung der Betreiber und ständig wachsende Einnahmen aus der Erbringung von Dienstleistungen. Nachhaltiges Wachstum in dieser Branche kann jedoch nur durch zusätzliche Investitionen und die ständige Entwicklung neuer, innovativer Dienste erreicht werden.

2.5

Nach dem Platzen der Internet-Blase haben die Betreiber von Telekom-Unternehmen ihre Kapitalaufwendungen im Rahmen ihrer Konsolidierungspläne zurückgefahren. Eine Rückkehr zu neuerlichem Wachstum in der ganzen Branche erfordert jedoch ein Wiederaufleben der Investitionen. Die Investitionsquote wird von staatlichen Maßnahmen beeinflusst werden: Die Umsetzung des neuen Rechtsrahmens wird größere Rechtssicherheit für Investitionen schaffen, die Umsetzung nationaler Breitbandstrategien wird den Zugang zu den Diensten verbessern und die Nachfrage wird durch die Förderung neuer Dienste und die Verfügbarkeit innovativer Inhalte stimuliert werden. Die Beseitigung regulatorischer und technologischer Schranken wird die Verbreitung von Netzen der dritten Generation (3G) ermöglichen.

Deshalb werden in der Mitteilung vier Schwerpunktbereiche ermittelt:

a)

Ordnungspolitische Herausforderungen: Verspätete oder mangelhafte Umsetzung des neuen Rechtsrahmens für die elektronische Kommunikation durch die Mitgliedstaaten behindert den Wettbewerb und schafft Unsicherheit. Gegen mehrere Mitgliedstaaten, die die neuen Maßnahmen nicht umgesetzt haben, laufen Vertragsverletzungsverfahren. Die Gewährleistung der umfassenden und wirksamen Durchführung dieser Vorschriften sowohl durch die alten wie auch durch die neuen Mitgliedstaaten bleibt eine der wichtigsten Prioritäten für das Jahr 2004. Außerdem müssen die nationalen Regulierungsbehörden die neuen Vorschriften einheitlich anwenden. Die für den weiteren Verlauf des Jahres erwarteten Gemeinsamen Leitlinien, die für Unternehmen mit einer marktbeherrschenden Stellung gelten könnten, werden von besonderer Bedeutung sein. Sie dürften für die Regulierungsbehörden hilfreich sein, wenn diese die richtigen Investitionsanreize geben und sicherstellen wollen, dass die aufstrebenden Märkte nicht Gegenstand unangemessener Verpflichtungen werden.

b)

Bessere Breitbandabdeckung in unterversorgten Gegenden: Im Rahmen des Aktionsplans hatten sich die Mitgliedstaaten bereit erklärt, ihre nationalen Breitbandstrategien zu veröffentlichen, und alle Staaten der EU-15 sowie einige der neu beigetretenen Staaten haben dies getan. Dabei sollten insbesondere diejenigen Bereiche ermittelt werden, die in der Informationsgesellschaft ins Abseits geraten könnten, weil nach Maßgabe der von den Betreibern herangezogenen Rentabilitätskriterien nicht genügend Nachfrage vorhanden ist, um den Aufbau von Breitbanddiensten zu rechtfertigen. Neben Maßnahmen auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene könnte auch eine Finanzierung durch die EU eine Rolle spielen. Es gibt bereits Leitlinien dafür, wie die Strukturfonds in solchen Gebieten eingesetzt werden können. Zum Austausch der bewährten Verfahren und innovativer Lösungen wird ein im weiteren Verlauf des Jahres zum Thema digitale Kluft einzurichtendes Forum beitragen. Die Kommission legt in diesem Sommer einen Bericht über die nationalen Strategien vor.

c)

Anregung der Nachfrage: Den meisten privaten Haushalten in der Union wird zwar bereits Breitband angeboten, nur ein Bruchteil hat sich aber anschließen lassen. Nicht der Ausbau, sondern die Annahme des Angebots wird zum wichtigsten Thema bei der Entwicklung des Breitbandmarktes. Die Erfahrung der Länder mit der größten Akzeptanz der Breitbandtechnologie zeigt, wie wichtig echter netzgestützter Wettbewerb für Preissenkungen und die Förderung innovativer Online-Dienste ist. Zudem können auch Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Ankurbelung der Nachfrage eine Rolle spielen. Diese Maßnahmen fördern die Nutzung der IKT bei mehr und mehr wichtigen Diensten – lokale und regionale Verwaltungsebene, Gesundheits- und Bildungswesen bieten solche Dienste online an. Hinzukommen müssen weitere Schritte in den Bereichen Sicherheit, Verwaltung digitaler Rechte und Verbesserung der Interoperabilität der einzelnen Dienste und Ausrüstungen. Die Halbzeitüberprüfung des Aktionsplans „eEurope 2005“, die in diesem Sommer abzuschließen ist, bietet erneut Gelegenheit, diese Politik zu unterstützen.

d)

Mobilkommunikation der dritten Generation: Der Bericht über die Mobilfunk- und Technologieplattform (die von den wichtigsten Akteuren der Branche gebildet wird) enthält eine strategische Vision für die Zukunft der Mobilfunkdienste. Zudem werden mehrere kommerzielle und ordnungspolitische Herausforderungen herausgestrichen. Die in sich geschlossene, datengestützte Welt der 3G wird komplexer sein als die sprachgestützte Welt der Handys. Gelingt dieser Wandel, so können in der Union hochinteressante neue Dienstleistungen angeboten und die Produktivität erheblich gesteigert werden. Die Kommission hat ihr Konzept für den Mobilfunk in ihrer Mitteilung vom 30. Juni (2) dargelegt und sie wird weiter mit den Beteiligten daran arbeiten, strategische Prioritäten für die Forschung im Bereich der mobilen Kommunikation festzulegen.

2.6

Auf der Tagung des Telekommunikationsrates am 8./9. März 2004 in Brüssel bekräftigte der Ministerrat seine politische Verpflichtung auf die Ziele der Lissabon-Strategie – nachhaltiges Wachstum, Arbeitsplätze und sozialer Zusammenhalt, indem er sich dem Aufruf zum Handeln in der Mitteilung (KOM(2004) 61 endg.) und in der „Mitteilung eEurope 2005 – Halbzeitbilanz“ (KOM(2004) 108 endg.) anschloss.

Bemerkungen

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Gegenstand der Mitteilung ist ein weiter und komplexer Bereich, der ganz entscheidende Bedeutung für die Vision von Lissabon hat – die Branche der elektronischen Kommunikation. In den vergangenen Jahren hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss Stellungnahmen verabschiedet, in denen einzelne Aspekte der diese Branche betreffenden Maßnahmen behandelt werden (3). Gern nimmt der Ausschuss nun die Gelegenheit wahr, sich zur allgemeinen Entwicklung in der Branche der elektronischen Kommunikation, zur Bereitstellung von Breitbanddiensten, zur Entwicklung des Mobilfunks und zu den neuen rechtlichen Rahmenbedingungen für diese Branche zu äußern.

3.2

Die Kommission hat mit ihrer Unterstützung und Durchführung von Maßnahmen zur Förderung des Wachstums der Branche der elektronischen Kommunikation hervorragende Arbeit geleistet. Auf Grund der energischen Bemühungen wirtschaftlicher und sozialer Gruppen zur Verfolgung ihrer eigenen Ziele gepaart mit der entschlossenen politischen Unterstützung durch den Ministerrat, durch die Regierungen der Staaten und durch regionale Behörden entwickelt sich dieser Bereich sehr schnell.

3.3

Angesichts der komplexen Dynamik dieses Bereichs und seiner Bedeutung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Union ist der Ausschuss der Ansicht, dass sich alle Beteiligten regelmäßig zu Wort melden können müssen, damit eine umfassendere und besser integrierte Politik umgesetzt werden kann. Der Ausschuss unterstützt die Absicht der Kommission, weiter mit den interessierten Kreisen zusammenzuarbeiten, um die Politik in den Bereichen Rechte an geistigem Eigentum, Verwaltung digitaler Rechte, Vertrauen und Sicherheit, Interoperabilität und Normung, Frequenzverwaltung und Abdeckung abgelegener und ländlicher Gebiete zu gestalten. Der Ausschuss wird sich weiterhin aktiv mit dieser Branche und allen mit ihr zusammenhängenden Fragen beschäftigen.

3.4

Besonderes unterstützt der Ausschuss, mit welchem Nachdruck die Kommission die Notwendigkeit von Interoperabilität und Offenheit auf verschiedenen Ebenen der Technologie und der Dienste herausstreicht: zwischen Geräten, zwischen Netzen und zwischen Inhalten und/oder Anwendungen. Ohne eine angemessene Interoperabilität und offene Plattformen würde die Entwicklung eines Massenmarktes für die neuen Technologien ernsthaft behindert.

3.5

Wie bereits in Ziffer 1.1 erwähnt unterstützt der Ausschuss die Mitteilung, und er beglückwünscht die Kommission zu der ausgezeichneten Arbeit, die sie in diesem Bereich leistet. Der Ausschuss stellt fest, das umfangreiche Forschungsarbeiten und Konsultationen der Analyse der Branche der elektronischen Kommunikation und der Entwicklung einer Politik gedient haben, die ein kräftiges und anhaltendes Wachstum fördern soll: Der Ausschuss unterstützt energisch den Aktionsplan „eEurope 2005“ und schließt sich den in der Mitteilung KOM(2004) 61 endg. enthaltenen Empfehlungen für Maßnahmen an.

3.6

Im Interesse der Deutlichkeit möchte der Ausschuss sein besonderes Interesse an folgenden Bereichen darlegen:

3.6.1   Ordnungspolitischer Rahmen

3.6.1.1

Der Ausschuss begrüßt den neuen Rechtsrahmen für die elektronische Kommunikation, der eine stärkere Vorhersehbarkeit der Rechtslage, mehr Kohärenz und ein stärker harmonisiertes Konzept für die Art und Weise, wie die Märkte in der Union funktionieren, ermöglicht. Die durch diesen Rechtsrahmen gegebene größere Sicherheit und Transparenz wird Investitionen in der Branche der elektronischen Kommunikation begünstigen und das Tempo des Wettbewerbs sowie die Einführung neuer, innovativer Dienste beschleunigen.

3.6.1.2

Der Ausschuss pflichtet der Kommission darin bei, dass ein technologieneutrales, koordiniertes Konzept mit offenen Standards für das Entstehen eines Infrastrukturwettbewerbs auf der Angebotsseite bei der elektronischen Kommunikation entscheidend ist für einen dynamischen, vom Wettbewerb geprägten Markt. Der Ausschuss ist erfreut darüber, dass der neue Rechtsrahmen einem lauteren Wettbewerb zwischen verschiedenen Zugangstechnologien förderlich ist (Breitband, 3G, digitales Fernsehen usw.). Durch ein solches Konzept werden Netzkosten sowie die Preise für die Dienste gesenkt, die Benutzung durch die Kunden erleichtert und die Mobilität verbessert. Ein technologieneutrales Konzept mit offener Plattform für die Branche wird zudem auch die Nachfrage nach Diensten kräftig ankurbeln.

3.6.1.3

Der Ausschuss begrüßt daher das technologieneutrale Konzept, das in dem neuen Rechtsrahmen gewählt wurde, um dem Verschmelzen fester und mobiler Dienste, der Online- und Rundfunkinhalte und einer ganzen Palette unterschiedlicher Übermittlungsplattformen gerecht zu werden. Der Ausschuss ersucht die Kommission zu gewährleisten, dass miteinander kompatible Plattformen gemäß der Rahmenrichtlinie 2002/21/EG geschaffen werden.

3.6.1.4

Voraussetzung für einen echten Wettbewerb auf dem Markt für Dienste sind wettbewerbsfähige Preise für den Anschluss der Wohnung bzw. der Räumlichkeiten des Kunden (Teilnehmeranschluss). Derzeit wird auf den meisten Märkten die Einführung neuer Dienste und die Senkung der Preise dadurch behindert, dass die dominierenden Betreiber den Teilnehmeranschluss kontrollieren. Die Kommission sollte weiterhin prüfen, ob der geltende Rechtsrahmen angemessen ist, um die Entbündelung des Teilnehmeranschlusses von der Kontrolle durch die dominierenden Betreiber auf allen Märkten zu gewährleisten.

3.6.1.5

Der Ausschuss bedauert, dass die Kommission beim Europäischen Gerichtshof Vertragsverletzungsverfahren gegen diejenigen Mitgliedstaaten anhängig machen musste, die den neuen Rechtsrahmen nicht umgesetzt haben. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, weiterhin auf eine vollständige Umsetzung in allen, auch den neu hinzugekommen Staaten anzustreben.

3.6.1.6

Der Ausschuss unterstützt, dass sich die Gruppe der Europäischen Regulierungsbehörden auf eine gemeinsame Position dazu verständigen konnte, wie Wettbewerbsprobleme in den neu eröffneten Märkten der elektronischen Kommunikation zu beheben sind (4). Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass mit dem neuen Rechtsrahmen die Regulierung zurückgedrängt und der Wettbewerb gefördert werden sollen. Er fordert die Kommission jedoch auf sicherzustellen, dass die Rechtsvorschriften so umgesetzt werden, dass sie die aufstrebenden Märkte und Dienstleistungen stimulieren und deren Entwicklung nicht einschränken. Der Ausschuss ersucht die Kommission genau zu prüfen, inwieweit Abhilfemaßnahmen bei Vertragsverletzungen angemessen sind und inwiefern sie einheitlich in den Mitgliedstaaten angewandt werden.

3.6.2   Aufbau der Breitbandnetze

3.6.2.1

Eine ausgedehnte, sichere Breitband-Infrastruktur ist wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung bzw. Erbringung von Anwendungen und Dienstleistungen wie: elektronische Gesundheitsfürsorge, elektronischer Geschäftsverkehr, elektronische Verwaltung und Lernen über das Netz; damit wird das Breitband zum entscheidenden Element für Wachstum und Lebensqualität in Europa in den kommenden Jahren. Der Zugang zum Breitband ist ein öffentliches Gut, eine Leistung der Daseinsvorsorge, die allen Unionsbürgern rechtlich garantiert werden sollte. Der Ausschuss empfiehlt der Kommission zu prüfen, ob die Verfügbarkeit des Breitbandanschlusses in die Liste der Universaldienste aufgenommen werden kann.

3.6.2.2

Im Aktionsplan „eEurope 2005“ wird dazu aufgerufen, das Breitband in der Europäischen Union bis 2005 allgemein verfügbar zu machen und zu nutzen, aber wir liegen hinter unseren ehrgeizigen Zielen zurück. Wird das Tempo des Ausbaus des Breitbandnetzes nicht beschleunigt, und dies gilt vor allem für die Gebiete außerhalb der städtischen Ballungsgebiete, so wird die Union das Ziel von Barcelona nicht erreichen (5).

3.6.2.3

Der Ausschuss begrüßt, dass die Mitgliedstaaten der EU-15 ihre nationalen Strategien für den Ausbau der Breitbandtechnologie vorgelegt haben, und er nimmt zur Kenntnis, dass die neuen Mitgliedstaaten ihre Strategien bis Ende 2004 einreichen werden. Der Ausschuss nimmt die erste positive Bewertung der Pläne durch die Kommission zur Kenntnis (6) und erwartet mit Ungeduld einen detaillierteren, im Juni vorzulegenden Bericht über diese Strategien.

3.6.2.4

Allerdings ist der Ausschuss nicht einverstanden mit der Definition des „Breitbands“, wie sie in zahlreichen Studien und Berichten verwendet wurde (so wird beispielsweise in dem erwähnten Bericht (COCOM04-20 FINAL) eine niedrige Zugangskapazität von 144kbs als „Breitband“ bezeichnet, und in demselben Bericht werden die 3G-Anschlüsse zu der Gesamtzahl aller Breitband-Anschlüsse für Italien, nicht aber für die anderen Mitgliedstaaten hinzugezählt). Dieses Fehlen einer genauen Definition ist der Transparenz und der Nützlichkeit des Begriffs „Breitband“ in sämtlichen Beratungen in starkem Maße abträglich. Der Ausschuss ersucht die Kommission, Rechtsvorschriften zu erlassen und eine genaue und anspruchsvolle Definition des Begriffs „Breitband“ zur Verwendung in der Union festzulegen.

3.6.2.5

Dem Ausschuss missfällt zudem, dass die Statistiken über die Abdeckung der Gebiete mit Breitbandtechnologie keine Aussagen zur Qualität des Zuganges enthalten. Der Ausschuss ersucht die Kommission, in ihre genaue Definition des Begriffs „Breitband“ einen Mindeststandard für die Qualität der Anschlüsse einfließen zu lassen. Nur dann machen Breitband-Statistiken einen Sinn.

3.6.2.6

Der Ausschuss ist sich sehr wohl der Notwendigkeit bewusst, aktiv die digitale Kluft zu überwinden, die quer durch Europa verläuft und die am stärksten Benachteiligten schwächt sowie das Recht der Bürger auf Teilnahme an elektronischer Kommunikation schmälert. Der Ministerrat hat zwar eine politische Kehrtwende vollzogen, indem er jetzt statt der Anschlussrate mehr die Entwicklung und die Nutzung innovativer Dienste in den Vordergrund stellt, aber der Ausschuss ist besorgt über das Tempo und die geografische Abdeckung beim Ausbau des Breitbandnetzes. Der Ausschuss ist besonders besorgt angesichts der Unterschiede zwischen bestimmten Staaten und Regionen, die aus den letzten Statistiken über die Breitband-Marktdurchdringung ersichtlich sind, welche der Kommission vom Telekommunikationsausschuss vorgelegt wurden (7). In der EU der 15 sind derzeit 20 % der Unionsbürger vom Breitbandzugang ausgeschlossen, weil die Versorgung durch das Netz unzureichend ist. Der Ausschuss begrüßt, dass die Kommission in ihrer Mitteilung den Schwerpunkt auf den notwendigen Ausbau des Breitbandnetzes in den unterversorgten Gebieten legt. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, in einer detaillierten Untersuchung der nationalen Breitbandstrategien darauf hinzuweisen, dass die Breitbandnetze so ausgebaut werden müssen, dass sie in einer angemessenen Frist das gesamte Territorium der Union abdecken. Er wünscht zudem, dass in künftigen Berichten herausgehoben wird, wo die Netze Lücken aufweisen.

3.6.2.7

Der Ausschuss unterstützt die Quick-Start-Initiativen und über die Verfügbarkeit von Mitteln aus den Strukturfonds für den Anschluss ländlicher und kommerziell weniger attraktiver Gebiet der Union. Er wünscht jedoch, dass die Kommission die Realisierung der nationalen Breitbandstrategien der Mitgliedstaaten weiterhin aufmerksam überwacht und ihr Augenmerk auf Probleme des Tempos der Einführung, der Netzabdeckung und der Qualität richtet.

3.6.2.8

Der Ausschuss bedauert, dass in der Kommissionsmitteilung nur die geografische digitale Kluft behandelt wird (unterversorgte Gegenden) und nicht auch die finanzielle digitale Kluft (fehlende finanzielle Mittel, um sich einen Netzanschluss leisten zu können). Das Argument der Kommission, die Breitbanddienste verbesserten den Lebensstandard, indem sie Entfernungen überbrücken und Gesundheitsfürsorge, Bildung und Ausbildung und den Zugang zu öffentlichen Diensten erleichtern, muss sowohl für die geografisch isolierten wie auch für die finanziell am schlechtesten gestellten Bürger gelten.

3.6.2.9

Nach Ansicht des Ausschusses ist der Hinweis der Kommission, ein Tätigwerden öffentlicher Stellen zur Überwindung der digitalen Kluft müsse unter Einhaltung wettbewerblicher Grundsätze und des Wettbewerbsrechts erfolgen, ein Widerspruch in sich: die digitale Kluft ist da, weil sich der Markt für den betroffenen Teil der Gesellschaft nicht interessiert. Es besteht also die Notwendigkeit eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags, der offiziell erteilt werden muss und bei dem genau anzugeben ist, welcher Art die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen sind.

3.6.3   Ausbau und Entwicklung der Mobilkommunikation der dritten Generation (3G)

3.6.3.1

Der Ausschuss begrüßt die Einführung der Plattform für mobile Kommunikation und Technologie im Oktober 2003, durch die die führenden Akteure unter den Mobilfunk-Betreibern, Herstellern von Ausrüstungen und Bauteilen und den Inhaltsanbietern zusammengebracht werden sollen. Er begrüßt zudem den ersten Bericht dieser Gruppe (8) mit 20 Empfehlungen zu Schritten, die zur nachhaltigen Unterstützung des Ausbaus mobiler Netze und Dienstleistungen in ganz Europa erforderlich sind – einschließlich Maßnahmen in den Bereichen Forschung, Normen, Inhalte, Sicherheit, Frequenzen, internationale Zusammenarbeit und Regulierung.

3.6.3.2

Der Ausschuss ist erfreut darüber, dass in dem Bericht über die Mobile Plattform und in den Erklärungen der Kommission der Schwerpunkt beim 3G auf einem kundenorientierten, sicheren Umfeld liegt, das gestützt auf eine Reihe von Breitband-Ausrüstungen mobile Daten- und Unterhaltungsdienste mit hoher Übertragungsgeschwindigkeit „zu jeder Zeit an jedem Ort“ ermöglicht.

3.6.3.3

Der Ausschuss stimmt uneingeschränkt den von allen Beteiligten geäußerten Ansichten zu, wonach offene, miteinander verbundene Netze und die Interoperabilität bei den Anwendungen und Dienstleistungen anzustreben sind. Er begrüßt zudem die Zusicherung seitens der Mobilen Plattform, eine strategische Erforschungsagenda für eine künftige kabellose Welt im Rahmen des 7. Forschungsrahmenprogramms zu erstellen.

3.6.3.4

Der Ausschuss ersucht die Kommission, Druck dahingehend auszuüben, dass der Aufbau neuer Netze der dritten Generation einfacher und kostengünstiger wird. Insbesondere müssen die Mitgliedstaaten daran mitwirken, Probleme hinsichtlich der Planung und der Umweltauswirkungen schnell zu beheben, die den Aufbau dieser wichtigen neuen Plattform behindern.

3.6.3.5

Der Ausschuss ist besorgt wegen der extremen Höhe der Zahlungen, die die Netzbetreiber für 3G-Lizenzen in einigen Mitgliedstaaten geleistet haben, und wegen der negativen Auswirkungen, die dies auf die künftige Strategie haben kann. Der Ausschuss ersucht die Kommission darum, ihre Auffassung zu dieser Frage im Einzelnen mitzuteilen und Maßnahmen zu empfehlen, durch die etwaige negative Auswirkungen auf die Strategie der Union für die Entwicklung und Nutzung der IKT ausgeglichen werden können.

3.6.3.6

Im Interesse der Verbraucher sowie eines effizienten Einsatzes der Ressourcen in der EU fordert der Ausschuss die Kommission auf zu prüfen, ob Rechtsvorschriften über die gemeinsame Nutzung von Ausrüstungen durch die Betreiber der 3G-Netze dort erlassen werden sollten, wo dies praktisch sinnvoll erscheint. Eine solche Politik würde einen schnelleren Zugang ermöglichen und zugleich Befürchtungen über negative Umweltauswirkungen entgegenwirken und die Kosten für das Anbieten der Dienste verringern. Der Ausschuss nimmt Kenntnis davon, dass nach Auffassung der Kommission einige größere Betreiber aus Wettbewerbsgründen gegen die gemeinsame Nutzung von Ausrüstungen sind, er ist jedoch der Auffassung, dass die Interessen der Union insgesamt Vorrang vor rein kommerziellen Beweggründen einiger weniger Betreiber haben sollten.

3.6.3.7

Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass die Mobile Plattform der Ansicht ist, für eine ordnungsgemäße Behandlung der Fragen im Zusammenhang mit der 3G sei ein neuer ordnungspolitischer Rahmen erforderlich. Die Gruppe sollte im Juni erneut zusammentreten. Der Ausschuss erwartet mit Spannung die Mitteilung der Kommission als Reaktion auf das Ergebnis der Juni-Sitzung.

3.6.4   Neue Dienstleistungen und die Ankurbelung der Nachfrage

3.6.4.1

Die Kommission ist der Auffassung, dass selbst in Gebieten mit einer Verfügbarkeit von 90 % Breitbandzugang die Anschlussrate niedrig ist (durchschnittlich 12 %), und dass das Tempo bei den Neuanschlüssen abnimmt. Die Gründe hierfür sind hohe Preise, schlechte Qualität und das Fehlen entsprechender Inhalte – es mangelt den Verbrauchern an ausreichendem Interesse, sich einen Breitbanddienst zu leisten.

3.6.4.2

Die Entwicklung von Inhalten und Diensten zur Ankurbelung der Nachfrage nach Breitbandanschlüssen wird als entscheidend für die Entwicklung der IKT und somit auch für Wettbewerbsfähigkeit, Steigerung der Produktivität und mehr Beschäftigung überall in der Europäischen Union angesehen. Vor diesem Hintergrund begrüßt der Ausschuss den jüngsten Vorschlag der Kommission für ein Programm „eContentplus (2005-2008)“ (9), mit dem die Bedingungen für einen besseren Zugang und eine verstärkte Nutzung digitaler Inhalte geschaffen werden sollen.

3.6.4.3

Der Ausschuss erkennt an, dass die Ankurbelung der Nachfrage nach den bereits aufgebauten Breitband- und 3G-Netzen, die Notwendigkeit neuer, innovativer Dienste, der Wettbewerb und der Ausbau der Netze miteinander verwoben sind. Fortschritte in einem Bereich begünstigen die anderen Bereiche. Der Ausschuss, der sich in den vorstehenden Bemerkungen der Angebotsseite gewidmet hat, begrüßt Initiativen jeder Art, die die Kommission zur Förderung der Entwicklung neuer und innovativer Dienste einleitet, und die die Nachfrage durch die Verbraucher ankurbeln und die Position der neuen Technologien und Netze stärken.

3.6.4.4

Nach Ansicht des Ausschusses wird die Interoperabilität zwischen den Netzen, Plattformen und Ausrüstungen dem Wachstum der Dienste und ihrer Akzeptanz neuen Schwung verleihen. Er unterstützt die Kommission in ihrem Bemühen um Interoperabilität im Rahmen des Rechtsrahmens sowie in ihren Kontakten mit allen Beteiligten in der Branche der elektronischen Kommunikation.

3.6.4.5

Der Ausschuss schließt sich der Aufforderung der Kommission an die Mitgliedstaaten an, die Dynamik bei der Entwicklung von Diensten der elektronischen Verwaltung aufrechtzuerhalten (einschließlich elektronischer Gesundheitsdienste, des Lernens über das Netz usw.). Er ist sich bewusst, dass der öffentliche Sektor ein Schlüsselakteur für die Entstehung von Nachfrage in den frühen Phasen der Entwicklung dieser neuen Informationsdienste ist.

3.6.4.6

Der Ausschuss begrüßt vor allem, dass sich die Kommission verpflichtet hat, mit der Industrie zusammenzuarbeiten, um die Probleme zu ermitteln, die die Entwicklung neuer Dienste behindern – Systeme für die Verwaltung digitaler Rechte (DRM), Interoperabilität, Kleinstbetragszahlungen, M-Zahlungen usw. Er begrüßt in diesem Zusammenhang die jüngste Mitteilung (10) sowie den Konsultationsprozess zu Fragen der Urheberrechte und er verweist die Kommission auf die einschlägige Stellungnahme des Ausschusses aus dem Jahr 2003 (11).

3.6.4.7

Der Ausschuss betont die Bedeutung von Sicherheitsfragen für die Annahme der neuen Dienste durch die Verbraucher. Das Vertrauen der Verbraucher in neue Technologien und Dienste wird davon abhängen, welche Sicherheiten für den Schutz der Verbraucherinteressen gegeben werden.

3.6.4.8

Der Ausschuss ersucht die Kommission, ihre Arbeitstagungen mit Betreibern, Internetanbietern, Anbietern von Inhalten, Rundfunkanstalten und der Unterhaltungsindustrie fortzusetzen, um zu ermitteln, wie sie ihre Tätigkeit verändern können, um neue Formen von Partnerschaften zu entwickeln, in denen neue Geschäftsmodelle und Dienstleistungen für eine einheitliche und mobile Europäische Union entstehen können.

3.6.4.9

Der Ausschuss schließt sich auch der Unterstützung für Forschung und Entwicklung im Rahmen des Sechsten Rahmenprogramms für Forschung und Entwicklung an. In der Branche der elektronischen Kommunikation ist wie für alle Bereiche der technologischen Entwicklung auf die Notwendigkeit hinzuweisen, dass Europa in FuE und die Innovation investieren muss, um die selbstgesteckten Ziele der Lissabon-Strategie erreichen zu können. Der Ausschuss weiß, dass diese Branche eine Periode der Konsolidierung und des Rückgangs der Investitionen durchgemacht hat. Er fordert nunmehr alle Beteiligten – die Union, die Mitgliedstaaten und die Privatwirtschaft – auf, ihre Unterstützung für Investitionen in die Zukunft der elektronischen Kommunikation erneut unter Beweis zustellen, indem sie Umfang und Tempo der FuE-Tätigkeiten substanziell erhöhen.

3.7   Schlussbemerkungen

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt zudem die Veröffentlichung der Mitteilung eEurope 2005 – Halbzeitbilanz (KOM(2004) 108 endg.) sowie die Bestätigung, dass die Ziele von „eEurope 2005“ weiterhin – auch nach der Erweiterung der EU auf 25 Mitglieder – gültig bleiben. Er erwartet eine überarbeitete Fassung des Aktionsplans „eEurope 2005“ mit den Bemerkungen des Ministerrats dazu auf seiner Juni-Tagung.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  B. Van Arck und O. Mahony (2003), EU Productivity and Competitiveness: An Industry Perspective, http://europa.eu.int/comm/enterprise/enterprise_policy/competitiveness/doc/eu_competitiveness_a_sectoral_perspective.pdf

(2)  Mobile Breitbanddienste (KOM(2004) 447 endg.).

(3)  Siehe ABl. C 169 vom 16.6.1999, S. 30; ABl. C 368 vom 20.12.1999, S. 51; ABl. C 14 vom 16.1.2001, S. 35; ABl. C 123 vom 25.4.2001, S. 61; ABl. C 123 vom 25.4.2001, S. 36; ABl. C 139 vom 11.5.2001, S. 15; ABl. C 311 vom 7.2.2001, S. 19; ABl. C 48 vom 21.2.2002, S. 33; ABl. C 48 vom 21.2.2002, S. 27; ABl. C 221 vom 17.9.2002, S. 22; ABl. C 241 vom 7.10.2002, S. 119; ABl. C 61 vom 14.3.2003, S. 32; ABl. C 61 vom 14.3.2003, S. 184; ABl. C 220 vom 16.9.2003, S. 33; ABl. C 220 vom 16.9.2003, S. 36; ABl. C 80 vom 30.3.2004, S. 66 und weitere.

(4)  http://erg.eu.int/doc/whatsnew/erg_0330rev1_remedies_common_position.pdf.

(5)  eEurope 2005: Eine Informationsgesellschaft für alle (KOM(2002) 263 endg.).

(6)  IP/04/626: Hochgeschwindigkeitsverbindungen für Europa: Kommission prüft nationale Breitbandstrategien.

(7)  Arbeitsdokument des Kommunikationsausschusses: Breitbandzugang in der EU: Stand zum 1. Januar 2004 (COCOM04-20 FINAL).

(8)  3. Mobilfunkwelle für Europa (IP/04/23).

(9)  Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Mehrjahresprogramm der Gemeinschaft zur Erleichterung des Zugangs zu digitalen Inhalten, ihrer Nutzung und Verwertung in Europa (KOM(2003) 46 endg.). Stellungnahme des EWSA: ABl. C 117 vom 30.4.2004, S. 49.

(10)  Die Wahrnehmung von Urheberrechten und verwandten Schutzrechten im Binnenmarkt (KOM(2004) 261 endg.).

(11)  Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Maßnahmen und Verfahren zum Schutz der Rechte an geistigem Eigentum (KOM(2003) 46 endg.), Stellungnahme des EWSA: ABl. C 32 vom 5.2.2004, S. 15.


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/28


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verbesserung der Gefahrenabwehr in Häfen“

(KOM(2004) 393 endg. – 2004/0031 (COD))

(2005/C 120/06)

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 11. Juni 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 80(2) des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 5. Oktober 2004 an. Berichterstatterin war Frau Dr. Bredima Savopoulou.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 169 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Die Welt musste nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und 11. März 2004 feststellen, dass der Kampf gegen den Terrorismus noch für lange Zeit geführt werden muss. Der EWSA wurde schon früh von Kommissionsmitglied De Palacio ersucht, eine Sondierungsstellungnahme zur Transportsicherheit auszuarbeiten. Er hat daraufhin eine Reihe von Maßnahmen (1) für eine zukünftige EU-Politik zur Verkehrssicherheit ausgearbeitet und stellt zu seiner Zufriedenheit fest, dass diese von der Kommission angenommen wurden.

1.2

Nach einer EU-Mitteilung zur Verbesserung der Gefahrenabwehr im Seeverkehr und einer Verordnung über die Verbesserung der Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen erstellte der EWSA eine Stellungnahme (2) zur Sicherheit von Hafenterminals.

1.3

Am 30. Juni 2004 nahm der EWSA eine weitere Stellungnahme (3) zu dem Vorschlag für eine Richtlinie zur Verbesserung der Gefahrenabwehr in Häfen an. Dieser Vorschlag für eine Richtlinie vervollständigt die Sicherheitsmaßnahmen, die durch die Richtlinie zur Verbesserung der Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen eingeführt werden, indem er eine Sicherheitsregelung für den gesamten Hafen aufstellt.

2.   Der Kommissionsvorschlag

2.1

Nach den Beratungen im Rat über den Entwurf einer Richtlinie zur Verbesserung der Gefahrenabwehr in Häfen schlägt die Kommission eine Änderung von Artikel 7 vor (4). Hierbei soll der Gefahrenabwehrplan dafür sorgen, dass die zuständigen nationalen Stellen auf der Grundlage einer Risikoabschätzung angemessene Sicherheitskontrollen an Pkw und Lkw durchführen, die von Schiffen transportiert werden, die auch Passagiere befördern.

2.2

Der Vorschlag bezieht sich auf Ro-Ro-Fähren auf inländischen und internationalen Routen. Im internationalen Verkehr werden die betroffenen Mitgliedstaaten bei der Risikoabschätzung zusammenarbeiten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss unterstützt nachdrücklich einen ausgewogenen Ansatz zur Sicherstellung der Gefahrenabwehr ohne Beeinträchtigung des freien Handelsflusses. Er versteht daher die Bedenken der Kommission im achten Erwägungsgrund des Richtlinienvorschlags.

3.2

In Übereinstimmung mit seinen früheren Stellungnahmen stimmt der EWSA vollkommen mit der vorgeschlagenen Änderung des Entwurfs der Richtlinie zur Verbesserung der Gefahrenabwehr in Häfen überein. Auch wenn es keine absolute Sicherheit geben kann, wiederholt der EWSA, dass die gesamte logistische Transportkette durch Sicherheitsmaßnahmen begleitet werden muss, um Schwachstellen auszuschließen. Priorität muss hierbei dem Fahrgastverkehr eingeräumt werden, da hier in Anbetracht der gefährdeten Menschenleben ein Terroranschlag am folgenschwersten wäre.

3.2.1

Ro-Ro-Fähren sind von Terroranschlägen besonders gefährdet, vor allem wenn sie auch Passagiere befördern. Fahrzeuge, die auf Ro-Ro-Fähren transportiert werden, können nämlich sicherheitsmäßig durchaus zu modernen „trojanischen Pferden“ werden.

3.2.2

Es müssen angemessene Maßnahmen ergriffen werden, damit Personen- und Lastkraftwagen an Bord von Ro-Ro-Fähren keine Gefahr darstellen. Die Maßnahmen müssen vor der Verladung auf die Fähre im Hafen oder an den Grenzen des Hafens stattfinden und zwar so, dass sie die Betriebsabläufe so wenig wie möglich beeinträchtigen.

3.2.3

Schwierigkeiten bereitet bei Sicherheitsinspektionen von Pkw und Lkw, die auf Ro-Ro-Passagierfähren geladen werden sollen, die Art des mitgeführten Gepäcks bzw. der Fracht. Langjährige Erfahrung zeigt, dass die Gepäck- bzw. Ladungskontrolle dieser Fahrzeuge am besten vor der Einschiffung im Hafengebiet erfolgen sollte, wo sowohl moderne Sicherheitsvorrichtungen als auch gut ausgebildetes Personal eingesetzt werden können.

3.3

Wichtig sind aus Sicht des EWSA auch die Fragen der Haftung, die durch die Überprüfungen entstehen. Selbstverständlich muss die Haftung infolge von Sicherheitskontrollen von Pkw und Lkw bei den zuständigen einzelstaatlichen Behörden liegen und nicht bei dem Schiff, auf das die Fahrzeuge danach verladen werden.

3.4

In Bezug auf die Identifizierung von mit Sicherheitskontrollen befasstem Schiffs- und Hafenpersonal sollten die Anforderungen praxisorientiert gehandhabt werden, um den Betrieb nicht unnötig zu stören.

3.5

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission auf der Grundlage der vorgeschlagenen Änderung in Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden sechs Monate nach dem Inkrafttreten der vorgeschlagenen Richtlinie mit der Durchführung von Inspektionen beginnen wird, um zu prüfen, ob die Umsetzungskontrollen im Rahmen der aufgrund dieser Richtlinie erlassenen nationalen Pläne wirksam sind. Der EWSA betont, dass die EU-Häfen, aber auch außergemeinschaftliche Häfen umgehend den neuen Sicherheitsvorschriften (ISPS-Code) für Hafenterminals, die am 1. Juli 2004 in Kraft traten, angepasst werden müssen.

3.6

Des Weiteren dringt der EWSA darauf, dass die wirtschaftliche Seite der Gefahrenabwehr in Häfen umgehend auf EU-Ebene behandelt und ein harmonisiertes Konzept entwickelt wird, um Wettbewerbsverzerrungen zwischen Häfen und zwischen Verkehrsträgern, insbesondere zu Lasten des Ro-Ro-Verkehrs, zu vermeiden. Die Kommission wird ersucht, eine Gesamtfolgenabschätzung über die finanziellen Auswirkungen der Maßnahmen zur Gefahrenabwehr in Häfen zu stellen und eine EU-Regelung zur Finanzierung (soweit nötig) der Umsetzung dieser Maßnahme auszuarbeiten.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  ABl. C 61 vom 14. März 2003, S. 174.

(2)  KOM(2003) 229 endg. – ABl. C 32 vom 5.2.2004, S. 21.

(3)  KOM(2004) 76 endg. – Abl. C 241 vom 28.9.2004.

(4)  KOM(2004) 393 endg.


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/30


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung bestimmter polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe in Weichmacherölen und Reifen (Siebenundzwanzigste Änderung der Richtlinie 76/769/EWG des Rates)“

(KOM(2004) 98 endg. – 2004/0036 (COD))

(2005/C 120/07)

Der Rat beschloss am 22. März 2004 gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 21. September 2004 an. Berichterstatter war Herr Sears.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 154 gegen 3 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) sind natürlich auftretende Substanzen, die bei der unkontrollierten Verbrennung kohlenstoffhaltiger Verbindungen bei niedrigen Temperaturen entstehen. Dies geschieht bei Waldbränden, in Vulkanausbrüchen, bei menschlichen Aktivitäten wie etwa Rauchen, bei der Gebäudeheizung, der Stromerzeugung und beim Autofahren infolge der Verbrennung fossiler Brennstoffe, beim Kochen und bei der Abfallverbrennung sowie bei bestimmten Industrieverfahren. PAK kommen in der Natur in Erdöl und Kohle vor und reichern sich als leicht entstehende, stabile Verbindungen in den ersten Cracking- und Destillationsstufen an.

1.2

Dieser Prozess der teilweisen Oxidation führt zu einem Gemisch an Verbindungen mit ungesättigten aromatischen 5er- und 6er-Ringen, die sich quasi in alle Richtungen fortsetzen können (polyzyklische aromatische Ringmoleküle). Es wurden ca. 600 verschiedene Molekülstrukturen identifiziert, von denen aber nur einige wenige für die Verwendung als Zwischenprodukt eingestuft oder isoliert wurden. Keine dieser Substanzen wurde bewusst in größeren Mengen hergestellt. Bei weiterer Oxidation entsteht Ruß (d.h. unreine KW-Partikel) womit PAK häufig gleichgesetzt werden.

1.3

Da sie durchweg in undifferenzierten Stoffgemischen auftreten, lassen sich die Eigenschaften von PAK im Einzelnen nur schwer bestimmen (und aus ebendiesem Grund sind sie auch weitgehend irrelevant). Nachdem einige PAK nachweislich bei Tieren krebserregend sind, erscheint es vernünftig, diese Stoffgemische als für den Menschen krebsgefährdend einzustufen. Bei Ölen und einigen anderen Zubereitungen, die bekanntermaßen PAK enthalten, ist eine Etikettierung mit Gefahr- und Sicherheitshinweisen erforderlich sowie ein entsprechender Umgang mit diesen Substanzen geboten, damit die Sicherheit am Arbeitsplatz gewährleistet ist. Verfahren, bei denen mit der Freisetzung von PAK in die Umwelt zu rechnen ist, sollten nach Möglichkeit in Grenzen gehalten oder ganz vermieden werden.

1.4

Ein solches Verfahren ist die Verwendung von Weichmacherölen bei der Herstellung von Reifen für Personen- und Lastkraftwagen, Motorräder, Rennwagen und Luftfahrzeuge. Diese Öle, die bis zu 28 % der Laufflächenzusammensetzung ausmachen können, sorgen für die entsprechende Bodenhaftungseigenschaften, die bei der Karkasse nicht erforderlich sind. Wenn die Lauffläche nicht das gewünschte Verhalten aufweist bzw. seine Praxiseigenschaften sich im Lauf der Zeit ändern, werden Sicherheit und Reifenleistung beeinträchtigt, was sich für die Kfz-Führer auswirkt.

1.5

Technisch gesehen müssen diese Öle in der Lage sein, Natur- und Synthetikkautschuk und andere bei der Herstellung von Reifen verwendeten Stoffe zu lösen, langzeitbeständig und stabil sein, sich gut verteilen und in der Kautschukmasse gebunden bleiben, bei verschiedenen Temperatur- und Feuchtigkeitsverhältnissen ihre Wirkung entfalten und bei der Reifenherstellung und in der praktischen Anwendung sicher zu handhaben sein. Ferner müssen diese Öle in großen Mengen verfügbar sein, entsprechend weltweit anerkannten Normen hergestellt werden und von mehreren miteinander konkurrierenden Lieferanten zu Kosten bezogen werden können, die niedriger sind als der Kautschukpreis, um so die Gesamtkosten der Reifen zu senken.

1.6

Hocharomatische Öle, die diese Voraussetzungen erfüllen, werden seit langem von führenden Ölherstellern unter der Bezeichnung aromatische Extrakte (DAE) angeboten. Für das erforderliche Lösungsvermögen ist ein entsprechender Gesamtaromatizitätsgrad erforderlich, der wiederum eine hohen PAK-Anteil bedingt. Da die Laufflächen sich im Fahrbetrieb allmählich abnutzen, ist anzunehmen, dass mit dem Reifenabrieb diese PAK in die Umwelt gelangen. Ob diese Emissionen gegenüber anderen Freisetzungsformen ins Gewicht fallen, darüber sind die Meinungen geteilt. Inzwischen ist der Umstieg auf andere Öle in Europa zwar bereits im Gange, muss aber noch zu einem befriedigenden Ende geführt werden.

1.7

Dies ist umso wichtiger, als nämlich auch das weltweite Angebot an DAE allmählich knapp wird, da bei der Modernisierung der Raffinerietechnik der Schwerpunkt inzwischen auf die Gewinnung hochwertigerer vollständig hydrogenierte Erzeugnisse (sprich mit niedrigerem Anteil an aromatischen Bestandteilen und geringerem Lösungsvermögen) und 'saubere' Kraft- und Brennstoffe gelegt wird.

1.8

Bei einer Jahresproduktion von etwa 300 Millionen Reifen in Europa und einem Weltmarkt für Weichmacher- und Prozessöle für die Reifenindustrie in einer Größenordnung von nahezu 1 Million Tonnen ist diese kosteneffiziente Verwirklichung dieses Unterfangens für die Öllieferanten, Reifenhersteller und die Regulierungsinstanzen gleichermaßen eine große Herausforderung, wenn gleichzeitig die Sicherheit und hohe Leistungsfähigkeit zu niedrigen oder vertretbaren Kosten gewahrt bleiben soll.

1.9

Bislang wurden zwei Arten nicht-karzinogener Öle entwickelt, die unterschiedliche Investitionen seitens der Öllieferanten und diverse Produktionsumstellungen seitens der Reifenhersteller implizieren. Diese Stoffgruppen sind unter dem Namen milde Extraktionslösungsmittel (MES) bzw. behandelter Aromatenextrakt aus behandeltem Destillat (TDAE) bekannt. Möglicherweise werden Anbieter aus Drittländern noch andere Ölarten entwickeln.

1.10

So weit es sich ausmachen lässt (denn nähere Einzelheiten sind bei dem äußerst umkämpften Reifenmarkt nicht öffentlich zugänglich), hat ein gewisser Übergang zu Ersatzstoffen bereits stattgefunden – beispielsweise bei Winter- und LKW-Reifen, bei denen es weniger auf die Traktion der Lauffläche bei Nässe ankommt. Generell wird jedoch angenommen, dass die Umstellung bei den von den Eigenschaften her anspruchsvolleren Sommerreifen und erst recht bei Reifen für Rennwagen und Luftfahrzeuge weitaus mehr Zeit brauchen wird. Außerdem gibt es nicht genügend Produktionskapazität für MES und TDAE, was noch erschwerend zu der bereits angesprochenen beschränkten Verfügbarkeit von DAE hinzukommt.

1.11

Um die gewünschten Veränderungen in einer zeitgerechten und mit sonstigen EU-Rechtsvorschriften über Wettbewerb bzw. Sicherheit und Gesundheitsschutz vereinbaren Weise auf den Weg zu bringen, haben Vertreter der betroffenen Industriezweige (CONCAWE, IISRP and BLIC) mit der Kommission und anderen Regulierungsgremien zusammengearbeitet, um einvernehmlich zu einem geeigneten Herstellungskonzept und Regulierungsrahmen zu gelangen. Was noch aussteht, sind Tests zur Ermittlung der für die Verwendung in Europa akzeptablen Öle bzw. Tests für jegliche auf den Markt gebrachte Reifen – sprich EU-Erzeugnisse und Drittlandsware – zum Nachweis der Verwendung von Ölen mit entsprechend niedrigem PAK-Anteil in den Fertigerzeugnissen.

2.   Zusammenfassung des Kommissionsvorschlags

2.1

Im Juli 2003 schlug die Kommission eine generelle Beschränkung der Luftbelastung durch Schwermetalle und PAK vor. Der EWSA verabschiedete seine Stellungnahme zu diesem ersten Vorschlag im Februar 2004. Der jetzige Vorschlag, der ebenfalls im Februar 2004 veröffentlicht wurde, bezweckt die Einrichtung eines Binnenmarktes in diesem Bereich und die Herbeiführung eines hohen Gesundheits- und Umweltschutzniveaus durch die Aufnahme bestimmter PAK in Anhang 1 der Richtlinie 76/769/EWG. Bei den aufgelisteten PAK handelt es sich nicht um in großen Mengen hergestellte chemische Stoffe (HPV), und außerdem erschienen sie bislang noch in keiner der vier Prioritätenlisten für die Bewertung bestehender Substanzen. Sie werden jedoch allesamt als persistent organische Schadstoffe (POP) im Sinne des diesbezüglichen UN/ECE-Protokolls bzw. -Übereinkommens angesehen.

2.2

Ein spezifischer PAK, und zwar Benzo(a)pyren (BaP, CAS-Nummer 50-32-8) wird aufgrund der Richtlinie 67/548/EWG als krebserregender, mutagener and reproduktionstoxischer Stoff der Kategorie 2 eingestuft und wird in der Kommissionsvorlage als qualitativer und quantitativer Marker für das Vorhandensein von PAK ausgewiesen.

2.3

Weichmacheröle dürfen nicht für die Reifenherstellung in den Verkehr gebracht und verwendet werden, wenn sie mehr als 1 mg/kg BaP oder mehr als 10 mg/kg aller aufgeführten PAK zusammen enthalten.

2.4

Die Kommission erkennt an, dass noch einige technischen Probleme gelöst werden müssen, weswegen als Termin für die allgemeine Einführung der Bestimmungen der 1. Januar 2009 festgelegt wird. Für Rennfahrzeugreifen für offizielle Sportveranstaltungen sollen die Bestimmungen ab 1. Januar 2012 gelten, für Flugzeugreifen soll der Einführungstermin zu einem späteren Zeitpunkt festgelegt werden. Das Fehlen etwa vom CEN oder der ISO festgelegter einschlägiger harmonisierter Prüfmethoden zur Bestimmung des PAK-Gehalts in Weichmacherölen und Reifen soll bezüglich der Einführungsfrist keine aufschiebende Wirkung haben.

2.5

Die Kommission weist darauf hin, dass sie den Wissenschaftlichen Ausschuss für Toxizität, Ökotoxizität und Umwelt der EU (CSTEE) über wissenschaftliche Erkenntnisse zur gesundheitsschädigenden Wirkung von PAK befragt hat.

2.6

Die Mitgliedstaaten haben ein Jahr Zeit, die Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu veröffentlichen, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen. Und zwar gerechnet ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der vorgeschlagenen Richtlinie nach Anhörung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) und dem Verfahren der Mitentscheidung des Europäischen Parlaments gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Dieser Vorschlag ergänzt bestehende PAK-Beschränkungen und stützt sich auf einen Bericht des Umweltbundesamts vom 18. März 2003 und des schwedischen Chemikalien-Inspektorats (KEMI) vom 27. März 2003 über die angeblichen gesundheits- und umweltgefährdenden Auswirkungen von Reifenabrieb. Der CSTEE hat diese Berichte einer auf seiner 40. Plenartagung am 12./13. November 2003 verabschiedeten Stellungnahme zufolge geprüft.

3.2

Der CSTEE schloss sich davon ausgehend dem Standpunkt an, dass PAK als Stoffgruppe als wahrscheinlich krebserregend einzustufen sind und dass PAK durch Reifenabrieb freigesetzt werden. Jedoch unterstützte er die Verwendung von BaP als qualitativen und quantitativen Marker für das Vorhandensein anderer PAK nur zum Teil und äußerste ernste Zweifel ob der globalen Relevanz dieses Emissionswegs.

3.3

Insgesamt machen Emissionen aus Reifenabrieb weniger als 2 % der Exposition des Menschen gegenüber PAK aus, während die restlichen 98 % auf die in Ziffer 1.1 genannten Emissionsquellen entfallen. Dies deckt sich mit wiederholten Einschätzungen der WHO, dass Luftverschmutzung und damit zusammenhängende Erkrankungen einschließlich Krebs in erster Linie auf Rauchen, Verfeuerung von Holz und Kohle für Heizung und Nahrungsmittelzubereitung zurückzuführen sind. Der CSTEE gelangte daher zu dem Schluss, dass eine Beschränkung des PAK-Gehalts von Reifen keine wesentliche Auswirkung auf die PAK-Belastung der Luft und des Bodens haben wird.

3.4

Die routinemäßige Aussage, diese Richtlinie „gewährleistet ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und die Umwelt“, trifft daher in diesem Falle ganz und gar nicht zu. Die Kennzeichnung und sichere arbeitstechnische Handhabung von Weichmacherölen ist in den geltenden Rechtsvorschriften über gefährliche Stoffe bereits geregelt. Dieser Vorschlag bringt daher kein Mehr an Sicherheit am Arbeitsplatz und nur minimale ökologische Nutzeffekte.

3.5

Wie schon die 26. Änderung der Richtlinie 76/769/EWG des Rates betreffend die Beschränkung des natürlichen Chrom-VI-Gehalts in Zement (Stellungnahme des EWSA vom März 2003) geht auch dieser Vorschlag bis an die Grenzen der ursprünglichen Richtlinie oder sogar darüber hinaus. PAK werden weder vorsätzlich hergestellt noch als solche in Verkehr gebracht. Dieser Überlegung wird zwar im Anhang Rechnung getragen – in dem es richtigerweise um die Einschränkung PAK-haltiger Erzeugnisse geht –, nicht aber im Titel des Vorschlags, der dementsprechend geändert werden sollte.

3.6

Titel und Wortlaut des Richtlinienvorschlags sind auch in ihrer Bezugnahme auf „bestimmte PAK“ als konkrete Einzelgruppe irreführend. Wie der CSTEE feststellt, liegt nur für einige wenige PAK ein Eigenschaftsprofil vor, und selbst unter diesen PAK sind die wenigsten als vermutlich nicht krebserregend anzusehen; deshalb muss die gesamte Stoffgruppe als für den Menschen gesundheitsgefährdend eingestuft werden. Die Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung sollten deshalb für „bei der Reifenherstellung verwendete Öle mit hohem PAK-Gehalt und diese Öle enthaltende Reifen“ gelten.

3.7

Im Lichte der vorstehend beschriebenen Gegebenheiten und in Anbetracht der Überschneidung mit dem früheren Kommissionsvorschlag betreffend die Luftbelastung durch Schwermetalle und PAK wurde ins Feld geführt, dass diese Richtlinie überflüssig ist und zurückgezogen werden sollte. Der Markt wurde dadurch zersplittert, dass mindestens zwei Stoffe notwendig sind, um die bisher verwendete eine Substanz zu ersetzen. Es sind nicht genügend Kapazitäten vorhanden, um die Nachfrage zu decken. Außerdem gibt es noch immer Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Ersatzstoffe; wenn unter Verwendung von Ölen mit niedrigem PAK-Gehalt hergestellte Laufflächen im praktischen Einsatz versagen, wird es statt der hypothetischen Totenzahlen, die als Rechtfertigung der Vorbeugungsmaßnahmen herangezogen wurden, echte Todesfälle geben.

3.8

Der EWSA kann diese Bedenken nachvollziehen, ist aber der Ansicht, dass die Richtlinie in enger Abstimmung mit den betroffenen Industriezweigen unbedingt weiterverfolgt werden muss, um den Übergang zu einer weltweiten Verwendung von Weichmacherölen mit niedrigem PAK-Gehalt bei der Reifenherstellung erfolgreich ins Werk setzen zu können. Diese Ersatzstoffe müssen aber zweifelsfrei den selben Mindeststandards in Bezug auf sämtliche sicherheitsbezogenen Leistungsmerkmale genügen. Die Schaffung eines effizienten, wettbewerbsfähigen und zuverlässigen Binnenmarktes für diese neuen Erzeugnisse in Europa ist deswegen für sich genommen bereits ein hinreichender Rechtfertigungsgrund für diesen Vorschlag.

3.9

Es kommt nun vor allem darauf an, sich rechtzeitig darauf zu einigen, welche Tests zu verwenden sind, um zu bestimmen, welche Öle verwendet werden dürfen. Der Anhang der vorgeschlagenen Regelung sieht die Prüfung auf Anwesenheit einzelner PAK vor. Dies eignet sich nicht für kontinuierliche großmaßstäbliche Raffinerieprozesse, bei denen die chemischen Bestandteile der einzelnen Fraktionen von dem verwendeten Rohöl abhängen. Andere Tests wie etwa das Prüfverfahren IP-346 des Institute of Petroleum (zur Kontrolle des PAK-Gesamtanteils durch Messung des Gehalts an PAK mit 3er- bis 7er-Ringen im DMSO-Extrakt) werden in der Ölindustrie bereits als geeignete Methode für die Messung des Krebsgefährdungsgrades gemäß der Richtlinie 67/548/EWG angewandt. Im Auftrag der Ölindustrie von CONCAWE durchgeführte Studien bestätigen die Meinung des CSTEE, dass die einfache Messung des BaP-Gehalts wenig Aufschluss über das gesamte Karzinogenizitätspotenzial von PAK gibt. Deshalb empfiehlt der EWSA nachdrücklich die Verwendung des Prüfverfahrens IP-346 für die Ermittlung und Prüfung der verschiedenen Weichmacheröle.

3.10

Um die Reifenindustrie in Europa – und, sofern es solche Nutzeffekte geben sollte – die Umwelt zu schützen, muss es ein solches Prüfverfahren auch für die bei der Herstellung von importierten Reifen verwendeten Öle geben. Ein Entwurf der Internationalen Normenorganisation (ISO TC 45/SC 3 N vom 29. Oktober 2003) schlägt ein Testverfahren für die Bestimmung der in Kautschukverbindungen verwendeten Ölarten vor, mit der Aufforderung zu etwaigen Bemerkungen und Abwandlungsvorschlägen. Die diesbezüglichen Arbeiten sollten zu einem zufriedenstellenden Ende gebracht werden, bevor die Richtlinie in Kraft gesetzt wird.

3.11

Angesichts dieser Sachlage müsste es eigentlich gelingen, die derzeitigen Versorgungsengpässe zu beseitigen, vor allem im TDAE-Bereich, wo ein viel höherer Investitionsaufwand erforderlich ist als bei MES. All dies braucht jedoch seine Zeit, und die derzeitige Anforderung, dass die Umstellung für alle normalen Autoreifen bis zum 1. Januar 2009 vonstatten gehen soll, erscheint immer unrealistischer. Da die Nutzeffekte des Vorschlags äußerst gering sein dürften und die Kosten und Risiken nicht erfolgreicher Umstellungen der Einsatzstoffe erheblich sind, sollte diese erste Frist um 12 Monate auf den 1. Januar 2010 verlängert werden. Aber selbst dann wird es zu zahlreichen Verhandlungen zwischen den verschiedenen miteinander konkurrierenden maßgeblichen Akteuren kommen. Der Kommission wird auch weiterhin eine Schlüsselrolle zukommen, um diesen Prozess im Rahmen der Zwänge des EU-Rechts zu erleichtern und letztlich zu einem guten Ende zu führen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Angesichts der vorstehenden Ausführungen sollten der Titel und der Wortlaut des Kommissionsvorschlags im Einklang stehen mit dem Hauptziel, die Vermarktung und Verwendung von Ölen mit hohem PAK-Gehalt bei der Reifenherstellung bzw. von Reifen, die solche Öle enthalten, mit Beschränkungen zu belegen.

4.2

Dies sollte im Anhang dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass Beschränkungen für die Vermarktung und Verwendung von Ölen, die einen Anteil an DMSO-löslichen Substanzen nach IP-346 von mehr als 3 % aufweisen und daher gemäß der Richtlinie 67/548/EWG als krebserregend gelten, für die Herstellung von Reifen zur Auflage gemacht werden. Alle Bezugnahmen auf BaP als Markersubstanz und sonstige einzelnen PAK sollten gestrichen werden.

4.3

Es sollte ein internationales Standardtestverfahren für die Bestimmung der in Kautschukverbindungen, insbesondere Reifen, verwendeten Öle entwickelt und in die vorgeschlagene Richtlinie aufgenommen werden.

4.4

Es sollte entsprechend Zeit vorgesehen werden, damit die Kautschuk- und die Reifenindustrie ihre bereits angelaufenen Anstrengungen zur Umstellung ihrer Reifenmischungen vollenden können und die Ölindustrie die entsprechenden Investitionen tätigen und dann auch die erforderlichen Rohstoffe liefern kann. Aus heutiger Sicht wird angenommen, dass alle beteiligten Seiten diesen Anforderungen zum 1. Januar 2010 nachkommen können, und deswegen sollte dieser Termin als erste Fristvorgabe im Richtlinienvorschlag vorgesehen werden. Abweichungen bei Reifen für Rennwagen, Luftfahrzeuge und andere anspruchsvolle Endzwecke sollten im Einvernehmen mit den betreffenden maßgeblichen Akteuren festgelegt werden; angesichts der vorstehenden Ausführungen sind schwerlich irgendwelche messbaren Nutzeffekte dieser Korrekturen zu erkennen, ganz im Gegensatz zu den augenscheinlichen Risiken eines Untätigbleibens in diesem Bereich für alle betroffenen Seiten.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/34


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2702/1999 über Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen für Agrarerzeugnisse in Drittländern und der Verordnung (EG) Nr. 2826/2000 über Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen für Agrarerzeugnisse im Binnenmarkt“

(KOM(2004) 233 endg. - 2004/0073 (CNS))

(2005/C 120/08)

Der Rat beschloss am 21. April 2004 gemäß Artikel 36 und 37 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 21. September 2004 an. Berichterstatter war Herr Nielsen.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 171 Stimmen gegen 1 Stimme bei 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Hintergrund

1.1

Die finanzielle Beteiligung der EU an Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen für Agrarerzeugnisse innerhalb und außerhalb der EU erfolgte bis 1999 im Rahmen der einzelnen Marktordnungen. Die sektoralen Bestimmungen wurden danach mit Hilfe der Verordnungen (EG) Nr. 2702/1999 und (EG) Nr. 2826/2000 über Maßnahmen in Drittländern bzw. im Binnenmarkt durch eine eher horizontale Strategie ersetzt, die Initiativen für die Absatzförderung der Mitgliedstaaten und Unternehmen selbst unterstützt. Ohne Verlängerung läuft die erstgenannte Verordnung Ende 2004 aus, und die Kommission hat im März 2004 – nach Maßgabe der Verordnungen - einen ausführlichen Bericht über deren Anwendung mit Vereinfachungs- und Verbesserungsvorschlägen vorgelegt.

1.2

In der EU haben das Bedürfnis nach Vertrauen in europäische Lebensmittel und der Bedarf an Informationen über Kontrollsysteme zur Sicherung von Qualität und Rückverfolgbarkeit durch Probleme wie Rinderwahnsinn, Dioxin und Listeriose zugenommen. Deshalb geht es überwiegend um Informationen über Rechtsvorschriften zur Qualitätssicherung, Lebensmittelsicherheit, Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit, Regelungen für geschützte geografische Angaben, Ursprungsbezeichnungen, Bescheinigung besonderer Merkmale sowie ökologische und integrierte Produktion mit dem Ziel, das Image europäischer Erzeugnisse in den Augen der Verbraucher zu verbessern.

1.3

In Drittländern soll mit der Regelung gleichzeitig über die Bemühungen der EU zur Gewährleistung von Qualität und Sicherheit und typischer, an bestimmte Gebiete geknüpfter Produktmerkmale sowie über die Anforderungen an ökologische Erzeugnisse informiert werden. Sowohl in der EU als auch in Drittländern dienen Informationskampagnen, PR-Aktivitäten, Absatzförderungsmaßnahmen und Werbung sowie die Teilnahme an Messen und Ausstellungen dazu, den Weg für nationale und private Kampagnen zur Steigerung des Marktanteils eigener Produkte zu ebnen.

1.4

Normalerweise beläuft sich der EU-Zuschuss für Absatzförderungsprogramme auf 50 %, während die entsprechenden Branchenverbände für 30 % und die Mitgliedstaaten für 20 % aufkommen, was über steuerähnliche Abgaben möglich ist. Die Ausgaben der Mitgliedstaaten gelten als Intervention und werden von der Kommission zurückerstattet.

1.5

Die entsprechenden europäischen bzw. einzelstaatlichen Organisationen müssen selbst die Initiative für die Programme ergreifen, während die Mitgliedstaaten für Verwaltung, Kontrolle und Zahlungen zuständig sind. Im Sinne des europäischen Gedankens haben Programme Priorität, die von zwei oder mehr Mitgliedstaaten und Branchenverbänden vorgelegt werden. In der Praxis ergeben sich für diese Programme jedoch auf Grund unterschiedlicher Verwaltungsvorschriften und -verfahren sowie in bestimmten Mitgliedstaaten auf Grund mangelnden Engagements verschiedene Probleme. Im Übrigen kosten Koordinierung, Kontrolle und Verwaltung die Antragsteller insgesamt unverhältnismäßig viel Zeit und Geld.

1.6

Wie im Bericht der Kommission genauer dargelegt, zielen die Vorschläge darauf ab, Unannehmlichkeiten auf Grund komplizierter, bürokratischer Verfahren zu verringern. Darüber hinaus sollen die Änderungen sicherstellen, dass es sich häufiger um Programme handelt, die ihrem Kern nach wirklich von europäischem Interesse sind.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Durch die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik und den verschärften Wettbewerb auf den Märkten wird die Regelung noch dringlicher, wie auch die Unterstützung konkurrierender Länder bei Informationskampagnen und Absatzförderung auf Exportmärkten weiterhin eine Gemeinschaftsregelung für den Binnenmarkt und für Drittstaaten rechtfertigt.

2.1.1

Es sind jedoch erhebliche Vereinfachungen und Verbesserungen erforderlich. Die Kommission hat Berufsverbände und weitere Betroffene angehört und auf dieser Grundlage ein umfassendes Positionspapier für die anstehende Überprüfung im Hinblick auf die Vereinfachung der Verwaltungsverfahren und eine möglichst zweckmäßige Funktionsweise der Regelung ausgearbeitet.

2.2

Laut Kommission ist es jedoch zu früh, um die Ergebnisse der neuen Regelung zu bewerten. Erst 2001 begann die schrittweise Anwendung in Drittländern und 2002 im Binnenmarkt; 2003 wurde die Regelung zum ersten Mal vollständig angewandt. Deshalb ist es - wie von der Kommission vorgeschlagen - wichtig, gegen Ende 2006 in einem weiteren Bericht die Funktionsweise der Regelung nach der Überprüfung zu analysieren. Dadurch wäre es auch möglich, ihre Umsetzung in den neuen Mitgliedstaaten der EU zu bewerten.

2.3

Somit sind viele Organisationen erst jetzt dabei, sich mit den Bestimmungen und Verwaltungsanforderungen der Regelung vertraut zu machen. Ein Teil der vorgelegten Programmvorschläge war jedoch, wie von der Kommission festgestellt, aus europäischer Perspektive von geringem Interesse. Deshalb sollte verstärkt Wert auf Programme gelegt werden, die auf europäischer Ebene Bedeutung haben, sowie auf die Gewährleistung von Synergien zwischen Aktivitäten der Mitgliedstaaten und der EU.

2.4

Nicht zuletzt nach der Erweiterung sollte sich die EU aus Gründen der Übersichtlichkeit generell um möglichst einfache Regelungen bemühen. Ungeachtet der unterschiedlichen Ziele und Inhalte inner- und außergemeinschaftlicher Programme hat die Aufteilung in zwei Verordnungen historische Gründe. Zur weiteren Vereinfachung sollten die Verordnungen baldmöglichst zu einem gemeinsamen, nutzerfreundlicheren Regelwerk zusammengefasst werden. Größtenteils sind die Bestimmungen identisch und die Unterschiede zumeist unbegründet. Auch die vorliegenden Vorschläge für eine Änderung der Verordnungen sind bezüglich der Einreichung von Programmvorschlägen, Beschlussfassung und Überwachung gleich.

2.5

Außerdem werden gemäß den Bestimmungen zur Entwicklung des ländlichen Raums Informationen, Absatzförderung und Werbung für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel nach Vorschriften unterstützt, die von der derzeitigen Regelung abweichen. Abgesehen von der kürzlich erfolgten Klarstellung der verschiedenen Anwendungsbereiche der Regelungen hätte die Kommission bereits jetzt die Möglichkeiten zur Beseitigung dieser Überlappung bewerten sollen. Es besteht also kein Grund, diese Diskussion – wie von der Kommission vorgeschlagen – aufzuschieben.

2.6

Die Kofinanzierung durch die EU sollte wie bisher fortgesetzt, und die entsprechenden Haushaltsmittel sollten angesichts der Erweiterung und des künftigen Bedarfs aufgestockt werden. So kann die Regelung unter Berücksichtigung von Varietäten und gastronomischer Vielfalt zur Integration und Vollendung des Binnenmarkts in den verschiedenen Produktbereichen beitragen. Die europäischen Berufsverbände sollten folglich verstärkt Informationskampagnen durchführen, die über Produktqualitäten und abweichende Verbraucherpräferenzen in der EU informieren. Die Märkte von Drittstaaten sollten gleichzeitig mit dem schrittweisen Abbau von Ausfuhrerstattungen in Anbetracht der realistischen Möglichkeiten zur Durchführung effizienter Programme in den Vordergrund gerückt werden.

2.7

Die begrenzte Nutzung der Regelung auf Drittlandsmärkten ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Programme nur generische Kampagnen betreffen. Dadurch sind die wichtigeren Mitgliedsunternehmen der Berufsverbände häufig zurückhaltend und sehen von einem Beitrag zur Finanzierung der Programme ab. Die Unterstützung von Marken und damit von Einzelunternehmen ist ausgeschlossen; wenn die Maßnahmen sich jedoch spürbar auf die Exportmärkte auswirken sollen, muss die Kommission bei Kampagnen und ähnlichen Unterfangen eine gewisse Flexibilität zeigen und eine ausgewogene Anzahl von Marken als festen Bestandteil der Gesamtkampagne akzeptieren, sodass eine Verbindung zwischen der Botschaft der Kampagne und den auf dem Markt befindlichen Produkten hergestellt werden kann, indem versucht wird, das Allgemeine mit dem Besonderen in Verbindung zu bringen und so Synergien zu schaffen. Das wird sich nicht auf die Botschaft der Kampagne selbst auswirken, jedoch dazu beitragen, dass Einkäufer und Kunden die betreffenden Produkte einer Kampagne in der Praxis finden können. Auch dem Ursprung der Erzeugnisse innerhalb der EU wird immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Wird ein Markt jedoch bereits von Marken beherrscht, so ist der zusätzliche Nutzen einer Absatzförderung durch die EU begrenzt, da die privaten Marken in einem solchen Fall zumeist mit Hilfe erheblicher Werbemittel intensiv um die Erhöhung ihres Marktanteils konkurrieren.

2.8

Es besteht kein Grund, die Kofinanzierungssätze der Mitgliedstaaten und der Berufsverbände zu ändern. Das Problem ist, dass bestimmte Mitgliedstaaten mangelndes Engagement zeigen oder sich nicht in der Lage sehen, die geforderte Kofinanzierung zu leisten, wodurch die betreffenden Berufsverbände von der Nutzung der Regelungen ausgeschlossen sind, es sei denn, die Finanzierung erfolgt über steuerähnliche Abgaben. Als administrative Vereinfachung sollten die derzeitigen degressiven Kofinanzierungssätze für Mehrjahresprogramme wegfallen und die Kofinanzierung der EU auf 50 % festgesetzt werden.

2.9

Die Zulassung steuerähnlicher Abgaben als Finanzierungsquelle führt bereits dazu, dass bestimmte Verbände real 50 % decken. Diese Möglichkeit sollte gewahrt, aber die Regeln für den obligatorischen Anteil der Mitgliedstaaten in Höhe von 20 % sollten konsequenterweise gelockert werden, sodass die Mitgliedstaaten von Fall zu Fall entscheiden können, in welcher Höhe sie ein Programm finanzieren wollen. Ein Mindestbeitrag des betreffenden Verbands von beispielsweise 20 % sollte jedoch obligatorisch sein.

2.10

Nach Ansicht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses sollte es möglich sein, absatzfördernde Maßnahmen für Blumen und Pflanzen auf Märkten von Drittstaaten auf dieselbe Weise zu unterstützen, wie das im Binnenmarkt der Fall ist.

2.11

Es verursacht einen Verwaltungsaufwand und ist sachlich nicht nachvollziehbar, dass der finanzielle Beitrag der Mitgliedstaaten im Rahmen der Regelung unter die Vertragsbestimmungen über staatliche Beihilfen fällt. Die vorgeschlagene Freistellung vom Notifizierungsverfahren, ähnlich wie im Rahmen der Verordnung für den ländlichen Raum, hätte deshalb von Anfang an gelten sollen.

2.12

Die Möglichkeit, eine minimale und maximale Mittelausstattung für die ausgewählten Programme festzulegen, ist angesichts des hohen Verwaltungsaufwands und der beträchtlichen Anzahl kleinerer Programme, die keine Wirkung auf die betreffenden Märkte entfalten, sinnvoll. Es müssen Programme Priorität erhalten, deren Dauer und Mittelausstattung eine möglichst optimale Wirkung gewährleisten können.

2.13

Was die ökologischen Erzeugnisse innerhalb der EU angeht, so müssen die nationalen und privaten Zertifizierungs- und Kontrollregelungen so weit wie möglich in die gemeinsame Regelung der EU für ökologische Produkte eingebunden werden. Diese Entwicklung ist im Gange und sollte so weit wie möglich durch Informationskampagnen unterstützt werden, um einen echten Binnenmarkt für ökologische Erzeugnisse als Ersatz für die nationalen und privaten Regelungen zu schaffen. Informationskampagnen in Drittstaaten für ökologische Produkte aus der EU zeitigten bisher nur begrenzte Wirkung. Die Vollendung des Binnenmarkts für ökologische Produkte ist eine Voraussetzung für die Vermarktung dieser Produkte in Drittstaaten. Hinzu kommen Probleme bei der gegenseitigen Anerkennung von Regelungen zwischen beispielsweise der EU und den Vereinigten Staaten.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1

Es ist zu erwägen, ob bei der internen Aufgaben- und Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission über den Vorschlag hinausgegangen werden kann. Das gilt auch für das Erfordernis, die Einbeziehung der zahlreichen Ausschüsse und Gremien, die an der Ausarbeitung der Regeln sowie an der Auswahl, Durchführung, Programmbegleitung und Kontrolle mitwirken, zu vereinfachen und ihre Zuständigkeiten klarer zu verteilen. Diese sollten deshalb durch Ad-hoc-Arbeitsgruppen aus Vertretern der Mitgliedstaaten und/oder Sachverständigen mit besonderen Fachkenntnissen in den Bereichen Absatzförderung und Werbung ergänzt werden, die die Kommission bei der Entwicklung einer Strategie sowie von Maßnahmen zur Durchführung der Regelung beraten können.

3.2

Die vorgeschlagene Änderung für die Auswahl der Durchführungsstellen stellt eine wesentliche Vereinfachung dar. Gleichzeitig ist es erforderlich, dass die betreffenden Organisationen je nach Art der Kampagne selbst bestimmte Aktivitäten innerhalb des Programms übernehmen und die Durchführungsstelle erst nach der Entscheidung der Kommission ausgewählt wird.

3.3

Was die übrigen Kritikpunkte betrifft - darunter die Zeitspanne zwischen der Einreichung der Vorschläge bis zur endgültigen Entscheidung, die Vielzahl an Details, die bereits in diesem frühen Stadium anzugeben sind, sowie die mangelnde Transparenz der Entscheidungen -, so sind die vorgeschlagenen Änderungen ein Schritt in die richtige Richtung. Außerdem ist eine Lockerung der Berichterstattungsanforderungen in Erwägung zu ziehen.

3.4

Der Vorschlag, der Kommission mehr Flexibilität einzuräumen, damit sie selbst die Initiative für Informations- und Absatzförderungskampagnen ergreifen kann, um eine ausgewogenere Verteilung auf die verschiedenen Produktbereiche zu gewährleisten, ist als sinnvoll anzusehen: Bisher gingen übermäßig viele Anträge aus dem Obst- und Gemüsesektor ein, während anderen Sektoren kaum oder sehr geringe Aufmerksamkeit zuteil wurde. Allerdings wirft die praktische Durchführung diverse Fragen auf, wie z.B. die in den Anhängen zu findenden Listen zur Eingrenzung der Länder und Erzeugnisse, die durch die EU gefördert werden können.

3.5

Das EU-Umweltzeichen sollte bei Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen deutlich sichtbar sein, um die Zertifizierungs- und Kontrollregelung der EU bekannter zu machen und die Harmonisierung der nationalen Regelungen zu fördern. Auf dem Umweltzeichen sind die zwölf die EU symbolisierenden Sterne abgebildet, sodass die Anforderung, das Material für die Kampagne mit der EU-Flagge zu versehen, nach noch genauer festzulegenden Grundsätzen gelockert werden sollte. Die derzeitigen Anforderungen führen dazu, dass auf demselben Kampagnenmaterial verschiedene EU-Symbole abgebildet sind. Dazu kommen nationale Ökolabel sowie das Logo des Absenders, wodurch die Botschaft unklar wird. Deshalb ist bei Kampagnen, die durch das Programm LIFE unterstützt werden, das LIFE-Logo abgebildet, das ebenfalls die zwölf Sterne enthält, aber nicht die EU-Flagge.

3.6

Derzeit dürfen nationale Umweltzeichen nur dann einbezogen werden, wenn weitreichendere einzelstaatliche Regeln eine Rolle spielen, was zu Diskriminierung führt und der Harmonisierung entgegenwirkt. Im Entwurf für den Europäischen Aktionsplan für ökologische Landwirtschaft und ökologisch erzeugte Lebensmittel (1) wird deshalb vorgeschlagen, die nationalen Umweltzeichen parallel zum EU- Umweltzeichen zu verwenden.

3.7

Der EWSA fordert die Kommission auf, einen Leitfaden zu erarbeiten, der sowohl für die Wirtschaftsakteure als auch für die Kontrolltätigkeit der Behörden von Nutzen wäre – und damit auch für die neue gemeinschaftliche Förderpolitik als Ganzes.

3.8

Diese Regelungen werden erst seit kurzem angewandt, doch lassen sich bereits grundlegende Erfordernisse feststellen, denen in Zukunft Rechnung zu tragen ist. Die Kommission muss die Maßnahmen auf den verschiedenen Märkten sorgfältig koordinieren, um künftig Überlappungen bzw. Überschneidungen von Botschaften zu vermeiden, die die Förderung ineffizient machen würden.

4.   Schlussfolgerung

4.1

Der Vorschlag der Kommission sollte unter Berücksichtigung obiger Bemerkungen zur Notwendigkeit weiterer Vereinfachungen angenommen werden.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Europäischer Aktionsplan für ökologische Landwirtschaft und ökologisch erzeugte Lebensmittel (KOM(2004) 415 endg.).


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/37


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Industrieller Wandel und staatliche Beihilfen im Stahlsektor“

(2005/C 120/09)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 29. Januar 2004, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zum Thema „Industrieller Wandel und staatliche Beihilfen im Stahlsektor“ zu erarbeiten.

Die Beratende Kommission für den industriellen Wandel, die für die Vorbereitung der diesbezüglichen Arbeiten des Ausschusses zuständig war, nahm ihre Stellungnahme am 9. September 2004 an. Berichterstatter war Herr Lagerholm, Mitberichterstatter Herr Kormann.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 154 gegen 3 Stimmen bei 11 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung, Ziel und Umfang der Stellungnahme; Begriffsbestimmungen

1.1

Im Mittelpunkt dieser Initiativstellungnahme steht der Zusammenhang zwischen industriellem Wandel und staatlichen Beihilfen, dargestellt am Beispiel des Stahlsektors.

1.2

Unter „industriellem Wandel“ verstehen die Autoren dieser Initiativstellungnahme den normalen und fortwährenden Prozess eines Industriesektors, proaktiv auf die dynamischen Bewegungen innerhalb eines Wirtschaftsfeldes zu reagieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben und Wachstumschancen zu schaffen.

1.3

Europa kann sich einem stetigen industriellen Wandel nicht entziehen. Angesichts zunehmend globalerer Märkten sind über kurz oder lang die wirtschaftlichen Strukturen an die Begebenheiten des Weltmarktes anzupassen. Vor diesem Hintergrund muss die Europäische Union darum bemüht sein, eine aktive Rolle bei der Definition der internationalen Rahmenbedingungen zu spielen.

1.4

Motiviert durch:

das Auslaufen des EGKS-Vertrages in 2002,

die Privatisierung und Restrukturierung der MOE-Stahlindustrien im Zusammenhang mit dem EU-Beitrittsprozess,

die OECD-Verhandlungen über ein internationales Stahl-Subventionsabkommen (SSA),

die neueste Ausgabe des EU-Beihilfenanzeigers sowie,

die Mitteilung der Europäischen Kommission zu „Den strukturellen Wandel begleiten: eine Industriepolitik für ein erweitertes Europa“ vom April 2004

den Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: „Erster Bericht über die Überwachung der Umstrukturierung der Stahlindustrie in der Tschechischen Republik und in Polen“, KOM(2004) 443 endg. vom 7. Juli 2004

soll mit dieser Initiativstellungnahme am Beispiel der Stahlindustrie analysiert werden, wie sich staatliche Beihilfen auf einen notwendigen Strukturwandel auswirken können.

1.5

Unternehmen, die im Gegensatz zur „gedopten“ Konkurrenz nicht in den Genuss staatlicher Beihilfen zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit kommen, werden oft in ihrer Entwicklung behindert und möglicherweise gar ganz aus dem Markt gedrängt. Die Erfahrungen aus mehreren Jahrzehnten Restrukturierung zeigen anhand der europäischen Stahlindustrie, dass politische Entscheidungsträger dennoch oft nur schwer davon loslassen können, Subventionen für von Schließung bedrohte Großunternehmen mit entsprechend hoher Beschäftigtenzahl zu genehmigen. Im Allgemeinen bedeutet dies, dass Überkapazitäten und unwirtschaftliche Aktivitäten über den vom Markt bestimmten Austrittszeitpunkt hinaus künstlich am Leben erhalten werden.

1.6

Und dennoch: Über die Unvermeidbarkeit des industriellen Wandels herrscht heute in Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften ebenso allgemeines Einvernehmen wie über die Notwendigkeit, diesen Wandel im Rahmen internationaler Rahmenvereinbarungen (z.B. WTO, OECD, ILO, …) zu gestalten. Diese Erkenntnisse beruhen auf den Erfahrungen der Kohle- und Stahlindustrie mit jahrzehntelangem Wandel. Restrukturierungen und Konsolidierungen sowie der begleitende soziale Dialog sind heute allgemein anerkannte Vorbedingungen beziehungsweise Rahmen, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen auf zunehmend vernetzten Absatzmärkten zu sichern.

1.7

Die Europäische Kommission hat in ihrer industriepolitischen Mitteilung Ende April 2004 (1) darauf hingewiesen, dass industrieller Wandel aber nicht mit einer absoluten Deindustrialisierung gleichgesetzt werden darf. Letztere zeichnet sich aus durch den gleichzeitigen Rückgang der Beschäftigung, der Produktion und des Produktivitätswachstums. Absolute Deindustrialisierung hat den Verlust von Arbeitsplätzen mit geringer Produktivität an Entwicklungs- und Schwellenländer mit niedrigeren Arbeitskosten zur Folge. Ursache hierfür sind in erster Linie veränderte komparative Kostenstrukturen in der EU zu Gunsten von Drittstaaten.

