ISSN 1977-0642 |
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Amtsblatt der Europäischen Union |
L 339 |
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Ausgabe in deutscher Sprache |
Rechtsvorschriften |
60. Jahrgang |
Inhalt |
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II Rechtsakte ohne Gesetzescharakter |
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BESCHLÜSSE |
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Beschluss (EU) 2017/2336 der Kommission vom 7. Februar 2017 SA.21877 (C 24/2007), SA.27585 (2012/C) und SA.31149 (2012/C) — Deutschland mutmaßliche staatliche Beihilfen zugunsten der Flughafen Lübeck GmbH, von Infratil Limited, Ryanair und der den Flughafen nutzenden Fluggesellschaften (Bekannt gegeben unter Aktenzeichen C(2017) 602) ( 1 ) |
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EMPFEHLUNGEN |
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(1) Text von Bedeutung für den EWR. |
DE |
Bei Rechtsakten, deren Titel in magerer Schrift gedruckt sind, handelt es sich um Rechtsakte der laufenden Verwaltung im Bereich der Agrarpolitik, die normalerweise nur eine begrenzte Geltungsdauer haben. Rechtsakte, deren Titel in fetter Schrift gedruckt sind und denen ein Sternchen vorangestellt ist, sind sonstige Rechtsakte. |
II Rechtsakte ohne Gesetzescharakter
BESCHLÜSSE
19.12.2017 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
L 339/1 |
BESCHLUSS (EU) 2017/2336 DER KOMMISSION
vom 7. Februar 2017
SA.21877 (C 24/2007), SA.27585 (2012/C) und SA.31149 (2012/C) — Deutschland mutmaßliche staatliche Beihilfen zugunsten der Flughafen Lübeck GmbH, von Infratil Limited, Ryanair und der den Flughafen nutzenden Fluggesellschaften
(Bekannt gegeben unter Aktenzeichen C(2017) 602)
(Nur der deutsche Text ist verbindlich)
(Text von Bedeutung für den EWR)
DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION —
gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 108 Absatz 2 Unterabsatz 1,
nach Aufforderung der Beteiligten zur Äußerung gemäß dem oben genannten Artikel (1) und unter Berücksichtigung dieser Stellungnahme,
nach Aufforderung der Beteiligten zur Äußerung gemäß dem oben genannten Artikel (2) und unter Berücksichtigung dieser Stellungnahme,
in Erwägung nachstehender Gründe:
1. VERFAHREN
1.1. VERFAHREN SA.21877
(1) |
In den Jahren 2002, 2003, 2004, 2005 und 2006 gingen bei der Kommission mehrere Beschwerden von der Fluggesellschaft Air Berlin, einer Umweltschutz-NRO (Bund für Umwelt und Naturschutz) sowie von Privatpersonen bezüglich einer mutmaßlichen staatlichen Beihilfe zugunsten der Flughafen Lübeck GmbH („FLG“), von Infratil Limited („Infratil“) (3) und der Fluggesellschaft Ryanair (4) ein. |
(2) |
Am 7. November 2005 ersuchte die Kommission Deutschland um Auskünfte, die Deutschland mit Schreiben vom 7. Februar 2006 übermittelte. Weitere Auskünfte wurden mit Schreiben vom 22. März 2006 erbeten, auf das Deutschland am 12. Juni 2006 antwortete. Treffen zwischen den Dienststellen der Kommission, Infratil, dem Mehrheitseigner des Flughafenbetreibers und der Hansestadt Lübeck fanden am 14. Oktober und 4. Dezember 2006 statt. Im Anschluss an diese Treffen stellte Infratil am 16. und 31. Oktober, am 6. November sowie am 4., 6. und 21. Dezember 2006 weitere Informationen per E-Mail und Fax bereit. |
(3) |
Mit Schreiben vom 18. Januar 2007 forderte Deutschland die Kommission auf, das Vorprüfverfahren auszusetzen. Mit Schreiben vom 2. Mai 2007 lehnte die Kommission diese Anfrage ab. |
(4) |
Am 24. April 2007 übermittelte Deutschland der Kommission eine weitere Stellungnahme. Am 21. Juni 2007 fand ein Treffen zwischen Deutschland und den Kommissionsdienststellen statt. |
(5) |
Mit Schreiben vom 10. Juli 2007 teilte die Kommission Deutschland ihren Beschluss mit, aufgrund der Finanzierung des Flughafens Lübeck, der finanziellen Beziehungen zwischen der Hansestadt Lübeck und Infratil sowie der finanziellen Beziehungen zwischen dem Flughafen und Ryanair das Verfahren nach Artikel 108 Absatz 2 AEUV einzuleiten („Einleitungsbeschluss von 2007“). Das förmliche Prüfverfahren wurde unter der Nummer SA.21877 (C 24/2007) registriert. |
(6) |
Eine Berichtigung des Einleitungsbeschlusses von 2007 wurde am 24. Oktober 2007 angenommen. |
(7) |
Der Einleitungsbeschluss wurde am 29. November 2007 im Amtsblatt der Europäischen Union (5) veröffentlicht. Die Berichtigung wurde am 7. Dezember 2007 veröffentlicht (6). Die Kommission forderte die Beteiligten auf, sich innerhalb eines Monats nach dem Datum der Veröffentlichung zu den in Frage stehenden Maßnahmen zu äußern. |
(8) |
Die Kommission erhielt in dieser Sache Stellungnahmen von Ryanair, Air Berlin, Infratil, der FLG, zwei NRO (7), der Industrie- und Handelskammer zu Lübeck („IHK Lübeck“) (8), dem Bundesverband der Deutschen Fluggesellschaften („BDF“) und von Privatpersonen (9). Deutschland antwortete auf diese Stellungnahmen am 17. April 2008. |
(9) |
Das unabhängige Beratungsunternehmen der Kommission, Ecorys, forderte am 24. Juli 2008 Auskünfte von Deutschland an, um einen Bericht in dieser Sache zu erstellen. Deutschland wandte sich am 1. August 2008 an die Kommission, um das Recht von Ecorys anzufechten, Informationen und Unterlagen einzuholen. Die Kommission antwortete darauf am 8. August 2008 und bestätigte, dass die Kommission ihre Befugnisse in dieser Angelegenheit auf Ecorys übertragen habe. Daraufhin gingen die angeforderten Informationen am 18. September 2008 ein. |
(10) |
Am 16. April 2009 forderte die Kommission zusätzliche Auskünfte von Deutschland an. Deutschland beantragte eine Verlängerung der Frist am 21. April 2009 und ein weiteres Mal am 7. Juli 2009. Die angeforderten Informationen wurden am 30. Oktober 2009 übermittelt. Am 29. Oktober 2009 forderte die Kommission zusätzliche Informationen an, die Deutschland am 16. Dezember 2009 übermittelte. |
(11) |
Am 17. Oktober 2010 erhielt die Kommission Informationen von Air Berlin. |
(12) |
Mit Schreiben vom 28. März 2011 ersuchte die Kommission Deutschland um zusätzliche Auskünfte. Deutschland beantragte am 15. April 2011 eine Fristverlängerung. Am 20. April 2011 gewährte die Kommission Deutschland diese Fristverlängerung. Am 21. April 2011 beantragte Deutschland eine weitere Fristverlängerung, die die Kommission am 27. April 2011 gewährte. Deutschland legte den ersten Teil der angeforderten Informationen am 16. Mai 2011 vor. Mit Schreiben vom 20. Mai 2011 teilte die Kommission mit, dass sie die vorgelegten Informationen für unvollständig halte, und forderte die ausstehenden Auskünfte an. Deutschland widersprach dieser Ansicht mit Schreiben vom 7. Juni 2011. Die Kommission antwortete am 15. Juni 2011 und forderte die fehlenden Informationen an. |
(13) |
Am 8. April 2011 übermittelte die Kommission Ryanair einen Fragebogen. Die Antworten wurden der Kommission am 4. Juli 2011 mitgeteilt. Die Kommission leitete diese Antworten am 18. Juli 2011 an Deutschland weiter und forderte eine Stellungnahme bis zum 18. August 2011. Am 8. August 2011 übermittelte die Kommission Deutschland eine übersetzte Fassung der Antworten von Ryanair und verlängerte die Antwortfrist Deutschlands bis zum 9. September 2011. Deutschland übermittelte der Kommission seine Stellungnahme schließlich am 8. September 2011. Am 7. Februar 2012 forderte die Kommission zusätzliche Informationen von Ryanair zur Analyse von Oxera an, die Ryanair am 4. Juli 2011 vorlegte. Am 13. Februar 2012 beantragte Ryanair eine Verlängerung der Antwortfrist. Am 16. Februar 2012 bat Oxera die Kommission um Klarstellung bezüglich einer der gestellten Fragen. Die Klarstellung wurde von der Kommission am 17. Februar 2012 übermittelt. Ryanair sandte der Kommission seine Stellungnahme am 13. April 2012 zu. Diese Stellungnahme leitete die Kommission am 27. Juni 2012 an Deutschland weiter. Mit Schreiben vom 10. September 2012 nahm Deutschland zur Antwort von Ryanair Stellung. |
(14) |
Der Abschlussbericht von Ecorys vom 29. März 2011 wurde Deutschland am 29. Juni 2011 mit der Bitte um Stellungnahme vorgelegt. Deutschland erhielt am 24. August 2011 eine Übersetzung des Berichts mit der Bitte um Stellungnahme bis zum 26. September 2011. Deutschland übermittelte seine Stellungnahme am 10. Oktober 2011. |
(15) |
Am 30. Juni 2011 übersandte Deutschland die zweite Hälfte der von der Kommission angeforderten Informationen. Deutschland antwortete auf das Schreiben der Kommission vom 15. Juni 2011 am 29. Juni 2011. Am 5. Juli 2011 forderte die Kommission Deutschland auf, fehlende Informationen vorzulegen. Deutschland übermittelte diese fehlenden Informationen am 15. Juli 2011. |
(16) |
Am 4. Juli 2011 übersandte Ryanair der Kommission eine Stellungnahme, die am 8. August 2011 an Deutschland weitergeleitet wurde. Deutschland nahm zu dieser Antwort am 8. Oktober 2011 Stellung. |
(17) |
Am 20. Februar 2012 forderte die Kommission zusätzliche Auskünfte von Deutschland an. Am 19. März 2012 beantragte Deutschland eine Verlängerung der Antwortfrist bis zum 17. April 2012. Diese gewährte die Kommission am 21. März 2012. Mit Schreiben vom 17. April 2012 beantwortete Deutschland die Fragen der Kommission vom 24. Februar 2012. Am 18. April 2012 forderte die Kommission Deutschland auf, die fehlenden Informationen bis zum 28. April 2012 vorzulegen, ohne die Möglichkeit einer Verlängerung. Die Kommission gab des Weiteren an, dass im Falle der Nichteinhaltung eine Anordnung zur Auskunftserteilung gemäß Artikel 10 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates (10) erteilt würde. Am 2. Mai 2012 fand ein Treffen zwischen der Kommission und Deutschland statt. Am 3. Mai 2012 gewährte die Kommission eine Fristverlängerung bis zum 11. Mai 2012. Mit Schreiben vom 7. Mai 2012 wies Deutschland auf verfahrenstechnische Fehler der Kommission hin und verweigerte die Übermittlung weiterer Informationen. |
(18) |
Mit Schreiben vom 10. April 2013 übermittelte Ryanair der Kommission einen Bericht über den Ansatz von Oxera bezüglich des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten. Dieser Bericht wurde am 3. Mai 2013 an Deutschland weitergeleitet. Weitere Stellungnahmen von Ryanair wurden der Kommission am 20. Dezember 2013 zugesandt. |
(19) |
Mit Schreiben vom 24. Februar 2014 forderte die Kommission Ryanair auf, zur Anwendung der Luftverkehrsleitlinien von 2014 (11) Stellung zu nehmen. Am 21. März 2014 forderte die Kommission Infratil auf, zu den Luftverkehrsleitlinien von 2014 Stellung zu nehmen. Eine förmliche Aufforderung aller Beteiligten, Stellungnahmen zu den Luftverkehrsleitlinien von 2014 einzureichen, wurde im Amtsblatt vom 15. April 2014 (12) veröffentlicht. Deutschland übermittelte seine Stellungnahme am 12. Mai 2014. Weitere Stellungnahmen wurden von Air Berlin, Infratil und der Schutzgemeinschaft gegen Fluglärm Lübeck und Umgebung eV („SGF“) (13) vorgelegt. |
1.2. VERFAHREN SA.27585 UND SA.31149
(20) |
Am 28. Januar 2009 übermittelte die SGF eine Beschwerde zur Beihilfesache SA.21877. Diese wurde als Beihilfesache unter der Nummer CP 31/2009 (SA.27585) registriert. |
(21) |
Mit Schreiben vom 5. Februar 2009 forderte die Kommission von Deutschland Auskünfte zu Pressemitteilungen über den Flughafen Lübeck an. Deutschland antwortete mit Schreiben vom 5. März und 12. März 2009. |
(22) |
Mit Schreiben vom 16. April 2009 ersuchte die Kommission Deutschland um weitere Auskünfte. Deutschland antwortete darauf am 9. Juli 2009. |
(23) |
Am 22. und 30. Juni 2010 reichte die SGF eine weitere Beschwerde ein, in der sie geltend machte, dass Deutschland der FLG und Infratil weitere rechtswidrige staatliche Beihilfen gewährten. Die Beschwerde wurde unter der Beihilfenummer CP 162/2010 (SA.31149) registriert. |
(24) |
Die Kommission übermittelte Deutschland diese Beschwerde mit Schreiben vom 7. Juli 2010 und bat um Übermittlung von Informationen. Mit Schreiben vom 13. Juli 2010 erbat Deutschland eine Verlängerung der Antwortfrist. Mit Schreiben vom 14. Oktober 2010 gewährte die Kommission Deutschland diese Verlängerung. |
(25) |
Mit Schreiben vom 28. März 2011 ersuchte die Kommission Deutschland um weitere Auskünfte. Mit Schreiben vom 8. April 2011 verlangte die Kommission von Ryanair Auskünfte über ihre Verträge mit der FLG. |
(26) |
Deutschland beantragte eine Verlängerung der Antwortfrist bis zum 15. Juli 2011. Mit Schreiben vom 20. April 2011 forderte die Kommission Deutschland auf, sich bis zum 28. April 2011 zu den in Rede stehenden Beschwerden zu äußern. Mit Schreiben vom 21. April 2011 beantragte Deutschland eine weitere Fristverlängerung. Mit Schreiben vom 27. April 2011 gewährte die Kommission die Verlängerung der Frist bis zum 16. Mai 2011. Deutschland übermittelte die Auskünfte am 16. Mai 2011. |
(27) |
Am 20. Mai 2011 übermittelte die Kommission ein Erinnerungsschreiben nach Artikel 10 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999, in dem sie angab, dass die übermittelten Auskünfte unvollständig seien. Frist für die Antwort war der 7. Juni 2011. Deutschland antwortete mit Schreiben vom 7. Juni 2011, in dem es zurückwies, dass es sich bei dem Schreiben vom 20. Mai 2011 um ein Erinnerungsschreiben im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 gehandelt habe, da zwei der Fragen offenbar umformuliert worden waren und eine der Fragen Deutschland zufolge neu war. |
(28) |
Mit Schreiben vom 15. Juni 2011 übermittelte die Kommission Deutschland ein zweites Erinnerungsschreiben gemäß Artikel 10 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 und räumte die Möglichkeit ein, bis zum 29. Juni 2011 Informationen vorzulegen. Im Falle der Nichteinhaltung dieses Erinnerungsschreibens würde die Kommission eine Anordnung zur Auskunftserteilung in Betracht ziehen. Deutschland antwortete mit Schreiben vom 29. Juni 2011 auf einige der Fragen und teilte der Kommission mit, die Antworten auf die ausstehenden Fragen im Laufe des Monats Juli 2011 zu übermitteln. |
(29) |
Mit Schreiben vom 4. Juli 2011 erhielt die Kommission weitere Informationen von Ryanair. |
(30) |
Mit Schreiben vom 5. Juli 2011 übermittelte die Kommission Deutschland ein drittes Erinnerungsschreiben gemäß Artikel 10 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 und räumte die Möglichkeit ein, die noch offenen Fragen bis zum 15. Juli 2011 zu beantworten. Deutschland antwortete mit Schreiben vom 15. Juli 2011. |
(31) |
Mit Schreiben vom 18. Juli 2011 leitete die Kommission die Antworten von Ryanair vom 4. Juli 2011 an Deutschland weiter und forderte eine Stellungnahme. Deutschland erbat die Übersetzung der Ausführungen von Ryanair ins Deutsche. Die Kommission leitete Deutschland die deutsche Fassung des Textes mit Schreiben vom 8. August 2011 zu. |
(32) |
Mit Schreiben vom 8. September 2011 nahm Deutschland zu den Ausführungen von Ryanair Stellung. Am 7. Februar 2012 forderte die Kommission zusätzliche Informationen von Ryanair zur Analyse von Oxera an. Am 13. Februar 2012 beantragte Ryanair eine Verlängerung der Antwortfrist. Am 16. Februar 2012 wurde eine Klarstellung bezüglich einer der von der Kommission gestellten Fragen angefordert. Diese Klarstellung wurde von der Kommission am 17. Februar 2012 übermittelt. |
(33) |
Mit Schreiben vom 22. Februar 2012 teilte die Kommission Deutschland ihren Beschluss mit, aufgrund der etwaigen staatlichen Beihilfe zugunsten von Infratil, der FLG, Ryanair und anderen vom Flughafen Lübeck aus tätigen Fluggesellschaften das Verfahren nach Artikel 108 Absatz 2 AEUV einzuleiten („Einleitungsbeschluss von 2012“) (14). In seiner Antwort bat Deutschland die Kommission mit Schreiben vom 14. März 2012 darum, bestimmte im Einleitungsbeschluss enthaltene Informationen zu schwärzen. Mit Schreiben vom 20. März 2012 kam die Kommission dieser Bitte teilweise nach, sah sich jedoch nicht in der Lage, bestimmte Informationen zu schwärzen. In einem Schreiben vom 3. April 2012 erhob Deutschland ferner Einwände gegen den Standpunkt der Kommission in Bezug auf die Vertraulichkeit. Die Kommission übermittelte Deutschland in dieser Angelegenheit am 25. April 2012 ein Schreiben, dem sie eine weitere Fassung des Einleitungsbeschlusses von 2012 beifügte und weitere Argumente anführte. |
(34) |
Am 2. März 2012 beantragte Ryanair bei der Kommission, den Einleitungsbeschluss von 2012 vor seiner Veröffentlichung einzusehen, um die Veröffentlichung vertraulicher Informationen zu verhindern. Die Kommission antwortete am 6. März 2012 und wies darauf hin, dass es Sache des Mitgliedstaats sei, Ryanair diese Informationen zu übermitteln. Nach einem längeren Austausch zwischen Ryanair, der Kommission und Deutschland reichte Ryanair am 27. April 2012 mehrere Anträge auf Löschung vertraulicher Informationen ein und äußerte Kritik am Verfahren. Darüber hinaus reichte Deutschland am 30. April 2012 weitere Anträge auf Schwärzung bestimmter Informationen seitens Ryanair bei der Kommission ein. Am 29. Juni 2012 wurde die geschwärzte Fassung des Einleitungsbeschlusses von 2012 an Ryanair übermittelt. |
(35) |
Wie am 7. Februar 2012 von der Kommission gefordert, legte Ryanair mit Schreiben vom 13. April 2012 eine Stellungnahme vor. Diese Stellungnahme leitete die Kommission am 27. Juni 2012 an Deutschland weiter. Mit Schreiben vom 10. September 2012 nahm Deutschland zur Antwort von Ryanair Stellung. |
(36) |
Mit Schreiben vom 24. Februar 2012 ersuchte die Kommission Deutschland darum, weitere Auskünfte zu den Sachen binnen 20 Tagen vorzulegen. Am 19. März 2012 beantragte Deutschland eine Fristverlängerung bis zum 20. April 2012. Mit Schreiben vom 21. März 2012 gewährte die Kommission eine Verlängerung der Frist bis zum 17. April 2012. Deutschland legte die angeforderten Informationen am 17. April 2012 vor. Mit Schreiben vom 18. April 2012 teilte die Kommission mit, dass sie die von Deutschland vorgelegten Informationen für unvollständig halte, und forderte die fehlenden Informationen bis zum 28. April 2012 an. Die Kommission führte weiter aus, dass im Falle der Nichteinhaltung eine Anordnung zur Auskunftserteilung gemäß Artikel 10 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 erteilt würde. Am 3. Mai 2012 forderte die Kommission Deutschland in einem weiteren Schreiben dringend auf, die fehlenden Informationen bis zum 11. Mai 2012 einzureichen. |
(37) |
Am 14. Mai 2012 reichte Deutschland bei der Kommission eine Stellungnahme zum Einleitungsbeschluss von 2012 ein. |
(38) |
Der Einleitungsbeschluss von 2012 wurde am 10. August 2012 im Amtsblatt veröffentlicht (15). Alle Beteiligten erhielten Gelegenheit, binnen eines Monats zum Beschluss Stellung zu nehmen. Mit zwei Schreiben vom 16. August 2012 bzw. vom 22. August 2012 beantragte Ryanair eine Verlängerung der Antwortfrist bis zum 24. September 2012. Wizz Air beantragte am 24. August 2012 eine Verlängerung bis zum 24. September 2012. Am 31. August 2012 beantragte Infratil eine Verlängerung bis zum 10. Oktober 2012. Am 5. September 2012 beantragten die Hansestadt Lübeck und die FLG bei der Kommission eine Fristverlängerung bis zum 10. Oktober 2012. Am 7. September 2012 beantragte der Bundesverband der deutschen Verkehrsflughäfen („ADV“) (16) eine Fristverlängerung bis zum 10. Oktober 2012. Am selben Tag gewährte die Kommission Ryanair, Wizz Air, dem ADV, der Hansestadt Lübeck, der FLG und Infratil die Verlängerungen. |
(39) |
Am 9. September 2012 reichte der Pro Airport Lübeck e.V. seine Stellungnahme ein. |
(40) |
Am 10. September 2012 beantragten die Flughafen Hamburg GmbH und die Landesregierung Schleswig-Holstein bei der Kommission eine Fristverlängerung zur Einreichung von Stellungnahmen bis zum 10. Oktober 2012. Die Kommission gewährte diese Verlängerung am nächsten Tag. Am 10. September 2012 reichte die SGF bei der Kommission ihre Stellungnahme ein. |
(41) |
Ryanair legte der Kommission seine Stellungnahme am 24. September 2012 vor, einschließlich eines Berichts von Oxera. Mit Schreiben vom 8. Oktober 2012 reichte die Hansestadt Lübeck ihre Stellungnahme bei der Kommission ein. Am 10. Oktober 2012 erhielt die Kommission Stellungnahmen von der ADV, der FLG, Infratil und Wizz Air, einschließlich eines Berichts von Oxera. Am gleichen Tag legte Ryanair zusätzlich mehrere Berichte von Oxera vor. |
(42) |
Am 3. Mai 2014 übermittelte die Kommission die nichtvertraulichen Fassungen der Oxera- Berichte an Deutschland und forderte Deutschland zur Stellungnahme auf. |
(43) |
Am 15. Mai 2013, 17. Januar 2014 und 31. Januar 2014 reichte Ryanair weitere Informationen ein. |
(44) |
Mit Schreiben vom 11. Februar 2013 forderte die Kommission Deutschland auf, alle Verträge im Zusammenhang mit der Privatisierung des Flughafens Lübeck binnen 20 Tagen einzureichen. Diese Einsicht wurde der Kommission mit Schreiben vom 28. Februar 2014 verwehrt, da die Privatisierung des Flughafens Lübeck nicht Gegenstand des gegenwärtigen Verfahrens sei. Nach Konsultationen zwischen der Kommission und Deutschland übermittelte Deutschland die Einzelheiten zur Privatisierung des Flughafens Lübeck mit Schreiben vom 13. März 2014. |
(45) |
Die Kommission setzte Deutschland am 24. Februar 2013 und am 17. März 2014 über die Einführung der Luftverkehrsleitlinien von 2014 und deren Relevanz für das gegenwärtige Verfahren in Kenntnis und forderte Deutschland auf, dazu Stellung zu nehmen. Daraufhin legte Deutschland am 27. März 2014 Informationen vor. Weitere Antworten gingen von Wizz Air mit Schreiben vom 30. April 2014 und von Deutschland mit Schreiben vom 12. Mai 2014 ein. |
(46) |
Mit Schreiben vom 2. September, 12. September und 26. September 2014 legte Ryanair weitere Berichte von Oxera zum aktuellen Ansatz der Kommission beim Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten vor. |
1.3. VERBUNDENES VERFAHREN BEZÜGLICH SA.21877, SA.27585 UND SA.31149
(47) |
2014 verband die Kommission die Verfahren SA.21877, SA.27585 und SA.31149. |
(48) |
Mit Schreiben vom 30. September 2014 ersuchte die Kommission Deutschland um weitere Auskünfte. |
(49) |
Am 6. Oktober 2014 beantragte Deutschland bei der Kommission die Fristverlängerung für die Vorlage der angeforderten Auskünfte bis zum 30. November 2014. Die Kommission verlängerte die Frist bis zum 17. November 2014. Am 21. November 2014 sandte die Kommission Deutschland ein Erinnerungsschreiben zu, um die angeforderten Informationen bis zum 3. Dezember 2014 nachzureichen. Die Kommission führte aus, dass im Falle der Nichteinhaltung dieses Erinnerungsschreibens eine Anordnung zur Auskunftserteilung gemäß Artikel 10 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 erteilt würde. Deutschland übermittelte die angeforderten Auskünfte am 3. Dezember 2014. Nach einer Telefonkonferenz vom 18. Dezember 2014 reichte Deutschland am 12. und 14. Januar 2015 weitere Informationen ein. |