1.8

Die Europäische Kommission kommt in ihrer industriepolitischen Analyse gleichwohl zu dem Schluss, dass eine Deindustrialisierung zur Zeit außer im Bergbau nur in wenigen Branchen (Textilindustrie, Bekleidungsgewerbe, Ledergewerbe, Schiffbau sowie der Bereich Kokereien, Mineralölverarbeitung, Herstellung und Verarbeitung von Spalt- und Brutstoffen) stattfinde. Strukturpolitischer Wandel sei für einzelne Regionen sicher schmerzlich, aber in der volkswirtschaftlichen Gesamtbetrachtung von Vorteil, so lange der Wandel richtig vorausgesehen, identifiziert und begleitet werde.

1.9

Der prozentuale Rückgang des Industrieanteils an der volkswirtschaftlichen Gesamttätigkeit ist Ausdruck eines langfristigen Strukturprozesses. Die meisten Industriebranchen haben zwar - wie z.B. der Eisen- und Stahlsektor - in den vergangenen Jahrzehnten einen erheblichen Arbeitsplatzabbau vorgenommen, registrierten jedoch gleichzeitig auch eine deutliche Zunahme der eigenen Wertschöpfung und Arbeitsproduktivität.

1.10

Die Zunahme der gesellschaftlichen Bedeutung des Dienstleistungssektors wird häufig in der Öffentlichkeit als Beleg eines Strukturwandels zu Lasten der Industrie herangezogen. Diese Verlagerung ist jedoch vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verzahnung beider Sektoren zu relativieren. Im Verarbeitenden Gewerbe hat in den letzten Jahrzehnten ein Outsourcing diverser Tätigkeiten (Transport, Logistik, Datenverarbeitung, ...) an externe Dienstleister stattgefunden. Interpretationen statistischer Ausarbeitungen zum industriellen Wandel müssen deshalb sorgfältig und mit aller Vorsicht erfolgen. Falsche Rückschlüsse auf Grund oberflächlich durchgeführter Analysen oder Halbwahrheiten aus politisch motivierten Erwägungen ziehen schnell fatale industriepolitische Folgen nach sich.

1.11

Auch in einer wissensbasierten Europäischen Union bleibt industrielle Wertschöpfung unverzichtbar. Unter Berücksichtigung aller Wertschöpfungsanteile, die in anderen Sektoren für die Industrie erstellt werden, ergibt sich, dass die Bedeutung der Industrie für die Europäische Union seit Beginn der 90er Jahre unverändert hoch ist. Beispielsweise liegt sie in Deutschland unter Einrechnung dieses Vorleistungsverbundes weiterhin bei einem Anteil von gut 40 % an der Bruttowertschöpfung.

1.12

Angesichts einer fast 30-jährigen, teilweise sehr schmerzlichen Erfahrung mit Privatisierungen und Umstrukturierungen regt heute die EU-Kommission an, dass sich künftige Strukturmaßnahmen (in den MOE-Staaten, aber auch in anderen Branchen) auf die Erfahrungen des EU-Stahlsektors mit Anpassungsmaßnahmen stützen sollten.

1.13

In den vergangenen Jahrzehnten erfuhren das politische, technische und wirtschaftliche Umfeld des EU-Stahlsektors beträchtliche Veränderungen. Die Ölkrisen, der EU-Binnenmarkt, die EU-Erweiterungen, aber auch die Globalisierung haben tiefe Spuren in diesem für viele Industriebranchen wichtigen Grundstoff-Sektor hinterlassen. Seit dem ersten Krisenjahr 1975 ist die Erzeugung von Stahl jedoch trotz aller konjunktureller und struktureller Schwankungen in der EU annähernd stabil geblieben. In fast allen EU-15-Mitgliedstaaten wird auch heute noch Stahl erzeugt. Allerdings kann heute die Produktion durch den technischen Fortschritt mit ca. nur einem Drittel der Beschäftigten im Vergleich zu 1975 bewerkstelligt werden. Der Anteil der staatlich dominierten Stahlunternehmen in der EU-15 hat sich von 53 % (1985) auf heute unter 10 % reduziert. Außerdem sind staatliche Unternehmen heute ähnlichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ausgesetzt wie private.

1.14

Vor diesem Hintergrund ist es für die Beratende Kommission für Industriellen Wandel (BKIW) im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss eine reizvolle Aufgabe zu untersuchen, welche Rolle staatliche Beihilfen allgemein im Hinblick auf Strukturwandel spielen und welche sie insbesondere in der europäischen Stahlindustrie gespielt haben. Für die Zwecke dieser Initiativstellungnahme fallen unter den Begriff „Stahlsektor“ alle Industrietätigkeiten im Zusammenhang mit der Stahlherstellung und dem Stahlvertrieb sowie ihrer wichtigen Funktionen für die europäischen Stahl verbrauchenden Branchen.

2.   Staatliche Beihilfe und ihre allgemeinen Auswirkungen

2.1

Staatliche Beihilfen sind selektive Vergünstigungen, die staatliche Einrichtungen zugunsten ausgewählter Produktionszweige und letztlich bestimmter Gruppen gewähren. Um festzustellen, ob es sich bei Maßnahmen um staatliche Beihilfen handelt, muss unterschieden werden zwischen solchen Maßnahmen, die für die Unterstützung bestimmter Unternehmen oder die Herstellung bestimmter Waren nach Artikel 87 Absatz 1 des EG-Vertrages gedacht sind, und allgemeinen Maßnahmen, die in den Mitgliedstaaten gleichermaßen anwendbar sind und die gesamte Wirtschaft begünstigen sollen. Im letzteren Fall handelt es sich nicht um staatliche Beihilfen im Sinne des Artikels 87 Absatz 1, sondern vielmehr um Maßnahmen der allgemeinen Wirtschaftspolitik, die allen Unternehmen gleichermaßen gewährt werden können (beispielsweise allgemeine Steuervergünstigungen für Investitionszulagen).

2.2

Aber: In einer marktwirtschaftlichen Ordnung werden die wirtschaftlichen Aktivitäten durch die Angebot- und Nachfragesituation gesteuert und über den Preismechanismus koordiniert. Damit ist grundsätzlich alles potenziell schädlich, was die Informations-, Lenkungs- und Anreizfunktion der Preise beeinträchtigt.

2.3

Staatliche Beihilfen können den freien Wettbewerb nachhaltig beeinträchtigen, sie verhindern eine effiziente Ressourcenallokation und stellen eine Bedrohung des EU-Binnenmarktes dar. Die Europäische Union erkennt deshalb die Wahrung eines freien und unverfälschten Wettbewerbs als eines der Grundprinzipien der Gemeinschaft an.

2.4

Staatliche Beihilfen (Finanzhilfen oder Steuervergünstigungen) sind allokativ nur dann begründet, wenn der Markt unvollkommen funktioniert und eine realistische Chance dafür besteht, dass Subventionen zu einem besseren wirtschaftlichen Ergebnis führen. Eingriffe des Staates in Form von Finanzhilfen können bei Marktversagen dazu führen, dass Fehlallokationen vermieden werden. Der Staat verfügt jedoch nur selten über das Wissen, das er haben müsste, damit im Falle des Marktversagens öffentliche Mittel im richtigen Umfang eingesetzt werden. Um staatliche Beihilfen ringende Unternehmen können nur bedingt als Informationsgeber herangezogen werden.

2.5

Als schwierig erweist sich zudem, dass sich die Marktverhältnisse fortlaufend ändern. Eine ursprünglich berechtigte staatliche Beihilfe kann sich im Laufe der Zeit als ökonomisch nicht mehr notwendig erweisen, bleibt aber dennoch bestehen angesichts der Trägheit des politischen Prozesses oder infolge des Einflusses von regionalen oder sektorspezifischen Interessengruppen.

2.6

Staatliche Hilfen ziehen außerdem häufig Verhaltensänderungen der Marktteilnehmer nach sich. Subventionen vermindern deren Bereitschaft, Anpassungen vorzunehmen, die notwendig sind, um die unternehmerische Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten oder wiederherzustellen; es kann sich eine „Subventionsmentalität“ auf Seiten der unterstützten Unternehmen entwickeln.

2.7

Staatliche Beihilfen können – jedenfalls auf mittlere Sicht – die Steuerbelastung vergrößern. Der Abbau staatlicher Beihilfen ist nicht nur zu einer nachhaltigen Haushaltskonsolidierung unerlässlich, sondern auch aus ökonomischen und ordnungspolitischen Gründen geboten. Subventionen, falsch angepackt, bremsen den Strukturwandel aus.

2.8

Im Zusammenhang mit der notwendigen Verringerung des Gesamtvolumens staatlicher Beihilfen wurde in den Schlussfolgerungen verschiedener EU-Ministerräte eine Verlagerung des Schwerpunkts von der Unterstützung einzelner Unternehmen oder Wirtschaftszweige auf die Erreichung horizontaler Ziele von gemeinsamen Interesse einschließlich der Kohäsionsziele gefordert. Staatliche Beihilfen mit horizontaler Zielsetzung sind in der Regel für den Ausgleich eines Marktversagens bestimmt und haben normalerweise weniger Wettbewerbsverzerrungen zu Folge als sektorale und Ad-hoc-Beihilfen. Letztere dienen zu ganz erheblichen Teilen der Rettung oder Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten.

2.9

Zu den wichtigsten horizontalen Zielen, die mit staatlichen Mitteln verfolgt werden, gehören:

Forschung und Entwicklung,

Umweltschutz,

Energieeinsparungen,

KMU-Unterstützung,

Schaffung von Arbeitsplätzen,

Ausbildungsförderung.

Der staatliche Einfluss in der europäischen Stahlindustrie

2.10

Der staatliche Einfluss war in der Stahlindustrie traditionell erheblich, wofür nicht zuletzt militärische und sicherheitspolitische Überlegungen ausschlaggebend gewesen sind. Zur Verdeutlichung des Ausmaßes sei darauf hingewiesen, dass 1980 noch rund 60 % des Stahls in der Welt in Unternehmen hergestellt wurden, die unter direkter oder indirekter staatlicher Kontrolle standen.

2.11

Staatliches Eigentum an Stahlunternehmen führt in der Regel zu einer weitgehenden Übernahme von Verlusten, was praktisch einer Überlebensgarantie entspricht. Unter dem Gesichtspunkt der Effizienz des Wettbewerbs ist dies ebenso belastend wie staatliche Beihilfen zur Stärkung der Wettbewerbsposition bzw. zur Verhinderung von sonst drohenden Marktaustritten bei nicht direkt staatseigenen Unternehmen. Zu den ökonomischen Marktaustrittsbarrieren kommen dann politische hinzu. Im Ergebnis kann die Anpassungslast auf wettbewerbsfähigere Unternehmen verschoben oder eine Interventionsspirale ausgelöst werden.

2.12

Der europäischen Stahlindustrie können deshalb heute, abgesehen von Schließungsbeihilfen, nur noch horizontale Beihilfen gewährt werden. Sie hat die Notwendigkeit der Verlagerung von sektoralen und Ad-hoc-Beihilfen zu horizontalen angesichts des bis tief in die 90er Jahre nur schleppend vonstatten gehenden Strukturwandels schlussendlich akzeptiert. Sie geht heute so weit, in ihrem Beihilfenregime auch auf Regionalbeihilfen zu verzichten (2).

2.13

Der Überwachung aller einzelstaatlichen Aufwendungen kommt in der Union eine erhebliche Bedeutung zu. Die Europäische Kommission muss ihrer EU-Beihilfepolitik eine transparente Kontrolle und Verwendung staatlicher Fördermittel zu Grunde legen - so wie sie es heute bereits im Stahlsektor praktiziert.

2.14

Die Europäische Kommission setzt zur Zeit die Überprüfung der allgemeinen Leitlinien und Rahmenbestimmungen für staatliche Beihilfen fort. Sie müssen einfacher und klarer gefasst werden. Diskrepanzen sind zu beseitigen. Die Kommission wird der Überprüfung der Beihilfenregelungen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten, der Reform der gemeinschaftlichen Regelungen für Regionalbeihilfen nach der Erweiterung, der Ausarbeitung neuer Rahmenbestimmungen für die Bewertung geringerer Beihilfenbeträge sowie den Klärungen im Bereich der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse Vorrang einräumen.

2.15

Die in den kommenden Jahren bevorstehende Fortentwicklung des allgemeinen europäischen Beihilfenregimes muss dabei Rücksicht auf den internationalen Kontext und insbesondere die multilateralen Verpflichtungen nehmen. Beihilfen zugunsten nichtlandwirtschaftlicher Waren und Produkte unterliegen dem WTO-Übereinkommen über Subventionen und Gegenmaßnahmen.

3.   Hintergrund der EU-Beihilfepolitik und ihre Bedeutung für den industriellen Wandel im Stahlsektor

Das allgemeine EGKS-Beihilfenverbot wird umgangen

3.1

Der 1952 geschlossene Vertrag der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl enthielt hinsichtlich der Zulässigkeit der Gewährung von Beihilfen der Mitgliedstaaten an Unternehmen des Kohlebergbaus und der Stahlindustrie eine eindeutige Regelung: „Als unvereinbar mit dem gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl werden innerhalb der Gemeinschaft gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages untersagt: ... von den Staaten bewilligte Subventionen oder Beihilfen, in welcher Form dies auch immer geschieht.“ Dieses Verbot jeglicher einzelstaatlicher Unterstützung von Unternehmen in Artikel 4c war eine logische Folge der Abschaffung aller nationalen Schutzmaßnahmen innerhalb des gemeinsamen Binnenmarktes.

3.2

Schon bald nach Errichtung des gemeinsamen Marktes stellte sich jedoch heraus, dass ohne staatliche Unterstützung in Europa weder die Energieversorgung noch die Eisen- und Stahlproduktion mit heimischer Kohle gesichert war. Bei der Suche nach einem Ausweg ohne Änderung des EGKS-Vertrages, kam man auf den Gedanken, bestimmte staatliche Beihilfen zu grundsätzlich erlaubten Gemeinschaftsbeihilfen umzudeuten. Als Instrument diente hierzu Artikel 95, die Klausel für beim Abschluss des EGKS-Vertrages nicht vorhergesehene Fälle. Sie erlaubte ein Eingreifen der Gemeinschaft, wenn dies zur Erreichung eines oder mehrerer Ziel des Vertrages erforderlich war.

3.3

Die Erhaltung des Steinkohlenbergbaus und vor allem der daran hängenden Arbeitsplätze wurde zu einem solchen Ziel erklärt; die Beihilfen, die die Mitgliedstaaten ihren Bergbauunternehmen für die Energieversorgungs- und Stahlproduktionssicherheit zahlten, wurden fortan als Gemeinschaftsbeihilfen angesehen.

3.4

Für Beihilfen an ihre Stahlunternehmen griffen viele Mitgliedstaaten in den 70er Jahren gar nicht erst auf diesen Umweg zurück, sondern zahlten weitgehend unbeanstandet Milliardensummen zunächst für die Ausweitung und dann für die Erhaltung ihrer überwiegend staatlichen Unternehmen. Noch Anfang der 80er Jahre sprach der damalige Generaldirektor für Wettbewerb der Kommission öffentlich davon, das Subventionsverbot des EGKS-Vertrages sei obsolet geworden.

3.5

Private Stahlunternehmen, die erheblich unter Wettbewerbsverfälschungen durch den Beihilfewettlauf zu leiden hatten, versuchten ab 1978 zunehmend erfolgreicher, dem Subventionsverbot wieder Geltung zu verschaffen.

3.6

Die auf Artikel 95 gestützten Stahl-Subventionskodices legten seit 1980 fest, dass Beihilfen an Stahlunternehmen nur in genau festgelegten Fällen gewährt werden durften. Allerdings deckten die anfangs zugelassenen Beihilfearten noch fast alle Beihilfen ab, die die Mitgliedstaaten ihren Unternehmen ohnehin zahlten. Der erste Subventionskodex diente damit noch überwiegend der Legalisierung der Praxis. Erst nach und nach wurden die wettbewerbsschädlichsten Beihilfearten, wie Not-, Betriebs- und Investitionsbeihilfen, ganz verboten.

3.7

Seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre waren gemäß dem Subventionskodex nur noch Forschungs- und Entwicklungs-, Umweltschutz- sowie Schließungsbeihilfen zulässig. Trotzdem erhielten einzelne staatliche Stahlunternehmen auf Grundlage weiterer Ausnahmegenehmigungen gemäß Artikel 95 noch bis Mitte der 90er Jahre staatliche Mittel zur Tilgung ihrer Schulden und zur Restrukturierung.

3.8

Bedingung für die Genehmigung dieser weiteren „Gemeinschaftsbeihilfen“ wurde schließlich der grundsätzliche Abbau von Produktionskapazitäten. Es wurde so letztendlich doch der Konsens zwischen den EU-Mitgliedstaaten gefunden, dass außer den im Subventionskodex geregelten Fällen keine weiteren Ausnahmen vom Subventionsverbot mehr zuzulassen sind.

3.9

Erreicht wurden diese bereits von den Gründungsvätern des EGKS-Vertrages vorgesehene und von der EU-Kommission nach Auslaufen des EGKS-Vertrages 2002 übernommene strenge Stahl-Beihilfengesetzgebung nicht zuletzt durch ständige politische Einzelvorstöße und -klagen aus der Stahlindustrie. Auch wenn diese Klagen vor den Europäischen Gerichten nicht in allen Fällen zur Aufhebung der jeweils angegriffenen Beihilfegenehmigungen führten, haben sie doch dazu beigetragen, die rechtlichen Grenzen für Ausnahmen vom Stahl-Beihilfeverbot zu konkretisieren und enger zu ziehen.

3.10

Die Summen, die den EGKS-Stahlunternehmen insgesamt zugeflossen sind, nehmen ein beträchtliches Ausmaß an: über 70 Mrd. EUR ab 1975! Sie verteilen sich wie folgt:

Von 1975 bis zum Inkrafttreten des Beihilfenkodex im Jahre 1980 sind in der EU rund 12 Mrd. EUR Beihilfen gezahlt worden.

Für 1980 bis 1985 – also in der Zeit, in der die Zahlung von Subventionen gegen Kapazitätsabbau ohne wesentliche Einschränkung erlaubt war – hat die Europäische Kommission Freigabe-Genehmigungen für rund 41 Mrd. EUR erteilt.

Von 1986 bis 1995 sind nochmals rund 17 Mrd. EUR geflossen, davon allein 1994 als „first time, last time“-Entscheidung auf Basis des Artikels 95, 7 Mrd. EUR.

3.11

Nach Aussage der Europäischen Kommission im jüngsten Beihilfen-Anzeiger beträgt heute der Anteil des Stahlsektors am Gesamtbeihilfen-Volumen der EU weniger als 2 Tausendstel. Die gewährten Stahl-Beihilfen betrafen fast ausschließlich Umweltschutzmaßnahmen. Die heutige Stahl-Beihilfengesetzgebung und -praxis sind damit im Vergleich zu dem EG-Beihilfenregime der anderen Industriebranchen deutlich schärfer.

Wie entstand in den 70er Jahren die „Subventionsmentalität“ im Stahlsektor?

3.12

Der Weltstahlverbrauch in den sechziger Jahren und in der ersten Hälfte der siebziger Jahre wies mit durchschnittlich mehr als 5 % pro Jahr ein kräftiges und stetiges Wachstum auf. Im Jahre 1974 erreichte die Rohstahlproduktion in der damaligen Gemeinschaft der neun europäischen Länder ihr Rekordergebnis mit beinahe 156 Mio. Tonnen bei einer Auslastung der Kapazitäten von 87 %.

3.13

Ein Jahr später jedoch, 1975, fand - durch den Ölpreisschock ausgelöst - eine dramatische Abschwächung der Stahlproduktion statt, die innerhalb eines Jahres zu einem Rückgang in der Gemeinschaft um gut 30 Mio. Tonnen (19 %) führte. Der entsprechende Einbruch bei den Stahlpreisen übertraf noch den Rückgang der Produktion. Zugleich mussten die Stahlunternehmen der EGKS einen kräftigen Anstieg der Importe feststellen, der von einem ebenso deutlichen Rückgang der eigenen Exporte begleitet wurde. Im Binnenmarkt wurde die Abschwächung der Stahlverwendung durch einen Abbau der Stahllagerbestände verstärkt.

3.14

Zunächst sah es so aus, als ob es sich nur um einen besonders kräftigen Konjunkturrückgang handelte. Dementsprechend glaubten alle Experten, dass schon bald ein Wiederaufschwung eintreten würde. Die von der Europäischen Kommission beauftragten Wirtschaftsinstitute bestätigten, dass sich der Aufschwung langfristig fortsetzen würde, und dies gar mit besonderer Stärke. Die von der Kommission in Zusammenarbeit mit den Erzeugern, Verbrauchern und Händlern vorgenommene langfristige Prognose „Allgemeine Ziele“ 1985 sah für 1985 eine Stahlproduktion von sage und schreibe 188 Mio. Tonnen in den neun Ländern der Gemeinschaft voraus. Tatsächlich wurden aber nur 120 Mio. Tonnen in der EG produziert. Die mittel- und langfristigen Investitionsplanungen der Stahlunternehmen gingen somit von völlig falschen Eckdaten aus; überschüssige Kapazitäten entstanden, Angebot und Nachfrage drifteten immer weiter auseinander.

3.15

Besonders negativ für die Stahlverwendung hat sich dabei die durch die Abschwächung des weltweiten Wirtschaftswachstums stark gebremste Investitionstätigkeit der Stahlverwender erwiesen, da ungefähr zwei Drittel der Stahlverwendung in hochentwickelten Industrieländern investitionsgebunden sind.

3.16

Eine weitere wichtige Ursache für den weltweit seit 1975 stagnierenden Stahlbedarf liegt in dem Rückgang der spezifischen Stahlverwendung durch den rationelleren Einsatz von Stahl für gleichartige Verwendungszwecke. Auch der zunehmende Wandel vom quantitativen zum qualitativen Wachstum und das Vordringen des tertiären Sektors haben in Europa zum Einbruch der Stahlnachfrage geführt.

3.17

Trotz dieser ab 1975 stagnierenden Stahlverwendung wurden die Stahlkapazitäten jedoch weiter kräftig aufgestockt. Die nominellen Weltrohstahlkapazitäten stiegen allein von 1974 bis 1983 um 150 Mio. Tonnen an, während der weltweite Stahlbedarf im gleichen Zeitraum um 44 Mio. Tonnen zurückging. Besonders kräftig fiel dabei der Kapazitätsaufbau in den „jungen“ Stahlländern und in den Ostblockstaaten aus. Verglichen mit der tatsächlichen Stahlverwendung belief sich der nominelle Kapazitätsüberhang im Jahre 1974 weltweit auf 130 Mio. Tonnen, um sich innerhalb von zehn Jahren fast zu verdreifachen (343 Mio. Tonnen).

3.18

Da der Nachfrageeinbruch zu dieser Zeit immer noch als rein konjunkturell bedingt angesehen wurde, wurden trotz der Krisenmaßnahmen die Kapazitäten erhalten. Es gelang nicht, den Angebotsdruck zurück zu stauen, Preiskämpfe auf dem europäischen Stahlmarkt zu verhindern und den Preisverfall aufzuhalten. Unternehmen mit hohen Produktionskosten und geringen Reserven gerieten zunehmend in Bedrängnis. Sie verlangten staatliche Unterstützung und erhielten sie in der Regel auch von ihren nationalen Regierungen. Die Probleme einzelner Unternehmen wurden damit zu Problemen der ganzen Branche. Das System der freiwilligen Selbstbeschränkungen, an dem sich die Mitglieder der neu gegründeten europäischen Wirtschaftsvereinigung der Stahlindustrie „Eurofer“ beteiligten, brach schließlich zusammen, als nicht mehr alle großen Unternehmen daran teilnahmen.

Der zwangsweise regulierte Markt (1980 – 1985)

3.19

Nach dem Zusammenbruch des freiwilligen Systems sah sich im Herbst 1980 die Kommission gezwungen, die „offensichtliche Krise“ auszurufen und ein für alle Werke der Gemeinschaft verbindliches System der Produktionsquoten (Zwangsquotenregelung) einzuführen. Fortan wurden Erzeugungsquoten vierteljährlich von der Kommission vorgegeben. Das System sah Sanktionsmöglichkeiten bei Nicht-Einhaltung vor. Darüber hinaus wurden zeitweise Mindestpreise für bestimmte Erzeugnisse festgelegt. Die Stabilisierung der Preise und ein sozial- und regionalverträglicher Abbau der Kapazitäten standen im Mittelpunkt. Für jedes Stahl produzierende Unternehmen der Gemeinschaft wurden Produktionsquoten sowie Quoten für Lieferungen in den gemeinsamen Markt festgelegt. Mit 15 Importländern wurden zudem Selbstbeschränkungsabkommen geschlossen. Es galt, angesichts der niedrigen Weltmarktpreise für Stahlerzeugnisse Verluste bei Exporten zu vermeiden, die unter den Bedingungen des Krisensystems zusätzliche Subventionen von Seiten der EG erfordert hätten. Zu Beginn der 80er Jahre unterlagen etwa 70 % der europäischen Stahlerzeugung dem Quotensystem.

3.20

Der politisch gewollte gleichmäßige Kapazitätsabbau wurde zunächst aber nicht erreicht. Die Hoffnungen der jeweiligen Unternehmen auf Nachfragebelebung und auf Ausscheiden von Wettbewerbern sowie die staatlichen Beihilfen und die Angebotsbegrenzung standen einem Kapazitätsabbau bei den am wenigsten wettbewerbsfähigen Unternehmen im Wege. Der Kapazitätsabbau kam erst allmählich durch den 2. Subventionskodex in Gang, da der Kodex als Voraussetzung für die Genehmigung von Beihilfen die Durchführung eines Umstrukturierungsprogramms vorschrieb. Die Zwangsquotenregelung, die zunächst nur bis 1981 gelten sollte, musste aus Wettbewerbsgründen immer wieder verlängert werden.

3.21

Zur Durchsetzung des unabweisbaren Kapazitätsabbaus wählte die Kommission die nach dem EKGS-Vertrag verbotenen staatlichen Beihilfen als Druckmittel und legalisierte mit dem zeitgleich eingeführten Subventionskodex die bisherige illegale Praxis; zugleich verlangte sie aber ein Genehmigungsrecht, das sie mit Kapazitätsabbau-Auflagen verband. Diese Phase der Stahlpolitik dauerte bis Ende 1985. Im Gegenzug zur Genehmigung von Beihilfen wurden unter dem Bestandsschutz des Quotensystems Kapazitäten von rund 44 Mio. Tonnen Rohstahl und 32 Mio. Tonnen Warmwalz-Stahl abgebaut.

Die schrittweise Liberalisierung des Marktes (ab 1985)

3.22

Allein zwischen 1983 und 1985 sind rund 15 Mrd. EUR an staatlichen Beihilfen für Stahlunternehmen freigegeben worden. Statt die Wettbewerbsbedingungen zu harmonisieren, machte die politischen Entscheidungsträger von der Möglichkeit, finanziell begünstigten Unternehmen adäquate Kapazitätsstilllegungen zu verordnen, nur unzureichend Gebrauch. Damit verzögerten sie die vom Markt längst geforderte Bereinigung überflüssiger Kapazitäten.

3.23

Mit der Behauptung, die manifeste Krise sei zu Ende, warb im Jahre 1985 die Europäische Kommission schließlich für eine radikale Umorientierung in der EG-Stahlmarktpolitik. Kurz nach Freigabe staatlicher Beihilfen in Höhe von 15 Mrd. EUR sollten nun zunächst im Rahmen einer Flexibilisierung des Quotensystems und dann einer totalen „Liberalisierung“ die Marktkräfte den Abbau der überschüssigen Kapazitäten durchsetzen, der mit dirigistischen Brüsseler Maßnahmen offensichtlich nicht zu erreichen war. Die Kommission überging bei ihrer plötzlichen Umorientierung aber, dass die von ihr selbst bis Ende 1985 genehmigten Milliardenbeträge an Beihilfen erst in den folgenden Jahren wettbewerbswirksam werden sollten. Bis Ende 1986 reduzierte sie den Anteil der regulierten Produkte deutlich.

3.24

Auf den Markt drückte aber zu der Zeit immer noch – trotz einer Kapazitätsbereinigung von rund 40 Mio. Tonnen und des Verlustes von Zehntausenden von Arbeitsplätzen - ein überschüssiges Produktionspotential von rund 25 Mio. Tonnen.

3.25

Eine ab 1987 kurzfristig steigende Nachfrage half der Kommission schließlich in ihrer Argumentation, die Situation der Stahlindustrie nicht mehr als „offensichtliche Krise“ anzusehen. Regulierende Maßnahmen wie etwa die Produktionsbescheinigungen und die Meldepflicht für Liefermengen wurden aufgehoben. Der Druck auf die nationale Regierung und die Kommission stieg, so dass 1985 der 3. und 1989 bzw. 1992 der 4. und 5. Subventionskodex erlassen wurden, um dem Subventionsfass in der Gemeinschaft einen haltbaren Deckel aufzusetzen. Beihilfen sollten in den EU-Mitgliedstaaten fortan nur noch für Forschung und Entwicklung, Umweltschutz und bestimmte Schließungsbeihilfen genehmigungsfähig sein (3), wobei die Hilfen fast ausschließlich aus dem per Montanumlage finanzierten EGKS-Fonds entnommen wurden.

3.26

Nach einem kurzen Zwischenhoch sank 1990 die Stahlnachfrage erneut; auch die Stahlpreise gingen wieder zurück und zwar um ca. 20 %. So mehrten sich 1992 bereits wieder die Stimmen, die ein erneutes Eingreifen der Kommission forderten. Im einzelnen mahnten sie vierteljährliche Produktions- und Liefervorausschätzungen für einzelne Produkte, eine Vereinfachung von Fusionen, Importschutz gegenüber Osteuropa und Umstrukturierungsbeihilfen an. Zum Abbau der Überkapazitäten schlugen sie ein Strukturkrisenkartell, einen internen Lastenausgleich zwischen den Unternehmen und einen definitiven Kapazitätsabbau von 20 % bis Ende 1996 mit 50 000 zu entlassenden Arbeitnehmern vor.

3.27

Die Kommission lehnte das Strukturkrisenkartell und ein neues Produktionsquotensystem jedoch ab; sie stellte 1993 ihr eigenes, allein aus indirekten Maßnahmen bestehendes Konzept vor. Die Maßnahmen sahen eine Vorfinanzierung der Kapazitätsstilllegungen durch die Kommission, die Förderung von Fusionen und Produktionskooperationen, einen temporären Schutz des Stahlmarktes vor Importen aus Osteuropa, eine Steigerung der Markttransparenz durch Informationen über Produktion und Lieferungen in die EU und soziale Begleitmaßnahmen als Anreiz für einen Kapazitätsabbau vor. Es wurde ein Umstrukturierungsprozess eingeleitet, in dessen Verlauf die Produktionskapazität um weitere 19 Mio. Tonnen verringert und etwa 100 000 Arbeitsplätze in der Eisen- und Stahlindustrie der Gemeinschaft abgebaut wurden. Von dem durch den Ministerrat bereits genehmigten Modell der Vorfinanzierung wurde kein Gebrauch gemacht.

3.28

Trotz des 5. Subventionskodex genehmigte der EU-Ministerrat im Dezember 1993 auf Vorschlag der Kommission gegen Kapazitätsabbau einstimmig - aber mit Hinweis auf den einmaligen Charakter dieser Beihilfen - weitere staatliche Beihilfen in Höhe von fast 7 Mrd. EUR für verschiedene EU-Stahlunternehmen.

Fazit

3.29

Den EGKS-Vertrag hat das strikte Verbot von staatlichen Beihilfen nach Artikel 4c ausgezeichnet. Das Beihilfenverbot hat die EU-Mitgliedstaaten jedoch nur bedingt davon abgehalten, ihre Stahlindustrien durch Sanktionierung auf höchster europäischer Ebene massiv zu unterstützen. Die über 70 Mrd. EUR an Steuergeldern bis zum Auslaufen des EGKS-Vertrages haben die notwendigen Anpassungen an den industriellen Wandel verzögert, konnten sie aber nicht verhindern. An dem bewährten Grundansatz – Genehmigungen staatlicher Beihilfen gegen Kapazitätsabbau – hat die Europäische Kommission in den 90er Jahren auch bei der Restrukturierung der MOE-Stahlindustrien im Rahmen der EU-Beitrittsvorbereitungen festgehalten.

3.30

Die EG-Mitgliedstaaten haben sich 1982 unter Umgehung des Marktprinzips politisch verständigt, die notwendigen Kapazitätsopfer gleichmäßig auf die EG-Länder zu verteilen – und dies im Widerspruch zum EGKS-Vertrag, der in Artikel 2 besagt, dass der Stahl dort erzeugt werden soll, wo er die günstigsten Produktionskosten findet. Statt das frühzeitige Ausscheiden unwirtschaftlicher Unternehmen aus dem Markt bei gleichzeitiger sozialer Abfederung zu fördern und somit schnell zum Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage zurückzukehren, nutzten die EU-Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission die im EGKS-Vertrag vorgesehenen Instrumente für den Krisenfall – und dies nicht unbedingt zum Wohle aller Stahlunternehmen. Unrentable Kapazitäten wurden aus sozial-, regional- und verteilungspolitischen Gründen aufrechterhalten, rentable – vor allem privatwirtschaftliche – gingen verloren zusammen mit Arbeitsplätzen, die bei einem Benchmarking-Vergleich als sicher hätten gelten müssen.

3.31

Immerhin muss aber festgehalten werden, dass die Krisenjahre der EU-Stahlindustrie, wenn auch mehr recht als schlecht, überbrückt wurden. Die EG-Stahlindustrie hat sich letztendlich doch die im internationalen Vergleich notwendigen wettbewerbsfähigen Strukturen erarbeitet. Hierfür musste sie mit dem meist sozialverträglich vorgenommenen Abbau von mehr als 550 000 Arbeitsplätzen einen sehr hohen Preis zahlen. Dieser Prozess konnte nur durch den intensiven Dialog der Sozialpartner gemeinsam bewältigt werden.

Forschungs- und Entwicklungsbeihilfen fördern die Wettbewerbsfähigkeit

3.32

Viele der technischen Innovationen, dank derer die europäische Stahlindustrie umgestaltet wurde, wurden im Rahmen des per Montanumlage selbstfinanzierten EGKS-Forschungsprogramms auf den Weg gebracht oder wesentlich weiterentwickelt. Der EGKS-Vertrag sah vor, Forschungsmittel für Gemeinschaftsforschung bereitzustellen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie allgemein zu fördern und die Sicherheit am Arbeitsplatz zu verbessern.

3.33

Das erste EGKS-Forschungsprojekt startete bereits 1955. Fortan stellten sich an der Schnittstelle der technologischen Innovation Forscher und Ingenieure immer mehr darauf ein, europäisch zu denken und in diesem Geiste zusammenzuarbeiten. Die Stahlindustrie und mit ihr die europäische Gesellschaft profitierten von dieser Art der kooperativen Forschung, in deren Rahmen die Bemühungen koordiniert, Anstrengungen gemeinsam unternommen und die Ergebnisse allen Betroffenen zur Verfügung gestellt wurden. Die industrielle Innovation wurde so dank ständiger Verbesserungen beschleunigt vorangebracht.

3.34

Auch in dem für die Gesellschaft so wichtigen Bereich Umwelt konnten dank der EGKS-Forschung messbare Ergebnisse erzielt werden. So wurden die Schwefeldioxidemissionen um 70 %, Rußemissionen um 60 % verringert. Der Kohlendioxidausstoß wurde gegenüber dem Stand zu Beginn der 80er Jahre halbiert. Die europäischen Stahlerzeuger verbrauchen heute pro Tonne erzeugtem Stahl 40 % weniger Energie als vor 20 Jahren.

3.35

Aus dem EGKS-Haushalt wurden 1955 zunächst nur 7 Mio. EUR pro Jahr für die Gemeinschaftsforschung finanziert. Dieser Betrag erreichte in den 90er Jahren in der EU-15 einen Wert von rund 50 Mio. EUR im Jahr. Die EGKS-Forschung unterstützte in ihren Gemeinschaftsprojekten Forschungsaktivitäten zur Verbesserung von Verfahren, Werkstoffen und Umwelt in der Regel zu 60 %. Ab 1983 wurden zusätzlich für Pilot- und Forschungsvorhaben Forschungsbeihilfen von 40 % gewährt.

3.36

Jeder in die EGKS-Forschung investierte Euro warf dabei im Mittel 13 EUR ab. Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass die EU-Mitgliedstaaten bei Auslaufen des EGKS-Vertrages einhellig der Meinung waren, die verbleibenden Mittel, die die europäische Stahlindustrie per Montanumlage aufgebracht hatte, ausschließlich für die Fortsetzung der sektorspezifischen Forschung in der Kohle- und Stahlindustrie zu verwenden. Die verabschiedeten Leitlinien sehen vor, die jährlichen Post-EGKS-Zinserträge von rund 60 Mio. EUR ausschließlich in der Kohle- und Stahlforschung einzusetzen und zwar beim Stahl schwerpunktmäßig für:

Neu- und Fortentwicklung von Produktions- und Verarbeitungsprozessen,

Werkstoffentwicklung und -anwendung,

Verbesserung der Ressourcennutzung,

Umweltschutz sowie,

Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.

Eine wettbewerbsfähige Stahlindustrie zu Beginn des 21. Jahrhunderts

3.37

Die EU-Stahlindustrie ist zur Erweiterung der Europäischen Union für den globalen Wettbewerb gerüstet. Sie hat sich in den letzten Jahren technisch, wirtschaftlich, aber auch ökologisch gut aufgestellt. Einige der früher staatlichen Unternehmen haben die erhaltenen finanziellen Unterstützungen zielgerichtet eingesetzt, um mit technologischer Umrüstung und mit strafferen Strukturen zu Weltmarktführern aufzusteigen.

3.38

Die Stahlindustrie hat es geschafft, sich den Anforderungen der Globalisierung und der nachhaltigen Entwicklung anzupassen. Offensichtlich hat die europäische Stahlindustrie ihre Lehren aus den Stahlkrisen der 70er, 80er und 90er Jahre gezogen. Die Branche ist heute so wettbewerbsfähig, dass sie auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten überwiegend schwarze Zahlen schreiben kann.

3.39

Die starke Stahlnachfrage auf dem EU-Binnenmarkt unterstreicht die großen Anstrengungen der heimischen Unternehmen, sich erfolgreich um Kosteneffizienz bei gleichzeitiger Verbesserung der Qualität und Kundennähe zu bemühen. Die europäischen Stahlhersteller haben mit ihren Fusionen und Übernahmen, mit ihren Effizienzsteigerungen und Kostensenkungen den Grundstein für eine wettbewerbsfähige Branche im 21. Jahrhundert gelegt. Rettungs- und Restrukturierungsbeihilfen sind aus dem Unternehmer-Vokabular verschwunden. Mit ihrem klaren Plädoyer für die Beibehaltung der strengen Regeln für staatliche Beihilfen auch nach Auslaufen des EGKS-Vertrages haben die Stahlunternehmen der Union unterstrichen, dass sie die Zeiten der Subventionsmentalität und Wettbewerbsverzerrungen für endgültig beendet sehen möchten.

3.40

Doch die Konsolidierung und der industrielle Wandel sind bei weitem noch nicht abgeschlossen. Einzelne Unternehmen arbeiten bereits an transkontinentalen Zusammenschlüssen. Erhebliche Auswirkungen auf die unternehmerische Wettbewerbsfähigkeit geht zur Zeit von dem industriellen Aufbruch in China aus. Der rapide wachsende Stahlbedarf Chinas verschärft die Nachfrage-Situation auf den internationalen Rohstoff-Märkten. Die chinesischen Importe beispielsweise bei Eisenerz und Schrott lassen Engpässe auf den Weltmärkten entstehen und führen zu explodierenden Preisen im Rohstoffsektor und bei den Frachtraten.

3.41

Ein beschleunigter Strukturwandel findet zur Zeit auch in den Stahlindustrien der neuen Mitgliedstaaten statt. Die Herausforderungen, mit denen sich die mittel- und osteuropäischen Länder bei der Umstrukturierung ihrer Stahlindustrien konfrontiert sehen, sind mehr oder weniger mit der Situation vergleichbar, die Westeuropa vor 25 Jahren durchlebt hat, wenn auch die Globalisierung der Märkte seitdem erheblich vorangeschritten ist. Vor diesem Hintergrund ist erforderlich, dass auch die Partner in Mittel- und Osteuropa von den Erfahrungen mit der Umstrukturierung in Westeuropa einschließlich des sozialen Dialogs profitieren.

3.42

Als Gegenleistung für gewährte Sonderbeihilfen („periode de grâce“) sind die Länder bereits in den Europa-Abkommen der frühen 90er Jahre zu effizienten Umstrukturierungsmaßnahmen, einem weitgehenden Abbau der Überkapazitäten und einem Nachweis größerer Marktfähigkeit der bevorteilten Unternehmen verpflichtet worden. Damit ein freier und fairer Wettbewerb am Stahlmarkt der Europäischen Union auch nach der EU-Erweiterung gewährleistet ist, sind die neuen Beitrittsländer durch die Beitrittsverträge gehalten, den Besitzstand der EU (z.B. Richtlinien und Rahmenentscheidungen in den Bereichen Wettbewerb und staatliche Beihilfen, Steuern, Umwelt, Sozialpolitik ...) einzuhalten. Die Europäische Kommission hat streng darüber zu wachen, dass sich die nationalen Regierungen in den mittel- und osteuropäischen Ländern mit ihrer staatlichen Unterstützung an das strenge EU-Beihilfenregime halten und dass die ineffizienten Kapazitäten unter Berücksichtigung der realen Nachfrage tatsächlich wie geplant abgebaut werden.

4.   Das aktuelle EU-Stahlbeihilfenregime ein Modell für internationale Beihilfe-Abkommen?

4.1

Die Auswirkungen der schwierigen Lage auf dem weltweiten Stahlmarkt auf die Vereinigten Staaten hat die US-Regierung im März 2002 veranlasst, WTO-widrig ihren heimischen Stahlmarkt temporär durch Einfuhrzölle nach Artikel 201 des amerikanischen Handelsrechts zu schützen. Vor dem Hintergrund einer erheblichen Volatilität des Stahlhandels auf Grund ineffizienter, überschüssiger Produktionskapazitäten weltweit kündigte die Bush-Regierung zugleich an, sich für internationale Verhandlungen über den Abbau ineffizienter Kapazitäten und die weltweite Eindämmung staatlicher Beihilfen für die Stahlindustrie einsetzen zu wollen.

4.2

Die EU-Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission unterstützen jedes Bestreben nach größerer Stahlbeihilfen-Disziplin in der Welt. Die Aufnahme multilateraler Verhandlungen bei der OECD in Paris ab Dezember 2002 bot der EU Gelegenheit, ihr bewährtes EU-Stahlbeihilfenregime als Grundlage für ein internationales Stahlsubventionsabkommen (SSA) vorzuschlagen.

4.3

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss befürwortet das Vorgehen der EU-Kommission, auch wenn die europäische Stahlindustrie erhebliche Zweifel an der Ernsthaftigkeit anderer Länder und Regionen hat, Stahlsubventionen abzubauen und folglich ein effizientes SSA mit Notifizierungs- und Sanktionspflicht zu unterzeichnen. Zudem sieht der Ausschuss mit Sorge, dass die Beihilfen- und Kapazitätsproblematik nicht zeitgleich mit Problemlösungen bei Handelsbarrieren diskutiert wird, die häufig ungerechtfertigt eingesetzt werden und so zu Marktverzerrungen führen.

4.4

Hinsichtlich des Anwendungsbereichs eines möglichen SSA gehen die europäischen Produzenten weiter als die meisten Ländervertreter bei der OECD. Die EU-Stahlhersteller fordern unisono bei den OECD-Verhandlungen, dass alle staatlichen Beihilfen, die zu einem Kapazitätsaufbau oder der Beibehaltung unwirtschaftlicher Kapazitäten beitragen, durch das SSA verboten werden. Diese Forderung bezieht sich also nicht nur auf spezifische, nur ausgewählten Stahlunternehmen gewährte Stahlbeihilfen, sondern auch auf nicht-spezifische, sogenannte generische Beihilfen.

4.5

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss teilt die Sicht der europäischen Stahlunternehmen, wonach staatliche Beihilfen nur so lange erlaubt sein sollten, wie sie keinen negativen Einfluss auf die Stahlkapazitätsentwicklung, den fairen Wettbewerb oder die Handelsströme haben. Vor diesem Hintergrund setzt sich der Ausschuss für folgende Ausnahmen bei der OECD ein:

Beihilfen für endgültige Schließungen. Hierzu gehören Beihilfen für Demontage und Geländesanierung sowie die Abfederung der sozialen Auswirkungen von Schließungen.

Begrenzte und eng definierte Beihilfen für Forschung und Entwicklung und Umweltschutz einschließlich jener für Energie-/Ökosteuerrabatte. In Bezug auf Beihilfen für Umweltschutz muss Klarheit darüber herrschen, dass finanzielle Unterstützung des Staates zur Anpassung an vorgeschriebene Umweltstandards nicht erlaubt sein soll. Dies wird von der EU-Stahlindustrie auch nicht gefordert. Es können jedoch begrenzt Beihilfen für freiwillige Investitionen gewährt werden, um Unternehmen Anreiz dazu zu geben, bei ihren wirtschaftlichen Aktivitäten weit über die ökologischen EU-Mindestanforderungen hinauszugehen.

4.6

Im Rahmen des Subventionsabkommens sollte gleichfalls berücksichtigt werden, dass zumindest einige der sich entwickelnden Wirtschaften bereits über eine voll wettbewerbsfähige Stahlindustrie verfügen. Stahlunternehmen in Schwellen- oder Entwicklungsländern können von Wettbewerbsvorteilen wie niedrigen Lohnkosten, Zugang zu Rohmaterial, geringeren Umweltstandards und dem Schutz hoher Einfuhrzölle profitieren. Staatliche Beihilfen für Stahlunternehmen kommen in diesen Volkswirtschaften deshalb nur unter der Bedingung in Frage, dass die entsprechenden staatlichen Beihilfen:

fallweise entschieden und je nach Situation des Unternehmens und des Staates vergeben werden; die Verwendung der Finanzmittel muss den Zielen entsprechend überwacht werden;

strengen Auslauffristen unterworfen sind;

im Rahmen eines genehmigten Umstrukturierungsplans eingesetzt werden, der die langfristige Überlebensfähigkeit der betroffenen Unternehmen gewährleistet;

unter normale Umständen zu einer Verringerung, keinesfalls aber zu einer Erhöhung der Kapazitäten führen.

5.   Schlussfolgerungen

5.1

Die Erfahrungen mit der Restrukturierung der europäischen Stahlindustrie zeigen, dass staatliche Beihilfen ein zweischneidiges Instrument sind. Als Betriebsbeihilfen gewährt, sind sie nur einzelnen Unternehmen förderlich und führen zu Fehlallokationen; nicht-wettbewerbsfähige Kapazitäten werden mittelfristig am Markt gehalten. Staatliche Beihilfen, soweit sie im Rahmen eines vereinbarten Umstrukturierungsprogramms gewährt werden, können aber soziale Härten mildern und damit die Akzeptanz und die Folgen des industriellen Wandels fördern. Die Steuerung dieses Prozesses über den sozialen Dialog hat sich bewährt.

5.2

Es stellt sich auch die Frage, ob nicht mit dem enormen finanziellen Einsatz an Steuergeldern Anderes, Besseres hätte bewirkt werden können, z.B. im Bereich der Ausbildung oder der Forschung.

5.3

Problematisch war in den Krisenjahren der Stahlindustrie auch, dass die Rechtslage (Artikel 4c EGKS-Vertrag) zwar eindeutig erschien (alle staatlichen Beihilfen sind verboten), aber durch diverse Subventionskodices, Ministerrats- und Gerichtsentscheidungen aufgeweicht und damit unkalkulierbar wurde. Die Stahlunternehmen vermissten eine Rahmendaten- und Planungssicherheit.

5.4

Um so mehr ist darauf zu achten, dass im Zusammenhang mit dem Beitritt zehn respektive zwölf neuer EU-Mitgliedstaaten die eindeutigen Stahlbeihilferegelungen stringent befolgt werden und jeder Verstoß wie im Beispiel USS Kosice geahndet wird.

5.5

Die Fehler, die in der EU-15 begangen wurden, dürfen sich nicht wiederholen.

5.6

Die inzwischen unterbrochenen Verhandlungen innerhalb der OECD machen nur Sinn, wenn ein Ergebnis erreicht wird, das die gegenwärtige Situation nachhaltig verbessert, d.h.:

keine überzogenen Zugeständnisse an Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländer wie z.B. China,

kein Verbot notwendiger Regelungen in der EU bei Forschung und Entwicklung, Umweltmaßnahmen (z.B. Belastungsbegrenzungen der Unternehmen zur Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen bei Umweltmaßnahmen) sowie bei der Schließung von unwirtschaftlichen Kapazitäten und

keine Ausgleichszölle beim Export von Stahlerzeugnissen wegen derartiger Befreiungstatbestände.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  KOM(2004) 274 endg. Diese Mitteilung wird derzeit im Rahmen der Stellungnahme CCMI 017 (Berichterstatter: Herr Van Iersel) sowie der Initiativstellungnahme CCMI 014 („Betriebsverlagerungen“ - Berichterstatter: Herr Rodríguez García-Caro) untersucht.

(2)  Die letzte Ausnahme vom allgemeinen Beihilfenverbot bildeten regionale Investitionsbeihilfen an griechische Stahlunternehmen, sie sind im Jahr 2000 ausgelaufen.

(3)  Neben diesen Beihilfeformen gab es vereinzelt noch regionale Investitionsbeihilfen, die aber auf die Länder Portugal, Griechenland und das Gebiet der ehemaligen DDR beschränkt waren.


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/47


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Gesundheitssicherstellung: eine kollektive Verpflichtung, ein neues Recht“

(2005/C 120/10)

Verfahren

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 28. Januar 2004 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Gesundheitssicherstellung: eine kollektive Verpflichtung, ein neues Recht“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 22. September 2004 an. Berichterstatter war Herr BEDOSSA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 164 gegen 3 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Die Sicherstellung der Gesundheit der europäischen Bürger, die einen der grundlegenden Teilbereiche des Gesundheitswesens ausmacht, bedeutet für diese, dass den zuständigen Behörden eine größere kollektive Verantwortung auferlegt wird (auch im Fall von Bioterrorismus) und die Bürger ausgehend davon ihr neues Recht ausüben, auf transparente Weise über die Entscheidungen dieser Aufsichtsbehörden informiert zu werden.

1.2

Sicherheit und Gesundheitssystem: zwei Begriffe, die zwar für gewöhnlich miteinander verbunden werden, deren Zusammenhang jedoch nicht sichtbar ist, wohingegen das Konzept der öffentlichen Gesundheit immer noch mit einem soziologischen Überbau und medizinischen Gewohnheiten einhergeht, die an Diagnoseleistung und Einzelbehandlung geknüpft sind.

1.3

Zu einer Zeit, wo die Erschütterungen, die Europa durchlebt hat, deutlich zeigen, dass das Gesundheitsrisiko den rein medizinischen Bereich verlassen und vehement in den sozialen und politischen Bereich Eingang gefunden hat, ist es die Verantwortung aller – insbesondere der Politiker – geworden, eine Gesundheitssicherstellungsstrategie zu definieren: Es muss künftig gewährleistet sein, dass die Bürger über diese Garantien verfügen.

1.4

Doch Gesundheitssicherstellung beginnt nicht bei Null – sie bereichert und vervollständigt die herkömmlichen Bereiche des Gesundheitswesens, insbesondere die Epidemiologie, stützt sich auf die Reflexion und die um das Thema Arzneimittel herum entwickelten Kontrollsysteme und wird in dem Maße zur Verpflichtung, wie die iatrogenen Wirkungen aller medizinischen Handlungen offenkundig werden.

1.5

Die Gesundheitssicherstellung unterscheidet sich von ihrem Ansatz her nicht von dem der Medizin. Sie erfolgt in Etappen als eine von der Bewertung der Nutzen und Kosten der einhergehenden Risiken bestimmte Abfolge von Wahrscheinlichkeitsentscheidungen zu einem gegebenen Zeitpunkt. Die Qualität der Gesundheitssicherstellung spiegelt die Qualität des Gesundheitssystems wider.

1.6

Die Gesundheitssicherstellung beruht auf einem medizinischen Ansatz und benötigt dringend auch eine entsprechende Methodik, eine regelrechte Selbstverpflichtung des öffentlichen Handelns. Natürlich ist der Bereich der Gesundheitssicherstellung viel weiter gefasst, da er auf der Höhe der Zeit ist, was die fortwährenden medizinischen Neuerungen betrifft.

1.7

Das Konzept der Gesundheitssicherstellung ist zwangsläufig ein wandlungsfähiges – insbesondere dann, wenn etwa bioterroristische Aktionen zu befürchten sind –, dem nicht mit festen Rezepten gedient ist: Es muss ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen dem Streben nach einer unerreichbaren absoluten Sicherheit einerseits und Unachtsamkeit bzw. Unterlassung andererseits. Die zunehmende Wirksamkeit des Gesundheitssystems bedingt das Erfordernis der Gesundheitssicherstellung, wobei allerdings auch der Vergleich mit den ärmsten Ländern nicht fehlen sollte, die heute vor das eine große Problem gestellt sind, sich zunächst die grundlegenden Elemente eines öffentlichen Gesundheitssystems aneignen zu müssen.

1.8

In der – wohlhabenderen und dem Risikoschutz auf Gegenseitigkeit verbundenen – Europäischen Union steht als nächstes die institutionelle Übernahme der Gesundheitssicherstellung an. Um gesundheitspolitische Entscheidungen zu diskutieren und sie insbesondere publik zu machen, gilt es, alle verfügbaren Mittel zu nutzen, um den Bürgern der Europäischen Union andere Alternativen als Panikmache einerseits und Verschleierungstaktik andererseits anzubieten. Dadurch wird die Europäische Union im Bereich des Gesundheitswesens zu einer reifen Demokratie.

2.   Hintergrund der Vorgehensweise der Europäischen Union

2.1

Vor dem Vertrag über die Europäische Union (Vertrag von Maastricht) vom 7. Februar 1992 wurde die Gesundheitspolitik in den Gemeinschaftsakten nur am Rande erwähnt. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) vom 25. März 1957 enthielt besondere Bestimmungen zur Sicherstellung der Gesundheit der Bevölkerung gegen die Gefahren ionisierender Strahlungen.

2.2

Im Vertrag von Rom vom 25. März 1957 wurde der „Schutz der Gesundheit“ hingegen nur im Rahmen seines Artikels 36 erwähnt; dort heißt es:

2.2.1

„Die Bestimmungen der Artikel 30 bis 34 stehen Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrverboten oder -beschränkungen nicht entgegen, die aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind. Diese Verbote oder Beschränkungen dürfen jedoch weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen.“

2.3

Durch die Aufnahme von Artikel 118 a in die Einheitliche Europäische Akte von 1986 wurden die Zuständigkeiten der Gemeinschaftsorgane erweitert, indem die Europäische Kommission dazu ermächtigt wurde, Vorschläge im Bereich der Gesundheit auf der Grundlage eines „hohen Gesundheitsschutzniveaus“ zu machen.

2.4

Ein weiterer indirekter Hinweis auf den Schutz der Gesundheit fand sich in dem durch die Einheitliche Europäische Akte eingeführten Artikel 130 r des EU-Vertrags. Dieser legte fest, dass die Umweltpolitik der Gemeinschaft das Ziel verfolgen soll, zum „Schutz der menschlichen Gesundheit“ beizutragen.

2.5

Der Vertrag über die Europäische Union hat die Perspektiven der europäischen Integration im Gesundheitsbereich tief greifend verändert, da mit ihm ein Titel X „Gesundheitswesen“ eingefügt wurde, in dem es u.a. heißt: „Die Gemeinschaft leistet ... einen Beitrag zur Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus.“ Absatz 4 dieses Artikels 129 sieht vor, dass der Rat zur Verwirklichung der Ziele entweder Fördermaßnahmen gemäß Artikel 189 b oder Empfehlungen erlässt.

2.6

Das Konzept des Gesundheitsschutzes kommt auch durch andere Artikel des Vertrags über die Europäische Union zum Ausdruck, insofern als Artikel 129 a, der dem Verbraucherschutz gewidmet ist, insbesondere den Schutz der Gesundheit und die Sicherheit der Verbraucher erwähnt.

2.7

Ein klarer Rechtsrahmen, der in Artikel 179 der vorläufigen Fassung des Vertrags über eine Verfassung für Europa verbessert würde, ermöglicht den europäischen Organen die Durchführung ihres gesamten Maßnahmenbündels im Bereich des Gesundheitswesens.

„(1)

Bei der Festlegung und Durchführung der Politik und Maßnahmen der Union in allen Bereichen wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt.

(2)

Die Tätigkeit der Union ergänzt die Politik der Mitgliedstaaten und ist auf die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, die Verhütung von Humankrankheiten und die Beseitigung von Ursachen für die Gefährdung der körperlichen und geistigen Gesundheit gerichtet. Sie umfasst die Bekämpfung weit verbreiteter schwerer Krankheiten; dabei werden die Erforschung der Ursachen, der Übertragung und der Verhütung dieser Krankheiten sowie die Gesundheitsinformation und -erziehung gefördert […].“

2.8

Die neu eingerichteten Strukturen (Europäische Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln etc.) können umso größere Auswirkungen haben, als die europäischen Organe in eine verstärkte Politik der Zusammenarbeit mit Drittländern und großen internationalen Organisationen – insbesondere der Weltgesundheitsorganisation, dem Europarat, der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit, der Internationalen Atomenergiebehörde für Strahlenschutz und dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung – eingebunden sind, die es fortzuführen gilt.

3.   Grundsätze der Gesundheitssicherstellung

3.1   Gesundheitsentscheidung

3.1.1

Die medizinische Entscheidung findet vor einem durch Ungewissheit gekennzeichneten Hintergrund statt: Unsicherheit in Bezug auf die Erkennung der Leiden, der Auswirkungen der Behandlungen und ihrer jeweiligen Risiken; Unzulänglichkeit der medizinischen Informationen über den Patienten, der Auswahl der Zusatzuntersuchungen, der medizinischen Ausrüstung; Ungenauigkeit des von Emotionen oder Besorgnis geprägten Anamnesegesprächs und der – naturgemäß summarischen – klinischen Untersuchung.

3.1.2

Eine medizinische Handlung ist häufig das Ergebnis einer Reihe von Wahrscheinlichkeitsentscheidungen, die in einer Situation der Ungewissheit getroffen werden: Je mehr Entscheidungsmöglichkeiten eine Diagnose oder Behandlung zulässt, desto größer wird das Risiko, ja die Wahrscheinlichkeit, einen Fehler zu begehen, ohne dass es sich dabei um einen schuldhaften Irrtum handeln muss.

3.1.3

Jeder Entscheidung bzw. medizinischen Handlung wohnt ein Teil an Unwägbarkeit inne – der im gegenwärtigen Stand der Wissenschaft nicht beherrschbare Zufall, das untrennbar mit der medizinischen Wissenschaft verbundene, unabwendbare statistische Risiko.

3.1.4

Die Ursachen der Unsicherheit im Gesundheitsbereich sind sowohl menschlichen Ursprungs – der nicht schuldhafte Fehler oder Irrtum des Arztes – als auch faktischer Art – die bekannten, aber im gegenwärtigen Stand der Wissenschaft statistisch unvermeidbaren Risiken und die unbekannten, jederzeit möglichen Risiken.

3.1.5

Man kann nicht von Gesundheitssicherstellung sprechen, ohne dabei auf die grundlegenden Merkmale der medizinischen Entscheidung zu verweisen. Wenn die Gesundheit oder das Leben auf dem Spiel stehen, fällt es häufig schwer, einzig und allein nur das Mögliche zu fordern. Doch eine medizinische Handlung ohne Risiken gibt es nicht, denn es gibt auch kein Leben ohne Risiken.

3.2   Nutzen-Risiko-Verhältnis

3.2.1

Mit jeder Entscheidung im Gesundheitswesen verhält es sich wie mit der medizinischen Entscheidung, wobei die Unterlassung ebenso eine Entscheidung ist wie die Handlung, denn auch die Unterlassung kann schuldhaft sein.

3.2.2

Es geht darum, das Behandlungsrisiko und die spontan auftretenden Risiken gegeneinander abzuwägen. Die irrationale Ablehnung des Risikos ist im Bereich der Gesundheit ebenso unverantwortlich wie dessen Missachtung.

3.2.3

Dieses Nutzen-Risiko-Konzept ist weit entfernt von den Sorgen einer europäischen Gesellschaft, der es gelungen ist, die natürlichen Risiken erheblich zu reduzieren.

3.2.4

Um die gesundheitliche Unbedenklichkeit einer Handlung oder eines Produkts einschätzen zu können, muss anhand einer Risikoskala das geringste Risiko, nicht aber das Nullrisiko, bestimmt werden. Bei einer solchen Nutzen-Risiko-Bilanz sind fünf Kriterien zu berücksichtigen:

Grad

Ausprägung

Häufigkeit

Dauer

Notwendigkeit.

3.2.5

Somit obliegt es den staatlichen Behörden, die dem Druck der einhelligen oder widersprüchlichen Meinung der Öffentlichkeit und der Erbringer medizinischer Versorgungsleistungen ausgesetzt sind, sich aus Unsicherheit entweder für die pessimistischere – und damit konservativere – Hypothese hinsichtlich des Gesundheitswesens zu entscheiden oder sich der plausibleren Einschätzung anzuschließen.

3.2.6

Zudem muss die Gesundheitsentscheidung bisweilen in einer Krisensituation getroffen werden. Die Behörden sind dann gleichzeitig einer Flut von Problemen, Fehlfunktionen bestimmter Systeme und tief greifenden Meinungsverschiedenheiten bezüglich der anstehenden Entscheidungen ausgesetzt.

3.2.7

Um angesichts der Dringlichkeit nicht in die Improvisation zu verfallen, muss auf zuvor festgelegte und bewährte Bewertungs-, Kontroll- und Interventionsverfahren zurückgegriffen werden können; daher die Notwendigkeit einer Analyse bewältigter Krisen und einer Methodik der Gesundheitssicherstellung.

3.2.8

Welche wissenschaftlichen und medizinischen Garantien auch vorhanden sein mögen – in die Einschätzung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses spielt häufig letztendlich auch ein Teil innerster Überzeugung mit hinein.

4.   Medizinische Faktoren der Gesundheitssicherstellung

Zur Definition der Gesundheitssicherstellung sind fünf wesentliche Faktoren erforderlich.

4.1   Gesundheitsüberwachung

4.1.1

Da die epidemiologische Überwachung wesentlicher Bestandteil des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung ist, muss für die Gesundheitssicherstellung eine spezifische Gesundheitsüberwachung durch ein Europäisches Zentrum gewährleistet sein (s. Ziffer 6.3).

4.1.2

Aufgabe der Gesundheitsüberwachung ist es, medizinische Unfälle und iatrogene Leiden zu ermitteln, die mit der Verwendung von therapeutischen Protokollen einhergehenden unvorhergesehenen oder unerwünschten Wirkungen zu erforschen, Kontrollen durchzuführen, deren Schlussfolgerungen zu untersuchen sowie die Wirksamkeit von Gesundheitsinterventionssystemen zu bewerten – alles für die Gesundheitssicherstellung wesentliche Funktionen.

4.1.3

Diese Überwachungsfunktion kennt eine internationale Entwicklung, da unter der Schirmherrschaft der WHO und der Europäischen Union Systeme zum Informationsaustausch und zur gegenseitigen Warnung eingerichtet wurden.

4.1.4

Im Rahmen multilateraler Vereinbarungen wird die Zusammenarbeit auf allen Ebenen, allen Fachgebieten und allen Kontinenten geregelt. So können umgehend die geeigneten Gesundheitsmaßnahmen ergriffen werden, um die Gesundheitssicherstellung bestmöglich zu gewährleisten.

4.2   Auswahl der Behandlungsstrategien

4.2.1

Die Qualität und Sicherheit der Auswahl einer Behandlungsstrategie hängen in erster Linie vom Stand der Wissenschaft und somit von den einschlägigen Kenntnissen des Arztes ab.

Der erste Faktor, der zur Verbesserung des Kenntnisstands beiträgt, ist natürlich die medizinisch-pharmazeutische Forschung sowie die sich daraus ergebenden Fortschritte auf dem Gebiet der Behandlung und Diagnose.

Der zweite wichtige Faktor, der bei der Auswahl der Strategien für die Gesundheitssicherstellung eine Rolle spielt, ist die an die Weiterentwicklung der Wissenschaft wie auch der Organisation des Gesundheitssystems angepasste medizinische Grundausbildung.

Der dritte Faktor ist die medizinische Fortbildung: Wie in allen Risiko- und Hightech-Sektoren ist die Assimilierung der aktuellsten Daten einer der entscheidenden Faktoren der Gesundheitssicherstellung.

Der vierte Faktor, der zur Unbedenklichkeit der Behandlungsauswahl beiträgt, ist schließlich die zum Bindeglied zwischen Forschung, Ausbildung und täglicher Praxis der Angehörigen der Heilberufe gewordene medizinische Bewertung.

„Medizinische Bewertung“ kann definiert werden als die Gesamtheit aller Verfahren zur Kontrolle der Qualität des Gesundheitssystems.

Die Bewertung von Diagnose- und Behandlungstechniken und -strategien besteht aus einer Bewertung der den Angehörigen der Heilberufe zur Verfügung gestellten Hilfsmittel, d.h. von Medizintechnologie, Diagnosemethoden und Arzneimitteln sowie sämtlicher Verfahren und Dienstleistungen.

Zur Bewertung der Qualität und somit der Qualität der Gesundheitsdienstleistungen wird die einschlägige WHO-Definition herangezogen:

„Zu gewährleisten, dass jedem Patienten die Bandbreite an diagnostischen und therapeutischen Handlungen zur Verfügung steht, die ihm das beste gesundheitliche Ergebnis gewährleisten, und zwar entsprechend dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft, zum günstigsten Preis für dasselbe Ergebnis, beim geringsten iatrogenen Risiko sowie zu seiner größtmöglichen Zufriedenheit, was die Verfahren, Ergebnisse und menschlichen Kontakte innerhalb des Gesundheitssystems angeht.“

Schließlich müssen im Rahmen dieser Bewertung Bezugsgrößen festgelegt, d.h. Empfehlungen ausgearbeitet werden, die auf einem mehr oder weniger breiten Konsens innerhalb eines Ärztekollegs oder wissenschaftlicher Gesellschaften/Vereinigungen – den „Konsenskonferenzen“ – beruhen, um in Leitlinien zu münden.

4.3   Ausführung der Gesundheitsdienstleistungen und medizinischen Handlungen

4.3.1

Die Einhaltung der Verpflichtungen wird von sämtlichen Behörden kontrolliert, und im Rahmen einer umfangreichen und kontinuierlichen Rechtsprechung wird die den Angehörigen der Heilberufe obliegende Handlungspflicht sowie das Konzept der mit Sorgfalt und Bedacht und entsprechend dem neuesten Stand der Wissenschaft erbrachten Gesundheitsdienstleistungen spezifiziert.

4.3.2

Die Ausführung dieser Handlungen ist natürlich Aufgabe der Systeme der Gesundheitssicherstellung, die sich je nachdem, um welche Handlungen es dabei geht und ob „natürliche“ Risiken vorhanden sind, stark voneinander unterscheiden.

4.3.3

Die Bedingungen, die es im Bereich der Gesundheitssicherstellung einzuhalten gilt, lassen sich nur dadurch festlegen, indem die der Ausführung dieser Handlungen innewohnenden Schwierigkeiten, d.h. zum Teil die statistisch vermeidbaren Risiken, auch wenn sie geringfügig sind, miteinander verglichen werden. Es handelt sich hierbei um eine Art Nutzen-Risiko-Verhältnis, das die Festlegung des normalen, akzeptierten und erwarteten Gesundheitssicherstellungsniveaus ermöglicht.

4.4   Aufbau und Funktionsweise der Gesundheitsstrukturen

Die Gesundheitssicherstellung wird großenteils durch die Qualität des Aufbaus und der Funktionsweise des Gesundheitssystems beeinflusst.

Durch die Gesundheitssicherstellung erwächst allen öffentlichen und privaten Einrichtungen eine Handlungsverpflichtung, die in entsprechenden Regelungen festgeschrieben ist und besonderen Genehmigungen unterliegt. Das Gesundheitssystem muss in der Lage sein, den Anforderungen der Bevölkerung gerecht zu werden und die Gesundheitsversorgung unter den bestmöglichen Bedingungen zu gewährleisten.

4.5   Verwendung der Gesundheitsgüter

4.5.1

Die für die Prävention, Diagnose und Behandlung verwendeten Gesundheitsprodukte und -güter unterliegen strengen rechtlichen Vorschriften, den „einschlägigen Regelungen“ in Bezug auf:

Arzneimittel

in der Medizin verwendete medizinische Geräte

Produkte menschlicher Herkunft

Laborreagenzien

die rechtliche Grundlage für Produkte und Elemente des menschlichen Körpers, die zu therapeutischen Zwecken verwendet werden.

4.5.2

Die auf diese Produkte und Güter anwendbaren Gesundheitssicherstellungsvorschriften bilden einen regelrechten Sicherheitsgürtel.

5.   Vorschläge und Empfehlungen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

5.1   Administrative Faktoren der Gesundheitssicherstellung

5.1.1

Die Grundsätze der Gesundheitssicherstellung sind im Rahmen des Gesundheitswesens in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bisher noch nicht berücksichtigt worden.

5.1.2

Die Gesundheitssicherstellung ist weder das Ergebnis einer Gleichung noch der Anwendung von Rezepten, sondern beruht auf dem Prinzip der Vorsorge und des Widerspruchs.

5.1.3

Sie erfordert eine grenzübergreifende Sensibilisierung und Koordinierung. Man muss sich davor hüten, der Illusion eines Schutzwalls zu erliegen, den die nächste Epidemie mühelos überwinden würde. Die Gesundheitsrisiken sind vielgestaltig, unendlich mannigfach und generell unerwartet. Verhaltensweisen gegenüber einer Krankheit entwickeln sich weiter, Viren mutieren, Infektionserreger erneuern oder verbergen sich.

5.2   Klar anerkannte Kompetenzen

5.2.1

Aufgrund des Fehlens spezifischer Rechtsinstrumente für den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung ist es in bestimmten Mitgliedstaaten der Europäischen Union bisweilen Usus geworden, auf indirekte oder fragwürdige Mittel zurückzugreifen, vor allem auf die missbräuchliche Verwendung der Sozialversicherungsvorschriften. So werden gesundheitliche und wirtschaftliche Herausforderungen in einen Topf geworfen: Es ist zwar legitim, die Gesundheitskosten zu bewerten und eine möglichst rationelle Nutzung der begrenzten gesundheitsspezifischen Mittel anzustreben, doch ist es andererseits gefährlich, beide Problemkreise zu vermischen.

5.2.2

Es ist eine Sache, die Wirksamkeit, Qualität und Unbedenklichkeit eines Produkts oder einer Behandlung zu bewerten, und eine andere, über die jeweilige Erstattung durch die Sozialversicherung zu befinden. Die Schwierigkeiten mit der Entscheidungsfindung im Gesundheitswesen werden durch die Konkurrenz mehrerer zuständiger Stellen noch verstärkt.

5.2.3

Die Zuständigkeiten zu definieren bedeutet, Verantwortlichkeiten festzulegen und davon ausgehend zu ermitteln, wer die Autorität im Gesundheitsbereich ausübt und deren moralische, administrative und/oder gerichtliche Bürde trägt. Diese Verantwortung kann nur dann voll übernommen werden, wenn die Vorschriften – aufgrund ihrer Lücken oder Zweideutigkeiten – nicht Konflikte und Interventionen begünstigen, die die Gefahr bergen, die anstehenden Entscheidungen zu verzerren.

5.3   Anerkannte Gesundheitsverwaltung

5.3.1

Die Verwaltung des Gesundheitswesens auf europäischer Ebene ist unzulänglich und steht rechtlich gesehen auf sehr schwachen Füßen. Aufgrund der spärlichen Mittelausstattung fehlt es ihr zudem an medizinischer Legitimität. Dies alles muss verbessert werden.

5.3.2

Öffentliches Handeln ist nur dann wirksam, wenn es auch tatsächlich legitimiert wird, und die Gesundheitsverwaltung kann ihren Auftrag zur Gesundheitssicherstellung nur dann in vollem Umfang erfüllen, wenn sie diese doppelte Legitimation besitzt, d.h. wenn sie von den Aufsichtsbehörden jedes der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und natürlich von der öffentlichen Meinung – den Verbrauchern – anerkannt wird.

5.3.3

Wissenschaftliche und medizinisch-technische Glaubwürdigkeit setzt sowohl eine Aufstockung der Mittel und die Einstellung von hochqualifiziertem Fachpersonal als auch eine Zusammenarbeit aller europäischen und nationalen Einrichtungen voraus.

5.3.4

Es werden fünf grundlegende Funktionen ermittelt: empfehlen, überwachen, kontrollieren, begutachten und bewerten.

5.3.5

Durch die Einrichtung des Europäischen Netzes der öffentlichen Gesundheit kommt der Wille aller staatlichen europäischen Behörden zum Ausdruck, die Akteure des Gesundheitswesens zusammenzuschließen und den in jedem der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorhandenen Instrumenten zur Gesundheitsüberwachung neue Kohärenz und Wirksamkeit zu verleihen.

5.4   Notwendigkeit an verwaltungsexternem Sachverstand

5.4.1

Ungeachtet der fachlichen und wissenschaftlichen Kompetenz der Gesundheitssicherstellungsdienste muss das allseits geachtete traditionelle Widerspruchsprinzip unbedingt auf Aufgaben im Zusammenhang mit der Gesundheitssicherstellung angewandt werden.

5.4.2

Das Hinzuziehen unabhängiger Sachverständiger kommt dem Anliegen entgegen, die europäischen Behörden von besonders herausragenden oder spezialisierten Qualifikationen profitieren zu lassen, wodurch es mithilfe des Dialogs möglich wird, die der Entscheidungsfindung zugrunde liegende Information passgerecht zuzuschneiden und zu ergänzen.

5.4.3

Auf besonders heiklen oder sehr spezifischen Gebieten erscheint es sogar unverzichtbar, den externen Sachverstand auf außenstehende Persönlichkeiten von Weltrang auszuweiten. Eine solche internationale Öffnung kann die Herausbildung eines Konsenses für alle betroffenen Länder ermöglichen, wodurch zeitliche Verschiebungen vermieden werden können, die allen (Patienten und Akteuren aller Art) abträglich sind.

5.4.4

Mithilfe dieses externen Sachverstands lassen sich auch die Eigenheiten überwinden, mit denen die kulturellen Gewohnheiten innerhalb der Gesundheitsverwaltung und die Bedingungen der medizinischen Ausbildung in den verschiedenen Ländern behaftet sind.

5.5   Trennung der Aufgaben des Sachverständigen, Entscheidungsträgers und Managers

5.5.1

Die gesundheitspolizeilichen Befugnisse, die de facto in die Zuständigkeit der politisch Verantwortlichen fallen (d.h. Genehmigungen erteilen oder Verbote erlassen), können nur dann auf legitime Weise ausgeübt werden, wenn dabei sämtliche Aspekte des fraglichen Problems Berücksichtigung finden.

5.5.2

Es geht dabei stets darum, das Nutzen-Risiko-Verhältnis abzuwägen. Diese Bewertung sollte nicht ausschließlich wissenschaftlich orientiert sein oder von den Managern oder Akteuren auferlegt werden, die ein materielles oder intellektuelles Interesse an ihrer Verbreitung haben.

5.5.3

Im Ergebnis dieser Klärung der Rolle des Sachverständigen und des Entscheidungsträgers muss auch die Transparenz der Beziehungen zwischen Sachverständigen und Managern gewährleistet werden. Es gilt, eine strikte Ethik in Bezug auf den Sachverstand festzulegen und zu befolgen. Dies ist nicht immer eine Selbstverständlichkeit, vor allem, wenn es sich um ein sehr spezifisches Problem handelt, die Zahl der Sachverständigen folglich begrenzt ist und diese häufig über Verbindungen zu den betroffenen Einrichtungen oder Unternehmen verfügen.

5.5.4

Im Sinne der Transparenz, mit der die Entscheidungsfindung im Bereich der Gesundheitssicherstellung gekennzeichnet sein muss, muss jeder Sachverständige bei den Gesundheitsbehörden eine Erklärung über mögliche Beziehungen zu den von den Gutachten betroffenen Organisationen, Unternehmen oder Privatpersonen abgeben.

5.5.5

Die Europäische Gemeinschaft hat mit der Festlegung entsprechender Verfahren bereits begonnen: Durch die Verallgemeinerung der Transparenzverfahren, die von den Sachverständigen selbst gewünscht wird, kann die Objektivität dieser Gutachten bestmöglich gewährleistet werden.

5.6   Transparenz der Entscheidungsfindungsstrukturen

5.6.1

Im Bereich der Gesundheit, wie generell der Neuerung, entstehen neue Gefahren, durch die Gewissheiten und Gewohnheiten erschüttert und in Frage gestellt werden.

5.6.2

Die geistige Einstellung muss hierbei die gleiche sein, nämlich „auf die Stille zu hören“.

5.6.3

Unabhängig davon, wie die Qualität des eingesetzten Überwachungssystems auch beschaffen sein mag – die Möglichkeit einer kollektiven Blindheit muss immer mit berücksichtigt werden.

5.6.4

Die öffentliche Debatte ist eine Notwendigkeit. Sowohl die Patienten als auch die außerhalb des Kreises der Sachverständigen stehenden Ärzte müssen sich Gehör verschaffen, die Fragen, die sie umtreiben, stellen und Warnungen geben dürfen.

5.6.5

Es gilt, diese Meinungsbekundung zu organisieren, um nicht unnötig in Alarmzustand zu geraten.

5.6.6

Dieser „Gesundheitspluralismus“, der wesentlich dazu beiträgt, dass neue Dramen vermieden werden, setzt eine Entwicklung der Entscheidungsverfahren hin zu größerer Transparenz voraus. Die Ergebnisse der Gutachten müssen – unter Gewährleistung der ärztlichen Schweigepflicht und des Betriebsgeheimnisses – öffentlich gemacht werden, ebenso wie die Gründe für die Gesundheitsentscheidungen.

5.7   Deontologie der Kommunikation im Bereich der Gesundheitssicherstellung

5.7.1

Trotz ihrer allgemeinverständlichen Darstellung weist die Kommunikation im Bereich der öffentlichen Gesundheit grundlegende Eigenheiten auf, die im Bereich der Gesundheitssicherstellung noch stärker ausgeprägt sind.

5.7.2

Über diese Themen Informationen zu vermitteln bedeutet häufig, über Krankheit und Tod zu sprechen. Transparenz und Takt müssen bei der Regelung dieser heiklen Aufgabe des Gesundheitssystems Vorrang haben.

5.7.3

Transparenz ist unverzichtbar, um das Vertrauen zu stärken und die Besorgnis zu vermeiden, die bei der Enthüllung einer Information entsteht, die deshalb für Aufsehen sorgt, weil sie zuvor den Eindruck von Heimlichkeit vermittelte.

5.7.4

Transparenz ist für Behörden und Gesundheitseinrichtungen ebenso ein Muss wie der Arzt eine Pflicht zur Aufklärung des Patienten hat. Da es sich um Risiken handelt, die die Gesundheit jedes Einzelnen betreffen, ist die „Pflicht zur Wahrheit“ unabdingbar.

5.7.5

Doch an diese moralische Verpflichtung ist auch ein Taktgefühl gekoppelt. Die – häufig in Notsituationen übermittelte – Information muss verständlich und wissenschaftlich sein und darf nicht der Gefahr des Missklangs, der Sensationslust und Angsthascherei erliegen. Sie setzt Regeln für die gemeinsame Arbeit der Medien, der Angehörigen der Heilberufe, der Patientenvereinigungen und der staatlichen Behörden voraus. Die Alternative reduziert sich nicht darauf, entweder in Bangemachen oder in Geheimniskrämerei zu verfallen.

5.8   Routinemäßige Kommunikation

5.8.1

Im Bereich der Gesundheit besteht immer die Gefahr, dass die Information bei den Patienten auf eine besondere Empfindlichkeit stößt.

5.8.2

Zwischen der für den Arzt und der für die Allgemeinheit bestimmten Information besteht dem Wesen nach ein Unterschied.

5.8.3

Die für Ärzte bestimmte Information kann auf das wissenschaftliche Vorwissen dieser Zielgruppe bauen. Sie hat ihre eigenen Vektoren: Kurse, Konferenzen, Kongresse, Berufsorgane und Industrieverbände.

5.8.4

Andererseits kann bei der für die Allgemeinheit bestimmten Information nicht davon ausgegangen werden, dass die erforderlichen medizinischen Kenntnisse vorhanden sind, um die Tragweite der verbreiteten Information einzuschätzen, ohne Gefahr zu laufen, dass sie falsch verstanden wird oder Angst schürt. Hier muss ein Gleichgewicht zwischen der Notwendigkeit der Aufklärung über neue oder herkömmliche Behandlungsformen einerseits und den mit einer falschen Auslegung dieser Information einhergehenden Risiken andererseits gefunden werden.

5.8.5

Die Information kann unnötige oder übertriebene Angst bei der Bevölkerung hervorrufen bzw. zu unbegründeter Hoffnung bezüglich der Behandlung verleiten. Sie trägt zur Gesundheitserziehung der Bevölkerung bei, die wiederum unmittelbar die Wirksamkeit der politischen Maßnahmen zugunsten der Hygiene, der Risikoprävention und der frühzeitigen Übernahme durch das Gesundheitssystem beeinflusst.

5.9   Kommunikation im Krisenfall

5.9.1

Im Fall eines gesundheitlichen Notfalls oder schwerwiegender Bedrohungen der Gesundheit der Bevölkerung ist die Kommunikation mit dreierlei Erfordernissen konfrontiert:

Zunächst muss die Information strikt auf das fragliche Gesundheitsrisiko beschränkt werden.

Zweitens geht es darum, mithilfe der Information nicht nur die Kenntnisse der Öffentlichkeit zu verbessern, sondern auch Verhaltensänderungen zu bewirken. Die Information muss deshalb ihr Ziel erreichen, d.h. einerseits den Vorfall verhindern bzw. seine Folgen eindämmen, ohne unnötig Besorgnis zu erregen, und andererseits das Recht der Bürger auf Aufklärung und die ethische Verpflichtung der Presse gewährleisten, Angsthascherei und Sensationslust bei der Berichterstattung zu vermeiden.

Drittens muss die entscheidende Information unter Berücksichtigung der jeweiligen Zielgruppen sowie der Reihenfolge, mit der sie erreicht werden müssen, gegeben werden.

5.9.2

Die Rolle der Medien ist für eine erfolgreiche Krisenkommunikation in allen Fällen von maßgeblicher Bedeutung. Die Medien müssen gelegentlich akzeptieren, die Information so lange nicht an die Öffentlichkeit weiterzugeben, bis die Angehörigen der Gesundheitsberufe hinreichend informiert worden sind. Es besteht hier somit auch ein Bedarf, Fachjournalisten auszubilden, die in der Lage sind, Themen im Zusammenhang mit der Gesundheitssicherstellung richtig zu erfassen und darüber Bericht zu erstatten.

5.9.3

Dies ist ein schwieriges Unterfangen, da etwa die Bezifferung der unerwünschten Wirkungen, ihre Zuweisung, der Einfluss der Medien auf die Melderate und die allgemeine Bewertung des Risikos allesamt aufwendige und komplexe Analysen darstellen, während die Öffentlichkeit prompt und in einer einfachen, einfühlsamen Sprache informiert werden möchte.

6.   Fazit

6.1

Angesichts der aufeinanderfolgenden Krisen, die in den letzten zwanzig Jahren weltweit für Aufsehen gesorgt haben (explosionsartige Ausbreitung von Aids, Blutspendenskandal, Gesundheitskrisen aufgrund von SARS und der Legionärskrankheit, Bioterrorismus durch Milzbrand-Bedrohung) schlägt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss vor, regelmäßig auf höchster Ebene europäische Kongresse zum Thema Gesundheitswesen zu veranstalten.

6.2

Ziel dieser Kongresse soll es sein, kollektive Maßnahmen zu diskutieren, präzise Auskünfte über diese Krisen zu erteilen, koordinierte Antworten zu geben, die Bedrohung durch externe Gefahren zu bewerten, bei der raschen Diagnosestellung zu helfen und angemessene Lösungen bereitzustellen.

6.3

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss empfiehlt, schon jetzt dem künftigen Europäischen Zentrum für Gesundheitsüberwachung in Stockholm ein erweitertes und verstärktes Mandat zur kontinuierlichen Erstellung einschlägiger Berichte im Bereich des Gesundheitswesens zu übertragen und dafür zu sorgen, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter Achtung des Subsidiaritätsprinzips die notwendigen Maßnahmen ergreifen.

6.4

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist der Auffassung, dass er das geeignete Forum zur Sensibilisierung und Warnung der europäischen Zivilgesellschaft ist.

6.5

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss wünscht ausdrücklich, dass das Gesundheitswesen ein aktives Eingreifen aller Beteiligten bewirkt: Durch die umfassende Kenntnis der Krisen des Gesundheitswesens muss im Lichte der Globalisierung der Gesundheitskrisen ein umfassender Erfahrungsaustausch möglich sein.

6.6

Nach dem Dafürhalten des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses gilt es, eine breit angelegte Informationspolitik auf europäischer Ebene zu fördern, die zu einer speziellen Ausbildung aller Akteure und Medien führt, die auf diesem Gebiet eine besondere Verantwortung tragen.

6.7

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss erinnert daran, dass seine Empfehlungen miteinander verknüpft sind und ein ausgeprägter Wille aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union vonnöten ist, sie umzusetzen; es sind dies

die Verstärkung der administrativen Kapazitäten mit grenzübergreifendem Zusammenwirken und einer allseits anerkannten und gebilligten Verwaltung;

rechtliche Kompetenzen und Instrumente zu ihrer Unterstützung;

die Transparenz der Entscheidungsverfahren und eine von allen geteilte, stärkere Deontologie der Kommunikation im Bereich der Gesundheitssicherstellung;

eine stärkere Zusammenarbeit und weltweite Vernetzung zwischen allen Einrichtungen zur Gesundheitsüberwachung (Europäische Union, Weltgesundheitsorganisation, Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit, Europarat sowie große nationale Einrichtungen wie die Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta/USA).

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/54


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission – Reaktion auf den Reflexionsprozess auf hoher Ebene über die Patientenmobilität und die Entwicklungen der gesundheitlichen Versorgung in der Europäischen Union“

(KOM(2004) 301 endg.)

(2005/C 120/11)

Verfahren

Die Kommission beschloss am 20. April 2004 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu der obenerwähnten Mitteilung zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 22. September 2004 an. Berichterstatter war Herr BEDOSSA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 170 gegen 3 Stimmen bei 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

Die derzeitigen Gesundheitssysteme und -politiken in den einzelnen Mitgliedstaaten sind einerseits zunehmend miteinander vernetzt, und andererseits nehmen die Verantwortlichen auf einzelstaatlicher Ebene, bevor sie Entscheidungen fällen, in unzureichender Weise und wenn, dann leider stillschweigend einen Leistungsvergleich zwischen den – europäischen oder auch außereuropäischen – Systemen vor.

1.1

Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig und bedingen sich gegenseitig.

Zunächst wächst in ganz Europa und auch weltweit die Erwartungshaltung gegenüber den Gesundheitssystemen.

Im Zuge der Erweiterung haben die neuen Mitgliedstaaten ihren Bürgern gegenüber die Verpflichtung, die medizinische Versorgung laufend zu verbessern.

Durch den technischen Fortschritt stehen laufend neue Behandlungsmethoden zur Verfügung, die eine Versorgung der Bevölkerung mit besseren medizinischen Leistungen ermöglichen.

Die neuen Informationstechniken ermöglichen es den Bürgern der Union, die Diagnose- und Behandlungsmethoden in den einzelnen Mitgliedstaaten direkt und ohne größeren Zeitaufwand miteinander zu vergleichen, was verständlicherweise dazu führen kann, dass die Ansprüche der Patienten bezüglich der medizinischen Versorgung steigen.

1.2

Es wird also zweifelsohne zu Problemen im Bereich der Gesundheitspolitik kommen, sowohl was die Qualität der grenzübergreifenden medizinischen Dienstleistungen als auch den Zugang zu diesen betrifft, aber auch bezüglich des Informationsbedarfs von Patienten, Leistungserbringern im Gesundheitswesen und politischen Entscheidungsträgern.

1.3

Es bedarf deshalb bereits jetzt einer Evaluation der einzelstaatlichen Gesundheitspolitiken, die den veränderten Anforderungen vor dem Hintergrund der wachsenden EU-bedingten Verpflichtungen, aus denen den Unionsbürgern neue Rechte erwachsen, gerecht werden müssen.

1.4

Diese veränderte Situation bringt neues Licht in die Debatte zum Thema Patientenmobilität, eine Debatte, in der die eine Seite die These verficht, wonach die neue Freiheit eine gefährliche Destabilisierung der bestehenden Gesundheitssysteme nach sich ziehe, da die Patientenmobilität die Kontrolle der Kosten und der Prioritäten erschwere, während die andere Seite davon ausgeht, dass sie zur Interoperabilität der einzelnen Systeme, zum Einsatz einheitlicher Indikatoren, zum Informationsaustausch über vorbildliche Verfahren und zur effizienteren Nutzung der Ressourcen beitrage. Es ist zweifelsohne notwendig, die zweite Überlegung dahingehend weiter zu entwickeln, dass man alle sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen hinsichtlich der Harmonisierung der nationalen Systeme zieht.

2.   Hintergrund

2.1

In seiner Initiativstellungnahme vom 16. Juli 2003 (1) bezeichnete der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss Gesundheit als „hohes Gut in unserer Gesellschaft. Dies gilt gleichsam für jeden Bürger, jede Familie und jeden Staat“. Er erklärte, dass er „beabsichtigt, die gesundheitspolitischen Fragen zum Gegenstand des Handlungsspielraums zu machen, wobei der bestehende politische und rechtliche Rahmen jedoch respektiert werden muss“.

2.2

In dieser Stellungnahme formulierte der Ausschuss seine Argumente und schlug Arbeits- und Analysemethoden vor, die in den beiden jüngsten Mitteilungen der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 20. April 2004 Berücksichtigung fanden.

2.3

Die jetzt vorliegende Mitteilung ist auch infolge des unlängst veröffentlichten Vorschlags für eine Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt (25. Februar 2004) notwendig geworden. Bedauerlicherweise sind die Textstellen, die sich auf die Dienstleistungen im sozialen Bereich und im Gesundheitsbereich beziehen, so formuliert, dass sich zu große Interpretationsspielräume ergeben, weshalb die Richtlinie Kritik hervorgerufen hat. Deshalb erfordern diese Teile der Richtlinie genauere Definitionen, damit die Besonderheit dieser Dienstleistungen, die die Sicherheit und die Gleichbehandlung der Bürger berühren, gebührend berücksichtigt werden können.

2.4

Die Kommission begründet die gleichzeitige Vorlage der beiden zuvor genannten Mitteilungen damit, dass der Europäische Gerichtshof – von der Rechtssache Kroll vom 28. April 1998 bis hin zur Rechtssache Leichte vom 18. März 2004 – eine Reihe von Urteilen gefällt habe, die es den Unionsbürgern erlauben, medizinische Versorgung in anderen EU-Staaten in Anspruch zu nehmen; mit seiner Rechtsprechung habe der EuGH auch die Voraussetzungen für eine Erstattung der Kosten für Gesundheitsdienstleistungen geklärt.

2.5

Seit 1. Juni 2004 können Unionsbürger also ihre Ansprüche mittels der künftigen europäischen Krankenversicherungskarte (2), die das Formular E111 ersetzt, geltend machen.

2.6

Die massiven Unterschiede in der Gesundheitsversorgung in den einzelnen Mitgliedstaaten können dazu führen, dass die Unionsbürger sich für die Systeme entscheiden, die ihnen für ihre Gesundheit am meisten zu bieten haben, wodurch die europäischen Referenzzentren überlastet oder sogar lahmgelegt würden; außerdem besteht die Gefahr einer Überlastung der vorhandenen Sozialschutzsysteme, die unvorhersehbaren grenzüberschreitenden Patientenströmen nicht gewachsen sind. Die neue Verordnung 1408/71 könnte daher zur Entstehung einer kritischen Situation beitragen.

2.7

Es bedarf also einer europäischen Politik, die sich ehrgeizige Ziele steckt, und auch, wenn dies unerlässlich wird, die Zuständigkeiten der nationalen Gesundheitssysteme verändert.

2.8

Die Ergebnisse der eingehenden Analyse der Initiativstellungnahme des EWSA vom 16. Juli 2003 decken sich weitgehend mit jenen des Reflexionsprozesses auf hoher Ebene der Kommission, da die Themen, die Gegenstand der Empfehlungen sind, bereits im Stellungnahmeentwurf behandelt wurden, d.h. die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene; der Informationsbedarf von Patienten, Leistungserbringern im Gesundheitswesen und politischen Entscheidungsträgern; der Zugang zu qualitativ hoch stehender Gesundheitsversorgung; die Koordinierung der einzelstaatlichen Gesundheitspolitiken mit den Verpflichtungen auf europäischer Ebene usw.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die Mitteilung der Kommission über die Patientenmobilität enthält eine Reihe konkreter Vorschläge zu unterschiedlichen Bereichen, die es ermöglichen sollen, das in den Gründungsverträgen festgeschriebene Ziel der Sicherstellung einer qualitativ hoch stehenden Gesundheitsversorgung in die Gemeinschaftspolitik einzubeziehen.

3.2

Aufgrund der geltenden Gemeinschaftsvorschriften haben Unionsbürger Anspruch auf medizinische Versorgung in anderen Mitgliedstaaten und Rückerstattung der Kosten. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und der Vorschlag für eine Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt legen fest, unter welchen Bedingungen Patienten die Kosten für die gesundheitliche Versorgung in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie versichert sind, erstattet werden können. In der Praxis ist es jedoch nicht immer leicht, dieses Recht geltend zu machen.

3.3

Es erscheint daher notwendig, eine europäische Strategie zu erarbeiten, die folgende Ziele verfolgt:

3.3.1

Die Förderung der Zusammenarbeit auf europäischer Ebene zur besseren Nutzung der Ressourcen.

Rechte und Pflichten von Patienten: Die Europäische Kommission wird weiter die Möglichkeit prüfen, auf europäischer Ebene zu einer gemeinsamen Auffassung über die persönlichen und sozialen Rechte und Pflichten von Patienten zu gelangen.

Gemeinsame Nutzung freier Kapazitäten und grenzübergreifende Gesundheitsversorgung: Die Kommission wird die Evaluierung bestehender grenzüberschreitender Projekte im Gesundheitsbereich, insbesondere von EUREGIO-Projekten, unterstützen, sowie die Vernetzung dieser Projekte im Sinne eines verstärkten Informationsaustausches über vorbildliche Verfahren fördern.

3.3.2

Um für Vereinbarungen über die Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen klare und transparente Rahmenbedingungen für die zuständigen Behörden in den einzelnen Mitgliedstaaten zu schaffen, wird die Kommission die Mitgliedstaaten um Informationen über die aktuelle Situation ersuchen und geeignete Vorschläge unterbreiten.

Im Gesundheitswesen tätige Personen: Die Kommission wird die Mitgliedstaaten ersuchen, über die für die Anerkennung der beruflichen Eignung zuständigen Stellen aktuelle und vollständige Daten über die Mobilität der im Gesundheitswesen Tätigen vorzulegen. Außerdem wird sie, zusammen mit dem Rat und dem Parlament, weiter an der Entwicklung einfacher und transparenter Anerkennungsverfahren arbeiten.

Die Kommission wird darüber hinaus zusammen mit den Mitgliedstaaten die Vorbereitungen fortsetzen, um einen angemessenen vertraulichen Informationsaustausch bezüglich der Mobilität der im Gesundheitswesen Tätigen sicherzustellen.

Die Kommission wird die Mitgliedstaaten ersuchen, die Frage des derzeitigen und künftigen Personalmangels im Gesundheitswesen in der Europäischen Union zu prüfen.

Europäische Referenzzentren: Die Kommission wird vor der Unterbreitung diesbezüglicher Vorschläge im Rahmen des Gesundheitsprogramms eine Ausschreibung zur Kartierung der Referenzzentren durchführen.

Evaluierung von Gesundheitstechnologien: Die Kommission plant, einen Koordinierungsmechanismus für die Evaluierung von Gesundheitstechnologien zu schaffen, und wird hierzu gesonderte Vorschläge unterbreiten.

3.3.3

Den Informationsbedarf von Patienten, Leistungserbringern im Gesundheitswesen und politischen Entscheidungsträgern decken.

Strategie zur Information über Gesundheitssysteme: Die Kommission wird auf Grundlage der Ergebnisse des Gesundheitsprogramms die Rahmenbedingungen für die Information im Gesundheitsbereich auf EU-Ebene schaffen. In diesem Zusammenhang wird sie unter anderem den jeweiligen Informationsbedarf der politischen Entscheidungsträger, der Patienten und der im Gesundheitswesen Tätigen sowie die Art und Weise der Bereitstellung dieser Informationen feststellen; sie wird dabei die entsprechenden Arbeiten von WHO und OECD berücksichtigen.

Grenzübergreifende Gesundheitsversorgung: Beweggründe der Patienten und Umfang: Um die Gründe, die Patienten dazu bewegen, grenzüberschreitende Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch zu nehmen, die betroffenen Fachbereiche, die Art der bilateralen Abkommen u.ä. zu ermitteln, schlägt die Kommission die Durchführung einer spezifischen Studie im Rahmen des Gesundheitsprogramms vor. Außerdem ist dieses Thema Gegenstand des Forschungsprojekts „Europa für Patienten“.

Datenschutz: Die Kommission wird mit den Mitgliedstaaten sowie mit den zuständigen nationalen Behörden zusammenarbeiten, um das Bewusstsein für die Bestimmungen bezüglich des Datenschutzes im Gesundheitswesen zu schärfen.

Gesundheitstelematik: Im Zusammenhang mit der Aufforderung, europäische Grundsätze für die Kompetenz und die Haftung aller Leistungserbringer im Bereich der Online-Gesundheitsversorgung aufzustellen, wird die Kommission diesbezügliche Fragen im Rahmen des Aktionsplans für Gesundheitstelematik prüfen, der Gegenstand der Mitteilung „Gesundheitstelematik – Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der europäischen Bürger: Aktionsplan für einen europäischen Gesundheitstelematikraum“ ist.

3.3.4

Die Rolle der Europäischen Union bei der Verwirklichung der Gesundheitsziele stärken.

Stärkere Einbeziehung von Gesundheitszielen in alle europäischen Politikbereiche und Maßnahmen: Die Kommission wird - unter besonderer Berücksichtigung der sich aus den Gemeinschaftsvorschriften ergebenden Möglichkeiten - gemeinsam mit den Mitgliedstaaten Informationen über die verschiedenen Möglichkeiten des Zugangs zu den Gesundheitssystemen anderer Mitgliedstaaten sowie über deren Auswirkungen zusammenstellen.

Darüber hinaus wird die Kommission auf bestehenden Projekten zur Gesundheitsverträglichkeitsprüfung aufbauen, um sicherzustellen, dass die Auswirkungen der künftigen Kommissionsvorschläge zu Fragen des Gesundheitswesens und der Gesundheitsversorgung bei der allgemeinen Bewertung Berücksichtigung finden.

Einrichtung eines Forums zur Unterstützung der Zusammenarbeit im Gesundheitswesen und in der medizinischen Versorgung: In Zusammenhang mit der Aufforderung, auf EU-Ebene ein ständiges Forum zur Unterstützung der europäischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung und zur Überwachung der Auswirkungen der Tätigkeit der EU auf die Gesundheitssysteme zu prüfen, hat die Kommission eine hochrangige Gruppe für das Gesundheitswesen und die medizinische Versorgung eingesetzt.

3.3.5

Reaktion auf die Erweiterung durch Investitionen in das Gesundheitswesen und dessen Infrastruktur

3.3.5.1

Im Rahmen des Reflexionsprozesses auf hoher Ebene wurden die Kommission sowie die „alten“ und die kürzlich beigetretenen Mitgliedstaaten aufgefordert zu prüfen, wie die Aufnahme von Investitionen in das Gesundheitssystem, in die Entwicklung der entsprechenden Infrastruktur und in den Ausbau von Kenntnissen und Fähigkeiten – insbesondere in Ziel –1–Gebieten – als Förderschwerpunkte im Rahmen der vorhandenen Finanzierungsinstrumente der Gemeinschaft erleichtert werden kann. Wenn dieses Ziel von der betreffenden Region oder dem Land als prioritär eingestuft wurde, fördert die Europäische Union bereits jetzt Investitionen in das Gesundheitswesen der „alten“ Mitgliedstaaten. Die Umsetzung dieser Empfehlung hängt also weitgehend davon ab, ob die Regionen und Länder das Gesundheitswesen und die entsprechende Infrastruktur tatsächlich als Förderschwerpunkte definieren. Die Kommission wird in der hochrangigen Gruppe für das Gesundheitswesen und die medizinische Versorgung sowie innerhalb der für die betreffenden Finanzierungsinstrumente zuständigen Strukturen mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass die Gesundheit den nötigen Stellenwert bei der allgemeinen Planung erhält. Die Notwendigkeit europäischer Investitionen in die Infrastruktur des Gesundheitswesens sollte ab 2006 auch im Rahmen der finanziellen Vorausschau der Union berücksichtigt werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Die Freizügigkeit der Patienten innerhalb der Mitgliedstaaten wirft verschiedene Probleme auf, deren Folgen quantifiziert, evaluiert, analysiert und berücksichtigt werden müssen. Am dringlichsten bedarf es einer besseren Kenntnis der bestehenden Sozialschutzsysteme; deshalb muss eine möglichst vollständige und laufend erweiterbare Aufzählung der Kriterien, die für ihre Entstehung maßgeblich waren, aufgestellt werden, die auch die derzeitige Situation und die künftige Entwicklung berücksichtigt.

4.2

Vorbeugung gehört zweifelsohne zu den wichtigsten Zielen der Gesundheitspolitik, da sie erhebliche Einsparungen ermöglicht und den gesundheitspolitisch besten Ansatz darstellt. Als Beispiele seien hier die positiven Ergebnisse einer gelungenen Verkehrssicherheitspolitik, der AIDS-Prävention oder der Bekämpfung des Tabakkonsums angeführt. Die Summe der mit diesen vorbeugenden Maßnahmen erzielten Resultate ist beeindruckend.

4.3

Darüber hinaus sind hier – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – weitere präventive Maßnahmen zu nennen, die derzeit von allen Akteuren im Gesundheitswesen – den Angehörigen der Gesundheitsberufe, den Medien und den politischen Entscheidungsträgern – mit großer Aufmerksamkeit verfolgt werden: Kampagnen gegen den Missbrauch von Rausch- und Arzneimitteln (Drogen, Alkohol, Medikamente), zur Förderung eines gesunden Lebensstils (Bewegung, Ernährung, Erholung), zur Vorbeugung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten usw.

4.4

Die Evaluation dieser individuellen, sozialen und familiär bedingten Risikofaktoren erlaubt es, das Ausmaß der verhinderbaren vorzeitigen Sterblichkeit – und der daraus entstehenden Kosten – zu ermessen.

4.5

Aufgrund der Fortschritte im Bereich der Pharmakologie und der Diagnostik sind veraltete Behandlungsmethoden wirklich vollständig durch modernere zu ersetzen.

4.6

In erster Linie müssen neue Effizienzgewinne erzielt werden, die letztlich für die Gesellschaft insgesamt kostengünstiger sind, selbst wenn die Reformen gegen gesellschaftliche, kulturelle und/oder berufsständische Widerstände umgesetzt werden.

4.6.1

Es bedarf in diesem Zusammenhang gezielterer und effektiverer Aktionen, um auch die Leistungserbringer im Gesundheitswesen dazu anzuregen, sich für die Verbesserung der gemeinschaftlichen Gesundheitspolitiken zu engagieren.

4.7

Wenn die Patientenströme richtig eingeschätzt werden, muss die Europäische Union in der Lage sein, auch außerhalb der reichsten Mitgliedstaaten, die enorme Investitionen in ihre Gesundheitssysteme getätigt haben, die medizinische Versorgung dieser „Wanderpatienten“ in modernen und bestens ausgestatteten Gesundheitszentren und Kliniken zu gewährleisten. Die Union muss deshalb bei der Entwicklung von Instrumenten zur Evaluation, Zertifizierung und Zulassung neuer Gesundheitstechnologien und Behandlungsmethoden mitwirken, um deren effektiven Einsatz zu ermöglichen. Die Effizienz der Krankenhaussysteme und aller anderen Gesundheitspflegeeinrichtungen muss auf diesen Zulassungs- und Zertifizierungsverfahren aufbauen.

4.8

Diese der Qualitätssicherung dienende Vorgangsweise kann es der Europäischen Union ermöglichen, die Standorte für ein Netzwerk von Gesundheitseinrichtungen auszumachen, in dem auch die für die Referenzzentren so wichtigen hochqualifizierten Wissenschaftler und Leistungserbringer tätig sind. Es besteht berechtigte Hoffnung, dass solche Zentren in manchen neuen Mitgliedstaaten rasch entstehen werden, vor allem dann, wenn die Europäische Union die Aufgabe übernimmt, die geeigneten Instrumente zur Beobachtung, zur Analyse und zum Informationsaustausch über die einzelstaatlichen Gesundheitspolitiken zu entwickeln, wobei die Grundprinzipien der Verträge, insbesondere das der Subsidiarität und der nationalen Zuständigkeiten, eingehalten werden müssen.

4.9

In diesem Zusammenhang darf auch die Harmonisierung der Indikatoren für die Volksgesundheit nicht unerwähnt bleiben, die bei der Festlegung der gesundheitspolitischen Ziele der EU hilfreich sein kann. Dies betrifft aussagekräftige Angaben über die Sterblichkeitsrate, die Rate verhinderbarer Todesfälle, die Krankheitsrate und die Rate verhinderbarer Krankheitsfälle, die EU-weit unterschiedlich ausgelegt werden.

4.10

Durch den Einsatz einheitlicher Indikatoren könnte man aus unterschiedlichen Ergebnissen auf die Notwendigkeit schließen, die medizinische Versorgung auf das Niveau jenes Landes anzuheben, das die besten Resultate erzielt hat. So ist die Fünfjahresüberlebensrate bei Lungenkrebs in Polen niedriger als in Frankreich, und laut der derzeit eingesetzten Behandlungsprotokolle erzielt man in Großbritannien bei der Leukämie-Therapie andere Ergebnisse als in Frankreich.

4.11

Eines der Hauptziele der Europäischen Kommission ist es, dem Informationsbedarf der Patienten, der Leistungserbringer im Gesundheitswesen und der politischen Entscheidungsträger gerecht zu werden.

4.12

Was die Patienten anbelangt, so ermöglicht die Gesundheitserziehung einen Einblick in die Vorstellungen von Gesundheit der europäischen Bürger, insbesondere deren Erwartungen und Verhalten betreffend. Heutzutage wird Gesundheit als höchstes Gut betrachtet, als ein Recht, jedenfalls ist sie von allen entsprechenden Stellen zu schützen. Die Erfüllung dieser Erwartungshaltung bringt jedoch eine Anhebung der Gesundheitsausgaben im Hinblick auf Behandlung, aber oft auch Prävention und Umwelt mit sich, die vermeiden sollen, dass die Sozialschutzsysteme aus dem Gleichgewicht geraten.

4.13

Im Bereich des Gesundheitsschutzes haben die Unionsbürger neue Rechte, u.a. ein starkes Mitbestimmungsrecht, bekommen (3).

4.14

Der Einsatz von Technologien im Gesundheitsbereich, der Schutz der Privatsphäre, der Zugang der Patienten zu den eigenen medizinischen Daten, die Informationsfreiheit sowie der Datenschutz sind nur einige Beispiele für die vielfältigen Themenbereiche, in denen es einer transparenten Debatte bedarf, um bei allen im Gesundheitswesen involvierten Akteuren einen Bewusstseinsbildungsprozess in Gang zu setzen. Diese Debatte muss laufend geführt werden, da sich das Gesundheitswesen rasant entwickelt und die zumeist schwierigen Entscheidungen sehr schnell gefällt werden müssen. Diese Themen stellen jedoch für die drei Hauptakteure des Gesundheitssystems sehr heikle Bereiche dar.

4.15

Die Koordinierung einzelstaatlicher Zielsetzungen mit den EU-bedingten Verpflichtungen: Ein Vergleich der einzelstaatlichen Gesundheitssysteme bringt schwierige strategische Überlegungen mit sich, die angestellt werden müssen, wenn die Zusammenarbeit im Bereich des Gesundheitswesens auf europäischer Ebene gestärkt und die Auswirkungen der gemeinschaftlichen Regelungen auf die Gesundheitssysteme bewertet werden sollen. So ist es etwa notwendig, bestimmte Querschnittthemen, die besonders gravierende Auswirkungen haben können, näher zu betrachten, zum Beispiel den Einsatz vorbildlicher Verfahren und die Effizienz im Gesundheitswesen, die Gesundheit älterer Menschen, die Volksgesundheit in den neuen Mitgliedstaaten, den Einfluss verschiedener Faktoren auf die Gesundheit u.a.

4.16

Darüber hinaus müssen dringend Instrumente zur Sicherstellung der Rechtssicherheit erarbeitet werden, um zu gewährleisten, dass Patienten in allen EU-Staaten Zugang zu einer guten medizinischen Versorgung haben. In diesem Zusammenhang ist es an der Europäischen Union, entsprechende Vorschläge zu unterbreiten (Klärung der Anwendbarkeit der einzelnen Rechtsprechungen, Vereinfachung der Regelungen zur Koordinierung der Sozialversicherungssysteme, Erleichterung der EU-weiten Zusammenarbeit).

4.17

Die Kommission hat in ihrer Mitteilung eine besonders unerwartete und gleichzeitig sehr sinnvolle Neuerung angekündigt, nämlich die Bereitstellung von Mitteln aus dem Kohäsionsfonds und den Strukturfonds der EU, um im Rahmen der bestehenden Finanzinstrumente neue Prioritäten zu setzen und so Investitionen in das Gesundheitswesen und den Ausbau der Gesundheitsinfrastruktur sowie des medizinischen Know-hows zu erleichtern.

4.18

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist mit dieser Entscheidung vollkommen einverstanden; damit eröffnet sich insbesondere im Hinblick auf die Umsetzung der Lissabon-Strategie eine neue Perspektive für die Weiterentwicklung und den Erfolg der Europäischen Union.

4.19

Darüber hinaus befürwortet der Ausschuss prinzipiell den Ansatz der Kommission bezüglich der Gesundheitsberufe. Die Entwicklung der Gesundheitssysteme kann nur über die Entwicklung der Gesundheitsberufe und der Kenntnisse und Fähigkeiten der Leistungserbringer gehen. Das Gesundheitswesen bedarf qualifizierter Arbeitskräfte, einer guten Ausbildung sowie einer berufsbegleitenden Fortbildung.

4.20

Es ist Aufgabe des Ausschusses, die Tragweite der Herausforderungen, vor denen die Europäische Union im Bereich der Gesundheitssysteme steht, sowie deren Auswirkungen auf ihren Zusammenhalt und ihre Fähigkeit, zum wissensbasierten Wirtschaftssystem zu werden, bewusst zu machen.

4.21

Um die Mobilität der Leistungserbringer im Gesundheitswesen zu fördern, ohne dabei gleichzeitig die einzelstaatlichen Systeme zu gefährden, bedarf es einer Analyse und Vorwegnahme der künftigen Probleme. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hofft, dass mit dem in Vorbereitung befindlichen Vorschlag für eine Richtlinie über die Qualifikationen, Kenntnisse und Fähigkeiten ein wichtiger und richtiger Schritt in Richtung Vollendung des Binnenmarktes getan wird.

4.22

Die vorgesehenen Regelungen sind sinnvoll und durchdacht. Darüber hinaus ist der Ausschuss davon überzeugt, dass eine Harmonisierung der Verhaltenskodizes aller Leistungserbringer im Gesundheitswesen nützlich ist und positiv aufgenommen werden wird.

4.23

Dies geschieht in der Absicht, dem für die nächsten Jahre prognostizierten Mangel an Arbeitskräften in den Gesundheitsberufen vorzubeugen. Will man den Unionsbürgern eine gute medizinische Versorgung bieten, so sind Investitionen in diese Berufsfelder lohnend und sinnvoll.

4.23.1

Durch den Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnik zur Verbesserung der Volksgesundheit und des Gesundheitswesens beitragen.

4.24

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss vertritt die Ansicht, dass die schlagendsten Argumente für die Umsetzung einer Reform der Gesundheitssysteme und für eine Qualitätssteigerung der medizinischen Versorgung innerhalb der Europäischen Union in diesem Bereich zu finden sind. Dazu existieren bereits mehrere Elemente:

Der für Patienten zugängliche elektronische Gesundheitsdatensatz, der es den Unionsbürgern ermöglicht, ihre sozialen Rechte sowie ihr Recht auf Gesundheit wahrzunehmen und sich besser über den eigenen Gesundheitszustand zu informieren. Außerdem trägt dieses System zur Vermeidung von Missbrauch, überzogenen Kostenabrechnungen, Fällen von Arzneimittelunverträglichkeiten und Mehrfachbehandlungen bei und vereinfacht die im Zuge der Annahme, der Registrierung und Information der Patienten notwendigen Schritte.

Die vielversprechende Gesundheitstelematik, die es ermöglicht, dem Patienten auf Distanz die ihm zustehende ausführliche Beratung und Information durch Experten und alle anderen Leistungserbringer im Gesundheitswesen zukommen zu lassen.

Die Verwendung von Gesundheitskarten, die eine Überprüfung der Ansprüche von Patienten und deren Deckung durch die Sozialversicherung in Echtzeit ermöglicht.

Alle anderen bereits existierenden oder künftigen Anwendungen, die zu einer besseren Nutzung der Gesundheitssysteme, zur Entwicklung neuer Strategien für das Gesundheitswesen und die Volksgesundheit, zur Erstellung leistungsstarker Datenbanken, zur Evaluierung der Produktivität von Gesundheitseinrichtungen und deren Kostenstruktur beitragen können.

4.25

Bereits jetzt existieren entsprechende Informationsnetzwerke, und die Forderungen von Patientenverbänden wurden erfüllt. Im Rahmen der Arzt/Patient-Beziehung ist jedoch auf die Wahrung des Berufsgeheimnisses zu achten.

5.   Vorschläge des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

5.1

In seiner Stellungnahme vom 16. Juli 2003 hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss - im Bewusstsein der weitreichenden Bedeutung dieser Maßnahmen - Vorschläge unterbreitet, die von der Kommission offensichtlich bereits aufgegriffen wurden und sich wie ein roter Faden durch deren Argumentation ziehen.

5.2

Die Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten muss zur Entwicklung gemeinsamer Zielsetzungen führen, die im Rahmen nationaler Aktionspläne umgesetzt werden. Die Wahl der entsprechenden Indikatoren wiederum ermöglicht es, die laufende Entwicklung der Gesundheitspolitik in den einzelnen Mitgliedstaaten aufmerksam mitzuverfolgen.

5.3

Der Ausschuss betont erneut die entscheidende Bedeutung eines Instruments: Eine Beobachtungsstelle oder eine Agentur sollte nämlich damit beauftragt werden, die einzelstaatlichen Gesundheitspolitiken zu beobachten, zu analysieren und diesbezügliche Informationen auszutauschen, wobei selbstverständlich das Subsidiaritätsprinzip sowie die nationalen Zuständigkeiten entsprechend dem EG-Vertrag gewahrt bleiben müssen. Gegenstand des Interesses wären u.a. Maßnahmen zur Qualitätssteigerung der medizinischen Versorgung, die Bemühungen der öffentlichen Hand bzw. des Managements, die Effizienz öffentlicher und privater Gesundheitseinrichtungen zu steigern, die Einrichtung von High-Tech-Gesundheitszentren und deren Vernetzung innerhalb der gesamten Union, unabhängig davon, ob es sich um reiche oder benachteiligte Gebiete handelt.

5.4

Um dem drohenden Arbeitskräftemangel im Gesundheitsbereich vorzubeugen, bedarf es einer aktiven, nachhaltigen und vorausschauenden Beschäftigungspolitik.

5.5

Weiter ist es notwendig, auf Grundlage der Ergebnisse der Gesundheitsprogramme die Informationspolitik in Gesundheitsfragen fortzusetzen, wobei der Informationsbedarf der Akteure des Gesundheitswesens – der Patienten, der Leistungserbringer und der öffentlichen Hand – sowie die entsprechenden Informationen der WHO oder der OECD berücksichtigt werden müssen.

5.6

Der Ausschuss befürwortet (in seiner Stellungnahme vom Juli 2003) vollkommen das Vorhaben der Kommission, die offene Methode der Koordinierung einzusetzen, wobei die Art der Maßnahmen und deren Umsetzung bereits im Voraus detailliert festgelegt werden. Diese enthält u.a. folgende äußerst wichtige Elemente:

Informationsaustausch über vorbildliche Verfahren (Akkreditierungen), Qualitätsstandards, Gleichwertigkeit der Kenntnisse und Fähigkeiten, gegenseitige Anerkennung von Verfahren, bei denen angesichts der großen Unterschiede innerhalb der einzelstaatlichen Systeme die Möglichkeiten zur Kosteneinsparung ermittelt werden sollten;

die für die Strukturen und Verfahren relevanten Indikatoren;

die Verbesserung des Zugangs zu Arzneimitteln unter Berücksichtigung der Notwendigkeit von Innovationen, der Bekämpfung von Volkskrankheiten wie zum Beispiel AIDS, Tuberkulose oder Malaria in den ärmsten Ländern sowie der Vorbeugung von Vergeudung;

die Koordinierung der einzelstaatlichen Systeme, um einen grenzüberschreitenden Dumping-Effekt und die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte ins Ausland zu vermeiden;

die Notwendigkeit, den Binnenmarkt für Arzneimittel zu vollenden.

6.   Fazit

6.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist sich dessen bewusst, dass die drei letzten Mitteilungen das Ergebnis der gemeinsamen Anstrengungen der fünf beteiligten Generaldirektionen der Europäischen Kommission sind.

6.2

Dies ist ein Beweis dafür, dass die Europäische Gemeinschaft die weitreichende Bedeutung der Gesundheitspolitik für das Gelingen der Vollendung des Binnenmarktes und der Erweiterung verstanden hat.

6.3

Dies ist eines der bislang seltenen Beispiele für die gelungene Zusammenarbeit von fünf Generaldirektionen der Europäischen Kommission mit ihren jeweiligen politischen Zielen, Kompetenzen und Ressourcen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen: zum Wohle aller Unionsbürger den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Instrumente zur Koordinierung ihrer Gesundheitspolitik und Sozialschutzsysteme zur Verfügung zu stellen.

6.4

Der Ausschuss hält in diesem Zusammenhang die Einsetzung einer im EWSA angesiedelten Task Force für sinnvoll, um die gesundheitspolitische Entwicklung auf unkomplizierte, aber dauerhafte Art und Weise mitverfolgen zu können. Durch diese Task Force kann der Ausschuss mit seinem Fachwissen und seinen Erfahrungen einen bedeutenden Beitrag zu einem für alle europäischen Bürger dringlichen, wichtigen Thema leisten.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Initiativstellungnahme zum Thema „Gesundheitsfürsorge“ – Berichterstatter: Herr BEDOSSA – ABl. C 234 vom 30.9.2003.

(2)  Siehe Stellungnahme des EWSA zur „Einführung der europäischen Krankenversicherungskarte“ – Berichterstatter: Herr DANTIN – ABl. C 220 vom 16.9.2003.

(3)  In Vorbereitung befindliche Initiativstellungnahme zum Thema „Gesundheitsschutz: eine kollektive Verpflichtung, ein neues Recht“ – Berichterstatter: Herr BEDOSSA (SOC/171).


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/60


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgender Kommissionsvorlage:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über ein besonderes Zulassungsverfahren für Drittstaatsangehörige zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung“

„Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Erleichterung der Zulassung von Drittstaatsangehörigen in die Europäische Gemeinschaft zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung“

„Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Erleichterung der Ausstellung einheitlicher Visa der Mitgliedstaaten für den kurzfristigen Aufenthalt an Forscher aus Drittstaaten, die sich für Forschungszwecke innerhalb der Europäischen Union bewegen“

(KOM(2004) 178 endg. – 2004/0061 (CNS))

(2005/C 120/12)

Der Rat beschloss am 7. April 2004 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu den obenerwähnten Vorschlägen zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 22. September 2004 an. Berichterstatterin war Frau King.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 181 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsdokuments

1.1

Gegenstand dieser Mitteilung sind ein Vorschlag für eine Richtlinie und zwei Vorschläge für eine Empfehlung zur Zulassung von Drittstaatsangehörigen in die Europäische Gemeinschaft zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung.

1.2

Diese Vorschläge sind Teil des strategischen Ziels der Lissabon-Strategie, die Europäische Union durch die Förderung der Forschung bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Zum Erreichen dieses Ziels wurde ein Bedarf an 700 000 zusätzlichen Forschern in der Europäischen Union errechnet. Diesbezüglich werden folgende, aufeinander abgestimmte Maßnahmen als erforderlich erachtet:

Erhöhung der Attraktivität einer wissenschaftlichen Laufbahn für Jugendliche in der Ausbildung,

Verbesserung der Karrierechancen für Forscher in der Europäischen Union und

Ausweitung der Möglichkeiten im Bereich Bildung und Mobilität.

1.3

Zwar bezieht sich das Ziel von 700 000 zusätzlichen Forschern hauptsächlich auf EU-Staatsangehörige, doch wird anerkannt, dass auch Forscher aus Drittstaaten benötigt werden, um dieses Ziel zu erreichen. Daher konzentriert sich die Kommission in dieser Mitteilung insbesondere auf die Zulassung hochqualifizierter Forscher aus Drittstaaten in die Europäische Union durch:

die Erleichterung der Einreise und des Aufenthalts von Forschern aus Drittstaaten und

die Beseitigung von Hindernissen für die Mobilität von Forschern in Europa.

1.4

Ferner erkennt die Kommission an, dass die Mobilität von europäischen Forschern ins Ausland gefördert werden muss, da ihre Mobilität ein wesentliches Element für den Erwerb und die Verbreitung von Wissen darstellt.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt diese Mitteilung über die Zulassung von Drittstaatsangehörigen in die Europäische Gemeinschaft zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung.

2.2

Da sich das Ziel der Kommission von 700 000 zusätzlichen Forschern bis 2010 hauptsächlich auf EU-Staatsangehörige bezieht, möchte der EWSA die Kommission auf seine frühere Stellungnahme (1) zu der Mitteilung der Kommission über die Probleme von Forschern im europäischen Forschungsraum sowie auf die diesbezüglichen Vorschläge und Maßnahmen (2) verweisen.

2.3

Mit Blick auf die Maßnahme „die Attraktivität einer wissenschaftlichen Laufbahn für Jugendliche in der Ausbildung zu erhöhen“ wird in dieser Stellungnahme betont, dass die Bedeutung der Wissenschaft in den Lehrplänen der Schulen nicht ausreichend berücksichtigt wird; daher wird empfohlen, der Vermittlung wissenschaftlicher, insbesondere naturwissenschaftlicher, aber auch technischer und mathematischer Grundkenntnisse ein größeres Gewicht und eine attraktive Darstellungsform zu verleihen. Daneben ist es wichtig, sich auf Mädchen als Zielgruppe zu konzentrieren, da sie in diesen Fächerbereichen unterrepräsentiert sind. Der Trend, dass sich heute immer weniger Studienanfänger für wissenschaftliche Fächer entscheiden, wird zunehmend durch Beweise erhärtet; wenn dieses Problem nicht unverzüglich angegangen und sorgfältig bedacht wird, wird dies zu einer Beeinträchtigung der Fähigkeit der Europäischen Union führen, viele Forscher hervorzubringen.

2.4

In Bezug auf die zweite Maßnahme, „die Karrierechancen für Forscher in der Europäischen Union zu verbessern“, wird in dieser früheren Stellungnahme das Problem von Forschern erörtert, die im akademischen Bereich oder in mit öffentlichen Mitteln geförderten Forschungseinrichtungen arbeiten und in der Regel nach den Tarifen der öffentlichen Hand besoldet werden, ohne jedoch die soziale Sicherheit und Verlässlichkeit bzw. weitere Vorteile anderer Laufbahnen im öffentlichen Dienst, wie z.B. Verwaltungsbeamte und Lehrer, zu genießen. Tatsächlich ist die soziale Sicherheit für Forscher nicht sonderlich groß oder gar nicht vorhanden, da sie häufig bei einem Wechsel des Arbeitgebers oder des „Karriereschritts“ jeweils erneut eine Serie befristeter Arbeitsverträge erhalten.

2.5

Die letzte Bezugnahme auf diese frühere Stellungnahme, die der EWSA hier anbringen möchte, bezieht sich auf die Mobilität europäischer Forscher. Der EWSA erkennt an, das eine Forschungskarriere im Europäischen Forschungsraum Mobilität und Flexibilität innerhalb der EU voraussetzt. Dies darf jedoch nicht zu Lasten der persönlichen und familiären Lebensverhältnisse und der sozialen Absicherung geschehen. Daneben muss die Kommission in Bezug auf die mögliche Zunahme der Abwanderung gerade der besten jungen Forscher vor allem in die USA tätig werden. Die derzeitigen Probleme, ein Visum für die USA zu erhalten, werden vermutlich nicht auf Dauer bestehen. Hochschuleinrichtungen in den USA verstärken bereits ihren Druck auf die amerikanische Regierung, das Zulassungsverfahren zu beschleunigen, damit sie mehr Staatsangehörige aus anderen Staaten als den USA einstellen können.

2.6

Zurückkommend auf die jetzige Mitteilung der Kommission über die Zulassung von Drittstaatsangehörigen in die Europäische Gemeinschaft zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung stimmt der Ausschuss zu, dass die Beseitigung von Hindernissen für die Mobilität ein entscheidender Faktor ist, wenn die Europäische Union für Forscher aus der ganzen Welt attraktiv werden soll, insbesondere wenn sie im globalen Wettbewerb um die qualifiziertesten Forscher erfolgreich sein will.

2.7

Der Ausschuss schließt sich der Aussage der Kommission an, dass die internationale Dimension der Wissenschaft durch die Globalisierung der immer stärker wissensbasierten Wirtschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt. Doch würde es der EWSA begrüßen, wenn die Globalisierung in der Mitteilung deutlicher zum Ausdruck gebracht worden wäre, indem vergleichende Angaben zur Höhe der Mittel, die Staaten wie Japan und die USA in die Ausbildung, Mobilität und Laufbahnentwicklung von Forschern investieren, in den Kommissionstext aufgenommen würden.

2.8

Daneben ist der EWSA sehr besorgt über die Altersstruktur der heute in der EU tätigen Forscher. Viele Forscher nähern sich gerade dem möglichen Renteneintrittsalter, doch gibt es nur wenige Berufseinsteiger, für die der Forscherberuf so attraktiv ist oder gemacht wird, dass sie auf die frei werdenden Stellen nachrücken wollen. Wenn diese Tatsache nicht berücksichtigt wird und nicht unverzüglich Maßnahmen ergriffen werden, kann die EU ihr Ziel nicht erreichen. Ursachen für die derzeitige Lage sind auch die Bevölkerungsalterung und der Rückgang der Geburtenrate in Europa. Daneben wird davon ausgegangen, dass die Bevölkerungszahl in einigen EU-Staaten nach 2010 abnehmen wird. So gesehen nimmt sich das Ziel von 700 000 zusätzlichen Forschern bis 2010, selbst wenn Forscher aus Drittstaaten angeworben werden können, doch sehr ehrgeizig aus.

2.9

Der EWSA kann nicht nachvollziehen, warum sich die Kommission in ihrer Mitteilung nur auf die Zulassung konzentriert und Forscher aus Drittstaaten, die in ihrem Bereich führend sind, daher nicht von der vorgeschlagenen Richtlinie und den Empfehlungen erfasst werden. Aus diesem Grund empfiehlt der Ausschuss, eine künftige Richtlinie auf das spezifische Problem dieser Gruppe, den Zugang zu hochqualifizierten Arbeitsplätzen, zuzuschneiden, damit das Ziel von 700 000 zusätzlichen Forschern erreicht werden kann. Einige dieser Forscher verfügen über einen Flüchtlingsstatus in der EU, leider werden ihre Qualifikationen und ihr Potenzial derzeit nicht ausgeschöpft. Diese Forscher werden in der EU nicht systematisch, sondern nur von gemeinnützigen Einrichtungen unterstützt. Selbst durch eine bescheidene Mittelausstattung für die Förderung dieser Forscher könnte die Zahl der Forscher in der EU um mindestens 40 000 (3) Forscher erhöht werden. Der Ausschuss fordert die Kommission daher eindringlich auf, eine Möglichkeit für ein Verfahren zu suchen, wie diese Forscher als Forscher eingestuft und anerkannt werden können und leichter Zugang zu Arbeitsplätzen in der Forschung erhalten.

2.10

Der Ausschuss nimmt die Definition der „Forscher“ der Kommission zur Kenntnis. Er verweist in diesem Zusammenhang erneut auf die in seiner früheren Stellungnahme CESE 305/2004, Ziffer 5.1.1.7 empfohlene Definition: „Experten, deren Arbeit der Planung oder der Schaffung von neuem Wissen, Produkten, Verfahren, Methoden und Systemen sowie mit dem Management diesbezüglicher Projekte gilt und die dazu durch Ausbildung und Erfahrung qualifiziert sind“. Diese Definition bietet den Vorteil, dass sie auch die möglichen Managementfähigkeiten eines Forschers berücksichtigt.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1   Vorschläge im Einklang mit der europäischen Forschungspolitik

3.1.1

Die Schaffung eines speziellen Aufenthaltstitels für Forscher aus Drittländern ist nicht das einzige zu lösende Problem. Andere Fragenkomplexe sind etwa der Einwandererstatus des Forschers sowie der Status der Forscher innerhalb der EU, wie er in der EWSA-Stellungnahme 305/2004 erörtert wird. Der EWSA ist ebenfalls der Auffassung, dass die Freizügigkeit von Forschern innerhalb der Gemeinschaft ein Schlüsselaspekt sein wird. Forscher müssen die Möglichkeit haben, eine Beschäftigung zu suchen, und zwar unabhängig von ihrem Einwandererstatus.

3.1.2

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Aufenthaltserlaubnis für Forscher die Arbeitserlaubnis ersetzen soll, und begrüßt diese Bestrebung zur Vereinfachung des ganzen Prozesses.

3.2   Vorschläge zur Ergänzung der Maßnahmen im Bereich der europäischen Einwanderungspolitik

3.2.1

Die von der Kommission empfohlene kontrollierte Öffnung der Kanäle für die legale Einwanderung anhand bestimmter Parameter und Kategorien von Einwanderern ist zu begrüßen. Allerdings müssen diese Kriterien unzweideutig und präzise festgelegt werden. Einige der zugelassenen Migranten werden möglicherweise Asyl und Schutz nach der Genfer Konvention von 1951 benötigen. Neben ihrer Zulassung als Einwanderer, werden sie bei ihrer Einreise möglicherweise zugleich auch den Flüchtlingsstatus beantragen. Der EWSA kann verstehen, dass die Kommission bezüglich dieser Fragen zu diesem Zeitpunkt keine klare Aussage machen kann, würde es aber begrüßen, wenn diese Fragen in nächster Zukunft geregelt würden.

3.2.2

Der EWSA ist mit dem angeregten Visum für den kurzfristigen Aufenthalt, das Freizügigkeit für Drittlandsforscher im Schengenraum beinhaltet, einverstanden. Er unterschreibt ferner, dass langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige, die sich fünf Jahre legal in einem EU-Mitgliedstaat aufgehalten haben, in der gesamten EU Aufenthaltsrecht haben sollten.

3.2.3

Der EWSA stellt zu seiner Zufriedenheit fest, dass die Kommission als einen wesentlichen Aspekt des Mobilitätsproblems anerkennt, dass es den Forschern aus Drittländern gestattet wird, Familienangehörige nachkommen zu lassen.

3.2.4

Der EWSA stellt fest, dass dieser Fragenkomplex in der gesonderten Richtlinie 2003/86 vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung behandelt wird und die Kommissionsmitteilung den Richtlinienvorschlag KOM(2002) 548 endg. über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Aufnahme eines Studiums, einer Berufsbildung oder eines Freiwilligendienstes ergänzt.

3.3   Die zentrale Rolle der Forschungseinrichtungen

3.3.1

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass sich die Aufnahmevereinbarung an dem Aufnahmeprotokoll (protocole d'accueil) in Frankreich orientiert. Die Rollenaufteilung zwischen der Forschungseinrichtung und den Einwanderungsbehörden der Mitgliedstaaten würde zum Einen hochqualifizierten Drittstaatsangehörigen den Zugang zur EU erleichtern und zugleich den Sicherheitsbestimmungen der EU-Mitgliedstaaten Genüge tun.

3.3.2

Dass die Mitgliedstaaten befugt sind zu prüfen, ob eine Aufnahmevereinbarung den Anforderungen von Artikel 5 Absatz 2 genügt, wird vom EWSA begrüßt, weil dadurch Missbrauch vorgebeugt wird.

3.4   Übertragung von Verantwortlichkeit auf die Forschungseinrichtungen

3.4.1

Der Ausschuss hält die Definition einer „Forschungseinrichtung“ der Kommission für nicht weit genug gefasst. Diese Definition sollte um öffentliche oder private Einrichtungen, die der Forschung Mittel zur Verfügung stellen, sowie um Einrichtungen, die in der Forschung tätig sind, erweitert werden.

3.4.2

Der EWSA stellt zu seiner Befriedigung fest, dass das auf dem Europäischen Gipfel in Barcelona gesteckte Ziel noch einmal bekräftigt wird, die Investition in FTE bis zum Jahr 2010 auf 3 % des BIP zu steigern, von denen 2/3 vom Privatsektor aufgebracht werden sollen.

3.4.3

Der EWSA möchte der Kommission dringend raten, den privaten Sektor zu diesem Vorschlag im allgemeinen sowie speziell zu der Empfehlung zu konsultieren, dass die Forschungseinrichtung die Aufnahmevereinbarung erstellt, die den Auslöser für das Verfahren für die Zulassung eines Forschers in einem Mitgliedstaat darstellt.

3.5   Eine breite Definition von Forschern nach Maßgabe der Bedürfnisse der Europäischen Union

3.5.1

Der EWSA unterschreibt die Empfehlung der Kommission, das Verfahren nicht auf Personen zu beschränken, die in ihrem Herkunftsland bereits als Forscher angesehen werden.

3.5.2

Mit der Beschränkung bezüglich des Zwecks der Zulassung ist er allerdings nicht einverstanden. Es gibt nämlich durchaus Fälle, in denen Personen die Mindestvoraussetzungen für die Anerkennung als Forscher erfüllen, wie in der Richtlinie vorgesehen, aber der ursprüngliche Zweck ihrer Zulassung zu einem Mitgliedstaat nicht die Durchführung eines Forschungsprojekts ist. Solche Forscher haben möglicherweise bereits eine Qualifikation in der EU erworben und suchen einen entsprechenden Arbeitsplatz.

3.5.3

Der EWSA stellt zu seiner Genugtuung fest, dass die Anforderungen hinsichtlich der Qualifikationen der Personen, um deren Zulassung es geht, und bezüglich des wissenschaftlichen Werts der geplanten Forschungsarbeiten klar und unzweideutig gehalten sind. Auch wenn dies nicht Gegenstand der Kommissionsmitteilung ist, müsste es nach seiner Ansicht doch gewissen Handlungsspielraum für die Bewertung der Qualifikationen von Forschern geben, so dass die EU auf die sich wandelnden Forschungsanforderungen reagieren kann. Es werden nämlich ständig neue Technologien entwickelt, und die EU muss bestrebt sein, Forscher einzustellen, die solche Techniken entwickeln und verfeinern können.

3.5.4

Der EWSA macht die Kommission auf eine frühere Stellungnahme (4) aufmerksam, in der ein anderes Mobilitätshemmnis herausgestellt wird, und zwar die mangelnde Transparenz bei den beruflichen Qualifikationen und Kompetenzen. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass in vielen Fällen Qualifikationen nicht anerkannt werden, insbesondere in Entwicklungsländern erworbene Qualifikationen. Forscher müssen sich noch einmal qualifizieren oder postuniversitäre Studien absolvieren, um Forscher in der EU werden zu können. Der EWSA regt an, den Aktionsplan der Kommission (5) zur Erleichterung der Mobilität innerhalb der EU – zumal die Anwendung und Entwicklung von Instrumenten zur Unterstützung der Transparenz und Übertragbarkeit von Qualifikationen sowie die Einrichtung einer Website zur Mobilität als einheitliche europäische Anlaufstelle für einschlägige Informationen – auch für dieses Problem zum Einsatz zu bringen.

3.6   Der Aufenthaltstitel ist unabhängig von der Rechtsstellung als Forscher

3.6.1

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, für Drittlandsforscher einen gemeinschaftsweit einheitlichen Rechtsstatus vorzusehen.

3.6.2

Ferner befürwortet er die Empfehlung, dass aufgrund eines Arbeitsvertrags zugelassene Forscher keine Arbeitserlaubnis in den Mitgliedstaaten mehr benötigen.

3.7   Die Mobilität der Forscher in der Europäischen Union

3.7.1

Der EWSA begrüßt die Empfehlung der Kommission, das Zulassungsverfahren im Interesse der Mobilitätsförderung zu vereinfachen, so dass Drittstaatsangehörige ein Forschungsprojekt in mehreren Mitgliedstaaten durchführen können, ohne dort auf Zulassungsschwierigkeiten zu stoßen.

3.7.2

Dies soll auch für langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige gelten.

3.8   Wahl der Rechtsgrundlage für die vorgeschlagene Richtlinie

3.8.1

Der EWSA ist mit der gewählten Rechtsgrundlage einverstanden, bedauert jedoch, dass diese Richtlinie nicht für Dänemark und das Vereinigte Königreich verbindlich ist. Er stellt fest, dass Irland beschlossen hat, sich dieser Richtlinie anzuschließen, und hofft, dass das Vereinigte Königreich das Gleiche tun wird. Diese Frage sollte unbedingt noch einmal überdacht werden, denn die Basis für die Forschungsarbeit – zumal im Vereinigten Königreich – ist so geartet, dass die Anstrengungen der EU zur Anziehung der entsprechenden Forscher in erforderlicher Zahl ernsthaft belastet würden, wenn diese Mitgliedstaaten nicht mitmachten.

3.9   Sonstige Fragen

3.9.1

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Anziehung potenzieller Forscher durch die EU als Problem erkannt werden muss und das Problem des „Brain drain“ aus einigen Drittländern eingehend erörtert werden muss. Zwischen diesen beiden Problemkreisen besteht ein gewisser Zusammenhang. Das Problem der Ausbildung von Forschern in der EU sollte genau unter die Lupe genommen werden. Einige potenzielle Forscher brauchen möglicherweise eine gewisse zusätzliche Ausbildung oder eine etwas längere Studienzeit. In vielen Fällen könnten sie sich danach umgehend um eine Stelle als Forscher in der EU bewerben. Die Richtlinie sollte auch unter diesem Aspekt betrachtet werden.

3.9.2

Der EWSA ist über die Folgen eines „Brain drains“ aus einigen Entwicklungsländern äußerst besorgt und vertritt die Ansicht, dass eine verstärkte Debatte darüber geführt werden sollte, wie die Zahl der Forscher weltweit gesteigert werden kann. Einige Staaten ermutigen Forscher zu Auslandsaufenthalten, damit diese Erfahrungen sammeln, von denen ihr Herkunftsland profitieren kann. Der niederländische Vorsitz ist Gastgeber einer Konferenz mit dem Titel „Brain Gain The Instruments“. Die Auswirkungen des Brain drain oder Brain gain für die Entwicklungsländer sollen im Rahmen dieser Veranstaltung betrachtet werden; die Kommission wird Ende des Jahres einen Bericht zu diesem Thema vorlegen. Der EWSA hält dies für einen guten Einstieg zur Bewältigung eines sehr ernsten Problems.

3.9.3

Der EWSA möchte an dieser Stelle einen Aspekt herausstellen, der in der vorhergehenden Mitteilung der Kommission betreffend Forscher (KOM(2003) 436 endg.) zur Sprache kam, und zwar die Gleichberechtigung. Es ist auf die Unterrepräsentierung von Forscherinnen vor allem im Management und bei Führungspositionen hinzuweisen. Dies gilt insbesondere für Forscherinnen aus Drittländern. Der EWSA möchte an die Empfehlung der Kommission bezüglich eines Verhaltenskodex' für die Einstellung von Forschern auf der Grundlage bewährter Vorgehensweisen insbesondere hinsichtlich der Chancengleichheit erinnern. Der Ausschuss ist der festen Überzeugung, dass bei Forscherinnen eine starke Ungleichbehandlung stattfindet, was schon daran zu erkennen ist, dass sich nicht annähernd genügend Forscherinnen um Stellen bewerben und wenn sie dies tun, sie niedrigere Positionen annehmen müssen, als ihrer beruflichen Qualifikation entsprechen. Die Transparenz des Einstellungsverfahrens muss verbessert werden, und außerdem muss die Zahl der weiblichen Bewerber gesteigert werden.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  ABl. C 110 vom 30.4.2004, S. 3, Berichterstatter: Herr Wolf.

(2)  KOM(2003) 436 endg.

(3)  Diese Zahl basiert auf einer Hochrechnung der derzeit verfügbaren statistischen Daten.

(4)  Stellungnahme CESE 658/2004 vom 28. April 2004, Berichterstatter: Herr Dantin.

(5)  KOM(2002) 72 endg.


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/64


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Ausbildung und Produktivität“

(2005/C 120/13)

Mit Schreiben des Staatssekretärs für europäische Angelegenheiten, Atzo Nicolaï, vom 22. April 2004 ersuchte der künftige niederländische Ratsvorsitz den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um eine Stellungnahme zu folgendem Thema: „Ausbildung und Produktivität“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 22. September 2004 an. Berichterstatter war Herr KORYFIDIS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 28. Oktober) mit 81 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Bezugsrahmen der Stellungnahme

1.1

Entsprechend dem Ersuchen des niederländischen Vorsitzes orientiert sich der Inhalt der Sondierungsstellungnahme an:

dem Arbeitsprogramm des niederländischen Vorsitzes und insbesondere dem Abschnitt mit dem Titel „Ein soziales Europa, offen für den Wandel“  (1);

dem Beschluss des Europäischen Rates von Brüssel (2) (25./26. März 2004), die Herausforderung von Lissabon anzunehmen, und insbesondere der Aufforderung an die Adresse des EWSA „zu prüfen, wie die Lissabonner Strategie wirksamer umgesetzt werden kann“ (3);

dem Bestreben, im zweiten Halbjahr 2004 zu einer Einigung der 25 Mitgliedstaaten über die neue sozialpolitische Agenda (2006-2010) (4) zu gelangen;

die vergleichende Betrachtung und Einbeziehung der Ziele von Lissabon und Göteborg (5) im Rahmen dieser Einigung;

die Erforschung, Identifizierung und Darlegung der Gründe für die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der politischen Maßnahmen betreffend lebensbegleitendes Lernen und der Steigerung der Effizienz der politischen Maßnahmen im Bereich der beruflichen Weiterbildung.

1.1.1

Es ist darauf hinzuweisen, dass der vom niederländischen Vorsitz vorgeschlagene Gesamtrahmen für sozial- und beschäftigungspolitische Fragen auf einer hochrangig besetzten Konferenz am 25./26. Oktober 2004 in Amsterdam zum Thema „More People to Work: Policies to activate Europe's labour potential“ (Mehr Beschäftigung schaffen – Politische Strategien zur Aktivierung des europäischen Arbeitskräftepotenzials) erörtert werden soll.

1.1.2

Auf dieser Konferenz soll ermittelt werden, welche strukturellen Veränderungen in den vier Politikbereichen (6) unter gleichzeitiger Stärkung der Partizipation und der Wahrung des sozialen Zusammenhalts erforderlich sind.

1.1.3

Der niederländische Vorsitz hat den EWSA in seinem Stellungnahmeersuchen gebeten, sich auf folgende Aspekte zu konzentrieren:

Welche sind die größten Hindernisse für die Umsetzung der einzelstaatlichen und gemeinschaftlichen Politiken im Bereich der beruflichen Weiterbildung und wie kann ihnen begegnet werden?

Welche Instrumente sind für Förderung der beruflichen Weiterbildung am effizientesten?

Inwieweit beeinflusst die Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen am Ausbildungsprozess beteiligten Seiten (wie z.B. Regierung, Sozialpartner, aber auch Arbeitnehmer und Arbeitgeber) die Konzeption und die erfolgreiche Gestaltung der beruflichen Weiterbildung? Wie müsste die effizienteste Kompetenzverteilung aussehen und wie lässt sie sich bewerkstelligen?

2.   Einleitung

2.1

Der EWSA hält das Ersuchen des niederländischen Vorsitzes um Ausarbeitung der vorliegenden Stellungnahme für sehr bedeutend. Noch wichtiger erscheinen ihm aber Inhalt und Dimension des Stellungnahmeersuchens, berühren diese doch die weiteren Ziele und die großen Probleme der Europäischen Union bezüglich der nachhaltigen Entwicklung und insbesondere im Bereich der Beschäftigung, der Produktivität und des Wirtschaftswachstums.

2.2

Ohne von der Auflage, sich auf die vom niederländischen Vorsitz vorgegebenen Fragestellungen zu konzentrieren, abweichen zu wollen, hält es der EWSA für sehr wichtig, diesen schwerpunktmäßigen Ansatz in einen Gesamtrahmen einzubetten (7). Einen Rahmen, der die gesamte Bandbreite der Sichtweise des Ausschusses bezüglich des Geschehens in der Europäischen Union auf diesen Gebieten umfasst.

3.   Begriffsbestimmungen  (8)

3.1

Unter dem Begriff (berufliche) Bildung ist zu verstehen: „Erwerb, Erneuerung und Aktualisierung vor allem des Fachwissens und der fachlichen Fertigkeiten“.

3.2

Die Erstausbildung bezieht sich auf die Phase des Erwerbs erster und grundlegender Kenntnisse und Fertigkeiten im Zusammenhang mit dem jeweils auszuübenden Beruf. In zahlreichen Mitgliedstaaten wird die Erstausbildung durch die Lehrlingsausbildung verstärkt, welche diverse Lernformen mit betrieblich bezogener Arbeitspraxis verknüpft.

3.3

Die berufliche Weiterbildung bzw. Fortbildung bezieht sich auf arbeitsmarkt- bzw. betriebsrelevantes Lernen, das sich auf bereits vorhandene Qualifikation und Erfahrung stützt, um Wissen und Kompetenz zu aktualisieren, zu erweitern und für andere bzw. neue Berufsfelder und betriebliche Aufgaben zu qualifizieren. Die berufliche Weiterbildung zielt in erster Linie auf Bürger und Bürgerinnen, die im aktiven Erwerbsleben stehen, d.h. die über eine Erstausbildung ggf. auch als angelernte Beschäftigte ohne formellen Ausbildungsabschluss verfügen und entweder sich in einem Beschäftigungsverhältnis befinden oder als arbeitslos gemeldet sind und in diesem Zusammenhang an Weiterbildungsfördermaßnahmen sowie Umschulungskursen teilnehmen. Hinzu steht es jedem offen, am vielfältigen allgemeinen und berufsbezogenen Bildungsangebot teilzunehmen, das entweder öffentlich oder privat und in den unterschiedlichsten Lernformen zur Verfügung steht.

3.4

Europäische Berufsbildungssysteme unterscheiden sich zwischen den EU-Mitgliedstaaten erheblich. Sie differieren selbst innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten, da sie einem ständigen Anpassungsprozess an die Anforderungen der Berufs- und Arbeitswelt unterliegen. Eine präzise und direkt übertragbare Begriffsbestimmung stellt sowohl in der Deutung als auch sprachlich eine Dauerherausforderung dar. Durchgängig wesentlich ist jedoch die jeweilige Zusammensetzung des berufsbildenden Angebots zwischen Bildungseinrichtungen und betrieblich geankerten Lernorten. Die Gewichtung kann im Erstausbildungs- als auch im Weiterbildungsbereich sowie nach Qualifikationsniveau, Industriesektor und Berufssparte unterschiedlich ausfallen. Ähnliches gilt für die Art des Angebots, das insgesamt sowohl Seminare, Module und Kurse von unterschiedlicher Dauer als auch ausgedehnte berufsbezogene Studiengänge umfassen kann. Darüber hinaus erkennen die Berufsbildungs- sowie Qualifizierungssysteme und schließlich auch Bildungseinrichtungen und Arbeitgeber nicht-formale und informelle Lernprozesse (9).

3.5

Unter dem Begriff lebensbegleitendes Lernen versteht man „alles Lernen während des gesamten Lebens, das der Verbesserung von Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen dient und im Rahmen einer persönlichen, zivilgesellschaftlichen, sozialen bzw. beschäftigungsbezogenen Perspektive erfolgt“ (10). Das lebensbegleitende Lernen gewinnt infolge der Lissabonner Ratsbeschlüsse eine herausragende politische Bedeutung, und zwar als Leitbegriff für die allseits erkannte Notwendigkeit einer gründlichen Erneuerung des europäischen Bildungsmodells im Zeichen des Übergangs in eine wissensbasierte Wirtschaft und Gesellschaft (11). Einer entsprechenden und konsequenten Fortentwicklung bzw. Umwandlung der Strukturen, der Wirkungsweisen und der Lehr- und Lernmethoden der gegenwärtigen allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme kommt für das Erreichen der Lissabonner Zielsetzungen eine Schlüsselbedeutung zu. Folglich wird die neue Generation der gemeinschaftlichen Aktionsprogramme für allgemeine und berufliche Bildung ab 2007 unter einem gemeinsamen Dach des lebensbegleitenden Lernens vereint (12).

3.5.1

Eine praktische und umfassende Verwirklichung des lebensbegleitenden Lernens steht in vielerlei Hinsicht noch aus, sowohl in Hinblick auf Angebotsstrukturen, Zugangsmöglichkeiten und auch gesellschaftliche Nachfrage bzw. Teilnahmequoten der Bevölkerung in ihrer Gesamtzusammensetzung. Die europäischen Agenturen CEDEFOP und ETF haben Beachtliches geleistet, um den Mitgliedstaaten generell und in gezielter Weise den diversen Interessensparteien sowie den einschlägigen Akteuren der Bildungswelt zu ermöglichen, Denkansätze, Information und Erfahrungen untereinander auszutauschen (13). In der Praxis jedoch stehen als wesentliche Probleme u.a. noch an:

jeden (formellen oder informellen) Lernprozess in die Logik des lebensbegleitenden Lernens einzureihen,

ihn mit dem Aufbau der Wissensgesellschaft und –wirtschaft zu verbinden,

ihn mit der nachhaltigen Entwicklung und den heutigen Herausforderungen der Globalisierung zu kombinieren,

insbesondere, ihn als Hebel für die Entwicklung der Produktion, der Gesellschaft und der Kultur auf lokaler Ebene zu fördern,

einen europäischen Raum des lebensbegleitenden Lernens zu schaffen,

seine verschiedenen Ergebnisse ertragbringend einzusetzen und zu zertifizieren,

ihn zu finanzieren.

3.5.2

Wie vorstehend dargelegt, geht es im Rahmen der Bestrebungen zur Institutionalisierung des lebensbegleitenden Lernens sowohl um eine Neuverteilung der Rollen und Zuständigkeiten als auch um ein neues Umfeld für die Zusammenarbeit auf sämtlichen Ebenen, insbesondere der lokalen Ebene, wo mit Blick auf die Verwirklichung der Ziele von Lissabon der Bedarf einer intensiven Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Stellen, den Sozialpartnern sowie generell der Zivilgesellschaft besteht.

3.6

Formal entspricht nach Darstellung der Kommission die Arbeitsproduktivität  (14) dem mengenmäßigen Arbeitseinsatz, der zur Produktion einer Einheit eines bestimmten Wirtschaftsguts erforderlich ist. Makroökonomisch wird die Arbeitsproduktivität anhand des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Erwerbstätigem gemessen (15). Produktivitätssteigerung ist die wichtigste Quelle wirtschaftlichen Wachstums (16).

4.   Die Berufsbildungspolitik der Europäischen Union

4.1

Die Europäische Union „führt eine Politik der beruflichen Bildung, welche die Maßnahmen der Mitgliedstaaten unter strikter Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für Inhalt und Gestaltung der Bildung unterstützt und ergänzt“ (17). Die Kopenhagener Beschlüsse des Jahres 2002 markieren einen qualitativen Schritt nach vorne bei der Fortentwicklung dieser Politik, die ebenfalls auf Kohärenz und Synergie mit der Lissabon-Agenda „Allgemeine und berufliche Bildung 2010“ hinwirkt (18). In die gleiche Richtung geht auch der gemeinsame Zwischenbericht des Rates und der Kommission (vom April 2004) über die Maßnahmen im Rahmen des detaillierten Arbeitsprogramms zur Umsetzung der Ziele der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in Europa (19).

4.1.1

Die europäischen Agenturen CEDEFOP und ETF unterstützen die Entwicklung der beruflichen Bildung in konkreter Form. Insbesondere ergänzen sie die Umsetzung der Leitlinien der europäischen Berufsbildungspolitik durch die Erstellung, Verbreitung und Austausch von Information, Erfahrung und Beispiele der guten Praxis, durch Auftragsstudien und –berichte sowie durch Aufarbeitung und Analyse von relevanten Forschungsarbeiten und Praxiserfahrungen. Das europäische Informationsnetz Eurydice (20) vernetzt die Systeme und die Akteure der allgemeinen Bildungssysteme auf ähnliche Weise. Diese drei Organisationen arbeiten in konstruktiver Kooperation miteinander, die mit der wachsenden Bedeutung des lebensbegleitenden Lernens – das eine zunehmende Kooperation und Verflechtung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung mit sich bringt – in ihrem Umfang ständig zunimmt.

4.1.2

Ziel des Programms Leonardo da Vinci (21) ist die Umsetzung der Politik der Union im Bereich der Berufsbildung. Es leistet „durch die Entwicklung eines europäischen Raums der Zusammenarbeit in der Bildung und Berufsbildung einen Beitrag zur Förderung eines Europas des Wissens“ und „unterstützt die Politik der Mitgliedstaaten im Bereich des lebensbegleitenden Lernens sowie die Aneignung von Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen, die den umfassend informierten, mündigen Bürger ausmachen und dessen Beschäftigungsfähigkeit verbessern“  (22). Die Durchführung des Programms wird von den Mitgliedstaaten geleitet.

4.1.3

Im Rahmen der Entwicklung und Umsetzung des LLL ist auch insbesondere auf die Aktion „Grundtvig“ des aktuellen Sokrates II – Programms hinzuweisen, die sich um die Förderung eines integrierenden Bildungsansatzes über das gesamte Spektrum der Erwachsenenbildung hinweg bemüht (23).

4.2

Es ist darauf hinzuweisen, dass die einzelstaatlichen allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme grundsätzlich infolge eines bestimmten Bedarfs eingerichtet und entwickelt wurden, den der Arbeitsmarkt im Laufe der Zeit und von Fall zu Fall hervorgebracht hat. Folglich fand ihre Entwicklung in einem langsamen Tempo statt, das dem des Marktes entspricht. Gleichzeitig weisen sie aus den gleichen Gründen starke Unterschiede auf, was heute Probleme mit der Koordinierung, der Assimilierung einschlägiger bewährter Praktiken und des gegenseitigen Verständnisses der jeweils verwendeten Begriffe und Konzepte verursacht.

4.3

Die Mittel der Europäischen Union für berufliche Bildung belaufen sich im Jahre 2004 auf 194 533 900,00 EUR, davon 163 Mio. EUR für das Programm Leonardo da Vinci. Zum Vergleich: Die Ausgaben für Bildung jedweder Art und Ebene mit Ausnahme der Ausbildung belaufen sich auf 268 848 500,00 EUR; die Gesamthaushaltsmittel der Generaldirektion Bildung und Kultur betragen dagegen 783 770 054,00 EUR, gegenüber einer Gesamthöhe des EU-Haushalts von 92 370 071 153,00 EUR (24).

4.3.1

Diese im Vergleich zu der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der beruflichen Bildung magere Budgetausstattung spiegelt sich auf mitgliedstaatlicher Ebene wider. Es herrscht allgemeine Übereinstimmung unter den maßgeblichen Akteuren auf allen Entscheidungs- und Aktionsebenen, dass die Gesamtmittel, die dem Bildungsbereich insgesamt zur Verfügung stehen, unzureichend sind, um die eigenen Zielsetzungen zu erreichen.

4.4

Ferner ist festzustellen, dass der durchschnittliche Prozentsatz der Unionsbürger, die sich beruflich weiterbilden, niedrig ist (8,4 %) (25). Das diesbezügliche Ziel der Europäischen Union für 2010 besteht darin, diesen Prozentsatz auf 12,5 % der potenziell erwerbstätigen Bevölkerung (d.h. die Altersgruppe zwischen 25 und 64 Jahren) anzuheben (26).

4.5

Eine leistungsfähige und zukunftsorientierte berufliche Weiterbildung ist integrativer Bestandteil der erfolgreichen praktischen Umsetzung des lebensbegleitenden Lernens. Es ist offenkundig, dass die heutigen Systeme zusammen mit ihren Lernprozessen und -ergebnissen den Anforderungen weder quantitativ noch qualitativ genügen. Dieses Gesamturteil schließt keineswegs aus, dass es in bestimmten Sparten und Kontexten hochwertige und effektive berufliche Weiterbildungsangebote gibt. Als Beispiele könnten einerseits betriebsintern organisierte Lehrgänge gelten, die den spezifischen Bedarf eines bestimmten Unternehmens decken, und andererseits sektoralbezogene Angebote (27), die von den europäischen Sozialpartnern bzw. in Zusammenarbeit mit diesen entwickelt wurden.

5.   Die Politik der Europäischen Union zur Steigerung der Produktivität

5.1

Alle Daten der einschlägigen Studien der Europäischen Kommission der letzten Jahre zeigen, dass die Entwicklungen im Bereich der Produktivität innerhalb der Europäischen Union negativ verlaufen. „In der zweiten Hälfte der 90er Jahre verzeichneten die USA nach einer Periode erheblicher Verlangsamung beschleunigte Zuwächse sowohl der Arbeitsproduktivität (von durchschnittlich 1,2 % im Zeitraum 1990-95 auf 1,9 % im Zeitraum 1995-2001) als auch der Beschäftigung (von 0,9 % auf 1,3 %). In der EU verlangsamte sich der Zuwachs der Arbeitsproduktivität (von durchschnittlich 1,9 % in der ersten Hälfte des Jahrzehnts auf 1,2 % im Zeitraum 1995-2001), doch hat sich der Beschäftigungszuwachs erheblich verbessert (von einem Rückgang um 0,6 % in der ersten Hälfte des Jahrzehnts auf 1,2 % im Zeitraum 1995-2001)“  (28).

5.2

Gravierende Unterschiede zwischen den Produktivitätsquoten der einzelnen EU-Mitgliedstaaten sind nachweislich vorhanden. In ihrer Mitteilung mit dem Titel „Produktivität: Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften und Unternehmen“  (29) geht die Europäische Kommission den Gründen für diesen Sachverhalt nach und beschreibt, welche Auswirkungen sich daraus für die Ziele von Lissabon ergeben könnten. In dieser Mitteilung werden die starken Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten in diesem Bereich identifiziert und dargelegt und darauf hingewiesen, dass „Das Wirtschaftswachstum […] sich nur durch erhöhte Produktivität steigern [lässt]. Fortschritte auf dem Gebiet von IKT und Innovation sowie Arbeitskräfte, die den Bedürfnissen des verarbeitenden Gewerbes besser entsprechen, sind die beiden Faktoren, die als entscheidend für eine bessere Produktivität der Unternehmen anzusehen sind“  (30) .

5.3

Nach Ansicht des EWSA ist die Steigerung der Produktivität in der Union der Schlüssel für ihre Zukunft überhaupt. Des Weiteren ist er der Auffassung, dass jedwede gemeinsame Anstrengungen zur Steigerung der Produktivität im Rahmen und unter Zuhilfenahme des europäischen Sozialmodells ins Werk gesetzt werden können und müssten. Diese Anstrengungen müssen sich an alle europäischen Bürger richten und von diesen angenommen werden, sie müssen eine mittel- bis langfristige Entwicklungsperspektive beinhalten, sie müssen systematisch und im Sinne einer Kombination von wissensgestützten politischen Weichenstellungen und praktischen Maßnahmen angelegt sein. Und schließlich müssen nach seinem Dafürhalten bei der Verwirklichung dieser Anstrengungen die Synergien zwischen den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft ganz allgemein und den öffentlichen Behörden – vor allem der lokalen Ebene – eine zentrale Rolle spielen.

6.   Das Verhältnis zwischen Ausbildung und Produktivität

6.1

Allgemeiner gesehen erscheinen bezüglich des Charakters der Problematik folgende Klarstellungen erforderlich:

Produktivität ist eine Größe, die nur zum Teil, aber doch maßgeblich vom Wissen beeinflusst wird: „Fragen wie Investitionsniveau, Arbeitsorganisation, Teilhabemaßnahmen, Schaffung eines innovationsfreundlichen Arbeitsumfelds, neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Privatwirtschaft sowie neue Formen für den Zugang zu Risikokapitel sollten Bestandteile eines weiter gefassten Ansatzes für die Förderung des Produktivitätswachstums in der Europäischen Union sein“  (31) . Die Steigerung der Produktivität ist mithin ein Problem, das über die Verbesserungen jedweder Art des Berufsbildungssystems hinausreicht.

Die berufliche Bildung kann bei den heutigen Verhältnissen die Produktivität - und mithin auch die die Wettbewerbsfähigkeit und die Verwirklichung der Ziele von Lissabon - in dem Maße spürbar beeinflussen, wie sie in einen breiteren bildungspolitischen Gesamtrahmen eingebettet ist (32). Einen Rahmen, der ein zwar elementares, aber gleichwohl operationelles System der inneren Kommunikation (auf regionaler, einzelstaatlicher und gemeinschaftlicher Ebene) beinhaltet. In diesem Rahmen müssen ferner alle Formen der allgemeinen und beruflichen Bildung Teilkomponenten des lebensbegleitenden Lernens sein. Und schließlich muss dieser Rahmen von Zielen und Inhalt her strukturiert und ausgerichtet sein auf ein Umfeld hoher und vielfältiger Mobilität (33).

Produktivität und berufliche Bildung müssen auf allen Ebenen geprüft und miteinander kombiniert werden, auch auf der Ebene des Arbeitsplatzes, wo die meisten Entscheidungen über die Finanzierung von und den Zugang zu beruflicher Weiterbildung getroffen werden. Schließlich muss dieses Unterfangen in gemeinsamer Anstrengung erfolgen, selbst in denjenigen Fällen, in denen die Probleme auf den ersten Blick privater Natur erscheinen.

In jedem Falle ist es sehr wichtig, dass diejenigen Regionen der Union, die bei der Entwicklung eines zeitgemäßen Berufsbildungssystems hinterherhinken, und vor allem die neuen Mitgliedstaaten von der Union unterstützt werden.

6.2

Vor diesem Hintergrund sollten die Systeme und Initiativen der beruflichen Erstausbildung und erst recht die berufliche Weiter- und Fortbildung weiterentwickelt werden, um effizienter zu arbeiten als in der heutigen Situation (34).