(50) |
Mit E-Mail vom 26. Januar 2015, vom 9. Februar 2015 und vom 27. Februar 2015 gingen bei der Kommission Antworten von Ryanair ein. |
(51) |
Am 30. Januar 2015 bekundete Air Berlin sein Interesse an einem Beschluss der Kommission bezüglich der mutmaßlichen staatlichen Beihilfe zugunsten von Ryanair. |
(52) |
Mit Schreiben vom 23. März 2015 leitete die Kommission weitere Stellungnahmen von Dritten weiter und forderte Deutschland auf, dazu Stellung zu nehmen. Deutschland antwortete am 9. April 2015 mit seiner Stellungnahme zu den Ausführungen Dritter. |
(53) |
In einer E-Mail vom 20. April 2015 forderte die Kommission weitere Informationen über die Yasmina Flughafenmanagement GmbH („Yasmina“) (17), die Betreiberin des Flughafens Lübeck in den Jahren 2013 und 2014, an. Weitere Fragen betreffend den von Infratil für die Verkaufsoption entrichteten Preis wurden Deutschland am 4. Mai 2015 übermittelt. |
(54) |
Die Hansestadt Lübeck antwortete am 5. Mai 2015 auf die Fragen zu Yasmina. Mit Schreiben vom 11. Mai 2015 reagierte Deutschland auf das Ersuchen der Kommission um weitere Informationen zum Preis der Verkaufsoption. |
(55) |
Am 13. Mai 2015 befragte die Kommission Oxera zur mutmaßlichen staatlichen Beihilfe für Entgelte für die Enteisung. Daraufhin legte Oxera am 18. Mai 2015 einen Bericht zur Enteisung vor. |
(56) |
Per E-Mail vom 22. Mai 2015 bat die Kommission Oxera um Klarstellung bezüglich ihrer Berichte vom September 2014 bzw. vom Februar 2015 über die Rentabilität der Nebenvereinbarungen von 2010 zwischen Ryanair und der FLG. Die Kommission erhielt am 28. Mai 2015 eine entsprechende Antwort. |
(57) |
Am 23. Juni 2015 ersuchte die Kommission Deutschland um weitere Auskünfte. Die Antworten gingen am 25. Juni und 3. Juli 2015 ein. Die Kommission leitete Deutschland am 29. Juni 2015 weitere Fragen zu, die mit Schreiben vom 24. Juli 2015 beantwortet wurden. |
(58) |
Am 3. Juli 2015 erhielt die Kommission von Ryanair eine erläuternde Mitteilung von Oxera. |
(59) |
Am 4. August 2015 ersuchte die Kommission Deutschland um weitere Auskünfte. Die Antworten gingen am 10. September 2015 ein. |
(60) |
Ryanair übermittelte der Kommission am 30. November 2015 eine weitere Oxera-Mitteilung zu Bewertungen der Vereinbarungen zwischen dem Flughafen und den Fluggesellschaften nach dem Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten im Zusammenhang der Gesamtrentabilität des Flughafens. Die Hansestadt Lübeck legte am 20. Januar 2016 und Deutschland am 19. Februar 2016 zusätzliche Informationen vor. |
1.4. ANFECHTUNG DES EINLEITUNGSBESCHLUSSES VON 2012 IN BEZUG AUF DIE FLUGHAFENENTGELTORDNUNG
(61) |
Die Hansestadt Lübeck beantragte die teilweise Nichtigerklärung des Einleitungsbeschlusses von 2012. Das Gericht hob den Einleitungsbeschluss von 2012 in Bezug auf die Flughafenentgeltordnung des Flughafens Lübeck von 2006 auf („Entgeltordnung von 2006“) (18). Die Kommission legte gegen dieses Urteil Beschwerde ein. Das Urteil des Gerichts wurde durch den Gerichtshof bestätigt (19). Der Einleitungsbeschluss von 2012 wurde folglich in Bezug auf die Entgeltordnung von 2006 endgültig für nichtig erklärt. Folglich ist die Entgeltordnung von 2006 nicht Gegenstand des vorliegenden Beschlusses. |
2. AUSFÜHRLICHE BESCHREIBUNG DER MASSNAHMEN
2.1. HINTERGRUND DER PRÜFUNG UND KONTEXT DER MASSNAHMEN
2.1.1. Einzugsgebiet, Entwicklung des Passagieraufkommens und Fluggesellschaften, die den Flughafen anfliegen
(62) |
Der Flughafen Lübeck liegt in Schleswig-Holstein in einer Entfernung von rund 73 km von Hamburg. |
(63) |
Der Flughafen selbst bezeichnet den Großraum Hamburg und Öresund (Großraum Kopenhagen/Malmö) als sein Einzugsgebiet. In dieser Region stehen folgende Flughäfen zur Verfügung:
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(64) |
Nach einer Marktstudie des Flughafens aus dem Jahr 2009 kam der überwiegende Teil der (abfliegenden) Passagiere des Flughafens Lübeck aus Hamburg (d. h. 47,20 %). Der Flughafen rechnete mit einem Anstieg der dänischen (abfliegenden) Passagiere, sobald die feste Fehmarnbelt-Querung zwischen Deutschland und Dänemark fertiggestellt ist. Abbildung 1 vermittelt einen Überblick über die Herkunft der Fluggäste des Flughafens Lübeck. Abbildung 1 Herkunft der vom Flughafen Lübeck abfliegenden Passagiere (Marktstudie, 2009) Hamburg; 47 % Schleswig-Holstein; 33 % Bremen; 14 % Denmark; 5 % |
(65) |
Das Passagieraufkommen des Flughafens stieg von 48 652 im Jahr 1999 auf 546 146 im Jahr 2010 (siehe Tabelle 1). Bis 2015 erwartete der Flughafen einen Anstieg der Fluggastzahlen auf 2,2 Mio. Diese Entwicklung trat jedoch nicht ein. Tabelle 1 Passagieraufkommen am Flughafen Lübeck 1999 bis 2013 (20)
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(66) |
Zum Zeitpunkt des vorliegenden Beschlusses wird der Flughafen Lübeck von keiner Fluggesellschaft bedient. Weder Linien- noch Charterflüge werden angeboten. |
2.1.2. Eigentumsverhältnisse
(67) |
Der Flughafen Lübeck wurde ursprünglich von der Flughafen Lübeck GmbH betrieben, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Eigentümerin eines Teils der Flughafeninfrastruktur und des Grundstücks blieb die Hansestadt Lübeck. Die FLG konnte die Flughafeninfrastruktur auf der Grundlage eines Pachtvertrags nutzen. Die Eigentumsverhältnisse der FLG änderten sich in den letzten Jahren mehrmals. Bis zum 30. November 2005 befanden sich alle Anteile (100 %) der FLG im Besitz der Hansestadt Lübeck. Im Rahmen des „Beteiligungsvertrags von 2005“ veräußerte die Hansestadt Lübeck zum 1. Dezember 2005 90 % ihrer Anteile an der FLG an Infratil. Der verbleibende Minderheitsanteil von 10 % wurde weiterhin von der Hansestadt Lübeck gehalten. Der Beteiligungsvertrag von 2005 enthielt eine Reihe von Bedingungen sowie Verkaufs- und Kaufoptionen für beide Parteien (weitere Einzelheiten dazu in Abschnitt 2.3.1). |
(68) |
Um Infratil an der Ausübung seiner Verkaufsoption zu hindern, wurde 2009 eine Ergänzungsvereinbarung zwischen der Hansestadt Lübeck und Infratil unterzeichnet. Dieser Ergänzungsvereinbarung zufolge musste Infratil den Flughafen bis zum Oktober 2009 weiter betreiben und erhielt dafür einen Ausgleich für bestimmte Kosten (siehe Tabelle 3). |
(69) |
Ende 2009 machte Infratil von seiner Verkaufsoption Gebrauch und gab seine Anteile an die Hansestadt Lübeck zurück. |
(70) |
Seit November 2009 war die Hansestadt Lübeck wieder alleiniger Eigentümer (100 % der Anteile) der FLG. Im November 2009 beschloss die Bürgerschaft von Lübeck (21), dass bis Ende Februar 2010 ein neuer privater Investor für die FLG gefunden werden und der Flughafen keine weiteren Finanzierungsmittel erhalten sollte. |
(71) |
Am 25. April 2010 sprachen sich die Bürger von Lübeck in einem Bürgerentscheid dafür aus, das Überleben des Flughafens Lübeck zu sichern. Die Hansestadt Lübeck hielt weitere Investitionen zur Verbesserung der Infrastruktur des Flughafens für erforderlich, um den Flughafen zu privatisieren. |
(72) |
Am 16. August 2012 veröffentlichte die Hansestadt Lübeck eine Ausschreibung in der Beilage des Amtsblatts der Europäischen Union (22) für den Verkauf des Flughafens Lübeck. Bis zum 24. September 2012 gingen sieben Interessenbekundungen ein. Bis zum 15. Oktober 2012 reichten fünf Parteien indikative, nicht verbindlicheAngebote ein. Bis zum 20. November 2012 reichten drei Parteien verbindliche und endgültige Angebote ein. Die drei Angebote wurden verglichen. Dabei wurde ein System zur Verteilung von Punkten herangezogen, das sowohl das finanzielle Angebot als auch die jeweiligen Geschäfts- und Baupläne berücksichtigte. Das Angebot von 3Y Logistic und Projektbetreuung GmbH, Frankfurt („3Y“), das eine Übertragung der Aktiva („Asset Deal“) vorsah, war bei Weitem das günstigste. 3Y ist die Holdinggesellschaft von Yasmina, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die für den Kauf und Betrieb des Flughafens Lübeck gegründet wurde. Am 29. November 2012 stimmte die Bürgerschaft von Lübeck den Bedingungen und dem Verkauf zu. Der Kaufvertrag wurde am 14. Dezember 2012 unterzeichnet und trat am 1. Januar 2013 in Kraft. Yasmina erwarb einen Teil der FLG-Vermögenswerte. Die nicht an Yasmina veräußerten Aktiva wurden durch Verschmelzung der FLG mit der Hansestadt Lübeck auf die Hansestadt Lübeck übertragen. Die FLG bestand folglich als eigenständige juristische Person nicht mehr. |
(73) |
Infolge der laufenden Verluste des Flughafens meldete Yasmina im April 2014 Insolvenz an, was am 23. April 2014 zur Einleitung eines Insolvenzverfahrens führte. Am 1. August 2014 wurde der Flughafen Lübeck vom chinesischen Investor PuRen Germany GmbH („PuRen“) übernommen. PuRen meldete im September 2015 Insolvenz an, was am 30. September 2015 zur Einleitung eines Insolvenzverfahrens führte. Am 1. Juli 2016 wurde der Flughafen Lübeck von der Stöcker Flughafen GmbH & Co. KG („Stöcker“) übernommen. |
(74) |
Die Kommission prüfte die folgenden Maßnahmen, die möglicherweise eine staatliche Beihilfe zugunsten der FLG, von Infratil, Ryanair und anderen Fluggesellschaften darstellten. |
2.2. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN DER FLG
(75) |
Die Kommission hat ein förmliches Prüfverfahren in Bezug auf folgende Maßnahmen zugunsten der FLG eingeleitet:
|
2.3. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN VON INFRATIL
2.3.1. Veräußerung der Anteile an der FLG
(76) |
Angesichts der fortdauernden Betriebsverluste der FLG beschloss die Hansestadt Lübeck, ihre Anteile an der FLG zu veräußern. Um den bestmöglichen Käufer zu ermitteln, veröffentlichte die Hansestadt eine Ausschreibung, die am 21. März 2003 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde. |
(77) |
Die Hansestadt Lübeck erhielt Interessenbekundungen von fünf Unternehmen. Sie ließ den ersten vier Unternehmen je ein Paket mit detaillierteren Informationen zukommen. Ein Unternehmen hatte sein Angebot am 17. Juni 2003 nach Ablauf der Frist eingereicht. |
(78) |
Nur ein Unternehmen, nämlich Infratil, reichte ein förmliches Angebot ein. Daher nahm die Hansestadt Lübeck Verhandlungen mit Infratil auf. Ein erster Kaufvertrag wurde im März 2005 abgeschlossen. Er war jedoch an die Bedingung geknüpft, dass innerhalb eines festgelegten Zeitrahmens ein definitiver Planfeststellungsbeschluss für eine Verlängerung der Landebahn des Flughafens ergehen muss. Nach dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Schleswig („OVG Schleswig“) vom 18. Juli 2005 (24) konnte diese Bedingung jedoch nicht mehr erfüllt werden. |
(79) |
Das Urteil wirkte sich erheblich auf die Verhandlungspositionen beider Parteien aus. Da das Ergebnis des zuvor durchgeführten Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge nur ein förmliches Angebot war, hielt es die Hansestadt Lübeck für unwahrscheinlich, dass es nach der Aussetzung der Flughafenerweiterung mehr Interessenten gäbe. Folglich entschied sie sich gegen die Veröffentlichung einer zweiten Ausschreibung. Vielmehr verhandelten die Hansestadt Lübeck und Infratil erneut auf der Grundlage neuer Tatsachen und einigten sich auf einen an Bedingungen geknüpften Privatisierungsvertrag. Am 24. Oktober 2005 wurde ein Beteiligungsvertrag geschlossen („Beteiligungsvertrag von 2005“). Er trat am 1. Dezember 2005 in Kraft. |
(80) |
Der Beteiligungsvertrag von 2005 sah die Übertragung von 90 % der Anteile an der FLG von der Hansestadt Lübeck auf Infratil zum 1. Dezember 2005 vor. Im Gegenzug zahlte Infratil der Hansestadt Lübeck den sogenannten „Kaufpreis I“ in Höhe von […] (*1) EUR sowie weitere […] EUR, die einem Barkredit entsprechen, den die Hansestadt Lübeck der FLG zuvor für die Finanzierung der Betriebskosten und neue Investitionen gewährt hatte. Infratil musste außerdem die Betriebsverluste des Flughafens aus dem Jahr 2005 übernehmen. |
(81) |
Darüber hinaus sah der Beteiligungsvertrag von 2005 vor, dass Infratil einen „Kaufpreis II“ in Höhe von […] EUR zu einem späteren Zeitpunkt zu entrichten hatte, sofern die beiden folgenden Bedingungen erfüllt waren:
|
(82) |
Der vertraglich festgelegte Inhalt des Planfeststellungsbeschlusses umfasste Folgendes:
|
(83) |
Vom Kaufpreis II waren folgende Posten abzuziehen:
|
(84) |
Nach dem Beteiligungsvertrag von 2005 umfassen die Kosten des Planfeststellungsbeschlusses alle liquiditätswirksamen Kosten. Dazu zählen Aufwendungen für Ausgleichsmaßnahmen für das Planfeststellungsverfahren zwischen dem 1. Oktober 2005 und dem 31. Dezember 2008. |
(85) |
Der Beteiligungsvertrag von 2005 enthielt außerdem eine Verkaufsoption, der zufolge Infratil den ursprünglichen Erwerb der Anteile an der FLG rückgängig machen und einige der vereinbarten Kosten erstatten konnte, sofern
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(86) |
Im Falle der Ausübung der Verkaufsoption musste die Hansestadt Lübeck den Verkaufspreis I erstatten und bestimmte Verluste ausgleichen. Gemäß dem Beteiligungsvertrag von 2005 müsste die Hansestadt Lübeck Infratil […] EUR zahlen, sollte Infratil die Verkaufsoption ausüben. Dieser Betrag berechnete sich wie folgt: Tabelle 2 Preis der Verkaufsoption zum 31. Dezember 2008 in EUR
|
2.3.2. Die Ergänzungsvereinbarung von 2009 und die Neuverhandlung der Verkaufsoption — Übernahme von weiteren Verlusten, Investitionen und anderen Kosten
(87) |
2008 kündigte Infratil an, seine Kaufoption auszuüben, da der Planfeststellungsbeschluss nicht ergangen war, die Anzahl der Fluggäste nicht auf das im Beteiligungsvertrag von 2005 festgelegte Niveau gestiegen war und die Betriebsverluste der FLG höher ausfielen als erwartet. Um Infratil als Flughafenbetreiber zu halten, vereinbarte die Hansestadt Lübeck die Neuaushandlung bestimmter Klauseln des Beteiligungsvertrages von 2005 in Bezug auf die Verkaufsoption. Das Ergebnis war die Ergänzungsvereinbarung von 2009, die am 12. November 2008 unterzeichnet wurde. Sie erhöhte den von der Hansestadt Lübeck an Infratil nach dem Beteiligungsvertrag von 2005 zu zahlenden Verkaufsoptionspreis um weitere Verluste, Investitionen und andere Kosten. |
(88) |
Nach der Ergänzungsvereinbarung von 2009 wurde der neue Verkaufsoptionspreis wie folgt berechnet: Tabelle 3 Preis der Verkaufsoption im Oktober 2009 in EUR
|
(89) |
Im Zusammenhang mit einem Gesellschafterdarlehen, das Infratil der FLG gewährt hatte, musste die Hansestadt Lübeck Kollektivversicherungsleistungen zahlen. Diese Versicherung deckte alle von Infratil verwalteten Flughäfen ab. Der der FLG zuzurechnende Anteil belief sich auf […] EUR. |
(90) |
Die Differenz zwischen dem Preis der Verkaufsoption gemäß der Ergänzungsvereinbarung von 2009 und dem Preis der Verkaufsoption, die die Hansestadt Lübeck nach dem Beteiligungsvertrag von 2005 hätte zahlen müssen, liegt demnach bei […] EUR. |
(91) |
Als Gegenleistung verzichtete Infratil auf sein Recht auf Ausübung der Verkaufsoption vor dem 22. Oktober 2009 und gewährte der Hansestadt Lübeck weitere Beteiligungsrechte. Infratil legte der Hansestadt Lübeck zudem eine schriftliche Absichtserklärung zwischen der FLG und Ryanair vor, in der beide Parteien ihre Absicht bestätigten, die Fluggastzahlen zu steigern und in Bezug auf die Schaffung der Ryanair-Basis am Flughafen Lübeck zusammenzuarbeiten. |
2.4. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN VON RYANAIR
2.4.1. Vereinbarung von 2000
(92) |
Bis 2000 war der von der FLG betriebene Flughafen ein Flughafen, der sich durch luftfahrtgebundene Einnahmen finanzierte, die durch Charterflüge und die allgemeine Luftfahrt erzielt wurden. Im Jahr 2000 änderte der Flughafen sein Geschäftsmodell und wurde damit in einen Flughafen für Billigfluggesellschaften umgewandelt, bei dem Einnahmen durch eine Kombination von luftfahrtgebundenen und nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten erzielt werden. |
(93) |
Die FLG unterzeichnete am 29. Mai 2000 mit Ryanair eine Vereinbarung über Flughafendienstleistungen („Vereinbarung von 2000“). Die Vereinbarung von 2000 enthielt eine Spezifikation der von Ryanair zu entrichtenden Flughafengebühren sowie dem Flughafen zu zahlende Vermarktungsanreize. Die Vereinbarung von 2000 sollte vom 1. Juni 2000 bis zum 31. Mai 2010 laufen. |
(94) |
Für die Strecke nach London-Stansted veranschlagte der Flughafen die Kosten und Einnahmen wie folgt: Tabelle 4 Kosten und Einnahmen nach der Vereinbarung von 2000 aus Sicht der FLG
|
2.4.2. Vereinbarungen von 2010
(95) |
Am 29. März 2010 unterzeichneten Ryanair und der Flughafen Lübeck die Nebenvereinbarung Nr. 1 zur Vereinbarung von 2000 für den Zeitraum vom 28. März bis zum 30. Oktober 2010. Diese Nebenvereinbarung verlängerte die Vereinbarung von 2000 bis zum 30. Oktober 2010 und sah eine pro Passagier an Ryanair zu zahlende Anreizzahlung von […] EUR vor — neben der Zahlung für Marketingleistungen, die im Vertrag über die Flughafendienste von 2000 festgelegt war und einen Betrag in Höhe von […] EUR pro Fluggast (bei weniger als 18 Umläufen pro Woche) bzw. von […] EUR pro Fluggast (bei mehr als 18 Umläufen pro Woche) vorsah. Pro Woche wurden über 18 Umläufe von Ryanair geflogen, weshalb die FLG insgesamt […] EUR pro Passagier an Ryanair entrichten musste. Alle übrigen Bedingungen aus der Vereinbarung von 2000 wurden aufrechterhalten, und somit beliefen sich die Fluggastserviceentgelte pro abfliegendem Passagier, die an die FLG zu zahlen waren, auf […] EUR, die Vorfeldabfertigungsentgelte pro Flugzeugabfertigung auf […] EUR, die Fluggastabfertigungsentgelte pro Fluggast auf […] EUR und die Sicherheitsentgelte pro Passagier auf […] EUR. |
(96) |
Im Oktober 2010 wurde die Nebenvereinbarung Nr. 2 unterzeichnet, die die Bedingungen der ersten Nebenvereinbarung nicht aufrechterhielt, sondern eine Rückkehr zu den in der ursprünglichen Vereinbarung von 2000 festgehaltenen Marketingzahlungen vorsah. Die Nebenvereinbarung vom Oktober 2010 verlängerte die Bestimmungen der Vereinbarung von 2000 um drei Jahre bis zum 1. November 2013. |
(97) |
Am Tag der Unterzeichnung der Nebenvereinbarung Nr. 1, d. h. am 29. März 2010, unterzeichnete die FLG mit der Airport Marketing Services Limited („AMS“), einem 100 %igen Tochterunternehmen von Ryanair, ebenfalls eine Vereinbarung über Marketingdienstleistungen. Diese Vereinbarung über Marketingdienstleistungen deckte ebenfalls den Zeitraum vom 29. März bis zum 30. Oktober 2010 ab und spezifizierte die von AMS auf der Website von www.ryanair.com zu erbringenden Werbedienstleistungen, für die die FLG […] EUR zu entrichten hatte. |
2.5. ENTGELTE FÜR DIE ENTEISUNG VON FLUGZEUGEN AN DEM FLUGHAFEN
(98) |
Für Enteisungsentgelte gilt die Regelung für Sonderentgelte für sämtliche Fluggesellschaften, die den Flughafen nutzen. Bei der Regelung für Sonderentgelte handelt es sich um ein von der allgemeinen Entgeltordnung für den Flughafen gesondertes Dokument. Es wird regelmäßig aktualisiert. Die Regelung für Sonderentgelte unterscheidet zwischen mehreren Kategorien, d. h. Enteisung von Flugzeugen mit bis zu 10 t Höchstabfluggewicht, Enteisung von Flugzeugen ab 10 t Höchstabfluggewicht, Enteisungsflüssigkeit und Warmwasser und legt einen Preis für jede dieser Kategorien fest. |
3. GRÜNDE FÜR DIE EINLEITUNG DES FÖRMLICHEN PRÜFVERFAHRENS
(99) |
In ihren Einleitungsbeschlüssen aus dem Jahr 2007 und dem Jahr 2012 leitete die Kommission Prüfungen bezüglich einer möglichen staatlichen Beihilfe zugunsten der FLG, von Infratil, Ryanair, Wizz Air und anderen Fluggesellschaften im Auftrag von Globalis Reisen ein. |
3.1. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN DER FLG
(100) |
Die Kommission hatte Zweifel bezüglich des Vertrags über die Gewinn- und Verlustübertragung vom 19. Oktober 1978 („Verlustübernahmevertrag“), wonach die Betriebsverluste der FLG zwischen 1978 und 2004, der Pachtvertrag für Grundstücke und Flughafeninfrastruktur und die Übernahme der ausstehenden Verbindlichkeiten von der Hansestadt Lübeck gedeckt wurden. Auch hatte die Kommission Zweifel an der möglichen Investitionsbeihilfe im Rahmen des Beschlusses von 2005 über Regionalflughäfen und dessen mutmaßlicher Verletzung, dem Verlustausgleich seit November 2009, der Finanzierung von Infrastrukturinvestitionen durch die Hansestadt Lübeck und das Land Schleswig-Holstein sowie die Rangrücktrittserklärung für die Gesellschafterdarlehen, die die Hansestadt Lübeck der FLG gewährt hat. Im Zusammenhang mit diesen Maßnahmen äußerte die Kommission Zweifel, ob ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter unter normalen Marktbedingungen der FLG ebenfalls ähnliche Vorteile verschafft hätte. |
3.2. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN VON INFRATIL
(101) |
Als 90 % der Anteile an der FLG an Infratil verkauft wurden, äußerte die Kommission Zweifel bezüglich der Vereinbarkeit des Privatisierungsprozesses mit dem Beihilferecht. Darüber hinaus vermutete die Kommission mögliche staatliche Beihilfen, als die Bedingungen der Verkaufsoption 2008/2009 neu verhandelt wurden. |
3.3. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN VON RYANAIR
(102) |
Hinsichtlich der Vereinbarung von 2000 mit Ryanair und den Nebenvereinbarungen vom März und Oktober 2010 äußerte die Kommission Zweifel, ob diese Vereinbarung nicht Ryanair einen besonderen Vorteil gewährte und somit eine staatliche Beihilfe darstellt. |
3.4. ENTGELTE FÜR DIE ENTEISUNG VON FLUGZEUGEN AM FLUGHAFEN
(103) |
Die Kommission hatte Zweifel, ob die seit November 2009 in Rechnung gestellten Gebühren für das Enteisen eine staatliche Beihilfe beinhalten, da es Hinweise darauf gab, dass die Preise für das Enteisen des Flugzeugs niedriger als die dem Flughafen entstehenden Kosten lagen. |
4. STELLUNGNAHMEN DEUTSCHLANDS
4.1. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN DER FLG
(104) |
Deutschland wies darauf hin, dass die FLG nicht mehr existiert. Im Zuge der Privatisierung des Flughafens Lübeck verschmolz die FLG mit der Hansestadt Lübeck. Damit wurde die Hansestadt Lübeck Gesamtrechtsnachfolgerin der FLG, und die Ansprüche zwischen der FLG und der Hansestadt Lübeck wurden gegenstandslos. Deutschland gab daher an, dass alle Fragen bezüglich einer staatlichen Beihilfe der Hansestadt Lübeck an die FLG hinfällig seien. Darüber hinaus nahm Deutschland zu den einzelnen Maßnahmen Stellung und führte an, dass alle Maßnahmen dem Beihilferecht entsprächen, da sie entweder eine bestehende Beihilfe darstellten oder den Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten erfüllten.