6.2.1

Heute setzt die Entwicklung eines zeitgemäßen Systems zur Aktualisierung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Qualifikationen eine andere Kombination von Ausrichtungen, Kenntnissen, Zielen, Funktionsrahmen und Anreizen voraus als bisher. Insbesondere erfordert dies:

sich mit den neuen globalen Werten (u.a. bezüglich Raumordnung, Wirtschaft, Technologie, Kultur und Bevölkerung) vertraut zu machen;

die Logik und die Funktionsweise des Weltmarkts sowie die neuen Formen weltweiter Regierungs- und Wirtschaftsführung im Allgemeinen und Besonderen zu kennen;

eine Ausrichtung auf die Erfordernisse und Erwartungen der wissensbasierten Gesellschaft und Wirtschaft durch die Entwicklung innovativer, attraktiver und flexibler Programme;

sich der neuen Bruchlinien bewusst zu werden, die das weltweite Produktionssystem heute aufweist, sowie der Notwendigkeit, entsprechende Gegenmittel zu entwickeln;

die Wettbewerbsformen und den Rahmen für den Wettbewerb als Instrument für Mobilität und Innovation innerhalb und außerhalb der Grenzen der Union neu zu definieren;

die Beweggründe für die Teilnahme an einer Ausbildungsmaßnahme neu zu definieren, vor allem indem angegeben wird, wie der durch sie geschaffene Mehrwert weitergegeben werden soll;

sich der drei Dimensionen bewusst zu werden, die das Konzept der Nachhaltigkeit und seine Übertragung auf die individuelle und kollektive Lebensweise umfassen. (35)

6.2.2

Die vorgenannten Bedingungen können nicht in jeder Form und jedem Typus der beruflichen Aus- und Weiterbildung übernommen werden. Sie sind Gegenstand systematischer Bildungsmaßnahmen (36), in die mehrere Aspekte einfließen und die längerfristig angelegt sind (Lernen + Unterricht), um so in die Bildungskultur (Sozialisation) zu münden, in der das Wissen als treibende Kraft des Fortschritts und die Synergie in einer Wirkungskraft zugunsten der nachhaltigen Entwicklung aufscheinen.

6.3

Folglich ergibt sich nach Ansicht des EWSA als logische Antwort auf die zwei ersten Fragen des niederländischen Vorsitzes Folgendes:

6.3.1

Bei ihrer heutigen Wesensart und ihren gegenwärtigen Funktionsweisen können die europäischen beruflichen Bildungssysteme, sowohl im Bereich der Erstausbildung als auch erst recht der Weiterbildung, den Anforderungen der Wissensgesellschaft und einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung nur schwer gerecht werden. Konkrete Probleme der genannten Ausbildungssysteme sind u.a.:

Ihre Ausrichtung: Diese Systeme waren und sind weiterhin in hohem Maße auf die Verringerung punktueller Probleme eines Produktionsumfelds mit geringer Mobilität ausgerichtet.

Ihr Handlungsfeld: Bei der weiter oben behandelten Ausrichtung der europäischen Berufsbildungssysteme muss das Besondere als Teil des Erscheinungsbildes einer Gesamtheit, wie sie heute die Globalisierung der Wirtschaft verlangt, besser in das Allgemeine einbezogen und ein besseres Bewusstsein für das Ganze entwickelt werden.

Ihre Mobilität: Durch ihre Ausrichtung und ihr Handlungsfeld ist jede Form von Mobilität der vorgenannten Systeme intern wie extern teils recht schwierig: die Mobilität bei der Verbreitung neuer Ideen, der Entwicklung von Netzwerken, der Weiterentwicklung von Innovationen und der Ausarbeitung politischer Maßnahmen zur Lösung der Probleme.

Ihr Kontakt zum aktuellen Wissensstand: Abgesehen von individueller Aufnahme- und Umsetzungsfähigkeit des Aus- und Weiterbildungspersonals besteht für die vorgenannten Systeme nach wie vor in der Regel kein Zwang, wissenschaftliche, technologische, produktive oder andere Entwicklungen einzubeziehen.

Ihr Bezug zum Arbeitsmarkt: Die allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme werden den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes nicht gerecht, dergestalt dass bestimmte neu aufkommende Qualifikationen und breiter angelegte Fertigkeiten sozialer und persönlicher Art dünn gesät sind.

Ihre Koordinierung: Die Koordinierung von Systemen ist in vielen Mitgliedstaaten ein Problem. Das heißt, dass jedes einzelne berufliche Aus- und Weiterbildungssystem völlig isoliert vom restlichen Bildungssystem sowie getrennt von den anderen Systemen auf Unionsebene und selbstverständlich vom wirtschaftlichen und sozialen Umfeld funktioniert.

6.3.2

Ferner gibt es einige Schwachstellen bei den Strategien, Zielen, Instrumenten und Bildungspraktiken, die die europäischen allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme lähmen. In diesem Zusammenhang ist vor allem Folgendes festzustellen:

Die konkrete Umsetzung des lebensbegleitenden Lernens sollte unverzüglich fortentwickelt werden und dies auf allen zuständigen Ebenen der Politik und der Praxis.

Stärkere soziale Kohäsion und mehr Mobilität sind übergeordnete europäische Bildungsziele und ihnen sollte entsprechende Priorität bei der konkreten Umsetzung durch die zuständigen Instanzen und Akteure eingeräumt werden.

In vielen Ausbildungsgängen fehlt der Praxisbezug, worunter die Beschäftigungsbefähigung leidet.

Bildungsinhalte werden oftmals zu eng an kurzfristigen Marktsituationen ausgerichtet und führen damit langfristig zu Entwicklungen, die an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes vorbeigehen.

Es bestehen aufgrund inkompatibler Ausbildungsabschlüsse und Qualifikationen sowie fehlender Fremdsprachenkenntnisse größte Mobilitätshemmnisse zwischen den Mitgliedstaaten fort.

7.   Problemstellungen und Überlegungen in Bezug auf den Kampf um Produktivität in Europa

7.1

Die genannten Feststellungen führen zu der Bewertung, dass das Ringen um Produktivität in Europa nicht auf der richtigen Ebene und nicht zum richtigen Zeitpunkt stattfindet. Dieser Kampf hätte bereits auf der Ebene der Grundbildung und -ausbildung zum Erwerb der Kernkompetenzen ausgetragen werden müssen (37), und er sollte mit derselben Intensität im Rahmen des lebensbegleitenden Lernens (38) fortgesetzt werden (siehe vorstehende Ziffer 3.5).

7.2

Daher beziehen sich die folgenden Vorschläge auf alle bildungspolitischen Maßnahmen - unabhängig davon, welchem Zuständigkeitsbereich sie zuzuordnen sind - und sind Teil einer einheitlichen Logik, die unerlässlich ist für eine groß angelegte, koordinierte Kampagne, die darauf abzielt, alle europäischen allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme so rasch wie möglich an das derzeitige europäische und internationale Umfeld anzupassen. Im Einzelnen wird Folgendes vorgeschlagen:

7.2.1

Eine umfassende und kritische Überprüfung der Strukturen und wechselseitigen Beziehungen der europäischen allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme. Eine solche Bestandsaufnahme, die die Entwicklung eines guten Kommunikations-, Zusammenarbeits- und Partnerschaftsniveaus zwischen den Teilsystemen der verschiedenen Bildungsformen fördern wird, um den Herausforderungen der Globalisierung und der daraus resultierenden Mobilität auf effiziente Weise gerecht zu werden. Und auch eine Überprüfung, die durch ein Vergegenwärtigen der Position und der Rolle bestimmt wird, die Europa als weltweitem Partner in den neuen Formen der politischen und wirtschaftlichen Governance international zukommt.

7.2.1.1

Es ist nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass die besagte Überprüfung nicht die klassische humanistische Dimension der europäischen Identität im Bildungs- und Kulturbereich beeinträchtigen darf, sondern diese im Gegenteil fördern muss.

7.2.1.2

Im Rahmen dieser Überprüfung darf die berufliche Bildung keine unabhängige Größe darstellen und natürlich auch nicht Gegenstand einer isolierten Vorgehensweise sein. Sie wird – ebenso wie die Bildungsbereiche, nicht-formale und informelle Lernprozesse mit eingeschlossen – in ein ganzheitliches Netzwerk des lebensbegleitenden Lernens eingebettet sein müssen. Dabei geht es um ein System, das den allgemeinen und beruflichen Bildungsbedarf und die diesbezügliche Nachfrage der Bürger und Bürgerinnen befriedigt und unmittelbar und uneingeschränkt mit dem großen Ziel nachhaltige Entwicklung in Zusammenhang steht.

7.2.2

Die zweite Position des EWSA steht mit der europäischen Perspektive und der Teilnahme am vorstehend angesprochenen Verfahren zur kritischen Überprüfung der Strukturen und Beziehungen der europäischen allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme im Zusammenhang.

7.2.2.1

Nach Ansicht des EWSA sind aufgrund der Tragweite der Probleme, ihrer Dringlichkeit und insbesondere der hohen Kosten für ihre Lösung rasche Maßnahmen und Untersuchungen auf europäischer Ebene erforderlich.

7.2.2.2

Ziel dieser Maßnahmen und Untersuchungen darf natürlich kein Eingreifen der Union jedweder Art in die bestehenden Strukturen der europäischen allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme sein. Ihre Vielfalt ist von unschätzbarem Reichtum und muss gestärkt werden.

7.2.2.3

Die besagten Maßnahmen und Untersuchungen können alternative Möglichkeiten bieten, bewährte Praktiken für das Heranführen der europäischen allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme an neue Gegebenheiten aufzeigen sowie Pilotanwendungen und neue Modelle vorschlagen, um die Bildungssysteme mit den Lissabon-Zielen, den anderen großen Zielen Europas und der Art und Weise, wie das neue weltweite Wissen erschlossen, erforscht, hervorgehoben und genutzt wird, in Verbindung zu bringen.

7.2.2.4

In diesem Kontext hat die Union insbesondere in Bezug auf die Produktivität und ihre Verkettungen, jedoch stets auf der Grundlage des gemeinschaftlichen Besitzstands in diesem Bereich, eine Rolle zu spielen: Diese Rolle muss die Union bekannt machen und fördern, vor allem auf lokaler und regionaler Ebene.

7.2.2.5

Die Teilnahme der Union an der kritischen Überprüfung der Strukturen und Beziehungen der europäischen allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme hat noch eine weitere außerordentlich wichtige Dimension. Die Kosten der Untersuchungen können drastisch gesenkt werden, indem die Union – anstelle der Mitgliedstaaten und in Zusammenarbeit mit diesen – die Prüfung, Hervorhebung und Förderung anderer bewährter Praktiken übernimmt. Durch Rückgriff auf die Methode der offenen Koordinierung kann sie den Anstrengungen insgesamt auch mehr Mobilität und Dynamik zur Erreichung gemeinsamer Ziele verleihen.

7.2.3

Die dritte Position des EWSA berührt die Art und Weise, wie der Lernprozess unabhängig von seiner Form mit der Durchführbarkeit der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Politiken in Bezug gesetzt werden kann . Diese ist die komplexeste, aber auch greifbarste Position des EWSA. Sie beruht auf einer entsprechenden Erfahrung und kann als bewährte Praxis erachtet werden (39).

7.2.3.1

Dieser Position liegt das Prinzip zugrunde, dass schwerwiegende Probleme, wie das Problem des Überlebens oder der nachhaltigen Entwicklung, der Produktivität, der Wettbewerbsfähigkeit oder der Schaffung einer Wissensgesellschaft, nicht realitätsfern durch isolierte Vorgehensweisen und einsame Entscheidungen gelöst werden können. Sie lassen sich nicht als gesonderte Probleme durch bruchstückhaftes Eingreifen lösen. Vielmehr müssen sie durch integriertes Handeln und bewusste individuelle und kollektive Mitwirkung auf gesellschaftlicher Ebene angegangen werden. Daher hebt der zentrale Vorschlag des EWSA bezüglich der Produktivität – neben der europäischen, nationalen und sektoralen – ab auf die örtliche Ebene, auf integrierte Politiken für nachhaltige Entwicklung und eine Verstärkung sämtlicher Formen der Zusammenarbeit, die zwischen den Sozialpartnern  (40) sowie generell zwischen der Zivilgesellschaft und lokalen Gebietskörperschaften entstehen, um gemeinsame Ziele zu verwirklichen  (41).

7.2.3.2

In dem Vorschlag werden Wissen, Know-how und Innovation als wesentliche Elemente herausgestellt, die die Kohärenz der Zusammenarbeit, aber auch der gemeinsamen Ziele gewährleisten sollen.

7.2.3.3

Treibende Kraft für das Gelingen dieses Vorschlags sind die individuelle und unternehmensbezogene Durchführbarkeit, das Vertrautmachen mit den derzeitigen Maßnahmen auf weltweiter Ebene, aber auch die gegenseitige Unterstützung der individuell und kollektiv unternommenen Anstrengungen.

7.2.3.4

Als Instrument zur Realisierung dieses Vorschlags wird die Etablierung des lebensbegleitenden Lernens herausgestrichen – ein Konzept, das ungeachtet der Starrheit der derzeitigen einzelstaatlichen allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme wie auch der Polarisierungen jedweder Art entwickelt werden kann, die der interne wettbewerbsorientierte Produktionsprozess naturgemäß hervorbringt.

7.2.3.5

Auf jeden Fall und unabhängig von den Diensten, die das lebensbegleitende Lernen als umfassendes Lern- und Bildungskonzept heute und in der Zukunft zu bieten vermag, muss unverzüglich ein System von (politischen und sozialen) Anreizen und Einflüssen entwickelt werden, damit die europäischen allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme hier und heute (42) ihre Zielsetzungen den Lissabon-Zielen anpassen. Das heißt, sie müssen so umgestaltet werden, dass sie folgenden Bedürfnissen gerecht werden:

den Bedürfnissen der Informationsgesellschaft, der Neuen Wirtschaft und des globalisierten Marktes;

den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes, wie sie von der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung geprägt und verändert werden;

die Erfordernisse einer Kultur des Unternehmergeistes, eines kollektiven Produktionsdenkens und eines Klimas der sozialen Legitimation und Akzeptanz der Innovation im Allgemeinen sowie der innovativen Produktionstätigkeit im Besonderen.

7.2.3.6

Die vorstehend angesprochenen Anreize müssen ein günstiges und attraktives Umfeld für die berufliche Bildung und das lebensbegleitende Lernen schaffen. Ein Umfeld, das vor allem durch die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den Bildungseinrichtungen untereinander und zumal der Zusammenarbeit zwischen den Bildungseinrichtungen, Unternehmen, der Zivilgesellschaft und den lokalen Gebietkörperschaften zum Zwecke der Förderung der Verfahren und Aktivitäten im Dienste der Ziele von Lissabon hervorgebracht wird.

8.   Die Kompetenzverteilung und das Problem der Finanzierung

8.1

Der Verteilung der Kompetenzen als Teil eines multilateralen Prozesses zur Erreichung gemeinsamer Ziele – insbesondere im Rahmen der Globalisierung – ist ein komplexes Thema, das sowohl objektive wie subjektive Faktoren umfasst. Hierzu gehören:

die Anerkennung und Akzeptanz des Funktionsrahmens seitens der Beteiligten;

die Anerkennung und Akzeptanz der gemeinsamen Ziele und der Notwendigkeit, sie zu erreichen;

die Rahmenbedingungen für das Erreichen der Ziele sowie die Ausgewogenheit dieses Prozesses;

Anreize zum Erreichen der spezifischen Ziele;

die Erfolgschancen des gesamten Unterfangens.

8.1.1

Vor diesem Hintergrund setzt die Teilnahme von Einzelpersonen, Gruppen von Einzelpersonen, Unternehmen oder der örtlichen Gemeinschaft an einem Prozess der Aus- und Weiterbildung – und erst recht des lebensbegleitenden Lernens – eine Klarstellung der Ziele, Mittel und Anreize voraus. Die sich daraus ergebenden Verantwortlichkeiten lasten daher nicht nur auf den Akteuren im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung. Sie haben auch eine politische und soziale Entsprechung und können folgendermaßen zugeordnet werden:

8.1.1.1

Die politischen Verantwortlichkeiten beziehen sich generell auf die Schaffung eines reibungslosen und transparenten Funktionsrahmens, was die Bedingungen und Grenzen der wirtschaftlichen, sozialen oder jedweder anderen Funktionsform betrifft. Unter die politischen Verantwortlichkeiten fallen die Entwicklung einschlägiger vorbeugender Politiken, die Verstärkung ausgewählter Formen des politischen und wirtschaftlichen Regierens sowie die Finanzierung solcher Politiken.

8.1.1.2

Die Verantwortlichkeiten der Zivilgesellschaft, der Sozialpartner, aber auch der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften bei der Förderung einer umfassenden Politik des lebensbegleitenden Lernens sind ebenfalls beträchtlich. Hier geht es im Wesentlichen um die Verantwortlichkeiten im Zusammenhang mit der Popularisierung der Ziele, um Mittel und Wege zur Schaffung eines Lernumfelds. Ferner geht es um die Verantwortlichkeiten zur Errichtung bestimmter Formen der Zusammenarbeit und die Einleitung einschlägiger integrierter Maßnahmen. Schließlich handelt es sich um die Verantwortlichkeiten zur Konzipierung und Gewährleistung von Anreizen zur Teilnahme an ausgewählten, von Fall zu Fall gemeinsam vereinbarten Politiken und Maßnahmen.

8.1.1.3

Die unternehmerischen Verantwortlichkeiten haben einen wirtschaftlichen und einen sozialen Aspekt. Es ist Aufgabe der Unternehmen, die Bedingungen und Grenzen ihrer Nachhaltigkeit festzulegen. Sie sind es auch, die kontinuierlich das von ihnen benötigte Qualifikations- und Wissensprofil ausloten und entweder allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Akteuren ihres Umfeldes spezielle Ausbildungsprogramme entwickeln müssen. Insbesondere die KMU, die zu ihrem Funktionsumfeld in enger Verbindung stehen, müssen den Rat und die Unterstützung des sozialen und wirtschaftlichen Umfelds benötigen, in dem sie tätig sind, denn für sie ist es sehr schwierig, von sich aus umfassende Weiterbildungsaktivitäten zu entwickeln. Hierdurch wird gleichzeitig der Aspekt der sozialen Verantwortlichkeit der Unternehmen veranschaulicht. Diese Dimension ist im Kontext der Globalisierung der Wirtschaft umso wichtiger, und zwar sowohl im Sinne der Nachhaltigkeit der Unternehmen selbst als auch ihres sozialen Umfelds.

8.1.1.4

Schließlich trägt auch der Einzelne Verantwortlichkeiten bezüglich seiner Beteiligung am Prozess des lebensbegleitenden Lernens. Diese hängen mit der Veränderung seiner Meinung, der Sichtweise heutiger Ereignisse und Fakten, seinem Verhältnis zu Lernen und Wissen und seiner Lebensweise insgesamt sowie seiner Art der Gestaltung und Nutzung seiner Freizeit zusammen. Folglich müssen diese Verantwortlichkeiten der Mitwirkung an den Prozessen des lebensbegleitenden Lernens – insbesondere bei älteren Arbeitnehmern – mit konkreten Verpflichtungen und gesteigerten Anreizen verbunden sein. Bei diesem Mix an Verpflichtungen und Anreizen ist sicherlich die dem Einzelnen zur Verfügung stehende Freizeit und seine Teilhabe an dem durch Neuerungen und die neuen Technologien erwirtschafteten Mehrwert ein wichtiger Aspekt.

8.2

Auch das Problem der Finanzierung der Ausbildung und erst recht der Finanzierung des lebensbegleitenden Lernens ist komplex.

8.2.1

Nach Artikel 14 der Grundrechtscharta der Europäischen Union verfügt jede Bürgerin und jeder Bürger der Union über „das Recht auf Bildung sowie auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung“. In der Folge muss es als öffentliche Aufgabe – und dies auf allen Ebenen und Instanzen gemeinsam – gelten, die Voraussetzungen zur Wahrnehmung dieser Rechte zu schaffen. Die Sicherung der dazu notwendigen Finanzmittel ist zentraler Bestandteil dieser Aufgabe.

8.2.2

Über diese Pflicht des Staates hinaus wird die Antriebskraft für Nachhaltigkeit in der Regel grundsätzlich von der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft – insbesondere nach außen hin – und den in diesem Rahmen aufgebauten Partnerschaften ausgehen.

8.2.2.1

Eine öffentliche Verantwortung zur Bildungsfinanzierung schließt keineswegs die Mitverantwortung der Arbeitgeber und Betriebe aus. Diese Mitverantwortung bezieht sich nicht generell auf den berufsbildenden Bereich, sondern auf Qualifizierungs- und Weiterbildungsangebote, die unternehmensintern mit dem Ziel der Aneignung spezifischer einzelbetriebsbezogener Fertigkeiten organisiert werden. Die Unternehmen müssen ihre Arbeitnehmer ständig weiterbilden, damit sie der Modernisierung im technologischen und organisatorischen Bereich und dem Bedarf der Unternehmen an Erweiterung ihres Betätigungsfeldes gewachsen sind. Deswegen müssen sowohl Unternehmen als auch Arbeitnehmer durch verschiedene von den Sozialpartnern vereinbarte und vorgeschlagene Anreize begünstigt und gefördert werden. Derartige Anreize wurden von den Sozialpartnern bereits in ihrem „Zweiten (gemeinsamen) Fortschrittsbericht über den Aktionsrahmen für den lebensbegleitenden Erwerb von beruflichen Fähigkeiten und Qualifikationen“ („Second Follow-up Report FRAMEWORK OF ACTIONS FOR THE LIFELONG DEVELOPMENT OF COMPETENCIES AND QUALIFICATIONS“) angesprochen. In Ziffer 2 des ersten Kapitels dieses Berichts heißt es u.a.: „Die einzelstaatlichen Berichte veranschaulichen die Vielfalt der Instrumente, die die Sozialpartner einsetzen, um Ressourcen für die Förderung effizienter Investitionen in die lebenslange Erweiterung der beruflichen Fähigkeiten zu mobilisieren. Einige dieser Instrumente (wie etwa Verwendung von EU-Mitteln, Steuerliche Anreize, Einrichtung neuer Fonds) werden in Zusammenarbeit mit den öffentlichen Behörden der nationalen oder europäischen Ebene eingerichtet. Einige Instrumente sind speziell zugeschnitten auf die individuelle Ressourcenbereitstellung für den Ausbau der beruflichen Fähigkeiten“.

8.2.2.2

Investitionen in wettbewerbsrelevantes Lernen und Wissensaneignung sind jedenfalls in den Rahmen von nachhaltigen und produktiven Partnerschaften zwischen lokalen, regionalen, einzelstaatlichen und sektoralen Akteuren und Instanzen einzuordnen. Solche Investitionen beschränken sich nicht auf die Unterstützung der öffentlichen Hand, sondern sie setzen eine Reihe von Ressourcen unterschiedlicher Provenienz ein. Insgesamt tragen alle Mittelzuwendungen, Aufwendungen und Aktivitäten zur Qualifizierung als Dauerprozess bei.

8.2.3

Der grundlegende öffentliche Bildungsauftrag, der auch im berufsbildenden Bereich zum Tragen kommt, bedarf darüber hinaus einer differenzierten und fallbezogenen Umsetzung. Erstens benötigen bestimmte EU-Regionen und Bevölkerungsgruppen besondere wirtschaftliche Unterstützung und zweitens verdienen bestimmte Sektoren und Betriebssparten – nicht zuletzt KMU – besondere Aufmerksamkeit.

8.2.3.1

Bildungsfinanzierungsinstanzen auf allen Ebenen sollten Wert darauf legen, innovationsfreundlich zu reagieren sowie eine erhöhte Sensibilität für betriebliche Wirklichkeiten – vor allem bei KMU – zu entwickeln.

8.2.3.2

Ein solch fallbezogener Ansatz zur Finanzierung der Verwirklichung des lebensbegleitenden Lernens sollte selbstverständlich transparent agieren und auf der geeigneten Ebene ansetzen, d.h. unter Mitwirkung und Zustimmung der Sozialpartner sowie der Zivilgesellschaft.

8.2.4

Es ist vor allem darauf hinzuweisen, dass bei der Finanzierung der beruflichen Bildung und des lebensbegleitenden Lernens eine rationellere Begebung der betreffenden Mittel dringend Not tut. Und zwar sowohl hinsichtlich der Art und Weise der Begebung dieser Mittel als auch hinsichtlich ihrer Effizienz als Investitionen.

8.2.4.1

Der EWSA schlägt die Ausarbeitung eines hochkarätigen Berichts vor, der sich auf einschlägige Forschungen stützt und Folgendes beinhaltet:

eine Bestandsaufnahme der Ressourcen und Formen der Finanzierung der beruflichen Bildung und des lebensbegleitenden Lernens auf den verschiedenen Ebenen,

Identifizierung und Bewertung ihres Qualitätsniveaus,

Identifizierung und Bewertung ihres Bezugs zu den formellen Bildungssystemen,

Analyse und Vergleich ihrer Effizienz als Investitionen.

8.2.4.2

Eine solche Untersuchung würde möglicherweise Probleme zutage fördern, die heute noch im Verborgenen liegen. Sie wird aber sicherlich bewährte Vorgehensweisen ausmachen, die zu einem Masterplan für die weitere Entwicklung der beruflichen Bildung im Rahmen und unter der Perspektive eines integrierten Systems des lebensbegleitenden Lernens führen können.

9.   Ein Beispiel für bewährte Praxis: ein integrierter Prozess der nachhaltigen Entwicklung auf lokaler Ebene

9.1

ADEDY, der Allgemeine Bund der Beamtengewerkschaften Griechenlands, führte unlängst ein Programm zum Thema lebensbegleitendes Lernen mit dem Titel „Lebensbegleitendes Lernen als individuelles Recht im Rahmen des europäischen Gesellschaftsmodells für das 21. Jahrhundert“ durch. Das von der GD Bildung und Kultur kofinanzierte Programm lief über einen Zweijahreszeitraum und wurde im Januar 2004 abgeschlossen. Es beruhte auf einer Stichprobe dreier geografisch unterschiedlicher regionaler Verwaltungen in Griechenland (Kozani, Kalamata/Messinia und Chalkida/Evvia).

9.2

Die Initiative hatte zum Ziel, regionale Gewerkschaftler sowie generell regionale Mitglieder der organisierten Zivilgesellschaft und lokale Verwaltungen für die Notwendigkeit zu sensibilisieren, zum Zwecke der Verwirklichung der Ziele von Lissabon lokale Formen der Zusammenarbeit und Partnerschaft zu schaffen, wobei das lebensbegleitende Lernen als Entwicklungsinstrument dienen sollte.

9.3

Bezüglich der Ergebnisse der Initiative ist festzustellen, dass in allen drei Fällen gemeinsame Aktionspläne (43) mit folgenden Merkmalen einstimmig vereinbart wurden:

Anerkennung des neuen politischen, technologischen, sozialen und kulturellen Funktionsrahmens, der durch die Globalisierung der Wirtschaft und zeitgemäße technologische Fortschritte tagtäglich geprägt wird.

Akzeptanz der Zusammenarbeit und der Partnerschaften auf lokaler Ebene zwischen lokalen Verwaltungen und der organisierten Zivilgesellschaft, um davon ausgehend Funktionsprobleme anzugehen, die aufgrund der neuen Bedingungen entstanden sind, sowie gemeinsam vereinbarte, spezifische und realistische Ziele für die nachhaltige Entwicklung zu erreichen.

Nutzung der Institution des lebensbegleitenden Lernens als Werkzeug für die nachhaltige Entwicklung (im wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Sinne) wie auch als Instrument zur Schaffung und zum Erwerb von zeitgemäßem und zuverlässigem globalen Wissen.

Zu diesem Zweck Gründung und Betrieb eines multifunktionellen Zentrums (je nach Fall) für Lernen, nachhaltige Entwicklung bzw. Bildung.

10.   Empfehlungen

10.1

Der EWSA möchte den niederländischen Vorsitz im Rahmen seiner generellen Perspektiven des Charakters des heutigen Produktivitätsproblems, seines Verständnisses der Grenzen von Bildung und Ausbildung, aber auch im Bewusstsein dessen, was derzeit machbar ist, auf folgende weiterbildungsrelevante Punkte aufmerksam machen:

10.1.1

Theoretisch ist die Weiterbildung für Erwachsene gedacht. Bis vor wenigen Jahren deckte sie erfolgreich den Bedarf an einfachen Fertigkeiten, und dies zu einer Zeit und in Sektoren, in denen sich entsprechende technologische Fortschritte vollzogen. Dies erklärt, weshalb sich diese Form der Ausbildung stärker im sekundären Produktionssektor entwickelt hat.

10.1.2

In der heutigen Wirtschaftslage gehen technologische und andere Entwicklungen in rascherem Tempo vonstatten, haben eindeutig eine größere Reichweite und sind vor allen Dingen umfassender. Zu ihrer Verfolgung und Assimilierung sind nicht nur einfache Fähigkeiten, sondern Kompetenzen  (44) erforderlich. Folglich ist die Weiterbildung, wie sie heute angeboten wird, ein unzulängliches und womöglich ineffizientes Unterfangen. Sie strebt nach etwas, was ihr nicht entspricht und was sie nicht leisten kann.

10.1.3

Parallel zu ihrem veränderten Tempo haben die technologischen Entwicklungen Ausbildungsanforderungen von zeitgemäßerem Format und Inhalt für Arbeitnehmer einer viel breiteren Altersspanne und aller Produktionssektoren geschaffen. Es wurde der Versuch unternommen, diesen Anforderungen teilweise durch Ausbildungspraktiken früherer Zeiten gerecht zu werden, jedoch ohne wirkliche Ergebnisse, da sie den objektiven aktuellen Bedürfnissen nicht genügten. Eine Ausnahme bilden hier verschiedene Bemühungen seitens der Sozialpartner auf sektoraler Ebene.

10.1.4

Dies ist demnach der Punkt, an dem sich die Weiterbildung in Europa derzeit befindet: Es besteht ein großer Bedarf an Entwicklung, aber dieser Bedarf kann aus Gründen der Infrastruktur, der Kultur und/oder eines Mangels an einschlägigen bewährten Praktiken und Erfahrungen nicht erfüllt werden.

10.1.5

Um diese Situation anzugehen, bedarf es eines neuen Ansatzes in Bezug darauf,

was Weiterbildung heute bedeutet,

wen sie betrifft (Altersgruppen und Sektoren),

wie sie effizienter weiterentwickelt werden kann und

wie sie finanziert werden kann.

10.1.5.1

Die Antworten auf die beiden ersten Fragen sind theoretischer Natur und wurden im Rahmen der Lissabon-Strategie, des lebensbegleitenden Lernens und des Ziels einer Wissensgesellschaft und -wirtschaft bereits beantwortet. Die dritte Frage wurde jedoch noch nicht beantwortet. Der Europäische Rat (45) versuchte mit seinen Entscheidungen wiederholt, die notwendige Mobilität für die Durchführung der einschlägigen – und in einigen Fällen detaillierten – Verpflichtungen zu schaffen, doch ohne nennenswerte Ergebnisse.

10.1.6

Die europaweite Vernetzung vieler Unternehmen und die Mobilität der Arbeitnehmer erfordern eine europäische Dimension in der Berufspolitik. Trotz aller Unterschiedlichkeit ihrer Bildungssysteme müssen sich die EU-Staaten als „Bildungsraum“ verstehen. Nachstehende Punkte sind für den EWSA von besonderer Bedeutung:

die Aufnahme der Weiterbildung als nachschulischem Lernprozess in ein integriertes EU-Programm für lebensbegleitendes Lernen zur unmittelbaren Anwendung (46) vor dem Hintergrund der Formulierung von europäischen Bildungszielen, die im Rahmen der Zuständigkeiten Anregungen für zukunftsweisende Reformen einzelstaatlicher Berufsbildungssysteme geben können, und zwar mit Berücksichtigung der Förderung der Beschäftigungsbefähigung; das zentrale Ziel des integrierten Programms der EU für lebenslanges Lernen muss in der Förderung der europäischen Dimension des lebenslangen Lernens und in der Verknüpfung der beruflichen Grundausbildung mit der Erfordernis einer ständigen Anpassung an den neuen Wissensstand liegen.

die funktionelle und kreative Verbindung des genannten Programms mit und seine Einbindung in das Streben nach dem großen Ziel nachhaltige Entwicklung;

die möglichst dezentrale und individuelle Gestaltung dieser Verbindung im Rahmen europäischer Leitlinien, einschlägiger einzelstaatlicher Strategien und vor allem der Zusammenarbeit zwischen der Zivilgesellschaft und den staatlichen Stellen sowie mit der gesamten Bildungswelt;

eine stärkere Inanspruchnahme der gemeinschaftlichen Partner, vor allem der diesbezüglichen Partnerschaften zwischen ihnen, für dieses Ziel auf europäischer, einzelstaatlicher, lokaler und sektoraler Ebene;

die Stärkung und bestmögliche Nutzung der – grundsätzlich auf örtlicher Ebene angesiedelten – einschlägigen Partnerschaften zwischen den staatlichen Stellen und der Zivilgesellschaft

die Ausrichtung von Ausbildungsinhalten auf die angenommenen Arbeitsmarktbedürfnisse sowie auch auf größtmögliche Bandbreite der Bildungsinhalte;

die Ermöglichung lebenslangen Lernens durch die Festlegung des Bildungsziels der Lernbefähigung; die wichtigste Voraussetzung für Beschäftigungsbefähigung ist die Lernbefähigung;

die verstärkte Vermittlung ökonomischen Wissens bereits in der schulischen Ausbildung im Kontext der Hervorbringung vollkommener Persönlichkeiten, vor allem durch die Erziehung zu persönlicher Mündigkeit, kritischem Denken und Selbständigkeit;

die Erhöhung der Beschäftigungsbefähigung durch eine entsprechend gestaltete Lehrlingsausbildung (Lernen z.B. in Betrieben);

das Erlernen von Fremdsprachen zur Ermöglichung der Mobilität und des Austausches zwischen den Mitgliedstaaten sollte auf allen Ebenen intensiviert werden;

die gezielte Entwicklung des Beschäftigungspersonals, vor allem auch älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, im Sinne guter Unternehmens- und Mitarbeiterführung durch die Einrichtung von Aus- und Weiterbildungsplänen in den Unternehmen;

hierzu gehört auch eine Verstärkung der Bemühungen zur Angleichung bzw. gegenseitigen Anerkennung von Berufsbildungsabschlüssen und beruflichen Qualifikationen.

10.1.7

Diese Perspektive der verstärkten europäischen Zusammenarbeit im Bildungsbereich mit dem Ziel, den Rückstand bei der Annäherung an die Lissabon-Ziele umfassend und einheitlich anzugehen, setzt spezifische politische Entscheidungen voraus:

ausreichende Mittel für die Erfassung der Vielzahl von Arbeitnehmern und Ausbildungstiefen, die die Umstände erfordern;

die Suche nach den notwendigen Arbeitskräften auf europäischer Ebene;

die Gestaltung eines zeitgemäßen Lernrahmens und –umfelds;

die Sensibilisierung, aktive Präsenz und Teilhabe der Verwaltungen sämtlicher Ebenen, der Sozialpartner sowie generell der Zivilgesellschaft;

die klarere Abgrenzung der Rolle und Zuständigkeiten der jeweiligen Adressaten und Anbieter von Bildungsmaßnahmen sowie auch der Kontrollmechanismen des gesamten Unterfangens auf lokaler, einzelstaatlicher und europäischer Ebene;

und schließlich die Aufbietung aller Mittel zur Förderung der gesamten Initiative und der Auswirkungen ihres Inhalts und ihrer Ziele.

10.1.8

Nach Ansicht des EWSA hängen die schwierigeren Probleme bei der Verwirklichung des genannten Vorschlags von den verfügbaren Mitteln und der operationellen Mobilisierung der lokalen Kräfte (staatliche Stellen und organisierte Zivilgesellschaft) ab.

10.1.8.1

In einer früheren Stellungnahme stellt der EWSA fest „Investitionen im europäischen Interesse mit dem Zweck, die in Lissabon gesteckten Ziele zu erreichen, sind bei der Berechnung des Haushaltsdefizits auszuklammern“ (47). Die Mittel, die für lebensbegleitendes Lernen bereitgestellt werden, würden nach Auffassung des EWSA sowohl beim Aufbau eines Europas des Wissens als auch bei der Förderung der nachhaltigen Entwicklung eine positive Wirkung zeitigen.

10.1.8.2

Eine Verlagerung des Schwerpunkts beim lebensbegleitenden Lernen und der nachhaltigen Entwicklung auf die lokale Ebene würde neue Kräfte freisetzen, größere Mobilität schaffen und dem gesamten Prozess mehr Transparenz verleihen.

10.1.8.3

Ein besser koordiniertes, umfassenderes und effizienteres Verfahren für die Konzipierung, Förderung und Kontrolle der Umsetzung und Effizienz der entsprechenden europäischen bildungspolitischen Entscheidungen würde die geeigneten Voraussetzungen schaffen für eine Tendenzwende, um den Rückstand der Union im Bereich der Produktivität und bei der Verwirklichung der Ziele von Lissabon aufzuholen.

10.1.8.4

Und schließlich wäre eine stärkere Valorisierung und eine bessere Koordinierung der klassischen Schauplätze des Bildungsgeschehens, sprich Familie, Schule und Beruf, sehr hilfreich, um eine entsprechende Dynamik des Geschehens herbeizuführen. Eine Dynamik, die jetzt erforderlich ist, um das große Ziel, die Union bis 2010 zur weltweit dynamischsten wissensbasierten Wirtschaft zu machen, verwirklichen zu können.

Brüssel, den 28. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Vgl. hierzu das Arbeitsprogramm des niederländischen Vorsitzes.

(2)  Vgl. die Schlussfolgerungen des Vorsitzes – Kapitel III.

(3)  a.a.O., Ziffer 45.

(4)  Die neue sozialpolitische Agenda soll im ersten Halbjahr 2005 von der Kommission vorgelegt werden.

(5)  Für den Frühjahrsgipfel (März 2005) wird ein Zwischenbericht zur Bewertung der Lissabon-Strategie erwartet.

(6)  Die vom niederländischen Vorsitz ins Visier genommenen strukturellen Veränderungen konzentrieren sich auf vier politische Bereiche (effiziente Neuausrichtung des Spannungsfeldes zwischen Arbeitsleben und sozialem bzw. Familienleben, Aktivierung des Systems der sozialen Sicherheit, Förderung der Veränderungen in der Arbeitswelt, Ausbildung und Produktivität ).

(7)  Die Arbeiten des EWSA sind inzwischen dadurch gekennzeichnet, dass bei der Beschäftigung mit Problemen von dem Prinzip ausgegangen wird, den Teilaspekt in den Gesamtkontext einzubetten. Als gutes Beispiel dafür aus jüngster Zeit ist etwa die Stellungnahme ABl. C 110 vom 30.4.2004 (Hornung-Draus-Greif) oder auch die Stellungnahme ABl. C 117 vom 30.4.2004 (Ribbe-Ehnmark) zu nennen.

(8)  Die Veröffentlichungen des CEDEFOP stellen eingehendere Information zur Begriffsbestimmungen im Bereich der beruflichen Bildung zur Verfügung; s. insbesondere das CEDEFOP-Glossarium sowie die Berufsbildungsforschungsberichte und die Berichte zur Berufsbildungspolitik (www.cedefop.eu.int und www.trainingvillage.gr). Der Anhang der Stellungnahme kommt ergänzend hinzu.

(9)  Zur Begriffsbestimmung s. SEC(2000) 1832 (Memorandum zum lebensbegleitenden Lernen) and KOM(2001) 678 endg. (Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen).

(10)  KOM(2001) 678 endg.

(11)  Zur Begriffsbestimmung s. SEC(2000) 1832 sowie Mitteilung der Europäischen Kommission (1997) Für ein Europa des Wissens.

(12)  KOM(2004) 156 endg.

(13)  Hierzu siehe einschlägige CEDEFOP-Veröffentlichungen unter dem Leitbegriff Getting to work on lifelong learning (Packen wir das lebenslange Lernen an; www.trainingvillage.gr) sowie relevante ETF-Studien und -Berichte zur Situation in den neuen Mitgliedstaaten und Kandidaten-Staaten (www.etf.eu.int).

(14)  Vgl. SCADPlus: Produktivität: Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften und Unternehmen. Es sei darauf hingewiesen, dass außer der „Arbeitsproduktivität“ noch andere einschlägige Begriffe verwendet werden, die inhaltlich allerdings nicht deckungsgleich sind. Hierzu zählen u.a. Wirtschafts-, Unternehmens-, Landes-, Einzel-, Kapitalproduktivität usw.

(15)  Vgl. KOM(2002) 262 endg. (Zusammenfassung) SCADPlus: Produktivität: Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften und Unternehmen.

(16)  Vgl. KOM(2002) 262 endg. (Zusammenfassung) SCADPlus: Produktivität: Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften und Unternehmen.

(17)  Artikel ΙΙΙ-183 des Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Es ist zu bemerken, dass die Zuständigkeiten der Europäischen Union in Bezug auf die berufliche Bildung durch folgenden Satz bestimmt werden: „Die Union führt eine Politik der beruflichen Bildung [...]“. Bezüglich der Bildung heißt es hingegen: „Die Union trägt zur Entwicklung einer qualitativ hoch stehenden Bildung dadurch bei, [...]“.

(18)  http://europa.eu.int/comm/education/copenhagen/copenahagen_declaration_en.pdf

(19)  ALLGEMEINE UND BERUFLICHE BILDUNG 2010: DIE WICHTIGSTEN EMPFEHLUNGEN DES RATES AN DEN EUROPÄISCHEN RAT (2004/C 104/01).

(20)  www.eurydice.org

(21)  Frühere Programme für Berufsbildung: Comett (1986-1989 und 1990-1994), Iris (1988-1993 und 1994-1998), Petra (1988-1991 und 1992-1994), Eurotecnet und Force.

(22)  Artikel 1 Absatz 3 des Beschlusses des Rates über ein Aktionsprogramm zur Durchführung einer Berufsbildungspolitik der Europäischen Gemeinschaft (Programm Leonardo da Vinci).

(23)  http://europa.eu.int/comm/education/programmes/socrates/grundtvig/overview_en.html

(24)  Das Budget der GD Bildung und Kultur macht 0,85 % des EU-Gesamthaushalts aus. Die für berufliche Bildung verwendeten Mittel betragen 0,25 % des Budgets der GD Bildung und Kultur bzw. 0,002 % (gegenüber 0,003 % für alle anderen Bildungsformen und –ebenen) des EU-Gesamthaushalts (Die Zahlenangaben wurden dem Allgemeinen Haushaltsplan der Union für 2004 entnommen bzw. entlehnt).

(25)  In einer diesbezüglichen Eurostat-Umfrage (CVTS 2/Data 1999/EDITION 2002) werden äußerst wichtige Bemerkungen über die quantitativen und qualitativen Elemente der Ausbildung in einer Stichprobe von Mitgliedstaaten und auf sektoraler Ebene formuliert.

(26)  Es wird betont, dass der ursprüngliche Vorschlag der Kommission wie folgt lautete: „Bis 2010 sollten sich im EU-Durchschnitt mindestens 15 % der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter (Altersgruppe 25 bis 64 Jahre) am lebenslangen Lernen beteiligen; in keinem Land soll die Quote unter 10 % liegen.“ Der Europäische Rat vom 5. Mai 2003 hat diese Vorgabe schließlich im vorstehend beschriebenen Sinne geändert (Quelle: http://europa.eu.int/scadplus/leg/de/cha/c11064.htm).

(27)  Die Ausbildung auf sektoraler Ebene scheint für die Erlangung internationaler Qualifikationen und Kompetenzen von besonderer Bedeutung zu sein. Die Akteure auf dieser Ebene stehen den Problemen und Herausforderungen, die sich aus der Globalisierung und Entwicklung der neuen Technologien ergeben, nahe und befinden sich in einer guten Position, um Lösungen vorzuschlagen und zu entwickeln (Leonardo da Vinci – EAC/11/04, Ziffer ΙΙΙ).

(28)  KOM(2002) 262 endg. Ziffer 2 (zweiter Absatz).

(29)  KOM(2002) 262 endg.

(30)  Vgl. http://europa.eu.int/scadplus/leg/de/lvb/n26027.htm (Schlussfolgerungen).

(31)  Vgl. Ziffer 4.4 des Dokuments ABl. C 85 vom 8.4.2003 (Sirkeinen-Ehnmark).

(32)  Vgl. ABl. C 311 vom 7.11.2001, Ziffer 3.4.1 ff. (Koryfidis-Rodriguez Garcia Caro-Rupp).

(33)  Das zentrale Problem der europäischen Bildungs- und Ausbildungssysteme liegt heute darin, dass sie mit ihrem Umfeld nicht in Einklang stehen. Das heißt, dass bei einem Umfeld sehr starker Mobilität die europäischen Bildungs- und Ausbildungssysteme in der Regel funktionieren, als ob völlige Windstille herrscht.

(34)  Vgl. auch: European social statistics Continuing vocational training survey (CVTS2) Data 1999. Siehe auch die Zahlenangaben im gemeinsamen Zwischenbericht des Rates und der Kommission (vom April 2004) über die Maßnahmen im Rahmen des detaillierten Arbeitsprogramms zur Umsetzung der Ziele der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in Europa (2004/C 104/01).

(35)  Vgl. hierzu Ziffer 7.2.3

(36)  Zur Definition der Begriffe „Schulbildung“, „Lernen“, „Unterricht“ und „Sozialisation“ vgl. CES 1113/1999 fin rev. - Anhang.

(37)  Schlüssel-/Kernkompetenzen: Fähigkeiten, welche die Grundfertigkeiten und grundlegenden Fähigkeiten ergänzen und den Einzelnen befähigen, sich leichter neue Kenntnisse anzueignen, sich neuen Technologien und organisatorischen Rahmenbedingungen anzupassen und/oder auf dem Arbeitsmarkt mobil zu sein, Mobilität zu beruflichem Aufstieg eingeschlossen (Quelle: Zweiter Bericht zur Berufsbildungsforschung in Europa: Zusammenfassung – CEDEFOP-Veröffentlichung).

(38)  Der Europäische Rat vom 25./26. März 2004 nimmt in seinen Schlussfolgerungen (Ziffer 39) hierauf folgendermaßen Bezug: „Er erkennt ferner an, dass lebenslanges Lernen sich positiv auf die Produktivität und das Angebot an Arbeitskräften auswirkt; er befürwortet die Annahme eines integrierten EU-Programms im Jahr 2005 und die Einführung nationaler Strategien in allen Mitgliedstaaten bis 2006“.

(39)  Weitere Einzelheiten siehe beiliegenden Aktionsplan für die Entwicklung eines lokalen multifunktionellen Zentrums für Lernen, nachhaltige Entwicklung und Bildung.

(40)  Ein charakteristisches Positivbeispiel sind die Prioritäten, die die Sozialpartner auf europäischer Ebene im März 2002 im Rahmen ihrer Anstrengungen betreffend die lebensbegleitende Erweiterung der Fertigkeiten und Qualifikationen, die unterstützt werden sollten.

(41)  Der Europäische Rat vom 25./26. März 2004 nimmt in seinen Schlussfolgerungen (Ziffer 43) hierauf folgendermaßen Bezug: „Der Wandel muss über die staatlichen Stellen hinaus Unterstützung und Fürsprache finden. Damit diese Unterstützung wirklich zustande kommt, ruft der Europäische Rat die Mitgliedstaaten dazu auf, Reformpartnerschaften ins Leben zu rufen, an denen die Sozialpartner, die Zivilgesellschaft und die Behörden im Einklang mit den einzelstaatlichen Regelungen und Gepflogenheiten beteiligt werden.“

(42)  Näheres hierzu ist einer einschlägigen Studie und Analyse des Verbands der griechischen Industrie über die Bedürfnisse der Unternehmen in den Jahren 2005-2007 zu entnehmen, die letzten Juni veröffentlicht wurde. htt://www.fgi.org.gr/frames/frames.asp

(43)  Der letzte Aktionsplan aus der Region Evvia (Chalkida) liegt als Anhang bei (er existiert nur in Griechisch und Englisch). Die beiden anderen Aktionspläne sind ähnlichen Inhalts.

(44)  Kompetenz: Die erwiesene individuelle Fähigkeit, das Know-how, die Fähigkeiten und Fertigkeiten, Qualifikationen oder das erworbene Wissen zur Bewältigung sowohl üblicher als auch neuer beruflicher Situationen und Anforderungen einzusetzen (Quelle: Zweiter Bericht zur Berufsbildungsforschung in Europa: Zusammenfassung – CEDEFOP-Veröffentlichung).

(45)  Charakteristisch ist folgender Satz der Schlussfolgerungen vom 25./26. März 2004 (Ziffer 10): „Der Europäische Rat stellt übereinstimmend fest, dass es nunmehr entscheidend darum geht, die bereits eingegangenen Verpflichtungen besser umzusetzen.“

(46)  In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25./26. März 2004 ist folgende Position enthalten: „Er erkennt ferner an, dass lebenslanges Lernen sich positiv auf die Produktivität und das Angebot an Arbeitskräften auswirkt; er befürwortet die Annahme eines integrierten EU-Programms im Jahr 2005 und die Einführung nationaler Strategien in allen Mitgliedstaaten bis 2006“.

(47)  Vgl. Ziffer 5 der Stellungnahme — ABl. C 110 vom 30.4.2004 (Berichterstatter: Herr FLORIO).


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/76


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Entscheidung des Rates zur Änderung der Entscheidung des Rates 2002/463/EG über ein Aktionsprogramm für Verwaltungszusammenarbeit in den Bereichen Außengrenzen, Visa, Asyl und Einwanderung (ARGO-Programm)“

(KOM(2004) 384 endg. – 2004/0122 (CNS))

(2005/C 120/14)

Der Rat beschloss am 10. Juni 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 22. September 2004 an. Berichterstatter war Herr PARIZA CASTAÑOS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 172 gegen 2 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

In den Vertrag von Amsterdam wurde eine neue Säule der Gemeinschaftspolitik aufgenommen, die auf der Schaffung eines europäischen Raums der Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit beruht und die Gemeinschaftspolitiken in den Bereichen Kontrolle der Außengrenzen, Visa, Asyl und Einwanderung umfasst.

1.2

Im Oktober 1999 erarbeitete der Europäische Rat von Tampere mehrere Vorschläge für eine gemeinsame Einwanderungs- und Asylpolitik der EU.

1.3

Einer der Vorschläge von Tampere ist die Stärkung der Zusammenarbeit und gegenseitigen technischen Hilfe zwischen den Grenzkontrolldiensten der Mitgliedstaaten. Dieser Vorschlag wurde auf den Tagungen des Europäischen Rates in Sevilla (2002) und Thessaloniki (2003) erneut vorgebracht.

2.   Vorschlag der Kommission

2.1

Mit dem ARGO-Programm wird die Verwaltungszusammenarbeit in den Bereichen Außengrenzen, Visa, Asyl und Einwanderung gefördert. Es wurde am 13. Juni 2002 vom Rat angenommen, zeitgleich mit dem Plan für den Grenzschutz an den Außengrenzen.

2.2

Mit diesem Programm wird angestrebt, die Zusammenarbeit zu verstärken, die einheitliche Anwendung des EU-Rechts zu fördern, die Effizienz bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu verbessern, die gemeinschaftliche Dimension bei der Organisation der Dienststellen zu gewährleisten sowie die Transparenz der ergriffenen Maßnahmen zu erhöhen.

2.3

Um diese Ziele zu verwirklichen, wurden vier konkrete Aktionsbereiche geschaffen: Außengrenzen, Visapolitik, Asylpolitik und Einwanderungspolitik.

2.4

Für den Grenzschutz wird beabsichtigt, Kontrollen entsprechend den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere den im Schengen-Besitzstand enthaltenen Vorschriften, einzurichten, die Grenzüberwachungs- und –schutzkriterien anzugleichen und die Effizienz der Instrumente zu verstärken.

2.5

Im Bereich Visa soll gewährleistet werden, dass die Ausstellungsverfahren an die im EU-Regelwerk vorgesehenen Bestimmungen angepasst werden: Angleichung der Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen vor der Erteilung von Visa, Harmonisierung der Antragsmodelle und der Voraussetzungen für die Visaerteilung sowie der Ausnahmen von der allgemeinen Visaregelung bei gleichzeitiger Verstärkung der konsularischen Zusammenarbeit.

2.6

Im Bereich Asyl wird eine gemeinsame Regelung angestrebt, mit dem Ziel, einen einheitlichen Flüchtlingsstatus festzulegen, mithilfe eines angemessenen Verfahrens die Bestimmung des für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Staates zu ermöglichen sowie die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften durch die Festlegung von Mindestnormen für Asylverfahren zu harmonisieren.

2.7

Im Bereich Einwanderung wird beabsichtigt, gemeinsame Rechtsvorschriften über die Bedingungen für Aufnahme und Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festzulegen und ein europäisches Statut für langfristig Aufenthaltsberechtigte zu erarbeiten. Dabei geht es darum, legale Möglichkeiten für die Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen zu eröffnen und gegen die illegale Einwanderung vorzugehen.

2.8

Der Europäische Rat ersuchte die Kommission auf seiner Tagung in Sevilla, die Probleme mit der Verteilung der Finanzlast bei der Verwaltung der Außengrenzen zu prüfen. Nach dem Dafürhalten der Kommission kann mit der geeigneten Lösung erst bei Vorliegen der Finanziellen Vorausschau für die Zeit nach 2006 aufgewartet werden. Sie vertritt deshalb die Auffassung, dass der Vorschlag zur Änderung des ARGO-Programms bis zur Annahme des künftigen Haushaltsrahmens vorläufigen Charakter hat.

2.9

Die Kommission ist in ihrer Bewertung des ersten Durchführungsjahres (2003) zu der Feststellung gelangt, dass das ARGO-Programm zu wenig genutzt wurde. Da es den einzelstaatlichen Verwaltungen nicht gelungen ist, bei der Erarbeitung der im Rahmen des Programms geförderten und finanzierten Projekte auf die Stellen in den anderen Mitgliedstaaten zuzugehen, wurde nur weniger als die Hälfte der verfügbaren Mittel verbraucht.

2.10

Deshalb wird mit der vorgeschlagenen Änderung des ARGO-Programms angestrebt, die Finanzhilfe auch auf einzelstaatliche Projekte für den Bereich Außengrenzen auszuweiten, um so die strukturellen Schwächen der strategischen Grenzpunkte anzugehen, die anhand objektiver Kriterien (Risikobewertung) identifiziert werden sollen. Diese Kriterien werden in dem von der Kommission in Übereinstimmung mit dem ARGO-Ausschuss erstellten jährlichen Arbeitsprogramm festgelegt.

2.11

Das ARGO-Programm wird bis 2006 mit Haushaltsmitteln in Höhe von 46,1 Mio. EUR ausgestattet, wobei 21,3 Mio. auf das Jahr 2004 konzentriert waren.

2.12

Das Gemeinschaftsinteresse wird in Artikel 62, 63 und 66 des Vertrags und durch den Schengen-Besitzstand gewährleistet. Das Vereinigte Königreich und Irland werden den entsprechenden Beschluss im Rahmen des Vertrags annehmen.

3.   Bemerkungen

3.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hält es für angemessen, das ARGO-Programm dahingehend zu ändern, dass die zu Lasten dieses Programms getätigten Finanzhilfen auch auf einzelstaatliche Projekte für den Bereich Außengrenzen ausgeweitet werden; er möchte jedoch betonen, dass über den strategischen Charakter der Projekte auf Vorschlag der Kommission im ARGO-Ausschuss ein Einvernehmen erzielt werden muss, das auf einer Risikobewertung auf der Grundlage objektiver, von der Mehrheit der Mitgliedstaaten festgelegter Kriterien beruht.

3.2

Die Schwierigkeiten, die bei der Zusammenarbeit zwischen den einzelstaatlichen Verwaltungen im Rahmen des ARGO-Programms aufgetreten sind, haben gezeigt, dass es zwischen den Mitgliedstaaten an Kooperation bei der Verwaltung der Außengrenzen mangelt.

3.3

Der EWSA ist der Auffassung, dass es künftig erforderlich sein wird, über die Verwaltungszusammenarbeit hinausgehend und im Rahmen einer gemeinsamen Politik ein System der Gemeinschaftssolidarität in den Bereichen Außengrenzen, Visa, Asyl und Einwanderung aufzubauen. Für die Finanzielle Vorausschau ab 2007 wird dieser Ansatz berücksichtigt werden müssen.

3.4

Der EWSA kann die bei der Errichtung der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen aufgetretenen Verzögerungen und Probleme innerhalb des Rates nicht nachvollziehen. (1)

3.5

Der EWSA fordert die Behörden auf, bei der Verwaltungszusammenarbeit in den Bereichen Außengrenzen, Visa, Asyl und Einwanderung allen Personen stets eine menschenwürdige Behandlung im Einklang mit der Charta der Grundrechte der EU und den internationalen Menschenrechtskonventionen zuteil werden zu lassen.

3.6

Die Stellungnahme des EWSA (2) zu der Verordnung zur Errichtung der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen enthielt die folgenden Bemerkungen, die in diese Stellungnahme übernommen werden:

3.6.1

„Der Ausschuss fordert, dass das Asylrecht bei den Grenzkontrollen beachtet wird. Viele Menschen, die internationalen Schutzes bedürfen, erreichen die Außengrenzen der EU auf illegalem Wege. Die Behörden müssen gewährleisten, dass diese Personen um Schutz ersuchen können und dieses Ersuchen auf der Grundlage internationaler Abkommen sowie gemeinschaftlicher und einzelstaatlicher Rechtsvorschriften beurteilt wird. Solange die Verwaltungs- und Rechtsverfahren der Asylsuchenden nicht abgeschlossen sind, dürfen diese Personen nicht ausgewiesen werden; vielmehr muss ihnen ein entsprechender Schutz gewährt werden.“

3.6.2

„Oftmals machen sich kriminelle Schleusernetze die Mängel bei der Kontrolle der Außengrenzen zunutze. Sie zögern dabei nicht, das Leben der Betroffenen aufs Spiel zu setzen, um ihren illegalen Profit zu steigern. In der Stellungnahme zu kurzfristigen Aufenthaltstiteln für Opfer der Beihilfe zur illegalen Einwanderung und des Menschenhandels (3) vertritt der Ausschuss die Ansicht, dass sich die Behörden mit derselben Energie, mit der sie illegale Netze von Schleusern und Ausbeutern bekämpfen, für den Schutz der Opfer einsetzen sollten, vor allem von besonders schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen oder Opfern von Misshandlung und sexueller Ausbeutung.“

3.6.3

„Der Ausschuss hat in früheren Stellungnahmen ebenfalls betont, dass für die effiziente Kontrolle der Außengrenzen eine enge Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten und den Behörden der Herkunfts- und Transitländer mittels Verbindungsbeamten erforderlich ist.“

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  KOM(2003) 687 endg. – 2003/0273 (CNS).

(2)  Vgl. die Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“ vom 29. Januar 2004 (ABl. C 108 vom 30.4.2004; Berichterstatter: Herr Pariza Castaños).

(3)  Siehe die Stellungnahme im ABl. C 221 vom 17.9.2002 (Berichterstatter: Herr Pariza Castaños).


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/78


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht“

(KOM(2003) 808 endg. – 2003/0311 (CNS))

(2005/C 120/15)

Der Rat beschloss am 23. September 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 152 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss bestellte Herrn Olsson zum Hauptberichterstatter.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 159 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Wesentlicher Inhalt der Kommissionsvorlage

1.1

Die Kommission schlägt die Neufassung der Verordnung (EWG) Nr. 302/93 des Rates zur Schaffung einer Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) vor.

1.2

Die vorgeschlagenen Änderungen betreffen u.a.

die Stärkung der Rolle der EBDD: Vornehmlich sollen die neuen Praktiken besonders beim Drogenkonsum Jugendlicher Berücksichtigung finden, die immer häufiger illegale und legale Substanzen wie Alkohol miteinander kombinieren; außerdem soll die Beobachtungsstelle Indikatoren zur Bewertung der Drogenbekämpfungsmaßnahmen und strategien der Europäischen Union erarbeiten;

Anpassungen im Zusammenhang mit der Erweiterung: Geplant ist die Einrichtung eines Vorstands, der den Verwaltungsausschuss der EBDD unterstützt; außerdem wird vorgeschlagen, die Zusammensetzung des Wissenschaftlichen Ausschusses der Beobachtungsstelle zu überprüfen;

die Beseitigung einiger Unsicherheiten bei der Anwendung der ursprünglichen Verordnung: Insbesondere ist zu erwähnen, dass die Kontaktstellen des REITOX-Netzes die Fachzentren ersetzen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss bedauert die äußerst kurze Frist, die ihm der Rat für die Erarbeitung seiner Stellungnahme zu dem von der Kommission bereits im Dezember 2003 vorgelegten Verordnungsvorschlag einräumt.

2.2

Zweck der Beobachtungsstelle ist, der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten in den in Artikel 4 genannten Bereichen objektive, zuverlässige und auf europäischer Ebene vergleichbare Informationen über die Drogen- und Drogensuchtproblematik und ihre Folgen zu liefern.

2.3

Der Ausschuss begrüßt deshalb nachdrücklich den Verordnungsvorschlag, mit dem die Rolle der EBDD gestärkt, die Funktionsweise ihrer Arbeitsorgane angepasst und einige Unsicherheiten bei der Anwendung der ursprünglichen Verordnung beseitigt werden sollen. Dies entspricht den bereits in früheren Stellungnahmen des EWSA zum Ausdruck gebrachten Gedanken zur Prävention und Reduzierung von Risiken im Zusammenhang mit der Drogenabhängigkeit (1).

3.   Besondere Bemerkungen

3.1

Der EWSA fordert die Beteiligung der betroffenen Organisationen der Zivilgesellschaft an den Arbeiten der EBDD. Deshalb unterstützt er uneingeschränkt die in Artikel 5 Absatz 5 des Verordnungsvorschlags genannte Möglichkeit, dass „(...) die Beobachtungsstelle auf Gutachten und zusätzliche Informationsquellen, insbesondere auf in der Bekämpfung von Drogen und Drogensucht tätige grenzübergreifende Netze, zurückgreifen (kann)“.

3.2

Der EWSA schlägt vor, in der Beobachtungsstelle einen Verbindungsausschuss einzurichten, der aus Vertretern der in diesem Bereich tätigen europäischen Netze besteht, die die von den nationalen Kontaktstellen gelieferten Informationen durch zusätzliche Informationen ergänzen können (2).

3.3

Angesichts der finanziellen Unterstützung der Gemeinschaft für die nationalen Kontaktstellen empfiehlt der Ausschuss:

eine möglichst weitgehende Harmonisierung bei der Erhebung statistischer Daten durch die Mitgliedstaaten – nach dem Beispiel von Eurostat –, um eine bessere Zuverlässigkeit und Vergleichbarkeit der Daten zu erzielen. Artikel 5 Absatz 2 des Verordnungsvorschlags ist in diesem Sinne zu verdeutlichen;

die in diesem Bereich tätigen einzelstaatlichen Netzwerke der Zivilgesellschaft umfassend an den Arbeiten der nationalen Kontaktstellen zu beteiligen.

3.4

Der Ausschuss wird den neuen Aktionsplan der Europäischen Union zur Drogenbekämpfung, der Anfang 2005 veröffentlicht werden soll, aufmerksam prüfen.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  

Stellungnahme des EWSA zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über einen Aktionsplan der Europäischen Union zur Drogenbekämpfung (2000-2004)“, Berichterstatterin: Frau Hassett-Van Turnhout, ABl. C 51 vom 23.2.2000 und

Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Prävention und Reduzierung von Risiken im Zusammenhang mit der Drogenabhängigkeit“, Berichterstatterin: Frau Le Nouail-Marlière, ABl. C 61 vom 14.3.2003.

(2)  Die nationalen Kontaktstellen sind Teil des Europäischen Informationsnetzes für Drogen und Drogensucht (REITOX) der Beobachtungsstelle.


20.5.2005   

DE

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C 120/79


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Durchführung der Lissabon-Strategie verbessern“

(2005/C 120/16)

In den (vom Ratsvorsitz formulierten) Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25./26. März 2004 wurde der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags aufgefordert, zu prüfen, wie man „Die Durchführung der Lissabon-Strategie verbessern“ kann.

Die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 7. Oktober 2004 an und stützte sich dabei auf die Arbeiten des Lenkungsausschusses „Lissabon-Strategie“. Berichterstatter war Herr Vever, Mitberichterstatter die Herren Ehnmark und Simpson.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 169 gegen 4 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Tatsache, dass er vom Europäischen Rat vom 25./26. März 2004 aufgefordert wurde, zur Halbzeit der Lissabon-Strategie Wege und Mittel zur effizienteren Umsetzung dieser Strategie zu prüfen.

1.2

Der Ausschuss erinnert daran, dass in dem am 24. März 2000 in Lissabon erteilten Mandat von Beginn an betont wurde, dass:

die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft im Rahmen unterschiedlicher Partnerschaften aktiv daran mitwirken müssen;

der Erfolg der Strategie vornehmlich vom Privatsektor und von öffentlich-privaten Partnerschaften abhänge;

eine ausgewogene Entwicklung der drei Teile der Strategie – Wirtschaftswachstum, sozialer Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit – durch Stimulierung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit und Schaffung von Arbeitsplätzen und unter Einsatz angemessener umweltpolitischer Maßnahmen erreicht werden muss.

1.3

Der Ausschuss hat in seinen Debatten, Anhörungen und Stellungnahmen der letzten Jahre immer wieder die Bedeutung der Lissabon-Strategie für die wirtschaftliche und soziale Zukunft der Union hervorgehoben und alle wirtschaftlichen und sozialen Akteure zur aktiven Mitwirkung an der Strategie aufgefordert. Konkret hat der Ausschuss in jüngster Zeit Stellungnahmen zur Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in Europa, zur EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung (1), zur besseren Wirtschaftsführung in der EU und zu beschäftigungspolitischen Maßnahmen (2) verabschiedet. Der Ausschuss hat immer wieder darauf hingewiesen, dass sich die Ziele der Lissabon-Strategie ohne die volle Einbeziehung der Zivilgesellschaft nicht erreichen lassen.

1.4

Auf die Aufforderung des Europäischen Rates hin hat der Ausschuss unter Verweis auf seine jüngsten Standpunkte zur Lissabon-Strategie:

alle Fachgruppen in diese Aufgabe einbezogen;

die Ansichten der Wirtschafts- und Sozialräte der Mitgliedstaaten und von größeren Organisationen, welche die organisierte Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene vertreten, eingeholt;

zu diesem Zweck am 9./10. September 2004 in Brüssel eine Anhörung durchgeführt.

2.   Allgemeine Einschätzung

2.1

Die Lissabon-Strategie ist kurz gesagt bekanntermaßen die Verpflichtung, die Europäische Union zum wettbewerbfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.

2.2

Bei dieser Kurzbeschreibung der Lissabon-Strategie wurde oft, jedoch nicht immer auf die Tragweite und die Auswirkungen verwiesen.

2.3

Die Lissabon-Strategie steht für eine sehr ehrgeizige Vision für die gesamte Gesellschaft der Union. Mit der Aufstellung der Strategie wurden die grundlegenden Ziele der Union in dem nunmehr größeren Rahmen von 25 Mitgliedstaaten bekräftigt.

2.4

Was die Lissabon-Strategie nicht ist:

lediglich ein Konzept für Berufsökonomen;

die Zielsetzung eines für sich allein arbeitenden „Brüsseler Establishments“;

ein schmal angelegtes Konzept für rein wirtschaftliche Veränderungen;

eine Zielsetzung, die als mit der nachhaltigen Entwicklung unvereinbar gelten kann;

ein Konzept, das die sozialen Folgen des Wirtschaftswachstum außer Acht lässt.

2.5

Richtig erklärt und verstanden bedeutet die Lissabon-Strategie:

eine Methode zur Gestaltung der Zukunft Europas;

eine Strategie für die Sicherung und Verbesserung der Lebensqualität der Unionsbürger;

ein wichtiges Element, um die neuen Chancen der wissensbasierten Wirtschaft zu nutzen;

die Anerkenntnis, dass es zur Sicherung der Beschäftigung und Verbesserung des Lebensstandards einerseits und für mehr Wettbewerbsfähigkeit andererseits einer neuen Dynamik bedarf;

eine Strategie zur Förderung von Synergieeffekten zwischen wirtschaftlichen, sozialen und Umweltmaßnahmen;

eine Strategie, die auf den Erfolgen der Europäischen Union in der Vergangenheit aufbaut;

die Fähigkeit, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren Zusammenhalt zu erzielen.

2.6

In der weiterentwickelten Lissabon-Strategie ist das Streben nach Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum ein entscheidendes Element für mehr wirtschaftlichen Wohlstand, für die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Sicherung und die Verbesserung der Qualität der Lebensweisen und die Verbesserung des Lebensstandards. Andererseits entsteht aus besserer Lebensqualität, sozialen Verbesserungen und ökologischer Nachhaltigkeit möglicherweise auch wieder Wachstum. Im Zuge des durch Lissabon erreichten wirtschaftlichen Fortschritts ergeben sich in der Zukunft Möglichkeiten für eine bessere Unterstützung der unterhalb der Armutsgrenze lebenden Bevölkerungsgruppen durch die verstärkte soziale Eingliederung und die Nachhaltigkeit dieser Errungenschaften für künftige Generationen.

2.7

Wer behauptet, dass die Lissabon-Strategie nur Wettbewerbsfähigkeit meint, der hat sie falsch verstanden.

2.8

Der Ausschuss stellt zunächst fest, dass die Lissabon-Strategie in den letzten fünf Jahren bereits eine Reihe von positiven Entwicklungen auf den Weg gebracht hat, u.a.:

das sich quer durch die traditionellen Lager ziehende Bewusstsein, dass Reformbedarf besteht;

die schnelle Verbreitung von Informationstechnologien und Innovationsprozessen;

die stärkere Unterstützung für neu gegründete Unternehmen und die Finanzierung von KMU;

die stärkere Berücksichtigung einer nachhaltigen Entwicklung zum Abbau öffentlicher Haushaltsdefizite, die Wiederherstellung der Haushaltsstabilität für die sozialen Schutzsysteme und für den Umweltschutz;

Initiativen der Sozialpartner bei den sozialen Reformen;

Maßnahmen zur - wenn auch beschränkten - Vereinfachung der rechtlichen und Verwaltungsverfahren.

2.9

Trotz dieser positiven Aspekte ist das Fazit der letzten fünf Jahre, gemessen an den in Lissabon gesteckten Zielen, im Großen und Ganzen enttäuschend. Europa befindet sich in der Zange zwischen der Konkurrenz hochentwickelter Industrieländer und den Niedriglohn-Schwellenländern, welche immer stärker neue Technologien einsetzen, und steht vor den wachsenden Herausforderungen des Wettbewerbs. Anlass zur Besorgnis geben eine Reihe von Indikatoren:

die schwache Binnennachfrage, geringe Investitionen und das schleppende Wachstum in der Europäischen Union, das im Zeitraum 2001 bis 2003 durchschnittlich bei jährlich 1 % lag;

das deutliche Verfehlen der Beschäftigungsziele die zurückgehende Qualität der Arbeitsplätze und der Verlust der Arbeitsplatzsicherheit;

die Zunahme von Betriebsschließungen und Verlagerungen europäischer Produktionsstätten;

die erhebliche Zahl von Forschern und jungen Hochschulabsolventen, die in Drittländer abwandern;

anhaltende oder sogar steigende öffentliche Haushaltsdefizite in einer Reihe von Mitgliedstaaten;

zu stark divergierende Steuerregeln und Steuersätze für die Unternehmen;

die steigenden Kosten der sozialen Schutzsysteme, die zunehmende Alterung der Bevölkerung und die steigende Anfälligkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen;

die Ausrichtung auf die Produktspezialisierung entspricht nicht dem Grundgedanken einer wissensbasierten Wirtschaft.

2.10

Gleichzeitig ist man mit der Durchführung der Lissabon-Reformen im Rückstand.

2.10.1

Auf europäischer Ebene haben sich die 25 Mitgliedstaaten zwar verpflichtet, den Binnenmarkt auf verschiedenen Gebieten (Energie, Dienstleistungen, öffentliches Auftragswesen, transeuropäische Netze, Anpassung der öffentlichen Verwaltungen) zu vollenden, sie sträuben sich jedoch, die hierfür erforderlichen Maßnahmen fristgerecht umzusetzen.

2.10.2

Auf nationaler Ebene gibt es unterschiedliche Ergebnisse, wobei vor allem auf folgenden Gebieten Defizite bestehen:

strukturell bedingte komplizierte Gesetzes- und Verwaltungsbestimmungen;

die anhaltende Diskrepanz zwischen Arbeitskräfteangebot und Arbeitskräftenachfrage;

die zu hohe Vorruhestandsquote trotz gegenteiliger Verpflichtungen;

Bildungssysteme;

unzureichende Angebote für lebensbegleitendes Lernen;

Forschungsausgaben, die insgesamt gesehen eher noch weiter zurückgingen als sich dem Lissabon-Ziel von 3 % des BIP zu nähern;

die unzureichende Berücksichtigung der sozialen Probleme im Zusammenhang mit dem Innovationsbedarf.

2.10.3

Die neuen Mitgliedstaaten müssen häufig zusätzliche Probleme bewältigen, die auf Entwicklungsrückstände bei der Beschäftigung und im Technologie- oder Umweltbereich zurückzuführen sind, obgleich diese Nachteile bisweilen durch Reformmaßnahmen wettgemacht werden, die radikaler als in den 15 alten Mitgliedstaaten sind. Von diesen konnten im allgemeinen die nördlichen Mitgliedstaaten größere Fortschritte bei ihren Reformen verzeichnen als die südlichen Länder. Diese allgemeine Feststellung gilt auch für die Mitgliedstaaten, die ihren Staatshaushalt ausgeglichen haben, im Gegensatz zu jenen, die das Defizit weiter anwachsen ließen. Selbst hoch entwickelte Mitgliedstaaten liegen auf bestimmten Gebieten im Vergleich zu leistungsfähigeren Drittstaaten zurück. Sinn und Zweck der Reformen ist es nicht nur, besser als früher zu sein, sondern besser zu sein als die anderen.

2.11

Die Lissabon-Strategie ist in einen Teufelskreis geraten: das schwache Wachstum erschwert die Umsetzung von Reformen, während der Reformrückstand Wachstum und Beschäftigung weiter bremst. Die durchgeführten Reformen betreffen hauptsächlich die Angebotsseite der Wirtschaft. Ihnen war kein durchschlagender Erfolg beschieden, da ihnen keine ausreichende Nachfrage gegenüberstand.

2.12

Auf den Frühjahrstagungen des Europäischen Rates rollen die Mitgliedstaaten offenbar lieber die in Lissabon bereits festgelegten Ziele wieder auf, selbst wenn dies noch mehr Empfehlungen bedeutet, als den Stand der bereits eingeleiteten Reformen einer strikten Bewertung zu unterziehen und sich eindeutig zur Durchführung der ausstehenden Maßnahmen innerhalb festgelegter Fristen zu verpflichten. Nur zu oft können sie in Brüssel nicht klar darlegen, was sie zu Hause unternehmen oder auf welchen Gebieten sie die in Brüssel vereinbarten Ziele verfehlt haben. Den vielfältigen Reformzielen, Verpflichtungen und Teilnehmerstaaten steht eine ebenso große Zahl von Defiziten gegenüber, sei es bei der Übernahme von Mitverantwortung, bei der Umsetzung und Abstimmung oder bei der Wirksamkeit in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt.

2.13

Es besteht daher die Gefahr, dass die notwendigen Reformen nicht mit der erforderlichen Entschlossenheit vorangetrieben werden, in dem Glauben, dass die Strategie allein greift. Eine solche Lissabon-Blase würde wahrscheinlich nicht erst 2010 platzen.

2.14

Das in Lissabon formulierte Ziel, durch zielgerichtete Reformen die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und dies mit einem dauerhaften beschäftigungswirksamen Wirtschaftswachstum bei gleichzeitiger Stärkung des sozialen Zusammenhaltes zu verbinden, ist weiter relevant für ein Europa, das nunmehr am Scheideweg steht:

Einerseits ist Europa der Welt größter Exporteur und größter Binnenmarkt (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) und in der Lage, dynamische Projekte voranzutreiben, was mit dem Euro und der Erweiterung unter Beweis gestellt wurde.

Andererseits hinkt es beim Wirtschaftswachstum hinterher, wird durch die Verlagerung von Betrieben geschwächt und fühlt sich durch die Rückschläge, die es aufgrund seiner verringerten Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt erleidet, verunsichert und bedroht.

2.15

Das Lissabon-Ziel ist insofern ein ausgewogenes Ziel, als es wirtschaftliche Aspekte der Wettbewerbsfähigkeit, soziale Erfordernisse (Beschäftigung, Ausbildung, sozialer Zusammenhalt, Lebens- und Arbeitsbedingungen) und - wie auf dem Göteborger Gipfel hervorgehoben wurde - Umweltbelange angemessen und interaktiv in Einklang bringt.

2.16

Die Methoden der Lissabon-Strategie bleiben weiter gültig und stützen sich auf:

einen Mehrjahres-Zeitplan aufgeschlüsselt in mehrere Phasen bis zum Jahr 2010, in dem der Binnenmarkt vollendet sein soll;

die gemeinsame Bewertung der Fortschritte auf der alljährlichen Frühjahrstagung des Europäischen Rates;

die Methode der offenen Koordinierung mit den Mitgliedstaaten über gemeinsame Ziele und bewährte Verfahren als nützliche Ergänzung zur Gemeinschaftsmethode in Bereichen, die in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen;

die Betonung der zentralen Rolle der Privatwirtschaft, von öffentlich-privaten Partnerschaften, der Einbeziehung der Zivilgesellschaft durch die Behörden und des Dialogs zwischen den Sozialpartnern.

2.17

Die Zusammenarbeit im Rahmen der Methode der offenen Koordinierung vollzog sich bislang als Zusammenarbeit zwischen den Regierungen. Die demokratische Verankerung in den nationalen Parlamenten fehlte weitgehend. In den Mitgliedstaaten sollte daher eine ernsthafte parlamentarische Debatte über die im Zusammenhang mit der Lissabon-Strategie stehenden Fragenkomplexe angestoßen werden.

2.18

An der so wichtigen Einbeziehung und Unterstützung der Akteure der Zivilgesellschaft mangelte es in vielen Mitgliedstaaten. Dieses schwerwiegende Defizit ist ein großes Manko bei der Umsetzung der Lissabon-Strategie und erklärt zum großen Teil die geäußerten Bedenken und aufgetretenen Unzulänglichkeiten. Anhaltende Schwächen in der Kommunikation und Partnerschaft sind das Resultat.

2.18.1

Das Kommunikationsdefizit liegt auf der Hand. Trotz der laufenden nationalen Debatten über Beschäftigung, Ausbildung, sozialen Schutz, Unternehmensverlagerungen und technologischen Wettbewerb kommunizieren weder die Mitgliedstaaten noch die Medien mit der Öffentlichkeit über die Lissabon-Strategie. Auf das in Lissabon formulierte Ziel der Wettbewerbsfähigkeit hin angesprochen begreifen die meisten Unionsbürger weder Zweck noch Reichweite dieser Zielstellung. Viele meinen, dass das Ziel, die Union „zum wettbewerbsfähigsten (...) Wirtschaftsraum der Welt zu machen“ entweder unrealistisch ist oder das Ende des europäischen Sozialmodells bedeutet, weil es eine Angleichung nach unten an die weniger fortgeschrittenen Länder dieser Region bringt. Diese Reaktionen machen deutlich, dass das Ziel so erklärt werden muss, dass wir uns erfolgreich dem weltweiten Wettbewerb stellen wollen, indem wir unsere Probleme zum Teil verringern und zum Teil durch den optimalen Einsatz unserer Ressourcen wettmachen.

2.18.2

Viele Menschen in Europa stellen derzeit fest, dass viele soziale Besitzstände in Frage gestellt werden, ohne dass die daraus erwachsenden Vorteile für die Beschäftigungslage und nachhaltige sozialen Schutzsysteme deutlich werden. Die Menschen sind zutiefst besorgt über:

die steigende Zahl von Betriebsverlagerungen in Konkurrenzländer mit niedrigen Produktionskosten;

den wachsenden Druck auf die Beschäftigungslage und die Arbeitsbedingungen und den Verlust der Arbeitsplatzsicherheit;

Probleme beim Strukturwandel in den am stärksten von der Arbeitslosigkeit betroffenen Regionen und Branchen;

schwächere soziale Schutzsysteme (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Altersversorgung).

2.18.3

Zu viele Menschen in Europa haben den Eindruck, dass sie bei den Reformen kein Mitspracherecht haben, obgleich sie ja direkt davon betroffen sind und soziale Errungenschaften und Besitzstände auf dem Spiel stehen. Zudem enthalten die Berichte der Kommission und der Mitgliedstaaten bei weitem zu wenige Informationen über Wege zur Konsultation und Einbeziehung der Zivilgesellschaft oder über Partnerschaften mit den verschiedenen Akteuren der Zivilgesellschaft (die Rolle der Privatwirtschaft, die Rolle der Sozialpartner, öffentlich-private Partnerschaften, Nichtregierungsorganisationen usw.), obschon diesen Fragen in der Lissabon-Strategie große Bedeutung beigemessen wird.

3.   Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit

3.1

Der Schwerpunkt der Wettbewerbsfähigkeit trägt der Tatsache Rechnung, dass eine nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit in einer offenen und globalen Wirtschaft nur durch verstärkten Einsatz neuer Technologien, eine wirksamere berufliche Bildung, qualifizierte Arbeitnehmer und die Verbesserung der Produktivität erreicht werden kann. Die Qualität (der Waren, Dienstleistungen, Vorschriften, Verwaltungen, Beschäftigung, sozialen Beziehungen und Umwelt) steht dabei im Mittelpunkt der Strategie.

3.2

Diese Ziele lassen sich am besten mit gerechteren und effizienteren internationalen Rahmenbedingungen für den Handel und Zahlungsverkehr erreichen.

3.3

Neben neuen Vorschriften auf internationaler Ebene muss die europäische Wirtschaft ihre eigenen Vorschriften sowohl auf gemeinschaftlicher als auch auf einzelstaatlicher Ebene vereinfachen. Zu viel bürokratischer Aufwand schreckt viele davon ab, Initiativen zu ergreifen, die im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit notwendig sind.