|
4.2. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN VON INFRATIL
4.2.1. Veräußerung der Anteile an der FLG
(105) |
Deutschland argumentierte, dass der vereinbarte Kaufpreis marktüblich sei. Deutschland gab weiter an, dass das Ausschreibungsverfahren zur Veräußerung von 90 % der Anteile der FLG ein offenes, transparentes, bedingungs- und diskriminierungsfreies Verfahren gewesen sei. Deutschland teilte mit, dass die Neuverhandlung des Vertrags, die durch den Beschluss des OVG Schleswig vom 18. Juli 2005 (26) erforderlich wurde, nichts am Ergebnis des Bietverfahrens geändert habe, dass Infratil das einzige und höchste Angebot eingereicht hatte. Deutschland zufolge wäre eine erneute Aufforderung zur Abgabe eines Angebots infolge des Urteils unnötig und ergebnislos gewesen, da die Situation für potenzielle Anbieter im Vergleich zur vorherigen noch weiter an Attraktivität verloren habe. |
(106) |
Deutschland führte an, dass es keinen Grund für eine neue Aufforderung zur Abgabe eines Angebots gegeben habe, da sich der Beschluss des OVG Schleswig zwar auf den Wert des Flughafens, nicht aber auf den tatsächlichen Gegenstand des Ausschreibungsverfahrens ausgewirkt habe. Darüber hinaus ist Deutschland der Ansicht, dass Vertragsänderungen jederzeit möglich sein müssen. Zur Stützung dieser Argumente verwies Deutschland auf die deutschen Rechtsvorschriften über das öffentliche Beschaffungswesen. |
(107) |
Des Weiteren ergab Deutschland zufolge der Sachverständigenbericht von Ernst & Young, dass die Bedingungen der Privatisierung den Marktwert der FLG zu diesem Zeitpunkt widerspiegelten und das Wirtschaftsergebnis einer möglichen Abwicklung bei weitem überstiegen. |
4.2.2. Die Ergänzungsvereinbarung von 2009 und die Neuverhandlung der Verkaufsoption — Übernahme von weiteren Verlusten, Investitionen und anderen Kosten
(108) |
Deutschland gab an, dass der Vertrag zwischen Infratil und der Hansestadt Lübeck im Kontext der rechtlichen und wirtschaftlichen Situation des Flughafens Lübeck im Jahr 2009 bewertet werden müsse. Darunter fielen der noch nicht ergangene Planfeststellungsbeschluss, das anhängige Gerichtsverfahren, an dem der Flughafen beteiligt war, und die Wirtschafts- und Finanzkrise. |
(109) |
Deutschland bestritt die Behauptung, dass Infratil ein Vorteil entstanden sei, da der Preis für die Verkaufsoption bereits im Zusammenhang mit der ursprünglichen Vertrag mit Infratil von 2005 im Rahmen eines öffentlichen, transparenten und diskriminierungsfreien Ausschreibungsverfahrens verhandelt worden sei. Deutschland führte an, dass der moderate Preisanstieg im Jahr 2009 im Vergleich zu der 2005 vereinbarten Höhe der Gegenleistung von Infratil als angemessen zu betrachten sei. |
(110) |
Deutschland gab an, dass die Übernahme der Verluste aus wirtschaftlicher Sicht vorteilhafter gewesen sei als die Folgen der Ausübung der Verkaufsoption durch Infratil. Deutschland betonte, dass erstens eine Schließung des Flughafens nicht in Betracht gezogen wurde, da der Vollzeitbetrieb des Flughafens eine Gemeinwohlverpflichtung darstelle. Zweitens wäre es nicht möglich gewesen, innerhalb eines vertretbaren Zeitraums einen neuen privaten Investor zu finden, da ein unionsweites öffentliches Ausschreibungsverfahren erforderlich gewesen wäre. Ein solches Verfahren sei zeit- und ressourcenaufwändig (Dauer: rund 12 Monate). |
4.3. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN VON RYANAIR
4.3.1. Vereinbarung von 2000
(111) |
Nach Angaben Deutschlands gab es keinen wirtschaftlichen Vorteil für Ryanair. Deutschland gab an, dass ein mit der FLG vergleichbarer privater Betreiber den Vertrag mit Ryanair unter ähnlichen Bedingungen ebenfalls abgeschlossen hätte. Bei Abschluss der Vereinbarung von 2000 verfolgte die FLG das Ziel, langfristig rentabel zu werden. Deutschland argumentierte diesbezüglich dahingehend, dass sich die Geschäftsstrategie von Flughäfen in der Regel auf luftfahrtgebundene sowie nicht luftfahrtgebundene Tätigkeiten, wie dem Betrieb von Geschäften, Restaurants und Parkplätzen, stütze. Deutschlands Ansicht nach ist es daher rentabel, allen Fluggesellschaften niedrige Flughafenentgelte anzubieten, um die Fluggastzahl zu erhöhen und erhebliches Wachstum im nicht luftfahrtgebundenen Bereich zu erzielen, mit dem niedrigere Einnahmen im luftfahrtgebundenen Bereich ausgeglichen werden können. |
(112) |
Deutschland merkte außerdem an, dass mit der Anwerbung von Fluggesellschaften, die einen Linienbetrieb anbieten, mehrere Vorteile verbunden seien. Insbesondere argumentierte Deutschland, dass der Flughafen davon ausgehen könnte, dass die jeweiligen Fluggesellschaften in Zukunft keine Vereinbarungen mit konkurrierenden Flughäfen treffen würden. Auch sollte der Flughafen so andere Fluggesellschaften anziehen. |
(113) |
Zur Unterstützung seines Arguments bezüglich der Einhaltung der Marktbedingungen führte Deutschland den Sachverständigenbericht von Ernst & Young an. Auch führte Deutschland aus, dass der private Mehrheitsgesellschafter Infratil nach der Privatisierung des Flughafens die in Randnummer 112 genannte Strategie weiter verfolgte. |
(114) |
Deutschland argumentierte, dass die Geschäftsstrategie aus dem Jahr 2000 auch von einem Ex-post-Standpunkt aus betrachtet gerechtfertigt war. Die Fluggastzahl sei erheblich gestiegen, Ryanair habe neue Flugziele hinzugefügt, und der Flughafen Lübeck sei in der Lage gewesen, neue Fluggesellschaften wie WizzAir anzuwerben. Deutschland gab an, dass der Vertrag mit Ryanair ausschlaggebend für die Gewinnung des privaten Investors Infratil gewesen sei. |
(115) |
Deutschland brachte außerdem vor, dass für Ryanair kein selektiver Vorteil bestanden habe, da die FLG einer anderen interessierten Fluggesellschaft die gleichen Bedingungen angeboten hätte. |
(116) |
Des Weiteren ist Deutschland vor dem Hintergrund des Urteils in der Rechtssache Stardust Marine (27) der Ansicht, dass die mutmaßlichen Vorteile zugunsten von Ryanair nicht dem Staat zugerechnet werden können. Deutschland zufolge hat die FLG autonom und ohne Beeinflussung des Staates gehandelt, und zwar vor, während und nach dem Vertragsabschluss mit Ryanair im Jahr 2000. Außerdem gab Deutschland an, dass die FLG nicht in die Strukturen der öffentlichen Verwaltung integriert gewesen sei. Schließlich merkte Deutschland an, dass sich die Aufsicht der Behörden über das Management der FLG auf die Luftfahrt und Angelegenheiten öffentlicher Zuständigkeit beschränkt und keine Geschäftsführungstätigkeiten beinhaltet. Darüber hinaus argumentierte Deutschland, dass die Hansestadt Lübeck und insbesondere der Aufsichtsrat der FLG an der Entscheidung über den Vertrag mit Ryanair nicht beteiligt gewesen seien, was durch das Protokoll der Aufsichtsratssitzung vom 11. Juli 2000 sowie eine schriftliche Bestätigung des ehemaligen Geschäftsführers der FLG belegt werde. |
(117) |
Deutschland gab des Weiteren an, dass die Vereinbarung von 2000 den Wettbewerb nicht verfälscht oder zu verfälschen droht und den Handel zwischen Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigt, da zwischen dem Flughafen Lübeck und anderen Flughäfen keine echte Wettbewerbsbeziehung bestehe. |
4.3.2. Vereinbarungen von 2010
(118) |
Deutschland argumentierte dahingehend, dass die Nebenvereinbarung Nr. 1 den marktüblichen Bedingungen entspräche und Ryanair keinen Vorteil gewähre. Deutschland gab an, dass unter Bezugnahme auf die Rechtssache Helaba I (28) kein Vorteil bestehe, wenn andere Betreiber regionaler Flughäfen Ryanair ähnliche Bedingungen bieten. Des Weiteren gab Deutschland an, dass dies durch die Vergleichsanalyse von Ryanair nachgewiesen sei. |
(119) |
Deutschland argumentierte, dass Billigfluggesellschaften wie Ryanair und Wizz Air weniger Bedarf an Bodenabfertigungsdiensten und Bereitstellung von Infrastruktur haben. Erstens würden weniger Check-in-Schalter benötigt, da das Check-in von Ryanair online erfolgen kann und weniger Gepäck befördert wird. Zweitens gebe es keine Passagierbusse. Drittens verbringen Flugzeuge von Ryanair weniger Zeit am Boden, da die Fußwege am Flughafen Lübeck kurz sind. Da es viertens keine Anschlussflüge gebe, seien keine Anschlussflugeinrichtungen erforderlich. Fünftens und letztens bestehe weniger Bedarf an Reinigungsdiensten am Boden, da das Bordpersonal die Flugzeugreinigung häufig selbst übernehme. |
(120) |
Mit den gleichen Argumenten wie für die Vereinbarung von 2000 wies Deutschland darauf hin, dass die Nebenvereinbarungen nicht dem Staat zugerechnet werden können. |
(121) |
Deutschland merkte an, dass die Nebenvereinbarung Nr. 2 eine Verlängerung des Vertrags von 2000 ist und letzteren nicht wesentlich ändert. Da die Vereinbarung von 2000 die Marktanforderungen erfüllt, gälte das Gleiche für die Nebenvereinbarung Nr. 2. |
(122) |
Schließlich gab Deutschland an, dass es keine negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb oder den Handel gegeben habe, da der Flughafen Lübeck ein kleiner Regionalflughafen sei, der nicht mit dem Flughafen Hamburg konkurriere. |
4.4. ENTGELTE FÜR DIE ENTEISUNG VON FLUGZEUGEN AM FLUGHAFEN
(123) |
Deutschland stellte fest, dass die Entgelte für die Enteisung nicht individuell ausgehandelt wurden, sondern sich auf eine Regelung für Sonderdienste stützten, die für alle Fluggesellschaften gelte. Des Weiteren merkte Deutschland an, dass keine staatliche Beihilfe bestehe, da die Grundelemente einer solchen Beihilfe nicht vorlägen. Erstens seien die Entgelte nicht selektiv gewesen. Zweitens waren die Entgelte nicht dem Staat zuzurechnen, was durch die Tatsache bestätigt wird, dass Infratil und Yasmina, zwei private Investoren, für die Festlegung dieser Entgelte während des erheblichen Zeitraums, in dem sie den Flughafen betrieben, verantwortlich waren. Drittens sei kein Vorteil entstanden. Die privaten Investoren Infratil und Yasmina entschieden sich gegen eine Änderung der Regelung für Sonderdienste, was bedeute, dass die Enteisungsentgelte den Marktanforderungen entsprachen. |
5. STELLUNGNAHMEN VON BETEILIGTEN
5.1. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN DER FLG
(124) |
Hinsichtlich einer möglichen staatlichen Beihilfe zugunsten der FLG waren die meisten Beteiligten, die dazu Stellung nahmen, derselben Ansicht wie Deutschland. Dies gilt insbesondere für Ryanair, die FLG, die IHK zu Lübeck und die ADV. |
(125) |
Anderer Meinung waren die SGF, der BDF sowie die beiden Privatpersonen Peter C. Klanowski und Horst Conrad. Diese Beteiligten waren der Ansicht, dass die FLG von der Hansestadt Lübeck staatliche Beihilfen erhalten habe:
|
5.2. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN VON INFRATIL
5.2.1. Veräußerung der Anteile an der FLG
5.2.1.1. Infratil
(126) |
Infratil gab an, dass die Anteile an der FLG im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens gekauft wurden, das unionsweit, offen, transparent und diskriminierungsfrei war. Der Kaufpreis entspricht im Übrigen der Marktwert von 90 % der Anteile an der FLG unter den gegebenen Umständen. Deshalb enthält der Beteiligungsvertrag von 2005 keine Elemente einer staatlichen Beihilfe. Infratil fügte hinzu, dass es das beste Angebot abgegeben habe, woran auch die Tatsache nichts ändere, dass die Hansestadt Lübeck und Infratil eine zweite Verhandlungsrunde aufnahmen, um die Bedingungen des ursprünglichen Vertrags zu ändern. |
5.2.1.2. Ryanair
(127) |
Nach Ryanair erfolgte die Privatisierung im Rahmen eines offenen, transparenten und diskriminierungsfreien Ausschreibungsverfahrens, was durch den Sachverständigenbericht von Ernst & Young belegt werde. Diesbezüglich betonte Ryanair den Ruf und die Unabhängigkeit von Ernst & Young. Ryanair zufolge sei die Schließung des Flughafens aus wirtschaftlichen und politischen Gründen nicht in Betracht gekommen. |
5.2.1.3. Schutzgemeinschaft
(128) |
Hinsichtlich einer möglichen staatlichen Beihilfe in Verbindung mit der Privatisierung der FLG äußerte die SGF erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit des Kaufpreises mit dem Marktstandard. Des Weiteren argumentierte die SGF, dass der Vertrag Garantien der Hansestadt Lübeck enthalte, die ebenfalls für die staatliche Beihilfe relevant seien. |
5.2.2. Die Ergänzungsvereinbarung von 2009 und die Neuverhandlung der Verkaufsoption — Übernahme von weiteren Verlusten, Investitionen und anderen Kosten
5.2.2.1. Infratil
(129) |
Infratil erläuterte, dass die Ergänzungsvereinbarung von 2009 im Kontext des Beteiligungsvertrags von 2005 und der Bedingung des Erhalts des Planfeststellungsbeschlusses betrachtet werden müsse. Da schlussendlich der Planfeststellungsbeschluss aufgrund des Urteils des OVG Schleswig nicht erging, kündigte Infratil 2008 an, seine Verkaufoption ausüben zu wollen. Die einzige Möglichkeit, mit der die Hansestadt Lübeck Infratil davon abhalten konnte, sei die Ergänzungsvereinbarung von 2009 gewesen. |
(130) |
Infratil erklärte, dass die von der Hansestadt Lübeck gewählte Option marktkonform gewesen sei. Hätte Infratil die Verkaufsoption ausgeübt, hätte die Hansestadt Lübeck ab dem 31. Dezember 2008 alle Kosten und Verluste im Zusammenhang mit dem Betrieb des Flughafens Lübeck tragen müssen. Ein Weiterverkauf des Flughafens an einen privaten Investor wäre innerhalb kurzer Zeit nicht möglich gewesen, und die Schließung des Flughafens habe die Hansestadt Lübeck aufgrund gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen und finanzieller Gründe nicht in Betracht gezogen. Der Ausstieg von Infratil hätte außerdem mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu geführt, dass Ryanair seine Dienste am Flughafen Lübeck eingeschränkt oder eingestellt hätte. Daher wären Infratil zufolge die Betriebsverluste der FLG höher gewesen, wenn Infratil seine Verkaufsoption ausgeübt hätte. |
(131) |
Infratil gab an, dass die Differenz zwischen dem gezahlten Preis der Verkaufsoption gemäß der Ergänzungsvereinbarung von 2009 und dem Preis der Verkaufsoption, der im Januar 2009 hätte gezahlt werden müssen, auf Leistungen zurückzuführen sei, auf die sich die Parteien geeinigt hatten. Die Hansestadt Lübeck hätte nach der Deprivatisierung in jedem Fall alle bis auf zwei der zusätzlichen Ausgaben abdecken müssen, was zu der Schlussfolgerung führe, dass die Ergänzungsvereinbarung von 2009 die wirtschaftlich günstigste Entscheidung gewesen sei. |
(132) |
Infratil argumentierte weiter, dass die zusätzlichen Ausgaben keinen Vorteil für Infratil darstellten. Erstens hätte Infratil nicht auch die Verluste im Jahr 2009 übernehmen müssen, wenn es von seiner Verkaufsoption Gebrauch gemacht hätte. Zweitens könne die Verpflichtung der Hansestadt Lübeck zur Zahlung von Zinsen für die Gesellschafterdarlehen für den Zeitraum 1. Januar bis 22. Oktober 2009 nicht als wirtschaftlicher Vorteil betrachtet werden, da Infratil durch die Ausübung der Verkaufsoption im Januar 2009 dieselben oder sogar höhere Einnahmen hätte erzielen können. In einem hypothetischen Szenario hätte Infratil die Einnahmen zur Rückzahlung bestehender Schulden verwendet, um Zinsen zu sparen. Darüber hinaus sei Infratil kein Vorteil entstanden, da nicht davon ausgegangen werden konnte, dass der Flughafen Lübeck kurzfristig Gewinne erzielen würde, sondern eher weiterhin Verluste machen würde. |
(133) |
Infratil argumentierte, dass die Einlösung der Verkaufsoption Infratil nicht in die Lage versetzte, die Ausgangssituation vollständig ex quo ante wiederherzustellen, da Infratil bestimmte Verluste (die Differenz zwischen den genehmigten Betriebsverlusten und den tatsächlichen Verlusten) ohne Ausgleich tragen musste. |
(134) |
Selbst wenn die Kommission befinden sollte, dass die Neuverhandlung der Verkaufsoption eine staatliche Beihilfe darstelle, sei diese Infratil zufolge mit dem Binnenmarkt vereinbar. Sollte die Kommission feststellen, dass die Hansestadt Lübeck Infratil durch die Übernahme von Betriebsverlusten der FLG im Jahr 2009 eine Beihilfe gewährte, argumentiert Infratil dahingehend, dass dies lediglich ein Ausgleich für die Verluste wäre, die mit der Erfüllung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse einhergingen. |
5.2.2.2. Hansestadt Lübeck
(135) |
Die Hansestadt Lübeck argumentierte, dass die Verlustübernahmevereinbarung die günstigste und am wenigsten risikobehaftete Alternative gewesen sei. Dies sei insbesondere durch die rechtliche Verpflichtung der Hansestadt Lübeck begründet, den Flughafen gemäß § 45 Abs. 1 Luftverkehrs-Zulassungs-Ordnung, („LuftVZO“) zu betreiben. Die Schließung des Flughafens sei daher nicht in Betracht gekommen. Darüber hinaus wären für die Schließung des Flughafens zu viel Zeit und zu viele Ressourcen erforderlich gewesen. |
(136) |
Die Hansestadt Lübeck erinnerte die Kommission des Weiteren daran, dass weder die Hansestadt Lübeck noch Infratil zuvor Erfahrungen mit der Privatisierung eines Flughafens gesammelt hatten. Dies könne zu bestimmten Fehlkalkulationen führen, jedoch nicht zu dem Schluss, dass die Parteien den marktwirtschaftlichen Grundsätzen zuwiderhandelten. Darüber hinaus argumentierte die Hansestadt Lübeck dahingehend, dass Infratil im Zusammenhang mit der Privatisierung der einzige Anbieter gewesen sei, was die Verhandlungsmacht der Hansestadt Lübeck geschwächt habe. |
5.2.2.3. Schutzgemeinschaft
(137) |
Die SGF brachte vor, dass die Ergänzungsvereinbarung von 2009 eine neue Beihilfe darstelle und zu einem Vorteil für Infratil geführt habe. Da die Beihilfe die de minimis-Schwelle überschreite, hätte sie mitgeteilt werden müssen, was Deutschland nicht getan hat. |
(138) |
Der SGF nach erhielt Infratil durch die Ergänzungsvereinbarung von 2009 eindeutig einen Vorteil. Hinsichtlich der Anwendung des Kriteriums des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsteilnehmers wies die SGF darauf hin, dass die positive Auswirkung einer Vereinbarung auf die Region nicht berücksichtigt werden sollte. In diesem Zusammenhang führte die SGF an, dass für den Flughafen Lübeck keine Rentabilitätsaussichten bestanden. Die SGF fügte hinzu, dass die FLG Anfang 2008 eine Insolvenz nur aufgrund der Zugeständnisse seitens Infratil vermeiden konnte. Die SGF war nicht der Ansicht, dass der Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsteilnehmers erfüllt wurde, da kein privater Investor bereit gewesen wäre, den Betrieb bei derartigen Verlusten aufrechtzuerhalten, wie die Ausübung der Verkaufsoption durch Infratil zeige. |
(139) |
Hinsichtlich der Schließung des Flughafens argumentierte die SGF dahingehend, dass Hamburg über ausreichend Kapazitäten verfüge, um einen Betrieb ohne Lübeck als Kapazitätsreserve zu garantieren. Darüber hinaus seien die Kosten einer Schließung der SGF zufolge von der FLG zu hoch angesetzt worden. Tabelle 5 sei realistischer, auch wenn sie laut der SGF möglicherweise immer noch zu hohe Werte enthalte: Tabelle 5 Kosten für die Schließung des Flughafens Lübeck, vorgelegt von der Schutzgemeinschaft
|
(140) |
Des Weiteren äußert die SGF Zweifel an der angeblichen Verpflichtung zum Betrieb des Flughafens als Gemeinwohldienstleistung, da die Zulassung zum Flughafenbetrieb nicht automatisch eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse mit sich bringe. Eine solche Zulassung könne auch zurückgenommen werden. |
5.2.2.4. Ryanair
(141) |
Ryanair argumentierte, dass die Differenz zwischen den 2005 und 2009 vereinbarten Preisen der Verkaufsoption und dem von der Hansestadt Lübeck tatsächlich gezahlten Preis für die Verkaufsoption auf mehrere Faktoren zurückzuführen sein könnte, beispielsweise Schwankungen bei den Anteilspreisen. Die 2005 vorherrschenden wirtschaftlichen Bedingungen seien deutlich positiver gewesen als 2009, was die Preisdifferenz begründen könne. |
5.3. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN VON RYANAIR
5.3.1. Vereinbarung von 2000
5.3.1.1. Ryanair
(142) |
Ryanair gab an, dass der Vertrag mit der Hansestadt Lübeck auf der Grundlage wirtschaftlicher Erwägungen geschlossen worden sei. Der Flughafen Lübeck sei als funktionsfähiger Sekundärflughafen neben dem Flughafen Hamburg und Lübeck selbst als wertvolles kulturelles Ziel betrachtet worden. Darüber hinaus seien am Flughafen Lübeck Dienstleistungen eingeführt worden, um eine niedrige Kostengrundlage zu schaffen und die demografischen Strukturen zu analysieren, um festzustellen, ob rund um den neuen Flughafen ein ausreichend großes Einzugsgebiet vorhanden sei. Ryanair konnte zwar keinen Geschäftsplan vorlegen, um die Beweggründe für die Aufnahme des Betriebs am Flughafen Lübeck zu untermauern; doch betonte Ryanair, dass ein solcher Geschäftsplan für einen privaten Markinvestor nicht grundsätzlich erforderlich sei. Ryanair erläuterte, dass seine Dienstleistungen am Flughafen Lübeck aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt wurden, darunter gestiegene Kosten und Gewinne, die (aufgrund der Wirtschaftskrise) niedriger ausfielen als erwartet. |
(143) |
Ryanair gab an, dass sich Regionalflughäfen in der Union in einer schwierigen Marktposition befinden. Daher müssten Einnahmen des Flughafens sowohl aus luftfahrtgebundenen als auch aus nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten berücksichtigt werden, was auch als „Single-Till-Ansatz“ bezeichnet wird. Da Verträge mit Ryanair in der Regel eine hohe Fluggastzahl in Aussicht stellen, trügen derartige Geschäftsbeziehungen häufig dazu bei, den Wiedererkennungswert von Flughäfen zu steigern und andere Fluggesellschaften sowie Einzelhändler und andere Dienstleister anzuziehen. Außerdem erläuterte Ryanair, dass es deutliche Anhaltspunkte dafür gebe, dass eine höhere Fluggastzahl zu höheren Einnahmen aus nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten führen würde. Als Nachweis reichte Ryanair folgende Tabelle ein: Tabelle 6 Einnahmen aus nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten als Anteil an den Gesamteinnahmen ausgewählter Flughäfen
|
(144) |
Ryanair argumentierte dahingehend, dass jedes geschäftliche Angebot vor dem Hintergrund des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten in der Regel eine Verbesserung der gegenwärtigen Situation darstelle, solange der erwartete Grenznutzen die Grenzkosten übersteige. Des Weiteren argumentierte Ryanair, dass berücksichtigt werden müsse, dass Ryanair im Vergleich zu anderen Fluggesellschaften dank seines Geschäftsmodells und seiner Betriebseffizienz seinen Bedarf erheblich gesenkt habe. |
(145) |
Um die Vereinbarkeit der Einhaltung seiner Vereinbarung von 2000 mit den Marktanforderungen besser zu belegen, verglich Ryanair den Flughafen Lübeck mit Flughäfen in einer ähnlichen Situation und mit einer ähnlichen Größe. Bei den Vergleichsflughäfen handelt es sich um Bournemouth, Grenoble, Knock, Maastricht, Nîmes und Prestwick. Ein Vergleich der Entgelte, die Ryanair an den Vergleichsflughäfen entrichtete, zeigte, dass die von Ryanair an den Flughafen Lübeck gezahlten Entgelte allgemein höher waren als der Durchschnittswert der Vergleichsflughäfen, sowohl pro Fluggast als auch pro Flugzeugabfertigung. Ryanair legte der Kommission dringend nahe, bei ihrer Bewertung, ob die Vereinbarung von 2000 den Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsteilnehmers einhält, die Vergleichsanalyse stärker zu berücksichtigen als die Rentabilitätsanalyse. |
(146) |
In ihrem Bericht berechnet Oxera den Nettogegenwartswert („NPV“) der Vereinbarung von 2000. Diesem Bericht zufolge liegt der positive NPV bei […] EUR. Oxera führte für diese Berechnung eine Reihe von Sensitivitätsprüfungen durch. |
5.3.1.2. Air Berlin
(147) |
Air Berlin stellte fest, dass die von Ryanair vom Flughafen Lübeck aus angebotenen Flugverbindungen in direktem Wettbewerb mit jenen stünden, die Air Berlin vom Flughafen Hamburg aus anbietet. Dies gelte insbesondere für die Ziele London, Mailand und Barcelona, die von beiden Fluggesellschaften angeflogen werden. |
(148) |
Air Berlin argumentierte dahingehend, dass das Ziel der Marketingstrategie von Ryanair das Abwerben potenzieller Kunden, u a. von Air Berlin, gewesen sei. Aufgrund der niedrigen Preise von Ryanair wechselten die Kunden vom Flughafen Hamburg nach Lübeck. Air Berlin behauptet, dass Air Berlin infolge der staatlichen Beihilfe erhebliche wirtschaftliche Verluste erlitten habe. Air Berlin habe aufgrund des parallelen Angebots von Ryanair am Flughafen Lübeck einige Flugverbindungen einstellen müssen. Darüber hinaus gab Air Berlin an, dass es schwierig sei, neue Zielflughäfen vom Flughafen Hamburg aus anzufliegen, solange Ryanair vom Flughafen Lübeck aus ähnliche Ziele zu extrem niedrigen Preisen anbiete. |
(149) |
Zur Unterstützung seiner Argumente hinsichtlich der in unfairem Maße niedrigen Entgelte von Ryanair und des Wettbewerbs zwischen Lübeck und Hamburg nahm Air Berlin außerdem auf die sechstägige Schließung des Flughafens Lübeck ab dem 19. April 2004 Bezug. Während dieser Schließung musste Ryanair seinen Flugverkehr vom Flughafen Lübeck auf den Flughafen Hamburg verlegen. Aufgrund der höheren Flughafenentgelte am Flughafen Hamburg habe Ryanair die zusätzlichen Kosten in Höhe von […] EUR der FLG in Rechnung gestellt. Dies belegt laut Air Berlin, dass Ryanair in nur sechs Tagen Fluggesellschaften gegenüber, die den Flughafen Hamburg bedienen, einen Vorteil in Höhe von […] EUR erlangt habe. |
(150) |
Air Berlin unterstützte sein Argument weiter, indem es eine Tabelle mit Angaben zu Fluggästen und Flügen vor (bis 1999) und nach (ab 2000) der Betriebsaufnahme von Ryanair am Flughafen Lübeck vorlegte: Tabelle 7 Fluggäste und Flüge (von Air Berlin vorgelegte Tabelle)
|
(151) |
Tabelle 7 nach nahmen die Fluggastzahlen im Jahr 2000, als Ryanair seinen Betrieb am Flughafen aufnahm, deutlich zu. Air Berlin gab an, dass 97 % der Fluggäste auf Ryanair entfielen. Dem stehen allerdings die Verluste der FLG entgegen, die vor (bis 1999) und nach (ab 2000) der Betriebsaufnahme von Ryanair am Flughafen Lübeck entstanden: Tabelle 8 Verluste der FLG (von Air Berlin vorgelegte Tabelle)
|
(152) |
Aufgrund von Tabelle 7 und Tabelle 8 argumentierte Air Berlin dahingehend, dass sich zwar die Fluggastzahlen zwischen 2002 und 2003 beinahe verdoppelten, die Verluste in diesem Zeitraum jedoch um über […] EUR stiegen. Ferner führte Air Berlin aus, dass die FLG Ryanair Sonderbedingungen, Rabatte sowie Erstattungen und sonstige Zahlungen gewährte. Die von Ryanair für den Flughafen Lübeck entrichteten Entgelte lagen unter denen der damals gültigen Entgeltordnung. Außerdem erbrachte Ryanair Air Berlin zufolge von den Marketingkosten unabhängige Marketingdienstleistungen. Nach Auffassung von Air Berlin scheinen die Vorteile der Marketingdienstleistungen, die Ryanair erhielt, nicht mit den tatsächlichen Marketingaufwendungen von Ryanair im Zusammenhang zu stehen. |
(153) |
Daher ist Air Berlin der Ansicht, dass die Vereinbarung von 2000 zwischen der FLG und Ryanair die marktwirtschaftlichen Anforderungen nicht erfüllte. Air Berlin zufolge wird der Flughafen Lübeck aus regionalpolitischen Erwägungen, nicht aber aus Rentabilitätsgründen betrieben. |
(154) |
Nach Auffassung von Air Berlin können das Vorhandensein von Vorzugsbedingungen für Ryanair in Lübeck auf der einen Seite und die Art und Weise der an Bedingungen geknüpften Privatisierung des Flughafens auf der anderen Seite wohl kaum getrennt werden. Air Berlin betrachtet den Beteiligungsvertrag mit Infratil nicht als Beweis für die Einhaltung des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten, da eine Verkaufsoption involviert ist. Demgegenüber ist Air Berlin der Auffassung, dass ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter 2005 eine neue Ausschreibung für den Flughafen lanciert hätte. |
(155) |
Des Weiteren gab Air Berlin an, dass die Vereinbarung mit Ryanair Deutschland zuzurechnen sei. Gemäß der FLG-Satzung müsse der Aufsichtsrat Entgelte, die aus der Nutzung des Flughafens entstehen, genehmigen (§ 12 der Satzung). Vier der sechs Mitglieder des Aufsichtsrats werden von der Hansestadt Lübeck gewählt. Daraus schloss Air Berlin, dass die Hansestadt Lübeck verantwortlich gemacht werden könne. Air Berlin ist der Ansicht, dass bestimmte Aussagen von führenden FLG-Mitarbeitern weiter belegen, dass die in Rede stehende Vereinbarung der Hansestadt Lübeck zugerechnet werde könnte. |
5.3.1.3. Infratil
(156) |
Bezüglich einer möglichen staatlichen Beihilfe zugunsten von Ryanair gab Infratil an, dass die Vereinbarung von 2000 wirtschaftlich zweckmäßig, von großer Bedeutung für die Entwicklung des Flughafens und vollständig in Übereinstimmung mit dem Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten gewesen sei. Infratil ist ferner der Ansicht, dass die Vereinbarung von 2000 und ihre Umsetzung nicht der Hansestadt Lübeck oder anderen staatlichen Stellen zurechenbar ist. Die Hansestadt Lübeck bzw. der Aufsichtsrat erteilten keine Anordnungen bzw. erließen keine Leitlinien für die Annahme der Vereinbarung von 2000 und kontrollierten diese Annahme auch nicht. |
5.3.1.4. Bundesverband der Deutschen Fluggesellschaften
(157) |
Der BDF ist der Ansicht, dass die Bedingungen, die Ryanair von der FLG erhielt, nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar waren, da sie die Anforderungen der Transparenz und der Diskriminierungsfreiheit nicht erfüllten und keine Sanktionen für den Fall vorsahen, dass Ryanair seinen vertraglichen Verpflichtungen gemäß der Vereinbarung von 2000 nicht nachkommt. |
(158) |
Dem BDF zufolge führen diskriminierende Ausnahmeregelungen bei geltenden Entgeltordnungen zugunsten einer bestimmten Fluggesellschaft zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen und einer subventionierten Umverteilung von Fluggästen innerhalb eines Ballungsraums, was nicht im Sinne der Gesamtwirtschaft sei. Darüber hinaus stellte der BDF fest, dass eine Maßnahme bei der Kommission anzumelden ist, wenn nicht auszuschließen ist, dass diese Maßnahme eine staatliche Beihilfe enthält. Der BDF war der Meinung, dass es unter bestimmten Bedingungen rechtlich möglich sei, einen deutschen Flughafen auf Antrag des Betreibers zu schließen. |
5.3.2. Vereinbarungen von 2010
5.3.2.1. Flughafen Lübeck GmbH
(159) |
Die FLG gab an, dass die Maßnahme Deutschland nicht zuzurechnen sei, da die Vereinbarungen von 2010 von der FLG eigenständig verhandelt wurden. |
5.3.2.2. Ryanair
(160) |
Ryanair machte geltend, dass die Vereinbarungen von 2010 nicht dem Staat zuzurechnen sind. |
(161) |
Bei der Nebenvereinbarung Nr. 1 und der Nebenvereinbarung Nr. 2 mit Ryanair handle es sich lediglich um kurze Nebenvereinbarungen, mit denen die Laufzeit der bestehenden Abmachungen nach der Ryanair-Vereinbarung von 2000 verlängert wurde. Das einzige neue Element sei eine zu Marktbedingungen ausgehandelte Änderung bezüglich der Marketingunterstützung in der Nebenvereinbarung Nr. 1. Ryanair erklärte daher, dass die Auswirkungen der beiden Nebenvereinbarungen durch die Kommentare von Ryanair in Bezug auf die Vereinbarung von 2000 abgedeckt seien. |
(162) |
Ryanair legte einen Bericht von Oxera (30) vor, mit dem die erwartete Rentabilität der Nebenvereinbarungen Nr. 1 und Nr. 2 auf der Grundlage des Geschäftsplans von 2009 (31) untersucht wurde, der vom Flughafen Lübeck vor der Unterzeichnung der Nebenvereinbarungen Nr. 1 und Nr. 2 aufgestellt wurde. Aus dem Bericht geht hervor,dass unter realistischen Annahmen zum Zeitpunkt des Abschlusses der beiden Nebenvereinbarungen davon ausgegangen wurde, dass sie hinreichend rentabel sind. Ein Flughafen, der wie ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter agiert, hätte ähnliche Bedingungen angeboten. Oxera zufolge würde dies auch dann zutreffen, wenn die Vereinbarung über Marketingdienstleistungen von 2010 gemeinsam mit den Nebenvereinbarungen vom März und Oktober 2010 berücksichtigt würde. Die Marketingkosten für den Flughafen Lübeck wurden daher in die Würdigung einbezogen. |
5.3.2.3. Air Berlin
(163) |
Air Berlin wies darauf hin, dass im Jahr 2010 drei Vereinbarungen unterzeichnet wurden: Nebenvereinbarung Nr. 1, Nebenvereinbarung Nr. 2 und die Vereinbarung über Marketingdienstleistungen von 2010. Die Kommission sollte bei ihrer Würdigung alle Vereinbarungen von 2010 berücksichtigen. |
5.4. ENTGELTE FÜR DIE ENTEISUNG VON FLUGZEUGEN AM FLUGHAFEN
RYANAIR UND WIZZ AIR
(164) |
Ryanair und Wizz Air argumentierten, dass gemäß dem Urteil in der Rechtssache Stardust Marine (32) sämtliche staatlichen Beihilfen, die der Flughafen Lübeck Wizz Air und anderen Fluggesellschaften mutmaßlich gewährt hat, dem deutschen Staat nicht zuzurechnen sind. Wizz Air argumentierte, dass die Hansestadt Lübeck zwar zum fraglichen Zeitpunkt der alleinige Eigentümer des Flughafens war, dies jedoch nicht ausreiche, um eine Zurechenbarkeit an den Staat zu belegen. Wizz Air argumentiert, dass die nicht gegebene Zurechenbarkeit zu Deutschland während der Zeit, in der Infratil 90 % der Anteile an der FLG hielt, noch offensichtlicher sei. |
(165) |
Ryanair und Wizz Air gaben an, dass diese Entgelte und etwaige Rabatte einen unbedeutenden Anteil an den flughafenbezogenen Kosten einer Fluggesellschaft ausmachen. Ryanair zufolge können diese Entgelte nicht getrennt voneinander bewertet werden, da für Enteisungen kein Endkundenmarkt besteht. Ein Rabatt für die Enteisung würde mit hoher Wahrscheinlichkeit durch den kommerziellen Nutzen ausgeglichen, den der Flughafen anderweitig aushandle. Ryanair zitierte das Urteil Charleroi, in dem bestätigt wird, dass „im Rahmen der Anwendung des Kriteriums des privaten Kapitalgebers ein Handelsgeschäft […] in seiner Gesamtheit zu betrachten [ist]“ (33). |
(166) |
Schließlich gaben Ryanair und Wizzair an, dass es sich beim Preis für das Enteisungsmittel für den Flughafen Lübeck um einen Standardpreis bei öffentlichen und privaten Flughäfen handle. |
6. STELLUNGNAHME DEUTSCHLANDS ZU DEN ANTWORTEN DER BETEILIGTEN
6.1. STELLUNGNAHME ZU DEN ANTWORTEN VON RYANAIR
(167) |
Deutschland zufolge zeigen die Antworten von Ryanair, dass die FLG gemäß dem Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten handelte. |
(168) |
Deutschland wies insbesondere auf den Nutzen des Ansatzes von Ryanair hin, die Vereinbarkeit der Vereinbarung mit dem Markt mittels einer Rentabilitätsanalyse und einer Vergleichsanalyse nachzuweisen. |
(169) |
Deutschland zufolge sind die Nebenvereinbarungen Nr. 1 und Nr. 2 für diese Untersuchung nicht relevant. Erstens seien die Nebenvereinbarungen vom März und Oktober 2010 nicht dem Staat zuzurechnen, da sie von der FLG ohne die Beteiligung der Hansestadt Lübeck eigenständig verhandelt und geschlossen wurden. Zweitens wies Deutschland in Bezug auf die Nebenvereinbarung Nr. 2 darauf hin, dass diese lediglich eine Erweiterung der ursprünglichen Vereinbarung und somit keine wesentliche Änderung darstelle. Daher gälten alle Erwägungen zur Vereinbarung von 2000 auch für die Nebenvereinbarungen. |
(170) |
Deutschland erklärte, dass es nicht verstehe, warum die Vereinbarung über Marketing-Dienstleistungen von 2010 Gegenstand dieser Untersuchung sein solle, da sie keine öffentlichen Gelder umfasse. Die in der Vereinbarung über Marketing-Dienstleistungen festgelegten Kosten seien von der IHK zu Lübeck abgedeckt worden. Darüber hinaus merkte Deutschland an, dass die Vereinbarung über Marketing-Dienstleistungen als marktkonform betrachtet werden könne. Dies werde durch die Beobachtung gestützt, dass die FLG niedrigere Kosten zu entrichten hatte als andere Flughäfen mit ähnlichen Verträgen. Des Weiteren habe sich die Vereinbarung über Marketing-Dienstleistungen mit dem Flughafen Lübeck auf die Zusage Ryanairs gestützt, das Flugverbindungsangebot um zwei Flugziele zu erweitern. |
(171) |
Ein weiterer Punkt, der laut Deutschland zu beachten sei, ist die Funktion des Flughafens Lübeck als Kapazitätsreserve für den Flughafen Hamburg und als notwendige Infrastruktur für die norddeutsche Bevölkerung. |
6.2. STELLUNGNAHME ZU DEN ANTWORTEN DER SGF
(172) |
Deutschland merkte an, dass die SGF kein Beteiligter im Sinne von Artikel 108 Absatz 2 AEUV und Artikel 1 Buchstabe h der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 sei und somit nicht berechtigt sei, eine Stellungnahme vorzulegen. Die SGF-Mitglieder besäßen lediglich Grundstücke in unmittelbarer Nähe des Flughafens und wollten sich daher der empfundenen Nachteile durch den Flughafenbetrieb entledigen. Ein solches Ziel müsse jedoch über nationale Rechtsmittel verfolgt werden. |
(173) |
Des Weiteren argumentierte Deutschland, dass die Antworten der SGF inhaltlich nicht korrekt seien. Erstens widerspricht Deutschland der Aussage der SGF, dass der Flughafen Lübeck keine Gemeinwohldienstleistung erbringe. Die SGF hatte argumentiert, dass der Betrieb des Flughafens nur insofern dem Gemeinwohl diene, als das Interesse an der allgemeinen Luftfahrt betroffen sei. Deutschland hält dem entgegen, dass der Flughafen Lübeck aufgrund der infrastrukturbezogenen Gemeinwohldienstleistung und der Funktion als Kapazitätsreserve für den Flughafen Hamburg einer Betriebspflicht nachkommen müsse. Letztere Funktion sei offiziell im Norddeutschen Luftverkehrskonzept verankert. |
(174) |
Hinsichtlich des Pachtvertrags wiederholte Deutschland seine Meinung, dass der FLG weder durch den alten Pachtvertrag, der bis zum Ende 2005 bestand, noch durch den neuen Pachtvertrag ab 2006 ein Vorteil entstanden sei. |
(175) |
Deutschland nahm weiter zu den Antworten der SGF zu den Infrastrukturinvestitionen Stellung. Deutschland gab an, dass es sich beim Planfeststellungsbeschluss lediglich um ein Verwaltungsinstrument handle, das rückwirkend verliehen werden könne, und weder eine Voraussetzung für die Genehmigung einer Finanzierung sei noch Auswirkungen auf den Wettbewerb habe. Außerdem widerspricht Deutschland der von der SGF vorgenommenen Einstufung der Investitionen als Instandhaltungsmaßnahmen statt als Verbesserungsmaßnahmen für die Verkehrsfunktion des Flughafens. Die Maßnahmen seien laut Deutschland notwendig gewesen, um nationalen und internationalen Vorschriften zu entsprechen. Deutschland zufolge führe die Tatsache, dass Ryanair den Flughafen am stärksten nutzt, nicht zur Schlussfolgerung, dass es sich dabei um eine Begünstigung handle. |
(176) |
Hinsichtlich der Berechnung der mittelfristigen Perspektiven des Flughafens Lübeck durch die SGF gab Deutschland an, dass die vorgelegten Antworten nicht korrekt seien. Deutschland argumentiert, dass zum Zeitpunkt der Investitionstätigung nachweislich optimistische mittelfristige Perspektiven bestanden, wie die Kommission in ihrem Einleitungsbeschluss von 2007 auch anerkannt habe. |
(177) |
Darüber hinaus nahm Deutschland zur Behauptung der SGF Stellung, dass die FLG ein Unternehmen in Schwierigkeiten gewesen sei. Deutschland ist der Meinung, dass jegliche Argumentation der SGF auf der Grundlage der Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten irrelevant ist. Deutschland zufolge sind diese Leitlinien nicht anwendbar, da die gewährten Leistungen in erster Linie keine staatliche Beihilfe darstellten. Die Leistungen seien niemals als Rettungs- oder Umstrukturierungsbeihilfe eingestuft worden oder müssten gemäß anderen Leitlinien derart eingestuft werden. |
(178) |
Deutschland widerspricht der Aussage der SGF, die Hansestadt Lübeck habe angegeben, dass die Schließung des Flughafens nicht möglich sei und sie diese Möglichkeit nicht in Betracht ziehe. Deutschland zufolge habe die Hansestadt Lübeck diese Möglichkeit erwogen, sich jedoch dagegen entschieden, da aus Berechnungen hervorging, dass es sich dabei nicht um die wirtschaftlich vernünftigste Lösung gehandelt hätte. Außerdem stellte Deutschland klar, dass gemäß § 45 Abs. 1 der LuftVZO eine ad hoc-Schließung eines Flughafens nicht möglich sei. Flughäfen dienten dem Gemeinwohl und müssten einer Betriebspflicht nachkommen. Um den Flughafen zu schließen, hätte ihm daher nach einem langwierigen Gerichtsverfahren die Betriebszulassung entzogen werden müssen. Deutschland gibt an, dass ein Entzug der Zulassung ausgeschlossen ist, wenn die zuständige Behörde der Ansicht ist, dass das öffentliche Interesse an der Fortführung des Flughafenbetriebs überwiege. Ein Versuch, den Flughafen zu schließen, wäre daher nicht unmöglich gewesen, aber mit Sicherheit schwierig, langwierig und somit kostspielig. Dies sei beispielsweise bei der Schließung des Flughafens Berlin-Tempelhof der Fall gewesen. Deutschland vertrat daher den Standpunkt, dass die Entscheidung, den Flughafen nicht zu schließen und stattdessen zu erweitern und in die Infrastruktur zu investieren, um einen privaten Investor zu finden, die aus wirtschaftlicher Sicht vernünftigere Lösung war. Rückblickend habe sich dies bewahrheitet, da ein privater Investor gefunden wurde. |
6.3. STELLUNGNAHME ZU DEN ANTWORTEN VON AIR BERLIN
(179) |
Deutschland nach hätte Air Berlin dieselben Vorteile wie Ryanair erhalten, wenn dieselben Kriterien hinsichtlich Fluggastzahl und Verkehrsfrequenz erfüllt worden wären. Stattdessen habe Air Berlin jedes Verhandlungsangebot mit der FLG abgelehnt, da niemals die Absicht bestanden habe, den Flughafen Lübeck zu bedienen. Im Gegensatz dazu habe sich Air Berlin nie gegen die Bedingungen ausgesprochen, unter denen Ryanair den FlughafenHamburg bedient. Darüber hinaus haben sich mehrere Fluggesellschaften (unter anderem bei der Kommission) darüber beschwert, dass Air Berlin von umfangreichen staatlichen Beihilfen durch die Vereinigten Arabischen Emirate profitiert habe. Air Berlin könne sich also nicht als Opfer seines wichtigsten Wettbewerbers Ryanair darstellen. |
(180) |
Deutschland widersprach außerdem der Stellungnahme Air Berlins zum Wettbewerb zwischen dem Flughafen Lübeck und dem Flughafen Hamburg. Insbesondere nimmt Deutschland auf die Tatsache Bezug, dass Hamburg im Jahr 2000 zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Vereinbarung mit Ryanair 70-mal so viele Fluggäste wie der Flughafen Lübeck hatte. Das Fehlen von Beschwerden von anderen Flughäfen zeige, dass es keinen Wettbewerb zwischen den beiden Flughäfen gab. Des Weiteren wies Deutschland darauf hin, dass der Flughafen Hamburg und der Flughafen Rostock 2008 ein Wachstum verzeichneten, während die Fluggastzahl des Flughafens Lübeck um 10 % sank. |
(181) |
Außerdem wies Deutschland das Argument Air Berlins zurück, dass für Ryanair ein wirtschaftlicher Vorteil bestanden habe. Deutschland gab an, dass Air Berlin ungenaue Berechnungen zugrunde legte und dass die einzig relevante Prüfung für die Einschätzung der Vereinbarkeit mit dem Markt der Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten sein dürfe. Deutschland ist der Ansicht, dass die Vereinbarungen mit Ryanair die Marktanforderungen einhielten, da die langfristigen Aussichten des Flughafens im Jahr 2000 positiv waren. |
6.4. STELLUNGNAHME ZU DEN ANTWORTEN DES BDF
(182) |
Deutschland wies darauf hin, dass Air Berlin Mitglied des BDF ist, was enge Verbindungen und inhaltlich ähnliche Antworten bedinge. Deutschland teilte nicht die Auffassung, dass die FLG durch extrem niedrige Preise künstlich mehr Nachfrage erzeugt habe und zugunsten einer Fluggesellschaft in diskriminierender Weise von der Entgeltordnung abgewichen sei. Deutschland zufolge habe die FLG keinen Grund gehabt, einzelne Fluggesellschaften zu diskriminieren, um die Nachfrage zu erhöhen. Vielmehr hätten mehr Fluggesellschaften am Flughafen Lübeck mehr Geschäftstätigkeit bedeutet. Daher macht Deutschland geltend, dass jede Fluggesellschaft einen Vertrag mit dem Flughafen Lübeck zu ähnlichen Bedingungen hätte abschließen können, wenn sie ein dem Ryanair-Angebot vergleichbares Angebot abgegeben hätte. |
7. WÜRDIGUNG
7.1. EINLEITUNG
(183) |
Nach Artikel 107 Absatz 1 AEUV „sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen“. Die in Artikel 107 Absatz 1 AEUV genannten Kriterien gelten kumulativ. Eine Maßnahme stellt also nur dann eine staatliche Beihilfe dar, wenn jede der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist:
|
(184) |
Folglich muss geprüft werden, ob diese Voraussetzungen bei den einzelnen in Rede stehenden Maßnahmen erfüllt sind. Bei diesen Maßnahmen handelt es sich um:
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(185) |
In Bezug auf die mögliche staatliche Beihilfe zugunsten der FLG wird die Kommission zunächst prüfen, ob die FLG als Empfängerin der möglichen staatlichen Beihilfe nach wie vor existiert, und wenn nicht, ob ihre wirtschaftliche Tätigkeit aufrechterhalten wurde. Außerdem muss die Kommission prüfen, ob der mit einer staatlichen Beihilfe zugunsten der FLG verbundene etwaige Vorteil an deren Rechtsnachfolger weitergegeben worden sein könnte, d. h., ob wirtschaftliche Kontinuität vorlag. |
(186) |
Was die mögliche staatliche Beihilfe zugunsten von Ryanair betrifft, so wird die Kommission ausschließlich den Vertrag von 2000 prüfen. Zum Zeitpunkt des vorliegenden Beschlusses liegen der Kommission keine ausreichenden Informationen vor, um prüfen zu können, ob später geschlossene Verträge, insbesondere die aus dem Jahr 2010, staatliche Beihilfen zugunsten von Ryanair darstellen. Deshalb wird sie über diese Verträge in einem separaten Beschluss befinden. |
7.2. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN DER FLG
7.2.1. Begünstigte der möglichen staatlichen Beihilfe
(187) |
Die Kommission hat ein förmliches Prüfverfahren bezüglich einer möglichen staatlichen Beihilfe zugunsten der FLG eingeleitet. Im Januar 2013 wurde jedoch ein Teil der Vermögenswerte der FLG an Yasmina verkauft. Die FLG wurde in die Hansestadt Lübeck eingebracht, sodass die juristische Person FLG nicht mehr existiert. Im Jahr 2014 meldete Yasmina Insolvenz an, sodass im April 2014 das Insolvenzverfahren eingeleitet wurde. Im August 2014 übernahm PuRen die Vermögenswerte von Yasmina. |
(188) |
Wenn die Kommission einen Negativbeschluss erlässt, mit dem sie im Zusammenhang mit den Artikeln 107 und 108 AEUV die Rückforderung einer mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilfe anordnet, die einem Unternehmen gewährt wurde, kann die Verpflichtung zur Rückzahlung der Beihilfe auf ein anderes Unternehmen ausgeweitet werden, dem der Empfänger der jeweiligen Beihilfe einen Teil oder die Gesamtheit seiner Vermögenswerte übertragen oder verkauft hat, sofern aus der Gestaltung der Übertragung bzw. des Verkaufs hervorgeht, dass zwischen den beiden Unternehmen wirtschaftliche Kontinuität besteht. |
(189) |
Falls die Kommission zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass die FLG eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe erhalten hat, die zurückzufordern ist, so müsste sie prüfen, wer von der Beihilfe profitiert hat und bei welchem Unternehmen die Rückzahlungspflicht geltend zu machen ist. Wenn es kein anderes Unternehmen gibt, auf das die Rückzahlungspflicht ausgeweitet werden könnte, muss die Kommission nicht prüfen, ob eine Beihilfe zugunsten der FLG vorliegt. Deshalb erachtet es die Kommission für angemessen, zunächst zu prüfen, ob zwischen FLG und Yasmina wirtschaftliche Kontinuität bestand und ob die Rückzahlungspflicht auf Yasmina ausgeweitet werden kann (siehe Abschnitt 7.2.2) und ob PuRen als Käufer der Vermögenswerte von Yasmina möglicherweise von der Beihilfe profitiert hat (siehe Abschnitt 7.2.3). Anschließend prüft die Kommission, ob die wirtschaftliche Tätigkeit, die möglichweise durch die Beihilfe begünstigt wurde, nach wie vor ausgeübt wird (siehe Abschnitt 7.2.4). Die Frage, ob die Maßnahmen staatliche Beihilfen zugunsten der FLG umfassen, und wenn ja, ob diese Beihilfen mit dem Binnenmarkt vereinbar sind, muss nur dann geprüft werden, wenn ein Begünstigter der Beihilfe ermittelt werden kann, d. h., wenn entweder wirtschaftliche Kontinuität zwischen der FLG und Yasmina oder PuRen bestand oder die Beihilfe die wirtschaftliche Tätigkeit selbst, also den Betrieb des Flughafens Lübeck begünstigt hat. |
7.2.2. Wirtschaftliche Kontinuität zwischen der FLG und Yasmina
(190) |
In ihrer Entscheidung über den Verkauf von Vermögenswerten der Fluggesellschaft Alitalia (34) vertrat die Kommission die Ansicht, dass, wenn der Erwerb von Vermögenswerten zum Marktpreis erfolgt und keine wirtschaftliche Kontinuität zwischen dem ursprünglichen und dem neuen Unternehmen besteht, nicht davon ausgegangen werden kann, dass das neue Unternehmen von dem Wettbewerbsvorteil profitiert hat, der dem ursprünglichen Unternehmen durch die staatliche Beihilfe gewährt wurde. |
(191) |
Nach ständiger Rechtsprechung (35) wird das Vorliegen wirtschaftlicher Kontinuität zwischen dem ursprünglichen und dem neuen Unternehmen auf der Grundlage einer Reihe von Faktoren geprüft. Diese Faktoren wurden vom Gerichtshof in der Rechtssache Ryanair/Kommission (36) bestätigt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um kumulative Voraussetzungen, die in jedem Fall alle erfüllt sein müssten. (37) Zur Prüfung des Vorliegens wirtschaftlicher Kontinuität zwischen zwei Unternehmen können die folgenden Faktoren herangezogen werden:
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7.2.2.1. Umfang der verkauften Vermögenswerte
(192) |
Die Kommission stellt zunächst fest, dass eine vollständige Übernahme der Vermögenswerte des Verkäufers grundsätzlich auf eine wirtschaftliche Kontinuität zwischen Verkäufer und Käufer hindeutet. Eine solche Kontinuität liegt aber möglicherweise nicht vor, wenn aus der Gesamtbewertung hervorgeht, dass der Umfang des Verkaufs dem Markt überlassen wird. Wird der Umfang des Verkaufs beispielsweise im Rahmen eines offenen, transparenten, diskriminierungs- und bedingungsfreien Ausschreibungsverfahrens bestimmt, so spricht dies möglicherweise gegen das Vorliegen wirtschaftlicher Kontinuität. In diesem Zusammenhang sollten die Bieter frei entscheiden können, ob sie ein Angebot für einzelne Vermögenswerte, für eine Gruppe von Vermögenswerten oder für alle Vermögenswerte abgeben wollen, sie sollten nicht verpflichtet sein, vom Verkäufer geschlossene Verträge zu übernehmen und sie sollten frei wählen dürfen, ob sie alle, einige oder keine Arbeitnehmer des Verkäufers übernehmen. |
(193) |
Die Kommission stellt fest, dass in der veröffentlichten Bekanntmachung der Ausschreibung für den Verkauf der Vermögenswerte der FLG festgelegt wurde, dass die Bieter entweder 90 % der Anteile der FLG kaufen oder eine vergleichbare wirtschaftliche Lösung für die Übernahme des Betriebs des Flughafens wählen können. Somit konnten die Bieter also ein Angebot für Anteile der FLG, für Vermögenswerte oder Bündel von Vermögenswerten abgeben oder eine andere wirtschaftliche Lösung wie die Pachtung von Vermögenswerten anstreben. Dies wurde in der Informationsbroschüre bestätigt, die allen interessierten Bietern vor der Abgabe einer Interessenbekundung übermittelt wurde. Folglich war den interessierten Bietern klar, dass sie Angebote zum Kauf von Anteilen, von Vermögenswerten oder Bündeln von Vermögenswerten abgeben konnten. So reichten denn auch von den fünf Bietern, die ein indikatives Angebot abgaben, zwei ein Angebot zum Kauf von Vermögenswerten und die übrigen ein Angebot zum Kauf von Anteilen ein. Von den drei Bietern, die ein verbindliches Angebot einreichten, gaben zwei ein Angebot zum Kauf von Vermögenswerten und einer ein Angebot zum Kauf von Anteilen ab. 3Y, die Holdinggesellschaft von Yasmina, bot den höchsten Preis für die Übernahme eines Bündels von Vermögenswerten. Nach Angaben Deutschlands übernahm Yasmina auf der Grundlage des Gesamtbuchwerts aller Aktiva im Vergleich zum Wert der übernommenen Aktiva etwa […] % der Vermögenswerte der FLG. Zu den nicht übernommenen Vermögenswerten zählen u. a. die […]. |
(194) |
Die Kommission stellt fest, dass in Bezug auf die nicht übernommenen Vermögenswerte zwei Pachtverträge zwischen Yasmina und der Hansestadt Lübeck geschlossen wurden: Einer der Pachtverträge bezog sich auf die Flughafeninfrastruktur und Grundstücksflächen, die vor dem Verkauf Gegenstand eines Pachtvertrags zwischen der FLG und der Hansestadt Lübeck waren. Dieser Vertrag wurde von Yasmina übernommen. Der andere Pachtvertrag betraf die übrigen Vermögenswerte des Flughafens, die die Hansestadt Lübeck im Rahmen der Übernahme der FLG von dieser übernommen hatte. |
(195) |
Einerseits spricht die Tatsache, dass die FLG durch den Verkauf von Vermögenswerten veräußert wurde und dass der Käufer nicht einen Großteil der Vermögenswerte erwarb, gegen das Vorliegen wirtschaftlicher Kontinuität. Da Yasmina andererseits jedoch die Vermögenswerte, die das Unternehmen nicht von der Hansestadt Lübeck erwarb, pachtete, konnte es infolge der Ausschreibung offenbar sämtliche Vermögenswerte nutzen. Dies spricht eher für das Vorliegen wirtschaftlicher Kontinuität. |
(196) |
In Bezug auf die Arbeitnehmer sah der Kaufvertrag vor, dass diese gemäß Paragraf 613a des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) von Yasmina übernommen würden. Paragraf 613a BGB beruht auf der Richtlinie 2001/23/EG des Rates (38) und bezieht sich auf die Rechte und Pflichten bei Betriebsübergang. Im Einzelnen heißt es in Paragraf 613a: „Geht ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber über, so tritt dieser in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Sind diese Rechte und Pflichten durch Rechtsnormen eines Tarifvertrags oder durch eine Betriebsvereinbarung geregelt, so werden sie Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer und dürfen nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Übergangs zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden“ (39). Darüber hinaus hat der bisherige Arbeitgeber oder der neue Inhaber die von einem Übergang betroffenen Arbeitnehmer vor dem Übergang in Textform darüber zu unterrichten, und jeder Arbeitnehmer kann dem Übergang des Arbeitsverhältnisses schriftlich widersprechen. |
(197) |
Auf der Grundlage dieser Rechtsvorschrift wurden die Arbeitnehmer von dem Übergang unterrichtet und übernommen, wenn sie dem nicht widersprachen. Die FLG hatte […] Arbeitnehmer, von denen […] dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses widersprachen. Diese […] Arbeitnehmer wurden von der Hansestadt Lübeck in Arbeitsverhältnisse übernommen. |
(198) |
Bei der Übertragung der Vermögenswerte wurden keine Voraussetzungen vorgesehen, die über die rechtlichen Verpflichtungen hinausgingen, etwa in Bezug auf die Zahl der zu übernehmenden Beschäftigten oder in Form einer Verpflichtung, die Arbeitnehmer über die üblichen im Arbeitsrecht verankerten vertraglichen Verpflichtungen hinaus zu beschäftigen. |
(199) |
Die einzige vertragliche Bestimmung in Bezug auf Arbeitnehmer ist ein Hinweis auf das geltende Arbeitsrecht; die alleinige Tatsache, dass die meisten Arbeitnehmer übernommen wurden, bedeutet nicht notwendigerweise, dass wirtschaftliche Kontinuität vorlag (40). |