3.4

Der EWSA ist – im Unterschied zu Kommission und Rat – der Ansicht, dass nur durch eine grundlegende Neuorientierung der Wirtschaftspolitik, insbesondere der makroökonomischen Politik, die innergemeinschaftlichen Blockaden für einen nachhaltigen und sich selbst tragenden konjunkturellen Aufschwung beseitigt werden können. Die EU muss sich auf ihre internen Kräfte stützen, um die europäische Wirtschaft wieder auf einen Kurs des Wachstums und der Vollbeschäftigung zu bringen. Dazu bedarf es einer ausgewogenen makroökonomischen Politik mit dem erklärten Ziel, das zu erreichen, was in der Lissabon-Strategie festgelegt ist, nämlich Vollbeschäftigung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, wobei die in den Schlussfolgerungen des Göteborger Gipfels enthaltene Verpflichtung zu einem 'nachhaltigen' Wachstum wirklich ernst genommen werden muss.

3.5

Ziel der Geldpolitik sollte es jedenfalls sein, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Preisstabilität, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung zu erreichen. Im vom Rat empfohlenen Policy-Mix fehlt aber eine klare Aufforderung an die EZB, auch ihre Verantwortung gegenüber der Realwirtschaft (Wachstum und Beschäftigung) wahrzunehmen. Dazu wäre es sinnvoll, der EZB ein Stabilitätsziel 'im weiteren Sinne' nahe zu legen, welches nicht nur die Preisstabilität betrifft, sondern auch die Stabilität von Wachstum, Vollbeschäftigung und des Systems des sozialen Zusammenhaltes. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat selbst bereits mehrfach gefordert, dass die Geldpolitik zur Verwirklichung des Zieles des Wachstums und der Vollbeschäftigung beitragen muss (z.B. in seiner Entschließung an den Europäischen Konvent vom 19. September 2002).

3.6

Die Gründung und das Wachstum von Unternehmen sollten stärker als bislang durch entsprechende Maßnahmen gefördert werden, wozu ein beschleunigtes und kostengünstigeres Verfahren der Unternehmensgründung, ein besserer Zugang zu Risikokapital, mehr Fortbildungsprogramme für Unternehmer und ein dichteres Servicenetz zur Förderung der KMU gehören.

3.7

Die Möglichkeiten des lebensbegleitenden Lernens sollten allen Bürgern aller Altersstufen in allen Mitgliedstaaten zur Verfügung stehen. Die Menschen sollten ermutigt werden, diese Möglichkeiten in Anspruch zu nehmen.

3.8

Das Potenzial des Binnenmarktes muss voll entfaltet werden. Die Europäische Union sollte jetzt eigentlich die Vorteile eines Marktes nutzen, der größer als derjenige der USA oder Chinas ist, doch dem steht Folgendes im Wege:

zu viele Richtlinien wurden nicht voll in nationales Recht umgesetzt;

unzureichende Fortschritte bei der Gewährleistung der Normung und gegenseitigen Anerkennung im Dienstleistungsverkehr;

Rückstände bei der Liberalisierung der Märkte einschließlich der Bereiche des öffentlichen Sektors;

Schwierigkeiten bei der Vereinbarung praktikabler geistiger Eigentumsrechte auf europäischer Ebene;

Unterschiede in der Besteuerung, die zu Verzerrungen führen.

3.9

Die Gewährung von Gemeinschaftshilfe sollte in Zukunft davon abhängig gemacht, ob in jenen Mitgliedstaaten, in denen strukturelle Defizite die Umsetzung beeinträchtigen, Verbesserungen erzielt werden.

3.10

Erleichterungen im Handel und Zahlungsverkehr sollten durch eine verstärkte administrative Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten in einer Reihe von Bereichen wie Zollverfahren, öffentliches Auftragswesen und transnationale öffentliche Dienstleistungen erreicht werden.

3.11

Überdies weisen die Mitgliedstaaten Rückstände in folgenden Bereichen auf:

bei der Vernetzung und Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur, was die Fertigstellung von Projekten transeuropäischer Netze beeinträchtigt;

beim Zugang von KMU zu Risikokapital;

Haushaltsdefizite in einigen Ländern;

bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung, die gemessen am BIP im Allgemeinen eher gesenkt als erhöht wurden (1,9 % des BIP im Gegensatz zu 2,6 % in den USA) und weit unter dem Zielwert von 3 % des BIP stagnieren;

eine hohe Vorruhestandquote ungeachtet der 2002 in Barcelona eingegangenen Verpflichtungen;

in den Bildungssystemen, die den direkten Bezug zu den wirtschaftlichen Realitäten und künftigen Beschäftigungsaussichten verloren haben.

3.12

Die Unternehmen in Europa sind ihrerseits in folgenden Bereichen in Rückstand geraten:

Forschung und Entwicklung: im Jahr 2002 hat die Privatwirtschaft in den USA 100 Mrd. Euro mehr in die Forschung gesteckt als in Europa. Der Europäische Rat von Lissabon hat sich das Ziel gesteckt, 3 % des BIP in FuE zu investieren, wovon zwei Drittel von der Privatwirtschaft aufgebracht werden sollen. Heute stellt letztere nur 56 % bereit.

Lebensbegleitendes Lernen: seit dem Start der Lissabon-Strategie hat die Beteiligung Erwachsener an lebensbegleitenden Bildungsmaßnahmen nur um 0,5 Prozentpunkte auf 8,5 % zugenommen. Damit zeichnet sich ein Scheitern im Hinblick auf das Lissabon-Ziel von 12,5 % bis 2010 ab.

4.   Einbeziehung der sozialen Dimension

4.1

Nötig ist eine explizite Strategie zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit unter Wahrung des sozialen Zusammenhalts. Dies könnte ein Neuanfang für die Sozialpolitik sein. Dieser strategische Rahmen könnte von den Sozialpartnern in Zusammenarbeit mit der Kommission und den Regierungen der Mitgliedstaaten erarbeitet werden. Die soziale Dimension der Lissabon-Strategie ist ein Schlüsselfaktor für Wohlstand, Produktivität und soziale Eingliederung und sollte als solcher voll anerkannt werden; sie muss in den nächsten fünf Jahren der Strategielaufzeit aktualisiert werden.

4.2

Der EWSA fordert die Regierungen der Mitgliedstaaten auf, Fortschritte bei den im Rahmen der Lissabon-Strategie erforderlichen Maßnahmen zu erzielen, um das angestrebte Wirtschaftswachstum zu stimulieren. Dies ist höchst wünschenswert, sodass ein New Deal für die europäische Gesellschaft ausgearbeitet werden kann. Im Mittelpunkt sollten vier Schwerpunktbereiche stehen, die da sind:

mehr und sichere Arbeitsplätze !

ältere Menschen im Erwerbsleben;

eine aktive Politik der sozialen Eingliederung;

Gesundheitsfürsorge und der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Umwelt.

4.3

Es bedarf gemeinsamer Anstrengungen und der Einbeziehung von Sozialpartnern, Nichtregierungsorganisationen und Regierungen, um Konzepte und Finanzierungsformen für die berufliche Fortbildung auf deutlich höherem Niveau und für viel mehr Arbeitssuchende als bisher zu entwickeln, insbesondere in Branchen, in denen es auf gehobenes Fachwissen und entsprechende Fähigkeiten ankommt.

4.4

Die Sozialpartner müssen gemeinsame Aktionen zur Verbesserung des Arbeitsumfelds und der Arbeitsorganisation in Erwägung ziehen, um eine höhere Produktivität und einen höheren Mehrwert pro Arbeitnehmer miteinander zu verknüpfen. Um bestimmte Probleme der zunehmenden Alterung der Arbeitnehmerschaft (und der sinkenden Zahl junger Zugänge auf dem Arbeitsmarkt) abzufedern, müssen diese demographischen Entwicklungen von den Regierungen, Unternehmen und Gewerkschaften angegangen werden.

4.5

Bestimmte Reformaspekte betreffen Menschen, die durch den Wandel schlechter gestellt werden, weshalb Leitlinien für eine aktivere Politik der sozialen Eingliederung nötig sind.

4.6

Die in der Lissabon-Strategie definierten allgemeinen sozialpolitischen Ziele gelten mit nur wenigen kleineren Änderungen weiter. Aber in den letzten vier Jahren haben sich die globalen Herausforderungen in ihrer Art und ihrer Größe beträchtlich geändert. Rasch wachsende Volkswirtschaften wie China und Indien sind auf den Plan getreten, was direkte Auswirkungen auf die Lissabon-Strategie hat. Immer mehr Spitzentechnologie-Produkte und -Dienstleistungen kommen zu äußerst attraktiven Preisen auf den Markt. Das anhaltend hohe Produktivitätswachstum in den Vereinigten Staaten bedeutet, dass die Lissabon-Strategie jetzt sich schnell bewegende Ziele verfolgt. Das im Vergleich zu den Vereinigten Staaten in den 90er Jahren stärkere Produktivitätswachstum pro Arbeitsstunde gehört offenbar der Vergangenheit an.

4.7

Ein positiver Faktor und eine Herausforderung zugleich ist die Erweiterung der Europäischen Union. Die 10 neuen Mitgliedstaaten repräsentieren einen dramatischen Zuwachs für den Binnenmarkt, an Kaufkraft und an qualifizierten Arbeitnehmern. Durch die neuen Mitgliedstaaten stellen sich jedoch auch neue Herausforderungen für die soziale Eingliederung. In Bezug auf die Arbeitnehmer muss die Bildung und berufliche Ausbildung in Spitzentechnologiebereichen ausgebaut werden, wie das auch in den 15 alten Mitgliedstaaten der Fall ist.

4.8

Der EWSA hat die Vorteile einer möglichen Charta für nachhaltige soziale Entwicklung, welche die genannten Bereiche abdeckt und die entsprechenden Grundrechte der Bürger beinhaltet, geprüft. Auf der Grundlage dieser Erwägungen schlägt der Ausschuss vor, dass die genannte Charta in das Arbeitsprogramm auf dem Gebiet der Sozialpolitik aufgenommen wird. Mit der Charta einhergehen müsste ein EU-Aktionsprogramm zur Koordinierung der verschiedenen Maßnahmen und zur Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Festlegung prioritärer Bereiche.

5.   Nachhaltige Entwicklung

5.1

Die EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung wird derzeit überarbeitet. Ein Beschluss über das Ergebnis wird für die Tagung des Europäischen Rates im März 2005 erwartet. Die Strategie für nachhaltige Entwicklung beinhaltet Maßnahmen auf wirtschaftlichem, sozialem und ökologischem Gebiet, die zur gegenseitigen Unterstützung durchgeführt werden.

5.1.1

Die Lissabon-Strategie, so wie sie sich in der Folge des Frühjahrsgipfels des Europäischen Rates im Jahr 2002 herausbildete, beinhaltet parallel laufende Aktionen auf wirtschaftlichem, sozialem und ökologischem Gebiet. Die Umweltdimension wurde auf Beschluss des Europäischen Rates von Göteborg aufgenommen.

5.2

Es wäre falsch, die Lissabon-Strategie und das der Strategie für nachhaltige Entwicklung zugrunde liegende Prinzip als konkurrierende Zielstellungen zu betrachten. Die Lissabon-Strategie verfolgt einen klaren Zeitplan, der bis zum Jahr 2010 reicht. Die Strategie für nachhaltige Entwicklung ist zeitlich unbeschränkt und beschäftigt sich mit Fragen der Beziehungen zwischen den Generationen.

5.3

In Anbetracht der Tatsache, dass der Europäische Rat im März 2005 beide Strategien gleichzeitig überprüfen will, gilt es drei Dinge festzustellen:

Die Lissabon-Strategie, die in fünf Jahren ausläuft, wird sich zunehmend mit Fragen beschäftigen müssen, die über das Jahr 2010 hinausreichen. Diese Fragen und Maßnahmen sollten nach den Kriterien bewertet werden, die für die Strategie für nachhaltige Entwicklung gelten. Durch diese Herangehensweise könnte die Lissabon-Strategie noch Projekte konkret auf den Weg bringen, die auch gut als Aktionen im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung gelten können.

Es ist von wesentlicher Bedeutung, das in der überarbeiteten Strategie für nachhaltige Entwicklung langfristige Ziele und Maßnahmen definiert werden, die den Aufgaben der Lissabon-Strategie Rechnung tragen und gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen und Programme koordinieren.

Die Lissabon-Strategie verfolgt möglicherweise eine Vielzahl von Zielen und Maßnahmen, doch die Ziele und Maßnahmen der Strategie für nachhaltige Entwicklung werden notwendigerweise noch breiter angelegt sein. Sie werden sich aber erst schrittweise herausbilden. In beiden Fällen kommt es darauf an, dass die nationalen und lokalen Ebenen eine entscheidende Rolle übernehmen können. Keine der beiden Strategien kann von oben nach unten funktionieren; sie sind zwangsläufig Strategien, die von der Basis zur Spitze wirken.

6.   Partnerschaften

6.1

In den ehrgeizigen Vorschlägen für eine dynamischere Umsetzung der Lissabon-Strategie kommen unterschiedliche Themen zur Sprache. Es kommt zwar keinem Politikbereich oder Aktionsplan allein eine Schlüsselrolle zu, doch ein Thema sticht hervor. Die wirksame Durchführung der Lissabon-Strategie erfordert EU-weit die Anerkenntnis, dass viele Menschen, Regierungen, Behörden, Organisationen und europäische Institutionen dafür zusammenwirken müssen.

6.2

Aus positiver Sicht hängt die neue Dynamik von einer vielschichtigen „Partnerschaft für den Wandel“ ab. Das Partnerschaftskonzept kann deutlich machen, dass die Lissabon-Ziele weder von oben nach unten hierarchisch angelegt sind noch den Alltagssorgen der Unionsbürger fern stehen.

6.3

Der Ausschuss betont, dass eine der größten Schwächen bei der Umsetzung der Lissabon-Strategie in der unzureichenden Einbeziehung der Akteure der Zivilgesellschaft besteht, obgleich in der Strategie ausdrücklich Nachdruck auf diesen Punkt gelegt wird. Diese Schwäche könnte sogar die gesamte Strategie scheitern lassen. Der Ausschuss begrüßt, dass der Europäische Rat sich am 24. März 2004 für eine Lösung dieses Problems in Form von Reformpartnerschaften eingesetzt hat. Der Ausschuss hat sich bereit erklärt, seinen Beitrag dazu in Form eines Aktionsplans zu leisten.

6.4

Der Ausschuss beabsichtigt, mit den in den Mitgliedstaaten bestehenden Wirtschafts- und Sozialräten und den sozialen und wirtschaftlichen Partnern, die dies wünschen, zusammenzuarbeiten und gemeinsam ein Netz zivilgesellschaftlicher Initiativen für erfolgreiche Reformen einzurichten.

6.5

Dieses interaktive und dezentrale Netzwerk soll die Websites der Teilnehmer zusammenführen und:

laufende und in Vorbereitung befindliche soziale und arbeitsplatzschaffende Initiativen, die die Lissabon-Reformen auf europäischer, einzelstaatlicher oder regionaler Ebene weiter voranbringen, darlegen;

bewährte Verfahren auf diesem Gebiet - einschließlich grenzüberschreitender Fragen - herausarbeiten;

den Austausch von Erfahrungen und Analysen unter den Akteuren der Zivilgesellschaft ermöglichen;

Gesprächsforen und Debatten über die Reformen organisieren.

6.6

Zur Förderung derartiger Initiativen sollen Handlungsvorgaben erstellt und von den am Netzwerk Beteiligten umgesetzt werden.

6.7

Im Vorfeld der Frühjahrstagung des Europäischen Rates soll eine jährliche Konferenz der Netzwerkteilnehmer zur Bestandsaufnahme der Initiativen aus der Zivilgesellschaft organisiert werden.

6.8

Der Ausschuss möchte als europäisches Forum des Dialogs über Reformpartnerschaften dienen und dabei auf einzelstaatlichen und europäischen Erfahrungen aufbauen.

6.9

Über diese Verbindung zu den repräsentativen nationalen Gremien könnten langjährige Erfahrungen eingebracht werden, was einen wirksameren Beitrag des EWSA bei der jährlichen Überprüfung der Strategie auf der Frühjahrstagung des Europäischen Rates möglich macht.

7.   Voraussetzungen für eine wirksame Umsetzung der Lissabon-Strategie

7.1

Der Ausschuss betont, dass die Reformen von Lissabon mit der europäischen Zivilgesellschaft in Einklang gebracht werden müssen, und ist der Ansicht, dass die für eine Umsetzung der Lissabon-Strategie erforderliche Überarbeitung drei Voraussetzungen erfüllen muss:

7.2

Zunächst darf die Umsetzung der Lissabon-Strategie nicht auf die lange Bank geschoben wird. Der Wettbewerb auf dem Weltmarkt nimmt von Tag zu Tag zu. Im Ergebnis werden Unternehmensstandorte verlagert. Davon betroffen sind immer mehr Regionen und Branchen, die mit Billiglohnländern beziehungsweise Schwellenländern konkurrieren müssen, die geringe Produktionskosten und oft die modernsten und innovativsten Spitzentechnologien haben. Wirksame langfristige Maßnahmen zur Wiederherstellung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit und der Attraktivität des Unternehmensstandorts Europa dulden keinen Aufschub.

7.3

Nun ist die Lissabon-Strategie ein strategisches Konzept. Insofern ist sie mit früheren strategischen Konzepten, die die Integration entscheidend vorangebracht haben, vergleichbar. In diesen Fällen ging es um einen in enger Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten durchgeführten mehrstufigen Plan mit einem genauen Zeithorizont und einer straffen Umsetzungsregie. Dies galt Ende der sechziger Jahre für die im Vertrag verankerte Zollunion. Auch der Erfolg von „Europa 92“ war das Ergebnis einer derartigen Planung. Die Währungsunion ist ein weiteres erfolgreiches Beispiel. In den genannten Fällen wurde entweder die Gemeinschaftsmethode erfolgreich angewandt - wie bei der Zollunion und Europa 92 - oder die Mitgliedstaaten erzielten durch ihre positive Mitarbeit ein sehnlichst gewünschtes Ergebnis, nämlich die Teilnahme an der WWU. Das Problem ist, dass derzeit keine der beiden Situationen vorliegt. Zufriedenstellende Fortschritte hängen nun wirklich völlig vom politischen Willen ab.

7.4

Zweitens kann die Lissabon-Strategie ohne internationale Regeln keinen Erfolg haben. Europas Arbeitgeber und Arbeitnehmer wollen sich nicht auf einen hemmungslosen Wettbewerb einlassen und in eine ungesteuerte Kostensenkungsspirale ohne Rücksicht auf Gesundheit, Sicherheit, sozialen und ökologischen Fortschritt und eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung geraten. Daher können die Lissabon-Reformen nur dann Erfolg haben, wenn die EU gleichzeitig im Rahmen der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds, der WIPO und der IAO sowie weiterer internationaler Organisationen nachdrücklich darauf hinwirkt, dass für die Globalisierung Rahmenbedingungen in Form fairer und wirksamer Regeln und Vorschriften festgelegt werden. Die Aufstellung eines international anerkannten Bezugsrahmens für Wettbewerbsfähigkeit einschließlich bestimmter Mindestvorschriften über Wettbewerb, Sicherheit, Qualitätsnormen, soziale Rechte, Schutz von Kindern, Umweltschutz und gewerblichen Rechtsschutz ist daher von wesentlicher Bedeutung. Ohne diese Mindestgarantien lässt sich wohl kaum die Unterstützung der europäischen Öffentlichkeit einwerben.

7.5

Drittens darf die Umsetzung der Lissabon-Strategie nicht dem Gesellschaftsmodell der Gemeinschaft zuwiderlaufen, denn die Medizin soll ja den Patienten heilen und nicht umbringen.

7.5.1

Es ist wichtig, die Befürchtungen über das Ausmaß und die sozialen Kosten der Reformen zu zerstreuen. Den Menschen muss bewusst gemacht werden, dass diese Reformen für die Nachhaltigkeit des europäischen Entwicklungsmodells als Teil eines offenen Wirtschaftssystems von wesentlicher Bedeutung sind. Hauptziel der Lissabon-Strategie muss es sein, die langfristige Lebensfähigkeit des europäischen Gesellschaftsmodells, das den Unionsbürgern so am Herzen liegt und in der Charta der Grundrechte festgeschrieben ist, zu gewährleisten und gleichzeitig dieses Modell mit den Erfordernissen der Wettbewerbsfähigkeit in Einklang zu bringen.

7.5.2

Die Lissabon-Strategie muss sich auch den Umweltproblemen voll annehmen. Die 2001 in Göteborg eingegangenen Verpflichtungen sind eine klare Bekräftigung und Erweiterung der in Lissabon zum Ausdruck gebrachten Absicht, eine wettbewerbsfähige Wirtschaft mit einer hohen Lebensqualität in Einklang zu bringen.

7.6

Viertens liegt es auf der Hand, dass der Erfolg der Lissabon-Strategie von stärkeren europäischen, nationalen und regionalen Partnerschaften sowohl zwischen Staaten und Vertretern der wirtschaftlichen und sozialen Interessengruppen als auch zwischen den Sozialpartnern abhängt. In den ersten Jahren der Lissabon-Strategie versäumten es zu viele Länder, die Sozialpartner in die Gestaltung und Umsetzung der Reformen wirklich einzubeziehen; sie beschränkten sich vielmehr darauf, sie nur anzuhören und in den jährlichen Fortschrittsberichten knapp zu erwähnen. Es bleiben fünf Jahre, um das Lissabon-Ziel zu erreichen, und in dieser Zeit dürfen sich solche Versäumnisse nicht wiederholen. Ohne eine informierte, gewarnte, einbezogene und wirklich mobilisierte Zivilgesellschaft lässt sich das Ziel nicht erreichen.

8.   Acht Vorschläge des EWSA für Prioritäten zur besseren Umsetzung der Lissabon-Strategie

Ausgehend von der vorgenommenen Analyse und nach ausgiebigen Konsultationen legt der EWSA auf die Aufforderung des Europäischen Rates hin die folgenden Vorschläge vor:

8.1   Die Mitgliedstaaten müssen sich die Strategie zu Eigen machen.

8.1.1

Die Regierungen der Mitgliedstaaten sollten deutlicher und aktiver als bisher Verantwortung für die Umsetzung des Arbeitsprogramms der Lissabon-Strategie übernehmen. Es ist wichtig, dass sich die Regierungen der Mitgliedstaaten und die nationalen Parlamente die Strategie zu Eigen machen. Die Mitgliedstaaten sollten klare Pläne mit Zeitrahmen für die Durchführung der Maßnahmen vorlegen, die sie zur Umsetzung der auf den Lissabon-Folgetagungen vereinbarten Ziele jeweils vorschlagen.

8.1.2

Die Lissabon-Strategie muss als das anerkannt werden, was sie ist: ein sehr ehrgeiziges Programm zum Aufbau einer europäischen Gesellschaft mit Wohlstand, Wohlergehen, Wettbewerbsfähigkeit, sozialer Eingliederung und einem hohen Umweltbewusstsein. Auf dieser Grundlage bedarf es einer aktiveren Kommunikation mit den Sozialpartnern und der organisierten Zivilgesellschaft. Die Lissabon-Strategie wurde bislang zu sehr als rein wirtschaftliches Programm gesehen.

8.1.3

Die Methode der offenen Koordinierung braucht mehr Biss. Die jährlich vorgenommene vergleichende Analyse muss detaillierter sein und die Mitgliedstaaten müssen dabei besser nachweisen, ob im Hinblick auf die gemeinsam beschlossenen Ziele strukturelle oder andere Hindernisse bestehen.

8.2   Stärkung des Wachstums und des Zusammenhalts

8.2.1

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt muss zu einem Instrument für mehr Wachstum und höhere Produktivität werden und dabei die Stabilitätsziele auf ganze makroökonomische Zyklen und nicht nur einzelne Jahre beziehen. Zur Nachfragestimulierung brauchen wir einen spannungsfreien Mix der makroökonomischen Instrumente.

8.2.2

Die EZB sollte die mittelbaren ökonomischen Auswirkungen ihrer Entscheidungen stärker berücksichtigen und im Rahmen der von Inflationseindämmung vorgegebenen Zwänge die Lissabon-Ziele aktiv unterstützen.

8.2.3

Bei der Abstimmung der Wirtschaftspolitik zwischen (und innerhalb) der Mitgliedstaaten sollten die Regierungen Leistungsziele aufstellen und die Schlüsselindikatoren zum Nachweis der Ergebnisse beobachten.

8.2.4

Kohäsionspolitische Maßnahmen müssen so angelegt sein, dass sie Verbesserungen bei der Wettbewerbsfähigkeit aktiv verstärken, da diese wiederum dazu beitragen, die Einkommensunterschiede innerhalb der Gemeinschaft zu verringern. Im Rahmen der Kohäsionspolitik sollte auch definiert werden, welche Praktiken beim Einsatz staatlicher Beihilfen annehmbar sind.

8.3   Effizientere Umsetzung des Binnenmarktes

8.3.1

Besondere Aufmerksamkeit muss dem Programm zur Umsetzung des Binnenmarktes gelten, der nunmehr auf 25 Mitgliedstaaten angewachsen ist. Die Kommission sollte einen detaillierten Bericht über die noch ausstehenden Binnenmarktthemen in die jährliche Bewertung der Lissabon-Strategie aufnehmen.

8.3.2

Folgende Maßnahmen für den Binnenmarkt sind überfällig und müssen unverzüglich ergriffen werden: die Verordnung zur Abschaffung der Doppelbesteuerung innerhalb des Binnenmarktes; ein kurzfristig verfügbares, einfaches, wirksames und erschwingliches Gemeinschaftspatent; erneute Anstrengungen zur Vollendung eines echten und ausgewogenen Binnenmarktes für Dienstleistungen.

8.4   Förderung von Innovation und Qualität

8.4.1

Die Europäische Investitionsbank (EIB) und der Europäische Investitionsfonds (EIF) sollten in Zusammenarbeit mit der Kommission und den Mitgliedstaaten verstärkt innovative Investitionsvorhaben und Programme sowohl öffentlicher als auch privater Träger ermitteln, vorrangig fördern und strukturieren. Der EIF sollte auch weiterhin die Frage angehen, dass Europa ein hohes Wachstum und innovative KMU braucht, und dem Rechnung tragen, insbesondere durch die Bereitstellung von Risikokapital und Krediten an KMU und durch eine stärkere Förderung der Möglichkeiten der Finanzierung durch die EIB.

8.4.2

Die Qualität (der Waren, Dienstleistungen, Vorschriften, Verwaltungen, Beschäftigung, sozialen Beziehungen und Umwelt) ist von wesentlicher Bedeutung für die Umsetzung der Strategie und sollte fester Bestandteil der jährlichen Bewertung der Fortschritte auf nationaler und EU-Ebene sein.

8.5   Neugestaltung der Sozialpolitik

8.5.1

Es muss anerkannt werden, dass Sozialpolitik eine Voraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität ist und umgekehrt. Die sozialpolitische Agenda für die erweiterte Europäische Union muss neu gestaltet werden. Dies könnte in Form einer Charta über nachhaltige soziale Entwicklung erfolgen, welche die Schlüsselbereiche der Sozialpolitik und die entsprechenden Grundrechte der Bürger abdeckt.

8.5.2

Vier Bereiche der Sozialpolitik sind für die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit von besonderer Bedeutung: beschäftigungspolitische Maßnahmen, ältere Menschen im Erwerbsleben, Maßnahmen zur aktiveren sozialen Eingliederung und die Gesundheitsfürsorge, wozu auch der Zusammenhang zwischen Gesundheit, sozialem Schutz und Umwelt gehört. Auf all diesen Gebieten brauchen wir neue Initiativen und eine enge Abstimmung zwischen der EU, den nationalen Regierungen und den Sozialpartnern.

8.5.3

Der Aufbau einer wissensintensiven Gesellschaft erfordert umfangreiche Ressourcen sowohl für den allgemeinen Bildungsbereich als auch für die Fortbildung und berufliche Bildung. Das Konzept des lebensbegleitenden Lernens hat zwar in allen Mitgliedstaaten Verbreitung gefunden, muss aber noch weiterentwickelt werden, was auch für das lebensbegleitende Lernen auf höherem Niveau gilt. Die Kommission sollte in Absprache mit den Sozialpartnern die Möglichkeiten für die Verabschiedung einer europaweiten Charta über das lebensbegleitende Lernen unter Einbeziehung alternativer Finanzierungsmöglichkeiten prüfen.

8.5.4

Gemäß den Beschlüssen des Europäischen Rates von Tampere und Thessaloniki muss die EU eine aktivere gemeinsame Einwanderungspolitik entwickeln. In den nächsten Jahren wird die Einwanderung nach Europa aus demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Gründen eine Schlüsselfrage bleiben. Zur Durchführung der Lissabon-Strategie braucht die EU transparente Rechtsvorschriften über die Aufnahme legaler Einwanderer, eine gut aufeinander abgestimmte Einwanderungspolitik und Beschäftigungsstrategie und eine neue Politik der Integration und Bekämpfung von Diskriminierung.

8.6   Förderung von Forschungspartnerschaften zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor

8.6.1

Die Grundlagenforschung und angewandte Forschung bilden ein Kernstück der wissensintensiven Gesellschaft. Die Unternehmen in der EU fallen derzeit eher zurück als die Zielvorgaben für mehr Forschungsausgaben zu erreichen; Gleiches gilt für die Regierungen. Zusätzliche Mittel könnten durch Forschungspartnerschaften zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor aufgebracht werden. Europa braucht aktive Maßnahmen, um ausländische Forscher anzuziehen und die an anderen Orten tätigen europäischen Forscher zur Rückkehr zu bewegen.

8.6.2

Die Kommission sollte einen Plan für die Anhebung der Forschungsinvestitionen, für die bessere Aufeinanderabstimmung der Programme auf EU- und nationaler Ebene und für die Einrichtung eines Europäischen Forschungsrates vorlegen.

8.6.3

Der Wissenstransfer von der Forschung in die gewerbliche Anwendung ist in der Europäischen Union im Vergleich zu den USA ineffizient und langsam. Die Kommission sollte einen konkreten Maßnahmeplan zur Förderung des Wissenstransfers in die gewerbliche Anwendung vorlegen.

8.6.4

Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen brauchen Zugang zur Forschung und Unterstützung bei der Einführung technischer Innovationen. Die EIB sollte zusammen mit der Kommission Wege und Mittel für die weitere Förderung dieses Wissenstransfers finden.

8.7   Aktiverer Umweltschutz

8.7.1

Die Lissabon-Strategie stützt sich auch auf einen dritten Pfeiler: die Umweltdimension. Die Entwicklung umweltfreundlicher Technologien muss stärker gefördert werden. In den Bereichen Energieversorgung und Verkehr sollten die gemeinsamen Anstrengungen des öffentlichen und privaten Sektors ausgedehnt werden. Langfristig können beträchtliche Synergieeffekte durch den Umweltbereich erzielt werden.

8.7.2

Die nachhaltige Entwicklung ist für die nächsten fünf Jahre zwangsläufig ein Bestandteil der Lissabon-Strategie, reicht jedoch zeitlich weit darüber hinaus. In der überarbeiteten Strategie für nachhaltige Entwicklung sollten konkrete Maßnahmen vorgesehen werden, die mit der zweiten Halbzeit der Lissabon-Strategie vereinbar sind.

8.8   Die Unterstützung der Unionsbürger einwerben

8.8.1

Die Lissabon-Strategie muss wieder zur Basis, zu den Unionsbürgern zurückgeführt werden! Die organisierte Zivilgesellschaft und die Sozialpartner müssen eine stärkere und umfassendere Rolle bei der Umsetzung der Lissabon-Strategie spielen. Der EWSA schließt sich den diesbezüglichen Erklärungen des Europäischen Rates voll und ganz an.

8.8.2

Will die EU, dass die Lissabon-Ziele realistisch erreichbar sind, muss sie ein schlüssiges, dynamisches und fortschrittliches Konzept für die Ziele der Union und die institutionelle Dynamik vorlegen. Diese Ziele werden wahrscheinlich am besten durch den neuen europäischen Verfassungsvertrag verkörpert, den es überzeugend darzulegen gilt und der von den Mitgliedstaaten angenommen werden sowie bei den Unionsbürgern Unterstützung finden muss.

8.8.3

Der EWSA spricht sich daher dafür aus, beim Lissabon-Prozess 'neuen Stils' an die Methodik von 'Europa 92' anzuknüpfen. Auf der bisherigen Praxis aufbauend bedeutet dies, dass die Berichte über die Grundzüge der Wirtschaftspolitik, den Binnenmarkt, die Beschäftigung und den Lissabon-Prozess zu einem strategischen, zeitlich unterteilten Plan zusammengefasst werden, aus dem deutlich hervorgeht, welche Maßnahme aufgrund welchen Beschlussfassungsprozesses von wem (Kommission, Rat, Mitgliedstaaten) bis zu welchem Zeitpunkt durchzuführen ist.

8.8.4

Auf nationaler Ebene kommt den Wirtschafts- und Sozialräten zusammen mit den Sozialpartnern und den verschiedenen Organisationen der Zivilgesellschaft eine sehr wichtige Rolle zu. Die Umsetzung der Lissabon-Strategie kann diesen Räten eine besondere Stellung verleihen.

8.8.5

Auf Gemeinschaftsebene ist der EWSA bereit, aktiv Verantwortung für die Umsetzung und Kontrolle der Lissabon-Strategie zu übernehmen und dabei mit den Sozialpartnern und den Organisationen der Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene eng zusammenzuarbeiten.

8.8.6

Die Unionsbürger müssen über die Lissabon-Strategie informiert werden! Dabei muss vor allem herausgestellt werden, dass das Ziel der Strategie letztendlich ein Europa mit Wohlstand, hoher Wettbewerbsfähigkeit und Umweltbewusstsein ist. Ohne die aktive Einbeziehung der Bürger kann die Strategie nicht erfolgreich umgesetzt werden. Der EWSA beabsichtigt, aktiv bei dieser Aufklärungsarbeit mitzuwirken.

8.8.7

Die Umsetzung der Lissabon-Strategie erfordert eine schlüssige und klare Politik sowohl auf Gemeinschaftsebene als auch in den Mitgliedstaaten. Die drei Pfeiler der Strategie bieten die einmalige Chance für wirtschaftliche, soziale und ökologische Synergieeffekte. Der Lissabon-Prozess muss wieder in Gang gebracht werden, wobei es gilt, die drei Pfeiler in einer gemeinsamen schlüssigen Politik in Einklang zu bringen.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  ABl. C 117, 30.4.2004.

(2)  ABl. C 110, 30.4.2004.


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/89


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen als Herausforderung“

(2005/C 120/17)

Am 20. Februar 2004 ersuchte der Präsident der Europäischen Kommission, Romano PRODI, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss im Namen der Kommission um eine Stellungnahme zum Thema: „Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen als Herausforderung“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 20. September 2004 an. Berichterstatter war Herr VEVER, Mitberichterstatterin Frau FLORIO.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 105 gegen 3 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung

1.1

Europa, das von seinen großen Industriepartnern auf der einen Seite und den Volkswirtschaften der Schwellenländer mit niedrigen Produktionskosten auf der anderen Seite in die Zange genommen wird, sieht sich zunehmenden Herausforderungen in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber. Gleichzeitig sind ein schwaches Wachstum und erhebliche Verzögerungen bei den Investitionen in Ausbildung, Forschung und neue Technologien zu verzeichnen, während die Standortverlagerungen europäischer Unternehmen angesichts des internationalen Wettbewerbs zunehmen.

1.2

Europa hat durch sein Gesellschaftsmodell, das auf Sozialbeziehungen setzt, für seine Unternehmen aber auch Wettbewerbsvorteile vorzuweisen:

sein internationaler Handel verdeutlicht seine starke Beteiligung an der Globalisierung;

sein erweiterter Binnenmarkt ist mittlerweile der größte Markt der Welt;

seine — wenn auch noch begrenzte — Währungsunion ist ein einzigartiger Fortschritt, der seinesgleichen sucht;

sein laufendes Lissabon-Programm enthält wirtschaftliche, soziale und ökologische Reformen, die insbesondere darauf abzielen, seine Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig wiederherzustellen.

1.3

Während es sich bei bestimmten Wettbewerbsvorteilen Europas nach wie vor eher um aktuelle Entwicklungen denn unumkehrbare Errungenschaften handelt, haben die europäischen Unternehmen weiterhin mit Nachteilen zu kämpfen, die auch zu seiner derzeitigen enttäuschenden Leistung bei Wachstum und Beschäftigung beitragen, und zwar:

die rechtlichen und administrativen Rahmenbedingungen in Europa bieten der unternehmerischen Initiative zu wenig Halt;

im immer noch unvollendeten Binnenmarkt bestehen noch zu viele Hemmnisse;

trotz der Währungsunion lässt eine echte Wirtschaftsunion immer noch auf sich warten;

auch bei der Umsetzung der in Lissabon beschlossenen Wettbewerbsstrategie häufen sich die Verspätungen.

1.4

Für die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen hebt der Ausschuss vier Voraussetzungen hervor, die seiner Auffassung nach nicht voneinander zu trennen sind:

1.4.1

Die erste Priorität besteht darin, das Vertrauen der Wirtschaftsakteure wiederherzustellen, und zwar durch:

eine klarere Darstellung des europäischen Vorhabens in seinem globalen Umfeld;

eine Vereinfachung der Rechtsvorschriften auf europäischer und nationaler Ebene und eine Ausweitung der wirtschaftlichen und sozialen Selbst- und Koregulierung;

Maßnahmen zur Erleichterung der Schaffung und Entwicklung von Unternehmen, nämlich Risikokapital, Ausbildung von Unternehmern, Unterstützungsmaßnahmen für KMU;

mehr Unterstützung für innovative europäische Initiativen der Unternehmen und für eine aktive Teilnahme der anderen wirtschaftlichen und sozialen Akteure;

mehr Programme zur Ausbildung, Qualifizierung und beruflichen Umschulung von Arbeitnehmern, insbesondere älteren.

1.4.2

Eine weitere Priorität ist es, die wesentlichen Bestimmungen des Binnenmarktes umzusetzen und seine Vollendung nicht über den in Lissabon für die Wettbewerbsfähigkeit festgesetzten Zieltermin 2010 hinaus zu verschieben. Dies setzt Folgendes voraus:

ein strikteres Durchgreifen im Hinblick auf die Umsetzung in nationales Recht, wobei die Mitgliedstaaten in dieser Frage stärker in die Pflicht genommen werden müssen. Die EU-Hilfen für säumige Staaten könnte gegebenenfalls neu ausgerichtet und an den Abbau ihrer Rückstände bei der Umsetzung geknüpft werden;

es müssen endlich die notwendigen — und von den Unternehmen schon viel zu lange erwarteten — Entscheidungen getroffen werden, um die Doppelbesteuerungen abzuschaffen, das innergemeinschaftliche Mehrwertsteuersystem zu vereinfachen, ein vereinfachtes Statut der Europäischen Gesellschaft, das die KMU einbezieht, zu schaffen und den Weg für die Einführung des Gemeinschaftspatents freizumachen;

damit der Handel sicherer und flüssiger wird, sind eine verstärkte Zusammenarbeit der nationalen Verwaltungen, gemeinschaftliche Kontrollen des Binnenmarktes, vereinheitlichte Zollbehörden an den Außengrenzen sowie eine höhere Effizienz der öffentlichen Versorgungsleistungen und eine bessere Zusammenarbeit der betreffenden Einrichtungen erforderlich, die es in bestimmten Fällen auch rechtfertigen könnten, die Entwicklung von Leistungen der Daseinsvorsorge auf europäischer Ebene zu erwägen.

1.4.3

Eine wichtige Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen ist auch die — auf den Zieltermin 2010 abgestimmte — Entwicklung einer mit dem Euro im Zentrum ausgerichteten dynamischen Wirtschaftsunion, die gestützt auf eine entsprechende Wirtschaftspolitik Wachstum und Beschäftigung ankurbeln kann. Hierzu ist es notwendig:

die Währungsunion schrittweise — aber ohne ungerechtfertigte Verzögerungen — auf die neuen Mitgliedstaaten der EU auszudehnen;

eine vorherige — und nicht nachträgliche — gemeinschaftliche Stellungnahme zu einzelstaatlichen Finanzgesetzentwürfen zur Auflage zu machen;

die Steuersysteme müssen unter Rahmenbedingungen angeglichen werden, die mit einer für den Handel offenen, für Investitionen attraktiven und auf ihren sozialen Zusammenhalt bedachten Wirtschaft vereinbar sind, gegebenenfalls über verstärkte Kooperationsmaßnahmen;

Maßnahmen zu ergreifen, die die Wirtschaftstätigkeit und das Wirtschaftswachstum in Europa unmittelbar unterstützen: Förderung öffentlich-privater Partnerschaften zur Finanzierung neuer transeuropäischer Infrastrukturen, die der erweiterten Union angemessen sind; Entwicklung eines gemeinschaftlichen industriepolitischen Ansatzes, der zu Investitionen in die neuen Technologien, Forschung und Ausbildung und auch zur Ausrichtung der Wettbewerbspolitik und der Handelspolitik dient; Mobilisierung der technologischen Ressourcen Europas im Rahmen von Großprojekten von gemeinsamem strategischen Interesse, u.a. im Sicherheitsbereich;

die Mittel des Gemeinschaftshaushalts im Einklang mit den Prioritäten dieser gemeinsamen Wirtschaftspolitik aufzustocken und umzuverteilen.

1.4.4

Bei der Durchführung der Strukturreformen im Rahmen der Lissabon-Strategie muss schließlich mehr Entschlossenheit und Kohärenz gewährleistet werden, indem:

der Stand der einzelstaatlichen Reformen in den Bereichen Wirtschaft und Investitionen (Öffnung der Märkte, Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten, Förderung der Forschung), Soziales (Ausbildung, Arbeitsmarkt, Sozialschutz, Investitionen von Unternehmen in Humankapital), Verwaltung (Verringerung der öffentlichen Defizite, Vereinfachung) und Umweltschutz einer genaueren vergleichenden Bewertung unterzogen wird;

diese Reformen vor allem besser auf das erklärte Ziel der Wettbewerbsfähigkeit abgestimmt werden, wobei die Gemeinschaftsorgane stärker tätig werden müssen und die Koordinierungsprozesse vereinfacht werden müssen;

die Rolle der Sozialpartner bei der Konzipierung, Durchführung und Begleitung der Reformen hinsichtlich der Attraktivität für Investitionen aufgewertet wird.

1.5

Als Fazit stellt der Ausschuss fest, dass die Mängel bei der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen jetzt den hohen Preis darstellen, der für ein Europa zu zahlen ist, dem es an Unternehmergeist mangelt, das für seine Beschlüsse viel Zeit braucht und sich nur langsam an internationale Änderungen anpasst, das in zahlreichen Bereichen immer noch unvollendet ist, mit seinen Reformen im Rückstand liegt und seine Trümpfe sehr schlecht, oft recht zögerlich, zuweilen inkonsequent und damit kontraproduktiv ausspielt. Um hier Abhilfe zu schaffen, ist ein entschlossenes Handeln erforderlich. Es muss, um Erfolge zu zeitigen, in einen entschiedeneren Wachstumsansatz, der sowohl die wirtschaftlichen Faktoren des Angebots als auch der Nachfrage ankurbelt, innerhalb eines flüssigeren und leistungsfähigeren europäischen Binnenmarkts eingebettet sein. Der Ausschuss unterstützt insbesondere die auf dem letzten Frühjahresgipfel erhobene Forderung, Reformpartnerschaften, an denen die Sozialpartner enger beteiligt werden, sowohl auf nationaler als auch gemeinschaftlicher Ebene zu fördern. Der Ausschuss unterstreicht die Notwendigkeit, unbeirrbar an dem Zieltermin 2010 festzuhalten, und zwar sowohl für die Durchführung der in Lissabon beschlossenen Reformen als auch für die Vollendung des Binnenmarktes und die Verwirklichung einer echten und wettbewerbsfähigen Wirtschaftsunion, bei der sämtliche Konsequenzen aus der Währungsunion gezogen und die Erfordernisse der nachhaltigen Entwicklung voll berücksichtigt werden.

2.   Einleitung

2.1

Diese Stellungnahme wird auf ein Sondierungsersuchen des Präsidenten der Europäischen Kommission, Romano Prodi, hin erarbeitet, der den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss am 20. Februar 2004 gebeten hat, ihm die Ergebnisse seiner Untersuchungen und seine Empfehlungen zu den Problemen der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen zu unterbreiten. Es geht insbesondere darum, die größten Schwierigkeiten der Unternehmen, die durch ihr Tätigkeitsumfeld verursachten Hindernisse sowie Alternativvorschläge zu deren Beseitigung im Rahmen unseres Gesellschaftsmodells zu ermitteln.

2.2

In einer Reihe jüngerer Untersuchungen, wie etwa im Sapir-Bericht vom Juli 2003, wird eine zunehmende Wettbewerbsherausforderung für Europa hervorgehoben, das einerseits von seinen großen Industriepartnern, nämlich den Vereinigten Staaten und Japan, und andererseits von den Volkswirtschaften der Schwellenländer mit niedrigen Produktionskosten, nämlich China und Indien, die sich zunehmend die neuen Technologien — verbunden mit Investitionen in Aus- und Fortbildung sowie Infrastrukturen — zu Eigen machen, in die Zange genommen wird. Die Datenlage (z.B. Exporte, Leistungsbilanz, Entwicklung der Unternehmensgewinne usw.) belegt, dass die europäische Wirtschaft und die überwiegende Mehrzahl der europäischen Unternehmen in hohem Maße wettbewerbsfähig sind. Dennoch sind viele Indikatoren besorgniserregend: schwaches Wachstum, unzureichendes Niveau sowohl der Investitionen als auch der Nachfrage, quantitative und bisweilen qualitative Verschlechterung der Beschäftigungslage (zunehmende Unsicherheit), Schließung europäischer Produktionsstätten, Abwanderung von Forschern und Wissenschaftlern, Vergrößerung der Defizite der öffentlichen Haushalte sowie wachsende Kosten der sozialen Sicherung bei einer beschleunigten demografischen Alterung, was verstärkt zu Finanzierungsproblemen führt.

2.3

Um den hohen Kosten (Arbeit, Steuern, Vorschriften) in Europa zu begegnen, entschieden sich viele Unternehmen für Automatisierung (der Produktion, der Verwaltung) oder für mehr oder weniger umfangreiche partielle Standortverlagerungen in billigere und weniger reglementierte Drittländer, insbesondere in wirtschaftliche Schwellenländer.

2.4

Es wäre jedoch mit Sicherheit illusorisch, gegen diese Strategien durch autoritäre Maßnahmen vorgehen zu wollen: Die europäische Wirtschaft ist untrennbar in eine zunehmend globalisierte Wirtschaft eingebettet. Dieser Prozess ist nicht umkehrbar und trägt sowohl zur Entwicklung der einzelnen Länder, die an ihm teilnehmen, als auch zur internationalen Stabilität bei, sofern er entsprechend reguliert wird, um tatsächlichen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu erwirken.

2.5

Unter diesen Rahmenbedingungen zeichnen sich folgende Erfordernisse ab:

2.5.1

Es ist notwendiger als je zuvor, die Globalisierung durch wirksamere und gerechtere internationale Regeln in den Griff zu bekommen. Das Streben nach Wettbewerbsfähigkeit darf in keinem Fall zu einem unkontrollierten Wettlauf werden, der — ohne Rücksicht auf Gesundheit, Sicherheit und sozialen Fortschritt, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung — zu drastischen Kostensenkungen führt. Ganz im Gegenteil: Das Streben nach Wettbewerbsfähigkeit muss sich in einem international anerkannten Bezugsrahmen situieren, der Mindestbedingungen in Bezug auf Wettbewerb, Sicherheit, Qualität, soziale Rechte und Umwelt umfasst. Dies beinhaltet ein aktives Eingreifen der internationalen Regelungs- und Entwicklungsinstanzen — Welthandelsorganisation, Internationaler Währungsfonds, Weltbank, Internationale Arbeitsorganisation –, die heute noch nicht hinreichend effizient und zu stark voneinander abgeschottet und in den Augen mancher in ihrer Funktionsweise wenig transparent und partizipativ ausgerichtet sind. Deshalb hat der Ausschuss die WTO-Agenda von Doha gefordert und dann auch unterstützt, ist heute aber über die schleppenden Fortschritte der Verhandlungen sehr besorgt.

2.5.2

Es ist ebenfalls dringend notwendig, die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa gegenüber seinen Konkurrenten so zu verbessern, dass seine wirtschaftliche und soziale Entwicklung gesichert, sein Zusammenhalt gewahrt, seine Arbeitsplätze erhalten und seine Umwelt geschützt werden. Dies erfordert im Rahmen des europäischen Modells der Sozialbeziehungen auch, dass die Stärken der europäischen Unternehmen besser genutzt und die sie behindernden Faktoren beseitigt oder, wenn dies strukturbedingt nicht möglich ist, durch hohe Qualität und Produktivität kompensiert werden (wie etwa das Arbeitskostengefälle zwischen Europa und den Entwicklungsländern).

2.5.3

Es ist weder realistisch noch wünschenswert, dass die Europäische Union in einen Preis- und Kostenwettbewerb mit deutlich weniger entwickelten Volkswirtschaften tritt, wenn Europa diese Differenz nicht durch eine höhere Produktivität wettmachen kann. Dies zwingt die europäische Wirtschaft zu einem permanenten Upgrading und dazu, sich der Herausforderung ihrer Wettbewerbsfähigkeit dadurch zu stellen, dass sie vor allem ihre quantitative und qualitative Produktivität sowie ihre — insbesondere technologische — Innovationsfähigkeit stärkt. Dies zieht einen proportionellen Anstieg der personalbezogenen, technologischen, industriellen und finanziellen Investitionen nach sich.

3.   Die Wettbewerbsvorteile der europäischen Unternehmen

3.1   Starke Beteiligung an der Globalisierung

3.1.1

Europa ist heute auf internationaler Ebene ein zentraler Handelspartner sowie weltweit der größte Importeur und Exporteur. Seine Unternehmen erhalten ihre Wettbewerbsfähigkeit bei Exporten und gegenüber der internationalen Konkurrenz dadurch aufrecht, indem sie Produktivitätsgewinne zur Optimierung ihrer Kosten, einschließlich der Lohnkosten, erzielen, die Qualität ihrer Produkte und Dienstleistungen garantieren und Innovationen tätigen, um sich besser an die Märkte anpassen zu können. So schaffen sie es, in den meisten Wirtschaftssektoren vertreten zu sein, insbesondere:

in der Land- und Ernährungswirtschaft, wo sie im Welthandel führend sind;

in den wichtigsten Industriezweigen — nämlich Automobil-, Luft- und Raumfahrtindustrie, chemische Industrie, Hoch- und Tiefbau, Telekommunikation usw. –, wo die europäischen Unternehmen auch zu den leistungsstärksten zählen;

bei der Erzeugung und Verteilung von Energie — Erdöl, Kernenergie, Gas und alternative Energieträger — und Umwelttechnologien;

im Dienstleistungsgewerbe, wo die europäischen Unternehmen weltweit häufig an erster Stelle stehen — Handel, Finanzen, Versicherungen, Verkehr, Ingenieurwesen, Software, Tourismus, Gesundheitswesen usw.

3.1.2

Europäische Unternehmen tätigen weltweit auch viele Investitionen und tragen zum Wachstum zahlreicher Weltregionen bei, insbesondere der wirtschaftlichen Schwellenländer Asiens. Diese stehen in verschiedenen Sektoren zwar mit Europa in Konkurrenz, sind für die europäische Wirtschaft und ihre Unternehmen aber auch unverzichtbare Industrie- und Handelspartner, und zwar sowohl als Lieferanten als auch als Geschäftspartner, Vertreiber, Zulieferer und Kunden.

3.1.3

Die europäischen Unternehmen sollten eben gerade aufgrund der äußerst wichtigen Rolle, die sie in den Entwicklungsländern spielen, bei der Entwicklung sozialer Normen in diesen Ländern, insbesondere der Umsetzung der von der IAO definierten sozialen Grundrechte, mit gutem Beispiel vorangehen. Der Ausschuss wird sich auch weiterhin für entsprechende Initiativen einsetzen und an ihnen teilnehmen, um diese notwendige Berücksichtigung der sozialen Dimension im internationalen Wirtschaftsverkehr zu bewirken.

3.1.4

Der Handel und die internationalen Investitionen der europäischen Unternehmen werden von der Europäischen Union unterstützt, der es gelungen ist, ihre Interessen bei internationalen Verhandlungen, insbesondere im Rahmen der WTO, durch die Europäische Kommission mit einer einzigen Stimme zu vertreten.

3.2   Der große Markt des europäischen Kontinents

3.2.1

Der wichtigste Vorteil der europäischen Unternehmen ist der Binnenmarkt, der auf gemeinsamen Regeln und dem allgemeinen Prinzip der gegenseitigen Anerkennung fußt, das durch zahlreiche Harmonisierungen über rund 1.500 Richtlinien, 300 Verordnungen und fast 20.000 gemeinsame Rechtsvorschriften ergänzt wird. Hierin ist der überwiegende Teil des die Tätigkeiten der Unternehmen betreffenden Rechts verankert. Die bereits im Cecchini-Bericht Ende der 1980er Jahre herausgestellten Wirtschafts- und Beschäftigungsvorteile dieses Marktes sind nach wie vor gültig, auch wenn die Voraussagen dieses Berichts bei ihrer Fälligkeit 1992 nicht völlig bestätigt werden konnten, da zum einen die wirtschaftliche Konjunktur Störungen durchlief und zum anderen das Gemeinschaftsprogramm noch nicht abgeschlossen war.

3.2.2

Dieser europäische Binnenmarkt ist heute mit 25 Mitgliedstaaten, weiteren eng assoziierten europäischen Staaten — darunter die Schweiz und Norwegen — und der Aussicht auf zusätzliche Erweiterungen der größte Markt der Welt. So sind über eine halbe Milliarde Europäer in einem einzigen großen Binnenmarkt vereint, der bedeutender als der amerikanische oder der chinesische Markt ist. Diese doch zu großem Stolz Anlass gebende Feststellung sollte den Europäern stärker bewusst gemacht werden.

3.2.3

Dank der im Binnenmarkt herrschenden Freiheiten konnten die Unternehmen — unter Förderung des Zusammenhalts in Europa — ihren Handel untereinander und auch ihre Zusammenarbeit, ihre Umstrukturierungen und Zusammenschlüsse vorantreiben, wodurch viele unter ihnen eine internationale Dimension gewonnen haben. Auch die mittelständischen Unternehmen haben von den europäischen Zulieferaufträgen und von der Abschaffung innergemeinschaftlicher Formalitäten profitiert. Mit den transeuropäischen Verkehrs-, Energie- und Telekommunikationsnetzen wurde eine gemeinsame Infrastruktur geschaffen. Große Industrieprogramme (z.B. Airbus und die Weltraumagentur) haben Forschung und Innovation in Unternehmen aller Größenordnungen beflügelt. Neben der Beschäftigung hat der große Markt auch die Mobilität der Erwerbstätigen, der Forscher und der Studenten — von denen über eine Million von dem Programm Erasmus profitiert hat — gefördert.

3.2.4

Erwähnt sei auch die schon eingetretene bzw. noch andauernde Öffnung der bereits vor dem Binnenmarkt bestehenden öffentlichen Monopole, die mit mehreren Richtlinien für die Bereiche Verkehr, Energie, Post usw. bewirkt wurde. Damit sorgt die Kommission ebenfalls auf zweckmäßige Weise dafür, dass das Konzept der Leistungen der Daseinsvorsorge nicht in Frage gestellt wird, das — selbst über die notwendigen Öffnungen aufgrund der sich durch den Binnenmarkt ergebenden Zwänge hinaus — struktureller Bestandteil des wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsmodells in Europa ist.

3.3   Die Währungsunion

3.3.1

Die Einführung des Euro war die wichtigste Etappe des Binnenmarktes und ein großer Fortschritt für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen. Durch die Schaffung einer einzigen Währung für bereits zwölf Mitgliedstaaten mit 300 Millionen Europäern wurde jedes Wechselkursrisiko in der Eurozone beseitigt, wurden die Transaktionskosten im Handel neutralisiert und wurde eine ständige Transparenz der Wirtschaftsdaten sichergestellt. Der Euro ist auch eine Währung von internationaler Bedeutung. Zwar belastet die gegenwärtige Überbewertung des Euro gegenüber dem Dollar die Ausfuhren — bei gleichzeitiger Erleichterung der Einfuhr insbesondere von Erdöl und anderen Rohstoffen –, doch wird sich das vor wenigen Jahren noch umgekehrte Kursverhältnis in Zukunft erneut verändern.

3.3.2

Diese Währungsunion, die es heute in der ganzen Welt kein zweites Mal gibt, hat auch die Fähigkeit Europas unter Beweis gestellt, ein großes innovatives, neue Energien freisetzendes Vorhaben, das erhebliche Auswirkungen auf seine Bürger und Unternehmen hat, zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Sie hat Europa in der Weltöffentlichkeit erheblich mehr Gewicht verliehen und seine internationale Verhandlungsposition — zum Vorteil seiner Unternehmen — gestärkt.

3.3.3

Der den Euro begleitende Wachstums- und Stabilitätspakt zielt auf ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Konvergenz durch Regeln ab, die die Defizite der öffentlichen Haushalte und die Inflation eindämmen. Er garantiert den Unternehmen eine größere Planungssicherheit in einem festen, ihrer Wettbewerbsfähigkeit förderlichen Rahmen. Außerdem stellt er den ersten Schritt auf dem Wege zu einer wirklich integrierten Wirtschaftsunion dar. Es liegt denn auch auf der Hand, dass ohne zusätzliche Fortschritte, die besonders die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen angehen und die einen wichtigen Teilbereich der Lissabon-Strategie darstellen, nicht mit einer dauerhaften Währungsunion gerechnet werden kann.

3.4   Das ehrgeizige Reformziel von Lissabon

3.4.1

Im März 2000 hat der Europäische Rat von Lissabon beschlossen, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene umfangreiche Wirtschafts-, Sozial- und Verwaltungsreformen in die Wege zu leiten, um Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum, mehr und bessere Arbeitsplätze und einen besseren sozialen Zusammenhalt zu erzielen. Diese Strategie gibt der europäischen Wirtschaft einen Fahrplan an die Hand, mit dessen Hilfe sie ihre Kräfte angesichts der Globalisierung in einem wettbewerbsfähigeren Standort Europa bündeln kann.

3.4.2

Die Reformen sind durchaus zweckmäßig und auf die wichtigsten Herausforderungen für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen ausgerichtet, d.h.:

leichterer Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten, auch zu Risikokapital, insbesondere für KMU und innovative Unternehmen;

Verringerung der steuerlichen Belastung der Arbeit, insbesondere der wenig qualifizierten und schlecht bezahlten Arbeit, um sie wieder erschwinglicher zu machen;

Abbau der öffentlichen Verschuldung, die an Preisstabilität und eine moderate Steuerpolitik geknüpft ist;

Förderung der Innovation, von der das technologische Potenzial der europäischen Unternehmen abhängt;

Anpassung der allgemeinen und beruflichen Bildung, um vor allem besser für das veränderte wirtschaftliche, berufliche und technologische Umfeld gerüstet zu sein;

Modernisierung des Arbeitsmarktes, um ein besseres Wechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage bei den Arbeitsplätzen, eine bessere Beschäftigungsquote, eine Verbesserung der Arbeitsqualität und der Arbeitsbedingungen sowie eine intensivere Nutzung der Produktionsanlagen zwecks Steigerung der Produktivität zu ermöglichen;

Sicherstellung der Effizienz und Dauerhaftigkeit der Sozialschutzsysteme angesichts der durch den Anstieg der Ausgaben, insbesondere aufgrund der demografischen Alterung, entstehenden Probleme;

Vereinfachung der Regelungen, sowohl auf staatlicher als auch europäischer Ebene;

und — seit dem Gipfel von Göteborg vom Juni 2001 — stärkere Berücksichtigung des Umweltschutzes und der Erfordernisse einer nachhaltigen Entwicklung.

3.4.3

Die Methoden der Strategie von Lissabon sind ebenfalls sinnvoll und sehen Folgendes vor:

einen neuen Zeitplan für die Vollendung des Binnenmarktes mit Etappenzielen;

eine jährliche Bewertung anlässlich eines europäischen Frühjahrsgipfels;

eine Methode der „offenen Koordinierung“ zur Erreichung gemeinsamer Ziele, bei der bewährte Praktiken zum Zuge kommen;

eine zentrale Rolle des Privatsektors und der Partnerschaft zwischen Behörden und Zivilgesellschaft;

eine Betonung des Dialogs zwischen den Sozialpartnern.

3.4.4

Diese Strategie von Lissabon hat bereits erste positive Ergebnisse gezeitigt:

trotz traditioneller Meinungsunterschiede allenthalben wächst die Erkenntnis, dass die Reformen notwendig sind;

die Informationstechnologien verbreiten sich schneller, die Innovationsprozesse haben sich beschleunigt;

Unternehmensgründungen und die Finanzierungsmöglichkeiten für KMU werden stärker gefördert;

es wird verstärkt auf eine nachhaltige Entwicklung geachtet, indem Maßnahmen zur Verbesserung der Effizienz der öffentlichen Versorgungsleistungen bei gleichzeitigem Abbau der Defizite der öffentlichen Haushalte, zur Konsolidierung des Sozialschutzes bei gleichzeitigem Ausgleich der Konten sowie zum Erlass den Umweltschutz besser berücksichtigender Rechtsvorschriften und zur Einführung umweltfreundlicherer Energie- und Industrietechnologien ergriffen werden;

die Sozialpartner werden in die Sozialreformen einbezogen;

es werden — wenn auch begrenzte — Maßnahmen zur Rechts- und Verwaltungsvereinfachung ergriffen.

3.4.5

Das Streben der Union nach Wettbewerbsfähigkeit (Lissabon-Strategie) wäre ohne Erneuerung des institutionellen Rahmens der Union unvollkommen. Diese Erneuerung herbeizuführen war die Aufgabe des Europäischen Konvents, der auch insofern ein Novum darstellte, als ihm neben den Vertretern der Staaten und der Institutionen der EU auch Vertreter der Beitrittsländer und der einzelstaatlichen Parlamente sowie Beobachter, die die Zivilgesellschaft vertraten, angehörten. Der Konvent hat eine Neufassung der Verträge vorgeschlagen, durch die ein institutioneller Rahmen entstehen sollte, der moderner, einfacher, auf die große Erweiterung besser vorbereitet sowie für die Öffentlichkeit verständlicher und attraktiver sein sollte. Es geht auch darum, im Vertrag die Trümpfe des europäischen Gesellschaftsmodells festzuschreiben, bei dem das Streben nach Wettbewerbsfähigkeit mit der Wertschätzung von Beschäftigung und sozialem Fortschritt Hand in Hand geht. So wird unter den Zielen der Union in dem neuen Verfassungsvertrag, der von den 25 Mitgliedstaaten im Juni 2004 verabschiedet wurde, „eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität“ genannt. Auch der Ausschuss hält dieses kohärente Gesamtkonzept für erforderlich, bei dem die Wettbewerbsfähigkeit mit anderen Zielen des sozialen und qualitativen Fortschritts kombiniert wird, stellt jedoch fest, dass diese Kohärenz heute noch lange nicht gewährleistet ist, da die Wettbewerbsfähigkeit Europas noch durch verschiedene Hemmnisse beeinträchtigt wird.

4.   Die Hemmnisse für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen

4.1   Die unzureichende Förderung des Unternehmergeists

4.1.1

Während es sich bei bestimmten Wettbewerbsvorteilen Europas nach wie vor eher um aktuelle Entwicklungen denn unumkehrbare Errungenschaften handelt, haben die europäischen Unternehmen weiterhin mit Nachteilen für ihre Wettbewerbsfähigkeit zu kämpfen, die auch zur derzeitigen enttäuschenden Leistung bei Wachstum und Beschäftigung beitragen.

4.1.2

Die jüngsten Debatten über den Unternehmergeist im Gefolge des Grünbuchs der Kommission haben bestätigt, dass Unternehmen aller Größe in den meisten europäischen Ländern nach eigener Aussage Tag für Tag mit Problemen konfrontiert sind, und zwar aufgrund:

der übermäßigen Komplexität der Rechtsvorschriften sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene;

der generell hohen Belastung durch Steuern und Sozialabgaben;

der häufig auftretenden Schwierigkeiten bei der Mobilisierung von Finanzierungsmitteln;

der unzulänglichen Unterstützung der Risikoträger einschließlich der häufig fehlenden zweiten Chance, wenn ein unternehmerisches Erstprojekt scheitert;

des unausgewogenen Verhältnisses zwischen den Beschäftigungsangeboten der Unternehmen und den beruflichen Qualifikationen.

4.1.3

Ferner ist auf die vergleichsweise niedrige Beschäftigungsquote in Europa zu verweisen, insbesondere im Vergleich zu den USA. Diese Situation hat negative Auswirkungen auf die europäische Wettbewerbsfähigkeit, auf die generell hohe Steuerlastquote sowie auf das Gleichgewicht der Sozialschutzsysteme.

4.1.4

Schließlich herrscht bei vielen Unternehmern das Gefühl, dass in der Union eher ein Analysebericht über den Wettbewerbsrückstand Europas nach dem anderen erstellt wird, anstatt wirklich konkrete Maßnahmen einzuleiten, die zu überprüfbaren Ergebnissen führen, wie dies unsere Hauptkonkurrenten von den USA bis hin zu China getan haben.

4.1.5

Der Ausschuss stellt fest, dass die Sozialpartner selbst gut in der Lage sind, derartige operative Maßnahmen zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit und des Unternehmergeists einzuleiten. Zahlreiche Beispiele bestätigen, dass sie in diesem Sinne häufig eine sehr wichtige Rolle spielen, die es verdient hätte, im Grünbuch der Kommission hervorgehoben zu werden.

4.1.6

Der Ausschuss unterstreicht auch, dass die im Rahmen der so genannten Sozialwirtschaft tätigen Einrichtungen sehr häufig denselben Hindernissen, wie sie oben erwähnt sind, gegenüberstehen, und zwar sowohl in Bezug auf die Besteuerung als auch in anderen Bereichen wie öffentliches Auftragswesen und Wettbewerb. Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass spezifische Lösungen für diese Probleme erheblich zur Verbesserung der Wirtschaft und der Beschäftigung in der EU beitragen würden.

4.2   Das undurchdringliche Dickicht der Hindernisse

4.2.1

Trotz des bisher Erreichten hat der Binnenmarkt in mehreren Bereichen zu wenig Fortschritte gemacht. Dies gilt insbesondere für den Dienstleistungsbereich, der für 70 % der Wirtschaftstätigkeit steht, in dem aber der Harmonisierungsbedarf wie etwa bei der gegenseitigen Anerkennung noch lange nicht erfüllt ist. Auch im öffentlichen Sektor müssen noch viele Hindernisse überwunden werden:

Hürden in Sektoren, wo es in bestimmten Ländern immer noch staatliche Monopole gibt, wie z.B. im Verkehrs-, Energie- und Postsektor sowie — inzwischen bereits in geringerem Maße — im Telekommunikationssektor;

die Abschottung des öffentlichen Auftragswesens (kaum 10 % der öffentlichen Aufträge werden an ausländische Firmen vergeben);

die Abschottung der Verwaltungen, obwohl die Verwaltung des Binnenmarktes eine verstärkte Zusammenarbeit auf vielen Gebieten erfordert (Steuern, Zoll, Polizei, Justiz, Wettbewerb, Betrugsbekämpfung, Umweltschutz usw.).

4.2.2

Abgesehen von den laufenden oder geplanten Öffnungen, aber auch den in diesen Bereichen bisweilen beobachteten Rückständen, gilt es nach wie vor, die Frage des Status der Leistungen der Daseinsvorsorge innerhalb des Binnenmarktes eindeutig zu klären. Die spezifische Rolle der Leistungen der Daseinsvorsorge, die bereits in mehrere Richtlinien mit sektoraler Öffnung integriert ist, wurde in den Verträgen von Amsterdam und Nizza insgesamt festgeschrieben. Die Kommission erarbeitet ein Querschnittsinstrument, um die Rolle der Leistungen der Daseinsvorsorge im Binnenmarkt präziser festlegen zu können. Es ist jedoch festzustellen, dass die Debatte bisher auf die Rolle der nationalen öffentlichen Versorgungsleistungen im Rahmen des europäischen Binnenmarkts beschränkt geblieben ist, ohne darauf einzugehen, inwiefern ein Interesse an einer zielgerichteten Entwicklung der Leistungen der Daseinsvorsorge auf europäischer Ebene besteht, und unter welchen Bedingungen. Eine solche Frage sollte heute jedoch im Rahmen einer echten Debatte über die Zukunft des erweiterten Binnenmarkts und der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen nicht außen vor gelassen werden.

4.2.3

Über die Entwicklung der Gemeinschaftsvorschriften hinaus treffen die Staaten weiterhin Regelungen, die das Funktionieren des Binnenmarkts für die Unternehmen erschweren oder gar behindern können. Zwar wurde ein Verfahren der vorherigen Unterrichtung der Kommission eingeführt (Richtlinie 83/189/EG), doch kann die Kommission, die vielfältigen Aufgaben nachkommen muss, nur in den eklatantesten Fällen wirksam reagieren, was ihr mit der Erweiterung noch schwerer fallen dürfte.

4.2.4

Außerdem wurden die Richtlinien noch von keinem Mitgliedstaat vollständig in einzelstaatliches Recht umgesetzt, sodass der Rückstand in vielen Fällen noch 10 % und auf bestimmten Gebieten sogar 25 % beträgt. Auch gibt es noch viel zu viele Verstöße, sodass die Kommission derzeit mit rund 1.500 Ermittlungsverfahren und Vertragsverletzungsklagen beschäftigt ist.

4.2.5

Die Steuerangleichung im Binnenmarkt ist immer noch sehr unzureichend, was auch auf das Erfordernis der Einstimmigkeit im Rat zurückzuführen ist. Insbesondere gilt es immer noch, alle Doppelbesteuerungen abzuschaffen, eine harmonisierte Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuern einzuführen und das innergemeinschaftliche Mehrwertsteuersystem zu vereinfachen.

4.2.6

Ein weiteres Handikap für die europäischen Unternehmen besteht darin, dass der Schutz des geistigen Eigentums so schwer zu erreichen und so kostspielig ist, wie die immer weitere Verschleppung (inzwischen sind 30 Jahre vergangen!) und die vorhersehbaren hohen Kosten des Gemeinschaftspatents zeigen.

4.2.7

Nicht zu vergessen ist auch die Aussetzung der Errichtung geplanter transeuropäischer Netze im erweiterten Europa, deren öffentliche, private oder gemischte Finanzierung noch nicht sichergestellt ist.

4.2.8

Die Rückstände bei der Vollendung des Binnenmarkts sind unmittelbar für die sehr unbefriedigende Beschäftigungs- und Arbeitsmarktsituation mitverantwortlich. Durch die Erweiterung der Europäischen Union von 15 auf 25 Staaten stellt sich die Frage nach einer Verbesserung der Beschäftigungslage noch eindringlicher, und zwar unter verschiedenen Blickwinkeln (Ausbildung, berufliche und geografische Mobilität, Beschäftigungsqualität, Umschulungen usw.).

4.2.9

Schließlich ist der Grundsatz der Verkehrs- und Niederlassungsfreiheit innerhalb des Binnenmarkts mit der Erweiterung aufgrund der Ausnahmeregelungen vorübergehend eingeschränkt worden, die für bis zu sieben Jahren gewährt werden können und gegen den Willen der Bürger der neuen Mitgliedstaaten beschlossen wurden. Diese Einschränkungen laufen einem freien Funktionieren des Arbeitsmarktes im erweiterten Europa zuwider und können den in diesen neuen Staaten unternommenen Anstrengungen im Bereich Ausbildung und berufliche Anpassung abträglich sein. Auf Hindernisse stoßen auch Bürger aus den neuen Mitgliedstaaten, die in der EU-15 eine selbständige Erwerbstätigkeit aufnehmen wollen.

4.3   Die fehlende Wirtschaftsunion

4.3.1

Die Währungsunion ist nicht mit dem dynamischen Wirtschaftswachstum einhergegangen, das sie hätte begünstigen sollen. Eine wesentliche Ursache hierfür ist, dass es ihr noch an der Ergänzung durch eine echte Wirtschaftsunion fehlt. Selbst mit dem Wachstums- und Stabilitätspakt, der erst als Keimzelle vorhanden ist, hat es in jüngster Zeit Probleme gegeben. Er wird von mehreren Staaten nicht richtig eingehalten, darunter Deutschland und Frankreich, die die 3 %-Grenze des öffentlichen Defizits überschritten haben. Außerdem sind Fragen nach den Auswirkungen des Paktes (dessen Stabilitätskomponente wesentlich genauer als die Wachstumskomponente definiert ist) auf die schleppende Konjunktur laut geworden. Die Grenzen und Beschränkungen des Paktes müssten durch ein umfassenderes wirtschaftspolitisches Konzept ausgeglichen werden, was angesichts der bislang nur im Ansatz vorhandenen Koordinierung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik kaum gegeben ist.

4.3.2

Die Euro-Gruppe, der die Staaten der Euro-Zone angehören, ist bislang wenig strukturiert, zeigt wenig Profil und ist im Wesentlichen auf Regierungsebene angesiedelt, während die Organisation der Europäischen Zentralbank dem föderalistischen Modell folgt. Von Ansätzen einer europäischen Wirtschaftsregierung sind wir noch weit entfernt.

4.3.3

Auch der Rat Wirtschaft und Finanzen ist weit davon entfernt, eine Wirtschaftsregierung der Union zu bilden, zumal seine Mitglieder gerne an ihren nationalen Interessen festhalten; dem leistet die weit gehend praktizierte Einstimmigkeit der Beschlüsse Vorschub. Dies gilt für das Harmonisierungsdefizit Europas im Steuerbereich.

4.3.4

Schließlich hat der seit einigen Jahren bestehende Rat Wettbewerbsfähigkeit kein besonders enges Verhältnis zum Rat Wirtschaft und Finanzen und tut sich schwer mit der wirksamen Übernahme einer notwendigerweise fachübergreifenden Aufgabe, die alle Ratsformationen angeht.

4.3.5

Es ist auch zu bedauern, dass sich der neue Verfassungsvertrag in Bezug auf die Vertiefung der Wirtschaftsunion — im Gegensatz zu einigen seiner Bestimmungen in anderen Bereichen — weder als ausgereift noch sonderlich innovativ erweist. So wäre es für den Zusammenhalt und die Wettbewerbskonvergenz der europäischen Wirtschaft angemessener gewesen, der Kommission — sowohl was die großen wirtschaftspolitischen Leitlinien als auch die öffentlichen Defizite angeht — eine echte Vorschlags- anstatt einer einfachen Empfehlungsfunktion zu übertragen.

4.4   Die Unzulänglichkeit der Strukturreformen

4.4.1

Auf den Frühjahrsgipfeln schienen die Staaten erneute Debatten über die bereits in Lissabon festgelegten Ziele vorzuziehen, auch auf die Gefahr hin, zusätzliche Vorschriften zu erlassen, statt eine vergleichende Bewertung der einzelstaatlichen Reformen vorzunehmen. Zu viele Staaten haben es zudem versäumt, die Sozialpartner voll in die Gestaltung und Durchführung der Reformen einzubeziehen, und haben sie bei den Fortschrittsberichten kaum konsultiert oder erwähnt.

4.4.2

Die Zugeknöpftheit der Staaten hinsichtlich des Stands der Reformen ging mit Verschleppungen Hand in Hand:

4.4.2.1

Auf europäischer Ebene haben die 25 zwar beschlossen, den Binnenmarkt auf verschiedenen Gebieten (Energie, Dienstleistungen, öffentliches Auftragswesen, transeuropäische Netze, Anpassung der öffentlichen Verwaltungen) zu vollenden, sträuben sich jedoch, die hierfür erforderlichen Maßnahmen fristgerecht zu ergreifen.

4.4.2.2

Auf nationaler Ebene sind die Ergebnisse unterschiedlich. Selbst diejenigen Mitgliedstaaten, die bei den Reformen die größten Fortschritte erzielt haben, liegen bisweilen hinter leistungsfähigeren Drittländern zurück, und Europa befindet sich insgesamt im Wettbewerbsnachteil. Der Sinn der Reformen liegt aber nicht nur darin, selbst besser als zuvor zu werden, sondern auch und vor allem darin, besser als die anderen zu werden. Hier sind insbesondere folgende Bereiche zu nennen:

4.4.2.2.1

In Bezug auf die Öffnung der Märkte wurden erhebliche Fortschritte in der Telekommunikation erzielt und in geringerem Maße auch im Energiebereich — Gas, Elektrizität –, wo die Preise vielfach noch zu hoch sind. Die Öffnung des Postsektors schreitet in bestimmten Ländern nur langsam voran, und die Erfüllung des Ziels erfolgt nur teilweise und in aufeinanderfolgenden Etappen, die bis 2009 vereinbart sind. Bei der Verkehrsinfrastruktur gibt es weiterhin Verzögerungen bei der Verknüpfung und bei der Modernisierung, wodurch insbesondere die Verwirklichung von Projekten im Bereich der transeuropäischen Netze behindert wird.

4.4.2.2.2

Beim Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten schreitet die Integration des europäischen Finanzmarktes — unterstützt durch den Euro — voran. Zwar wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die Finanzierung von Unternehmensgründungen und KMU zu erleichtern, aber der Zugang zu Risikokapital lässt immer noch zu wünschen übrig. Außerdem wird bei der Vereinheitlichung des Finanzmarktes immer noch zu stark auf wirtschaftliche und soziale Rechtsvorschriften und Koregulierung gesetzt, wie diese in der Vereinbarung zwischen den EU-Institutionen vom 16. Dezember 2003 definiert und festgelegt wurden, die häufig lange auf sich warten lassen, während es besser gewesen wäre, die Selbstregulierung des Sektors zu fördern.

4.4.2.2.3

Bei den Defiziten der öffentlichen Haushalte ist die Situation von Land zu Land sehr unterschiedlich: bestimmte Staaten können bei ihren öffentlichen Finanzen einen Haben-Saldo vorweisen (z.B. Dänemark, Finnland, Luxemburg und Schweden), während andere die Grenze des Stabilitätspakts erreichen bzw. gar überschreiten (siehe Deutschland, Frankreich, Italien, Portugal). Diese Länder mit einem zu hohen Defizit sind zugleich diejenigen, die bei der Umsetzung der Strukturreformen am stärksten im Rückstand sind.

4.4.2.2.4

Die Forschungsausgaben zur Förderung der Innovation sind unzureichend. Sie liegen bei 1,9 % des BIP im Vergleich zu 2,6 % in den USA, und die Investitionen der Unternehmen sind in den USA doppelt so hoch wie in der EU-15. Wir sind weit vom Lissabon-Ziel entfernt, welches die Forschungs- und Entwicklungsausgaben, von denen zwei Drittel vom privaten Sektor finanziert werden müssen, auf 3 % des BIP festlegt. Sie sind außerdem zu wenig untereinander und mit dem Forschungsrahmenprogramm der Gemeinschaft abgestimmt. Ihre technologischen Investitionen werden dadurch behindert, dass es keine ausreichende gemeinsame Strategiepolitik in Europa gibt. Im Übrigen nimmt die Erteilung von Patenten in Europa, insbesondere im Bereich der neuen Technologien, erheblich mehr Zeit in Anspruch als in den Vereinigten Staaten oder Japan — unter anderem deshalb, weil es immer noch kein wirksames und kostengünstiges Gemeinschaftspatent gibt.

4.4.2.2.5

Auch bei der Verbesserung des Arbeitsmarktes stellt sich die Lage von Land zu Land unterschiedlich dar: in bestimmten Ländern ist die Beschäftigungsquote insgesamt hoch, während andere mit struktureller Unterbeschäftigung zu kämpfen haben. Es sind große Reformen im Gange, um das Funktionieren des Arbeitsmarktes und seine Flexibilität zu verbessern und ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage bei den Arbeitsplätzen herzustellen. Um zu gewährleisten, dass die Lissabon-Strategie bei den Europäern Anklang findet, erscheint es jedoch dringend erforderlich, dass diese Reformen rasch zu nachhaltigen quantitativen und qualitativen Fortschritten in den Bereichen Weiterbildung und Beschäftigung samt eines angemessenen Rahmens für die Rechtsvorschriften oder Tarifverträge führen. Was noch fehlt, sind insbesondere hinreichend intensive Bemühungen um Investitionen in Arbeitsplätze und berufliche Qualifikationen, insbesondere über Schulungsangebote, die auf die wettbewerbsspezifische Erhöhung der Qualität ausgerichtet sind. Durch Konsultationen der Sozialpartner sowie Verhandlungen mit und zwischen den Sozialpartnern muss insbesondere sichergestellt werden, dass die Neuordnung mit Blick auf die Herausforderungen des internationalen Wettbewerbs tatsächlich diese Verbesserung der Beschäftigungslage und der Beschäftigungsbedingungen bewirkt. Im Kok-Bericht wurde auch deutlich auf die Prioritäten verwiesen, die es noch umzusetzen gilt, um die Situation nachhaltig umzukehren.

4.4.2.2.6

Was die Solvenz der Sozialschutzsysteme angeht, wurden zahlreiche Reformen in Angriff genommen, um angesichts der in ganz Europa um sich greifenden demografischen Alterung die finanzielle Stabilität wiederherzustellen. Insbesondere muss die Dauer der Beitragszahlung an die steigende Lebenserwartung angepasst werden, und es sollte der Rückgriff auf Zusatzversicherungen und Rentenfonds angeregt werden. Obgleich bei diesen Reformen Fortschritte zu verzeichnen sind, treten doch auch erhebliche Verzögerungen bei der sozialen Vorsorge der Zusatzversicherungen sowie Probleme bei der wirksamen Umsetzung auf, wobei insbesondere die — trotz der 2002 in Barcelona eingegangenen Verpflichtungen — zu hohe Zahl der Vorruheständler zu nennen wäre. Es geht vor allem darum zu gewährleisten, dass die Reformen der Sozialschutzsysteme auf gerechte Weise bewältigt werden und es vermieden wird, neue Situationen der Ausgrenzung zu schaffen, die sozial und wirtschaftlich nachteilige Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft hätten.