(200) |
Da Yasmina jedoch durch die Kombination aus dem Kauf eines Teils der Vermögenswerte und zwei Pachtverträgen in Bezug auf die übrigen Vermögenswerte letztlich sämtliche Vermögenswerte nutzen konnte, die zuvor im Eigentum der FLG gestanden hatten und von dieser genutzt worden waren, deutet der Umfang der verkauften Vermögenswerte unterm Strich eher auf das Vorliegen wirtschaftlicher Kontinuität hin. |
7.2.2.2. Verkaufspreis
(201) |
Um wirtschaftliche Kontinuität zu vermeiden, müssen die Vermögenswerte zum Marktpreis verkauft werden, beispielsweise im Wege eines offenen, transparenten, diskriminierungs- und bedingungsfreien Ausschreibungsverfahrens. |
(202) |
Somit hat die Kommission zu prüfen, ob die Vermögenswerte der FLG in einem offenen, transparenten, diskriminierungs- und bedingungsfreien Ausschreibungsverfahren an den Bieter verkauft wurden, der unter Berücksichtigung der Transaktionssicherheit das höchste Angebot eingereicht hatte. |
(203) |
Erstens stellt die Kommission fest, dass die Aufforderung zur Interessenbekundung für die Vermögenswerte der FLG keine Beschränkungen hinsichtlich der teilnahmeberechtigten Bieter enthielt und dass den potenziellen Bietern keine Bedingungen auferlegt wurden. Jeder Interessent konnte im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens ein Angebot einreichen. Zudem wurde die Aufforderung durch Veröffentlichung im elektronischen Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht. |
(204) |
Was zweitens den Grundsatz der Transparenz betrifft, so stellt die Kommission fest, dass die Bieter mehr als einen Monat Zeit hatten, um auf der Grundlage einer Informationsbroschüre, die beim Verkäufer angefordert werden konnte, über die Abgabe einer Interessenbekundung zu entscheiden. Anschließend hatten diejenigen potenziellen Bieter, die ihr Interesse bekundet hatten, etwa drei Wochen Zeit, um die übermittelten Informationen im Rahmen einer Sorgfaltsprüfung (41) zu bewerten und dann zu entscheiden, ob sie bis zum 15. Oktober 2012 ein indikatives Angebot einreichen wollten. Alle Bieter, die ein indikatives Angebot eingereicht hatten, konnten an einer Informationsveranstaltung mit dem Verkäufer teilnehmen. Frist für die Einreichung eines verbindlichen Angebots war der 20. November 2012. |
(205) |
Ferner stellt die Kommission fest, dass der Verkäufer die Kriterien, nach denen das wirtschaftlich günstigste Angebot ausgewählt werden sollte, bereits vor Veröffentlichung der Ausschreibungsbekanntmachung festgelegt hatte, und den Bietern diese Kriterien bereits zu Beginn des Verfahrens mitgeteilt wurden. |
(206) |
Drittens hat es in keiner Phase des Ausschreibungsverfahrens Diskriminierung zwischen den Bietern gegeben. Alle Bieter erhielten dieselben Informationen und Erläuterungen zu den Ausschreibungsvorschriften und -verfahren, den Fristen für die Einreichung der Angebote sowie zur FLG. Keinem Bieter wurde in den Verhandlungen Exklusivität angeboten. In der letzten Phase reichten drei Bieter verbindliche Angebote ein. |
(207) |
Nach Bewertung der verbindlichen Angebote anhand der vor Beginn des Verfahrens festgelegten Kriterien kam die Hansestadt Lübeck zu dem Schluss, dass 3Y das wirtschaftlich beste Angebot eingereicht hatte. Daraufhin schlug die Hansestadt Lübeck der Bürgerschaft den Abschluss des Kaufvertrags vor. Am 29. November 2012 beschloss die Bürgerschaft, das Angebot von Yasmina anzunehmen. Daraufhin wurden die Vermögenswerte der FLG mit Wirkung vom 1. Januar 2013 an die Gesellschaft 3Y verkauft, die zu diesem Zweck das Unternehmen Yasmina gegründet hatte. |
(208) |
Viertens ist eine Ausschreibung für den Verkauf von Vermögenswerten dann als bedingungsfrei anzusehen, wenn es potenziellen Käufern unabhängig davon, ob sie bestimmte Unternehmen betreiben, grundsätzlich freisteht, die zum Verkauf stehenden Vermögenswerte zu erwerben und für ihre eigenen Zwecke zu nutzen (42). In diesem Zusammenhang stellt die Kommission fest, dass die veröffentlichte Bekanntmachung der Ausschreibung für den Verkauf der Vermögenswerte der FLG besagt, dass der Käufer den Betrieb des Flughafens fortsetzen sollte. Ferner zahlte der erfolgreiche Bieter, Yasmina, für den Erwerb der Vermögenswerte der FLG schließlich einen Preis von […] EUR. Außerdem schloss Yasmina zwei Pachtverträge in Bezug auf die Flughafeninfrastruktur, Grundstücksflächen und sonstige Vermögenswerte, die im Eigentum der Hansestadt Lübeck standen. Der Pachtzins betrug […] EUR pro Jahr im Rahmen des einen und […] EUR pro Jahr im Rahmen des anderen Pachtvertrags. Gleichzeitig verpflichtete sich die Hansestadt Lübeck, Yasmina einen Investitionszuschuss von […] EUR zu gewähren, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt waren. Der Kauf der Vermögenswerte der FLG war unmittelbar mit dem künftigen Investitionszuschuss für Yasmina verknüpft. Da der künftige Zuschuss höher war als der Kaufpreis, war der Kaufpreis negativ. |
(209) |
In Anbetracht dieser Umstände hat die Kommission Zweifel daran, dass das Ausschreibungsverfahren bedingungsfrei war. Wenn der Verkauf von Vermögenswerten im Wege einer mit Auflagen versehenen Ausschreibung erfolgt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Transaktion aufgrund des Ausschreibungsverfahrens marktkonform ist. Deshalb kann sich die Kommission kein abschließendes Urteil zu der Frage bilden, ob Yasmina für die Vermögenswerte der FLG einen Marktpreis gezahlt hat. Wenn Yasmina tatsächlich weniger als den Marktpreis gezahlt haben sollte, würde das für das Vorliegen wirtschaftlicher Kontinuität sprechen. |
7.2.2.3. Identität des Käufers
(210) |
Bei dem Käufer handelte es sich um Yasmina, eine Tochtergesellschaft von 3Y. Der einzige Gesellschafter von 3Y war der saudi-arabische Staatsangehörige Adel Mohammed Saleh M. Alghanmi. Yasmina war ein privates Unternehmen, das zuvor weder mit der Hansestadt Lübeck noch mit der FLG verbunden war. Die Tatsache, dass Yasmina sowohl von der FLG als auch von den Behörden unabhängig war, deutet darauf hin, dass keine wirtschaftliche Kontinuität vorliegt. Die Kommission kommt daher zu dem Schluss, dass die Identität des Käufers gegen das Vorliegen wirtschaftlicher Kontinuität spricht. |
7.2.2.4. Zeitpunkt des Verkaufs
(211) |
Die Hansestadt Lübeck beabsichtigte, den Flughafen zu privatisieren, bevor die Kommission ihre Untersuchungen aufnahm. Nachdem der erste Privatisierungsversuch mit Infratil im Jahr 2009 gescheitert war, unternahm die Hansestadt Lübeck 2012 einen zweiten Anlauf und veräußerte den Flughafen an Yasmina. Der Verkauf an Yasmina erfolgte nach den Einleitungsbeschlüssen von 2007 und 2012, aber vor einem endgültigen Beschluss der Kommission. Der Umstand, dass der Verkauf des Flughafens Teil der ständigen Bemühungen der Hansestadt Lübeck zur Privatisierung des Flughafen ist, belegt, dass es sich nicht um einen gezielten Versuch handelt, die Rückforderung der Beihilfe zu vermeiden. Somit spricht der Zeitpunkt des Verkaufs gegen wirtschaftliche Kontinuität. |
(212) |
Dem Gerichtshof zufolge besteht wirtschaftliche Kontinuität, wenn der objektive Umstand vorliegt, „dass mit der Übertragung die Pflicht zur Rückerstattung der streitigen Beihilfe umgangen wird“ (43). Da in dieser Sache jedoch seit 2007, als das Verfahren eingeleitet wurde, kein Kommissionsbeschluss über das Vorliegen einer staatlichen Beihilfe zugunsten des Flughafens Lübeck erlassen wurde, kann nicht davon ausgegangen werden, dass bei der Privatisierung eine solche Absicht verfolgt wurde. Die Hansestadt Lübeck hat in der vorliegenden Sache hingegen wirtschaftlich kohärent gehandelt, da die Privatisierung des Flughafens bereits erwogen wurde, bevor sich die Kommission mit der Frage befasste, ob der Flughafen Lübeck möglicherweise staatliche Beihilfen erhalten haben könnte (44). |
(213) |
Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass wirtschaftliche Kontinuität vorliegen kann, wenn eine Gesellschaft gegründet wurde, um einen Teil der Tätigkeiten eines insolventen Unternehmens fortzusetzen (45). Dies ist hier jedoch nicht der Fall, da die Hansestadt Lübeck den Verkauf der FLG an Yasmina einleitete und abschloss, ohne dass die FLG insolvent gewesen wäre. Die Kommission kommt daher zu dem Schluss, dass der Zeitpunkt des Verkaufs gegen das Vorliegen wirtschaftlicher Kontinuität spricht. |
7.2.2.5. Ökonomische Folgerichtigkeit des Rechtsgeschäfts
(214) |
Im Rahmen seiner Interessenbekundung legte das Unternehmen Yasmina einen ehrgeizigen Geschäftsplan vor, dem zufolge der Flughafen Lübeck in einen modernen Flughafen umgewandelt werden sollte, der für eine Vielzahl von Unternehmen attraktiv ist. Der Plan sah vor, Unternehmen mit einem modernen Hightech-Business-Park anzulocken, der Kinos, Banken, Cafés, Restaurants und Parkplätze mit besonderen Teststrecken, eine Kartbahn,eine Eisarena, Modeboutiquen, ein Boutique-Hotel, ein Kongresszentrum sowie ein Mode-Outlet-Dorf umfassen sollte. Darüber hinaus sollte ein Umschlagszentrum errichtet werden, um den Land-, den Wasser- und den Luftverkehr zusammenzuführen und so zu verbessern. In diesem Zusammenhang sollten auch Lagermöglichkeiten geschaffen, die Start- und Landebahnen verlängert und Instandhaltungsinfrastruktur errichtet werden. Außerdem wurden bestimmte Änderungen des bestehenden Geschäftsplans erwogen, z. B. billiger Treibstoff für kleine Flugzeuge, ein Selbst-Check-in-Dienst, ein FBO-Servicedienst für VIP-Fluggäste sowie die Bewerbung des Flughafens als Veranstaltungsort für Flugshows und -ausstellungen. Gleichzeitig sollte durch die Bereitstellung von Charter- und Linienflügen der normale Flugbetrieb am Flughafen Lübeck fortgesetzt werden. Aus der Ex-ante-Perspektive sollte der Flughafen Lübeck ein Flughafen bleiben, jedoch einen neuen Geschäftsplan erhalten. |
(215) |
Die Kommission stellt fest, dass sich der Geschäftsplan von Yasmina zwar von den Tätigkeiten der FLG unterscheidet, Yasmina jedoch ähnliche Luftverkehrsdienste anbieten wollte wie die FLG. Dies spricht eher für das Vorliegen wirtschaftlicher Kontinuität. Die Tatsache, dass Yasmina letztlich weniger Luftverkehrsdienste anbieten konnte, weil Ryanair dem Flughafen Lübeck den Rücken kehrte und fortan stattdessen den nahegelegenen Flughafen Hamburg bediente, ändert nichts an dieser Schlussfolgerung. |
7.2.2.6. Schlussfolgerung zur wirtschaftlichen Kontinuität zwischen der FLG und Yasmina
(216) |
Die Kommission stellt fest, dass einige der Indikatoren gegen das Vorliegen wirtschaftlicher Kontinuität zwischen FLG und Yasmina sprechen und einige dafür. Die Kommission kann vor allem nicht ausschließen, dass Yasmina weniger als den Marktpreis für die Vermögenswerte der FLG gezahlt hat. Deshalb kann die Kommission, obwohl bestimmte Hinweise gegen das Vorliegen wirtschaftlicher Kontinuität sprechen, nicht ausschließen, dass dennoch wirtschaftliche Kontinuität zwischen der FLG und Yasmina bestand. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Unternehmen 3Y und Yasmina in der Zwischenzeit aufgelöst wurden. Somit könnte die Rückzahlungsverpflichtung selbst dann nicht mehr auf Yasmina ausgeweitet werden, wenn wirtschaftliche Kontinuität zwischen der FLG und Yasmina bestand. |
7.2.3. Wirtschaftliche Kontinuität zwischen der FLG und PuRen
(217) |
Wenn wirtschaftliche Kontinuität zwischen der FLG und Yasmina bestand, dann müsste die Kommission, da Yasmina in der Zwischenzeit aufgelöst wurde, prüfen, ob der Käufer der Vermögenswerte von Yasmina von der etwaigen staatliche Beihilfe zugunsten der FLG profitiert hat und ob die Rückzahlungspflicht möglicherweise auf diesen Käufer ausgeweitet werden muss. |
(218) |
Vor der Auflösung von Yasmina wurden die Vermögenswerte des Unternehmens an einen anderen Privatinvestor, und zwar PuRen, verkauft. Die Kommission stellt fest, dass die Vermögenswerte von Yasmina im Rahmen eines gerichtlich beaufsichtigten Insolvenzverfahrens nach deutschem Insolvenzrecht (46) verkauft wurden. Dies deutet in jedem Fall darauf hin, dass bei einem etwaigen Vorliegen wirtschaftlicher Kontinuität zwischen der FLG und Yasmina die Kette der wirtschaftlichen Kontinuität an dieser Stelle durchbrochen worden wäre. Somit hat PuRen nicht von einer etwaigen staatlichen Beihilfe zugunsten der FLG profitiert. |
7.2.4. Vorteil zugunsten der verkauften wirtschaftlichen Tätigkeit
(219) |
Die wichtigste von der FLG ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit, der Betrieb des Flughafens Lübeck, existiert ebenfalls nicht mehr, weil am Flughafen Lübeck keine Linien- oder Charterflüge mehr angeboten werden. Zum Zeitpunkt des vorliegenden Beschlusses wird der Flughafen Lübeck von keiner Fluggesellschaft bedient. Daher kann die verkaufte wirtschaftliche Tätigkeit nicht von einer etwaigen staatlichen Beihilfe zugunsten der FLG profitiert haben. |
(220) |
Außerdem muss die Kommission prüfen, ob die verkaufte wirtschaftliche Tätigkeit, in diesem Fall also der Flughafen, durch den negativen Kaufpreis, den Yasmina für die Vermögenswerte der FLH gezahlt hat, begünstigt worden sein könnte (47). Zu diesem Zweck muss die Kommission untersuchen, ob sich die Hansestadt Lübeck wie ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter verhalten hat. Dafür müssen die Kosten des Verkaufs des Flughafens mit den Kosten verglichen werden, die bei einem kontrafaktischen Szenario, also im vorliegenden Fall beispielsweise bei Schließung des Flughafens oder bei Fortsetzung des Betriebs des Flughafens durch die FLG entstanden wären. |
(221) |
Da jedoch zum Zeitpunkt des vorliegenden Beschlusses keine Fluggesellschaft den Flughafen bedient und somit keine Linien- oder Charterflüge vom oder zum Flughafen Lübeck angeboten werden, muss nach Ansicht der Kommission nicht geprüft werden, ob die verkaufte wirtschaftliche Tätigkeit durch den negativen Kaufpreis begünstigt wurde. Die wirtschaftliche Tätigkeit ist vom Markt verschwunden. |
(222) |
Diese Feststellung lässt die Prüfung, ob der jüngste Verkauf des Flughafens Lübeck an Stöcker eine staatliche Beihilfe für den Käufer beinhaltete, unberührt. Ferner weist die Kommission Deutschland darauf hin, dass etwaige Maßnahmen zur Vorbereitung der Wiederaufnahme von Linienflügen oder Charterflügen am Flughafen Lübeck der Beihilfekontrolle unterliegen und bei der Kommission angemeldet werden müssten. |
7.2.5. Schlussfolgerung
(223) |
Ein Beschluss, in dem darüber befunden wird, ob etwaige staatliche Beihilfen zugunsten der FLG staatliche Beihilfen im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 AEUV darstellen und in einem solchen Fall für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt werden können, ist nicht erforderlich. Die juristische Person FLG sowie ihre wirtschaftliche Tätigkeit existieren nicht mehr. Selbst wenn wirtschaftliche Kontinuität zwischen der FLG und Yasmina bestünde, könnte die Beihilfe nicht mehr von Yasmina zurückgefordert werden, da Yasmina aufgelöst und seine Vermögenswerte in einem Insolvenzverfahren nach deutschem Recht unter gerichtlicher Aufsicht veräußert wurden. |
7.3. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN VON INFRATIL
7.3.1. Verkauf der Anteile an der FLG
7.3.1.1. Vorteil
(224) |
Ein Vorteil ist nach Artikel 107 Absatz 1 AEUV jede wirtschaftliche Vergünstigung, die ein Unternehmen unter normalen Bedingungen, d. h. ohne staatlichen Eingriff, nicht erhalten hätte (48). |
(225) |
Artikel 345 AEUV lautet wie folgt: „Die Verträge lassen die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt.“ Die Privatisierung eines Unternehmens — ein Übergang vom öffentlichen in den privaten Sektor — ist eine wirtschaftliche Entscheidung, die für sich genommen in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. |
(226) |
Nach ständiger Rechtsprechung (49) sowie der Beschlusspraxis der Kommission (50) wird dem Käufer beim Verkauf von Unternehmensanteilen durch den Staat kein Vorteil gewährt, wenn sich der Staat wie ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter verhält. Dies ist der Fall, wenn ein hypothetischer privater Anteilseigner das betreffende Rechtsgeschäft im Hinblick auf die Gewinnaussichten abgeschlossen hätte. Nichtwirtschaftliche Erwägungen wie industrie- oder beschäftigungspolitische Gründe oder Regionalentwicklungsziele spielen bei dieser Beurteilung also keine Rolle. Dieser Grundsatz wurde von der Kommission und vom Gericht mehrmals bestätigt (51). |
(227) |
In seinem Urteil in der Rechtssache Stardust Marine hat der Gerichtshof festgestellt, dass „man sich für die Prüfung der Frage, ob sich der Staat wie ein umsichtiger marktwirtschaftlich handelnder Kapitalgeber verhalten hat, in den Kontext der Zeit zurückversetzen muss, in der die finanziellen Unterstützungsmaßnahmen getroffen wurden, um beurteilen zu können, ob das Verhalten des Staates wirtschaftlich vernünftig ist, und dass man sich jeder Beurteilung aufgrund einer späteren Situation enthalten muss“ (52). |
(228) |
Im Hinblick auf die Prüfung, ob sich die Hansestadt Lübeck bei der Privatisierung des Flughafens Lübeck wie ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter verhalten hat, müssen die verschiedenen Handlungsoptionen bewertet werden, die der Hansestadt Lübeck damals zur Verfügung standen, um zu ermitteln, ob die Hansestadt Lübeck die finanziell günstigste Möglichkeit gewählt hat. Grundsätzlich kann eine von unabhängigen Beratungsunternehmen vorgenommene Bewertung als Nachweis des Marktwerts eines Rechtsgeschäfts herangezogen werden. |
(229) |
Im Jahr 2004 beauftragte die Hansestadt Lübeck eine unabhängige Privatbank, eine Bewertung der Einstellung sowie der Aufrechterhaltung des Flughafenbetriebs zu erstellen („Berenberg-Studie“) (53). In dieser Studie wurden das günstigste und das ungünstigste Ergebnis der folgenden Handlungsoptionen bewertet: Tabelle 9 Handlungsoptionen der HL und deren Bewertung durch Berenberg Consult
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(230) |
Stichtag war der 31. Dezember 2003. Der Berenberg-Studie zufolge hätte die Aufrechterhaltung des Flughafenbetriebs Kosten von […] EUR verursacht. Dabei wurde davon ausgegangen, dass der Flughafen in den Folgejahren weiterhin Verluste verzeichnet. Die Kosten einer Privatisierung wurden mit […] EUR bis […] EUR veranschlagt. Diese Bewertung beruhte auf der Annahme eines positiven Verkaufspreises von […] EUR. Da ein potenzieller Käufer etwaige erwartete Verluste des Flughafens in seinem Kaufpreisangebot berücksichtigen würde, lässt diese Verkaufspreisschätzung darauf schließen, dass in der Bewertung davon ausgegangen wurde, dass der Flughafenbetrieb nach der Privatisierung rentabel sein würde. Diese Annahme beruht auf der Erwartung, dass die Effizienz und die Passagierzahlen nach der Privatisierung steigen würden. Folglich ist die Annahme begründet. Insbesondere hatte Ryanair angekündigt, im Falle eines Ausbaus der Start- und Landebahnen eine Niederlassung am Flughafen Lübeck einzurichten. |
(231) |
Auf dieser Grundlage beschloss die Hansestadt Lübeck, das Verfahren zur Privatisierung des Flughafens einzuleiten, da dies die finanziell günstigste der verfügbaren Handlungsoptionen darstellte. Die Kommission stellt fest, dass in der Berenberg-Studie davon ausgegangen wurde, dass die Flughafen-Tätigkeiten zu einem positiven Preis verkauft werden könnten, wohingegen bei ihrem Verbleib in der öffentlichen Hand mit fortlaufenden Verlusten zu rechnen wäre. |
(232) |
Der Vertrag, den die Hansestadt Lübeck und Infratil schlossen, besteht aus mehreren Komponenten und sieht verschiedene Szenarios vor, die der Situation im Oktober 2005 Rechnung tragen. |
(233) |
Dadurch, dass der Planungsfeststellungsbeschluss aufgrund des Urteils des OVG Schleswig vom Juli 2005 (siehe Erwägungsgrund 78) nicht erging, wurde die Erweiterung des Flughafens durch Infratil verhindert. Dadurch verringerte sich der Wert der FLG. Ausserdem hing die vorgesehene Flugplanerweiterung von Ryanair, durch die sich die Rentabilität des Flughafens erhöht hätte, in erster Linie vom Erlass des Planfeststellungsbeschlusses ab. |
(234) |
Der neuseeländische Investor Infratil war einer der ersten privaten Kapitalgeber, der in Kontinentaleuropa in einen Regionalflughafen investierte, und verfügte daher nur über eine begrenzte Informationsgrundlage für seine Risikobewertung. Auf der Grundlage früherer Erfahrungen und Kenntnisse in Bezug auf deutsche Verwaltungsverfahren konnte die Hansestadt Lübeck vernünftigerweise davon ausgehen, dass der Planungsfeststellungsbeschluss erlassen würde. Gleichzeitig musste die Hansestadt Lübeck jedoch akzeptieren, dass Infratil dem Planfeststellungsverfahren ein höheres Risiko beimessen und somit nicht bereit sein würde, gleich den vollen Kaufpreis zu zahlen. Deshalb wurden eine Verkaufsoption sowie die Aufteilung des Kaufpreises in einen sofort fälligen Kaufpreis I und einen Kaufpreis II ausgehandelt, der nur im Falle des Erlasses des Planungsfeststellungsbeschlusses und zu diesem Zeitpunkt fällig werden sollte. In Anbetracht dieser Umstände kommt die Kommission zu dem Schluss, dass ein privater Anteilseigner vergleichbare Konditionen ausgehandelt hätte. |
(235) |
Die Kommission muss ferner prüfen, ob die einzelnen im Vertrag für bestimmte Szenarios vorgesehenen Preise marktwirtschaftliche Anforderungen erfüllen. |
Kaufpreis I ([…]) und Verkaufsoption
(236) |
In diesem Szenario werden die im Beteiligungsvertrag von 2005 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt und ergeht der Planungsfeststellungsbeschluss nicht. Daher muss Infratil den Kaufpreis II nicht entrichten. Aus der von der Kommission bei dem unabhängigen Beratungsunternehmen Ecorys in Auftrag gegebenen Studie geht hervor, dass davon ausgegangen wurde, dass der Flughafen Lübeck ohne die Bauarbeiten Verluste verzeichnen würde. Abbildung 2 Low-Case-Szenario — NGW (90 % Eigenkapitalwert) und Kaufpreis […] |
(237) |
Unter diesen Umständen wäre zu erwarten gewesen, dass Infratil die Verkaufsoption ausübt. Beim Kaufpreis I handelt es sich daher um einen rein symbolischen Preis, verbunden mit einer Absicherung in Form einer Ausstiegsstrategie für Infratil zum Widerruf der Transaktion. Da der Betrieb des Flughafens in diesem Szenario nicht rentabel ist, gelangt die Kommission zu dem Schluss, dass der Preis von […] EUR den Marktbedingungen entspricht und Infratil kein wirtschaftlicher Vorteil eingeräumt wurde. |
(238) |
Der Preis der Verkaufsoption in Höhe von […] EUR (zu entrichten von der Hansestadt Lübeck) setzt sich in erster Linie zusammen aus Zahlungen für Gesellschafterdarlehen, Investitionen, Betriebsverlusten und den Kosten für den Planungsfeststellungsbeschluss — Kosten also, die ohne die Privatisierung des Flughafens von der Hansestadt Lübeck hätten getragen werden müssen. In Anbetracht der verschiedenen Preisbestandteile wäre die Verkaufsoption gleichbedeutend mit der Auflösung des Vertrags und damit dem Widerruf der ursprünglichen Transaktion. |
(239) |
Des Weiteren stellt die Kommission fest, dass die Übernahme von Betriebsverlusten auf […] EUR begrenzt ist. Die Verluste des Flughafens in den Jahren vor der Privatisierung lassen jedoch darauf schließen, dass Infratil bewusst gewesen sein muss, dass die tatsächlichen Verluste weit höher liegen würden als diese Obergrenze, falls der Flughafen Lübeck nicht erwartungsgemäß wachsen würde. Tabelle 10 Verluste der FLG im Zeitraum 1995-2010
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(240) |
Eine Extrapolierung des Anstiegs der Verluste aus den drei Jahren vor der Privatisierung (2002-2004) ließe für den Zeitraum vom 1. Oktober 2005 bis zum 31. Dezember 2008 Verluste in Höhe von mehr als […] EUR erwarten. Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass die Verluste aus dem Jahr vor der Privatisierung konstantbleiben, wären Verluste in Höhe von […] EUR zu erwarten gewesen. Infratil hätte daher bei vernüftiger Betrachtung wissen können, dass im Falle eines Wiederverkaufs der Anteile und unter Berücksichtigung der Übernahme von Verlusten in Höhe von […] EUR durch die Hansestadt Lübeck zusätzliche Verluste von […] bis […] EUR zu tragen sein würden. Diese Vorab-Schätzung wird durch Ex-post-Daten bestätigt, wonach der Flughafen in dem betreffenden Zeitraum Verluste in Höhe von […] EUR verzeichnete. |
(241) |
Es liegt auf der Hand, dass ein privater Verkäufer nicht in der Lage gewesen wäre, einen günstigeren Preis für die Verkaufsoption auszuhandeln. Die Kommission kommt daher zu dem Schluss, dass die Hansestadt Lübeck bei den Verhandlungen über die Verkaufsoption wie ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter gehandelt hat und Infratil kein wirtschaftlicher Vorteil gewährt wurde. |
Kaufpreis II ([…] EUR)
(242) |
Der Kaufpreis II in Höhe von […] EUR war von Infratil nur dann zu entrichten, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt würden, die die Rentabilität des Flughafens gewährleisten. |
(243) |
Der Preis entspricht dem von den Parteien während des Ausschreibungsverfahrens im März 2005 ausgehandelten Verkaufspreis. |
(244) |
Das Vorliegen eines wirtschaftlichen Vorteils kann ausgeschlossen werden, wenn der Verkauf im Einklang mit den Marktbedingungen erfolgt. Von einem marktkonformen Verkauf kann ausgegangen werden, wenn er im Wege eines öffentlichen Ausschreibungsverfahrens durchgeführt wird und alle nachstehenden Voraussetzungen erfüllt sind (54):
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(245) |
Das Ausschreibungsverfahren, das im März 2005 durchgeführt wurde, erfüllte diese Voraussetzungen. Da fünf verschiedene Unternehmen Interesse am Kauf des Flughafens angemeldet haben, ist nicht davon auszugehen, dass lediglich Infratil in der Lage war, ein echtes Angebot abzugeben. Ferner wurde das öffentliche Ausschreibungsverfahren nach deutschem Recht so konzipiert, dass der wirksame und diskriminierungsfreie Wettbewerb gewahrt war. |
(246) |
Die Kommission stellt fest, dass der Verkaufspreis im ersten Kaufvertrag vom März 2005 […] EUR betrug. Allerdings wurden die Vertragsbedingungen im Oktober 2005 neu verhandelt. Die sich daraus ergebenden Bedingungen für den Kaufpreis II und die vereinbarten Abzüge (siehe Erwägungsgrund 83) resultierten nicht aus dem ursprünglichen Ausschreibungsverfahren. Um beurteilen zu können, ob der vereinbarte Preis marktkonform ist, muss folglich der Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten angewandt werden. |
(247) |
Um zu ermitteln, ob die Hansestadt Lübeck einen höheren Kaufpreis hätte aushandeln können, sind die gegebenen Umstände zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe des Risikos aus der Ausübung der Verkaufsoption für Infratil und die sich daraus ergebenden potenziellen Verluste. |
(248) |
Wie in Erwägungsgrund 240 dargelegt, musste Infratil selbst bei Berücksichtigung der von der Hansestadt Lübeck gedeckten Verluste in Höhe von […] EUR im Fall der Ausübung der Verkaufsoption mit zusätzlichen finanziellen Verlusten von […] EUR bis […] EUR rechnen. Aus der Ex-ante-Perspektive stellte sich die Lage für Infratil demnach so dar, dass entweder Gewinne erzielt würden, falls das zweite Szenario eintritt, oder aber hohe Verluste entstehen würden, falls die Verkaufsoption ausgeübt wird. |
(249) |