4.4.2.2.7

Im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung besitzen die europäischen Länder in den meisten Fällen generell leistungsstarke, hoch entwickelte Bildungssysteme, die jedoch zum Teil zu stark von der wirtschaftlichen Realität und den Perspektiven für eine angemessene Eingliederung in den Arbeitsmarkt abgeschottet sind, deren Öffnung häufig zu selektiv ist und die nicht adäquat ausgelegt sind, um eine wirksame Unterstützung des lebensbegleitenden Lernens gewährleisten zu können. Es werden Austauschprogramme entwickelt, um Lehre und Wirtschaft enger zu verflechten und die Ausbildungsgänge breiter zu fächern. Auch die allgemeine Verbreitung des Internet trägt zur Intensivierung der Bildungsanstrengungen bei.

4.4.2.2.8

Die Vereinfachung der Rechtsvorschriften ist — neben der Verbesserung ihrer Qualität und Effizienz — eine Notwendigkeit, die in allen europäischen Ländern besteht, wenn auch einige mehr getan haben als andere, um hier Abhilfe zu schaffen. Vorrang wird grundsätzlich der Vereinfachung der Verfahren für Unternehmensgründungen und für mittelständische Unternehmen wegen der Rolle eingeräumt, die diese für die Wirtschaftstätigkeit und die Beschäftigung spielen. Ein weiterer Schwerpunkt sollte auf die Unterstützung von Unternehmen bei Entwicklung und Unterhaltung von Betriebsverfahren gelegt werden. Dadurch werden Ineffizienzen verringert, das Produktivitätswachstum angeregt und größere Wettbewerbsfähigkeit erzielt.

4.4.2.2.9

Im Hinblick auf die nachhaltige Entwicklung werden mit den nationalen Maßnahmen zur Umsetzung der Vereinbarungen von Kyoto unterschiedliche Ergebnisse erzielt. Der Umweltschutz ist zwar in den nördlichen Ländern traditionell fester verankert, aber in den anderen Ländern wurden neue Maßnahmen ergriffen, und durch den Austausch bewährter Praktiken können erfolgreiche Beispiele als Anregung genutzt werden (z.B. freiwillige Kodizes, Chartas, Umweltzeichen, Zuteilung von Emissionsrechten usw.). Es erscheint unbedingt erforderlich zu gewährleisten, dass die Wettbewerbsstrategie der Union im Dienste einer Politik steht, die sich für den Umweltschutz und die diesbezüglich eingegangenen Verpflichtungen einsetzt und dieser Politik in keiner Weise entgegensteht.

4.4.3

Alles in allem zeigt die Bilanz der Reformen noch ein sehr uneinheitliches Bild. Trotz der sich häufenden Berichte über die nachlassende Wettbewerbsfähigkeit und der vielen „Prozesse“ oder Strategien zu deren Wiederbelebung (von Luxemburg, Cardiff, Köln, Lissabon, Göteborg, Barcelona usw.), fällt es der Union schwer, ihre nacheinander proklamierten Entscheidungen (für den Binnenmarkt, den Finanzraum, eine wissensbasierte Wirtschaft, einen vorbildlichen Umweltschutz usw.) in die Tat umzusetzen.

4.4.4

Gleichzeitig hat sich die Wirtschafts- und Beschäftigungslage in Europa in der Tat seit der günstigen Konjunkturlage zur Zeit des Gipfels von Lissabon (2000) sowohl aufgrund unzureichender Investitionen als auch mangelnder Nachfrage — u.a. infolge einer restriktiven Geld- und Finanzpolitik — sowie aus anderen unterschiedlichen, aber kumulativen Gründen im Zusammenhang mit dem Klima der Unsicherheit, das auf die Terroranschläge, die internationalen Spannungen, die Finanz- und Börsenkrisen und den Erdölpreis mit ihren negativen Auswirkungen auf das Vertrauen und die Tätigkeit der Wirtschaftsakteure zurückzuführen ist, immerfort verschlechtert. Die Wachstumsrate ist von 3,5 % im Jahr 2000 auf 1,6 % im Jahr 2001 und seit 2002 auf knapp 1 % gesunken. Die Beschäftigung hat sich somit verschlechtert, dass die Arbeitslosenquote die 8 %-Marke wieder überschritten hat. Dieser wirtschaftliche und soziale Abschwung in Europa steht im Gegensatz zu dem derzeitigen dynamischen Wachstum in den Vereinigten Staaten (fast 5 %), auch wenn dieses vor einem sehr spezifischen Hintergrund (Dollarkurs, Haushaltsdefizit, Rüstungsausgaben usw.) erfolgt.

4.4.5

Die Strategie von Lissabon dreht sich in einem Teufelskreis: das fehlende Wachstum erschwert die Durchführung der Reformen, deren Verschleppung wiederum die Rückkehr zu mehr Wachstum und Beschäftigung erschwert. Einer Unzahl von Reformzielen, Verpflichtungen und Teilnehmerländern stehen offensichtlich ebenso viele Defizite in puncto Mitverantwortung, Umsetzung, Koordinierung und damit Einfluss auf Wirtschaft und Beschäftigung gegenüber. So besteht die Gefahr, sich Illusionen hinzugeben, die erforderlichen Reformen nicht energisch genug in die Wege zu leiten und dabei den Eindruck zu erwecken, mit der Strategie voranzukommen. Eine solche „Seifenblase von Lissabon“ dürfte aber nicht erst 2010 platzen.

5.   Die Empfehlungen des Ausschusses

5.1   Das Vertrauen der Akteure des Wirtschaftslebens wiederherstellen

5.1.1

Die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa muss sich in ein umfassendes politisches, wirtschaftliches und soziales Vorhaben einfügen, das geeignet ist, bei den wirtschaftlichen und sozialen Akteuren breite Zustimmung zu finden und an dem sie mitzuwirken bereit sind. Der neue Vertrag muss dazu beitragen, diesen Erwartungen gerecht zu werden.

5.1.2

Es erscheint besonders wichtig, dass dieses europäische Vorhaben in seinem globalen Umfeld, d.h. sowohl in seinem Verhältnis zu den Nachbarn als auch zu den verschiedenen internationalen Partnern besser wahrgenommen wird. Die Frage der Attraktivität des Standorts Europa und seines Schritthaltens mit dem Strukturwandel sollte besser erörtert und genauer definiert werden, insbesondere im Zusammenhang mit internationalen Investitionen, Niederlassungen in Europa und Standortverlagerungen in andere Weltregionen. Der Ausschuss erwartet von den laufenden WTO-Verhandlungen vor allem, dass sie zur Aufstellung besserer internationaler Regelungen beitragen, um einen Rahmen für den weltweiten Handel und die Auslandsinvestitionen vorzugeben.

5.1.3

Ebenso wie auf internationaler Ebene neue Regelungen erforderlich sind, da die bestehenden eindeutig unzureichend sind, muss in Europa, das nach wie vor mit einem Übermaß an Regeln und Verwaltungsverfahren konfrontiert ist, eine Vereinfachung der Regelungen vorgenommen werden. Hierzu gilt es:

die vorherige Folgenabschätzung zu reformieren: Unabhängigkeit der Abschätzung, systematische Prüfungen von Alternativen zu einer klassischen Regelung, Auswirkungen des betreffenden Vorhabens auf die Vereinfachung und die Wettbewerbsfähigkeit, systematische Veröffentlichung der Folgenabschätzung gleichzeitig mit dem Vorhaben;

eine Begründung aller Änderungen vorzuschreiben, durch die die Übereinstimmung des Vorhabens mit der Folgenabschätzung in Frage gestellt werden könnte;

die Unternehmen und sonstigen Nutzer an der Vereinfachung im Vorfeld der Regelung zu beteiligen (im Voraus statt im Nachhinein tätige SLIM-Ausschüsse);

die wirtschaftliche und soziale Selbst- und Koregulierung auf europäischer Ebene, insbesondere im Dienstleistungssektor, zu fördern;

die Staaten zu einer parallelen Vereinfachung ihrer nationalen Rechtsvorschriften anzuregen und diese auf ihre Kompatibilität mit dem Gemeinschaftsrecht hin zu überprüfen.

5.1.4

Es sollten Maßnahmen auf den Weg gebracht werden, um die Gründung und Entwicklung von Unternehmen entschiedener zu unterstützen und einen besseren Zugang zu Risikokapital zu ermöglichen — was eine verstärkte Tätigkeit der Europäischen Investitionsbank in diesem Bereich rechtfertigen würde –, mehr Programme zur Ausbildung von Unternehmern durch andere Unternehmer und ein dichtes Netz an Dienstleistungen zur Unterstützung kleiner Unternehmen in allen Mitgliedstaaten zu schaffen, die auf europäischer Ebene koordiniert würden.

5.1.5

Außerdem müssen Unternehmen, Berufsverbände und die verschiedenen Akteure der Zivilgesellschaft ermutigt werden, mehr Initiativen im europäischen Maßstab zu ergreifen, indem sie die neuen Möglichkeiten der Zusammenarbeit und des Austauschs, die ihnen infolge der Fortschritte beim europäischen Integrationsprozess offen stehen, stärker nutzen. Ihre Initiativen vor Ort werden ebenso wie die von den Gemeinschaftsinstitutionen oder den Mitgliedstaaten erwarteten neuen Maßnahmen eine entscheidende Rolle dabei spielen, dass die Prozesse zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit, die in Europa im Gange sind, auch tatsächlich zu positiven Ergebnissen führen und die Hemmnisse und Hürden, die dem bislang entgegenstehen, endlich beseitigt werden. Die Verwirklichung eines leistungsstärkeren und wettbewerbsfähigeren Europa wird ganz sicherlich davon abhängen, dass derartige Initiativen auf Unternehmens- und Verbandsebene in großer Zahl ergriffen werden und sich gegenseitig verstärken. Dieser Prozess muss durch die öffentlichen Instanzen auf gemeinschaftlicher, nationaler und regionaler Ebene insbesondere durch die Schaffung eines geeigneten Wettbewerbsumfelds ermöglicht und gefördert werden.

5.2   Den Binnenmarkt endlich vollenden

5.2.1

Es ist höchste Zeit, die wesentlichen Bestimmungen des Binnenmarktes, der inzwischen von 15 auf 25 Mitgliedstaaten angewachsen ist, so schnell wie möglich vollständig umzusetzen. Diese Vollendung des Binnenmarktes sollte nicht über den in Lissabon für die Wettbewerbsfähigkeit festgesetzten Zieltermin 2010 hinaus verschoben werden. Das Festhalten an einem derartigen Ziel erscheint aus heutiger Sicht unverzichtbar, wenn auch nicht verkannt werden darf, dass anschließend kontinuierliche Anpassungen und Nachbesserungen an diesem Binnenmarkt erforderlich sein werden.

5.2.2

Als erstes muss mit mehr Strenge dafür gesorgt werden, dass die Richtlinien unter effektiver Einhaltung der Fristen in nationales Recht umgesetzt werden, wie dies der Europäische Gipfel zugesagt hatte. Um dies zu erreichen, müssen die Mitgliedstaaten in dieser Frage stärker in die Pflicht genommen werden, gegebenenfalls mit Hilfe einer Neuausrichtung der diesen säumigen Ländern gewährten EU-Hilfen am Ziel einer besseren Umsetzung. Eine bessere Umsetzung könnte im Übrigen dadurch erleichtert werden, dass statt wie bisher überwiegend Richtlinien häufiger Verordnungen erlassen werden, die unmittelbar und einheitlich Anwendung finden.

5.2.3

Unter den die Wettbewerbsfähigkeit betreffenden Prioritäten seien Folgende genannt:

eine Verordnung, mit der die Doppelbesteuerungen im Binnenmarkt abgeschafft werden und die an die Stelle des ebenso unentwirrbaren wie unvollständigen Konvoluts bilateraler Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten tritt;

ein vereinfachtes Statut der Europäischen Gesellschaft, das — wie vom Ausschuss wiederholt gefordert — die KMU einbezieht und diesen neue Möglichkeiten der Entwicklung, Zusammenarbeit und Weitervergabe an Subunternehmer auf europäischer Ebene, beginnend mit den Grenzgebieten eröffnet;

die rasche Einführung eines einfachen, wirksamen und erschwinglichen Gemeinschaftspatents — durch die ständigen Verzögerungen bei seiner Einführung ist Europa auf dem besten Weg in die strukturelle Unfähigkeit, die Verpflichtungen, die es sich im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit auf die Fahne geschrieben hat, auch einzuhalten;

die Verwirklichung eines echten Binnenmarktes der Dienstleistungen (1) unter aktiver Teilnahme der interessierten Berufskreise.

5.2.4

Eine weitere unerlässliche Voraussetzung für die Stärkung des Binnenmarktes ist die Überwindung der Abschottung zwischen den Verwaltungen, die es verdient hätte, von der Union unmittelbarer und massiver unterstützt zu werden, als dies derzeit der Fall ist. Hierzu bedarf es:

einer besseren europaweiten Zusammenarbeit der nationalen Verwaltungen, die mittlerweile an der gemeinsamen Verwaltung eines Binnenmarktes mit 25 Mitgliedstaaten mitwirken müssen;

gemeinschaftlicher Kontrollen in den Mitgliedstaaten mit entsprechenden Berichten, in denen eventuelle Mängel und geeignete Abhilfemaßnahmen aufgeführt werden;

einer Vereinheitlichung der Zollbehörden an den Außengrenzen im Anschluss an die Erweiterung, deren erste Phase einen gemeinsamen Kern an Ausbildungsmaßnahmen und eine Intensivierung der europaweiten Praktika und Austauschprogramme für Zollbeamte umfassen sollte;

der Veröffentlichung europäischer Vergleiche der tatsächlich vergebenen öffentlichen Aufträge;

einer besseren länderübergreifenden Koordinierung der öffentlichen Versorgungsleistungen, gegebenenfalls auch als mögliche Vorstufe solcher Leistungen auf europäischer Ebene in Bereichen, in denen dies gerechtfertigt erscheint.

5.3   Die Wirtschaftsunion herbeiführen

5.3.1

Die konkretere Durchsetzung der Wirtschaftsunion ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen und notwendig für die Lebensfähigkeit der Währungsunion. Es geht insbesondere darum, dass Europa zu einer angemesseneren und angesichts der internationalen Konjunktur stabileren makroökonomischen Reaktion in der Lage sein muss, und zwar in Bezug auf die Politiken zur Unterstützung des Angebots wie auch der Nachfrage. Es erscheint notwendig, die Entwicklung dieser gemeinsamen Wirtschaftspolitik mit dem in Lissabon für die Wettbewerbsfähigkeit festgesetzten Zieltermin 2010 abzustimmen. Hierzu ist es notwendig,

die Euro-Zone auf die neuen Mitgliedstaaten der EU auszudehnen, sobald diese in der Lage sind, die Kriterien dauerhaft einzuhalten;

die Vorzüge der Gemeinschaftsmethode (z.B. Berichte und Vorschläge der Kommission, Mehrheitsabstimmungen im Rat) bei sämtlichen wirtschaftlichen Fragen auszubauen, die wirklich im gemeinsamen Interesse liegen;

für die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes auch unter Berücksichtigung der Erfordernisse der Wettbewerbsfähigkeit zu sorgen, d.h. auf Investitionsbedingungen anstatt Verwaltungsaufwand zu setzen.

5.3.2

Zu den Maßnahmen, die nennenswerte Fortschritte auf dem Wege zur Wirtschaftsunion ermöglichen würden, gehören:

eine vorherige — und nicht nachherige — gemeinschaftliche Stellungnahme zu einzelstaatlichen Finanzgesetzentwürfen, um ihre Übereinstimmung mit den Grundzügen der Wirtschaftspolitik zu gewährleisten;

eine engere Verbindung (statt bloßem Nebeneinander) zwischen den Beschäftigungsleitlinien und den Grundzügen der Wirtschaftspolitik;

eine raschere Schaffung des europäischen Finanzraums, u.a. durch wirtschaftliche und soziale Selbst- und Koregulierung.

5.3.3

Eine Voraussetzung für die Wirtschaftsunion ist die Angleichung der Steuern und insbesondere der Steuerbemessungsgrundlagen unter Rahmenbedingungen, die mit einer für den Handel offenen und für Investitionen attraktiven Wirtschaft vereinbar sind. Die freie Festlegung von Steuersätzen könnte in Bereichen, die unmittelbar den Binnenmarkt berühren, eingeschränkt werden. Notwendig wären auch konzertierte Lohnsteuersenkungen. Mangels einhelliger Zustimmung sämtlicher Mitgliedstaaten könnte eine engere Zusammenarbeit derjenigen unter ihnen, die diesen Weg beschreiten möchten, bereits erste Fortschritt ermöglichen.

5.3.4

Mit einer besser koordinierten Wirtschaftspolitik könnten folgende Ziele angestrebt werden:

Entwicklung einer Wachstumspolitik zugunsten der Wirtschaftstätigkeit und der Beschäftigung, wie sie auf den letzten europäischen Gipfeltreffen als notwendig anerkannt wurde und die — abgesehen von zusätzlichen Interventionen der EIB, deren Einfluss zwar spürbar, aber begrenzt sein dürfte — voraussetzt, dass die öffentlich-privaten Partnerschaften eine neue Dimension erhalten, insbesondere bei der Finanzierung neuer transeuropäischer Infrastrukturen, die der erweiterten Union angemessen sind;

Entwicklung eines aktiveren industriepolitischen Ansatzes, bei dem die europäischen Interessen klar herausgearbeitet werden — mit einer kompatiblen Wettbewerbspolitik, einer stärker auf die Wahrung dieser Interessen ausgerichteten Handelspolitik, der Förderung von gemeinsamen Großprojekten und Unterstützungszahlungen aus dem Gemeinschaftshaushalt;

Gewährleistung der notwendigen Entwicklung innovativer Investitionen und Forschung durch die Unternehmen, insbesondere zur Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit in qualitativer Hinsicht;

Gewährleistung der Unabhängigkeit Europas bei für seine Sicherheit ausschlaggebenden Technologien (nötigenfalls durch engere Kooperationen mit präferenzieller Öffnung des öffentlichen Auftragswesens der betreffenden Länder für die Kooperationspartner);

Ausrichtung der gemeinsamen F&E-Politik auf gemeinsame Vorhaben, wobei auf die Europatauglichkeit der einzelstaatlichen Ansätze zu achten ist.

5.3.5

Die neue finanzielle Vorausschau 2007-2013 muss sich um dieses Problem der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa drehen. Hierzu gilt es,

sich frühzeitiger auf den erwarteten wirtschaftlichen, industriellen, regionalen und sozialen Wandel durch Einleitung der im Vorfeld nötigen Anpassungen einzustellen;

die Reform der Agrarpolitik mit den betroffenen Kreisen fortzusetzen und dabei eine wettbewerbsfähige europäische Ernährungswirtschaft unter Berücksichtigung der Erfordernisse des Umwelt- und Verbraucherschutzes sowie einer ausgewogenen Entwicklung des ländlichen Raumes anzustreben;

für eine stärkere internationale Präsenz der Union durch effizientere Gestaltung der Entwicklungshilfe, Förderung von Partnerschaften und Unterstützung der Investitionen europäischer Unternehmen auf Drittlandsmärkten mit großem Wachstumspotenzial zu sorgen;

die Modalitäten für die Vergabe von Gemeinschaftsbeihilfen anzupassen: Erweiterung der für ihren Erhalt zu erfüllenden Bedingungen (insbesondere was die wirtschaftliche Konvergenz, aber auch die Umsetzung der Richtlinien anbelangt), Erreichung größerer Gegenleistungen (Gegenseitigkeit) von Seiten der Empfängerländer (Wettbewerbsumfeld für die Unternehmen, Verwaltungsvereinfachung, Beseitigung von Hemmnissen), Überprüfung der Vereinbarkeit der Gemeinschaftshilfen mit den Wettbewerbsvorschriften wie bei den staatlichen Beihilfen (Beachtung schädlicher Wettbewerbsverzerrungen und Störungen durch künstliche Standortverlagerungen) sowie stärkerer Rückgriff auf zinsvergünstigte Kredite, anstatt die Finanzhilfe im Wesentlichen auf Subventionen auszurichten.

5.4   Eine kohärentere Durchführung der Strukturreformen gewährleisten

5.4.1

Die Europäer müssen besser von der Glaubwürdigkeit des Mandats von Lissabon überzeugt werden. Es gilt, die Befürchtungen hinsichtlich seiner Bedeutung und seiner sozialen Kosten zu zerstreuen. Die vorgesehenen Reformen haben einen Einfluss auf unsere Entwicklungsperspektiven in einer offenen Wirtschaft. Es geht darum, die Nachhaltigkeit des europäischen Gesellschaftsmodells, an dem die Europäer hängen und wie es in der Charta der Grundrechte verankert ist, zu sichern und es mit dem Ziel der Wettbewerbsfähigkeit in Einklang zu bringen.

5.4.2

Dieses Ziel der Wettbewerbsfähigkeit würde auch dadurch gewinnen, wenn es eindeutiger ausgeführt würde. Dem Ausschuss geht es nicht um größtmögliche Wettbewerbsfähigkeit auf weltweiter Ebene im Sinne einer maximalen Kostendämpfung in allen Bereichen: Ein solches Ziel wäre illusorisch und nicht praktikabel und aufgrund seiner qualitativen, sozialen und ökologischen Kosten in vielerlei Hinsicht schädlich und der Nachhaltigkeit abträglich. Dem Ausschuss ist vielmehr daran gelegen, dass uns in einer offenen und globalisierten Wirtschaft alle Mittel für eine uneingeschränkte und nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit zur Verfügung stehen — insbesondere durch die Beherrschung der neuen Technologien und eine innovativere Organisation der Arbeit und der Produktivität –, in dem kontinuierlichen Streben, unsere sozialverträgliche Form der Entwicklung in Europa beizubehalten und zu konsolidieren.

5.4.3

Es müsste eine bessere Koordinierung zwischen den wirtschaftlichen, sozialen, verwaltungs- und umweltpolitischen Reformen auf der einen Seite und den Mitgliedstaaten auf der anderen Seite in die Wege geleitet werden. Dabei ist für die Vergleichbarkeit (der Verhältnisse) und die gegenseitige Stärkung zu sorgen. In Anbetracht des derzeitigen Stands der Strukturreformen in den Mitgliedstaaten wäre hierzu insbesondere Folgendes notwendig:

die Telekommunikations-, Energie- und Verkehrsnetze müssten unter Bedingungen verknüpft werden, die ein optimales Verhältnis zwischen Preis, Qualität und Sicherheit gewährleisten;

die Integration des europäischen Finanzmarktes müsste beschleunigt werden, wobei Mobilität, Harmonisierung, Sicherheit und Selbstregulierung miteinander in Einklang zu bringen sind;

die Produktivität müsste gesteigert werden, und zwar zum einen unmittelbar in den Unternehmen — nämlich durch Arbeitsorganisation, Informatik und neue Technologien — und zum anderen durch eine größere wirtschaftliche und soziale Effizienz der öffentlichen Transferleistungen, u.a. durch Größenvorteile — Öffnung des öffentlichen Sektors, europaweite Zusammenarbeit der öffentlichen Verwaltungen –, um die Rückführung der Defizite der öffentlichen Haushalte zu ermöglichen;

es müsste dafür gesorgt werden, dass die zur Verfügung gestellten Forschungsmittel, die zu zwei Dritteln aus dem privaten Sektor kommen müssen, dem festgelegten Planungsziel der EU von 3 % des BIP auch tatsächlich entsprechen, und dass die nationalen Programme miteinander und mit dem F&E-Rahmenprogramm in Einklang stehen;

das Lernen und die duale Berufsausbildung, bei der schulische und betriebliche Ausbildungseinheiten alternieren, müsste gefördert werden, der Zugang zu ihnen müsste weiter geöffnet werden, und die europäischen Austauschprogramme müssten noch weiter ausgebaut werden;

die Vermittelbarkeit der Arbeitssuchenden müsste durch Weiterbildungsprogramme sowie eine auf den persönlichen Bedarf zugeschnittene Unterstützung bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt verbessert werden;

die Arbeitssuchenden, sowohl Frauen als auch Männer, ältere wie jüngere, müssten außerdem zu selbstständiger Erwerbstätigkeit ermutigt werden, indem die Verwaltungsverfahren vereinfacht werden und ihnen im Hinblick auf das Sozialschutzsystem keine Nachteile entstehen;

angesichts der Alterung der Bevölkerung in Europa müsste die Solvenz des Sozialschutzes sichergestellt werden, um seinen Bestand auf Dauer zu sichern, wobei die nicht deklarierte illegale Arbeit einzudämmen und zu unterbinden ist;

der Wust an Regelungen und Verfahren, insbesondere für KMU, müsste durchforstet und gleichzeitig — wie vorstehend genannt — die Schwarzarbeit wirksam bekämpft werden;

der Gründung von Unternehmen und der Förderung des Unternehmergeists sollte vordringlich Aufmerksamkeit geschenkt werden, indem die Verwaltungs- und Steuervorschriften dementsprechend umgestaltet werden;

die nachhaltige Entwicklung müsste konsolidiert und die neuen Technologien in diesem Bereich, die den europäischen Unternehmen weltweit neue Märkte eröffnen, müssten gefördert werden, u.a. durch den verstärkten Austausch bewährter Verfahrensweisen, für die eine Datenbank eingerichtet werden sollte.

5.4.4

Auf europäischer Ebene sollte diese Koordinierung der Reformen dadurch unterstützt werden, dass

dem Präsidenten der Kommission gemeinsam mit seinen Kollegen eine besondere Verantwortung für die Berücksichtigung der Chancen und Gefahren für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa übertragen wird, die als Grundlage für besondere Initiativen in diesem Bereich im Rahmen der politischen Maßnahmen der Kommission herangezogen werden kann, wobei vom Präsidenten ein Mitglied der Kommission benannt werden könnte, das ihm bei dieser Aufgabe zur Seite stehen soll;

die vergleichende Übersicht über die Durchführung der Reformen von Lissabon verstärkt wird, in der nicht nur die Rolle der Behörden, sondern auch die der Zivilgesellschaft herausgestellt wird;

die EU-Beihilfen stärker auf die Ziele von Lissabon abgestimmt werden und in den Jahresberichten eine Bilanz dieser Abstimmung gezogen wird.

5.4.5

Eine der zentralen Forderungen der heutigen Zeit ist die, dass die Unionsbürger für den europäischen Integrationsprozess und das von der Union angestrebte Ziel der Wettbewerbsfähigkeit mobilisiert werden müssen. Dies setzt voraus, dass sowohl im Hinblick auf die Ziele und Konturen des im Entstehen begriffenen Europa als auch in Bezug auf den wirtschaftlichen und sozialen Gesamtkontext, in den die Strukturreformen gestellt sind, klarere Vorstellungen entwickelt werden. Hierzu ist insbesondere ein genaueres Verständnis der Zukunft des europäischen Modells für die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern erforderlich.

5.4.6

Eine stärkere Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen beinhaltet insbesondere, die beruflichen Qualifikationen der Angestellten zu verbessern, sie zur Mitwirkung an der Organisation der Arbeit anzuregen und den sozialen Zusammenhalt innerhalb des Unternehmens durch engere und modernisierte Sozialbeziehungen zu fördern.

5.4.6.1

So sind Investitionen in die Humanressourcen der Unternehmen von entscheidender Bedeutung. Denn für die Produktivität eines Unternehmens sind seine Arbeitskräfte — sein Humankapital — ein ausschlaggebender Faktor. Von solchen Investitionen, insbesondere im Bildungsbereich, hängt die Motivation der Arbeitnehmer und damit ihre Produktivkraft ab.

5.4.6.2

„Lebensbegleitendes Lernen“ und Fortbildung sind zwar zum zentralen Element der europäischen Beschäftigungspolitik geworden, der prozentuale Anteil von Arbeitnehmern, die an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, gibt aber Anlass zur Sorge. Dieser Anteil liegt bei der Gruppe der 25-29-Jährigen durchschnittlich bei nur 14 %, sinkt mit zunehmendem Alter der Arbeitnehmer konstant ab und beträgt in der Gruppe der 55-64-Jährigen nur noch 5 %

5.4.6.3

In einem Produktionssystem, in dem die Arbeitsplätze in immer stärkerem Maße von Technik und Know-how abhängen, gibt diese Situation im Hinblick auf die europäische Wettbewerbsfähigkeit Anlass zur Beunruhigung. Es ist wünschenswert, wenn nicht gar unumgänglich, diese Situation zu überwinden. Hierzu müssen die Unternehmen Fortbildungsmaßnahmen als mittel- und langfristige Investitionen in ihre Strategie integrieren, statt sie als Maßnahme anzusehen, die sich schnell oder gar sofort auszahlen muss.

5.4.6.4

Dennoch dürfen die berufliche Bildung und die lebensbegleitende Aus- und Fortbildung nicht isoliert betrachtet werden, sondern sollten von den Erwerbstätigen als grundlegende Elemente für ihre Karriereplanung angesehen werden. In jeder Altersgruppe sollte ausreichend Motivation zur Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen vorhanden sein, und zwar durch Höherbewertung von Kompetenzen und Dynamisierung der beruflichen Laufbahnen. In dieser Hinsicht sind Bewertungssysteme und die Validierung des beruflichen Erfahrungswissens Konzepte, die im Rahmen individueller beruflicher Planung in Verbindung mit der Unternehmensplanung weiterentwickelt werden müssen.

5.4.7

Der Ausschuss möchte auch die Rolle der Sozialwirtschaft unterstreichen, die bereits Gegenstand mehrerer seiner Stellungnahmen war. Er möchte daran erinnern, dass die Sozialwirtschaft als Entwurf für mehr Wettbewerbsfähigkeit dienen kann, und zwar auf der Grundlage der Zusammenarbeit zwischen Menschen und Unternehmen und ihrer Fähigkeit, die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen und das Humankapital zu entwickeln

5.4.8

Neben den Unternehmen und ihren Angestellten kommt den Sozialpartnern bei der Neudefinierung der Sozialbeziehungen eine ganz entscheidende Rolle zu. Mit dem Mandat von Lissabon wurde ursprünglich den Unternehmen, den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft eine maßgebliche Verantwortung für das Gelingen der Reformen zuerkannt. Der Ausschuss findet es höchst bedauerlich, dass dies bei den ersten Frühjahrsgipfeln sowohl in den Berichten der Mitgliedstaaten als auch in den Debatten und Schlussfolgerungen des Europäischen Rates unterbewertet wurde.

5.4.9

Die diesbezügliche Lage hat sich allmählich gebessert, und es finden im Vorfeld der Frühjahrsgipfel Sitzungen der Sozialpartner mit dem Ratsvorsitz und Vertretern der Kommission statt. Auch die von den Sozialpartnern (UNICE, CEEP, UEAPME und EGB) beschlossene mehrjährige Agenda für ihren sozialen Dialog während des Zeitraums 2003-2005 hat zu ihrer verstärkten Beteiligung an der Durchführung der Reformstrategie beigetragen. Bei dieser in drei Bereiche (Beschäftigung, soziale Aspekte der Erweiterung) gegliederten Agenda für die Konzertierung und für gemeinsame Initiativen liegt der Schwerpunkt insbesondere auf der Stärkung der Berufsbildung und der Berufsabschlüsse. Sie trägt dadurch zur Definition eines europäischen Gesellschaftsmodells bei, bei der die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen mit verstärkten sozialen Inhalten verknüpft wird.

5.4.10

Diese Sozialpartner haben im Übrigen in den Mitgliedstaaten entscheidende Reformen in die Wege geleitet, die die Ausbildung, den Arbeitsmarkt und den Sozialschutz betreffen. Deshalb ist es wichtig, die verantwortliche Mitwirkung der Sozialpartner an den Reformen zu fördern, indem ihre Initiativen und Vereinbarungen in den Berichten an die Frühjahrsgipfel aufgewertet werden und sie selbst in den Austausch vorbildlicher Verfahrensweisen einbezogen werden. Der Ausschuss ist bereit, die Information über die Mitwirkung der wirtschaftlichen und sozialen Akteure an den Reformen über eine Datenbank zu verbreiten.

6.   Fazit

6.1

Der Ausschuss kommt zu dem Schluss, dass die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen der zu zahlende hohe Preis für ein Europa ist, dem es an Unternehmergeist fehlt, das in zahlreichen Bereichen immer noch unvollendet ist, mit seinen Reformen im Rückstand liegt und seine Trümpfe sehr schlecht, oft recht zögerlich, zuweilen inkonsequent und damit kontraproduktiv ausspielt. Dieses Urteil lässt sich durch die Feststellung von vier zentralen Mängeln untermauern:

eine unzureichende Förderung des Unternehmergeistes trotz der europäischen Freiheiten;

ein Binnenmarkt, der trotz der Erweiterung unvollendet ist;

eine trotz der Währungsunion immer noch nicht vorhandene Wirtschaftsunion;

zwar geplante, aber immer noch schlecht bewerkstelligte Reformen.

6.2

Diese Mängel zu beheben, um für eine größere Kohärenz zwischen Europa und seinen Staaten zu sorgen und von deren gegenseitiger Ergänzung zu profitieren, ist die Aufgabe aller. Der Ausschuss begrüßt, dass auf dem letzten Frühjahrsgipfel:

die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen wurden, Reformpartnerschaften zu fördern, an denen die Sozialpartner, die Zivilgesellschaft und die Behörden beteiligt werden;

das Engagement der europäischen Sozialpartner begrüßt wurde, sich durch eine neue europäische Partnerschaft für den Wandel noch stärker einzusetzen.

6.3

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass derartige Partnerschaften sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene dringend notwendig sind, um die notwendigen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit in Europa zu schaffen, und dass sie insbesondere zur Verwirklichung folgender Ziele beitragen müssen:

die optimale Gestaltung des Binnenmarktes beschleunigen;

eine der Währungsunion angemessene Wirtschaftsunion schaffen;

alle betroffenen Kreise an den Reformen beteiligen;

hierzu sowohl öffentliche als auch private oder zivilgesellschaftliche innovative Initiativen in die Wege leiten und

auf den nächsten Frühjahrsgipfeln die Fortschritte dieser Partnerschaft bewerten.

6.4

Der Ausschuss weist außerdem auf die Notwendigkeit hin, unbeirrbar an dem Zieltermin 2010 festzuhalten, und zwar sowohl für die Durchführung der in Lissabon beschlossenen Reformen als auch für die Vollendung des Binnenmarktes und die Verwirklichung einer echten und wettbewerbsfähigen Wirtschaftsunion, bei der sämtliche Konsequenzen aus der Währungsunion gezogen und die Erfordernisse der nachhaltigen Entwicklung voll berücksichtigt werden.

6.5

Der Ausschuss stellt schließlich fest, dass die notwendige Beschleunigung der Reformen durch ein stärkeres Wirtschaftswachstum erheblich erleichtert würde. Die Europäische Union sollte schleunigst die notwendigen Schritte einleiten, die eine Stärkung des Binnenmarkts durch eine Ankurbelung von Angebot und Nachfrage ermöglichen und so die dauerhaften Bedingungen für einen Anstieg von Investitionen, Handel, Verbrauch und Beschäftigung schaffen.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Eine Stellungnahme des EWSA zu diesem Richtlinienvorschlag ist in Arbeit.


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/103


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Grünbuch zu öffentlich-privaten Partnerschaften und den gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften für öffentliche Aufträge und Konzessionen“

(KOM(2004) 327 endg.)

(2005/C 120/18)

Die Europäische Kommission beschloss am 30. April 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen: „Grünbuch zu öffentlich-privaten Partnerschaften und den gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften für öffentliche Aufträge und Konzessionen“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. September 2004 an. Berichterstatter war Herr LEVAUX.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 96 gegen 2 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Die Kommission hat am 30. April 2004 ein Grünbuch über öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) veröffentlicht, um eine Diskussion über die Anwendung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften auf Konzessionen/ÖPP anzustoßen.

1.2

Der EWSA hatte in seiner Initiativstellungnahme vom Oktober 2000 (1) Empfehlungen abgegeben, die nach wie vor Bestand haben. ÖPP haben zunehmende Verbreitung gefunden und sind für Europa vor dem Hintergrund der Erweiterung und nach der Verabschiedung der neuen Richtlinien (2) vom 30. April 2004 weiterhin ein strategisch wichtiges Thema.

1.3

Mittlerweile gibt es auch Erfahrungen mit ÖPP-Projekten in einer Reihe von Ländern. Diese Erfahrungen sind gemischt. Eine systematische Auswertung der Erfahrungen hinsichtlich verschiedener Kriterien wie zum Beispiel Kosten, Zugang zu den Leistungen, Qualität der Leistungen, Auswirkung auf die Beschäftigungsverhältnisse etc. wäre daher anzuraten. Insbesondere wäre zu untersuchen, ob und wie ÖPP für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber der übrigen Welt beitragen können und welche Vor- bzw. Nachteile sie gegenüber traditionellen Formen der Erbringung dieser Leistungen aufweisen.

2.   Die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und die ÖPP-Projekte haben sich in Europa weit entwickelt

2.1

Sämtliche europäischen Länder nutzen ÖPP und Konzessionen oder haben dies in der Vergangenheit getan. Aber der Kommission ist es bisher nicht gelungen, eine Bestandsaufnahme zu machen. Die EIB verfügt über Teilstatistiken zu etwa hundert Projekten. Es sollte nicht vergessen werden, dass das „erste Europa“ — das römische Reich — bereits vor zweitausend Jahren ein Konzessionssystem kannte. Im 19. Jahrhundert wurde das europäische Schienennetz über Konzessionsverträge aufgebaut. Derartige Konzessionsverträge waren nicht nur im Eisenbahnwesen, sondern auch bei kommunalen öffentlichen Dienstleistungen wie Wasser, Gas, Strom, Müllabfuhr, Telefon usw. weit verbreitet.

2.2

Bereits seit langem werden überall auf der Welt Globalverträge abgeschlossen, um nicht nur Autobahnen und Parkflächen, sondern auch Wasserversorgungsnetze, Museen, Flughäfen, Straßen- und U-Bahnen, städtebauliche Projekte oder die Gesamtrenovierung von Schulen und Krankenhäusern usw. über einen bestimmten Zeitraum hinweg zu finanzieren, zu planen, zu realisieren und zu betreiben.

2.3   Verschiedene Länder haben neue Rechtsvorschriften für ÖPP erlassen. Die nachstehenden Ausführungen beschränken sich auf die Beobachtungen, die in einer begrenzten Zahl von Ländern gemacht wurden, nämlich Italien, Spanien, Großbritannien und Frankreich.

2.3.1   Italien

2.3.1.1

Im Rahmengesetz von 1994 (Merloni-Gesetz) wird die Bau- und Betriebskonzession definiert. Diese Konzessionsform ist dadurch gekennzeichnet, dass der Konzessionär die Arbeiten mit eigenen Mitteln durchführt und sein Geld über die wirtschaftliche Nutzung des fertiggestellten Projekts zurückholt (Gesetz Nr. 109/94 Artikel 19 Absatz 2) (3).

Ziel des Aufholprogramms im Infrastrukturbereich ist die Realisierung von 220 Projekten, die als strategisch wichtig eingestuft sind:

die Investitionen für den Zeitraum 2002-2011 werden mit 125 Mrd. Euro veranschlagt;

die eine Hälfte wird vom Staat aufgebracht, die andere von privaten Geldgebern.

Mit dem Gesetz wurde ein geeigneter Rechtsrahmen geschaffen: Generalunternehmer, Konzessionär, Verpachtung und Bauträger.

Um Verspätungen bei der Übergabe zur vermeiden und eine effiziente Bauausführung zu gewährleisten, wird in einem neuen Gesetz von 2001 ein „Generalunternehmer“ vorgesehen, der die betreffende Infrastruktur schlüsselfertig übergibt und unterhält. Er muss die Arbeiten außerdem auch vorfinanzieren.

2.3.1.2   Der Konzessionär

Die Bau- und Betriebskonzession ist die Alternative zum Generalunternehmerkonzept: Wenn die erforderlichen Finanzressourcen fehlen, wird im Allgemeinen dieses Instrument gewählt, das auf der vollständigen oder teilweisen Finanzierung durch die Nutzer basiert, da bei der „Generalunternehmer“-Lösung die öffentliche Hand die Gelder in Tranchen verfügbar machen muss.

2.3.1.3   Die Verpachtung bzw. die Vergabe des Betriebs

Konzessionen werden auch verwendet, um den Betrieb von bestehenden Einrichtungen wie Krankenhäusern, Schulen oder Gefängnissen an private Unternehmen zu vergeben. Einer entsprechenden Empfehlung des Finanzministeriums zufolge soll es dadurch der Verwaltung ermöglicht werden, sich wieder auf ihre wesentlichen Aufgaben zu konzentrieren und von den Innovationen des privaten Sektors zu profitieren.

2.3.1.4   Der Bauträgervertrag

Im Rahmen der Dreijahresplanung für die Investitionen der verschiedenen staatlichen Stellen kann jeder, der das möchte, einen Vorschlag für die Realisierung eines Projekts einreichen. Die Verwaltung entscheidet dann, ob das vorgeschlagene Projekt realisiert werden soll oder nicht; entscheidet sie sich für die Realisierung des Projekts, wird ein Ausschreibungsverfahren durchgeführt. Der Bauträger hat ein Vorkaufsrecht und fasst den Vertrag ab.

In Italien ist eine starke Entwicklung der Bauträgeroption zu beobachten:

in dreieinhalb Jahren (Januar 2000 — Juni 2003) wurden 1 163 Projekte vorgelegt, davon

660 von Bauträgern (Konzessionen auf Privatinitiative, allein 302 im Jahr 2003!) und

503 Konzessionen auf öffentliche Initiative.

2.3.2   Spanien

2.3.2.1

In Spanien ist der Konzessionsvertrag für öffentliche Bauaufträge in dem Gesetz Nr. 13/2003 vom 23. Mai 2003 geregelt. Mit diesem Gesetz wurde das Gesetz über Aufträge der öffentlichen Hand geändert, dessen geänderte Fassung durch Königliches Gesetzesdekret Nr. 2/2000 vom 16. Juni 2000 angenommen wurde. Dabei wurde in die Vorschriften über die verschiedenen Arten von Verträgen mit den Verwaltungen ein neuer Titel „Konzessionsvertrag für öffentliche Bauaufträge“ aufgenommen, der die Rechtsvorschriften für solche Verträge enthält, die jetzt bereits üblich sind. In diesem Titel werden die Besonderheiten solcher Verträge und die Tradition des spanischen Rechts beachtet.

2.3.2.2

In der neuen Beschreibung der Konzession sind für diese Vertragsart vier grundlegende Begriffe enthalten: „öffentlicher Bauauftrag“, „Konzessionsrisiko“, „wirtschaftliches Gleichgewicht der Konzession“ und „Diversifizierung der Finanzierung“.

2.3.3   Großbritannien

2.3.3.1

In den Jahren 1993-1994 hat die Regierung im großen Stil öffentliche Dienstleistungen und Bauarbeiten als „Private Finance Initiatives“ (PFI) delegiert. Hierbei wird einem Privatunternehmen ein globaler Auftrag für eine bestimmte öffentliche Einrichtung übertragen, der sich auf das Komplettpaket Planung-Finanzierung-Bau-Betrieb-Unterhalt erstreckt. Seit der Einführung dieser PFI wurde(n):

mehr als 650 ÖPP-Projekte gestartet, davon 45 für Krankenhäuser und mehr als 200 für Schulen;

für 400 Projekte die Durchführung eingeleitet;

48 Milliarden Pfund (60 Mrd. Euro) gebunden;

ein Programm für die nächsten Jahre ins Auge gefasst;

jährlich etwa 12 % der für Investitionen vorgesehenen nationalen Haushaltsmittel eingesetzt.

2.3.3.2

Das britische Finanzministerium führt als Argument für die PFI ins Feld, dass der Privatsektor auch wirklich das Risiko tragen und der öffentliche Sektor die Leistungen durch die Anwendung des „Best Value for Money“-Grundsatzes möglichst kostengünstig erhalten muss; hierdurch soll die Optimierung der Nutzungskosten erreicht werden, da der Bauträger selbst für den Betrieb der Einrichtung zuständig ist und dadurch größtes Interesse daran hat, eine qualitativ hochwertige Einrichtung mit möglichst niedrigen Betriebskosten und einer möglichst langen Lebensdauer zu planen und zu errichten.

2.3.3.3

Die derzeitigen Verträge erstrecken sich auf sämtliche Bereiche: Wasser, Kanalisation, öffentlicher Verkehr, militärische Anlagen, Krankenhäuser, Schulen, öffentliche Gebäude, Straßen und Autobahnen usw.

2.3.3.4

Aufgrund der großen Zahl von ÖPP-Projekten im Vereinigten Königreich gibt es dort auch umfangreiche Erfahrungen, die durchaus gemischt sind. Es sollte eine systematische Analyse und Bewertung dieser Erfahrungen vorgenommen und für weitere Entwicklungen genutzt werden.

2.3.4   Frankreich

2.3.4.1

Im sogenannten Sapin-Gesetz vom 29. Januar 1993 wurde das Vergaberecht für nutzerfinanzierte Konzessionsverträge geregelt, die in folgenden Bereichen weit verbreitet sind:

kommunale Dienstleistungen wie Wasserversorgung, Müllabfuhr und Straßenreinigung, öffentlicher Verkehr usw.

große Infrastrukturvorhaben wie Autobahnen, Brücken, große Stadien, Tunnel usw.

2.3.4.2

Die von der öffentlichen Hand finanzierten ÖPP-Verträge sind in Frankreich auf dem Vormarsch.

2.3.4.2.1

Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 5. Januar 1988 gibt es in Frankreich langfristige, von der öffentlichen Hand finanzierte Pachtverträge, die sogenannten „baux emphytéotiques administratifs“. Derartige Verträge werden für öffentliche Gebäude — insbesondere Bildungseinrichtungen — geschlossen als eine Variante des Leasing, das der französische Staat ebenfalls nutzt (4). Darüber hinaus stehen dem Staat im Bereich Gebäude und Infrastrukturen mittlerweile Mietverträge mit Kaufoption zur Verfügung (Gesetz vom August 2002 für die Polizei und Gesetz von Anfang 2003 für das Militär).

2.3.4.2.2

In dem Gesetz vom 2. Juli 2003 schließlich wurde der Erlass von Verordnungen für langfristige Verträge vorgesehen, die sich auf die Planung, die Finanzierung und den Betrieb aus Mitteln der öffentlichen Hand erstrecken. Eine erste Verordnung für den Krankenhaussektor wurde im September 2003 veröffentlicht, eine zweite wurde für den französischen Staat und die Kommunalbehörden verabschiedet. Es handelt sich um die Verordnung über die Partnerschaftsverträge vom 17. Juni 2004 (5).

2.3.5   Deutschland

2.3.5.1

In Deutschland existiert wie in den anderen Mitgliedstaaten ein detailliertes Vergaberecht für öffentliche Aufträge (Bauaufträge), bei dem sich öffentliche und private Unternehmen ebenso wie ÖPP diskriminierungsfrei beteiligen können.

2.3.5.2

Davon prinzipiell zu unterscheiden ist das Verfahren zur Sicherstellung der Dienstleistung im Rahmen der Daseinsvorsorge. Die Kommunen wählen in Deutschland in vielen Fällen öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP), um derartige Dienstleistungen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse (DAWI) beispielsweise in der Ver- und Entsorgung zu erfüllen, also in den Bereichen Energie, Wasser/Abwasser und Entsorgung. Dieses geschieht in allen möglichen Vertragsformen. Neben weit verbreiteten Dienstleistungskonzessionen existieren öffentliche Aufträge, z.B. zur Stromversorgung, ebenso wie auch institutionalisierte ÖPP in den Kommunen. Diese ÖPP sind ein Beitrag zur Sicherung von Arbeitsplätzen in der Region und zur regionalen Wirtschaft.

2.3.5.3

Derartige ÖPP basieren auf der grundgesetzlich gesicherten Befugnis der Kommunen, Art und Organisation der Erbringung von DAWI in ihrem Gebiet im Rahmen von Konzessionen frei zu entscheiden. Sie haben die Wahlfreiheit, eigene Unternehmen zu gründen, mit geeigneten Partnern ÖPP durchzuführen oder die DAWI an Private zu vergeben. Derartige ÖPP unterliegen nicht dem Vergaberecht.

2.4   Bemerkungen zum Bauträgervertrag

2.4.1

Dieses Konzept, das aus dem traditionellen europäischen Konzessionssystem hervorgegangen ist, findet in Europa immer weitere Verbreitung. Es stellt sich die Frage, ob ein harmonisierter Rahmen notwendig ist oder nicht und ob es im Gemeinschaftsrecht verankert werden soll.

2.4.2

Nach Italien, wo die diesbezüglichen Rechtsvorschriften sehr detailliert sind, wurde diese Vertragsform von Frankreich und Spanien übernommen. In Italien führt die zuständige Behörde ein Ausschreibungsverfahren durch, das sich auf den vorläufigen — ggf. von der Behörde entsprechend abgeänderten — Vorschlag des Bauträgers und seinen Finanzierungsplan stützt (vorgeschlagene Dauer, erforderliche Nutzungsgebühren usw.).

2.4.3

Nach dem Verhandlungsverfahren vergibt die Behörde die Konzession entweder an den Bauträger oder an einen der mindestfordernden Bieter aus dem Ausschreibungsverfahren. Der Bauträger und die Bieter müssen eine Garantie in Höhe von 2,5 % des Gesamtinvestitionswerts stellen.

2.4.4

Wenn die Behörde den Auftrag nicht dem Bauträger erteilt, erhält dieser die Garantiesumme des erfolgreichen Bieters zur Deckung seiner Ausgaben, einschließlich geistiger Eigentumsrechte. Wird der Auftrag dem Bauträger erteilt, geht seine Garantiesumme von 2,5 % an die beiden nächsten Bieter (60 % an den niedrigsten und 40 % an den zweitniedrigsten).

2.4.5

Ebenso wie in Artikel 19 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge die Möglichkeit vorgesehen ist, bestimmte Aufträge Einrichtungen vorzubehalten, deren Arbeitnehmer mehrheitlich Behinderte sind, sollte nach Ansicht des Ausschusses bei der Umsetzung dieser Form einer öffentlich-privaten Partnerschaft die Berücksichtigung bestimmter sozialer Kriterien durch den Bauträger bzw. eine der Vertragsparteien diesem bzw. dieser zum Vorteil gereichen.

2.5   Länder, in denen ÖPP und Konzessionen nur schwach entwickelt sind. Die nachstehenden Ausführungen beschränken sich auf die Beobachtungen, die in einer begrenzten Zahl von Ländern gemacht wurden.

2.5.1   Belgien

2.5.1.1

Die Konzession ist in den Artikeln 24 und 25 des Gesetzes vom 24. Dezember 1993 sowie Artikel 123 ff. des Königlichen Erlasses vom 8. Januar 1996 (6) geregelt. Neben der Ausführung und eventuellen Planung der Arbeiten ist in diesen Artikeln der Betrieb der Einrichtung durch den Konzessionär vorgesehen. Der Bauträgervertrag hingegen scheint im belgischen Recht nicht sonderlich weit entwickelt zu sein.

2.5.1.2

Der Bauträgervertrag (7) ist dadurch gekennzeichnet, dass die Finanzierung, Durchführung und mitunter auch Planung eines Bauprojekts in einer Hand liegt und der fertiggestellte Bau von der Vergabestelle gegen Entgelt in Form von Miete genutzt wird (8).

2.5.2   Portugal

2.5.2.1

Portugal hat zur Verbesserung seines Straßenverkehrsnetzes den SCUT-Vertrag eingeführt, eine Form der Übertragung öffentlicher Aufgaben, bei der ein privater Bauunternehmer eine öffentliche Gebühr erheben kann. Der SCUT-Vertrag ähnelt dem System der sogenannten „Shadow Toll“ bzw. der virtuellen Maut, die im britischen Straßenverkehrsnetz verwendet wird. Die Ausschreibungsverfahren für diese SCUT-Verträge wurden 1997 durchgeführt. Gegenwärtig wird diese Vertragsform anscheinend weniger häufig verwendet.

2.5.3   Ungarn

2.5.3.1

Es gibt kein spezifisches Gesetz zur Regelung von ÖPP-Projekten, die Bestimmungen zu den finanziellen Verpflichtungen des Staates sind jedoch im Erlass Nr. 2098/2003 (V29) festgelegt.

2.5.3.2

1997 hat das Land ein Partnerschaftsprogramm mit dem Privatsektor zur Entwicklung von Industrieparks gestartet, deren Zahl sich Anfang 2004 auf 165 belief.

3.   Wie sind die Konzession und die ÖPP zu definieren?

3.1

Im Gemeinschaftsrecht ist es nicht gelungen, eine wirklichkeitsnahe und sinnvolle Definition für ÖPP und Konzessionen festzulegen. Begriffsbestimmungen für ÖPP und öffentliche Bau- und Dienstleistungskonzessionen sind im Gemeinschaftsrecht entweder überhaupt nicht vorhanden oder bieten Anlass zu Kritik. An der gegenwärtigen Definition wird Folgendes kritisiert:

Konzessionen sind an Bauaufträge gebunden (Ziffer 3.1.1);

es fehlt die Unterscheidung zwischen langfristigen und kurzfristigen Verträgen, die die Trennlinie für die verwaltungsexterne Finanzierung und somit die Grundlage für die Übertragung von Aufgaben bildet (Ziffer 3.1.2);

eigene Vorschläge des privaten Sektors für Konzessionen bleiben unberücksichtigt (Ziffer 3.1.3).

3.1.1   Die Bindung von ÖPP und Konzessionen an Bauaufträge

3.1.1.1

Die Frage der Konzessionen ist im Gemeinschaftsrecht zum einen in den Grundsätzen und Bestimmungen des Vertrages und zum andern in den Richtlinien zur Umsetzung dieser Grundsätze geregelt.

3.1.1.2

Die Richtlinien der Union dienen dem Zweck, die Transparenz des Wettbewerbs für das ganze weite Feld der öffentlichen Aufträge sicherzustellen, und ihr Geltungsbereich ist mitunter etwas unklar, wenn es sich um komplexe Konzessions- oder ÖPP-Verträge handelt.

3.1.1.3

Nur in der Richtlinie 93/37/EWG (9) zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge wurden in Artikel 1 Buchstabe d) öffentliche Baukonzessionen definiert, allerdings leider unter Zugrundelegung einfacher öffentlicher Bauaufträge (10). Die Richtlinie 92/50/EWG  (11) über öffentliche Dienstleistungsaufträge enthielt keine Definition der Konzession. In der Richtlinie 93/38/EWG  (12) schließlich wurde das Thema Definition bzw. Vergabe von Konzessionen nicht behandelt, sondern lediglich die Vergabe sämtlicher Aufträge in speziellen Sektoren geregelt, wodurch sie an die Stelle der anderen Richtlinien trat. Der EWSA bemängelt diese wirklichkeitsfremde Vorgehensweise, bei der Wichtiges ausgeklammert wurde und die in den Richtlinien 2004/17 und 2004/18 (13) bedauerlicherweise beibehalten wurde.

3.1.1.4

Die Kommission, der die zunehmende Verbreitung von ÖPP bewusst war, veröffentlichte im April 2000 eine Mitteilung der Kommission zu Auslegungsfragen im Bereich Konzessionen im Gemeinschaftsrecht  (14). Mit dieser Mitteilung sollte die grundlegende Rechtsunsicherheit ausgeräumt werden, die dadurch entsteht, dass die Richtlinien über öffentliche Aufträge keine genauen Definitionen für Konzessionen und ÖPP enthalten. Hierbei ist zu bedenken, dass ÖPP und Konzessionen in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften gegenwärtig sehr unterschiedlich behandelt werden.

3.1.1.5

Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass es an Definitionen für Konzessionen und ÖPP-Verträgen bzw. Verträgen zur Übertragung von Aufgaben fehlt, aus denen ihre Bedeutung und ihr Geltungsbereich klar hervorgeht. Die Konzession und die Aufgabenübertragung im weiteren Sinne können nicht auf ein einziges Kriterium — das Risiko oder die Bezahlung — verkürzt werden, wie dies zunächst in der Richtlinie 93/37/EWG und dann in der Mitteilung zu Auslegungsfragen versucht wurde, sondern sind durch eine ganze Reihe verschiedener Elemente bestimmt.

3.1.1.6   Wie kann eine Konzession oder eine ÖPP genauer definiert werden?

3.1.1.6.1

Der Vertrag bzw. der einseitige Akt, mit dem eine Behörde einem externen Unternehmen für einen langen und festgelegten Zeitraum spezifische Rechte in Bezug auf Planung, Bau, Finanzierung, Unterhalt und Betrieb einer Infrastruktur oder die Bereitstellung einer Dienstleistung überträgt:

ist als Konzession zu bezeichnen, wenn die Vergütung des Unternehmens größtenteils von den Nutzern aufgebracht wird;

ist als öffentlich-private Partnerschaft zu bezeichnen, wenn die Vergütung größtenteils von der öffentlichen Hand aufgebracht wird.

3.1.1.6.2

Aus diesen Definitionen sind zwei Kriterien für derartige Vertragsformen abzuleiten, die erfüllt sein müssen:

die Übertragung der Verantwortung von der Behörde auf den Auftragnehmer;

das Konzept eines globalen Vertrags, der zahlreiche Funktionen (Bau, Finanzierung, Nutzung, Unterhalt usw.) über einen langen Zeitraum abdeckt (durchschnittliche Dauer zwischen 10 und 75 Jahren).

3.1.1.6.3

Nach Ansicht des Ausschusses besteht daher kein Grund, den (Konzessions-)Vertrag — wie dies in der Mitteilung zu Auslegungsfragen aus dem Jahr 2000 geschehen ist — einzig und allein an der Übernahme des Nutzungsrisikos festzumachen, da dies eine zu verengte und verkürzte Betrachtungsweise dieser Vertragsform wäre.

3.1.2   Die notwendige Unterscheidung zwischen kurz- und langfristigen Verträgen

3.1.2.1

Nach der Veröffentlichung des Grünbuchs der Europäischen Kommission im November 1996 (15) nahm der EWSA am 28. Mai 1997 (16) eine Stellungnahme an, in der er die Kommission ersuchte, ihren Ansatz in Bezug auf Konzessionen zu überdenken und diese stärker von der Definition des Bauauftrags abzukoppeln: „Die Frage der Konzessionen sollte ebenfalls eingehend geprüft werden, wobei von der Grundvoraussetzung auszugehen ist, dass ihre Erteilung transparent und anhand objektiver Kriterien erfolgen muss. Zwischen einer Konzession und einem Auftrag bestehen grundlegende Unterschiede, die den Gegenstand und die Dauer der Vereinbarung, die Finanzierungsbedingungen, die Art der Abwicklung und den Umfang der Haftung betreffen. Um die Verbreitung derartiger Verträge — insbesondere im Hinblick auf die transeuropäischen Netze — zu fördern, könnte die Europäische Kommission die Entwicklung eines speziellen Rechtsinstruments prüfen, in dem die Regeln für ihre Erfüllung verankert würden  (17).“

3.1.2.2

Der EWSA hält es für notwendig, bei der Definition der Verträge und ihrer Klassifizierung deren spezielle Funktion zu berücksichtigen.

3.1.2.3

Ein Konzessions- oder ÖPP-Vertrag kann nicht einfach — ohne Erwähnung der Vertragsdauer — durch die Übertragung des Nutzungsrisikos definiert werden, da bei einem derartigen Vertrag vor allem die Zuständigkeit für Planung, Errichtung/Schaffung, Finanzierung, Betrieb/Management und Unterhalt/Bereithaltung eines Bauwerks bzw. einer Dienstleistung auf den ausgewählten Bewerber übertragen wird.

3.1.3

Im Zusammenhang mit den bereits erwähnten Bauträgerverträgen haben mehrere Länder spezifische Rechtsvorschriften geschaffen, die es privaten Akteuren ermöglichen, den zuständigen Behörden Vorschläge für Projekte zu unterbreiten. Diese in Italien bereits gängige Praxis sollte auch in anderen Mitgliedstaaten gefördert werden, in denen es noch keine vergleichbaren Verfahrensweisen gibt.

3.2   Aus der unterschiedlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts ergeben sich rechtliche Unterschiede

3.2.1

Da die öffentlichen Vertragskonzepte in Europa unterschiedlich gehandhabt werden, gilt ein Vertrag in einem Land als öffentlicher Bau- oder Dienstleistungsauftrag, in einem anderen hingegen als Konzession. Für ein- und denselben Vertrag gelten somit in Abhängigkeit von dem jeweiligen Land zwei verschiedene Vergaberegelungen. Das Vereinigte Königreich, das für die Klassifizierung der Verträge weniger sensibel ist als Länder mit einer römischen Rechtstradition und einem ausgeprägten Verwaltungsrecht, hat die ÖPP stets als einfache öffentliche Aufträge behandelt, obwohl es sie ebenso gut als Baukonzessionen hätte einstufen können.

3.2.2

Die Tatsache, dass in mehreren Mitgliedstaaten ein spezifisches ÖPP-Recht entsteht, zeigt, dass es sich hierbei um Sonderformen von Verträgen auf der Grenzlinie zwischen der öffentlichen Leistungserbringung und der vertraglichen Vergabe handelt, was es schwierig macht, von vornherein Regelungen festzulegen.

3.3   Kann sich das Gemeinschaftsrecht darauf beschränken, Verträge lediglich unter dem Blickwinkel ihrer Vergabe zu klassifizieren, ohne die Übertragung öffentlicher Aufgaben im institutionellen Sinne zu behandeln? Ist die Regelung der Vertragsvergabe an sich so wichtig?

3.3.1

Der Geltungsbereich der Richtlinien geht deutlich über die Harmonisierung der Vergabeverfahren für öffentliche Aufträge hinaus. Die in diesen Richtlinien enthaltenen Definitionen wurden auch im Recht verschiedener Mitgliedstaaten vollständig übernommen und haben in mehreren europäischen Ländern zu einheitlichen Vertragskonzepten geführt.

3.3.2

In den Richtlinien 2004/17 und 2004/18 wird jedoch die rechtliche Regelung nationaler Verträge dem jeweiligen nationalen Recht überlassen, das die Modalitäten für die Erfüllung dieser Verträge festlegt. Es stellt sich daher die Frage, welcher Platz dem Privatsektor im Rahmen der öffentlichen Verwaltung eingeräumt wird.

3.4   Die Normenhierarchie misst auf der Grundlage der marktwirtschaftlichen Ordnung den Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge und der Wahrung der sozialen Belange einen besonderen Stellenwert bei.

3.4.1

Der EWSA unterstreicht:

dass entsprechend der vom Rat beschlossenen künftigen Verfassung die angestrebten Ziele eine nachhaltige Entwicklung auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität sowie einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft umfassen, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Schutz sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität abzielt;

dass ÖPP, wenn sie eingesetzt werden, zur Erreichung der Ziele der Union beitragen müssen;

dass der Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft zusammen mit dem Ziel eines starken, die soziale Dimension Europas (Bildung, Ausbildung, Beschäftigung usw.) berücksichtigenden Wachstums durch die Lissabon-Strategie bekräftigt wurde.

3.4.2

Die zuständige Behörde muss zwar bei Verwirklichung des Ziels einer offenen Marktwirtschaft das Subsidiaritätsprinzip einhalten, jedoch auch die Wettbewerbsmöglichkeiten des Marktes berücksichtigen und entscheiden, welches die sinnvollste Lösung ist.

3.4.3

Bei jeder vertraglichen Lösung für die Übertragung der öffentlichen Leistungserbringung muss die Einhaltung der Sozialnormen des betreffenden Landes und des im Vertrag festgelegten Leistungsniveaus sichergestellt werden. Für den Fall, dass diese Sozial- und Leistungsauflagen nicht erfüllt werden, müssen Kündigungsklauseln greifen.

4.   Vorschläge zur Verbesserung und Präzisierung der Rechtsvorschriften für ÖPP und Konzessionen

4.1

Zwecks Schaffung eines harmonisierten Rahmens auf europäischer Ebene hält es der Ausschuss für ratsam, die Entwicklung dieser Verträge mit einer oder mehreren Mitteilungen zu Auslegungsfragen zu begleiten, in der bzw. in denen dieses facettenreiche und komplexe Phänomen über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet wird, statt sofort eine Richtlinie vorzuschlagen, die sich sehr rasch als unzulänglich erweisen könnte.

4.2

Außerdem fordert der Ausschuss die Kommission auf, das Thema ÖPP umfassend zu behandeln und im Rahmen ihrer Mitteilungen (nach einer entsprechenden Erhebung in den Mitgliedstaaten) eine Liste von Kriterien zusammenzutragen, an die sich die Behörden im Hinblick auf die sozialen und ökologischen Aspekte halten könnten. Die Behörden könnten die bestehenden Rechtsvorschriften um diese Kriterien ergänzen und sie so zu Bedingungen für die Vertragserfüllung machen.

4.3

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die ÖPP:

ein flexibles und dynamisches Wirtschaftsinstrument sind, das als Katalysator für die Einbindung bestimmter wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Ziele, wie nachhaltige Entwicklung, Beschäftigung und gesellschaftliche Integration, dienen kann;

einen Austausch der spezifischen Vorzüge zwischen öffentlichen und privaten Partnern ermöglichen.

4.4

Die Richtlinie 2004/18/EG regelt verschiedene wichtige Fragen im Zusammenhang mit der Vergabe von öffentlichen Aufträgen, die auch entsprechend auf ÖPP und Konzessionen Anwendung finden könnten, nämlich die Kriterien, den wettbewerblichen Dialog und die Vertraulichkeit der Angebote. In diesem Zusammenhang ist auf folgende Punkte hinzuweisen:

4.4.1   Der offene Ansatz für Konzessionen muss erhalten bleiben

4.4.1.1

Der offene Ansatz des Texts der Richtlinie 2004/18/EG muss erhalten bleiben, zumal nicht alle Mitgliedstaaten Konzessionsverfahren anwenden.

4.4.2   Für Konzessionen und ÖPP muss eine gemeinschaftsweit harmonisierte rechtliche Definition festgelegt werden

4.4.2.1

Die Definition dieser beiden Vertragsformen muss in den Mitgliedstaaten vereinheitlicht werden. Die vom EWSA vorgeschlagene Definition (vgl. Ziffer 3.1.1.6) ermöglicht es, den besonderen Platz hervorzuheben, den diese Verträge an der Grenzlinie zwischen der vertraglichen Vergabe und der öffentlichen Leistungserbringung einnehmen.

4.4.3   Innovation muss möglich sein

4.4.3.1

Die gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften für Baukonzessionen verpflichten den Konzessionsgeber nicht, in der Bekanntmachung anzugeben, ob er innovative Varianten akzeptiert.

4.4.3.2

Der EWSA hält es für wünschenswert, in den Vergabeverfahren für derartige Verträge Vorschläge für Varianten jeder Art einzuholen, um die Innovation zu fördern.

4.4.3.3

Ein für eine Konzession vorgesehener Bewerber kann möglicherweise eine originelle Lösung vorschlagen, die in technischer, finanzieller und kommerzieller Sicht erhebliche und wesentliche Innovationen bringen und für eine soziale und wirtschaftliche Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der betroffenen Konsumenten und Arbeitnehmer genutzt werden kann.

4.4.3.4

Dieser Anreiz für die Bewerber, in ein Vergabeverfahren kostspielige intellektuelle Leistung zu investieren, die derartige Innovationen ermöglicht, steht im Einklang mit dem Geist der Lissabon-Strategie. Außerdem muss verhindert werden, dass die originellen Lösungen, die das geistige Eigentum dieser Bewerber sind, den Konkurrenten zur Verfügung gestellt werden können. Dies ist eine Frage der Ethik und zugleich ein Anreiz für Innovation, der entsprechend dem neuen Verfahren, dem sog. „wettbewerblichen Dialog“ für ÖPP, in nationales Recht der Mitgliedstaaten umgesetzt werden sollte.

4.4.4   Verhandlungsverfahren

4.4.4.1

Ein Angebot für einen Konzessionsvertrag muss zwar mit dem vom Konzessionsgeber festzulegenden Ziel für die Leistungserbringung übereinstimmen, aber hinsichtlich der Art und Weise, in der dieses Ziel verwirklicht wird — Planung des Bauprojekts, Unterteilung in Bauabschnitte, Eingehung technischer Risiken usw. — größtmögliche Freiheit genießen. Der EWSA schlägt vor, dass nach der Unterbreitung der Angebote eines oder mehrerer Bewerber der Konzessionsgeber in Dialog mit den potenziellen Konzessionsnehmern treten sollte, um auf der Grundlage der verschiedenen Optionen, die zur Erfüllung der Anforderungen der Behörde vorgeschlagen werden, die endgültige Fassung des Konzessions- oder ÖPP-Vertrags festzulegen. In der früheren Richtlinie 93/37 war das Verhandlungsverfahren Ausnahmefällen vorbehalten. Künftig gilt beim wettbewerblichen Dialog für so genannte komplexe Verträge der Verhandlungsgrundsatz.

4.4.4.2

Das festgelegte Verfahren des wettbewerblichen Dialogs sollte also:

deutlich machen, dass die Fälle, in denen dieses Verfahren eröffnet werden kann (Schwierigkeiten bei der Bewertung der Lösungsvorschläge aus der Privatwirtschaft oder des genauen Bedarfs oder der finanztechnischen Möglichkeiten) in einem sehr weitgefassten und liberalen Sinn zu verstehen sind;

bestätigen, dass jedes Unternehmen seinen eigenen Vorschlag unterbreiten kann und das geistige Eigentum jedes Bewerbers gewahrt wird.

4.4.4.3

Und schließlich muss darauf hingewiesen werden, dass zwischen der Behörde, die als Konzessionsgeber auftritt, und dem Konzessionsnehmer ein Vertrag geschlossen werden muss, in dem die Pflichten der Vertragsparteien nach dem Vorbild der im nationalen Recht der betreffenden Länder vorgesehenen Regelungen festgehalten sind.

4.4.5   Es müssen allgemeine Grundsätze festgelegt werden

4.4.5.1

Der Notwendigkeit eines geeigneten Rechtsrahmens für Konzessionen und ÖPP muss in der Praxis insbesondere durch die Festlegung von Grundsätzen für die Erfüllung von Konzessions- und ÖPP-Verträgen Rechnung getragen werden.

4.4.5.2

Die Möglichkeit, Partnerschaftsverträge abzuschließen, hängt entscheidend davon ab, ob ein Gleichgewicht zwischen den Vertragsparteien erzielt und über längere Zeit gewahrt werden kann.

4.4.5.3

Der EWSA schlägt vor, dass sich die Kommission in einer Mitteilung zu Auslegungsfragen für eine ausgewogene Aufteilung der Risiken zwischen Konzessionsgeber und Konzessionsnehmer ausspricht und es jedem einzelnen Mitgliedstaat überlässt, die geeigneten Mittel hierfür festzulegen und im Lauf der Zeit ggf. entsprechend anzupassen. Mit diesem Ziel vor Augen sollten in einer solchen Mitteilung folgende Grundsätze behandelt werden:

Die Risiken einer Infrastrukturkonzession oder einer ÖPP sollten festgehalten, quantifiziert und der Partei zugewiesen werden, die sie am besten tragen kann.

Im Falle eines besonderen Risikos z.B. Unwägbarkeiten, die zu einem Anstieg der Vertragskosten führen (unerwartete Änderung der öffentlichen Auflagen, unvorhersehbare technische Bedingungen bei der Bauausführung, kurzfristige Veränderungen im Verbraucherverhalten usw.) sind zwischen Konzessionsgeber und Konzessionsnehmer vorab entsprechende vertragliche Vereinbarungen zur Teilung des Risikos zu treffen.

Der Konzessionsnehmer hat eine entsprechende Entschädigung zu leisten, wenn er die Vertragsbestimmungen nicht einhält.

Der für die Finanzierung zuständige Konzessionsnehmer muss wie bei jedem privatrechtlichen Vertragsabschluss davon ausgehen können, dass trotz rechtlicher und steuerlicher Änderung auf der Ebene des Gesetzgebers nicht in geltende Verträge eingegriffen wird.

Eine unverzügliche Entschädigung des Auftragnehmers ist in den Fällen vorzusehen, in denen sich der Vertrag aufgrund einer neuen Forderung des Auftraggebers ändert, ohne dass die ursprünglichen Vertragsbedingungen geändert werden.

Der Konzessionsnehmer muss über eine ausreichende Flexibilität bei der Erfüllung der ihm vom Konzessionsgeber übertragenen Aufgabe verfügen, wobei sich der Konzessionsgeber die Zuständigkeit in sämtlichen Fragen des Hoheitsrechts und der öffentlichen Ordnung vorbehält.

4.4.5.4

Die Einführung des Konzessionssystems als Form der wirkungsvollen Verbindung von privatem Management und privater Finanzierung mit öffentlichen Investitionen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse erfordert, um erfolgreich zu sein, einen geeigneten, auf die besondere Struktur von Konzessionen abgestimmten Rechts- und Rechnungslegungsrahmen. Die hohen Investitionen und Ausgaben, die ein Privatunternehmen in den ersten Jahren zum Aufbau der Infrastruktur und zur Aufnahme des Dienstbetriebs zu tätigen hat, müssen über die gesamte Konzessionslaufzeit in Rechnungslegungsperioden eingeteilt werden können. In seiner jetzigen Form macht der Vorschlag zur Harmonisierung der Rechnungslegung auf europäischer Ebene ein Konzessionssystem unmöglich. Die Rechnungslegung in Spanien — gerade bei der Behandlung neuer Konzessionen — könnte ein Vorbild sein, dem bei der Entwicklung öffentlich-privater Partnerschaften im Rahmen von Bau- und/oder Dienstleistungsprojekten in der Europäischen Union Beachtung geschenkt werden sollte.

5.   Die Regeln für den Wettbewerb zwischen öffentlichen bzw. halböffentlichen Stellen und privatwirtschaftlichen Unternehmen müssen erheblich klarer gefasst werden

5.1

Gemischtwirtschaftliche Gesellschaften erhalten häufig unmittelbar Konzessionen oder Sonder- bzw. Exklusivrechte und können dadurch in bestimmten Fällen ihre Tätigkeit mit Hilfe einer einfachen Änderung ihres Statuts auf Bereiche ausweiten, die über den bei ihrer Gründung ursprünglich vorgesehenen Aufgabenbereich hinausgehen. Dies bedeutet, dass der Wettbewerb — sofern es welchen gibt — mitunter verfälscht ist. Sie müssen in diesem Fall zu einer getrennten Buchführung verpflichtet werden, damit nachgeprüft werden kann, dass sie keine Quersubventionierungen betreiben, die den Wettbewerb verfälschen würden.

5.2   Der EWSA schlägt vor, die Regeln folgendermaßen klarer zu fassen:

5.2.1

Vor der Gründung einer gemischtwirtschaftlichen Einrichtung muss die zuständige Behörde die Wettbewerbsmöglichkeiten des Marktes berücksichtigen und entscheiden, welches die sinnvollste Lösung ist.

5.2.2

Zur Gewährleistung von Transparenz und Effizienz müssen die Verfahren zur Gründung gemischtwirtschaftlicher Einrichtungen vor der Ausschreibung angekündigt und die privaten Konkurrenten klar auf die Möglichkeit einer Beteiligung an der Gründung halböffentlicher Gesellschaften aufmerksam gemacht werden. Bei der Vergabe einer neuen Leistung an eine örtliche gemischtwirtschaftliche Einrichtung muss außerdem Folgendes sichergestellt werden:

die gemischtwirtschaftliche Einrichtung muss — sobald sie über ihren ursprünglichen Zuständigkeitsbereich hinausgeht — zu einer getrennten Buchführung verpflichtet werden, damit nachgeprüft werden kann, dass sie keine Quersubventionierungen betreibt, die den Wettbewerb verfälschen würden;

die gemeinschaftlichen Verfahren, wie z.B. im Zusammenhang mit staatlichen Beihilfen, müssen eingehalten werden;

es muss auf die Einhaltung fairer Wettbewerbsbedingungen gegenüber dem Privatsektor geachtet werden (Besteuerung und Betriebskosten des gemischtwirtschaftlichen Unternehmens).

6.   Schlussfolgerungen

Der Ausschuss stellt fest, dass derzeit in zahlreichen Staaten spezifische Rechtsvorschriften für ÖPP entstehen, und hält es aufgrund der derzeitigen Erfahrungen für ratsamer:

sich die ÖPP einige Jahre lang in verschiedenen Formen entwickeln zu lassen,

von den Mitgliedstaaten die systematische Mitteilung der verschiedenen Formen von ÖPP und der entsprechenden Schwierigkeiten zu verlangen (Vor- und Nachteile gegenüber den herkömmlichen Formen),

die Einrichtung einer Beobachtungsstelle für die Entwicklung der ÖPP (zur Auswertung der Erfahrungen hinsichtlich verschiedener Kriterien insbesondere Kosten, Zugang zu den Leistungen, Auswirkung auf die Beschäftigungsverhältnisse, Wettbewerbsfähigkeit, Umwelt etc.) unter Beteiligung von Vertretern der Staaten, der Kommission und der Zivilgesellschaft, darunter des EWSA, vorzusehen,

zu unterstreichen, dass für ÖPP und Konzessionen die Schwellenwerte für die EU-weite Ausschreibung (Bau- und Dienstleistungsaufträge) gelten und dass unterhalb dieser europäischen Schwellenwerte jeder Staat seine eigenen Vorschriften anwendet, um unnötig komplizierte Verwaltungsabläufe zu vermeiden,

bis 2007 eine Mitteilung zu Auslegungsfragen zu veröffentlichen, die Folgendes klärt:

die Definition von Konzessionen und ÖPP,

die Wettbewerbsposition der gemischtwirtschaftlichen bzw. halböffentlichen Einrichtungen,

den wettbewerblichen Dialog und das Verfahren für die Bekanntmachung,

den Fall des innovationsfördernden „Bauträgers“;

die Möglichkeit der Gewährung staatlicher Beihilfen für gemischtwirtschaftliche bzw. halböffentliche Einrichtungen.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  ABl. C 14 vom 16.1.2001.

(2)  ABl. L 134 vom 30.4.2004.

(3)  Rahmengesetz L 109/94 (G.U. no 41 vom 19.2.1994) geändert durch das Gesetz Nr. 216 vom 2. Juni 1995 (G.U. no 127 vom 2.6.1995).

(4)  Der Bau des Finanzministeriums in Bercy (Paris) wurde teilweise mit Hilfe dieses Finanzierungsinstruments realisiert.

(5)  Verordnung über Partnerschaftsverträge Nr. 2004-559, veröffentlicht im Amtsblatt vom 19. Juni 2004.

(6)  Gesetz vom 24.12.93 - öffentliche Aufträge - Belgisches Staatsblatt vom 22. Januar 1994. Königliche Erlasse vom 8.1.96 und 10.1.96 - Belgisches Staatsblatt vom 26. Januar 1996. Königlicher Erlass über öffentliche Liefer- und Dienstleistungsaufträge sowie Konzessionen für öffentliche Bauarbeiten.

(7)  Idem.

(8)  Gesetz vom 24. Dezember 1993 (Artikel 9) - Königlicher Erlass vom 8. Januar 1996 (Artikel 21) - Königlicher Erlass vom 26. September 199? - Maurice-André Flamme „La loi du 24 décembre 1993“, Journal des Tribunaux 1994. Baurecht.

(9)  ABl. L 199 vom 9.8.1993.

(10)  Als „öffentliche Baukonzessionen“ gelten Verträge, die von den unter Buchstabe a) genannten Verträgen nur insoweit abweichen, als die Gegenleistung für die Arbeiten ausschließlich in dem Recht zur Nutzung des Bauwerks oder in diesem Recht zuzüglich der Zahlung eines Preises besteht.

(11)  ABl. L 209 vom 24.7.1992.

(12)  ABl. L 199 vom 9.8.1993.

(13)  ABl. L 134 vom 30.4.2004.

(14)  ABl. C 121 vom 29.4.2000.

(15)  KOM(96) 583 endg.

(16)  ABl. C 287 vom 22.9.1997.

(17)  Aus dieser Stellungnahme sind außerdem folgende Bemerkungen anzuführen:

 

„In mehreren Ländern werden Methoden zur Finanzierung öffentlicher Bauten durch private Investoren entwickelt. Es handelt sich dabei um langfristige Verträge, die privatwirtschaftliche Finanzierungsbeiträge vorsehen und sich infolgedessen deutlich von öffentlichen Aufträgen unterscheiden.“

 

„Er [d.h. der EWSA] hält es für wünschenswert, die Erteilung von Konzessionen vor allem im Rahmen der transeuropäischen Netze zum Gegenstand einer besonderen Regelung zu machen.“

 

„Er schlägt der Europäischen Kommission vor, neue Vertragsmodelle zu fördern, bei denen öffentliche Infrastrukturen durch privatwirtschaftliche Akteure finanziert werden.“


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/111


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 92/12/EWG über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren“

(KOM(2004) 227 endg.)

(2005/C 120/19)

Der Rat beschloss am 24. Mai 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 7. Oktober 2004 an. Berichterstatter war Herr Wilkinson.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 84 gegen 11 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Vor der Einführung des Binnenmarktes gab es aufgrund historischer und kultureller Verschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten große Unterschiede hinsichtlich der Steuersysteme und der Steuersätze für verbrauchsteuerpflichtige Waren (1). Die Richtlinie 92/12/EWG harmonisierte das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren (2).

1.2

Artikel 27 dieser Richtlinie sieht vor, dass der Rat vor dem 1. Januar 1997 die Bestimmungen der Artikel 7, 8, 9 und 10 überarbeiten und alle notwendigen Änderungen einfügen muss (3). Der Termin 1. Januar 1997 erwies sich als zu früh für ein stichhaltiges Urteil über die Schwierigkeiten, die bei der Umsetzung dieser Artikel auftraten und auftreten.

1.3

Seit Inkrafttreten der Richtlinie werden immer mehr verbrauchsteuerpflichtige Waren, für die bereits Steuern abgeführt wurden und die unter Artikel 7-10 der Richtlinie fallen, befördert. Auf Ersuchen der Wirtschaft wurden deshalb in einigen Mitgliedstaaten vereinfachte Verfahren eingeführt. Auch in der Öffentlichkeit gab es viele Beschwerden über die Art und Weise, wie die Artikel angewandt wurden.