Deutschland erklärte, dass die Hansestadt Lübeck es im Jahr 2005 als sehr unwahrscheinlich erachtete, dass die Voraussetzungen für die Ausübung der Verkaufsoption eintreten würden, d. h., dass der Planungsfeststellungsbeschluss nicht ergehen und die Zahl der Fluggäste unter der Schwelle von […] Fluggästen bleiben würde. |
(250) |
Wie jedoch bereits in Erwägungsgrund 234 erwähnt, musste die Hansestadt Lübeck davon ausgehen, dass Infratil mit dem Planfeststellungsverfahren ein höheres Risiko verbinden würde. |
(251) |
Im Hinblick auf die Passagierzahlen bringt Deutschland vor, dass Ryanair angekündigt hatte, am Flughafen Lübeck eine Niederlassung einzurichten, sofern die bestehenden Start- und Landebahnen ausgebaut würden, und dass für diesen Fall mit bis zu […] Fluggästen im Jahr gerechnet wurde. |
(252) |
Die Kommission stellt fest, dass die tatsächlichen Fluggastzahlen am Flughafen Lübeck diese Schwelle nicht erreichten, sondern vielmehr von 2005 bis 2008 auf 544 339 zurückgingen (siehe Tabelle 1). Hierzu merkt die Kommission an, dass Umstände wie die Auswirkungen der Finanzkrise im Jahr 2005 noch nicht vorhergesehen werden konnten und eine erhebliche Abweichung zwischen den erwarteten und tatsächlichen Fluggastzahlen erklären können. |
(253) |
Sowohl in der von der Kommission in Auftrag gegebenen Ecorys-Studie als auch in dem von der Hansestadt Lübeck 2005 bei Ernst & Young angeforderten Gutachten wird für das Jahr 2008 mit […] Passagieren gerechnet. Diese Zahl beruhte auf der Annahme, dass im ersten Halbjahr 2008 der Planungsfeststellungsbeschluss ergeht und die Bauarbeiten am Flughafen Lübeck bis Ende 2008 aufgeschoben würden. |
(254) |
Auf der Grundlage dieser Zahlen hätte die Hansestadt Lübeck bei vernünftiger Betrachtung die Möglichkeit in Erwägung ziehen müssen, dass die Passagierzahlen den Schwellenwert von […] nicht erreichen. Weil das Erreichen dieses Schwellenwerts eine Voraussetzung für das Verfallen der Verkaufsoption und der Ausgang des Planungsfeststellungsverfahrens ungewiss war, musste davon ausgegangen werden, dass die Verkaufsoption ausgeübt werden könnte. |
(255) |
Da folglich mit der Ausübung der Verkaufsoption durch Infratil gerechnet werden musste und dementsprechend ein hohes Verlustrisiko bestand, geht die Kommission davon aus, dass ein privater Gesellschafter nicht in der Lage gewesen wäre, einen höheren Verkaufspreis auszuhandeln, da das Geschäft dann für einen potenziellen Investor nicht mehr rentabel gewesen wäre. |
(256) |
Daher vertritt die Kommission die Auffassung, dass es sich bei der Entscheidung der Hansestadt Lübeck, einem Kaufpreis von […] EUR mit den vereinbarten Abzügen gemäß dem Beteiligungsvertrag von 2005 zuzustimmen, um eine wirtschaftlich fundierte Entscheidung handelte. |
(257) |
Dieses Ergebnis entspricht den Feststellungen im Gutachten von Ernst & Young, in dem die Einnahmen aus dem Verkauf der FLG-Anteile auf rund […] EUR geschätzt werden und daher davon ausgegangen wird, dass der vereinbarte Preis in einer vergleichbaren Situation auch von einem privaten Investor akzeptiert worden wäre. |
(258) |
In der Ecorys-Studie wird der Marktwert der Anteile mit rund […] EUR weit höher angesetzt. Allerdings werden in dieser Studie die hohen finanziellen Risiken für Infratil bei Ausübung der Verkaufsoption (siehe Erwägungsgründe 247 und 248) nicht berücksichtigt. Dieses Risiko wird in der Ecorys-Studie mit Null angesetzt und daher bei der Schätzung des Kaufpreises II nicht eingerechnet. Die für die Berechnung in Bezug auf Investitionen/CAPEX herangezogenen unterschiedlichen Zahlen tragen ebenfalls dazu bei, dass die Risikobewertungen in den beiden Gutachten voneinander abweichen. |
(259) |
Ferner führt auch die unterschiedlich angesetzte Entwicklung der Passagierzahlen dazu, dass die Ergebnisse der Gutachten erheblich voneinander abweichen. |
(260) |
Vor diesem Hintergrund gelangt die Kommission zu dem Schluss, dass der Kaufpreis II gemäß dem Beteiligungsvertrag von 2005 marktkonform ist und Infratil kein wirtschaftlicher Vorteil gewährt wurde. |
7.3.1.2. Schlussfolgerung zur Rentabilität der Transaktion insgesamt
(261) |
Aus der obigen Bewertung der Maßnahme ergibt sich, dass die Hansestadt Lübeck drei Möglichkeiten hatte, nämlich den Flughafen zu schließen, ihn verlustbringend weiter zu betreiben oder ihn zu verkaufen. Mit der Entscheidung, den Flughafen Lübeck zu verkaufen, traf die Hansestadt Lübeck die wirtschaftlich günstigste Entscheidung. Bei der Beurteilung der konkreten Bedingungen des Beteiligungsvertrags von 2005 müssen die Wechselwirkungen zwischen den beiden Szenarios (d. h. Kaufpreis I und Verkaufsoption sowie Kaufpreis II) berücksichtigt werden. Da festgestellt wurde, dass es aus der Ex-ante-Perspektive heraus sowohl möglich erschien, dass der Kaufpreis II gezahlt würde, als auch, dass die Verkaufsoption ausgeübt würde, sind die sich für beide Parteien daraus ergebenden Risiken einzubeziehen. Insbesondere im Hinblick auf die potenziellen finanziellen Verluste, die sich für Infratil aus der Ausübung der Verkaufsoption ergeben hätten, hält es die Kommission für unwahrscheinlich, dass ein privater Verkäufer an der Stelle der Hansestadt Lübeck in der Lage gewesen wäre, einen günstigeren Vertrag auszuhandeln. |
(262) |
Die Kommission kommt daher zu dem Schluss, dass die Hansestadt Lübeck sich bei der Aushandlung des Beteiligungsvertrags von 2005 wie ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter verhalten hat. Folglich wurde Infratil durch die Maßnahme keinerlei wirtschaftlicher Vorteil gewährt, sodass die Maßnahme keine staatliche Beihilfe darstellt. |
7.3.2. Die Ergänzungsvereinbarung von 2009 und die Neuverhandlung der Verkaufsoption — Übernahme von Verlusten, Investitionen und anderen Kosten der FLG im Jahr 2009
(263) |
Wie bereits erwähnt, wurden die gemäß dem Beteiligungsvertrag von 2005 für die Verkaufsoption zu zahlenden Beträge durch die Ergänzungsvereinbarung von 2009 nicht geändert, sondern diese Vereinbarung sah die Übernahme von Verlusten, vereinbarten Investitionen und anderen Kosten aus dem Betrieb des Flughafens Lübeck im Jahr 2009 vor, woraus sich ein Gesamtpreis für die Verkaufsoption von […] EUR ergab (siehe Erwägungsgrund 90). |
(264) |
In ihrem Einleitungsbeschluss von 2012 hatte die Kommission Verfahren in Bezug auf zwei separate Maßnahmen eingeleitet, nämlich:
Auf der Grundlage der eingegangenen Informationen ist die Kommission jedoch der Auffassung, dass es sich um nur eine Maßnahme handelt, nämlich die Ergänzungsvereinbarung von 2009 zwischen der Hansestadt Lübeck und Infratil. |
7.3.2.1. Vorteil
(265) |
Ob der Preis für die Verkaufsoption nach der Ergänzungsvereinbarung von 2009 einen wirtschaftlichen Vorteil für Infratil umfasst, hängt davon ab, ob das Kriterium des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten erfüllt ist. Um festzustellen, ob die Hansestadt Lübeck die finanziell günstigste der verfügbaren Optionen gewählt hat, muss sich die Kommission in die Lage eines privaten Gesellschafters zum Zeitpunkt des Abschlusses der Vereinbarung zurückversetzen (55). |
(266) |
Die Kommission stellt fest, dass die Hansestadt Lübeck nach der Ankündigung von Infratil, die Verkaufsoption 2009 ausüben zu wollen, vor der Wahl stand, entweder
|
(267) |
Bei Schließung des Flughafens (Möglichkeit a) hätte die Hansestadt Lübeck sofort den Preis für die Verkaufsoption in Höhe von […] EUR zahlen (siehe Erwägungsgrund 238) und das Verfahren zur Schließung des Flughafens einleiten müssen, woraus weitere Kosten entstanden wären (siehe die in Tabelle 9 vorgestellte Berenberg-Studie). |
(268) |
Bei dem ersten Unterszenario unter Möglichkeit b (die Hansestadt Lübeck übernimmt den Betrieb des Flughafens, bis ein neuer privater Investor gefunden ist) hätte die Hansestadt Lübeck den im Beteiligungsvertrag von 2005 festgelegten Preis für die Verkaufsoption an Infratil zahlen und alle Kosten aus dem Betrieb des Flughafens übernehmen müssen, bis ein neuer Investor gefunden wäre. Abgeleitet aus dem 2009 gezahlten Preis für die Verkaufsoption (siehe Tabelle 3) hätten allein die Kosten für Betriebsverluste, Investitionen, das Planfeststellungsverfahren und Gerichtsverfahren […] EUR betragen. Schon bis Oktober 2009 wären für die Hansestadt Lübeck folglich Kosten in Höhe von rund […] EUR zusammengekommen (Preis für die Verkaufsoption gemäß dem Beteiligungsvertrag von 2005 zuzüglich der Betriebskosten für den Zeitraum von November 2008 bis Oktober 2009). |
(269) |
Deutschland machte geltend, dass ein Verkauf der FLG an einen neuen privaten Investor ein weiteres EU-weites Ausschreibungsverfahren erfordert hätte und derartige Verfahren schätzungsweise 12 Monate oder länger dauern. Die Kommission stellt fest, dass ein privater Unternehmer die geschätzte Dauer des Ausschreibungsverfahrens in der Tat berücksichtigt hätte. |
(270) |
Das andere Unterszenario unter Möglichkeit b war die Unterzeichnung der Ergänzungsvereinbarung 2009, um Infratil davon abzuhalten, die Verkaufsoption vor dem 22. Oktober 2009 auszuüben. Wenn Infratil die Verkaufsoption im Oktober 2009 ausgeübt hätte, dann hätte die Hansestadt Lübeck den Preis für die Verkaufsoption gemäß der Ergänzungsvereinbarung von 2009 entrichten müssen. Da dieser Preis den Preis für die Verkaufsoption gemäß dem Beteiligungsvertrag von 2005 sowie zusätzliche Kosten aus dem Betrieb des Flughafens im Jahr 2009 umfasst, sind die potenziellen Kosten für die Hansestadt Lübeck vergleichbar mit den Kosten im ersten Unterszenario der Möglichkeit b. |
(271) |
Jedoch war die Ergänzungsvereinbarung von 2009 mit einem Vorteil für die Hansestadt Lübeck verbunden: sie verschaffte ihr Zeit, ein neues Ausschreibungsverfahren vorzubereiten, um einen neuen Investor zu finden. Auch hätte ein sofortiger Ausstieg von Infratil das Risiko mit sich gebracht, dass Ryanair seine Leistungen am Flughafen Lübeck reduziert und dadurch künftig höhere Betriebsverluste entstehen. Die Verringerung der von Ryanair angebotenen Leistungen hätte sich ferner negativ auf das Planfeststellungsverfahren auswirken können, denn die FLG rechtfertigte den beantragten Ausbau des Flughafens in erster Linie mit dem Wachstum des Billigflugsegments. |
(272) |
Vor diesem Hintergrund gelangt die Kommission zu dem Schluss, dass die Hansestadt Lübeck durch Unterzeichnung der Ergänzungsvereinbarung von 2009 die günstigste Wahl getroffen und sich folglich wie ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter verhalten hat. |
7.3.2.2. Schlussfolgerung
(273) |
Ein Vergleich der verschiedenen Möglichkeiten und der jeweils damit verbundenen Kosten zeigt, dass die Ergänzungsvereinbarung von 2009 mit dem Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten im Einklang steht, denn die Unterzeichnung der Vereinbarung stellte sich zu jenem Zeitpunkt als die kostengünstigste und wirtschaftlich tragfähigste Möglichkeit dar. |
(274) |
Dieses Ergebnis wird durch die begründete Annahme untermauert, dass die Hansestadt Lübeck nicht in der Lage gewesen wäre, 2009 einen neuen Investor zu finden. Dies hat sich ex post bestätigt, denn ein neuer Investor wurde erst im Jahr 2012 gefunden. |
(275) |
Ferner entsprechen die Elemente des Preises für die Verkaufsoption den Preiselementen gemäß dem Beteiligungsvertrag von 2005 und weiten lediglich die Preiselemente auf die Kosten im Jahr 2009 aus. Wie im Beteiligungsvertrag von 2005 ist auch in der Ergänzungsvereinbarung von 2009 eine Obergrenze für die von der Hansestadt Lübeck übernommenen Betriebsverluste und Investitionskosten vorgesehen. |
(276) |
Auf der Grundlage dieser Erwägungen kommt die Kommission zu dem Schluss, dass Infratil kein wirtschaftlicher Vorteil gewährt wurde und die Maßnahme folglich keine staatliche Beihilfe darstellte. |
7.4. MÖGLICHE STAATLICHE BEIHILFE ZUGUNSTEN VON RYANAIR
7.4.1. Wirtschaftlicher Vorteil
(277) |
Stehen einem Flughafen öffentliche Mittel zur Verfügung, so kann eine Beihilfe für eine Luftverkehrsgesellschaft grundsätzlich ausgeschlossen werden, wenn die Beziehung zwischen dem Flughafen und der Luftverkehrsgesellschaft mit dem Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten im Einklang steht. |
(278) |
Nach den Luftverkehrsleitlinien von 2014 (56) kann das Vorliegen einer Beihilfe für eine Luftverkehrsgesellschaft, die einen bestimmten Flughafen nutzt, grundsätzlich ausgeschlossen werden, wenn der für die Flughafendienstleistungen erhobene Preis dem Marktpreis entspricht („erster Ansatz“) oder wenn durch eine Ex-ante-Analyse — d. h. eine Analyse, die sich auf Informationen stützt, die zum Zeitpunkt der Gewährung der Beihilfe vorlagen, sowie auf Entwicklungen, die zu diesem Zeitpunkt vorhersehbar waren — aufgezeigt werden kann, dass die Vereinbarung zwischen Flughafen und Luftverkehrsgesellschaft einen positiven inkrementellen Beitrag zum Gewinn des Flughafens leisten wird und Teil einer Gesamtstrategie ist, die zumindest langfristig zur Rentabilität führt („zweiter Ansatz“). |
(279) |
Beim zweiten Ansatz muss geprüft werden, ob ein umsichtiger, marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter zum Zeitpunkt des Abschlusses der Vereinbarung davon ausgegangen wäre, dass sie zu einem inkrementellen Anstieg der Rentabilität führen würde. Gemessen wird dies an der Differenz zwischen den erwarteten inkrementellen Einnahmen aus der Vereinbarung (die inkrementellen Einnahmen sind die Einnahmen, die erzielt würden, wenn die Vereinbarung geschlossen wird, abzüglich der Einnahmen, die ohne die Vereinbarung erzielt würden) und den erwarteten inkrementellen Kosten aus der Vereinbarung (die inkrementellen Kosten sind die Kosten, die entstehen würden, wenn die Vereinbarung geschlossen wird, abzüglich der Kosten, die ohne die Vereinbarung entstehen würden), wobei auf die resultierenden Cashflows ein angemessener Abzinsungssatz anzuwenden ist. |
(280) |
Was den ersten Ansatz (Vergleich mit dem „Marktpreis“) betrifft, so kann nach Auffassung der Kommission derzeit kein geeigneter Referenzwert ermittelt werden, der die Feststellung eines tatsächlichen Marktpreises für von Flughäfen angebotene Dienste ermöglichen würde (57). Daher betrachtet die Kommission die Ex-ante-Analyse der inkrementellen Rentabilität als geeignetsten Ansatz zur Beurteilung von Vereinbarungen zwischen Flughäfen und einzelnen Luftverkehrsgesellschaften. |
(281) |
Es sei angemerkt, dass die Anwendung des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten auf der Grundlage eines Durchschnittspreises auf anderen ähnlichen Märkten grundsätzlich hilfreich sein kann, wenn ein solcher Preis in vernünftiger Weise ermittelt oder von anderen Marktindikatoren abgeleitet werden kann. Diese Methode ist im Fall von Flughafendienstleistungen jedoch weniger relevant, da sich die Kosten- und Einnahmenstruktur von Flughafen zu Flughafen häufig stark unterscheidet. Sie ist insbesondere abhängig von der Entwicklungsphase des Flughafens, der Zahl der den Flughafen bedienenden Luftverkehrsgesellschaften, der Fluggastkapazität, dem Zustand der Infrastruktur bzw. den zugehörigen Investitionen, dem Regelungsrahmen, der von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sein kann, sowie den historischen Schulden und Verpflichtungen des Flughafens (58). |
(282) |
Darüber hinaus wird jede rein vergleichende Analyse durch die Liberalisierung des Luftverkehrsmarktes erschwert. Im vorliegenden Fall zeigt sich, dass die Geschäftsbeziehungen zwischen Flughäfen und Fluggesellschaften nicht immer ausschließlich auf einer veröffentlichten Entgeltordnung beruhen. Vielmehr können die Geschäftsbeziehungen sehr unterschiedlich sein. Sie umfassen das Teilen von Risiken in Bezug auf den Fluggastverkehr sowie jegliche damit verbundenen wirtschaftlichen und finanziellen Verpflichtungen, gängige Anreizsysteme und die Veränderung der Risikostreuung während der Vertragslaufzeit. Folglich können die betreffenden Transaktionen auf der Grundlage eines Abfertigungsentgelts oder Entgelts pro Fluggast nicht zweckmäßig verglichen werden. |
(283) |
Ferner ist die Anwendung eines Referenzwerts keine geeignete Methode für die Ermittlung von Marktpreisen, wenn die verfügbaren Referenzwerte nicht aus marktwirtschaftlichen Überlegungen heraus festgelegt wurden oder die bestehenden Preise durch staatliche Maßnahmen erheblich verzerrt wurden. In der Luftverkehrsbranche liegen solche Verzerrungen offenbar vor, wie unter den Randnummern 57 bis 59 der Luftverkehrsleitlinien von 2014 erläutert wird: „In öffentlichem Eigentum stehende Flughäfen werden vom Staat traditionell als Infrastruktur zur Förderung der lokalen Entwicklung und nicht als im Einklang mit den Regeln des Marktes tätige Unternehmen betrachtet. Die Preise dieser Flughäfen werden deshalb häufig nicht auf der Grundlage von Markterwägungen und insbesondere soliden Ex-ante-Rentabilitätsaussichten festgesetzt, sondern vor allem unter Berücksichtigung sozialer oder regionaler Erwägungen. Selbst wenn manche Flughäfen private Eigentümer haben oder unabhängig von sozialen oder regionalen Erwägungen privat betrieben werden, können die von ihnen berechneten Preise durch die von den die Mehrheit bildenden öffentlich geförderten Flughäfen berechneten Preise stark beeinflusst werden, da die Luftverkehrsgesellschaften bei ihren Verhandlungen mit den in privatem Eigentum stehenden oder privat betriebenen Flughäfen die Preise der öffentlich geförderten Flughäfen berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund hat die Kommission starke Zweifel, dass zum jetzigen Zeitpunkt ein geeigneter Referenzwert ermittelt werden kann, der die Feststellung des tatsächlichen Marktpreises für von Flughäfen angebotene Dienste erlauben würde. Dies kann sich in Zukunft ändern …“ (59). |
(284) |
Darüber hinaus haben die Unionsgerichte festgestellt, dass die Verwendung von Referenzwerten in Bezug auf die betreffende Branche nur eines von mehreren Verfahren ist, mit denen analysiert werden kann, ob einem Begünstigten ein wirtschaftlicher Vorteil entstanden ist, der ihm unter normalen Marktbedingungen nicht gewährt worden wäre (60). Die Kommission kann zwar nach diesem Ansatz vorgehen, ist dazu jedoch nicht verpflichtet, wenn der Ansatz wie im vorliegenden Fall nicht angemessen wäre. |
(285) |
Ryanair vertrat im Wesentlichen die Auffassung, dass der Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten angewandt werden kann, indem ein Vergleich mit den geschäftlichen Vereinbarungen anderer europäischer Flughäfen erfolgt. So stellte das Unternehmen insbesondere die von ihm an den Flughäfen in Bournemouth, Grenoble, Knock, Maastricht, Nîmes und Prestwick zu zahlenden Entgelte den nach den Vereinbarungen am Flughafen Lübeck zu zahlenden Entgelten gegenüber. In der Studie wurde nicht geprüft, ob diese Vergleichsflughäfen alle in den Luftverkehrsleitlinien von 2014 genannten Voraussetzungen erfüllten, da lediglich das Verkehrsaufkommen, die Art des Verkehrs am Flughafen und der Wohlstand im Umfeld (61) Gegenstand der Betrachtung waren. |
(286) |
Nachdem sie in ihrem Einleitungsbeschluss von 2012 die in den Nebenvereinbarungen von März und Oktober 2010 festgelegten Entgelte mit den Entgelten am Flughafen Hamburg verglichen hatte, zweifelte die Kommission an der Marktkonformität der in den Nebenvereinbarungen festgelegten Entgelte. Die Kommission stellt fest, dass das Verkehrsaufkommen in Lübeck deutlich niedriger ist als am Flughafen Hamburg. Hamburg ist in Norddeutschland der Flughafen mit dem größten Verkehrsaufkommen. Der Hamburger Flughafen wird für alle Bereiche des Luftverkehrs genutzt, während Lübeck sich auf Billigflüge spezialisiert hatte, für die weniger Check-in-Schalter und Einrichtungen für umsteigende Fluggäste, keine Passagierbusse, weniger Personal undEinrichtungen für die Gepäckabfertigung und weniger Reinigungspersonal benötigt werden und bei denen darüber hinaus die Umlaufzeit kürzer ist. Folglich ist der Flughafen Hamburg nicht in ausreichendem Maße mit dem Flughafen Lübeck vergleichbar. |
(287) |
In Anbetracht dieser Erwägungen vertritt die Kommission die Auffassung, dass im vorliegenden Fall der in den Luftverkehrsleitlinien von 2014 für die Anwendung des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten auf die Geschäftsbeziehungen zwischen Flughäfen und Luftverkehrsgesellschaften allgemein empfohlene Ansatz anzuwenden ist, d. h. die Ex-ante-Analyse des inkrementellen Anstiegs der Rentabilität (62). |
(288) |
Dieser Ansatz ist dadurch gerechtfertigt, dass ein Flughafenbetreiber ein objektives Interesse am Abschluss einer Transaktion mit einer Luftverkehrsgesellschaft haben kann, wenn vernünftigerweise zu erwarten steht, dass durch die Transaktion seine Gewinne höher (bzw. seine Verluste geringer) ausfallen als im kontrafaktischen Szenario ohne die Transaktion, ungeachtet jeglichen Vergleichs mit den Geschäftsbedingungen, die Luftverkehrsgesellschaften von anderen Flughafenbetreibern angeboten werden und auch der Bedingungen, die der Flughafenbetreiber anderen Luftverkehrsgesellschaften anbietet. |
(289) |
Um auszuschließen, dass der Vorteil aus einer vereinbaren Beihilfe für den Flughafenbetreiber an eine bestimmte Luftverkehrsgesellschaft weitergegeben wird, muss ferner die Flughafeninfrastruktur allen Luftverkehrsgesellschaften offenstehen und darf nicht einer bestimmten Gesellschaft vorbehalten sein. |
(290) |
Die Kommission stellt in diesem Zusammenhang des Weiteren fest, dass die Preisdifferenzierung eine übliche Geschäftspraxis ist. Eine derartige differenzierte Preispolitik sollte jedoch kommerziell gerechtfertigt sein. |
(291) |
Nach Auffassung der Kommission entsprechen zwischen Luftverkehrsgesellschaften und einem Flughafen geschlossene Vereinbarungen dem Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten, wenn sie von einem Ex-ante-Standpunkt aus betrachtet inkrementell zur Rentabilität des Flughafens beitragen. Der Flughafen sollte aufzeigen, dass er bei der Aufsetzung einer Vereinbarung mit einer Luftverkehrsgesellschaft (z. B. individueller Vertrag oder allgemeine Flughafenentgelt-Regelung) während der Laufzeit der Vereinbarung in der Lage ist, die Kosten aus der Vereinbarung mit einer angemessenen Gewinnmarge auf der Grundlage solider mittelfristiger Aussichten zu decken (63). |
(292) |
Bei der Beurteilung der Frage, ob eine von einem Flughafen mit einer Luftverkehrsgesellschaft geschlossene Vereinbarung dem Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten entspricht, müssen neben den Flughafenentgelten (abzüglich eventueller Nachlässe, Marketingunterstützung oder Anreizsysteme) auch die durch die Tätigkeiten der Luftverkehrsgesellschaft voraussichtlich generierten Einnahmen aus nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten berücksichtigt werden. Ebenso sind alle inkrementellen Kosten, die dem Flughafen im Zusammenhang mit den Tätigkeiten der Luftverkehrsgesellschaft am Flughafen voraussichtlich entstehen, zu berücksichtigen. Diese inkrementellen Kosten können alle Ausgaben- bzw. Investitionskategorien umfassen, wie zum Beispiel inkrementelle Personal-, Ausrüstungs- und Investitionskosten, die durch die Präsenz der Luftverkehrsgesellschaft am Flughafen entstehen (64). |
(293) |
Nach ständiger Beschlusspraxis der Kommission sollten Kosten, die der Flughafen unabhängig von der Vereinbarung mit der Luftverkehrsgesellschaft in jedem Falle zu tragen hätte, in die Prüfung der Einhaltung des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten hingegen nicht einbezogen werden (65). |
(294) |
Nach dem Charleroi-Urteil (66) muss die Kommission bei der Beurteilung der betreffenden streitigen Maßnahmen alle maßgeblichen Aspekte der Maßnahmen und ihren Kontext berücksichtigen, d. h., im vorliegenden Fall muss die Kommission die erwarteten Auswirkungen des Vertrags mit Ryanair auf die FLG untersuchen und dabei alle maßgeblichen Aspekte der betreffenden Maßnahmen berücksichtigen. |
(295) |
In seinem Urteil in der Rechtssache Stardust Marine befand der Gerichtshof, dass „man sich für die Prüfung der Frage, ob sich der Staat wie ein umsichtiger marktwirtschaftlich handelnder Kapitalgeber verhalten hat, in den Kontext der Zeit zurückversetzen muss, in der die finanziellen Unterstützungsmaßnahmen getroffen wurden, um beurteilen zu können, ob das Verhalten des Staates wirtschaftlich vernünftig ist, und dass man sich jeder Beurteilung aufgrund einer späteren Situation enthalten muss“ (67). |
(296) |
Zur Anwendung des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten muss sich die Kommission auf die Zeit beziehen, in der die Vereinbarung geschlossen wurde. Bei ihrer Bewertung muss die Kommission ferner von den Informationen und Annahmen ausgehen, die der FLG bei Abschluss der Vereinbarung vorlagen. |
7.4.2. Anwendung des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten auf den Vertrag von 2000
7.4.2.1. Vorbemerkungen
(297) |
Air Berlin hat die Vereinbarungen zwischen Ryanair und dem Flughafen Lübeck als unrentabel bezeichnet und darauf hingewiesen, dass die Verluste der FLG nach der Ankunft von Ryanair kontinuierlich angewachsen sind (Tabelle 8). Da lediglich Ryanair und Wizz Air Liniendienste von diesem Flughafen aus betrieben, schloss Air Berlin, dass diese beiden Fluggesellschaften für die Verluste der FLG verantwortlich waren. |
(298) |
Die Kommission hält demgegenüber fest, dass, selbst wenn ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Anzahl der Fluggäste von Ryanair am Flughafen Lübeck und den Verlusten der FLG nachgewiesen werden könnte, eine Korrelation zwischen Passagieraufkommen und wirtschaftlichen Verlusten nicht zwangsläufig bedeutet, dass die Verluste auf den Betrieb von Ryanair zurückzuführen wären. Nach den Angaben Deutschlands waren mehr als […] % der zwischen 2000 und 2005 angelaufenen Verluste auf notwendige Investitionen zur Anpassung des Flughafens an die höheren Fluggastzahlen zurückzuführen. Die Investitionen waren erforderlich, um den Wert des Flughafens für den Fall einer etwaigen Privatisierung zu erhalten und seine Attraktivität für neue Fluggesellschaften zu wahren. |
(299) |
Ferner ist daran zu erinnern, dass bei der Durchführung des Tests des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten die Situation vor den betreffenden Ereignissen oder Maßnahmen maßgeblich ist. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs muss es sich bei dem Verhalten des privaten Investors, mit dem die Intervention des wirtschaftspolitische Ziele verfolgenden öffentlichen Investors verglichen werden muss, nicht zwangsläufig um das Verhalten eines gewöhnlichen Investors handeln, der Kapital zum Zweck seiner mehr oder weniger kurzfristigen Rentabilisierung anlegt; vielmehr kann er sich auch von längerfristigen Rentabilitätsaussichten leiten lassen (68). Selbst wenn ein Flughafen im Zeitraum der Ryanair-Präsenz Verluste erwirtschaftet, ist es möglich, dass ein Vertrag zwischen einem Flughafen und einer Fluggesellschaft in der Vorausschau inkrementellen Gewinn verspricht. |
(300) |
Abschließend stellt die Kommission fest, dass Ecorys im Rahmen dieser Prüfung beauftragt wurde, einen Bericht über die Rentabilität des Vertrags zwischen der Hansestadt Lübeck und Ryanair aus dem Jahr 2000 zu erstellen (69). Der Bericht basierte jedoch auf einem auf die Gesamtkosten gestützten Ansatz anstelle eines auf inkrementelle Kosten gestützten Ansatzes und wird deshalb in dieser Würdigung nicht berücksichtigt. |