1.4

Die Kommission ist der Auffassung, dass jetzt genügend Erkenntnisse über die in den jeweiligen Beförderungskategorien (4) auftretenden Probleme vorliegen, um die notwendigen Änderungen vorzunehmen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Das Funktionieren des Binnenmarktes brachte für verbrauchsteuerpflichtige Waren komplizierte Detailregelungen mit sich, was in einigen Fällen zu Unsicherheiten bei der Anwendung der Bestimmungen führte und den betroffenen Unternehmen einen erheblichen bürokratischen Aufwand verursachte. Die Vorschläge der Kommission beziehen sich auf gewerbliche Geschäftsvorgänge, Verkäufe an Privatpersonen und Fernverkauf. Sie sollen die bestehende Gesetzgebung für innergemeinschaftlich bewegte Waren, auf die bereits in einem Mitgliedstaat Verbrauchsteuer abgeführt wurde, vereinfachen und harmonisieren. Darüber hinaus sollen sie diese Warenbewegungen liberalisieren, damit die Verbraucher in der EU stärker von den Vorzügen des Binnenmarktes profitieren können. Der Ausschuss begrüßt diese beiden Ziele.

2.2

Wegen der Bedeutung der Einnahmen aus der Verbrauchsteuer für die Mitgliedstaaten (5) und der unterschiedlichen Art der Umsetzung der Bestimmungen in den einzelnen Mitgliedstaaten war es für die Kommission schwierig, sich mit den Mitgliedstaaten auf Änderungen zu verständigen. Es gilt anzumerken, dass die zehn „neuen“ Mitgliedstaaten nicht an den Beratungen mit der Kommission, die zu den Vorschlägen geführt haben, beteiligt waren. Der Ausschuss erkennt an, dass die Mitgliedstaaten die Verbrauchsteuer als Teil ihrer Einnahmen benötigen, bezweifelt allerdings, dass das Konsumentenverhalten durch die vorliegenden Vorschläge so stark beeinflusst werden wird, dass dadurch die Gesamteinnahmen merklich beeinträchtigt werden.

2.3

Bei verbrauchsteuerpflichtigen Waren hat der angewandte Steuersatz oft einen hohen Einfluss auf den Verbraucherpreis. Dies trifft insbesondere auf Tabakwaren und alkoholische Getränke zu (6). Die Unterschiede zwischen den von den Mitgliedstaaten erhobenen Verbrauchsteuersätzen wurden zwar seit der Einführung des Binnenmarktes etwas reduziert, bis aber die Steuersätze in einem zumindest merklichen Umfang angeglichen sind, bleibt die Motivation, nach Wegen zu suchen, die ein besseres Geschäft versprechen, ebenso bestehen wie die organisierte Kriminalität in diesem Bereich.

2.4

Die EU-Bürger erwarten in verschiedenster Hinsicht Vorteile aus dem Binnenmarkt; einen wichtigen Platz nimmt dabei ihr Recht ein, jede Ware an beliebiger Stelle in der EU zu örtlichen Preisen erstehen zu können. Ihnen dieses Recht vorzuenthalten, wird nicht dazu führen, dass sie die EU in einem positiven Licht sehen.

2.5

Wie die Kommission betont, betrifft die Steuerpflicht aufgrund der besagten Artikel im Wesentlichen Privatpersonen und kleine Wirtschaftsbeteiligte, die nicht über eine Handelsinfrastruktur oder große finanzielle Mittel verfügen. Es ist wichtig, dass alle beschlossenen Maßnahmen klar, einfach zu verstehen und — soweit möglich — einfach anzuwenden sind. Außerdem müssen sie realistisch und durchsetzbar sein.

2.6

In einem echten Binnenmarkt müssten auch die Rechtsvorschriften für Tabakwaren liberalisiert werden. Der Ausschuss erkennt jedoch an, dass einige Mitgliedstaaten bei der Entscheidung, welche Waren unter die Änderung der Richtlinie fallen sollten, die Folgen umfassend abwägen müssen und dass sie deshalb den Ausschluss einiger Waren beschließen könnten.

2.7

Außerdem ist festzuhalten, dass Mineralöle selten nichtgewerblich befördert werden. Daraus folgt, dass die Vorschläge im bisherigen Wortlaut vor allem die Beförderung von alkoholischen Getränken betreffen.

2.8

Der Ausschuss begrüßt es sehr, dass viele Vorschläge auf Ratschlägen und Forderungen der betroffenen Wirtschaftsverbände beruhen und dass sie die Auswirkungen auf kleinere Unternehmen beachten.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1

Artikel 7. In diesem Artikel werden vor allem folgende Punkte festgelegt: wer unter welchen Umständen Verbrauchsteuer zu zahlen hat, verwaltungstechnische Formalitäten, Verkäufe an Schiffs- oder Flugreisende innerhalb der EU und die Art, wie der Verlust versteuerter Waren bei einer innergemeinschaftlichen Beförderung zu behandeln ist.

3.1.1

Der Ausschuss begrüßt die Klarstellungen und die Harmonisierung, die die Kommissionsvorschläge bringen werden. Er begrüßt außerdem außerordentlich die Einsicht, dass das hohe Maß an Verwaltungsarbeit, die bei der jetzigen Gesetzeslage zu bewältigen ist, reduziert werden muss. Der Ausschuss unterstützt die Forderung der Kommission an die Mitgliedstaaten, im Wege einfacher, untereinander getroffener bilateraler Verwaltungsvereinbarungen vereinfachte Verfahren zuzulassen.

3.2

Artikel 8. Dieser Artikel betrifft Waren, die von Privatpersonen für ihren Eigengebrauch erworben wurden. Der wichtigste Diskussionsgegenstand hierbei ist das Erfordernis, dass die betroffenen Waren von der jeweiligen Person selbst befördert werden müssen.

3.2.1

Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag der Kommission, das gegenwärtig angewandte System für Fernkäufe von Privatpersonen zu liberalisieren, damit die gekauften Güter nicht mehr persönlich befördert werden müssen.

3.2.2

Nach dem Verständnis des Ausschusses soll der neue Vorschlag, dem zufolge eine Privatperson selbst für die Lieferung der Waren in einen anderen Mitgliedstaat sorgen muss (und dass dafür nicht der Verkäufer Sorge tragen darf), der geltenden allgemeinen Gesetzeslage betreffend die Mehrwertsteuer auf Fernkäufe entsprechen. Es ist jedoch schwer zu erkennen, wie dies umgesetzt werden soll. Zum Beispiel könnten die Verkäufer durchaus eine örtliche Firma empfehlen, die die Beförderung übernimmt, und kämen so der gesetzlichen Verpflichtung nach, die Beförderung nicht selbst durchzuführen. Das Ergebnis wäre aber dasselbe. Es muss klargestellt werden, dass solche Ratschläge bei Anwendung der geänderten Richtlinie nicht als Verstoß gegen die Vorschriften anzusehen wären.

3.3

Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag, die „Richtmengen“ (7) aufzugeben, anhand derer beurteilt werden soll, ob Waren für den gewerblichen Gebrauch oder den Eigenbedarf bestimmt sind. Die Öffentlichkeit sieht diese Richtwerte in der Regel als eine Mengenbegrenzung an, die in einigen Mitgliedstaaten allzu oft viel zu eng ausgelegt wurde. Der Ausschuss ist sich bewusst, dass der Kampf gegen den Schmuggel durch das Aufheben dieser Richtwerte erschwert würde; andererseits sollten die Richtmengen nie mehr sein als ein Indikator dafür, ob eine Beförderung gewerblichen Zwecken oder dem Eigenbedarf dient, und vor Gericht sind sie allein nicht ausreichend.

3.3.1

Der Ausschuss hält es jedoch durchaus für angebracht, Fernkäufe (d.h. wenn Waren nicht von den betroffenen Personen selbst befördert werden) in irgendeiner Form quantitativ zu beschränken.

3.4

Artikel 9. Die Vorschläge bezüglich des Transports von Mineralöl für den persönlichen Gebrauch dürften kaum zu größeren Problemen führen.

3.5

Artikel 10. Der Ausschuss begrüßt die vorgeschlagene Klarstellung der Frage, wo die Verbrauchsteuer geschuldet wird.

4.   Zusammenfassung

4.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Vorschläge der Kommission in diesem komplexen, sensiblen Bereich.

4.2

Die Vorschläge sind realistisch; die Klarstellungen und Vereinfachungen sind sehr erfreulich. Die Harmonisierung ist notwendig, und die Liberalisierung wird von den EU-Bürgern wärmstens begrüßt werden, da sie dadurch besser die Vorteile des Binnenmarktes nutzen können werden.

Brüssel, den 27. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Dies sind Tabakwaren, Mineralöle und alkoholische Getränke.

(2)  Im Allgemeinen werden verbrauchsteuerpflichtige Waren innerhalb der EU unter „Aussetzung der Verbrauchsteuer“ zwischen „Steuerlagern“ in den Mitgliedstaaten im Rahmen einer abgestimmten Dokumentation gehandelt. Die Verbrauchsteuer fällt in dem Land an, in dem die Ware an den Endverbraucher verkauft wird.

(3)  Verbrauchsteuerpflichtige Waren, die bereits in einem Mitgliedstaat zum Verbrauch auf den Markt gebracht wurden und für die deshalb bereits Verbrauchsteuer abgeführt wurde, können dennoch innerhalb der EU weiterbefördert werden. Die Bestimmungen in den Artikeln 7 bis 10 regeln solche Beförderungen.

(4)  Diese Kategorien sind Waren, die zwischen den Mitgliedstaaten zu gewerblichen Zwecken (außer bei „Fernverkäufen“) bewegt werden, wobei als „gewerbliche Zwecke“ alle Zwecke anzusehen sind, die nicht dem Eigenbedarf von Privatpersonen dienen, sowie Waren, die direkt von Privatpersonen für ihren Eigenbedarf erworben werden, und Fernverkäufe.

(5)  Der Gesamtanteil am BIP der Mitgliedstaaten (EU-15) lag 2001 bei mehr als 8,8 Mrd. Euro, und die Einnahmen aus der Verbrauchsteuer machten im EU-Durchschnitt 2,72 % des BIP aus.

(6)  Bei Tabakwaren sind die Ladenpreise in dem Mitgliedstaat mit dem höchsten Steuersatz etwa 3,7 mal höher als im Mitgliedstaat mit dem niedrigsten Steuersatz. Die Verbrauchsteuersätze auf alkoholische Getränke unterscheiden sich zwischen dem am höchsten und dem am niedrigsten besteuernden Mitgliedstaat um den Faktor 15,9 bei Bier und Zwischenprodukten sowie 9,2 bei Spirituosen. Für Wein kann ein solcher Vergleich nicht gezogen werden, da Wein in 12 von 25 Mitgliedstaaten überhaupt nicht und in zwei weiteren Mitgliedstaaten nur geringfügig mit 2 Cent pro Flasche besteuert wird.

(7)  Die Richtmengen betragen derzeit 800 Zigaretten, 10 Liter Spirituosen, 90 Liter Wein und 110 Liter Bier.


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/114


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Anpassung der Richtlinie 77/388/EWG aufgrund des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union“

(KOM(2004) 295 endg.)

(2005/C 120/20)

Der Rat beschloss am 30. Juni 2004 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Aufgrund der Dringlichkeit der Arbeiten beschloss der Ausschuss auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004, Herrn PEZZINI zum Hauptberichterstatter zu bestellen, und verabschiedete mit 121 Ja-Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung am 11./12. Dezember 1998 in Wien im Rahmen der „Wiener Strategie für Europa“ den Grundsatz zum Ausdruck gebracht, dass den Mitgliedstaaten, die dies wünschten, gestattet werden soll, die MwSt auf arbeitsintensive Dienstleistungen zu senken, um die Wirkungen dieser Maßnahme auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Bekämpfung der Schattenwirtschaft zu erproben (1).

1.2

Der Rat verabschiedete im Anschluss an die Empfehlung am 22. Oktober 1999 eine Ad-hoc-Richtlinie (1999/85/EG) für den Vierjahreszeitraum 2000–2003. Neun Mitgliedstaaten machten von dieser Möglichkeit Gebrauch: Belgien, Griechenland, Spanien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal und das Vereinigte Königreich.

1.3

Am 23. Juli 2003 legte die Kommission im Anschluss an die Folgenabschätzungsberichte zu diesen Maßnahmen einen Richtlinienvorschlag vor, in dem eine Vereinfachung und Rationalisierung der reduzierten MwSt-Sätze vorgenommen wurde (2). Aufgrund zahlreicher Divergenzen konnte der Rat diesen Richtlinienvorschlag noch nicht verabschieden. In diesem Bereich ist zur Verabschiedung bedauerlicherweise noch immer Einstimmigkeit erforderlich.

1.4

Daher schlug die Kommission nach Absprache mit dem Rat vor, die Gültigkeit der Richtlinie 1999/85/EG bis zum 31.12.2005 zu verlängern, um die Gefahr der Rechtsunsicherheit für Mitgliedstaaten, welche die reduzierten MwSt-Sätze anwendeten, zu vermeiden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Der EWSA hat sich schon mehrmals dafür ausgesprochen, reduzierte MwSt-Sätze auf arbeitsintensive Dienstleistungen anwenden zu können (3).

2.2

Der EWSA hat in seinen Stellungnahmen die Wirkung der fraglichen Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Bekämpfung der Schattenwirtschaft positiv beurteilt und eingeschätzt.

2.3

Der EWSA hat des Weiteren zahlreiche Anregungen zur Erweiterung der Senkung der MwSt-Sätze auf neue Bereiche unterbreitet: das Gaststättengewerbe sowie die Restaurierung von Gebäuden mit historischer oder religiöser Bedeutung und Privatgebäuden, die zum kulturellen und architektonischen Erbe zählen.

2.4

Der EWSA befürwortet daher den Grundsatz, den neuen Mitgliedstaaten auf ihren Antrag aufgrund der Richtlinie 1999/85/EG zu gestatten, einen reduzierten MwSt-Satz für arbeitsintensive Dienstleistungen anzuwenden.

2.5

Der EWSA bedauert jedoch, dass der Rat keine Einigung über den Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission finden konnte, durch welchen das gesamte MwSt-System vereinfacht und rationalisiert werden soll.

2.6

Der EWSA hat mehrfach seine Überzeugung ausgedrückt, dass das Einstimmigkeitsprinzip in vielen steuerlichen Bereichen ein effektives Hindernis für Fortschritte der EU darstellt.

Brüssel, den 28. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Damals lag die Arbeitslosenquote in der EU bei etwa 10 %. Die außerordentliche Tagung des Europäischen Rates 1997 in Luxemburg hatte ihre Arbeiten auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit konzentriert. Die Untersuchungen der Europäischen Akademie von Avignon zur Schattenwirtschaft hatten Höchstwerte von 28 % in der EU aufgezeigt. Vgl. auch die Stellungnahme des EWSA zur nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit (ABl. C 101 vom 12.4.1999, S. 30).

(2)  KOM(2003) 397 endg. vom 23.7.2003.

(3)  ABl. C 209 vom 22.7.1999.

ABl. C 32 vom 5.2.2004.


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/115


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Endenergieeffizienz und zu Energiedienstleistungen“

(KOM(2003) 739 endg. — 2003/0300 (COD))

(2005/C 120/21)

Der Rat beschloss am 23. Januar 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 175 Absatz 1 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 5. Oktober 2004 an. Berichterstatterin war Frau Sirkeinen.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 28. Oktober) mit 117 gegen 10 Stimmen bei 14 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Hintergrund

1.1

Die Energiepolitik der EU verfolgte in den letzten Jahren im Wesentlichen drei übergeordnete Zielsetzungen:

die Verwirklichung einer wirksamen Marktöffnung für Strom und Erdgas,

die Sicherstellung der Energieversorgungssicherheit und

die Verwirklichung bindender Umweltziele und insbesondere die Bekämpfung des Klimawandels.

Eine Schlüsselfunktion haben in diesem Zusammenhang u.a. die überarbeiteten Strom- und Gasrichtlinien, die vorsehen, dass die Märkte für gewerbliche Verbraucher ab Juli 2004 und für alle Verbraucher ab 2007 geöffnet werden. In dem 2001 veröffentlichten Grünbuch zur Energieversorgungssicherheit wurde das Nachfragemanagement als eine wesentliche Aktionslinie im Hinblick auf die Versorgungssicherheit und die Bekämpfung des Klimawandels herausgestellt.

1.2

Eine zuverlässige Energieversorgung zu vertretbaren Kosten ist eine wesentliche Voraussetzung für Wirtschaftswachstum und Wohlstand der Bürger Europas. Der EWSA hat in seinen Stellungnahmen folglich die Ziele und Ansätze der Kommission unterstützt.

1.3

Der Vorschlag für eine Richtlinie zur Endenergieeffizienz und zu Energiedienstleistungen wurde von der Kommission im Rahmen eines ganzen Bündels von Vorschlägen zu Energieinfrastruktur und Energieversorgungssicherheit unterbreitet. Die Kommission weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang der Aspekt des Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage nicht vernachlässigt werden darf. Die Überlastung der Übertragungsnetze ist auf das Wachstum der Nachfrage zurückzuführen, dem zum Teil durch Nachfragesteuerung entgegengewirkt werden kann.

1.4

Ein effizienter Energieendverbrauch bzw. eine schonende Nutzung der Energieträger gelten schon lange als wichtiger Aspekt des Energiemarktes. Ein geringerer Energieverbrauch spart Kosten und trägt durch den geringeren Bedarf an Energieerzeugung und an Investitionen in neue Erzeugungs-, Übertragungs- und Verteilungskapazitäten unmittelbar zur Versorgungssicherheit und häufig zur Verringerung der Treibhausgasemissionen bei.

1.5

Es gibt ein großes Potenzial für die Verbesserung der Energieeffizienz. In der Mitteilung werden Fallstudien genannt, denen zufolge der Energieendverbrauch in der EU im Allgemeinen ohne Abstriche beim Komfort und ohne zusätzliche Kosten um mindestens 20 % gesenkt werden könnte. Das Effizienzpotenzial liegt beim Stromverbrauch im Allgemeinen niedriger, bei anderen Energieträgern jedoch höher.

1.6

In einer das Energiepaket begleitenden Mitteilung trifft die Kommission die Feststellung, dass der gesamte Anstieg der Stromnachfrage durch Nachfragemanagement aufgefangen werden soll. Neuer Investitionen bedürfe es lediglich hinsichtlich der Ersetzung von Anlagen, die am Ende ihres Lebenszyklus angekommen seien. Die Kommission geht davon aus, dass dies überwiegend durch erneuerbare Energieträger und kleine KWK(=Kraft-Wärme-Kopplung)-Anlagen geschehen wird.

1.6.1

Der Ausschuss kann dieser Beschreibung der künftigen Entwicklungen und Erfordernisse im Stromsektor nicht zustimmen. Von einer Mitteilung über Versorgungssicherheit wären wesentlich klarere und praxisbezogenere Informationen über künftige Entwicklungen und Potenziale zu erwarten, zumal es ausführliche Informationen und Szenarien gibt und die Kommission auch über eigenes Hintergrundmaterial verfügt. Es dient niemandem, wenn klaren und realistischen, möglicherweise für viele auch unliebsamen grundlegenden Informationen aus dem Weg gegangen wird.

1.6.2

Anhand einer groben Überschlagsrechnung kann die Größenordnung des Problems und der erforderlichen Lösungen veranschaulicht werden. Die Elektrizitätsnachfrage in der EU weist derzeit eine jährliche Steigerungsrate von 1-2 % auf. Das EU-Ziel für eine verstärkte Elektrizitätserzeugung aus erneuerbaren Energieträgern beinhaltet eine Steigerungsrate von weniger als 1 % jährlich. Das vorgeschlagene Energieeffizienzziel würde das jährliche Wachstum um 1 % zurückschrauben. Durch den Einsatz erneuerbarer Energieträger und Effizienzmaßnahmen könnte somit die Nachfragesteigerung aufgefangen werden und darüber hinaus müsste möglicherweise weit weniger als 1 % jährlich der bestehenden Kapazitäten ersetzt werden. Die Lebensdauer von Kraftwerken wird mit 30 bis 50 Jahren veranschlagt, was theoretisch darauf hinausläuft, dass ihre Ersetzung mit einer durchschnittlichen jährlichen Rate von 3 % erfolgen muss. Der Internationalen Energieagentur (IEA) zufolge werden im Lauf der kommenden 20 Jahre in der EU neue Kraftwerke mit einer Leistung von 200 000 MW benötigt.

2.   Der Kommissionsvorschlag

2.1

Ziel des Kommissionsvorschlags ist es, zu gewährleisten, dass in jedem Mitgliedstaat durch eine verbesserte Energieeffizienz eine kumulative Energieeinsparung von 1 % jährlich erreicht wird. Im Jahr 2012 könnten dadurch Energieeinsparungen in Höhe von 6 % verbucht werden. Gemäß den Bestimmungen der vorgeschlagenen Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten überprüfen, dass diese Energieeinsparung in jedem Jahr bis 2012 erreicht worden ist, und darüber Bericht erstatten. Ein Anstieg des Energieverbrauchs in den Mitgliedstaaten ist zwar nicht ausgeschlossen, wird jedoch geringer ausfallen als ohne diese Maßnahmen.

2.2

In dem Richtlinienentwurf geht es vor allem um Energieeffizienzmaßnahmen und die Förderung des Markts für Energiedienstleistungen wie Beleuchtung, Heizung, Heißwasser, Lüftung usw. Die Mitgliedstaaten sollen darauf verpflichtet werden, zwei Energiesparziele einzuhalten und sicherzustellen, dass die Energieversorger für den Zeitraum 2006 bis 2012 Energiedienstleistungen anbieten.

2.3

Das allgemeine Energieendverbrauchs-Einsparziel von 1 % jährlich ist gleichbedeutend mit 1 % der durchschnittlichen Energiemenge, die in den vorausgegangenen fünf Jahren verteilt bzw. an Endverbraucher verkauft worden ist. Diese Einsparungen müssen in folgenden Sektoren erzielt werden: Privathaushalte, Landwirtschaft, gewerbliche und öffentliche Sektoren, Verkehrswesen und Industrie. Der Luft- und Seeverkehr wird aus messtechnischen Gründen ausgenommen, ebenso energieintensive Industriezweige, die bereits unter die Emissionshandels- und die IVU-Richtlinie fallen. Alle Energiearten werden erfasst: Elektrizität und Erdgas, Fernwärme und -kühlung, Heizöl, Stein- und Braunkohle, forstwirtschaftliche und landwirtschaftliche Energieerzeugnisse und Kraftstoffe.

2.4

Für den öffentlichen Sektor der Mitgliedstaaten wird ein eigenes Teilziel von mindestens 1,5 % Energieeinsparungen jährlich festgelegt, das vor allem über energieeffiziente öffentliche Beschaffung erreicht werden soll. Diese Einsparungen würden zu dem allgemeinen Einsparziel von 1 % jährlich beitragen.

2.5

Die Energieversorger werden dazu verpflichtet, Energiedienstleistungen anzubieten. Die Energieversorger und/oder Energieeinzelhandelsunternehmen müssen als integralen Bestandteil der Energieverteilung bzw. des Energieverkaufs Energiedienstleistungen anbieten und diese mindestens für 5 % ihrer Kunden erbringen. Alternativ sind Energieaudits anzubieten.

2.6

Die Berechnungsmethodik ermöglicht die Einbeziehung von bereits früher eingeleiteten Maßnahmen. Die Mitgliedstaaten können die anhaltenden mess- und überprüfbaren Auswirkungen von bestehenden Energiedienstleistungen und nicht vor 1991 eingeleiteten Energieeffizienzmaßnahmen einberechnen. Auch Energiesteuern und Energiespar-Informationskampagnen können berücksichtigt werden, sofern sie zu mess- und überprüfbaren Energieeinsparungen geführt haben.

2.7

Den Mitgliedstaaten bleibt die Entscheidung überlassen, welche Sektoren in welchem Umfang zu dem allgemeinen nationalen Einsparziel beitragen sollten, wobei die Durchführung von Energiedienstleistungen und Energieeffizienzmaßnahmen und -programmen für alle in Frage kommenden Kunden sicherzustellen ist.

2.8

Die Energieeinsparungen errechnen sich aus der Summe der gemessenen oder geschätzten Verringerung des Endenergieverbrauchs auf Grund der Durchführung von Energiedienstleistungen, Energieeffizienzprogrammen und anderen in Frage kommenden Maßnahmen. Die Mitgliedstaaten berichten regelmäßig über die erzielten Fortschritte. Der Vorschlag enthält Beispiele für in Frage kommende Energiedienstleistungen und einen Leitfaden für die Messung und die Überprüfung von Energieeinsparungen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der EWSA hat schon mehrfach die Bedeutung von Energieeinsparungen und einer verbesserten Endenergieeffizienz im Hinblick auf die Verwirklichung einer nachhaltigen Entwicklung und insbesondere die Bekämpfung des Klimawandels unterstrichen. Es ist zu begrüßen, dass die Kommission ihr Augenmerk nun gezielt auf diese Aspekte richtet. Der EWSA unterstützt nachdrücklich das Energieeffizienzziel und zum Teil auch die vorgeschlagenen Maßnahmen, möchte jedoch seinerseits einige Änderungen vorschlagen.

3.2

Viele Mitgliedstaaten sind entsprechend aktiv geworden, und inzwischen gibt es eine breite Palette an energiepolitischen Maßnahmen, praktischen Erfahrungen und Ergebnissen. Den größten Anklang scheinen in diesem Zusammenhang freiwillige informelle Aktionen oder Vereinbarungen gefunden zu haben, wofür es auch einige EU-weite sektorale Beispiele gibt.

3.3

Auf EU-Ebene gibt es Vorschriften für die Etikettierung von Haushalts- und anderen Geräten und eine Richtlinie über die Energieeffizienz von Gebäuden. Weitere Maßnahmen wie die Öko-Design-Richtlinie sind anhängig. In vielen anderen Bereichen der EU-Politik wird die Endenergieeffizienz ebenfalls unterstützt, beispielsweise in den Richtlinien über IVU (1) und Energiesteuern. Allerdings beinhalten die meisten dieser Vorschriften Maßnahmen, die einen erheblichen Anstieg der Energiekosten verursachen. Dadurch werden zwar Energieeinsparungen begünstigt, doch können diese positiven Auswirkungen durch die Nachteile, die den Privathaushalten und den gewerblichen Verbrauchern bezüglich ihrer Wettbewerbsfähigkeit durch die höheren Kosten entstehen, überlagert werden.

3.4

Auf Grund der unterschiedlichen lokalen Voraussetzungen und bisherigen Tätigkeiten gibt es eine große Vielfalt an Maßnahmen zur Förderung der Energieeffizienz. Diese scheinen nur eine begrenzte Auswirkung auf den Binnenmarkt zu haben. Deshalb ist es im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip wichtig, dass zusätzliche Maßnahmen auf EU-Ebene mehrwertfähig sind.

3.5

Die Kommission scheint in ihrem Vorschlag zu versuchen, den Unterschieden und der Vielfalt Rechnung zu tragen. Angesichts der geltenden nationalen und EU-Vorschriften und insbesondere der freiwilligen Vereinbarungen sollte jedoch dafür gesorgt werden, dass die bereits bestehenden Maßnahmen so ergänzt werden, dass ein optimaler Mehrwert erzielt wird. Auch wäre für Kohärenz mit anderen relevanten Anforderungen, beispielsweise im Rahmen der Gebäuderichtlinie, zu sorgen.

3.6

Das Potenzial für Energieeffizienzverbesserungen war schon Gegenstand zahlreicher Studien. Der EWSA stimmt den von der Kommission vorgelegten Zahlen weitgehend zu. Das Potenzial ist groß, muss jedoch über eine bessere Berücksichtigung der wirtschaftlichen Realitäten auch kritisch beurteilt werden. Die Rentabilität von Energieeffizienzinvestitionen wird nach dem Lebenszyklusansatz berechnet, der in der Praxis häufig nicht wirtschaftlich genug ist. Wenn sich beispielsweise die zusätzlichen Ausgaben für eine effizientere Heizungsanlage in einem Privathaus erst am Ende des Lebenszyklus des Geräts amortisiert haben werden, also nach mehreren Dekaden, würde der Hauseigentümer dies dann kaum als eine rentable Investition betrachten. Ebenso wenig würde der Leiter eines kleinen Unternehmens mit begrenzten Investitionsmöglichkeiten der Ersetzung einer noch funktionierenden Maschine durch eine energieeffizientere Maschine mehr Priorität einräumen als einem Vorhaben zur Erhöhung der Gesamtproduktion und des Umsatzes.

3.7

Vor diesem Hintergrund ist das in der Richtlinie vorgegebene Energiesparziel von 1 % jährlich zwar ehrgeizig, aber durchaus machbar. Das 1,5 %-Einsparziel für den öffentlichen Sektor, bei dem es im Wesentlichen um die Energieeffizienz von Gebäuden geht, kann in einigen Mitgliedstaaten möglicherweise nur unter Schwierigkeiten und hohem Kostenaufwand fristgerecht erreicht werden.

3.8

Für eine verbindliche Zielvorgabe spricht vor allem ihre Motivationsfunktion. Es gibt jedoch auch viele Einwände dagegen.

3.8.1

Auf Grund der Unterschiede bei den bisherigen und laufenden Maßnahmen würde eine einheitliche Zielvorgabe dazu führen, dass den Energienutzern in den verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedliche Kosten entstehen würden. Gegen Einzelziele für die Mitgliedstaaten spricht der Mangel an vergleichbaren Informationen als Berechnungsgrundlage.

3.8.2

Außerdem würde ein einheitliches Ziel als „Peitsche“ anstatt als „Zuckerbrot“ und damit falsch aufgefasst. Die mit der Förderung der Energieeffizienz verbundenen Potenziale und Vorteile sollten auf positive und motivierende Weise vermittelt werden.

3.8.3

In vielen Mitgliedstaaten gibt es kaum Datenmaterial über den aktuellen Energieverbrauch, die Energieeffizienzsituation und die Auswirkungen laufender Maßnahmen. Die in dem Richtlinienvorschlag genannten Berechnungsverfahren sind zu ungenau. Eine flexible Verfahrensweise hat zwar Vorteile, doch sind die Ergebnisse nur dann vergleichbar bzw. mit Blick auf das Ziel zuverlässig, wenn sowohl die Informationsgrundlagen als auch die Berechnungsverfahren zuverlässig bzw. vergleichbar sind.

3.8.4

Der EWSA befürchtet auch, dass eine Suboptimierung, in diesem Fall der Energieeffizienz durch die Vorgabe verbindlicher Ziele, der Optimierung übergeordneter Zielsetzungen, beispielsweise der gesamtwirtschaftlichen Effizienz oder der kostenwirksamen Verringerung der Treibhausgasemissionen, abträglich ist.

3.9

Aus diesen Gründen lehnt der EWSA die Festsetzung eines verbindlichen Ziels für die Mitgliedstaaten ab, denn dazu bedarf es zumindest nachvollziehbarer und praxistauglicher Berechnungsverfahren.

3.9.1

Der EWSA schlägt vor, die Mitgliedstaaten nicht auf optimale verbindliche einzelstaatliche Ziele zu verpflichten, sondern darauf, Energieeffizienzprogramme einzuführen bzw. zu aktualisieren und Überwachungsmechanismen vorzusehen. Die Zielvorgaben von 1 % und 1,5 % für den öffentlichen Sektor sollten als Durchschnittswert aller Mitgliedstaaten angestrebt werden.

3.10

Den Mitgliedstaaten müssen die Entscheidungen über die Ziele und Maßnahmen betreffend die verschiedenen Sektoren und Energieformen überlassen bleiben. Jedoch muss sichergestellt werden, dass alle Sektoren und Energieformen entsprechend ihrem Potenzial miteinbezogen werden.

3.11

Die in dem Richtlinienentwurf vorgesehenen Bestimmungen über Kontrolle, Beaufsichtigung und Mitteilung (Artikel 4 Absatz 5) können zu einem unverhältnismäßigen Arbeitsaufwand gemessen an den zu erwartenden Ergebnissen führen. Die Zuverlässigkeit der Überprüfung von Einsparungen ist fraglich, da es schwierig ist, eine bestimmte Menge an eingesparter Energie auf eine spezifische Maßnahme zurückzuführen. Es ist notwendig, eine einfachere, übersichtliche und zuverlässige Verfahrensweise zu entwickeln.

3.12

Die gewünschten Ergebnisse lassen sich wirkungsvoller erzielen, wenn die grundlegenden Probleme der Verbreitung von Informationen und der Finanzierung direkt angegangen werden. In dieser Richtung gehen auch die in Artikel 8 vorgesehenen Bestimmungen über die Einrichtung geeigneter Qualifikations-, Akkreditierungs- und/oder Zertifizierungssysteme für Energiedienstleister, die weiterentwickelt und erweitert werden sollten. Es müssen auch innovative Finanzierungskonzepte wie zinsverbilligte Kredite ausgebaut werden, um langen Amortisierungszeiten wie bei den in Ziffer 3.6 genannten Beispielen Rechnung zu tragen.

3.13

Auch sollte die Unterstützung und Weiterentwicklung bestehender erfolgreicher freiwilliger Maßnahmen vorgesehen werden. In Übereinstimmung mit Artikel 12 sind Informationen über Energieaudit-Systeme, ein einfacher Zugang zu diesen Systemen, die Entwicklung von geeigneten Energieaudits für KMU oder spezifische Sektoren und die Förderung der Fortbildung zum Energiemanager Beispiele für bewährte Verfahrensweisen, die von der Kommission gefördert werden sollten.

3.14

Anstatt sich mit einer Flut von Berichten auseinander zu setzen, könnte die Kommission die Anstrengungen der Mitgliedstaaten um mehr Energieeffizienz fördern, indem sie die Schaffung besserer Informationsgrundlagen in den Mitgliedstaaten, die letztlich auch für ihr eigenes Datenmaterial von Vorteil wären, unterstützt. Eine gründliche Analyse der Hemmnisse, die einer Verbesserung der Energieeffizienz im Weg stehen, tut Not. Auch die Zusammenarbeit und der Austausch bewährter Verfahrensweisen zwischen den Mitgliedstaaten könnte gefördert werden.

3.15

Für einen solchen Vorschlag, der sich auf den Markt und auf die Verbraucherkosten auswirken wird, muss eine korrekte Folgenabschätzung vorgelegt werden. Da dies in der Vorbereitungsphase nicht geschehen ist, drängt der EWSA darauf, umgehend und noch vor der Beschlussfassung in Rat und Parlament eine Folgenabschätzung durchzuführen.

3.16

Die Kommission spielt mit dem Gedanken, zu einem späteren Zeitpunkt möglicherweise sog. „Einsparzertifikate“ einzuführen. Ein solches System würde jedoch nur funktionieren, wenn verbindliche Vorgaben für sparsamen Energieverbrauch bzw. Energieeffizienz festgelegt werden. Der EWSA lehnt die Festlegung entsprechender verbindlicher Vorgaben und damit auch die Einführung von „Einsparzertifikaten“ ab. Seines Erachtens sollte zunächst der Emissionshandel und der Handel mit grünen Zertifikaten sorgsam überwacht und bewertet werden, bevor die Einführung neuer Systeme auf einem ohnehin schon komplizierten Energiemarkt anvisiert wird.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

In Artikel 3 — Begriffsbestimmungen — sollte der Begriff der Energiedienstleistungen klarer definiert werden. Ferner sollte der Schwellenwert von 50 GWh in der Definition von „kleine Versorgungs- und Energieeinzelhandelsunternehmen“, der unter praktischen Gesichtspunkten zu niedrig angesetzt sein könnte, überdacht werden.

4.2

Artikel 4 sollte im Einklang mit den in dieser Stellungnahme vorgetragenen allgemeinen Bemerkungen überarbeitet werden.

4.3

Artikel 6 Buchstabe a und Artikel 10 Buchstabe b: Eine zunehmende Bereitstellung von Energiedienstleistungen ist wünschenswert. Der EWSA lehnt jedoch den von der Kommission vorgeschlagenen Ansatz ab, dass die Energiedienstleistungen ausschließlich von den Energieversorgern und Energieeinzelhandelsunternehmen erbracht und die dadurch entstehenden Kosten auf die Verteil- bzw. Verkaufstarife umgelegt werden, bis eine bestimmte Marktdurchdringung erreicht ist. Schon jetzt werden Energiedienstleistungen auch anderweitig erbracht — beispielsweise durch Gebäudewartungsgesellschaften, Unternehmensberater und Energiedienstleister/Betreiber (Energy service companies — ESCO) — und der Marktzugang muss für alle zu gleichen Bedingungen gewährleistet sein. Der Vorschlag, 5 % der Kundendienstleistungen auf Kosten aller Kunden unentgeltlich zu erbringen, ist den Kunden gegenüber unfair und benachteiligt andere Anbieter.

4.4

Der Begriff der „in Frage kommenden Kunden“ in Artikel 7 wäre zu definieren.

4.5

Artikel 10 Buchstabe a: Es ist schwer nachvollziehbar, wie Verteiltarife so strukturiert werden können, dass gezielt Energieeffizienz gefördert wird. Die den angeführten Beispielen zu Grunde liegenden Mechanismen sind schwer verständlich.

4.6

Die in Artikel 13 festgelegten Anforderungen betreffend die Erfassung des Energieverbrauchs können sich als sehr kostspielig erweisen, und die Kosten werden letztendlich immer auf die Verbraucher abgewälzt werden. Maßnahmen zur Erfassung des Energieverbrauchs sollten daher mit Umsicht angegangen werden.

Brüssel, den 28. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung.


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/119


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Elektrizitätsversorgung und von Infrastrukturinvestitionen“

(KOM(2003) 740 endg. — 2003/0301 (COD))

(2005/C 120/22)

Der Rat beschloss am 23. Januar 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit der Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 5. Oktober 2004 an. Berichterstatterin war Frau Sirkeinen.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 28. Oktober) mit 134 gegen 7 Stimmen bei 14 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Hintergrund

1.1

Die Energiepolitik der EU verfolgte in den letzten Jahren im Wesentlichen drei übergeordnete Zielsetzungen:

die Verwirklichung einer wirksamen Marktöffnung für Strom und Erdgas,

die Sicherstellung der Energieversorgungssicherheit und

die Verwirklichung bindender Umweltziele und insbesondere die Bekämpfung des Klimawandels.

Eine Schlüsselfunktion haben in diesem Zusammenhang u.a. die überarbeiteten Strom- und Gasrichtlinien, die vorsehen, dass die Märkte für gewerbliche Verbraucher ab Juli 2004 und für alle Verbraucher ab 2007 geöffnet werden. In dem 2001 veröffentlichten Grünbuch zur Energieversorgungssicherheit wurde das Nachfragemanagement als eine wesentliche Aktionslinie im Hinblick auf die Versorgungssicherheit und die Bekämpfung des Klimawandels herausgestellt.

1.2

Eine zuverlässige Energieversorgung zu vertretbaren Kosten ist eine wesentliche Voraussetzung für Wirtschaftswachstum und Wohlstand der Bürger Europas. Der EWSA hat in seinen Stellungnahmen folglich die Ziele und Ansätze der Kommission unterstützt.

1.3

Die EU-Energiemärkte funktionieren jedoch noch nicht im Einklang mit den obengenannten Zielen. Dies ist vielleicht auch verständlich, denn die ausschlaggebenden Rechtsvorschriften stehen erst kurz vor der Umsetzung. Der Kommission zufolge sollen die geltenden Rechtsvorschriften mit den vorliegenden Entwürfen ergänzt und bestehende bzw. künftige Mängel behoben werden.

1.4

Ein wichtiger Grund für die Vorlage des Energiepakets war der Stromausfall in Italien im September 2003 sowie weitere Vorfälle in Europa und den USA. Grund für den Stromausfall waren eine Reihe operationeller Pannen infolge des Zusammenbruchs einer stark überlasteten Leitung in der Schweiz. Gleichzeitig erwies sich die Koordination zwischen den Stromverteilern als problematisch. Aus diesem Vorfall sind wichtige Lehren zu ziehen. Ein offener Markt wird zu mehr Durchleitungen und möglicherweise auch zu einer Zunahme der damit verbundenen Probleme führen.

1.5

Überraschenderweise geht die Kommission nur auf die unmittelbare Ursache der Stromausfälle ein. Einige Länder bzw. Regionen verfügen nicht über ausreichende Stromerzeugungskapazitäten und sind dauerhaft auf umfangreiche Stromimporte aus angrenzenden und auch weiter entfernten Regionen mit Überkapazitäten angewiesen. Der grenzüberschreitende Stromhandel auf dem gemeinsamen Elektrizitätsmarkt ist vorteilhaft mit Blick auf die wirksame Bewältigung von Angebots- und Nachfrageschwankungen und trägt dadurch zur Versorgungssicherheit bei und fördert den Wettbewerb. Er kann und darf jedoch nicht zum Ausgleich unzureichender Erzeugungskapazitäten in einigen Marktsegmenten dienen.

1.6

Auf einem gesunden Markt führt der Kommission zufolge eine steigende Nachfrage ohne ein entsprechend zunehmendes Angebot zu Preiserhöhungen. Theoretisch reagieren die Verbraucher auf steigende Preise durch eine Einschränkung ihres Verbrauchs, doch ist die Preiselastizität auf den Strommärkten aus verschiedenen Gründen schwach. Ab einer bestimmten Preishöhe lohnen sich Investitionen in eine Steigerung des Angebots, wodurch einer kontinuierlichen Preissteigerung Einhalt geboten wird. Ohne ausreichende Investitionen jedoch steigen die Preise weiter an und führen, zumindest kurz- und mittelfristig, zu ernsten Problemen für die Verbraucher, die industrielle Wettbewerbsfähigkeit und dadurch ganze Wirtschaftssysteme. Bei Investitionen in die Stromerzeugung stellt sich das Problem, dann auf Preissignale nicht schnell reagiert werden kann, da die Planung, Genehmigung und Durchführung von Investitionsvorhaben zeitaufwändig ist. Zwar können Terminmärkte in einigen Fällen eine gewisse Abhilfe bieten, doch handelt es sich hierbei noch nicht um wirklich ausgereifte und wirtschaftlich bewährte Praktiken.

1.7

Die EU hat beschlossen, ihre Strom- und Gasmärkte dem Wettbewerb zu öffnen. Es herrschen jedoch Bedenken, ob es auf einem offenen Markt auch genügend Investitionen geben wird, insbesondere in Spitzenlastkapazitäten. Die Strommarktrichtlinie schreibt den Mitgliedstaaten vor, das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage zu beobachten und erforderlichenfalls zusätzlich benötigte Erzeugungskapazitäten auszuschreiben. Die Mitgliedstaaten sind für ihre allgemeine Energieversorgungsstruktur und die Auswahl ihrer Energieträger zuständig, und dies bleibt auch im Verfassungsvertragsentwurf unverändert.

1.8

Gründe für unzureichende Investitionen können neben Marktversagen (unzureichende Berücksichtigung von langfristigen Bedürfnissen, Umweltfaktoren, regionalen und lokalen Gegebenheiten usw.) auch ein Mangel an Wettbewerb, ein fehlender stabiler Rechtsrahmen, schwerfällige Genehmigungsverfahren und/oder eine ablehnende Haltung der Öffentlichkeit sein. Die zwangsweise Einstufung des Übertragungsnetzes als unabhängige wirtschaftliche Einheit im Rahmen der Entflechtung (Unbundling) führt zu einer ambitionslosen Verwaltung, da sich Innovation und Wertschaffung auf die Dienste am Kunden konzentrieren. Zwischen den von den Regulierungsbehörden festgesetzten Durchleitungstarifen und den von den Betreiberkunden verlangten Belastungen und Investitionen tritt das Netz praktisch nicht in Erscheinung und hat keinerlei Einfluss auf die Entwicklung.

1.9

Ein effizienter Energieendverbrauch bzw. Energiesparmaßnahmen gelten schon lange als wichtiger Aspekt des Energiemarktes. Ein geringerer Energieverbrauch spart Kosten und trägt durch den geringeren Bedarf an Energieerzeugung und an Investitionen in neue Erzeugungs- und Übertragungskapazitäten unmittelbar zur Versorgungssicherheit und häufig zur Verringerung der Treibhausgasemissionen bei. Neue Technologien bergen in diesem Zusammenhang ein großes Potential, und es müssen Maßnahmen zur Förderung ihrer Entwicklung und Markteinführung unternommen werden.

1.10

Die Kommission weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang der Aspekt des Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage nicht vernachlässigt werden darf. Die Überlastung der Übertragungsnetze ist auf das Wachstum der Nachfrage zurückzuführen, dem zum Teil durch Nachfragesteuerung entgegengewirkt werden kann. Doch tun auch geeignete Investitionsanreize in Sachen Übertragungsnetze und Stromerzeugung Not.

1.11

Laut Kommission wird der gesamte Anstieg der Stromnachfrage durch Nachfragemanagement aufgefangen werden. Neuer Investitionen bedürfe es lediglich hinsichtlich der Ersetzung von Anlagen, die am Ende ihres Lebenszyklus angekommen seien. Die Kommission geht davon aus, dass dies überwiegend durch erneuerbare Energieträger und kleine KWK(=Kraft-Wärme-Kopplung)-Anlagen geschehen wird.

1.11.1

Der Ausschuss kann sich mit dieser Beschreibung der künftigen Entwicklungen und Erfordernisse im Stromsektor ganz und gar nicht anfreunden. Von einer Mitteilung über Infrastrukturinvestitionen wären wesentlich klarere und praxisbezogenere Informationen über künftige Entwicklungen und Potenziale zu erwarten, zumal es ausführliche Informationen und Szenarien gibt und die Kommission auch über eigenes Hintergrundmaterial verfügt. Es dient niemandem, wenn klareren und realistischen, möglicherweise für viele auch unliebsamen grundlegenden Informationen aus dem Weg gegangen wird.

1.11.2

Anhand einer groben Überschlagsrechnung kann die Größenordnung des Problems und der erforderlichen Lösungen veranschaulicht werden: Die Elektrizitätsnachfrage in der EU weist derzeit eine jährliche Steigerungsrate von 1-2 % auf. Das EU-Ziel für eine verstärkte Elektrizitätserzeugung aus erneuerbaren Energieträgern beinhaltet eine Steigerungsrate von weniger als 1 % jährlich. Das vorgeschlagene Energieeffizienzziel würde das jährliche Wachstum um 1 % zurückschrauben. Durch den Einsatz erneuerbarer Energieträger und Effizienzmaßnahmen könnte somit die Nachfragesteigerung aufgefangen werden und darüber hinaus müsste möglicherweise weit weniger als 1 % jährlich der bestehenden Kapazitäten ersetzt werden. Die Lebensdauer von Kraftwerken wird mit 30 bis 50 Jahren veranschlagt, was theoretisch darauf hinausläuft, dass ihre Ersetzung mit einer durchschnittlichen jährlichen Rate von 3 % erfolgen muss. Der Internationalen Energieagentur (IEA) zufolge werden im Lauf der kommenden 20 Jahre in der EU neue Kraftwerke mit einer Leistung von 200 000 MW benötigt.

2.   Der Kommissionsvorschlag

2.1

Ziel der vorgeschlagenen Richtlinie ist es, die Investitionen im europäischen Energiesektor zu fördern, um den Wettbewerb zu stärken und Stromausfällen vorzubeugen. Betont wird die Notwendigkeit eines klaren Rechtsrahmens der EU für das ordnungsgemäße Funktionieren eines wettbewerbsfähigen Elektrizitäts-Binnenmarkts, in dem durch allgemeine, transparente und diskriminierungsfreie politische Konzepte für die Sicherheit der Elektrizitätsversorgung und einen angemessenen Verbund zwischen den Mitgliedstaaten gesorgt wird.

2.2

In dem Richtlinienentwurf wird den Mitgliedstaaten vorgeschrieben,

ein klar definiertes Konzept für die Angebots/Nachfrage-Problematik aufzustellen, das die Festsetzung von Zielen betreffend den Umfang von Kapazitätsreserven oder alternative, beispielsweise nachfrageseitige, Maßnahmen beinhaltet, und

Normen hinsichtlich der Sicherheit der Übertragung- und Verteilungsnetze zu formulieren.

2.3

Die Übertragungsnetzbetreiber müssen ihrer einzelstaatlichen Regulierungsbehörde eine Investitionsstrategie vorlegen, die sich über ein oder mehrere Kalenderjahr(e) erstreckt. Die Regulierungsbehörde kann zu den Investitionsvorschlägen vorrangige Vorhaben von europäischem Interesse hinzufügen.

2.4

Die Regulierungsbehörde unterbreitet der Kommission eine Zusammenfassung der Investitionsvorschläge, die diese wiederum mit der Gruppe der Europäischen Regulierungsbehörden für Elektrizität und Erdgas unter Berücksichtigung der TEN-E-Achsen vorrangiger Vorhaben von europäischem Interesse erörtert.

2.5

Die Regulierungsbehörde darf eingreifen, um die Durchführung von Vorhaben zu beschleunigen und erforderlichenfalls die durchzuführenden Arbeiten im Rahmen einer Ausschreibung zu vergeben, falls der Übertragungsnetzbetreiber nicht in der Lage oder willens ist, die betreffenden Arbeiten durchzuführen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die Strommarktrichtlinie und die Verordnung über den grenzüberschreitenden Stromhandel sind die Eckpunkte eines liberalisierten Binnenmarkts für Strom. Sie sollen am 1. Juli 2004 in Kraft treten. Um Investoren und anderen Marktakteuren die notwendige Rechtssicherheit zu bieten, die für ein gutes Investitionsklima unerlässlich ist, sollten jegliche Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen höchst vorsichtig angegangen werden.

3.2

Die Kommission nimmt recht deutlich Bezug auf die Gründe, die Anlass zur Sorge im Hinblick auf die Versorgungssicherheit geben und zur Vorlage des Richtlinienentwurfs geführt haben. In dem Richtlinienvorschlag werden diese Gründe jedoch nicht unmittelbar angesprochen.

3.3

Der erste Grund ist eine durch die energiepolitische Orientierung bedingte unzureichende Erzeugungskapazität in einigen Teilen/Mitgliedstaaten der Union. Die Kommission beschreibt die Problematik aus dem Blickwinkel der Reservekapazität, doch gilt dies ebenso für den Bereich der Grundlasterzeugung.

3.4

Der zweite Grund ist mangelnder Wettbewerb, weil es einigen Mitgliedstaaten am politischen Willen fehlt, gegen Monopole, Oligopole bzw. marktbeherrschende Positionen von Unternehmen vorzugehen. Die Kommission nimmt dies zur Kenntnis und verweist auf ihre begrenzten Möglichkeiten, dagegen etwas zu tun. Als Lösungsmöglichkeit strebt sie an, durch die Sicherstellung ausreichender Vernetzungskapazitäten den Wettbewerb durch Betreiber in anderen Mitgliedstaaten zu fördern.

3.5

Ein dritter Grund ist in der mangelnden Bereitschaft oder Fähigkeit einiger Übertragungsnetzbetreiber zu suchen, die vorhandenen Leitlinien für den grenzüberschreitenden Handel mit Elektrizität umzusetzen, obwohl diese Leitlinien freiwillig von den Netzbetreiber-Organisationen selbst vereinbart wurden. Es stellt sich die Frage, ob eine Ursache dafür möglicherweise eine unzureichende Entkopplung von Energie- und Übertragungsdiensten sein könnte.

3.6

Das größte Hindernis für Investitionen in Übertragungsnetze ergibt sich aus dem politischen und öffentlichen Widerstand gegen Investitionen in entsprechende Übertragungsprojekte. In einigen Mitgliedstaaten wird nahezu jede Form der Stromerzeugung abgelehnt. Der Anspruch der Bürger, zu sie unmittelbar betreffenden Projekten gehört zu werden, ist ein wichtiges Grundrecht. Doch werden dadurch die Planung- und Beschlussfassungsverfahren sehr schwerfällig und zeitaufwändig, und sogar die dringendsten und am stärksten notwendigen Projekte werden in Frage gestellt.

3.7

Grundlegendes Anliegen der Richtlinie, das einer Lösung auf EU-Ebene bedarf, ist es, sicherzustellen, dass auf die eine oder andere Weise genügend Investitionen in Verbindungsleitungen zu Marktbedingungen sichergestellt werden.

3.8

In dem Richtlinienentwurf wird der Regulierungsbehörde das Recht eingeräumt, durch eine Änderung der Investitionspläne der Übertragungsnetzbetreiber, durch das Vorschreiben einer bestimmten Investition und schließlich durch eine öffentliche Ausschreibung einzugreifen. Damit geht dieser Vorschlag weiter als die Strommarktrichtlinie, die die Überwachung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Versorgungskapazitäten und Stromnachfrage vorschreibt und nötigenfalls die Ausschreibung zusätzlich benötigter Erzeugungskapazitäten vorsieht. Um zu häufige Regelungsänderungen und eine Überregulierung zu vermeiden, sollten die diesbezüglichen Rechtsvorschriften nicht geändert werden, bevor es nicht ausreichende Erfahrungswerte bezüglich der Anwendung der geltenden Rechtsvorschriften gibt.

3.9

Teile des Inhalts des Richtlinienentwurfs wie die allgemeinen Bestimmungen in Artikel 3 sind grundlegender Bestandteil jeder vernünftigen nationalen Energiepolitik und werden weitgehend angewendet. Die Vorlage dieser Bestimmungen als Teil einer Richtlinie kann zu Unsicherheiten bei der Zuständigkeit führen.

3.10

Die Kommission sollte sich eventuell mit dem Thema Nachfragesteuerung auseinander setzen. Energieverbrauchern, insbesondere denjenigen mittlerer Größe, bessere Möglichkeiten einzuräumen, auf die Schwankungen des Großhandelspreises für Strom zu reagieren, dürfte zu einer Absenkung der Spitzenlasten beitragen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Artikel 4: Der EWSA befürwortet diese Bestimmungen, da der Unterabsatz darauf hinausläuft, dass alle Übertragungsnetzbetreiber sich an die Leitlinien der europäischen Übertragungsnetzbetreiber-Organisationen halten müssen.

4.2

Artikel 5: Nach Ansicht des Ausschusses schafft der Artikel Unsicherheit bezüglich der Befugnisse der Kommission und der Mitgliedstaaten. Grundsätzlich und für sich gesehen erachtet der EWSA die in dem Artikel aufgeführten Maßnahmen als notwendigen Bestandteil einer vernünftigen nationalen Energiepolitik.

4.3

Es wird nicht ganz deutlich, was unter „Kapazitätsreserven“ im zweiten Abschnitt von Artikel 5 Absatz 1 zu verstehen ist. Der Artikel sollte sich nur auf kurzfristige technische Reserven erstrecken, die für die Zuverlässigkeit des Systems notwendig sind.

4.4

Artikel 6: Die Verknüpfung von Übertragungs- und Verteilungsnetzinvestitionen mit der Nachfragesteuerung ist nur schwer nachvollziehbar, insbesondere in Artikel 6 Absatz 1. Die Erfordernisse in Artikel 6 Absatz 2 sollten nach Möglichkeit vor allem bei der Festsetzung der Verfahrensweise für Netzzugangstarife berücksichtigt werden. Entsprechend Ziffer 3.7 müssen in Artikel 6 Absatz 2 Maßnahmen für eine grenzüberschreitende Vernetzung berücksichtigt werden.

4.5

Artikel 7: Aus den in Ziffer 3.8 dargelegten Gründen lehnt der EWSA die in diesem Artikel vorgeschlagenen Maßnahmen ab.

Brüssel, den 28. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


ANHANG

zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Der nachstehende Teil der Stellungnahme der Fachgruppe wurden zugunsten der vom Plenum angenommenen Änderungen gestrichen; auf ihn entfielen jedoch mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen:

Ziffer 1.8, letzter Satz:

„Eine häufige Änderung der Rechtslage und insbesondere Rechtsvorschriften, die ein öffentliches Eingreifen auf den Märkten ermöglichen, sind der notwendigen Stabilität der rechtlichen Rahmenbedingungen abträglich, erhöhen vielmehr das Investitionsrisiko, führen zur Verzögerung von Investitionen und bewirken Preissteigerungen“.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 78

Nein-Stimmen: 67

Stimmenthaltungen: 9


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/123


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vertrag über eine Verfassung für Europa“

(2005/C 120/23)

Das Europäische Parlament beschloss am 29. September 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen: „Vertrag über eine Verfassung für Europa“.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten beschloss der Ausschuss auf seiner 411. Plenartagung am 15./16. September 2004, Herrn MALOSSE zum Hauptberichterstatter zu bestellen. Auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 28. Oktober) verabschiedete er mit 166 gegen 4 Stimmen bei 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

In seiner Stellungnahme vom 24. September 2003 (1) hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss den Entwurf des Verfassungsvertrags unterstützt. Dabei hob er hervor, dass es nach der gewünschten Einigung zwischen den Mitgliedstaaten vor allem darum gehen müsse, dass der Verfassungsvertrag von den Unionsbürgerinnen und -bürgern und von der Zivilgesellschaft der Mitgliedstaaten der Union stärker mitgetragen wird.

1.2

Wir befinden uns nunmehr in dieser Phase, denn die Debatte über die Ratifizierung des Vertrags hat unabhängig vom Verfahren für die Ratifizierung – Annahme durch das Parlament oder Referendum – in allen Staaten der Union begonnen.

1.3

Im Hinblick auf diesen entscheidenden Schritt für die Zukunft des europäischen Einigungswerks sollten die Bürgerinnen und Bürger darin bestärkt werden, von ihren persönlichen Interessen und von den Interessen ihrer Bevölkerungs- oder Berufsgruppe, ihrer Kommune oder ihres Staates, einmal abzusehen: Der Vertrag muss unter dem Blickwinkel seiner politischen Bedeutung insgesamt in dem Prozess gesehen werden, den die Gründerväter der Europäischen Gemeinschaften vor nunmehr über 50 Jahren eingeleitet haben.

1.4

Der Ausschuss begrüßt in diesem Zusammenhang die Initiative des Ausschusses für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments, ihn um Stellungnahme zu dem Verfassungsvertrag zu ersuchen. Er beabsichtigt, die ihm dadurch gebotene Möglichkeit in vollem Umfang zu nutzen:

klare Botschaften an die organisierte Zivilgesellschaft über Inhalt und Tragweite des Verfassungsvertrags und

Empfehlungen zur Kommunikationsstrategie, die zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft für den Verfassungsvertrag anzunehmen ist.

2.   Klare Botschaften

2.1   Die Methode des Konvents - ein Schritt nach vorn bei der Demokratisierung des europäischen Einigungswerks

2.1.1

Die Art und Weise, wie der Verfassungsvertrag ausgearbeitet wurde, ist an sich ein Fortschritt und verdient, gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern hervorgehoben zu werden: die Verfassung wurde von einem Konvent erarbeitet, der sich mehrheitlich aus Vertretern der nationalen Parlamente und des Europaparlaments zusammensetzte. Die Bemühungen um die Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft im Rahmen von Anhörungen, Konsultationen und der Mitwirkung von Beobachtern, die von den Sozialpartnern und vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss ausgewählt wurden, waren ein erheblicher Schritt nach vorn, auch gegenüber der üblichen Praxis in Verfassungsfragen in den meisten Mitgliedstaaten. Der EWSA hat im Übrigen in seiner Stellungnahme vom 24. September 2003 (2) Anregungen dazu vorgelegt, wie die Zivilgesellschaft noch stärker einbezogen werden kann.

2.1.2

Zwar hat es einige Rückschritte gegeben, aber die Regierungskonferenz hat den vom Konvent vorgelegten Wortlaut des Vertrags nicht grundlegend geändert. Der Verfassungsvertrag beruht auf einem Konsens zwischen allen politischen Formationen: er ist das Ergebnis einer wahrhaft demokratischen Debatte.

2.1.3

Zwar hatte der Konvent keine verfassunggebende Gewalt, aber im Hinblick darauf, dass die Europäische Union nicht nur eine Union der Staaten, sondern auch der Völker Europas ist, stellt er doch einen entscheidenden Einschnitt gegenüber früheren Vorgehensweisen dar, bei denen die parlamentarische Vertretung und die Zivilgesellschaft in keiner Weise einbezogen wurden.

2.1.4

Den Verfassungsvertrag fallen zu lassen würde auch bedeuten, dass das Verfahren zu seiner Erarbeitung gescheitert wäre. Folglich ist es von fundamentaler Bedeutung, für eine dauerhafte Verankerung dieser Methode einzutreten (die im Übrigen in dem Verfassungsvertrag selbst vorgesehen ist).

2.1.5

Aus diesem Grunde unterstützt der an den Arbeiten des Konvents beteiligte EWSA die Legitimität dieses Vertrags, und er fordert alle Konventteilnehmer und Beobachter, die ihre Unterschrift unter den Vertragstext gesetzt haben, auf, dies ebenfalls zu tun.

2.2   Eine Verfassung - eine „Revolution“ in der Geschichte des europäischen Einigungswerks

2.2.1

Die Verfassung bietet einen neuen Rahmen für die Tätigkeit der Union. Sie enthält drei Hauptteile, wobei die beiden ersten Teile eine absolute Innovation darstellen: im ersten Teil werden die Grundsätze und Werte definiert, auf die sich die Union stützt, im zweiten Teil die Grundrechte der Unionsbürgerinnen und -bürger. Im dritten Teil werden die in den früheren Verträgen verankerten Politikbereiche der Gemeinschaften übernommen.

2.2.2

Mit der Verfassung werden die geltenden Verträge durch einen einheitlichen und umfassenden Text ersetzt, sodass die Arbeitsweise der Union für alle verständlicher und leichter zugänglich wird.

2.2.3

Die Verfassung ersetzt nicht die nationalen Verfassungen, sondern tritt neben diese. Sie wird für das ganze Hoheitsgebiet der Europäischen Union gelten.

2.2.4

Der Inhalt der Verfassung ist zwar nicht wirklich „revolutionär“, aber dass es sich bei dem neuen Vertrag um eine Verfassung handelt, muss als ein Einschnitt im kollektiven Bewusstsein der europäischen Völker gelten, die sich nun um ein Ziel scharen und ein gemeinsames Schicksal haben. Der EWSA ist es sich schuldig, den Bürgerinnen und Bürgern diesen Fortschritt des europäischen Einigungswerkes nahe zu bringen.

2.3   Eine demokratischere Union, die die Bürgerinnen und Bürger als Souveräne des europäischen Einigungswerkes anerkennt (Teil I des Vertrags)

2.3.1

Der Zweck des Verfassungsvertrags wird klar genannt: es geht darum, eine politische Union im Namen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas zu schaffen.

2.3.2

Die wichtigsten Erwartungen der Unionsbürgerinnen und –bürger werden in den Mittelpunkt der Leitsätze der Union gestellt. So werden „Vollbeschäftigung, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität“ ausdrücklich als Ziele der Union aufgeführt. Die Union soll zudem „den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ fördern und den Bürgern einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ bieten.

2.3.3

Die demokratische Legitimität des europäischen Entscheidungsprozesses wird deutlich gestärkt:

2.3.3.1

Die Kompetenzen des Europäischen Parlaments als Mitgesetzgeber werden ausgeweitet. Diese Entwicklung kann dazu beitragen, die Wahrnehmung der Bedeutung dieses EU-Organs durch die Bürgerinnen und Bürger zu verbessern.

2.3.3.2

Die den nationalen Parlamenten übertragene neue Rolle bietet eine Gewähr gegen mögliche Exzesse bei der Regelung auf europäischer Ebene. Die Kommission ist verpflichtet, sie über jede neue Initiative zu unterrichten, und das „Frühwarnsystem“ verleiht ihnen die Befugnis zur Überwachung der Subsidiarität.

2.3.4

Die Bürgerinnen und Bürger werden sich von nun an über die Standpunkte informieren können, die ihre Regierung im Rat eingenommen hat, denn für den Rat wird eine Transparenzverpflichtung gelten, sobald er als Gesetzgeber tätig wird.

2.3.5

Erstmals wird die partizipative Demokratie als Grundsatz, als unverzichtbare Ergänzung zur repräsentativen Demokratie für die Arbeitsweise der Union anerkannt:

2.3.5.1

Durch die Pflege eines offenen und regelmäßigen Dialogs mit den repräsentativen Verbänden der Zivilgesellschaft dürften die Organe kohärenter und transparenter agieren. Vor allem besteht die Hoffnung, dass pedantische und vor Ort nicht praktikable Regelungen durch eine Konsultation der Betroffenen verhindert werden. Die Kommission wird zudem verpflichtet sein, die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen ihrer Vorschläge - auch auf regionaler und lokaler Ebene - besser abzuschätzen.

2.3.5.2

Eine der wichtigen Neuerungen der Verfassung ist die Einführung eines Initiativrechts für die Bürgerinnen und Bürger. Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss, können nunmehr die Europäische Kommission auffordern, einen ihren Erwartungen entsprechenden Gesetzesvorschlag vorzulegen.

2.3.6

Die Rolle der Sozialpartner wird als ein Schlüsselelement des demokratischen Lebens der Union unter Wahrung ihrer Selbstständigkeit beim sozialen Dialog anerkannt.

2.3.7

Die Aufnahme dieses neuen Teils (I) sollte es ermöglichen, das demokratische Defizit in einer sich erweiternden Union zu verringern.

2.4   Eine Union, die die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger der Union besser schützt (Teil II des Vertrags)

2.4.1

Die Charta der Grundrechte der Union wurde von einem Konvent ausgearbeitet, dessen demokratische Legitimität allgemein anerkannt wurde. Die Beiträge der Organisationen der Zivilgesellschaft waren von großer Bedeutung für den Wortlaut der Charta.

2.4.2

Die Charta ist als ein Fortschritt zu werten, denn sie umfasst alle Arten individueller und kollektiver Rechte: die bürgerlichen und politischen Rechte sowie die wirtschaftlichen und sozialen Rechte; und mit der Verfassung wird insofern eine Neuerung eingeführt, als den Bürgerinnen und Bürgern „zeitgemäßere“ Rechte zuerkannt werden (im Zusammenhang mit der nachhaltigen Entwicklung, dem Verbraucherschutz, der Gleichheit von Männern und Frauen, der Bioethik, dem Schutz personenbezogener Daten usw.).

2.4.3

Die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger der Union sind Bestandteil des Verfassungsvertrags und nicht in einer Präambel niedergelegt.

2.4.4

Diese Aufnahme der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in den Vertrag, die von zahlreichen europäischen Organisationen der Zivilgesellschaft gefordert wurde, hat enorme Bedeutung, denn damit wird die Charta rechtlich bindend.

2.4.5

In der Praxis bedeutet dieser Fortschritt, dass die Bürgerinnen und Bürger einen besseren Rechtsschutz genießen werden. So werden sie sich vor jedem einzelstaatlichen Gericht auf die Charta berufen können, wenn sie gegen Entscheidungen klagen, die von den Organen und Einrichtungen der Europäischen Union und von den Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts getroffen wurden.

2.4.6

Der EWSA war an der Ausarbeitung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beteiligt und er betrachtet deren Aufnahme in den Vertrag als einen erheblichen Fortschritt für den Schutz der Rechte natürlicher und juristischer Personen.

2.5   Eine Union, die mit der Gemeinschaftsmethode und den gemeinschaftlichen Politikbereichen den Erwartungen ihrer Bürgerinnen und Bürger besser entsprechen kann (Teil III des Vertrags)

2.5.1

Die geltenden Verträge und insbesondere die Gemeinschaftsmethode haben sich bestens bewährt. Daher werden in Teil III des Verfassungsvertrags die wichtigsten Bestimmungen der derzeit geltenden Verträge über die gemeinschaftlichen Politikbereiche der Union aufgenommen, wobei die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit auf 20 Bereiche ausgedehnt wird, in denen bisher Einstimmigkeit vorgeschrieben war. Zudem wird in der Verfassung das Mitentscheidungsverfahren als „das ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ bezeichnet, und die Befugnisse des Europäischen Parlaments werden so gestärkt. Die meisten Beschlüsse der Union werden folglich in den gemeinschaftlichen Politikbereichen effizienter und demokratischer gefasst werden können.

2.5.2

In Teil III werden die allgemeinen Grundsätze für diejenigen Bereiche aufgestellt, in denen die Mitgliedstaaten beschlossen haben, ihre Mittel zusammenzulegen oder aber zusammenzuarbeiten. Der Inhalt der Politikbereiche wird jedoch nicht festgeschrieben: er ist abhängig von den Beschlüssen und somit vom Willen der Regierungen und der Mehrheiten im Europäischen Parlament.

2.5.3

Dies ist beispielsweise in der Sozialpolitik der Fall: Hier wurde eine allgemeingültige Bestimmung (sogenannte „Sozialklausel“) aufgenommen, der zufolge die Union bei der Festlegung und Durchführung der Politik und der Maßnahmen „den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes“ Rechnung tragen muss. Gleiches gilt für den Kampf gegen jede Form der Diskriminierung und Ausgrenzung, für die Anerkennung der Rolle der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts der Union sowie für die – im Vertrag bereits verankerte – Einbeziehung der Umweltaspekte und der Erfordernisse des Verbraucherschutzes.

2.5.4

Die Schwierigkeit, den Bürgerinnen und Bürgern den Verfassungsvertrag zu vermitteln, liegt gerade darin, dass sie es gewohnt sind, zu geplanten Maßnahmen oder zu einem politischen Vorhaben konsultiert zu werden, nicht aber zu Rahmenbestimmungen über die Arbeitsweise. Damit sie mobilisiert werden können, muss eine Debatte darüber eingeleitet werden, was die Bürgerinnen und Bürger und die Mitgliedstaaten vorhaben, nun da die Grundsätze, die Wertvorstellungen, die Ziele und die Regeln für die Arbeitsweise in der Verfassung klar vorgegeben sind.

2.5.5

Deshalb wünscht der EWSA in dieser Phase eine Verbindung zwischen dem Verfassungsvertrag und der Lissabon-Strategie herzustellen, deren Halbzeitüberprüfung binnen kurzem erfolgen wird. In den Debatten sollte diese Strategie vorgestellt werden, denn sie gibt jeder einzelnen Bürgerin, jedem Bürger eine Zukunftsperspektive: Wettbewerbsfähigkeit, Vollbeschäftigung, geteiltes Wissen, Investitionen in Humankapital und Wachstum aber auch Erhaltung des Umfelds und der Lebensqualität im Wege einer nachhaltigen Entwicklung. Derzeit liegt diese Strategie brach, denn es fehlt an den Instrumenten zu ihrer Umsetzung, und es besteht ein chronischer Mangel hinsichtlich der Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger und der Zivilgesellschaft. Ein neuer Impuls mit neuen Gemeinschaftsinitiativen ist daher in dieser Phase unverzichtbar, um das wirtschaftliche und soziale Projekt der Union glaubhaft zu machen.

2.5.6

In seiner an den Europäischen Rat gerichteten Stellungnahme (3) fordert der EWSA, die Halbzeitüberprüfung solle den Bürgerinnen und Bürgern und den Akteuren der Zivilgesellschaft die Lissabon-Strategie wieder in die eigenen Hände geben. Diese Gelegenheit sollte unbedingt wahrgenommen werden, um ihnen eine klare politische Botschaft zum Inhalt des Projekts der Union zu vermitteln.

2.5.7

Den Bürgerinnen und Bürgern muss bewusst gemacht werden, dass ihnen durch die demokratischen Fortschritte in der Verfassung Mittel an die Hand gegeben wurden, um selbst über den Inhalt der Politikbereiche und der Maßnahmen zu entscheiden, die die Union zur Erfüllung ihrer Erwartungen treffen muss. „Nein“ zum Verfassungsvertrag zu sagen, hieße nichts anderes, als die Verträge in ihrem jetzigen Zustand erstarren zu lassen.

2.6   Mobilisierung der europäischen Zivilgesellschaft für die Fortschritte im Verfassungsvertrag, um dessen Mängel zu überwinden

2.6.1

Es kann nicht darum gehen, die Mängel des Verfassungsvertrags in dem angenommenen Wortlaut zu verschweigen. Eine große Zahl Forderungen der Zivilgesellschaft wurden bei den Arbeiten des Konvents und noch weniger im Rahmen der Arbeiten der Regierungskonferenz berücksichtigt. In seiner Stellungnahme vom 24. September 2003 (4), hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss eine ganze Reihe von Schwächen in dem Verfassungsvertrag herausgehoben, unter anderem:

2.6.1.1

Das Fehlen geeigneter Bestimmungen, um den Grundsatz der partizipativen Demokratie umzusetzen. Die Rolle des EWSA wurde nämlich nicht ausreichend gestärkt, um einen wirksamen zivilen Dialog zu gewährleisten.

2.6.1.2

Das Fehlen von Bestimmungen im Protokoll über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, in denen die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft bei der Verwirklichung dieses Prinzips (insbesondere der funktionalen Subsidiarität) anerkannt wird.

2.6.1.3

Die Schwäche des Regierens auf Gemeinschaftsebene in Bezug auf die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sowie das Fehlen von Vorschriften, in denen eine Anhörung des Europäischen Parlaments und des EWSA in diesen Bereichen vorgesehen ist, welche die Akteure der Zivilgesellschaft ganz unmittelbar betreffen.

2.6.1.4

Das Fehlen einer obligatorischen Befassung des EWSA in den Bereichen Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitik sowie auch Kultur, trotz des in diesen Bereichen im EWSA vorhandenen Sachverstands.

2.6.2

Sollte deshalb der Vertrag abgelehnt werden? Der EWSA ist der Auffassung, dass ein solcher fataler Schritt ein negatives Signal für das europäische Einigungswerk geben würde, sowohl nach innen als auch außerhalb der Union, wo eine solche Niederlage feindlich gesinnten bzw. im Wettbewerb mit der Union stehenden Kräften in jedem Falle Genugtuung bereiten würde. Seiner Ansicht nach sollte es ganz im Gegenteil möglich sein, den vorgeschlagenen institutionellen Rahmen positiv zu nutzen und ihn durch konkret umsetzbare Maßnahmen zu verbessern:

2.6.2.1

Die Bestimmungen über die partizipative Demokratie sollten Gegenstand einer Reihe von Mitteilungen werden, in denen die Verfahren für die Anhörung und die Rolle des EWSA festgelegt werden.

2.6.2.2

Der Inhalt des Europäischen Gesetzes zur Festlegung der Verfahren für die Verwirklichung des Initiativrechts für die Bürgerinnen und Bürger sollte Gegenstand von Anhörungen der Zivilgesellschaft werden. Der EWSA könnte damit im Rahmen eines Ersuchens um Abgabe einer Sondierungsstellungnahme befasst werden. Er könnte des Weiteren aus der Zivilgesellschaft kommende Initiativen unterstützen.

2.6.2.3

Den Grundsatz der partizipativen Demokratie sollte auf die großen Strategien der Union angewandt werden, um Wachstum, Beschäftigung und nachhaltige Entwicklung zu fördern!

2.6.3

Im Übrigen kommt es auch darauf an, die Bürgerinnen und Bürger - auch hier wieder im Rahmen des angenommenen Verfassungsvertrags - über die Mechanismen zu unterrichten, die Flexibilität ermöglichen und den Weg zu Fortschritten ohne Änderung dieses Vertrags eröffnen können:

2.6.3.1

Diejenigen Mitgliedstaaten, die im Prozess der europäischen Integration weiter voranschreiten wollen, können leichter als bisher eine verstärkte Zusammenarbeit untereinander einleiten.

2.6.3.2

Wird ein politischer Wille aller Mitgliedstaaten deutlich, so wird es möglich sein, die Integration in sensiblen Bereichen zu vertiefen, in denen die Einstimmigkeit beibehalten wurde, wie etwa im Steuerrecht oder in der Sozialpolitik. Mit einer „Brückenklausel“ kann die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit nämlich auf solche Bereiche ausgedehnt werden.

2.6.4

Die Zivilgesellschaft wird, indem sie sich für eine engagierte, kritische und konstruktive Haltung entscheidet, zu einer guten Information der Bürger beitragen und den Druck gegenüber den Regierungen aufrechterhalten. Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre eine Bestätigung der in der Politik leider weit verbreiteten Idee, dass das europäische Einigungswerk die Bürgerinnen und Bürger nicht interessiert. Dieser Gedanke ist völlig falsch, denn die Bürgerinnen und Bürger erwarten viel von Europa, vor allem einen Beitrag zur Verbesserung ihres alltäglichen Lebens, indem ihnen eine Zukunftsperspektive gegeben wird.

2.6.5

Nach Auffassung des EWSA ist die Annahme des Verfassungsvertrags kein Selbstzweck. Er ebnet den Weg für eine Stärkung der partizipativen Demokratie. Den Vertrag ablehnen hieße, auf die Fortschritte verzichten, die die Zivilgesellschaft durch die konventionelle Methode erreicht hat.

3.   Eine effizientere Kommunikation

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist der Auffassung, dass die Qualität der Kommunikationsstrategie entscheidend dafür sein wird, ob der Verfassungsvertrag von den Völkern der Union angenommen wird. Es empfiehlt sich daher ein pragmatisches und professionelles Herangehen, um die Wirksamkeit dieser Strategie zu gewährleisten. Der EWSA empfiehlt, die Kommunikationsstrategie in die vier folgenden Maßnahmen zu gliedern.

3.1   Schaffung der Instrumente: Mittel für Information und Finanzierung

3.1.1

Die Komplexität des Verfassungsvertrags macht es erforderlich, Informationsinstrumente zu schaffen, die noch vor dem Prozess der Kommunikation selbst eingesetzt werden, um Kampagnen einzuleiten bzw. Debatten zu organisieren.

3.1.2

Es wäre somit Sache der Mitgliedstaaten, mit Unterstützung der Informationsbüros des Europäischen Parlaments und der Vertretungen der Kommission in den Mitgliedstaaten diese Informationsinstrumente zu konzipieren und sie zugänglich zu machen.

3.1.3

Diese Instrumente könnten in Form von Rastern für die Lektüre des Verfassungsvertrags an die Erwartungen der einzelnen Bevölkerungsschichten in jedem Mitgliedstaat angepasst werden. Je besser die Instrumente auf diese Erwartungen zugeschnitten sind, umso wirksamer werden sie von den Medien, den Organisationen der Zivilgesellschaft, den politischen Parteien und den regionalen und lokalen Gebietskörperschaften eingesetzt werden können, um Informationen zu verbreiten und die Bürgerinnen und Bürger zu mobilisieren.

3.1.4

Die Bereitstellung ausreichender Finanzmittel ist erforderlich, um eine Kommunikationsstrategie umzusetzen, die den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger entspricht.

3.2   Einleitung von Kommunikationskampagnen gestützt auf die Medien und die den Bürgern nahe stehenden Kommunikationsträger

3.2.1

Sobald ihnen diese Mittel zur Verfügung stehen, werden die Medien, die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften, die politischen Parteien und die Organisationen der zivilen Gesellschaft in der Lage sein, ihre Aufgabe bei der Weitergabe von Informationen zu erfüllen. Sie werden klare Botschaften abgeben können, die auf die Erwartungen ihrer Zielgruppen vor Ort hinsichtlich der Tragweite des Verfassungsvertrags zugeschnitten sind.

3.2.2

Zunächst wird es zweckmäßig sein, für jeden Mitgliedstaat zu ermitteln, wie der Verfassungsvertrag von den einzelnen Bevölkerungsschichten aufgenommen wird, um anschließend über den Inhalt der zu bringenden Botschaften nachzudenken. Ausgehend von den Schlussfolgerungen dieser Analyse werden die Botschaften dazu dienen, bei den Bürgern bestehende Befürchtungen abzubauen und ihnen Antworten auf die jeweiligen Fragen zu liefern.

3.2.3

Auch die Überbringer der Botschaften und die Kommunikationsträger müssen sehr sorgfältig ausgewählt werden. In die Kampagne müssen verschiedenartige Akteure eingebunden werden, um ihren Pluralismus zu gewährleisten. Zudem wird die Nähe der Akteure zu den Bürgerinnen und Bürgern der Glaubwürdigkeit der Botschaften förderlich sein und ihre Akzeptanz begünstigen. Deshalb ist es wichtig, dass Aktionen auf lokaler und regionaler Ebene durchgeführt werden.

3.2.4

Der EWSA empfiehlt dem Europäischen Parlament die Einrichtung von Arbeitsgruppen mit Fachleuten der Kommunikation zu institutionellen Fragen in jedem Mitgliedstaat. Diese Arbeitsgruppen sollten den Regierungen konkrete Vorschläge zu den Aktionen und Instrumenten vorlegen, die zur Einleitung einer effizienten Kommunikationskampagne in den Mitgliedstaaten benötigt werden. Der EWSA ist bereit, sein eigenes Sachwissen auf diesem Gebiet und die Unterstützung durch seine Schaltstellen in den Mitgliedstaaten, in den nationalen Wirtschafts- und Sozialräten und in vergleichbaren Einrichtungen einzubringen.

3.3   Einleitung von Debatten, die den Bürgerinnen und Bürgern offen stehen, in denen Ideen ausgetauscht und Überzeugungen geschmiedet werden können

3.3.1

Die Kommunikationskampagnen dürften zur Einleitung eines echten Dialogs mit den Bürgerinnen und Bürgern führen. Diese müssen die Gelegenheit erhalten, Fragen zu stellen und mit unterschiedlichen Argumenten konfrontiert zu werden, um sich ihre eigene Meinung bilden und zum Ausdruck bringen zu können.

3.3.2

Ein solcher Dialog wird nur möglich sein, wenn die Debatten dezentral stattfinden. Die so den Bürgerinnen und Bürgern unmittelbar nahe gebrachten Informationen werden deren Erwartungen entsprechen, ihre Fragen besser beantworten und so den demokratischen Charakter der Debatten gewährleisten.

3.3.3

Solche Initiativen müssen seitens der nationalen und europäischen Institutionen logistische Unterstützung erfahren. Die nationalen Wirtschafts- und Sozialräte bzw. die vergleichbaren Einrichtungen könnten die Debatten auf nationaler Ebene koordinieren, indem sie einen Zeitplan der Veranstaltungen erstellen und als Schaltstelle zum EWSA fungieren. Der EWSA könnte ihnen Dokumentation bereitstellen und sie mit Referenten in Verbindung setzen.