7.4.2.2. Bewertung der inkrementellen Kosten und Einnahmen
(301) |
Ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter hätte zur Bewertung des Vertrags den Zeitraum ab der Unterzeichnung des Vertrags, d. h. den 29. Mai 2000, angesetzt. Für das Ende des Zeitraums hätte er den Auslauftermin des Vertrags von 2000 gewählt, d. h. den 31. Mai 2010. |
(302) |
Bei der Bewertung des in Rede stehenden Vertrags ist angesichts der in den Erwägungsgründen 282 bis 301 getroffenen Feststellungen sowohl die Frage der Beihilfehaltigkeit dieses Vertrags als auch die Höhe der etwaigen Beihilfe anhand der Lage zum Zeitpunkt seiner Unterzeichnung und der damals verfügbaren Informationen und absehbaren Entwicklungen zu prüfen. |
(303) |
Zum Zeitpunkt der Vertragsverhandlungen ging die FLG davon aus, dass die Geschäftstätigkeit von Ryanair am Flughafen Lübeck zu höheren Fluggastzahlen und damit höheren Einnahmen aus nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten, zu einer Ausweitung der nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten und zu mehr Attraktivität des Flughafens für eine Ansiedlung weiterer Fluggesellschaften führen würde. Obwohl die FLG in den Jahren vor dem Vertrag Verluste machte, rechnete sie damit, dass die Geschäftstätigkeit von Ryanair am Flughafen mittel- bis langfristig moderate Gewinne nach sich ziehen würde. |
(304) |
Deutschland legte Daten zu der vorab erwarteten Zunahme des Passagieraufkommens sowie den erwarteten inkrementellen Kosten und Einnahmen (mit Prognosen für den günstigsten bzw. den ungünstigsten Fall) vor. |
(305) |
Folgende inkrementellen Einnahmen würde ein privater marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter vernünftigerweise aus dem Vertrag erwarten:
|
(306) |
In Anwendung des „Single-Till“-Ansatzes sind nach Auffassung der Kommission die Einnahmen des Flughafens sowohl aus luftfahrtgebundenen als auch aus nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten zu berücksichtigen (70). |
(307) |
Auf der Grundlage der im Vertrag von 2000 festgelegten Gebühren erwartete der Flughafen Deutschland zufolge durchschnittliche Einnahmen aus luftfahrtgebundenen Tätigkeiten von […] EUR je Fluggast. Die Einnahmen aus nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten schätzte die FLG auf […] % der Einnahmen aus dem Flugverkehrsgeschäft. |
(308) |
Folgende inkrementellen Kosten würde ein privater marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter vernünftigerweise aus dem Vertrag erwarten:
|
(309) |
Nach den Angaben Deutschlands musste die FLG zusätzliches Personal einstellen, um das erwartete Fluggastaufkommen zu bewältigen. Die FLG rechnete mit inkrementellen Betriebs- und Personalkosten von […] EUR je Fluggast. |
(310) |
Auf der Grundlage des Vertrags von 2000 erwartete die FLG für den Zeitraum 2000-2012 inkrementelle Marketingkosten von […] EUR im günstigsten und von […] EUR im ungünstigsten Fall. |
(311) |
Zu den Investitionskosten hat Deutschland ausgeführt, dass die Flughafeninfrastruktur bereits vor dem Vertrag mit Ryanair vorhanden war und der ursprünglich geplante Betrieb von Ryanair dort keine zusätzlichen Infrastrukturinvestitionen erforderlich machte. |
(312) |
Deutschland hat die nachstehenden Aufstellungen über Einnahmen und Betriebskosten im günstigsten (Tabelle 11) und im ungünstigsten Fall (Tabelle 12) vorgelegt: Tabelle 11 Kosten und Einnahmen — günstigster Fall
Tabelle 12 Kosten und Einnahmen — ungünstigster Fall
|
(313) |
Die FLG erwartete positive finanzielle Auswirkungen von der Vereinbarung von 2000 mit Ryanair. Hierzu sind in Tabelle 13 die Einnahmen aus luftfahrtgebundenen und nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten sowie die Kosten, die direkt dem Betrieb von Ryanair am Flughafen zugerechnet werden können, und die Marketingkosten zusammengefasst. Tabelle 13 Ex-ante-Rentabilitätsanalyse
|
(314) |
Im Szenario für den günstigsten Fall rundete Deutschland die Fluggastzahlen auf […]; dies führte zu Einnahmen aus luftfahrtgebundenen Tätigkeiten in Höhe von […] EUR. Im Szenario für den ungünstigsten Fall wurde von insgesamt […] Fluggästen ausgegangen, was Einnahmen aus luftfahrtgebundenen Tätigkeiten in Höhe von […] EUR ergab. Da sich die Einnahmen aus nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten den Annahmen zufolge auf […] % der Einnahmen aus luftfahrtgebundenen Tätigkeiten belaufen sollten, wurden die Einnahmen aus nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten auf […] EUR im günstigsten Fall sowie […] EUR im ungünstigsten Fall berechnet. Darüber hinaus wurden die Betriebskosten auf insgesamt […] EUR im günstigsten Fall und […] EUR im ungünstigsten Fall berechnet. Die Marketingkosten wurden nicht pro Fluggast berechnet, sondern geschätzt, und zwar auf insgesamt […] EUR im günstigsten Fall bzw. auf […] EUR im ungünstigsten Fall. |
(315) |
Tabelle 13 zeigt, dass die Einnahmen aus dem Vertrag von 2000 den Schätzungen zufolge die Kosten überschreiten sollten, was zu einem jährlichen Überschuss von […] EUR im günstigsten Fall und […] EUR im ungünstigsten Fall geführt hätte. |
(316) |
Die Kommission betrachtet den Ansatz Deutschlands als solide. Die geschätzten Einnahmen aus luftfahrtgebundenen Tätigkeiten stützten sich auf die Konditionen des Vertrags mit Ryanair aus dem Jahr 2000. Die Veranschlagung der Einnahmen aus nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten auf […] % der Einnahmen aus luftfahrtgebundenen Tätigkeiten dürfte den einschlägigen allgemeinen Kalkulationen an anderen Flughäfen entsprechen (siehe Tabelle 6). Auch die Annahme eines erhöhten Personalbedarfs bei einem Anstieg des Fluggastaufkommens erscheint vernünftig. |
(317) |
Die Investitionen zur Erweiterung des Flughafens Lübeck waren nicht auf Ryanair zugeschnitten, sondern konnten auch anderen Fluggesellschaften zugute kommen. Deswegen war es nicht notwendig, die Investitionskosten den inkrementellen Kosten des Vertrags mit Ryanair zuzurechnen. Wie Deutschland betont hat, hat sich die FLG kontinuierlich um die Ansiedlung weiterer Fluggesellschaften bemüht und war dabei auch erfolgreich (beispielsweise WizzAir). Ferner hat der Flughafen Deutschland zufolge jahrelang erfolglos versucht, mit Air Berlin in Verhandlungen einzutreten. |
(318) |
Deutschland hat argumentiert, dass eine erhebliche Steigerung des Passagieraufkommens für eine erfolgreiche Privatisierung des Lübecker Flughafens unverzichtbar war. Die Kommission akzeptiert, dass Investitionen vorgenommen wurden, um den Flughafen Lübeck für ein höheres Fluggastaufkommen zu wappnen (71). |
(319) |
Allerdings wurde die FLG im Vertrag von 2000 nicht verpflichtet, Investitionen vorzunehmen (72). Die FLG hätte ihren Verpflichtungen aus diesem Vertrag nachkommen können, ohne in die Erweiterung des Flughafens zu investieren. |
(320) |
Aus diesen Gründen kommt die Kommission zu dem Schluss, dass es gerechtfertigt war, die Investitionen in den Flughafen Lübeck nicht den Vereinbarungen mit Ryanair aus dem Jahr 2010 zuzurechnen. |
(321) |
Nach einer Analyse der Angaben Deutschlands kann die Kommission jedoch in einem Punkt nicht zustimmen und nimmt dementsprechend eine Änderung vor. Im Vertrag von 2000 wird vereinbart, dass dieser am 30. Mai 2010 endet. Deutschland hat bei der Berechnung der inkrementellen Rentabilität dieses Vertrags auch die inkrementellen Kosten und Einnahmen der Jahre 2011 und 2012 berücksichtigt. Die Kommission hält es für gerechtfertigt, lediglich die während der Vertragslaufzeit entstehenden inkrementellen Kosten und Einnahmen zu berücksichtigen. Angesichts dieser erforderlichen Änderung hat die Kommission ihre eigene Analyse vorgenommen. Dabei hat sie sich auf die Bewertung der inkrementellen Rentabilität durch Deutschland gestützt und diese erforderlichenfalls angepasst, woraus sich die Aufstellungen in den Tabellen 14, 15 und 16 ergeben: Tabelle 14 Kosten und Einnahmen — günstigster Fall
Tabelle 15 Kosten und Einnahmen — ungünstigster Fall
Tabelle 16 Ex-ante-Rentabilitätsanalyse
|
(322) |
Die Kommission hat die für 2011 und 2012 erwarteten Einnahmen und Betriebskosten ausgenommen, da der Vertrag von 2000 dann bereits erloschen sein sollte (siehe Tabellen 14 und 15). Statt dessen stützte sie sich auf die erwarteten Einnahmen und Betriebskosten für die Jahre 2000-2010, die in der nachstehenden Tabelle 16 aufgeführt werden. Im Hinblick auf die Marketingkosten hat die Kommission die Durchschnittskosten pro Passagier im günstigsten und im ungünstigsten Fall berechnet, wobei sie die Angaben der deutschen Behörden zugrunde gelegt hat. Dann hat sie den Pro-Kopf-Durchschnittswert mit dem erwarteten Passagieraufkommen für die Jahre 2000-2010 multipliziert, was zu einem Marketingkosten-Schätzwert von […] EUR im günstigsten und von […] EUR im ungünstigsten Fall führt (Tabelle 16). |
(323) |
Auch wenn die von Deutschland vorgelegte Vorab-Analyse von der FLG die künftigen Zahlungen nicht auf die Preise zum Vertragsschluss-Termin herabrechnete, wird aus den Zahlen deutlich, dass sich der Vertrag voraussichtlich als rentabel erweisen würde. |
(324) |
Neben den von Deutschland übermittelten Daten hat Oxera eine Rentabilitätsanalyse des Vertrags von 2000 vorgelegt (73). Oxera hat seiner Analyse nach Möglichkeit tatsächliche Daten, d. h. Kosten und Einnahmen aus der Zeit vor Vertragsschluss, herangezogen, um daraus Annahmen über die Erwartungen von der FLG zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses abzuleiten. Dabei verwendete Oxera die tatsächlichen Fluggastzahlen bis zum Tag des Vertragsschlusses. Den Einnahmen aus luftfahrtgebundenen Tätigkeiten und den Marketing-Kosten wurden die Gebühren und Zahlungen gemäß dem Vertrag von 2000 zugrunde gelegt. Für die Berechnung der Einnahmen aus nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten und der Betriebskosten verwendete Oxera tatsächliche Zahlen aus der Zeit nach dem Vertragsschluss. |
(325) |
Der Nettogegenwartswert („NGW“) des Vertrags von 2000 mit Ryanair wurde auf […] EUR geschätzt. Daher wurde erwartet, dass die Vereinbarung rentabel ist. |
(326) |
Oxera berechnete den NGW, ohne dem Vertrag von 2000 Investitionskosten beizumessen. Dies entspricht der Feststellung der Kommission (siehe Erwägungsgründe 316 bis 320, wonach die auf dem Flughafen Lübeck getätigten Investitionen nicht dem Vertrag von 2000 zuzurechnen waren. |
(327) |
Die Kommission hält fest, dass Oxera zur Berechnung des Fluggastaufkommens, der Einnahmen aus luftfahrtgebundenen Tätigkeiten und der Marketinggebühren verfügbare Ex-ante-Daten, zur Berechnung der Einnahmen nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten und der Betriebskosten jedoch Ex-post-Daten zugrunde legte. Nach eigenen Angaben hatte Oxera keinen Zugang zu Ex-ante-Prognosen der Einnahmen aus nicht luftfahrtgebundenen Tätigkeiten und der Betriebskosten. Die Kommission stellt fest, dass nur Einnahmen und Kosten, die der Flughafen im Voraus zum Zeitpunkt eines Vertrags mit einer Fluggesellschaft prognostizierte, berücksichtigt werden können, wenn es zu bewerten gilt, ob der Vertrag mit dem Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten in Einklang stand. Eine teilweise auf Ex-post-Daten beruhende Bewertung kann jedoch hilfsweise bei der Bestätigung der Annahmen herangezogen werden, auf denen die vorausgeschätzten Einnahmen und Kosten beruhen. Die von Oxera rekonstruierten Ex-ante-Daten zu den Einnahmen aus luftfahrtgebundenen Tätigkeiten ([…] EUR) liegen denn auch zwischen den von Deutschland vorgelegten FLG-Prognosen für den günstigsten ([…] EUR) und den ungünstigsten Fall ([…] EUR). Die von Oxera rekonstruierten Ex-ante-Daten zu den Marketingkosten ([…] EUR) sind sogar niedriger als die von Deutschland vorgelegten: die FLG hatte die Marketingkosten auf insgesamt […] EUR im günstigsten und […] EUR im ungünstigsten Fall prognostiziert. Damit bestätigt sich, dass die FLG-Prognosen ausreichend konservativ angesetzt waren. |
7.4.3. Schlussfolgerung
(328) |
Aus den von Deutschland vorgelegten Informationen geht hervor, dass die FLG vom Vertrag von 2000 ein positives inkrementelles Ergebnis erwarten konnte. Die Annahmen, auf denen diese Erwartung beruhte, scheinen vernünftig zu sein. Dies wird durch die Tatsache untermauert, dass die erwartete Zunahme des Passagieraufkommens durch die reale Zunahme im Zeitraum 2000-2005 übertroffen wurde. Dass der Zuwachs des Passagieraufkommens an Grenzen stieß, war größtenteils darauf zurückzuführen, dass der Planfeststellungsbeschluss nicht erging, wodurch eine Erweiterung des Flughafens unmöglich wurde. Dies war zum Zeitpunkt der Schließung des Vertrags von 2000 nicht vorhersehbar. Die Erwartungen der FLG werden durch die Studie von Oxera untermauert. |
(329) |
Es wäre daher vernünftigerweise zu erwarten gewesen, dass der Vertrag von 2000 mit Ryanair für die FLG inkrementell rentabel gewesen wäre. Folglich hätte ein umsichtiger marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter den Vertrag ebenfalls geschlossen, da er von einem Ex-ante-Standpunkt aus betrachtet inkrementell zur Rentabilität des Flughafens beigetragen hätte. Wegen seines eindeutig positiven Beitrags kann der Vertrag von 2000 auch als Teil einer zumindest langfristig auf Rentabilität abzielenden Gesamtstrategie des Flughafens betrachtet werden. |
(330) |
Der Vertrag von 2000 zwischen der FLG und Ryanair ist daher mit keinerlei wirtschaftlichem Vorteil verbunden, der Ryanair unter normalen Marktbedingungen nicht entstanden wäre. Daher ist dieser Vertrag nicht als staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 AEU-Vertrag zu werten. Diese Feststellung lässt die Prüfung, ob die Vereinbarungen von 2010 mit einer staatlichen Beihilfe für Ryanair einhergehen, unberührt. |
7.5. ENTGELTE FÜR DAS ENTEISEN VON FLUGZEUGEN
7.5.1. Selektivität
(331) |
Eine staatliche Maßnahme fällt nur dann unter Artikel 107 Absatz 1 AEUV, wenn eine Begünstigung „bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige“ vorliegt. Folglich fallen nur Maßnahmen, durch die Unternehmen in selektiver Weise begünstigt werden, unter den Beihilfebegriff. |
(332) |
Nach der Rechtsprechung der EU-Gerichte ist zu untersuchen, ob eine staatliche Maßnahme im Rahmen einer bestimmten rechtlichen Regelung („Bezugsrahmen“) geeignet ist, bestimmte „Unternehmen oder Produktionszweige“ gegenüber anderen Unternehmen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Maßnahme verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, zu begünstigen. Eine Maßnahme, die zwischen Unternehmen, die sich in einer vergleichbaren Situation befindet, unterscheidet, ist offensichtlich selektiv. Ist eine prima facie selektive Maßnahme durch die Natur oder den inneren Aufbau des Systems gerechtfertigt, so wird sie nicht als selektiv angesehen und fällt daher nicht unter Artikel 107 Absatz 1 AEUV (74). |
(333) |
Die Kommission muss daher eine dreistufige Analyse vornehmen: In einem ersten Schritt ist das Referenzsystem zu bestimmen. Zweitens sollte festgestellt werden, ob eine bestimmte Maßnahme insofern eine Abweichung von diesem System darstellt, als sie zwischen Wirtschaftsbeteiligten differenziert, die sich unter Berücksichtigung der inhärenten Ziele des Systems in einer vergleichbaren Sach- und Rechtslage befinden. Falls eine Abweichung besteht (und die Maßnahme somit prima facie selektiv ist), muss drittens geprüft werden, ob die Abweichung durch die Natur oder den inneren Aufbau des (Bezugs-)Rahmens gerechtfertigt ist. |
(334) |
Im vorliegenden Fall hat die Kommission wegen der Entgelte für das Enteisen von Flugzeugen das förmliche Prüfverfahren eingeleitet. |
(335) |
Dabei muss sie als erstes feststellen, auf welcher Regelung die betreffenden Entgelte fußen. Wie die Kommission feststellt, werden die einschlägigen Entgelte in einer Regelung für Sonderentgelte festgelegt. Diese Regelung für Sonderentgelte ist nicht Teil der allgemeinen Entgeltordnung für die Infrastrukturnutzung, weist aber bestimmte gemeinsame Merkmale mit letzterer auf: Sie führt die Preise für bestimmte Dienstleistungen auf, die der Flughafen den Fluggesellschaften erbringt, sowie die Preise für das dazu erforderliche Material. Sie gilt für alle Fluggesellschaften, die den Flughafen nutzen. Sie wird regelmäßig im Abstand von einigen Jahren aktualisiert, um der Kostenentwicklung bei diesen Sonderleistungen Rechnung zu tragen. Nur der Flughafen ist befugt, die Regelung für Sonderentgelte zu erstellen. |
(336) |
In seinem Urteil zum Flughafen Lübeck hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Entgeltordnung von 2006 als maßgeblicher Bezugsrahmen zu gelten hatte (75). Angesichts der Ähnlichkeiten zwischen der allgemeinen Entgeltordnung und der Regelung für Sonderentgelte gelangt die Kommission zu dem Schluss, dass die Regelung für Sonderentgelte am Flughafen Lübeck als Bezugsrahmen anzusehen ist, auf dessen Grundlage die Entgelte für das Enteisen von Flugzeugen zu prüfen sind. |
(337) |
Zweitens muss die Kommission untersuchen, ob diese Regelung für Sonderentgelte zwischen Wirtschaftsbeteiligten differenziert, die sich in einer vergleichbaren Sach- und Rechtslage befinden. Die Regelung für Sonderentgelte gilt für sämtliche Fluggesellschaften, die den Flughafen Lübeck nutzen. Sie macht bei der Nutzung der Enteisungs-Leistungen keinen Unterschied zwischen den Fluggesellschaften. Für jedes am Flughafen Lübeck enteiste Flugzeug gelten die gleichen Entgelte; diese richten sich nach dem Abfluggewicht sowie der verwendeten Mengen an Enteisungsflüssigkeit und Warmwasser. Die Entgelte für Enteisungs-Leistungen am Lübecker Flughafen weisen somit keine Abweichung vom Bezugssystem auf, da zwischen den Fluggesellschaften, die den Flughafen nutzen, nicht unterschieden wird. Nach Auffassung der Kommission sind die Enteisungsentgelte somit offensichtlich nicht selektiv. |
(338) |
Deshalb ist es nicht erforderlich zu prüfen, ob die Gebühren durch die Natur oder den inneren Aufbau des (Bezugs-)Rahmens gerechtfertigt sind. |
7.5.2. Schlussfolgerung
(339) |
Die Entgelte für das Enteisen von Flugzeugen sind somit nicht als staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 AEU-Vertrag zu werten. |
8. SCHLUSSFOLGERUNG
(340) |
Ein Beschluss, in dem darüber befunden wird, ob etwaige staatliche Beihilfen zugunsten der FLG staatliche Beihilfen im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 AEUV darstellen und in einem solchen Fall für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt werden können, ist nicht erforderlich. Die juristische Person FLG besteht nicht länger und hat ihre wirtschaftliche Tätigkeit eingestellt. Selbst wenn eine wirtschaftliche Kontinuität zwischen der FLG und Yasmina bestünde, könnte die Beihilfe nicht länger von Yasmina zurückgefordert werden, da Yasmina aufgelöst und seine Vermögenswerte in einem Insolvenzverfahren nach deutschem Recht unter gerichtlicher Aufsicht veräußert wurden. |
(341) |
Der Verkauf von FLG-Anteilen an Infratil im Jahr 2005 verschaffte Infratil keinen Vorteil, da die Hansestadt Lübeck beim Verkauf der Anteile wie ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter auftrat. Die Neuverhandlung der Verkaufsoption im Jahr 2009 und die Übernahme weiterer Verluste sowie von Investitions- und anderen Kosten gemäß dem Zusatzvertrag von 2009 verschaffte Infratil ebenfalls keinen Vorteil. Auch hier agierte die Hansestadt Lübeck wie ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter. |
(342) |
Der Vertrag von 2000 zwischen der FLG und Ryanair hätte aus der Ex-ante-Perspektive zur Rentabilität des Flughafens beigetragen. Folglich hätte ein marktwirtschaftlich handelnder Betreiber diesen Vertrag geschlossen, sodass Ryanair kein Vorteil aus diesem Vertrag erwächst. |
(343) |
Die Entgelte für Enteisungsleistungen am Flughafen Lübeck haben augenscheinlich keinen selektiven Charakter — |
HAT FOLGENDEN BESCHLUSS ERLASSEN:
Artikel 1
Ein Beschluss, in dem darüber befunden wird, ob etwaige staatliche Beihilfen zugunsten der FLG staatliche Beihilfen im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union darstellen und in einem solchen Fall für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt werden können, ist nicht erforderlich, da die FLG ihre wirtschaftliche Tätigkeit eingestellt hat und eine Rückforderung der Beihilfe nicht mehr möglich ist.
Artikel 2
Der Verkauf von 90 % der Anteile der FLG an Infratil und die im Jahr 2009 neu ausgehandelten Bedingungen der Verkaufsoption stellen keine staatlichen Beihilfen im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union dar.
Artikel 3
Der Vertrag von 2000 zwischen Ryanair und dem Flughafen Lübeck begründet keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
Artikel 4
Die Entgelte für das Enteisen von Flugzeugen stellen keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union dar.
Artikel 5
Dieser Beschluss ist an die Bundesrepublik Deutschland gerichtet.
Brüssel, den 7. Februar 2017
Für die Kommission
Margrethe VESTAGER
Mitglied der Kommission
(1) ABl. C 287 vom 29.11.2007, S. 27.
(2) ABl. C 295 vom 7.12.2007, S. 29, und ABl. C 241 vom 10.8.2012, S. 56.
(3) Infratil ist eine neuseeländische Beteiligungsgesellschaft, die auf Infrastrukturinvestitionen in den Bereichen Energie, Flughäfen und öffentliches Verkehrswesen spezialisiert ist. Infratil war Eigentümer und Betreiber insbesondere folgender Flughäfen: Wellington International Airport, Neuseeland; Glasgow Prestwick Airport und Kent International Airport, Vereinigtes Königreich. In der Zwischenzeit hat die Gesellschaft ihre Beteiligungen an europäischen Flughäfen veräußert.
(4) Bei Ryanair handelt es sich um eine irische Fluggesellschaft und um ein Mitglied des Verbands der europäischen Billigfluggesellschaften (European Low Fares Airlines Association — ELFAA). Die Geschäftstätigkeit der Fluggesellschaft erstreckte sich auf sekundäre Regionalflughäfen. Die Fluggesellschaft fliegt zurzeit rund 160 europäische Zielflughäfen an. Ryanair betrieb eine homogene Flotte aus 272 Maschinen des Typs Boeing 737-800 mit 189 Sitzen. Ryanair führte zum Zeitpunkt des Einleitungsbeschlusses von 2007 vom Flughafen Lübeck 23 Flüge pro Woche nach fünf europäischen Zielflughäfen durch: London-Stansted (Vereinigtes Königreich), Mailand-Bergamo und Pisa (Italien), Palma de Mallorca (Spanien) und Stockholm-Skavsta (Schweden).
(5) ABl. C 287 vom 29.11.2007, S. 27.
(6) ABl. C 295 vom 7.12.2007, S. 29.
(7) Schutzgemeinschaft gegen Fluglärm Lübeck und Umgebung Groß Grönau eV and Check-in Lübeck e.V.
(8) Industrie- und Handelskammer zu Lübeck (IHK).
(9) Peter C. Klanowski and Horst Conrad.
(10) Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 93 des EG-Vertrags [jetzt Artikel 108 AEUV] (ABl. L 83 vom 27.3.1999, S. 1.)
(11) Mitteilung der Kommission — Leitlinien für staatliche Beihilfe für Flughäfen und Luftverkehrsgesellschaften (ABl. C 99 vom 4.4.2014, S. 3.)
(12) ABl. C 113 vom 15.4.2014, S. 30.
(13) Bei der SGF handelt es sich um eine gemäß den Bestimmungen der Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten eingetragene Nichtregierungsorganisation (ABl. L 156 vom 25.6.2003, S. 17).
(14) Vor der Einleitung wurden die Maßnahmen in den Fällen CP 31/2009 (SA.27585) und CP 162/2010 (SA.31149) untersucht.
(15) ABl. C 241 vom 10.8.2012, S. 56.
(16) Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen (Bundesverband der deutschen Verkehrsflughäfen).
(17) Yasmina war eine 100 %ige Tochtergesellschaft von 3 Y Logistic und Projektbetreuung GmbH („3Y“), einem Investmentunternehmen im Besitz einer natürlichen Person, nämlich des Saudis Adel Mohammed Saleh M. Alghanmi. Yasmina wurde für den Kauf und Betrieb des Flughafens Lübeck gegründet.
(18) Urteil des Gerichts vom 9.September 2014, Hansestadt Lübeck/Europäische Kommission, T-461/12 ECLI:EU:T:2014:758.
(19) Urteil des Gerichts vom 21.Dezember 2016, Europäische Kommission gegen Hansestadt Lübeck, C- 524/14 P, ECLI:EU:C:2016:971.
(20) Siehe Website des Flughafens Lübeck: http://www.flughafen-luebeck.de/images/02-unternehmen/06-zahlen_fakten_daten/02-monatsstatistik/ab2000.pdf (Stand: 22. Mai 2015)
(21) Die Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck setzt sich aus Vertretern der Bürger der Stadt zusammen.
(22) ABl. 2012/S 156-261107 vom 16. August 2012 (http://ted.europa.eu/udl?uri=TED:NOTICE:261107-2012:TEXT:EN:HTML&tabId=1).
(23) Entscheidung der Kommission vom 19. Januar 2005 in der Sache N N644i/2002 — Deutschland — Ausbau der kommunalen wirtschaftsnahen Infrastruktur nach Teil II Ziffer 7 des Rahmenplans der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ i) Errichtung oder Ausbau von Regionalflughäfen (ABl. C 126 vom 12.5.2005, S. 10).
(24) Der Planfeststellungsbeschluss für die Entwicklung des Flughafens Lübeck vom 20. Januar 2005, der mehrere Infrastrukturmaßnahmen umfasste, wurde von verschiedenen Parteien vor Gericht angefochten. Im Übergangsverfahren wurden zwei rechtskräftige Beschlüsse vom Oberverwaltungsgericht gefasst: Beschluss 4MR1/05 vom 18. Juli 2005 des Oberverwaltungsgerichts Schleswig und Beschluss 101/05 vom 21. Oktober 2005 des Oberverwaltungsgerichts Schleswig. Auf der Grundlage dieser Urteile wurde die Planfeststellung verweigert.
(*1) Vertrauliche Information.
(25) Anwendung der Artikel 2 und 93 des EG-Vertrags sowie des Artikels 61 des EWR-Abkommens auf staatliche Beihilfen im Luftverkehr (ABl. C 350 vom 10.12.1994, S. 5).
(26) Oberverwaltungsgericht Schleswig; 4MR1/05
(27) Urteil des Gerichtshofs vom 16. Mai 2002, Frankreich/Kommission („ Stardust Marine “), C-482/99, ECLI:EU:C:2002:294.
(28) Urteil des Gerichts vom 3. März 2010, Bundesverband deutscher Banken/Kommission (Helaba I), T-163/05, ECLI:EU:T:2010:59.
(29) Urteil des Gerichtshofs vom 24. Juli 2003, C-280/00 Altmark Trans GmbH und Regierungspräsidium Magdeburg gegen Nahverkehrsgesellschaft Altmark GmbH, C-280/00, ECLI:EU:C:2003:415.
(30) Oxera Bericht „Economic MEOP assessment: Lübeck airport“ vom 6. Februar 2015.
(31) Geschäftsplan „Takeoff Konzept“ vom 21. Dezember 2009, siehe http://www.luebeck.de/stadt_politik/rathaus/wahlen/files/M21_Take_off_Konzept_HL-Umdruck_17-156_WA_Ltsh.pdf.
(32) Urteil des Gerichtshofs vom 16. Mai 2002, Frankreich/Kommission („ Stardust Marine “) C-482/99, ECLI:EU:C:2002:294.
(33) Urteil des Gerichts vom 17. Dezember 2008, Ryanair/Kommission (Charleroi T-196/04 ECLI:EU:T:2008:585.
(34) Entscheidung der Kommission vom 12. November 2008, staatliche Beihilfe N 510/2008 — Italien — Verkauf von Vermögenswerten von Alitalia (ABl. C 46 vom 25.2.2009, S. 6).
(35) Urteil des Gerichtshofs vom 8. Mai 2003, Italien und SIM 2 Multimedia/Kommission, C-328/99 und C-399/00, ECLI:EU:C:2003:252; Entscheidung der Kommission vom 17. September 2008, staatliche Beihilfen N 321/2008, N 322/2008 und N 323/2008 — Griechenland — Verkauf bestimmter Vermögenswerte von Olympic Airlines/Olympic Airways Services (ABl. C 18 vom 23.1.2010, S. 9); Entscheidung der Kommission vom 12. November 2008, staatliche Beihilfe N 510/2008 — Italien — Verkauf von Vermögenswerten von Alitalia (ABl. C 46 vom 25.2.2009, S. 6); Beschluss der Kommission vom 4. April 2012, SA.34547 — Frankreich — Übernahme von Vermögenswerten der Gruppe SERNAM im Rahmen ihres gerichtlichen Sanierungsverfahrens (ABl. C 305 vom 10.10.2012, S. 5).