3.3.4

Im Sinne einer gewissen Kohärenz zwischen diesen Initiativen ersucht der EWSA das Europäische Parlament und die Europäische Kommission, den Initiativen der Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft die gleiche Unterstützung wie den gewählten Vertretern der Organe auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene im Rahmen der Maßnahme „1 000 Debatten über Europa“ zuteil werden zu lassen. Der Zivilgesellschaft darf ihre Mitwirkung nicht versagt werden.

3.3.5

Der EWSA ersucht das Europäische Parlament, einen Großteil der Haushaltsmittel für Kommunikation der Union für die Debatten über den Verfassungsvertrag einzusetzen und so die Ressourcen der staatlichen Stellen und der Kommunen sowie die eigenen Mittel der Organisationen der Zivilgesellschaft zu ergänzen.

3.4   Den Debatten und der Ratifizierung eine europäische Dimensionen verleihen!

3.4.1

Unbedingt zu verhindern ist eine einseitige Beeinflussung der Annahme des Verfassungsvertrags durch die Völker der Union durch innenpolitische Fragen.

3.4.2

Vor diesem Hintergrund empfiehlt der EWSA, den Debatten und der Ratifizierung des Verfassungsvertrags eine echte transnationale Dimension zu verleihen:

3.4.2.1

Zum Einen sollten die EU-Institutionen einen Beitrag zur Koordinierung der Kommunikationsmaßnahmen der politischen Bewegungen, der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften und der Organisationen der Zivilgesellschaft leisten. So wäre es angebracht, den Austausch über die besten Verfahren in diesem Bereich zu fördern und sich in den Anstrengungen gegenseitig zu unterstützen. Der EWSA könnte beispielsweise den Austausch über die besten Verfahren (und das Know-how) auf europäischer Ebene zwischen den Organisationen der Zivilgesellschaft, die Kommunikationsmaßnahmen treffen, erleichtern. Er könnte weiterhin ein System für den Rückfluss der Informationen einführen, um eine Bewertung der Anregungen, Kritiken und Empfehlungen auf europäischer Ebene zu ermöglichen, die von den Bürgern im Rahmen der von der Zivilgesellschaft veranstalteten Debatten vorgebracht werden. Er könnte schließlich auch grenzüberschreitende bzw. multinationale Initiativen unterstützen.

3.4.2.2

Des Weiteren unterstützt der EWSA den Vorschlag des Ausschusses für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments, die Ratifizierung so weit wie möglich um ein symbolisches Datum (etwa den 8. bzw. 9. Mai) zu konzentrieren.

3.4.3

Der EWSA spricht sich folglich für eine aktivere Mitwirkung der EU-Institutionen bei der Erarbeitung und Umsetzung der Kommunikationsstrategie zum Verfassungsvertrag aus. Es ist wichtig, ergänzend zu den Mitgliedstaaten tätig zu werden und den Bürgern von Europa aus ein starkes und positives Signal zu geben.

3.4.4

Der EWSA erklärt sich seinerseits bereit, der europäischen Zivilgesellschaft klare Botschaften zu den demokratischen Fortschritten des Verfassungsvertrags, insbesondere zur Unionsbürgerschaft und zur Partizipation zu übermitteln.

Brüssel, den 28. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Siehe ABl. C 10 vom 14.1.2004, Seite 43.

(2)  Siehe die Fußnote auf S. 1.

(3)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses über die Halbzeitbewertung der Lissabon-Strategie (Nr.1438/2004).

(4)  Siehe die Fußnote auf S. 1.


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/128


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Umweltschutz als wirtschaftliche Chance“

(2005/C 120/24)

Mit Schreiben des Staatssekretärs für europäische Angelegenheiten, Atzo NICOLAÏ, vom 22. April 2004 ersuchte der damalige künftige niederländische Ratsvorsitz den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um eine Stellungnahme zum Thema: „Umweltschutz als wirtschaftliche Chance“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 21. September 2004 an. Berichterstatter war Herr BUFFETAUT.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober (Sitzung vom 28. Oktober) mit 130 gegen 2 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Mit Schreiben vom April 2004 ersuchte der damalige künftige niederländische Ratsvorsitz den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema „Umweltschutz als wirtschaftliche Chance“. Der niederländische Ratsvorsitz möchte sich vordringlich mit der für alle Beteiligten vorteilhaften Möglichkeit beschäftigen, dass Fortschritte im Bereich der Umweltschutztechnologien und des Umweltschutzes dazu beitragen können, die wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele der Lissabon-Strategie zu erreichen.

1.2

Der Europäische Rat von Lissabon setzte sich im Jahr 2000 nur am Rande mit dem Thema Umweltschutz auseinander, obwohl er der Europäischen Union äußerst ambitionierte Zielsetzungen vorgab: „Die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen — einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“. In dieser Formulierung weist jedoch — von der Verwendung des Begriffs „dauerhaft“ einmal abgesehen — nichts auf die nachhaltige Entwicklung hin.

1.3

Erst zwei Jahre später traf der Europäische Rat jene Entscheidungen, die zum Beschluss der „Strategie für nachhaltige Entwicklung“führten. Diese stellt somit eine Ergänzung der Lissabon-Strategie dar.

1.4

Kann man nun aber tatsächlich sagen, dass der Umweltschutz fester Bestandteil der Lissabon-Strategie ist? Die anhaltende wirtschaftliche Schwäche in einigen Mitgliedstaaten der EU führte dazu, dass dem Wirtschaftswachstum und der Schaffung neuer Arbeitsplätze oberste Priorität zugemessen wurde. Getreu dem Sinnspruch der alten Römer — „primum vivere, deinde philosophare“ — wurde der Umweltschutz auf den zweiten Rang verwiesen. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob dieses geradezu lebenswichtige Thema ausschließlich den Fachleuten überlassen werden sollte oder ob es nicht vielmehr uns alle angeht.

1.5

Gleichzeitig äußerten viele europäische Wirtschaftstreibende aber ihre Besorgnis darüber, dass die Europäische Union — und insbesondere die Kommission — offensichtlich gewillt sind, im Bereich des Umweltschutzes auf internationaler Ebene im Alleingang vorzupreschen und die Vorreiterrolle zu übernehmen.

1.6

Die Absicht, das Kioto-Protokoll umzusetzen, auch wenn es von den wichtigsten Wettbewerbern nicht ratifiziert würde, ließ mancherorts in europäischen Wirtschaftskreisen die Emotionen hoch gehen. Man sah darin eine gefährliche Naivität, die der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft, die dem steigenden Wettbewerbsdruck auf den globalen Märkten standhalten müsse, massiven Schaden zufügen könne. Andere waren der Ansicht, dass die Ziele von Kioto dazu beitragen könnten, zu einer größeren Effizienz bei den Herstellungsverfahren, der Kostenreduzierung, der Schonung von Energie- und Rohstoffressourcen und so zu einem Anstieg der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit Europas zu gelangen. Es ist demnach eine Diskussion im Gange, die durch konkrete Beispiele untermauert werden sollte.

1.7

Die chemische Stoffe verarbeitende Industrie wiederum war wegen des Vorschlags für die Registrierung, Bewertung und Zulassung chemischer Stoffe (REACH) besorgt, wobei insbesondere die Studie zur Folgenabschätzung der Kommission heftig kritisiert wurde.

1.8

Die hier geäußerte Besorgnis und Kritik darf nicht einfach vom Tisch gewischt werden. Sie richtet sich nicht gegen die Prinzipien und die Umweltpolitik per se. Sie rührt vielmehr von der Überzeugung her, dass es einen Widerspruch gibt zwischen den notwendigen Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum und für Beschäftigungszuwachs sowie der derzeitigen Praxis einerseits und den Umweltschutzbestrebungen andererseits, die sich in einer die Realität des wirtschaftlichen Wettbewerbs verleugnenden Überregulierung niederschlagen. Die Geringschätzung der entsprechenden Mechanismen, der Prozessentwicklung und der Strategien für deren Umsetzung sowie das schlechte Management in diesem Bereich scheinen die Ursachen der Probleme zu sein.

1.9

Gleichzeitig münzen aber manche Unternehmen, darunter auch sehr große, sowie ganze Wirtschaftszweige die Berücksichtigung der nachhaltigen Entwicklung in einen der entscheidenden Erfolgsfaktoren ihrer Unternehmensstrategie um. So meinte etwa der Vorstandsvorsitzende des französischen Unternehmens Veolia Environnement anlässlich einer von der Regierung einberufenen Konferenz, dass das Engagement eines Unternehmens im Bereich der nachhaltigen Entwicklung nicht nur die Unternehmenstätigkeit gegenüber der Zivilgesellschaft legitimiere, sondern auch ein immer wichtigerer Faktor im globalen Wettbewerb werde und zunehmend ausschlaggebend für die Attraktivität für Investoren sei. Dieses Konzept ist heutzutage in Wirtschaftskreisen allgemein akzeptiert.

1.10

Der Dialog zu diesem Thema ist also bereits im Gange. Er wird engagiert und quer durch alle gesellschaftlichen Schichten geführt, insbesondere von den Wirtschaftstreibenden, den Sozialpartnern und den Umweltschutzorganisationen. Die zu beantwortende Frage lautet also: Wird durch die Berücksichtigung von Umweltschutzerfordernissen nur die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen geschmälert, oder kann sie auch eine Chance für die Entwicklung neuer Berufsfelder und Technologien sowie für die Erschließung neuer Märkte darstellen?

1.11

Die öffentliche Meinung, die Regierungen, die Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Verbraucher und die Umweltschutzorganisationen dürfen sich nun nicht mehr mit theoretischen Diskussionen und Absichtserklärungen zufrieden geben, die keinerlei konkrete Auswirkungen auf die Praxis haben. Jetzt bedarf es präziser Analysen und konkreter Projekte, denn Politik ist die Kunst des Machbaren, selbst wenn ihr ein Ideal vorschweben muss, das ihr Sinn verleiht. Ein gutes Beispiel für diesen Ansatz liefert die europäische Papierindustrie mit ihrer nachhaltigen Entwicklungsstrategie.

2.   Umweltschutz, eine wirtschaftliche Chance?

2.1

Zur Beantwortung dieser Frage muss zunächst geklärt werden, ob einerseits die Entwicklung bestimmter Wirtschaftszweige nicht mit der Existenz einer intakten natürlichen oder ererbten Umwelt verknüpft ist und ob andererseits Umwelttechnologien tatsächlich geeignet sind, einen entscheidenden Beitrag zur Erreichung der in der Lissabon-Strategie festgelegten Ziele für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu leisten. Auch auf die Frage nach einem negativen Einfluss der Umweltschutznormen und -auflagen auf das Wirtschaftswachstum und die Wettbewerbsfähigkeit — und damit auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze — muss eine ehrliche Antwort gegeben werden.

2.2

Offensichtlich hängt der Tourismus- und Freizeitsektor von der Existenz einer intakten Umwelt ab. Es gibt ganze Regionen ja Staaten in Europa, deren wirtschaftliche und soziale Entwicklung weitgehend vom Tourismus abhängt. Eine intakte Umwelt ist eine unverzichtbare Voraussetzung für das Gleichgewicht in den betroffenen Gesellschaften. Verunstaltete Landschaften, Städte, die durch ein Übermaß an Immobilienspekulation verwüstet wurden, eine zerstörte Natur und verschmutzte Meere riefen und rufen noch stets unaufhaltsame wirtschaftliche Katastrophen hervor. Das gleiche gilt für Bereiche wie Fischfang, Landwirtschaft, ja sogar für die Jagd. Im Hinblick auf die Umwelttechnologien muss geprüft werden, ob sie zu mehr Wachstum und Innovation beitragen können, und es müssen Mittel und Wege gefunden werden, um ihre Entwicklung und Verbreitung zu fördern, ohne dass dabei der Wettbewerb verfälscht wird.

2.3

Angesichts des legitimen Strebens der Völker in den Entwicklungsländern nach einer mit unserer vergleichbaren Lebensweise bedarf es einer regelrechten technologischen Revolution, um der Verknappung der natürlichen Ressourcen und dem gesteigerten Druck auf die Umwelt zuvorzukommen, die entstehen würden, wenn diese Länder sich unter den heutigen technischen und wirtschaftlichen Bedingungen entwickelten. Nur weitreichende Innovationen können dazu beitragen, diese Problematik in den Griff zu bekommen, die in der Praxis bedeutet, dass 80 Prozent der Weltbevölkerung denselben Lebensstandard anstreben, der derzeit den wohlhabendsten 20 Prozent vorbehalten ist. Es ist also undenkbar, den Status quo, der in der Zukunft fatale Auswirkungen zeitigen würde, aufrechterhalten zu wollen. Gleichzeitig muss man sich jedoch auch vor Überreaktionen angesichts allzu pessimistischer Prognosen hüten. Es gibt eine Reihe von Erscheinungen (Abschmelzen der Gletscher, Bedrohung der Artenvielfalt, Zerstörung des Regenwaldes, Flutkatastrophen etc.), die auf eine globale Veränderung der Umwelt hindeuten und für die sowohl natürliche Ursachen als auch menschliches Handeln verantwortlich sind. Maßnahmen zur Reduzierung der negativen Auswirkungen auf die Umwelt, z.B. die Bekämpfung des sauren Regens durch Technologien zur Eindämmung des Schwefelausstoßes, haben in besonderem Maße zur Verhütung des Waldsterbens in Europa beigetragen. Rechtzeitige Warnungen von Seiten der Umweltschützer haben — obwohl sie mitunter überzogen waren — häufig dazu geführt, dass Regierungen und Bürger aktiv wurden. Alle Beteiligten müssen ein Interesse daran haben, weiterhin an ausgewogenen Entwicklungen im vorbeugenden Umweltschutz zu arbeiten.

2.4

Neben den Technologien im Bereich der Industrieproduktion, an die natürlich zuerst gedacht wird, müssen auch jene im Bereich der Landwirtschaft, des Verkehrs und der Energieerzeugung, deren Einfluss auf die Umwelt und die Volksgesundheit nicht zu unterschätzen ist, berücksichtigt werden. Auch in diesen wichtigen Wirtschaftsbereichen sind Innovationen und Umwelttechnologien vonnöten.

2.5

Fortschritt und Wandel im Bereich der Wissenschaft und Technik haben naturgemäß Auswirkungen auf der sozialen Ebene. Dasselbe gilt für alle Neuerungen im Bereich der Umwelttechnologien, besonders wenn sie herkömmliche Technologien ersetzen sollen, die zwar bewährt sind, dem Umweltschutz aber nur in geringem Maße Rechnung tragen. Es ist notwendig, diesen Veränderungen — insbesondere durch Maßnahmen im Bereich der Aus- und Fortbildung — rechtzeitig vorzugreifen. Die richtigen und entsprechend konzipierten Instrumente und Verfahren vorausgesetzt, darf Umweltschutz nicht als etwas angesehen werden, was die Arbeitslosenzahl ansteigen lässt und der Deindustrialisierung Vorschub leistet. Es muss einen ständigen Dialog zwischen denen, die die Umweltschutzgesetze erlassen, und den Vertretern der wirtschaftlichen und sozialen Kräfte geben, um die Auswirkungen der geplanten Maßnahmen auf die Wirtschaftstätigkeit und den Arbeitsmarkt abzuschätzen und gegebenenfalls negative Folgen vorherzusehen und entsprechend auszugleichen.

2.6

Wir stehen also vor einer großen Herausforderung im Technologiebereich. Ist der politische Wille dazu vorhanden, so ist Europa dank seines wissenschaftlichen und technischen Know-hows dazu in der Lage, bei der Entwicklung maßgebender Umwelttechnologien eine Pionierrolle zu spielen. Umweltschutz mag zwar seinen Preis haben; es stellt sich jedoch die Frage, ob dieser Preis nicht geringer ist als der, den wir zu bezahlen hätten, blieben wir untätig.

3.   Was versteht man unter dem Begriff „Umwelttechnologien“?

3.1

In der Praxis lassen sich zwei Arten von Umwelttechnologien unterscheiden:

Umwelttechnologien, die zu einer Verbesserung technischer Abläufe oder der Herstellungsverfahren beitragen, indem sie diese „sauberer“ und „umweltfreundlicher“ machen. In diese Kategorie gehören zum Beispiel Katalysatoren, Schadstofffilter in den Schornsteinen von Industrieanlagen oder Methoden zur Steigerung der Energieeffizienz.

Technologische Innovationen, die bereits von ihrer Konzeption her Umweltschutzprinzipien und die nachhaltige Entwicklung berücksichtigen. Hier sind etwa Windkraftwerke, Kraft-Wärme-Kopplung, Brennstoffzellen, Leuchtdioden (LED) u.a. zu nennen.

3.1.1

Die Grenze zwischen einer Technologie, die Umweltschäden vorbeugt, und jener, die Umweltschäden behebt, ist nicht leicht zu ziehen. Die angemessenen und nützlichen Prinzipien der integrierten Produktpolitik (IPP) (1) und der Richtlinie zur integrierten Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (IVU) (1) vereinen in sich, übereinstimmend mit der Strategie für eine nachhaltige Entwicklung, sowohl ein Vorgehen zur Schadensbehebung als auch das Bemühen um eine Schadensvermeidung. Die Überlegungen bezüglich der Entwicklung von Produkten unter Berücksichtigung ihres gesamten Lebenszyklus führen dabei zu einer Einführung von Technologien, die dem Bemühen um die Gewährleistung einer nachhaltigen Entwicklung stärker gerecht werden.

3.2

Es muss betont werden, dass beide Arten von Technologien positive Auswirkungen auf die Umwelt haben und zum Wirtschaftswachstum und der Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen können.

3.3

Darüber hinaus sei erwähnt, dass der EWSA wiederholt darauf hingewiesen hat, dass die „Umweltindustrie“ in ihrer Gesamtheit betrachtet werden müsse und die Herausforderung u.a. auch darin bestehe, schrittweise alle Herstellungsverfahren und Produkte in Hinblick auf deren Umweltfreundlichkeit und die effiziente Nutzung von Ressourcen zu verbessern (2).

3.4

Es lassen sich vier Arten von Umwelttechnologien unterscheiden: Technologien zur Verfahrensbeendigung, integrierte Technologien, progressive Technologien und radikale Innovationen (zum Beispiel die chlorfreie Chemie). Es wird häufig die Meinung geäußert, dass die integrierten und radikalen Technologien langfristig Wettbewerbsvorteile nach sich ziehen können. Die Schwierigkeit besteht darin, dass auf stark umkämpften Märkten die Unternehmen nicht immer die Möglichkeit haben, sich für langfristige Maßnahmen zu entscheiden. Sie wenden sich eher progressiven Verfahren zu, die jedoch eine weite Verbreitung von verbesserten Umweltschutzmaßnahmen im Rahmen der normalen Investitionszyklen gewährleisten.

3.5

Die Fortschritte bei der ökologischen Effizienz, die von der Industrie und vom Dienstleistungsgewerbe erzielt wurden und weiterhin erbracht werden, zeitigen eine zunehmende tatsächliche Verbesserung des Umweltschutzes. Dennoch bewirkt das Wirtschaftswachstum, besonders in den Schwellenländern, dass allen technologischen Fortschritten zum Trotz der Druck auf die Umwelt und die natürlichen Ressourcen stetig anwächst.

4.   Stellen die Umweltschutzerfordernisse ein Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung dar?

4.1

In den letzten 30 Jahren entwickelte sich eine differenziertere Bewertung der unterschiedlichen Wachstumsfaktoren als noch zur Zeit des Wirtschaftswunders; dabei stellte sich heraus, dass die Fähigkeit eines Unternehmens, zum Wohle seiner Kunden und seiner Mitarbeiter sowie zum Schutz der Umwelt innovativ zu wirken und dabei die Qualität seiner Produkte und Herstellungsverfahren zu sichern, der beste Garant für den Bestand dieses Unternehmens — und damit auch für die Interessen seiner Aktionäre — ist.

4.2

Noch vor der Ausarbeitung gesetzlicher Regelungen bezüglich der nachhaltigen Entwicklung engagierte sich eine steigende Zahl von Unternehmen in diesem Sinne und machte ihre Aktivitäten sowie die hierbei erzielten Ergebnisse publik; dabei wurde ihnen von Seiten der Kunden, der Zivilgesellschaft, der Märkte und der öffentlichen Meinung wachsende Aufmerksamkeit zuteil.

4.3

Der aufgrund der Globalisierung der Wirtschaft stark gestiegene Wettbewerbsdruck hat dazu geführt, dass heute auch die Qualität der Umwelt und das soziale Gleichgewicht entscheidende Faktoren für die Attraktivität eines Standorts — sowohl für die Mitarbeiter als auch für die Investoren — sind. Es ist unabdingbar, dass diese Faktoren im Rahmen der Verhandlungen der WTO gebührend Berücksichtigung finden.

4.4

Es kann also zu Recht gesagt werden, dass die Leistungen eines Unternehmens auf dem Gebiet der nachhaltigen Entwicklung immer mehr den Ausschlag geben, wenn es darum geht, sich im internationalen Wettbewerb zu behaupten und Kapital anzuziehen.

4.5

Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass der Umweltschutz keineswegs — wie häufig vorschnell behauptet wird — generell ein Hindernis für die Wettbewerbsfähigkeit und das Wirtschaftswachstum darstellt. Der Markt hat bereits auf zahlreiche, durch die Gesetzgebung vorgegebene Herausforderungen bezüglich des Umweltschutzes reagiert; Beispiele dafür sind die Anforderungen in Bezug auf die Wasserqualität und die Abfallbehandlung. In beiden Bereichen haben die Umwelttechnologien eine kontinuierliche Entwicklung zu verzeichnen. Als wirtschaftliche Antwort auf diese Herausforderungen haben die Dienstleistungsunternehmen im Bereich Umweltschutz Arbeitsplätze geschaffen und gesichert. Die Zahl der in der Abfallwirtschaft Beschäftigten beispielsweise beläuft sich in Frankreich auf etwa 300 000.

4.6

Das Bemühen, sparsam mit den natürlichen Ressourcen umzugehen, kommt durch technische Innovationen zum Ausdruck, die mit einer sparsamen Bewirtschaftung und einer Kostenreduzierung einhergehen. So hat die Papierindustrie in den letzten Jahren beispielsweise ihren Wasserverbrauch beträchtlich gesenkt. Noch vor 15 Jahren waren etwa Hundert Kubikmeter Wasser nötig, um eine Tonne Papier herzustellen, heute reichen dazu im Durchschnitt 48 m3 aus, wobei die dabei anfallende Schadstoffmenge um bis zu 90 % gesenkt werden konnte — ein Gewinn für die Umwelt, ein Vorteil aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht.

4.7

Wie bereits festgestellt, hängt die Tourismus- und Freizeitbranche zu einem großen Teil von einer intakten natürlichen und ererbten Umwelt ab. Umweltschutzmaßnahmen sind in diesem Fall kein Hindernis, sondern die erste Voraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliche Entwicklung. Schließlich ist der Tourismus ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union: In Spanien beispielsweise betrugen im Jahre 2003 die Einnahmen aus dem Tourismus 41,7 Mrd. $, in Frankreich 36,6 Mrd. $, in Italien 31,3 Mrd. $, in Deutschland 23 Mrd. $, in Großbritannien 19,4 Mrd. $, in Österreich 13,6 Mrd. $ und in Griechenland 10,7 Mrd. $. Es muss indes erwähnt werden, dass im Zusammenhang mit den Umweltzielen auch Widersprüche auftreten können. So kann der Landschafts- und Umweltschutz durch die Errichtung von Windparks gefährdet werden. Tatsache ist jedoch, dass der Tourismus in vielen europäischen Staaten in erheblichem Maße für deren ausgeglichene Zahlungsbilanz verantwortlich ist, Arbeitsplätze schafft und es sich hierbei per definitionem um eine Tätigkeit handelt, die nicht ausgelagert werden kann.

4.8

Allerdings müssen sich die gesetzlichen Regelungen im Bereich des Umweltschutzes immer nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit richten. Es muss vermieden werden, dass die wirtschaftlichen Kosten der gesetzgeberischen Maßnahmen den für die Gesellschaft und den Umweltschutz erwarteten Nutzen übersteigen. Dem EWSA ist die Schwierigkeit entsprechender Berechnungen durchaus bewusst: Was kostet beispielsweise die menschliche Gesundheit? Es versteht sich von selbst, dass ein echtes Gleichgewicht zwischen den Kosten einer Umweltschutzmaßnahme und den Kosten der vermiedenen Schäden bestehen sollte. Gleichzeitig muss die Umsetzung der gesetzgeberischen Maßnahmen für alle Betroffenen auch tatsächlich durchführbar sein. Ließe man diese Aspekte außer Acht, so erzielte man möglicherweise das Gegenteil des gewünschten Effekts: Die Gesetze wären aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen sowie aufgrund des Widerstands seitens der Verbraucher kaum anwendbar.

4.8.1

Ein interessantes Beispiel sind die Unternehmen des Automobilsektors, die unter sehr eingeschränkten Bedingungen agieren müssen und deren Handlungsspielraum wegen des massiven Konkurrenzdrucks und des Verhaltens der Verbraucher, für die der Umweltaspekt im Gegensatz zum Preis, der Ausstattung und der Sicherheit zweitrangig ist, stark eingeengt ist. Unter diesen Bedingungen geht die Einführung von Umweltschutztechnologien schrittweise vonstatten, mehr durch allmähliche Verbesserungen als durch technologische Revolutionen, die heutzutage zu kostspielig sind, um einen wirklichen Absatzmarkt zu finden. Das Hybridfahrzeug Toyota Prius mit Benzin-/Elektroantrieb freilich ist ein gutes Beispiel für die Änderung des Kundenverhaltens; die Produktion musste kürzlich um 50 % gesteigert werden, um der weltweiten Nachfrage zu begegnen. Im Vergleich zur weltweiten Automobilherstellung fällt diese Nachfragesteigerung in absoluten Zahlen zwar nicht weiter ins Gewicht, nichtsdestotrotz ist dies eine vielversprechende Entwicklung.

4.8.2

Der Fall der Rußpartikelfilter ist in diesem Zusammenhang von Interesse. Dieselmotoren produzieren im Vergleich zu Benzinmotoren 25 % weniger CO2-Gase, stoßen jedoch gesundheitsschädliche Rußpartikel aus. Die Mehrkosten für einen Partikelfilter belaufen sich auf etwa 500 Euro (5-10 % der Kosten eines Kleinfahrzeugs). Die Automobilhersteller stehen, solange die Rußfilter nicht gesetzlich vorgeschrieben sind, vor der Wahl, sie fakultativ anzubieten oder serienmäßig einzubauen und damit ihre Marge zu reduzieren, da eine Anhebung des Preises sich unter den gegebenen Marktbedingungen als schwierig erweisen würde. In der Praxis entschieden sich 90 % der deutschen Kunden für den Rußpartikelfilter, während im restlichen Europa diese Zahl bei nur 5 % lag! Einige Automobilhersteller (3) entschieden sich demnach, ihre Fahrzeuge schrittweise mit dem Filter auszustatten und auf einen Teil ihrer Marge zu verzichten, aber es versteht sich von selbst, dass so nicht auf unbegrenzte Zeit verfahren werden kann, vor allem angesichts einer sehr lebhaften internationalen Konkurrenz. Der serienmäßige Einbau des Partikelfilters wird sich durchsetzen, aber in Schritten, die der Kaufkraft der Kunden Rechnung tragen, besonders wenn es um kleine Fahrzeuge geht.

Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie Märkte für Umwelttechnologien entstehen: entweder dadurch, dass sich beim Verbraucher ein Bewusstsein durchsetzt, er also in der Investition einen Nutzen für sich oder seine Umwelt erkennt, oder aber durch gesetzgeberische Maßnahmen. Ein Großteil der bisherigen Erfolge im Umweltschutz ist auf die einschlägige Gesetzgebung zurückzuführen, wobei gerade der Automobilbereich ein gutes Beispiel hierfür ist (vgl. u.a. die Einführung des 3-Wege-Katalysators).

4.8.3

In dieser Branche gibt es weitere Möglichkeiten für umwelttechnologische Innovationen: Fahrzeuge mit elektronischer Anfahrtsphase, Verbesserung der Wiederverwertung von Fahrzeugen, Lärmbekämpfung, Erhöhung der Sicherheit. Die wichtigste Frage bleibt nach wie vor die nach den Kosten für diese Technologie.

4.8.4

Als Schlussfolgerung aus dem Beispiel des Automobilsektors ist festzuhalten, dass Umwelttechnologien nur dann weite Verbreitung finden, wenn sie wirtschaftlich lebensfähig sind, das heißt: Um effizient zu sein, muss eine kritische Masse erreicht werden. Die Einführung von Umwelttechnologien wird in der Praxis auf einem stark umkämpften Markt allmählich und kontinuierlich vonstatten gehen. Es ist daher notwendig, fundierte, wissenschaftlich untermauerte Studien zur Folgenabschätzung anzustellen, wobei nicht nur die Umwelt- und Marktbedingungen in der EU zu untersuchen sind, sondern auch die internationale Situation Berücksichtigung finden muss.

4.8.5

Ein weiteres Beispiel dafür, wie wichtig es ist, der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen, ist die Problematik im Bereich der verarbeitenden Industrie, also der Metall-, Chemie, Zellstoff- und Papierindustrie. Diese Industriezweige sind einem massiven internationalen Konkurrenzdruck ausgesetzt, gleichzeitig haben deren Herstellungsverfahren besonders starke Auswirkungen auf die Umwelt. Vergleichende Untersuchungen zeigen, dass die Produktion dieses Wirtschaftssektors in der EU in der Regel sehr umweltfreundlich ist, d.h. der Rohstoff- und Energieverbrauch sowie der Schadstoffausstoß so gering wie aufgrund der eingesetzten Produktionsverfahren nur möglich sind. Für diese Wirtschaftszweige gelten die strengsten gesetzlichen Umweltschutzauflagen der Welt. Für den Umweltschutz können bessere Ergebnisse erzielt werden, wenn schrittweise in die neuesten und effizientesten Technologien investiert wird, was voraussetzt, dass die Unternehmen auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig sind. Entscheidend ist daher, dass Anforderungen an die Unternehmen im Bereich des Umweltschutzes immer mit der technischen Entwicklung und den Investitionszyklen des jeweiligen Wirtschaftszweiges Hand in Hand gehen. Sollten zu schnell zu hohe Anforderungen gestellt werden, so könnten die sich daraus ergebenden zusätzlichen Kosten oder das Fehlen einsetzbarer technischer Lösungen die Wettbewerbsfähigkeit und damit die Weiterführung der europäischen Produktionsstätten dieser Unternehmen gefährden.

5.   Wie kann zur Entwicklung innovativer Umwelttechnologien beigetragen werden?

5.1

Versteht man unter innovativen Umwelttechnologien, dass diese bereits von ihrer Konzeption her auf den Umweltschutz und eine effizientere Nutzung der Ressourcen abzielen und damit im Gegensatz zu althergebrachten Technologien stehen, so muss man zugeben, dass diese noch in den Kinderschuhen stecken.

5.2

Davon abgesehen weist die Situation hinsichtlich der einzelnen Umwelttechnologien starke Unterschiede auf. Windkraftwerke und die Wärme-Kraft-Kopplung sind heutzutage bereits dank der Unterstützung des Marktes durch eine sehr vorteilhafte Gesetzgebung eingehend erprobt und befinden sich bereits in der Phase der industriellen Produktion, werden aber auch künftig nur eine Ergänzung zu den anderen Formen der Energiegewinnung darstellen können. Leuchtdioden (LED) hingegen wurden erst vor kurzer Zeit auf den Markt gebracht, wo sie aber gut aufgenommen wurden und angesichts des technischen Fortschritts in diesem Bereich auch in Zukunft Erfolg haben dürften. So wird der 480 m hohe Oriental Pearl Tower in Schanghai nachts anhand dieser von einem europäischen KMU (4) entwickelten Technologie mit Leuchtdioden, die ein chinesisches Unternehmen (5) herstellt, beleuchtet. An anderen Verfahren, wie zum Beispiel an der Membrantechnologie im Bereich der Abwasserbehandlung, wird in den Forschungslabors derzeit noch gearbeitet. Daneben gibt es weitere Umwelttechnologien, die zwar anwendbar und nützlich sind, deren praktischer Einsatz jedoch nach wie vor stark beschränkt ist.

5.3

Um diese komplexe Situation handhaben zu können, bedarf es geeigneter Instrumente sowohl für die Finanzierung als auch für den Informationsaustausch und die Vernetzung sowie geeigneter gesetzlicher und steuerlicher Regelungen. Auch eine klare Bewertung der einzelnen Technologien bezüglich ihrer Machbarkeit und Nützlichkeit ist wichtig, um nur jene finanziell zu fördern, die tatsächlich vielversprechend sind.

5.4

Die zur Verfügung stehenden finanziellen, steuerlichen und gesetzgeberischen Instrumente müssen entsprechend der Entwicklungsphase, in der sich die betreffende innovative Umwelttechnologie befindet, gewählt werden:

Mittel für Forschung, Machbarkeitsstudien und Unternehmensinkubatoren,

Risikokapital für Start-ups,

klassische Darlehen oder zinsvergünstigte Kredite in der Produktentwicklungsphase,

steuerliche Anreize zur Marktkonsolidierung,

Öko-Steuern, um weniger umweltfreundliche Technologien bei Vorhandensein von „sauberen“ Alternativen unattraktiver zu machen und die Forschung im Umweltbereich zu fördern.

Ein Markt für Treibstoffe landwirtschaftlichen Ursprungs (Biodiesel), deren Herstellung kostenintensiver ist als die der Produkte aus fossilen Brennstoffen, konnte sich in Frankreich beispielsweise nicht entwickeln, weil sie in demselben Maße wie herkömmliche Treibstoffe besteuert werden. Zur Ankurbelung von Herstellung und Verwendung solcher Treibstoffe könnte entweder für sie eine vorteilhaftere Besteuerung eingeführt oder aber in einem gewissen Verhältnis eine Mischung mit herkömmlichen Brennstoffen vorgeschrieben werden. Hier geht es darum, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den wirtschaftlichen Kosten, den vermiedenen Nachteilen und dem ökologischen Nutzen herzustellen.

5.5

Darüber hinaus müssen Netzwerke zum Informationsaustausch über vorbildliche Praktiken und umwelttechnologische Innovationen aufgebaut werden. Diese Informationsquellen sind sowohl für Unternehmer als auch die öffentliche Hand von besonders großer Bedeutung, da ihnen damit bei der Wahl zwischen herkömmlichen, erprobten Technologien, die deshalb auf den ersten Blick vertrauenswürdiger erscheinen, und jenen neuen umweltfreundlichen, die jedoch weniger bekannt und getestet sind, eine zuverlässige und fundierte Entscheidungshilfe an die Hand gegeben wird.

5.6

Noch wichtiger wird ein derartiges Informationsnetzwerk dann, wenn die Vergabe von Aufträgen der öffentlichen Hand gezielt zur Verbreitung und Förderung von Umwelttechnologien eingesetzt werden soll. Obgleich dem öffentlichen Auftragswesen selbstverständlich ausreichend Bedeutung beizumessen ist, darf jedoch auch die Rolle der Privatunternehmen, die schneller und flexibler handeln können, keinesfalls vernachlässigt werden. Schon jetzt fordern manche Firmen von ihren Zulieferern die Einhaltung des Prinzips der nachhaltigen Entwicklung, nehmen in die Verträge mit diesen Betrieben vermehrt entsprechende Klauseln auf und bieten ihren Kunden Schulungen zu diesem Thema an.

5.7

Schließlich müssen auch die Vergabe von Öko-Siegeln sowie alle verfügbaren Preis- und Prämierungssysteme zur Förderung und Verbreitung von Umwelttechnologien eingesetzt werden.

5.7.1

Unter der finnischen Ratspräsidentschaft wurden 1999 Überlegungen über eine europäische Vision für Qualität initiiert und im Laufe des Jahres 2000 unter portugiesischer und französischer Präsidentschaft fortgeführt. Aus ihnen ging die Veröffentlichung eines wichtigen Dokuments unter der Federführung der europäischen Organisation für Qualität hervor. Einige der damals angestellten Überlegungen könnten im Hinblick auf die Umwelttechnologien nutzbringend wieder aufgegriffen werden.

6.   Umweltschutz geht uns alle an

6.1

Aus dem Umweltschutz eine echte Chance für die Wirtschaft zu machen, ist nicht nur Sache von Umweltfachleuten. In so wichtigen Wirtschaftszweigen wie der Tourismus- und Freizeitindustrie ist er bereits ein grundlegender Faktor. Bezüglich der Umweltschutztechnologien liegt der Schlüssel zum Erfolg in der Schaffung eines reellen Marktes für Umwelttechnologien und in der Wandlungsfähigkeit der Unternehmen. Es wäre nötig, die freiwilligen Initiativen, die in Sachen technologischer Innovation und Umweltschutz von Unternehmen oder Fachkreisen unternommen werden, besser zur Geltung zu bringen.

6.2

Führt der Einsatz von Umwelttechnologien durch den geringeren Energie- und Rohstoffverbrauch zu einer tatsächlichen Senkung der Produktionskosten, verhilft er dem Unternehmen und seinen Produkten zu einem besseren Image, steigert die Verkaufszahlen und senkt die Umweltkosten, so wird er damit für die Betriebe zweifelsohne interessant und entwicklungsfähig. Grundvoraussetzung dafür ist jedoch, dass sie diese Technologien kennen und deren Effizienz richtig einschätzen können. Dies ist ein weiteres Argument für die Notwendigkeit, ein Netzwerk für den Informationsaustausch über vorbildliche Praktiken und umwelttechnologische Innovationen einzurichten, an dem sich staatliche Einrichtungen, Berufsverbände sowie Forschungs- und Technologiezentren beteiligen könnten.

6.3

Es bedarf hier des Engagements der Unternehmer und der Berufsverbände. Jenes der Kunden und Verbraucher ist jedoch nicht weniger wichtig, gäbe es doch ohne sie keinen Markt für umweltfreundliche Produkte. Es muss also gelingen, ein durch alle Bevölkerungsschichten gehendes Bewusstsein für die umweltspezifische und produktionstechnische Überlegenheit von Umwelttechnologien zu schaffen; andernfalls bleiben diese eine sympathische Randerscheinung der wirtschaftlichen Entwicklung, die ohne sie weiterläuft.

6.3.1

Es ist unabdingbar, dass die Umweltpolitik ihren wirtschaftlichen Einfluss zur Geltung bringt, wie auch die Wirtschaftspolitik die Umweltbelange berücksichtigen muss. In gewisser Weise müssen sie interaktiv sein, denn es kann sich kein Erfolg einstellen, wenn nicht die wirtschaftliche Durchführbarkeit und die positiven Auswirkungen der genannten Politiken auf die Umwelt berücksichtigt werden.

6.3.2

Des Weiteren müssen die sozialen Auswirkungen der Umweltschutzmaßnahmen und der Einführung von Umwelttechnologien möglichst frühzeitig berücksichtigt werden, damit die notwendige berufliche Fortbildung für das Personal, das sie in die Tat umsetzen soll, unter den besten Bedingungen und ohne die Gefährdung von Arbeitsplätzen vonstatten geht.

6.4

Durch die zunehmende Modernisierung und das dynamische Wirtschaftswachstum in den bevölkerungsreichsten Ländern wird die Entwicklung von effizienten Umwelttechnologien in großem Maßstab zu einem sehr wichtigen Faktor. Es bedarf neuer Konzepte für die wirtschaftliche, soziale und umweltpolitische Entwicklung, die auch in der Praxis umgesetzt werden müssen. Durch ihre besonderen Kompetenzen im Bereich der Umwelttechnologien könnte die Europäische Union der bevorzugte Partner der Entwicklungsländer sein und von den Möglichkeiten der Entwicklung neuer Märkte profitieren.

6.5

Die Erforschung und Entwicklung von Umweltschutztechnologien wirkt sich bereits heute vorteilhaft auf die Wirtschaft aus, wobei dieser positive Einfluss künftig noch stärker zum Tragen kommen kann, wie anhand konkreter Beispiele für die Umsetzung fortschrittlicher, integrierter oder auch radikal neuer Technologien erkenntlich ist. Sie ist aber auch eine Notwendigkeit, davon hängt schließlich unser aller Zukunft ab. Niemand hat das Recht — wider besseres Wissen — einfach wegzusehen, denn wir sind verantwortlich für den Zustand, in dem wir unseren Kindern und Kindeskindern den Planeten Erde hinterlassen.

Brüssel, den 28. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  ABl. C 80 vom 30.3.2004.

(2)  ABl. C 32 vom 5.2.2004.

(3)  Beispielsweise PSA Peugeot Citroën und Opel.

(4)  Citélium.

(5)  Shanghai Communication Technology Developments Co Ltd.


ANHANG

zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Der folgende Änderungsantrag, der über ein Viertel der abgegebenen Stimmen als Ja-Stimmen auf sich vereinigte, wurde abgelehnt:

Ziffer 1.8 wie folgt ändern:

„Die hier von einigen Seiten geäußerte Besorgnis und Kritik darf nicht einfach vom Tisch gewischt werden. Sie richtet sich nicht gegen die Prinzipien und die Umweltpolitik per se. Sie rührt vielmehr von der Überzeugung einiger Wirtschaftsbeteiligter her, dass es einen Widerspruch gibt zwischen den notwendigen Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum und für Beschäftigungszuwachs sowie der derzeitigen Praxis einerseits und den Umweltschutzbestrebungen andererseits, die sich in einer die Realität des wirtschaftlichen Wettbewerbs verleugnenden Überregulierung niederschlagen. Die Geringschätzung der entsprechenden Mechanismen, der Prozessentwicklung und der Strategien für deren Umsetzung sowie das schlechte Management in diesem Bereich scheinen die Ursachen der Probleme zu sein.“

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen: 46

Nein-Stimmen: 71

Stimmenthaltungen: 9


20.5.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 120/135


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Modernisierung des Sozialschutzes für die Entwicklung einer hochwertigen, zugänglichen und zukunftsfähigen Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege: Unterstützung der einzelstaatlichen Strategien durch die offene Koordinierungsmethode“

(KOM(2004) 304 endg.)

(2005/C 120/25)

Die Kommission beschloss am 20. April 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu der obenerwähnten Mitteilung zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 22. September 2004 an. Berichterstatter war Herr BRAGHIN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 412. Plenartagung am 27./28. Oktober 2004 (Sitzung vom 28. Oktober) mit 104 Ja-Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Wesentlicher Inhalt der Mitteilung

1.1

Diese im Frühjahrsbericht 2004  (1) angekündigte Mitteilung soll zur Festlegung eines gemeinsamen Rahmens beitragen, um die einzelstaatlichen Bemühungen um Reform und Entwicklung der Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege durch Anwendung der „offenen Koordinierungsmethode“ zu unterstützen.

1.2

Die Kommission hat drei Prinzipien (2) ermittelt, die vom Europäischen Rat in Barcelona im März 2002 angenommen wurden und die den Rahmen dieser Reform bilden können: Zugänglichkeit der Versorgung auf den Grundlagen von Universalität, Angemessenheit und Solidarität, Angebot einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung und langfristige Finanzierbarkeit der Versorgung, wobei ein besserer Wirkungsgrad des Systems angestrebt wird.

1.3

Die Anerkennung der Gesundheitsversorgung als Dienstleistung im Sinne des Vertrags sowie die Feststellung fortbestehender Ungleichheiten und Zugangsprobleme, manchmal qualitativ unzureichender Leistungen und finanzieller Unausgeglichenheit haben die Notwendigkeit einer verstärkten Koordinierung der einzelstaatlichen Politiken deutlich gemacht, um die Bemühungen um eine Modernisierung und Entwicklung in diesem Bereich zu unterstützen, wobei die Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt und auf die Beschäftigung sowie die komplexen Folgen der Bevölkerungsalterung berücksichtigt werden.

1.4

Um dies bewältigen zu können, muss die Reform der Sozialschutzsysteme umfassend und koordiniert vorangetrieben werden. Die Gesundheitsversorgung und die Langzeitpflege sind Bereiche, in denen eine „Straffung“ der Koordinierungsprozesse im Sozialschutz angewandt werden muss („Streamlining“) (3): Die „offene Koordinierungsmethode“ ist ein flexibles Instrument, das die unterschiedlichen Gegebenheiten und die einzelstaatlichen Zuständigkeiten respektiert und sich deshalb in diesem Zusammenhang besonders gut eignet (4).

1.5

Die nächsten Schritte sind laut der Mitteilung:

eine Einigung über die „gemeinsamen Ziele im Jahr 2004“. In diesem Zusammenhang sollen die Mitgliedstaaten vor dem nächsten Frühjahrsgipfel „Länderberichte“ über die Herausforderungen vorlegen, die ihr jeweiliges nationales System zu bewältigen hat;

Ausarbeitung einer ersten Reihe von „Entwicklungs- und Reformstrategien“ für die Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege im Zeitraum 2006-2009, die die Kommission im Rahmen des für 2007 vorgesehenen Berichts über Sozialschutz und soziale Eingliederung präsentieren wird;

Bildung einer „Hochrangigen Gruppe für das Gesundheitswesen und die medizinische Versorgung“, deren Hauptaufgabe darin bestehen soll, in Zusammenarbeit mit anderen hochrangigen Gruppen aus verwandten Bereichen ein Arbeitsprogramm zu entwerfen;

Ermittlung möglicher Indikatoren für diese Ziele mit Hilfe der Beiträge aus den „Länderberichten“ vom Frühjahr 2004, um einen ersten Vergleich der verschiedenen einzelstaatlichen Ausgangssituationen anzustellen und deren Fortschritt in Bezug auf die verkündeten Ziele zu messen.

2.   Allgemeine Bemerkungen zu den Hauptproblemen

2.1   Sozioökonomische und demographische Faktoren

2.1.1

Der EWSA bekräftigt seine in vorhergehenden Stellungnahmen bereits zum Ausdruck gebrachte uneingeschränkte Zustimmung zu den gemeinsamen Zielen für die Weiterentwicklung der Gesundheitssysteme, genauer gesagt:

die Sicherung des Zugangs zu einer hochwertigen Versorgung auf der Grundlage von Universalität, Angemessenheit und Solidarität sowie Verhütung des durch Krankheit, Unfall, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit im hohen Alter bedingten Armuts- bzw. Ausgrenzungsrisikos sowohl für die Patienten als auch für ihre Familien;

die Förderung einer hochwertigen Versorgung, um den Gesundheitszustand und die Lebensqualität der Menschen zu verbessern;

die Sicherung der langfristigen Finanzierbarkeit einer hochwertigen und allgemein zugänglichen Gesundheitsversorgung.

Der Ausschuss teilt die Ansicht, dass diese Ziele ein geschlossenes Ganzes bilden und dass die Weiterentwicklung und Rationalisierung der Systeme eine effiziente Verwaltung voraussetzt, die sich auf die Beteiligung und Mitverantwortung der betroffenen Akteure stützt. Dabei müssen die Sozialpartner sowie die ganze Zivilgesellschaft einen Beitrag zu den Reformbemühungen leisten.

2.1.2

Der EWSA hat unter anderem in einer jüngst erarbeiteten Initiativstellungnahme hervorgehoben, dass es von einer Reihe sozioökonomischer und demografischer Faktoren abhängt, ob die nationalen Gesundheitsversorgungssysteme diese Ziele erreichen können. Diese Faktoren müssen näher untersucht werden, um die Komplexität des Problems zu begreifen und Entwicklungstendenzen vorauszusehen, die sich destruktiv auswirken könnten (5).

2.1.3

Derartige Faktoren haben Einfluss auf den Bedarf und auf die gegenwärtig und künftig verfügbaren Ressourcen. Das Ziel einer effizienten Gesundheitsversorgung muss auch deshalb verwirklicht werden, weil Wechselwirkungen mit den anderen Komponenten des Systems der sozialen Sicherheit insofern bestehen, als sie in finanzieller Hinsicht mit den anderen Sektoren des Sozialschutzes konkurriert und ihre Schwächen auf diese durchschlagen und umgekehrt.

2.1.4

Innerhalb der Gesundheitsversorgung selbst herrscht eine ähnliche Konkurrenz um die Ressourcen und es laufen analoge Interaktionsmechanismen ab (beispielsweise kann bei der Ausgabenverteilung die Straffung in einem Sektor die entgegengesetzte Wirkung in einem anderen haben; wird das Personal von einer Struktur in eine andere verlagert, so kann dies die Qualität der Dienstleistungen unvorhergesehen verschlechtern). Derartige Wechselwirkungen müssen bei einer Neuordnung des Versorgungssystems berücksichtigt werden.

2.1.5

Einen Teilbereich des Problems zu behandeln, ohne die Auswirkungen auf die anderen Teilbereiche zu berücksichtigen und ohne die zusammenhängenden Entwicklungstendenzen mehrerer Sektoren zu beobachten, kann nach Auffassung des EWSA wettbewerbsverzerrende Folgen haben oder an den angestrebten Zielen vorbeigehen. Aus diesem Grund befürwortet der Ausschuss eine gemeinsame, umfassende Betrachtung der Probleme, ihrer Interdependenz und der Möglichkeiten, die sich dank gemeinsamer Lösungsstrategien eröffnen können.

2.1.6

Die Gesundheitsversorgung hat einen überaus relevanten sozialen und psychologischen Aspekt: wenn es um die Heilung von Krankheiten und Leiden und die Abwendung einer Lebensbedrohung geht, stellen die Bürger höchste Ansprüche an die Qualität, ohne dabei das Problem des Kosten-Nutzen-Verhältnisses und der Nachhaltigkeit zu berücksichtigen. Daraus resultiert eine heikle Situation für die Politik, da öffentliche Entscheidungsträger Prioritäten setzen und eine leistungs- und zukunftsfähige Gesundheitsversorgung wählen müssen, eine solche Wahl durch Gruppeninteressen und subjektive Sichtweisen erschwert wird, die Maßnahmen zur Neuregelung von Leistungsnachfrage und Leistungsangebot mitunter behindern.

2.1.7

Die Bedürfnisse und Ansprüche der Bevölkerung in puncto Gesundheit — im Rahmen eines umfassend verstandenen Konzepts der Lebensqualität für alle — müssen bei der Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses und der Finanzierbarkeit angemessen berücksichtigt werden. Dadurch werden Entscheidungen bezüglich der Neuordnung des Versorgungswesens nicht nur rationaler und dauerhafter, sondern dies erleichtert auch öffentliche Entscheidungen angesichts der tatsächlichen Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung sowie insbesondere der Kranken und der Versorgungsbedürftigen.

2.1.8

Der EWSA bekräftigt, dass der Gesundheitsschutz ein Recht ist und eine Priorität der EU-Politik darstellt. Er ist jedoch auch der Auffassung, dass für eine langfristige Wahrung dieses Rechts wirksame Instrumente erforderlich sind, damit allen Bürgern gleichwertige, mit den verfügbaren Ressourcen zu vereinbarende Leistungen garantiert werden können. Ferner ist es erforderlich, in einem eingehenden Vergleich zu beleuchten, welche Bedürfnisse und Erwartungen der Bevölkerung im Gesundheitsbereich gerechtfertigt sind und welche Mechanismen der Mitverantwortung der beteiligten Akteure einer angemessenen Nutzung der Ressourcen und einem effizient funktionierenden Gesundheitssystem förderlich sind und folglich seine nachhaltige Finanzierung ermöglichen.

2.2   Bevölkerungsalterung und neue Epidemiologie

2.2.1

Bevölkerungsalterung bedeutet nicht nur, dass der Anteil der über 65-Jährigen an der Bevölkerung zunimmt, und derjenige der über 80-Jährigen noch rasanter ansteigt, was oftmals, aber nicht zwangsläufig mit einer Zunahme von Mehrfacherkrankungen einhergeht, die keine unbegrenzte Erhöhung der Zahl medizinischer Handlungen, sondern eine ganzheitlichere Versorgung der Person zur Folge haben können. Vielmehr hängt die Bevölkerungsalterung auch mit Problemen zusammen, die manchmal außer Acht gelassen werden, die es jedoch zu berücksichtigen gilt:

Die Umkehr der „Bevölkerungspyramide“ wird bei Ausbleiben von Maßnahmen in Bezug auf das rentenfähige Alter zu einem unausgewogeneren Verhältnis zwischen Beitragszahlern (also der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter) und Empfängern nicht nur von Gesundheitsleistungen (insbesondere der älteren Bevölkerung) führen. Deshalb muss vorrangig nach neuen Lösungen für eine Neuausrichtung und „Akkumulatio“n von spezifischen Ressourcen für Leistungen für hilfsbedürftige (6), insbesondere ältere Menschen gesucht werden, ohne die Ressourcen der anderen Pfeiler des Gesundheitsschutzes in Anspruch zu nehmen;

Es findet ein Wandel in der Krankheitstypologie statt, nicht nur in der Häufigkeit ihres Auftretens: Alterskrankheiten sind oft nicht heilbar, können jedoch durch mittel- und langfristige Behandlungen und medizinische und chirurgische Eingriffe, die die negativen Folgen eindämmen sollen, gelindert werden, allerdings ohne dass die Patienten den früheren Gesundheitszustand wiedererlangen. Dies erfordert einen anderen medizinischen Ansatz, in dem „Behandlung“ und „Pflege“ integriert werden können und der Forschung, Arznei- und Diagnosemittel sowie Interventionstechnologien einbezieht. Ein Übergang vom „akuten“ zum „chronischen“ Ansatz ist erforderlich. Dies bedeutet, dass bei der Behandlung medizinischer Probleme langfristig gute Ergebnisse erzielt werden, ohne dass das Problem selbst behoben werden kann;

In Bezug auf die Epidemiologie lässt sich feststellen, dass chronische bzw. lange andauernde Krankheiten immer häufiger auftreten. Dies hängt unter anderem mit der Wirksamkeit der medizinischen Behandlungen zusammen, die zwar keine Heilung gewährleisten können, die Lebenserwartung jedoch beträchtlich erhöhen. Die Folge ist ein zunehmendes Auftreten körperlicher und geistiger Behinderungen, insbesondere von Traumata und neuro-degenerativen Erkrankungen, die eine stärkere Verzahnung zwischen medizinischen und sozialen Leistungen erforderlich machen und den Angehörigen ein beträchtliches Ausmaß an Betreuung abverlangen (7);

Der Gesundheitsbegriff darf sich nicht auf die körperliche Komponente beschränken und muss — wie aus der Definition der WHO (8) hervorgeht — auch die geistigen und sozialen Aspekte berücksichtigen. (Mit anderen Worten muss das Umfeld der älteren Person bewertet und es muss beurteilt werden, inwieweit ihre anderen Bedürfnisse wie Sicherheit, soziale Kontakte, Selbstwertgefühl, Selbstverwirklichung etc. befriedigt werden).

2.2.2

Die Versorgungskette, die sich in Zeiten herausgebildet hat, als die Bevölkerungsstruktur und die Bedürfnisse anders gewichtet waren, muss dahingehend überarbeitet werden, dass die starren und unbeweglichen Organisationsstrukturen, beruflichen Rollenbilder und kulturell bedingten Einstellungen aufgeweicht werden. Nach Auffassung des EWSA ist dies auf der Grundlage einer Analyse des Gesundheitszustands und der Gesundheitsbedürfnisse der Bevölkerung möglich, die von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat, aber auch innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten stark voneinander abweichen. Dabei muss der sich bereits vollziehende demographische Wandel, der sich vertiefen wird, doch bereits weithin absehbar ist, vorausschauend mit in das Kalkül einbezogen werden.

2.2.3

Darüber hinaus müssen Lösungen ausgearbeitet werden, um das Verhältnis zwischen Leistungsangebot und -nachfrage besser regeln zu können, wobei im Rahmen der Versorgungskontinuität und einer systematischen Bewertung der Ergebnisse die Zugänglichkeit der Gesundheitsversorgung und die Befriedigung der Nachfrage beurteilt werden müssen. Ferner ist schwächeren Menschen bei der Nutzung des Angebots Hilfe zu leisten, und eine integrierte Beurteilung des Bedarfs sowie personalisierte Behandlungsmethoden sind sicherzustellen. Die offene Koordinierungsmethode sollte auch solche Aspekte umfassen und folglich einheitlichere Ansätze und verstärkte Mechanismen des sozialen Zusammenhalts fördern.

2.2.4

Der zweite Aspekt des in der Mitteilung genannten demographischen Wandels — die Veränderung der Familienstrukturen und eine höhere Beschäftigungsrate der Frauen — führt dazu, dass von der Familie weniger informelle Betreuung geleistet werden kann. Dies macht ein Überdenken der Modalitäten der häuslichen Pflege erforderlich. Sie darf nicht ausschließlich in die Hände professioneller Dienstleistungserbringer gelegt werden, da dies zu teuer käme und nur schwer Personal zu finden ist; außerdem wäre eine Pflege rund um die Uhr — und vielfach auch eine „menschenwürdige“ Pflege nicht mehr gegeben. Deshalb sind neue politische Maßnahmen zur Unterstützung der Betreuung in der Familie erforderlich, wobei auch Mechanismen zur Entlohnung des jeweiligen Betreuers in Erwägung gezogen werden müssen. Ferner muss die Gewährleistung von angemessenen Wohnverhältnissen, Transportdiensten und anderen, der häuslichen Pflege dienlichen Diensten unterstützt werden.

2.2.5

Die häusliche Pflege wird derzeit auf sehr unterschiedliche Weise durch Kommunalbehörden, Einrichtungen und Mechanismen im Rahmen der Sozialversicherung sowie durch die Träger von personenbezogenen Dienstleistungen gewährleistet. Generell ist festzustellen, dass sie in den einzelnen Mitgliedstaaten noch nicht ausreichend entwickelt ist. Sie muss auf jeden Fall genauer auf die unterschiedlichen Bedürfnisse abgestimmt werden, die aufgrund der Zunahme an Demenzkrankreiten, Nerven- und Gefäßerkrankungen sowie des gleichzeitigen Auftretens mehrerer Erkrankungen bei gleichzeitigem Verlust der Selbstständigkeit entstehen. Dies trifft für mehr als 30 % der über 75-Jährigen zu.

2.2.6

Der EWSA schlägt vor, die bereits gesammelten Erfahrungen einiger Mitgliedstaaten, in denen nicht berufsmäßige Pflegepersonen auf verschiedenste Weise unterstützt werden (beispielsweise durch Steuervergünstigungen, Renten- und Sozialversicherungsansprüche für Pflegende, Recht auf Freistellung von der Arbeit, Bereitstellung einer Vertretung für die Erholungszeiten, Bereitstellung von Tageszentren etc. (9)) zu vergleichen und zu vertiefen.

2.2.7

Langfristig sind derartige Lösungen für die Gesundheitsversorgung kostengünstiger und für die betreute ältere Person zufriedenstellender, da sie ein Zusammenspiel von professioneller und auf gesellschaftlicher Solidarität gegründeter Betreuung und dadurch eine wesentliche Senkung der Versorgungskosten ermöglichen. Sie sind mit anderen Worten für beide Seiten von Vorteil: da diese Kosten bei gleichen Bedürfnissen erheblich höher sind, wenn die Versorgung in Heimstrukturen erfolgt, muss die informelle Betreuung jedenfalls unterstützt werden.

2.3   Beschäftigung

2.3.1

Der Sektor Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege macht einen beträchtlichen Prozentsatz der Gesamtbeschäftigung der Europäischen Union aus und steht — mit 1,7 Mio. neuen Stellen in der EU-15 von 1997 bis 2002 — bei der Schaffung von Arbeitsplätzen an zweiter Stelle. Dennoch zeichnet sich aufgrund der Alterung der Beschäftigten und der Qualität der angebotenen Leistungen eine schwere Beschäftigungskrise ab.

2.3.2

Soll nicht nur die Qualität der Betreuung gewährleistet, sondern auch der Verbleib des Personals im Erwerbsleben gefördert werden, so ist eine Anpassung der beruflichen Struktur bei Ausbildungsmaßnahmen und im Rahmen des lebenslangen Lernens an die neuen Bedürfnisse erforderlich.

Bei der Ausbildung des medizinischen Personals muss ein anderer Ansatz verfolgt werden, der den zahlreichen Faktoren, die die Gesundheit der älteren Menschen beeinflussen, und nicht nur den Symptomen und akuten Eingriffen Rechnung trägt. Die geriatrische Ausbildung muss in diesem Sinne weiterentwickelt werden;

das Pflegepersonal muss die spezifischen Fähigkeiten erwerben, die mit der jeweiligen Struktur, d.h. der Ebene der Versorgungskette, in der sie beschäftigt sind (Intensivpflegedienste, Krankenhaus, Grundversorgung, Langzeitpflege, häusliche Pflege etc.), übereinstimmen;

das Personal im Gesundheitswesen im Allgemeinen muss sich beruflich weiterbilden, um den Horizont von der Sozialfürsorge auf die Sozial- und Gesundheitsversorgung für ältere Menschen zu erweitern, die mehr oder minder auf Dritte angewiesen sind, deren Bedürfnisse und Würde jedoch geachtet werden müssen;

im Rahmen des sozialen Zusammenhalts wird zwischen der Gesundheitsversorgung und der Sozialfürsorge keine eindeutige Grenze gezogen. Die betreffenden Berufsbilder müssen auch in diesem Fall auf eine Bevölkerung zugeschnitten werden, deren Struktur und Zusammensetzung sich stark von der gegenwärtigen unterscheiden.

2.3.3

Nach Ansicht des EWSA müssen neben den vorgenannten Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für die verschiedenen Leistungserbringer folgende neue Fähigkeiten vermittelt werden:

Erhebung, Weitergabe und Austausch von Informationen durch Vernetzung und Nutzung der neuen Informationstechnologien;

Gruppenarbeit, die als solche kommunikative Kompetenzen erfordert, die sich auch auf berufs- und einrichtungsübergreifende Kommunikationsformen erstrecken;

Präventive Arbeit und Förderung neuer, für die entstehenden Bedürfnisse besser geeigneter Ansätze;

Arbeit im Rahmen von Projekten, die auf die Versorgung von spezifischen Bevölkerungsgruppen ausgerichtet sind — über die engen traditionellen Fachgrenzen hinweg;

Ermittlung der wirtschaftlichen Dimension der geleisteten Arbeit und Bewertung der Ergebnisse im Verhältnis zur erbrachten Leistung, um die für diese Leistungen vorgesehenen Ressourcen besser verwalten zu können.

2.3.4

Für die Ausbildungsmaßnahmen befürwortet der EWSA die Inanspruchnahme des Europäischen Sozialfonds — auch um die Qualität der Arbeitsplätze im Bereich der Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege langfristig anzugleichen, dem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben vorzubeugen und die Qualität, die Flexibilität und somit die Effizienz der Versorgungskette zu verbessern. Besonders wichtig ist dieser Ansatz für die neuen Mitgliedstaaten, in denen der Modernisierungsprozess weitreichender ist und schneller vollzogen wird und in denen folglich der Bedarf an beruflicher Ausbildung akuter ist.

2.3.5

Um wirksame Ergebnisse zu erzielen, muss darüber hinaus die Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen und der privaten Gesundheitsversorgung als positiver Ansatz in Erwägung gezogen werden. Eine solche Zusammenarbeit muss angestrebt werden, um nicht nur angesichts eines stetig sinkenden Anteils der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung eine Konkurrenz unter den Dienstleistungserbringern (und die daraus resultierende Gefahr von Personalengpässen und überhöhten Personalkosten) zu vermeiden, sondern auch um innerhalb der Versorgungssysteme sowohl den Aspekt der Effizienz als auch den Aspekt der Bedürfnisse der Menschen in vollem Umfang zu berücksichtigen; von den beiden Sektoren wird offenbar heute nur dem einen oder dem anderen Aspekt Beachtung geschenkt, obwohl doch beide Aspekte denselben Stellenwert haben sollten.

2.4   Langfristige Finanzierbarkeit

2.4.1

Weiterhin hochwertige und zugängliche Gesundheitsleistungen zu bieten, ohne die Finanzierung anderer vorrangiger Sektoren oder Politiken zu beeinträchtigen, ist eine große Herausforderung für alle — alte wie neue — Mitgliedstaaten. Dabei muss sowohl den langfristigen Entwicklungen als auch Maßnahmen, die sich auf das Angebot und die Nachfrage beziehen, Rechnung getragen werden (Maßnahmen, bei denen nur einer der beiden Aspekte berücksichtigt wird, haben sich für die Erzielung mittelfristiger Einsparungen als unwirksam erwiesen).

2.4.1.1

Aufgrund der Ausgabenbeschränkungen, die unter anderem auch auf den Stabilitätspakt zurückzuführen sind, ist es im Allgemeinen nicht möglich, die Versorgungsausgaben proportional zum Anstieg der Nachfrage nach sozialen Leistungen zu erhöhen. Möglich sind jedoch spürbare Verbesserungen, indem das derzeitige Angebot auf erwiesenermaßen wirksame Leistungen konzentriert und die ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen unterbunden wird. Im Sinne einer wirksamen Gesundheitspolitik müssen jedoch auch die Wechselbeziehungen zwischen Gesundheitsversorgung und Sozialfürsorge überdacht werden, um zu Strukturen, Behandlungsverfahren und Leistungsprofilen zu gelangen, die den heutigen und künftigen Anforderungen sowie den Bedürfnissen der Bevölkerung besser gerecht werden.

2.4.1.2

Verschiedene Ansätze zur Eindämmung dieses Anstiegs wurden bereits ausprobiert; sie reichten von der Abwälzung eines Teils der Kosten auf die Nutzer (was nicht nur dazu dient, die Finanzierung auf die Versicherten zu übertragen, sondern auch die Nachfrage nach Leistungen zu reduzieren) bis zur Preis- und Volumenkontrolle sowohl auf der Nachfrage- als auch auf der Angebotsseite, von Reformen zur Förderung einer effizienten Nutzung der Ressourcen bis hin zur Verlagerung der Ressourcen von der Versorgung in Krankenhäusern und durch Pflegeeinrichtungen auf die häusliche Pflege.

2.4.1.3

Mithilfe der angestrebten „offenen Koordinierungsmethode“ wird es möglich sein zu bewerten, welche dieser Maßnahmen am effizientesten sind und mit welcher Mischung von Maßnahmen die besten Ergebnisse erzielt werden können, weil sie den verschiedenen Ausgangsbedingungen und den voraussehbaren Auswirkungen auf die anderen Bereiche des Sozialschutzsystems am ehesten Rechnung tragen.

2.4.2

Präventivmaßnahmen sind sicherlich wichtig und notwendig, doch leider kommen sie oft nicht ausreichend zum Tragen. Konkrete, vorzugsweise weitreichende und mit umfassenden Instrumenten durchzuführende Präventionsmaßnahmen sollten im Rahmen der angekündigten „Entwicklungs- und Reformstrategien“ für die Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege die Hauptstütze bilden. Die verschiedenen möglichen Präventionsmaßnahmen — insbesondere diejenigen, die auf einzelstaatlicher Ebene bereits erprobt wurden — sollten im Rahmen der „offenen Koordinierungsmethode“ geprüft und einer eingehenden Analyse unterzogen werden, um konkrete Aktionen einleiten zu können. Der EWSA ist sich im Klaren darüber, dass die Durchführung einer solchen Prävention schwierig ist, weil sie die noch lange nicht erreichte Kohärenz verschiedener Politikfelder voraussetzt und Projekte beinhaltet, die die Bevölkerung zu einer gesünderen Lebens- und Arbeitsweise (einschließlich einer gesünderen Ernährung und intensiverer körperlicher und geistiger Betätigung) bewegen und insbesondere die den Risikofaktoren am stärksten ausgesetzten und unter sozio-ökonomischen Gesichtspunkten am meisten benachteiligten Bevölkerungskreise einbeziehen sollen. Die Verwirklichung solcher Maßnahmen ist jedoch langwierig und mit erheblichen Anstrengungen verbunden, wobei der Ausgang dennoch unsicher ist.

2.4.3

Die Differenzierung der Ausgaben je nach Versorgungskette, den entsprechenden Zugangsmodalitäten und den jeweiligen Behandlungsmethoden ist eine erstrebenswerte Form der Rationalisierung. Jede Investition, die dazu beiträgt, dass die Versorgungskette den Bedürfnissen besser gerecht werden kann, bzw. ihre Modernisierung fördert, muss als ein Mittel gesehen werden, mit dem die Ausgaben im Gesundheitswesen langfristig tragbar gemacht werden können. Bisweilen wird aufgrund konjunkturbedingter finanzieller Erfordernisse auf derartige Investitionen verzichtet. Nach Auffassung des EWSA muss parallel zu Investitionen zur Rationalisierung der Versorgungskette auch eine Reihe von Maßnahmen sowohl auf der Nachfrageseite (Facharztbehandlungsmodalitäten, Festlegung eines Leistungskatalogs, über den hinaus die Kosten vom Patienten selbst zu tragen sind, Selbstbeteiligung etc.) als auch auf der Angebotsseite (Klassifizierung der medizinischen Einrichtungen, Kosten für innovative Technologien und Arzneimittel, bei denen das Kosten-Nutzen-Verhältnis oft unklar ist, Verfahren und Modalitäten für die Aufnahme von Patienten, Mitverantwortung der Leistungserbringer bei den Behandlungskosten etc.) ergriffen werden.

2.4.3.1

Die Struktur und die Funktionsmodalitäten der Versorgungskette sowie die Übergänge zwischen den einzelnen Segmenten sind aufmerksam daraufhin zu überprüfen, ob ihre Gestaltung und Funktionsweise tatsächlich Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit garantieren. Dies sollte eines der Schwerpunktthemen der „offenen Koordinierungsmethode“ darstellen.

2.4.3.2

Die neuen Mitgliedstaaten arbeiten intensiv an der Modernisierung ihrer Gesundheitsversorgungssysteme, und der EWSA spricht sich dafür aus, den Ausbau von Infrastrukturen und Versorgungseinrichtungen mithilfe der Strukturfonds, insbesondere des EFRE und des Kohäsionsfonds, voranzubringen. Ferner ist er der Auffassung, dass die Bewertung der gewonnenen Erfahrungen mithilfe der „offenen Koordinierungsmethode“ für die neuen Mitgliedstaaten von besonderem Nutzen sein kann, weil dadurch verhindert wird, dass sie sich Modellen zuwenden, die möglicherweise schnell obsolet werden.

2.4.4

Die in der Mitteilung vorgeschlagene Verstärkung der Koordinierung zwischen den Leistungserbringern, die ihre Tätigkeit derzeit ohne Abstimmung mit den anderen ausüben (Intensivpflegedienste, Grundversorgung, Sozialfürsorge), ist sicherlich förderlich, da hilfsbedürftige Personen in der Regel mehrere Formen medizinischer und nichtmedizinischer Betreuung benötigen. Mit einer guten Zusammenarbeit zwischen Familien, professionellen Pflegekräften und medizinischem Personal können bessere Ergebnisse und eine Verringerung des Mittelaufwands erzielt werden. Der EWSA spricht sich dafür aus, die vor kurzem gebildete „Hochrangige Gruppe für das Gesundheitswesen und die medizinische Versorgung“ mit einem eindeutigen Mandat zu betrauen und festzulegen, dass sie im Rahmen ihrer institutionellen Aufgaben auch konkrete Maßnahmen für die Durchführung einer solchen Koordinierung vorschlagen soll.

2.4.5

Die technologische Innovation und ein bewussteres Verhalten der Patienten wirken sich sicher positiv auf die Ausgaben aus, da sie dazu beitragen, die Behandlung bestimmter Krankheiten kostengünstiger zu gestalten und das Auftreten solcher Krankheiten einzudämmen. Gleichzeitig entstehen durch den technologischen Fortschritt jedoch neue Bedürfnisse, auf deren Befriedigung ipso facto ein Anrecht besteht. Infolgedessen werden bewährte kostengünstige und in den meisten Fällen angemessene Diagnose- und Therapiemethoden aufgegeben. Werden die innovativen Vorgehensweisen nicht wirksamer auf die spezifische Altenpflege ausgerichtet, so könnte sich dies langfristig gesehen eher negativ als positiv auf die Bilanz der Gesundheitsversorgung auswirken. Der Druck vonseiten des besser informierten und gesundheitsbewussteren Teils der Bevölkerung könnte dazu führen, dass der Zugang zu Leistungen für den schwächeren Bevölkerungsteil, d.h. für diejenigen, denen die freie Gesundheitsversorgung ohnehin nur begrenzt zur Verfügung steht, weiter eingeschränkt wird.

3.   Besondere Bemerkungen zu den Durchführungsinstrumenten

3.1

Angesichts der Tatsache, dass eine Gemeinschaftspolitik im Bereich der Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege rechtlich nicht möglich ist, betont der EWSA, dass die „offene Koordinierungsmethode“ ein außerordentlich wichtiges Mittel darstellt, um die Ziele der Modernisierung und Entwicklung einer qualitativ hochwertigen, für alle zugänglichen und nachhaltigen Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege zu erreichen und den Gesundheitsschutz zu gewährleisten — selbst unter unterschiedlichen Gegebenheiten und bei zunehmendem Druck und wachsenden Herausforderungen.

3.1.1

Folgendes sollte bei der Analyse und beim Erfahrungsaustausch im Mittelpunkt stehen:

Gestaltung und innere Struktur der Pflegesysteme und -einrichtungen (von der medizinischen Grundversorgung über die Langzeitpflege bis hin zur häuslichen Pflege);

Zugangsmodalitäten und Wartezeiten sowie Wechselmöglichkeiten von einer Struktur zur anderen;

Interne Abläufe und Output (Überwachung und Bewertung der Leistungsqualität der verschiedenen Systeme);

Umfang und Art der erbrachten Leistungen, insbesondere im Hinblick auf die Verwendung der neuen Technologien und ihre zweckmäßige Anwendung;

Mittel zur effizienteren Nutzung der Ressourcen und die wirksamsten Mechanismen zur Kosteneindämmung;

Beteiligung des medizinischen Personals und der Leistungserbringer im Gesundheits- und Pflegewesen an der Verwaltung der Ressourcen;

Wahrung der Rechte der Patienten, ihr Zugang zu einschlägigen Informationen, therapeutischen Optionen sowie zu den eigenen medizinischen Daten;

Wahrung der Transparenz in Bezug auf die Leistungen.

3.2

Die Durchführung einer solchen „offenen Koordinierungsmethode“ setzt die Ermittlung einer Reihe von Indikatoren voraus, mit denen die gegenwärtigen Wissenslücken geschlossen und gleichzeitig die bestehenden Gegebenheiten und die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungstendenzen, die sich insbesondere auf die Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege auswirken, berücksichtigt werden können. Diese Indikatoren müssen sowohl strukturelle Aspekte (Versorgungskette, Ausstattung, Personal, einschlägige Ausbildung und Erfahrung u.a.) umfassen als auch die Qualität der Pflegeleistungen (Modalitäten der Leistungserbringung und Behandlung, operative Leitlinien, medizinische Standards und Praktiken, Wahrung der Rechte der Patienten u.a.) und der spezifischen Ergebnisse der Versorgung je nach Versorgungsart und je nach den aus der Gesellschaft kommenden Erwartungen berücksichtigen.

3.2.1

Es muss noch gezielt daran gearbeitet werden, dass diese Indikatoren auch die konkrete Beobachtung und Bewertung der Entwicklungen in Bezug auf die älteren Menschen und die ihnen gebotene Gesundheitsversorgung ermöglichen. In den bislang verwendeten bzw. ermittelten Indikatoren wird dieser Aspekt nicht berücksichtigt. Die Entwicklung von Indikatoren wird mit der Klarstellung der gemeinsamen Ziele Hand in Hand gehen müssen. Inzwischen wäre es sinnvoll, die bereits aus verschiedenen Quellen — u.a. WHO, OECD und ECHI (Europäisches Gemeinschaftsprojekt Gesundheitsindikatoren) — verfügbaren Daten zu sammeln. Die Daten, die noch 2004 im Rahmen von EU-SILC (Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen) herausgegeben werden, sollten auch miteinbezogen werden.

3.3

Die in der Mitteilung vorgeschlagenen „nächsten Schritte“ beziehen sich auf äußerst relevante Aspekte des Problems und rücken wichtige Bereiche ins Blickfeld. Allerdings sind die Vorschläge recht allgemein gehalten, was die Gefahr birgt, dass sie zu vage bleiben und zu keinen bedeutenden Fortschritten bei der offenen Koordinierungsmethode führen.

3.3.1

Der Ausschuss tritt dafür ein, mehr „gemeinsame Ziele“ festzulegen, sofern diese nicht zu viele Vorschriften enthalten und sich nicht negativ auf die Organisation der nationalen Systeme auswirken und sofern die vorgesehenen „Länderberichte“ sich zu einem nützlichen Mittel entwickeln, ohne erhöhte Verwaltungskosten oder — für die begrenzten Möglichkeiten der neuen Mitgliedstaaten — übermäßige Auflagen mit sich zu bringen.

3.4

Der EWSA spricht sich dafür aus, dass die Kommission unverzüglich

die Begriffe Sozialschutz, soziale Absicherung, Gesundheitsversorgung, integrierte Gesundheits- und Sozialfürsorge, häusliche Pflege sowie andere, in der Mitteilung genannte Begriffe genau bestimmt, die in den verschiedenen Mitgliedstaaten aufgrund der unterschiedlichen Traditionen und Modalitäten im Hinblick auf die Systeme der sozialen Sicherheit nicht immer dieselbe Bedeutung haben;

konkrete Vorgaben für die Ausarbeitung der „Länderberichte“ vorschlägt, damit die darin enthaltenen Informationen dieselben Themenbereiche abdecken und miteinander verglichen werden können, ohne dabei auf die gesamte Bandbreite von Unterzielen einzugehen. Sie sollten aber die wesentlichen Elemente zur Ermittlung und Darstellung der Hauptprobleme auf nationaler Ebene und der Grundzüge diesbezüglicher Maßnahmen beinhalten;

eine Sachverständigengruppe für die Bestimmung der erforderlichen Indikatoren einsetzt (und die Beiträge von nationalen Institutionen und Facheinrichtungen, die in diesem Bereich bereits tätig waren, gebührend berücksichtigt), die die gesamtgesellschaftlichen und makroökonomischen Entwicklungstendenzen, die sich auf die Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege auswirken können, erfasst und in der Lage ist, die verschiedenen daraus resultierenden Aspekte umfassend zu bewerten und dabei insbesondere auf den Vorhersagewert einzugehen;

ein „europäisches Modell zur Bewertung der sozio-medizinischen Auswirkungen“ entwickelt, das auf drei Indikatoren beruht: dem Investitions- und Finanzierungsindikator (Input), dem Indikator für die Gestaltung der Lösungen (Output) und dem Indikator für die Effizienz der Maßnahmen (Outcome). Damit sind verlässliche Indikatoren gegeben, mit denen das in den einzelnen Ländern erreichte Niveau an sozialer Sicherheit dargestellt werden kann (10);

sich mit dem Problem der Geschlechterunterschiede auseinander setzt und dabei berücksichtigt, dass Frauen durchschnittlich über fünf Jahre länger leben als Männer und dass dies gemeinsam mit den geschlechtsspezifischen biologischen und physiologischen Merkmalen dazu führt, dass sich die jeweiligen Gesundheitsbedürfnisse wesentlich voneinander unterscheiden;

die gemeinsame Ausarbeitung von Leitlinien für die Gesundheitsversorgung erleichtert, die sich nicht nur auf die Aspekte der medikamentösen Behandlung beschränken, sondern auch andere soziale und organisatorische Aspekte berücksichtigen und dadurch zum Bezugspunkt für die Leistungserbringer der verschiedenen Gesundheitssysteme werden.

3.5

Besonders wichtig und dringend notwendig ist die Förderung von Aktionen zur Qualifikation von Leistungserbringern und Fachkräften, um mit Hilfe geeigneter Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen einen einheitlichen Qualifikationsstand in den Gesundheitsberufen sowie den Sozialberufen, die Pflegeleistungen erbringen, zu erreichen. Dies setzt eine nicht nur technisch ausgerichtete Ausbildung und die Aneignung neuer Fähigkeiten voraus, beispielsweise das Informationsmanagement im Netz und eine langfristig ausgerichtete Ausgabenverwaltung. Solche neuen Ausbildungsmodelle sollten durch gemeinschaftliche Aktionen unterstützt und gefördert werden, um aus den im Rahmen der „offenen Koordinierungsmethode“ ausgetauschten Erfahrungen Nutzen zu ziehen.

Brüssel, den 28. Oktober 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  „Die Lissabon-Strategie realisieren: Reformen für die erweiterte Union“, KOM(2004) 29 endg.

(2)  KOM(2001) 723 endg.

(3)  In der Stellungnahme in ABl. C 32 vom 5.2.2004 (Berichterstatter: Herr Beirnaert) hat sich der EWSA bereits für eine solche Straffung der Prozesse ausgesprochen.

(4)  Mitteilung der Kommission „Stärkung der sozialen Dimension der Lissabonner Strategie: Straffung der offenen Koordinierung im Bereich Sozialschutz“ KOM(2003) 261 endg.

(5)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Gesundheitsfürsorge“ – ABl. C 234 vom 30.9.2003 – Berichterstatter: Herr BEDOSSA.

(6)  Es wird die Definition der WHO zugrunde gelegt, der zufolge Menschen dann als hilfsbedürftig einzustufen sind, wenn sie auf körperlicher, kognitiver oder Verhaltensebene, in ihren sozialen Kontakten bzw. in der Interaktion mit ihrer Umwelt teilweise oder völlig auf fremde Hilfe angewiesen sind (vgl. „International Classification of Functioning, Disability and Health, 2001“ (ICF)).

(7)  In Europa leben derzeit rund 60 Mio. hilfsbedürftige Menschen, deren Anzahl bis 2030 auf 75 Mio. ansteigen wird (Quelle: EUROSTAT: Die soziale Lage in der Europäischen Union 2003, Europäische Kommission, GD Beschäftigung und Soziales, 2003).

(8)  Siehe die „International Classification of Functioning, Disability and Health, 2001“ (ICF), op. cit.

(9)  Siehe insbesondere den Gemeinsamen Bericht „Gesundheitsversorgung und Altenpflege: Unterstützung nationaler Strategien zur Sicherung eines hohen Sozialschutzniveaus“, Mitteilung der Kommission, KOM(2002) 774 vom 3.1.2002, S. 11.

(10)  Siehe Stellungnahme CESE: ABl. C 80 vom 30.3.2004, Ziffer 4.5.2, Berichterstatter: Herr JAHIER.