(36) Urteil des Gerichts vom 28. März 2012, Ryanair Ltd./Kommission, T-123/09, ECLI:EU:T:2012:164.
(37) Urteil des Gerichts vom 28. März 2012, Ryanair Ltd./Kommission, T-123/09, ECLI:EU:T:2012:164, Rn. 156.
(38) Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. L 82 vom 22.3.2001, S. 16).
(39) BGB vom 18.8.1896, Paragraf 613a 242.
(40) Beschluss der Kommission vom 4. April 2012, SA.34547 — Frankreich — Übernahme von Vermögenswerten der Gruppe SERNAM im Rahmen ihres gerichtlichen Sanierungsverfahrens (ABl. C 305 vom 10.10.2012, S. 10).
(41) Der Begriff „Sorgfaltsprüfung“ bezeichnet eine in der Regel von einem Käufer durchgeführte detaillierte Untersuchung eines Unternehmens, bei dem möglicherweise ein Zusammenschluss, eine Übernahme oder eine Privatisierung oder ein vergleichbares Rechtsgeschäft angestrebt werden soll.
(42) Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. C 262 vom 19.7.2016, S. 1), Rn. 94.
(43) Urteil des Gerichts vom 13. September 2010, Griechenland/Kommission, T-415/05, ECLI:EU:T:2010:386, Rn. 146.
(44) Ebenda. Nach Auffassung des Gerichtshofs kann wirtschaftliche Inkohärenz auf finanzielle Kontinuität hindeuten.
(45) Urteil des Gerichtshofs vom 11. Dezember 2012, Kommission/Spanien, C-610/10, ECLI:EU:C:2012:781, Rn. 106.
(46) Insolvenzordnung vom 5. Oktober 1994 (BGBl. I, S. 2866), zuletzt geändert durch Artikel 16 des Gesetzes vom 20. November 2015 (BGBl. I, S. 2010).
(47) Siehe Entscheidung der Kommission vom 27. Februar 2008 über die staatliche Beihilfe C 46/07 (ex NN 59/07) die Rumänien dem Unternehmen Automobile Craiova (früher Daewoo România) gewährt hat (ABl. L 239 vom 6.9.2008, S. 12).
(48) Urteil des Gerichtshofs vom 29. April 1999, Königreich Spanien/Kommission, C-342/96, ECLI:EU:C:1999:210, Rn. 41; Urteil des Gerichtshofs vom 11. Juli 1996, Syndicat français de l'Express international (SFEI) u. a./La Poste u. a., C-39/94, ECLI:EU:C:1996:285.
(49) Siehe zum Beispiel: Urteil des Gerichts erster Instanz vom 12. Dezember 2000, Alitalia/Kommission, T-296/97, ECLI:EU:T:2000:289; Urteil des Gerichts erster Instanz vom 6. März 2003, WestLB/Kommission, T-228/99 und T-233/99, ECLI:EU:T:2003:57; Urteil des Gerichts erster Instanz vom 29. März 2007, Scott SA/Kommission, T-366/00, ECLI:EU:T:2007:99; Urteil des Gerichtshofs vom 8. Mai 2003, Italien und SIM 2 Multimedia/Kommission, C-328/99 und C-399/00, ECLI:EU:C:2003:252; Urteil des Gerichts erster Instanz vom 12. Dezember 1996, Air France/Kommission, T-358/94, ECLI:EU:T:1996:194.
(50) XXIII. Bericht über die Wettbewerbspolitik, 1993, S. 255.
(51) Beschluss der Kommission vom 19. Juni 2013, SA.36197 (13/N) — Portugal — Privatisierung von ANA — Portugiesische Flughäfen, C(2013) 3546 final (ABl. C 256 vom 5.9.2013, S. 3). Urteil des Gerichtshofs vom 10. Juli 1986, Belgien/Kommission, 40/85, ECLI:EU:C:1986:305.
(52) Urteil des Gerichtshofs vom 16. Mai 2002, Frankreich/Kommission („ Stardust Marine “) C-482/99, ECLI:EU:C:2002:294, Rn. 71.
(53) Die Studie wurde von der Berenberg Consult GmbH (einer Tochtergesellschaft der Hamburger Privatbank Berenberg) erstellt.
(54) Siehe Ziffer 403 des XXIII. Berichts der Europäischen Kommission über die Wettbewerbspolitik, 1993; Abschnitt 4.2.3.1 der Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. C 262 vom 19.7.2016, S. 1).
(55) Urteil des Gerichtshofs vom 16. Mai 2002, Frankreich/Kommission („Stardust Marine“), C-482/99, ECLI:EU:C:2002:294 Rn. 71.
(56) Siehe Luftverkehrsleitlinien von 2014, Rn. 53.
(57) Siehe Luftverkehrsleitlinien von 2014, Rn. 59.
(58) Siehe Entscheidung 2011/60/EU der Kommission vom 27. Januar 2010 über die staatliche Beihilfe C 12/2008 — Slowakei — Vereinbarung zwischen dem Flughafen Bratislava in der Slowakei und Ryanair, Rn. 88 und 89 (ABl. L 27 vom 1.2.2011, S. 24).
(59) Siehe Luftverkehrsleitlinien von 2014, Rn. 57 bis 59.
(60) Zur Verwendung von Referenzsätzen in Bezug auf die Rentabilität (im Gegensatz zur Preisbildung) in der Branche siehe Urteil des Gerichts vom 3.Juli 2014, Spanien und Ciudad de la Luz/Kommission, verbundene Rechtssachen T-319/12 und T-321/12, ECLI:EU:T:2014:604, Rn. 44.
(61) Weitere Indikatoren: siehe Luftverkehrsleitlinien von 2014, Rn. 60.
(62) Siehe Luftverkehrsleitlinien von 2014, Rn. 59. und 63.
(63) Siehe Luftverkehrsleitlinien von 2014, Rn. 63.
(64) Siehe Luftverkehrsleitlinien von 2014, Rn. 64.
(65) Siehe Luftverkehrsleitlinien von 2014, Rn. 64; Beschluss (EU) 2015/1226 der Kommission vom 23. Juli 2014 über die von Frankreich durchgeführte staatliche Beihilfe SA.33963 (2012/C) (ex 2012/NN) zugunsten der Industrie- und Handelskammer von Angoulême, von SNC-Lavalin, von Ryanair und von Airport Marketing Services (ABl. L 201 vom 30.7.2015, S. 48); Beschluss (EU) 2015/1584 der Kommission vom 1. Oktober 2014 über die staatliche Beihilfe SA.23098 (C 37/07) (ex NN 36/07) zugunsten der Società di Gestione dell'Aeroporto di Alghero So.Ge.A.AL S.p.A. und mehreren Luftfahrtunternehmen, die am Flughafen Alghero tätig sind (ABl. L 250 vom 25.9.2015, S. 38); Beschluss der Kommission (EU) 2016/2069 vom 1. Oktober 2014 über die von Belgien durchgeführten Maßnahmen SA.14093 (C76/2002) zugunsten von Brussels South Charleroi Airport und Ryanair (ABl. L 325 vom 30.11.2016, S. 63).
(66) Urteil des Gerichts vom 17. Dezember 2008, Ryanair/Kommission, T-196/04, ECLI:EU:T:2008:585, Rn. 59.
(67) Urteil des Gerichtshofs vom 16. Mai 2002, Frankreich/Kommission („Stardust Marine“), C-482/99, ECLI:EU:C:2002:294 Rn. 71.
(68) Urteil des Gerichtshofs vom 21.März 1991, C-305/89, Italienische Republik/Kommission (Alfa Romeo), C-305/89, ECLI:EU:C:1991:142.
(69) Der Bericht wurde zuvor in Abschnitt 7.3.1.1 im Zusammenhang mit der Rentabilität des Vertrags zwischen der Hansestadt Lübeck und Infratil erwähnt.
(70) Siehe Luftverkehrsleitlinien von 2014, Randnummer 64.
(71) Siehe Beschluss (EU) 2015/1226.
(72) Beschluss (EU) 2015/1584.
(73) Oxera-Bericht „Lübeck airport — Economic MEOP Assessment“ (Flughafen Lübeck — Wirtschaftliches Gutachten zum Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten) vom 1. September 2014.
(74) Urteil vom 7.März 2012, British Aggregates Association/Kommission, T-210/02 RENV ECLI:EU:T:2012:110, Randnummern 82 und 83; Urteil vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich, verbundene Rechtssachen C-106/09 P und C-107/09 P ECLI:EU:C:2011:732, Randnummern 74 und 75; Urteil vom 14. Januar 2015, Eventech/The Parking Adjudicator, C-518/13, ECLI:EU:C:2015:9, Randnummern 54 und 55.
(75) Urteil vom 21.Dezember 2016, Kommission/Hansestadt Lübeck, C-524/14 P ECLI:EU:C:2016:971, Randnummer 62.
19.12.2017 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
L 339/50 |
BESCHLUSS (EU) 2017/2337 DER KOMMISSION
vom 29. Mai 2017
über die für die Bereitstellung fachlicher Hilfe im Agrarsektor sowie für die Erzeugung und Vermarktung landwirtschaftlicher Qualitätserzeugnisse nach dem Milch- und Fettgesetz aufgewendeten staatlichen Beihilfen SA.35484 (2013/C) (ex SA.35484 (2012/NN))
(Bekannt gegeben unter Aktenzeichen C(2017) 3487)
(Nur der deutsche Text ist verbindlich)
DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION —
gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 108 Absatz 2 Unterabsatz 1 (1),
nach Aufforderung der Beteiligten zur Äußerung gemäß der vorgenannten Vorschrift und unter Berücksichtigung ihrer Stellungnahmen,
in Erwägung nachstehender Gründe:
1. VERFAHREN
(1) |
Mit Schreiben vom 28. November 2011 und 27. Februar 2012 bat die Europäische Kommission (im Folgenden: „die Kommission“) Deutschland um zusätzliche Auskünfte hinsichtlich des Jahresberichtes 2010 über Beihilfen im Landwirtschaftssektor, den Deutschland in Übereinstimmung mit Artikel 21 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates (2), jetzt Artikel 26 Absatz 1 der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates (3) übermittelt hatte. Deutschland beantwortete die Fragen der Kommission mit Schreiben vom 16. Januar 2012 und 27. April 2012. Im Lichte der Antworten Deutschlands stellte sich heraus, dass Deutschland dem deutschen Milchsektor finanzielle Unterstützung nach Maßgabe des Gesetzes über den Verkehr mit Milch, Milcherzeugnissen und Fetten (im Folgende: „Milch- und Fettgesetz“ oder „MFG“) von 1952 gewährt hatte. |
(2) |
Mit Schreiben vom 2. Oktober 2012 teilte die Kommission Deutschland mit, dass die betreffenden Maßnahmen als nicht angemeldete Beihilfe Nr. SA.35484 (2012/NN) eingetragen wurden. Mit Schreiben vom 16. November 2012, 7., 8., 11., 13., 14., 15. und 19. Februar, 21. März, 8. April, 28. Mai, 10. und 25. Juni und 2. Juli 2013, unterbreitete Deutschland weitere Informationen. |
(3) |
Mit Schreiben vom 17. Juli 2013 (C(2013) 4457 final) (im Folgende: „der Eröffnungsbeschluss“) teilte die Kommission Deutschland ihren Beschluss mit, wegen dieser Beihilfe das Verfahren nach Artikel 108 Absatz 2 AEUV einzuleiten. Zur Untersuchung der gegenständlichen Teilmaßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt unterschied die Kommission zwischen zwei Zeiträumen:
|
(4) |
Im Eröffnungsbeschluss stellte die Kommission für mehrere Teilmaßnahmen nach dem MFG fest, dass diese entweder keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 AEUV darstellen, oder dass diese Beihilfen darstellen, die nicht in den Anwendungsbereich der Vorschriften über staatliche Beihilfen fallen. |
(5) |
Für weitere Teilmaßnahmen stellte die Kommission fest, dass diese entweder für den Zeitraum vom 28. November 2001 bis zum 31. Dezember 2006 oder für den Zeitraum ab 1. Januar 2007 oder für beide Zeiträume mit dem Binnenmarkt vereinbar sind. |
(6) |
Für alle übrigen Teilmaßnahmen, einschließlich der diesem Beschluss zugrunde liegenden Teilmaßnahmen über die Bereitstellung fachlicher Hilfe im Agrarsektor sowie zugunsten der Erzeugung und Vermarktung landwirtschaftlicher Qualitätserzeugnisse gewährten Beihilfen, erhob die Kommission im Eröffnungsbeschluss Zweifel hinsichtlich ihrer Binnenmarktvereinbarkeit. |
(7) |
Nachdem einige Unrichtigkeiten im Eröffnungsbeschluss entdeckt worden waren, wurde mit Schreiben vom 16. Dezember 2013 eine Berichtigung an die deutschen Behörden übermittelt. |
(8) |
Der berichtigte Eröffnungsbeschluss wurde im Amtsblatt der Europäischen Union (4) veröffentlicht. Die Kommission forderte die Beteiligten auf, innerhalb eines Monats Stellung zu nehmen. |
(9) |
Mit Schreiben vom 20. September 2013 nahm Deutschland zum Eröffnungsbeschluss Stellung. |
(10) |
Der Kommission gingen insgesamt 19 Stellungnahmen von Beteiligten zu. Einer dieser Beteiligten bat die Kommission unter Angabe triftiger Gründe, seine Identität nicht bekannt zu gegeben. Insgesamt zehn Stellungnahmen, jedoch nicht die letztgenannte, bezogen sich auf die gegenständlichen Teilmaßnahmen zur Bereitstellung fachlicher Hilfe im Agrarsektor bzw. auf zur Erzeugung und Vermarktung landwirtschaftlicher Qualitätserzeugnisse gewährte Beihilfen. |
(11) |
Diese Stellungnahmen wurden Deutschland mit Schreiben vom 27. Februar, 3. März 2014 und 3. Oktober 2014 übermittelt. |
(12) |
Mit Schreiben vom 21. März 2014 teilte Deutschland der Kommission mit, dass es keine Stellungnahme zu den zuvor erwähnten Stellungnahmen von Beteiligten abgebe. |
(13) |
Mit Schreiben vom 31. März 2014 übermittelte Deutschland der Kommission eine Stellungnahme des Freistaats Bayern zur Stellungnahme des Beteiligten, dessen Identität nicht bekannt gegeben wurde (siehe Erwägungsgrund 10). |
(14) |
Deutschland äußerte sich zunächst nicht zu den im Februar 2014 von Beteiligten eingereichten Stellungnahmen. Zu einer ergänzenden Stellungnahme vom 8. Juli 2014 nahm Deutschland mit Schreiben vom 3. Dezember 2014 Stellung. |
(15) |
Mit Schreiben vom 13. November 2014 bat die Kommission Deutschland um zusätzliche Auskünfte. Deutschland beantwortete die Fragen der Kommission mit Schreiben vom 27. Februar 2015. |
(16) |
Am 30. Juni 2016 übermittelte das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft zusätzliche Informationen zur Untermaßnahme RP 2. |
(17) |
Mit Schreiben vom 15. November 2016 bat die Kommission Deutschland nochmals um zusätzliche Auskünfte. Nach Ersuchen um Fristverlängerung für die Beantwortung des Schreibens, die von der Kommission gewährt wurde, beantwortete Deutschland die Fragen der Kommission mit Schreiben vom 13. Januar 2017. |
2. BESCHREIBUNG DER MAẞNAHMEN UND STELLUNGNAHMEN DER DEUTSCHEN BEHÖRDEN
(18) |
In der nachfolgenden Beschreibung wird auf die Teilmaßnahmen über nach dem MFG gewährte Beihilfen zur Bereitstellung fachlicher Hilfe im Agrarsektor sowie Beihilfen zur Erzeugung und Vermarktung landwirtschaftlicher Qualitätserzeugnisse eingegangen, hinsichtlich derer die Kommission Zweifel in Bezug auf ihre Binnenmarktvereinbarkeit erhoben hat. Es handelt sich im Einzelnen um die folgenden Teilmaßnahmen (die einzelnen Teilmaßnahmen werden im Folgetext entsprechend der Einordnung im Anhang des Eröffnungsbeschlusses bezeichnet): BY 3, BY 10, BW 4, BB 1, BB 3, HE 2, HE 3, HE 9, NI 5, NI 6, NI 7, NW 4, NW 5, NW 6, RP 1, RP 5, SL 2, SL 5, TH 3, TH 4, TH 9, TH 10 (fachliche Hilfe für den Zeitraum 2001-2006); RP 2 (fachliche Hilfe für den Zeitraum ab 2007); BW 10, BW 11, NI 1 und TH 5 (Qualitätserzeugnisse für den Zeitraum 2001-2006). |
Rechtsgrundlage
(19) |
Das MFG ist ein Bundesgesetz, das 1952 in Kraft trat und seitdem mehrfach geändert wurde (5). Es stellt das Rahmengesetz der gegenständlichen Beihilfemaßnahmen dar und ist in seiner Geltungsdauer unbefristet. |
(20) |
§ 22 Absatz 1 MFG ermächtigt die deutschen Bundesländer, eine Milchumlage von den Molkereien auf Grundlage der Anlieferungsmilchmengen zu erheben. Nach den von Deutschland zur Verfügung gestellten Informationen haben neun (von sechzehn) Bundesländern von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht, nämlich Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Thüringen. Die von den Ländern erhobenen Umlagen betragen bis zu 0,0015 EUR pro kg Milch. |
(21) |
Deutschland hat nachgewiesen, dass die Milchumlage nicht auf Einfuhrerzeugnisse anwendbar ist. Dagegen können Ausfuhrerzeugnisse der Milchumlage unterliegen. |
(22) |
§ 22 Absatz 2 MFG sieht vor, dass die aus der Milchumlage aufkommenden Mittel nur verwendet werden für die:
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(23) |
§ 22 Absatz 2a MFG sieht vor, dass abweichend von Absatz 2 die nach Absatz 1 aufkommenden Mittel auch verwendet werden können für:
|
(24) |
§ 22 Absatz 4 MFG sieht vor, dass die von Molkereien oder ihren Zusammenschlüssen für die in Absatz 2 aufgeführten Zwecke an milchwirtschaftliche Einrichtungen geleisteten Beiträge und Gebühren ganz oder teilweise aus dem Aufkommen der Milchumlage abgegolten werden können. |
(25) |
Während das MFG das Rahmengesetz darstellt, sind es die von den Bundesländern aufgrund des MFG erlassenen Durchführungsvorschriften, welche die eigentliche Rechtsgrundlage für die in Rede stehenden Maßnahmen darstellen. |
Finanzierung
(26) |
Mit Schreiben vom 13. Januar 2017 haben die deutschen Behörden bestätigt, dass die diesem Beschluss zugrunde liegenden Maßnahmen ausschließlich aus Mitteln der Milchumlage finanziert, und dass keine zusätzlichen Mittel aus den Landeshaushalten genutzt wurden. |
2.1. Beihilfen für die Bereitstellung fachlicher Hilfe im Agrarsektor
(27) |
Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Thüringen gewährten zwischen 2001 und 2006 finanzielle Unterstützung für Maßnahmen, die auf die Bereitstellung fachlicher Hilfe im Agrarsektor abzielten (Teilmaßnahmen BY 3, BY 10, BW 4, BB 1, BB 3, HE 2, HE 3, HE 9, NI 5, NI 6, NI 7, NW 4, NW 5, NW 6, RP 1, RP 5, SL 2, SL 5, TH 3, TH 4, TH 9 und TH 10). |
(28) |
Rheinland-Pfalz gewährte ab 2007 finanzielle Unterstützung für eine Maßnahme, die auf die Bereitstellung fachlicher Hilfe im Agrarsektor abzielt (RP 2). |
(29) |
Zwischen 2001 und 2011 betrugen die insgesamt bereitgestellten Haushaltsmittel (alle Länder zusammengerechnet) insgesamt 23,7 Mio. EUR. |
(30) |
Die finanzielle Unterstützung wird für Informationsmaßnahmen allgemeiner Art gewährt, die allen Betrieben im milchwirtschaftlichen Sektor zugutekommen. Diese Maßnahmen zielen auf die Verwendung von Milch und Milchprodukten im Allgemeinen ab, sind auf Informationen über die objektiven Milcheigenschaften beschränkt, beinhalten keine subjektiven Behauptungen über die Vorzüge bestimmter Erzeugnisse eines oder mehrerer Unternehmen und betreffen keine Werbemaßnahmen. Es werden nur allgemeine Maßnahmen finanziert, die allen Erzeugern des Milchsektors gleichermaßen zugutekommen. Bestimmte Erzeuger oder die Herkunft der Milch werden nicht namentlich erwähnt. Es werden keine Direktzahlungen an Verarbeitungs- und Vermarktungsunternehmen geleistet (mit der Ausnahme der Maßnahme RP 2). |
(31) |
Sofern nicht anders angegeben beträgt die Beihilfeintensität der Maßnahmen bis zu 100 % der förderfähigen Kosten. |
Fachliche Hilfe im Zeitraum 2001-2006
BY 3
(32) |
Bayern gewährte finanzielle Unterstützung für die Erhebung von Sach- und Fachinformationen allgemeiner Art zur Milcherzeugung, sowie für die Veröffentlichung und Bereitstellung von allgemeinen Informationen zu milchwirtschaftlichen Themenstellungen (z. B. Milcherzeugung in den landwirtschaftlichen Betrieben). Bezuschusst wurden auch Kosten im Zusammenhang mit der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse in allgemein verständlicher Form (durch Veröffentlichungen und Vorträge) sowie die Erstellung von Sachinformationen über Qualitätssysteme, die den Milcherzeugern in Bayern und der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Die Maßnahme führte der Verband der Milcherzeuger e.V. (VMB) durch. |
(33) |
In der Mitteilung vom 20. September 2013 (6) trug Deutschland vor, dass die Maßnahme BY 3 nach nochmaliger Überprüfung keine staatliche Beihilfe darstelle, da sie keine konkreten Vorteile für einzelne Unternehmen enthalte. Sofern es sich um eine Beihilfe handeln sollte, gelte der Bestandsschutz für bestehende Beihilfen. Hilfsweise wurde vorgetragen, dass die Beihilfen mit dem Binnenmarkt vereinbar seien. |
(34) |
Im Übrigen seien die entsprechenden Maßnahmen unabhängig von dem Nachweis, dass die Mittel für die Verbreitung neuer Methoden verwendet würden, mit dem Binnenmarkt vereinbar. In Artikel 15 Absatz 2 Buchstabe e der Verordnung (EG) Nr. 1857/2006 der Kommission (7) und der Rahmenregelung 2007-2013 (8) werde auf dieses Erfordernis (Verbreitung neuer Methoden) verzichtet. Maßgeblich sei vielmehr, dass wissenschaftliche Erkenntnisse verbreitet würden. Dieser Maßstab sei auch auf den Zeitraum 2000-2006 übertragbar, da damals keine Umstände vorgelegen hätten, die strengere Kriterien erforderlich gemacht hätten. |
(35) |
Deutschland trägt vor, dass die Maßnahme nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt gewesen sei, sondern dass der gesamte Milchsektor in einer allgemeinen Art und Weise unterstützt worden sei und dass pro Begünstigten nicht mehr als 100 000 EUR innerhalb von drei Jahren aufgewendet worden sei. |
(36) |
Laut den deutschen Behörden waren die Begünstigten dieser Maßnahme „Landwirte, Erzeugergemeinschaften, die interessierte Öffentlichkeit sowie KMU“. |
(37) |
Gemäß der Mitteilung der deutschen Behörden vom 27. Februar 2015 lagen die jährlichen Ausgaben für die Maßnahmen BY 3 und BY 10 im Zeitraum 2001 bis 2006 in einer Bandbreite von 471 986 EUR bis 518 057 EUR. Bei einer Anzahl von Milcherzeugern und Molkereiunternehmen zwischen 47 287 und 56 755 im selben Zeitraum ergibt sich ein jährlicher Betrag je Begünstigten (Milchlieferanten und Molkereiunternehmen) zwischen 9,13 EUR und 10,46 EUR. |
BY 10
(38) |
Bayern gewährte der Milchwirtschaftlichen Untersuchungs- und Versuchsanstalt (MUVA) Kempten finanzielle Unterstützung für den Informationsaustausch zwischen verschiedenen Akteuren (Forschungsinstitute, Behörden) zum Thema Milch als Rohstoff. |
(39) |
In der Mitteilung vom 20. September 2013 machte Deutschland geltend (9), dass die Maßnahme BY 10 keine staatliche Beihilfe beinhalte, da sie nicht auf einen Wissenstransfer von der MUVA hin zu Milcherzeugern oder Molkereien ausgerichtet sei. Sofern es sich um eine Beihilfe handeln sollte, gelte aber der Bestandsschutz für bestehende Beihilfen. Hilfsweise wurde vorgetragen, dass die Beihilfen mit dem Binnenmarkt vereinbar seien. |
(40) |
In derselben Mitteilung (10) trug Deutschland vor, dass die „Begünstigten“ der Maßnahme vorwiegend Behörden seien. |
(41) |
In seiner Stellungnahme vom 27. Februar 2015 beziffert Deutschland die jährlichen Gesamtausgaben für die Maßnahmen BY 3 und BY 10 auf 471 986 EUR bis 518 057 EUR (siehe Randnummer 37). |
BW 4
(42) |
Baden-Württemberg gewährte finanzielle Unterstützung für die allgemeine Öffentlichkeitsarbeit und Verbraucherinformation im Zusammenhang mit Milch und Milcherzeugnissen. Bei dieser Maßnahme handelte es sich u. a. um:
|
(43) |
Die Koordinierung der Maßnahme erfolgte durch den Milchwirtschaftlichen Verein Baden-Württemberg (MVBW). Die technische Umsetzung der Maßnahme erfolgte entweder durch den MVBW selbst oder durch von ihm beauftragte Dritte. |
(44) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (11) hält Deutschland an seiner Auffassung fest, dass es sich bei der Maßnahme nicht um eine staatliche Beihilfe handele, weil keine Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige vorliege. |
(45) |
Hilfsweise wird argumentiert (12), dass die Maßnahmen den Vorgaben des damals gültigen Gemeinschaftsrahmens materiell entsprochen hätten und grundsätzlich als Bereitstellung fachlicher Hilfe gemäß Ziffer 14.1 des Gemeinschaftsrahmens für staatliche Beihilfen im Agrarsektor (13) (im Folgenden: „Gemeinschaftsrahmen 2000-2006“) angesehen werden könnten. Die Maßnahmen dienten der allgemeinen, weit verbreiteten Bekanntmachung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse der Eigenschaften von Milch und Milchprodukten. |
(46) |
Deutschland trägt vor, dass die Maßnahmen „Allgemeine Öffentlichkeitsarbeit“ nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt gewesen seien, sondern den gesamten Milchsektor in einer allgemeinen Art und Weise unterstützt hätten. Somit seien die in Ziffer 14.2 genannten Bedingungen des Gemeinschaftsrahmens eingehalten gewesen. Gemäß Ziffer 14.3 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 seien Beihilfen zur Deckung der Kosten von bis zu 100 % zulässig. Die Höhe der Beihilfen habe unter dem Grenzwert gemäß Punkt 14.3 von 100 000 EUR pro Begünstigten pro Dreijahreszeitraum gelegen. |
BB 1
(47) |
Brandenburg hat im Rahmen der Maßnahme „Verbesserung der Hygiene“ Kosten der Aus- und Fortbildung gefördert. Schwerpunkte waren hierbei die Tiergesundheit, Verbesserung der Melkhygiene und Rohmilchqualität sowie die Analyse von Leistungsbeeinträchtigungen. Die Durchführung der Maßnahme wurde dem Landeskontrollverband Brandenburg (LKVB) übertragen. Der Höchstsatz der Beihilfe hat 60 % der förderfähigen Kosten nicht überschritten. |
(48) |
In der Mitteilung vom 20. September 2013 machte Deutschland geltend (14), dass die Maßnahme „Verbesserung der Hygiene“ für den Zeitraum 2001 bis 2006 mit dem Binnenmarkt vereinbar gewesen sei. Die Beratungsangebote seien nicht auf bestimmte Gruppen beschränkt gewesen, sondern hätten allen brandenburgischen Milcherzeugern offen gestanden. Einzelne Unternehmen seien nicht begünstigt worden. Die Maßnahme sei Ziffer 13.2, dritter Gedankenstrich des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 (Deckung von Kosten für die Aus- und Weiterbildung von Mitarbeitern im Hinblick auf die Anwendung von Qualitätssicherungssystemen) zuzuordnen. |
(49) |
In der Mitteilung vom 27. Februar 2015 wiederholen die deutschen Behörden, dass alle Milcherzeuger des Landes grundsätzlich die Möglichkeit hatten, die gegenständliche Beratung (Komplex- und Spezialberatung) in Anspruch zu nehmen. Deutschland trägt vor, dass es sich bei den Zuwendungen um Anteilsfinanzierungen mit Festbeträgen von 161,19 EUR pro Betrieb bei der Komplexberatung bzw. 144,62 EUR pro Betrieb bei der Spezialberatung handele. Somit könne eine Überschreitung von 100 000 EUR pro Betrieb pro Dreijahreszeitraum nicht zustande kommen. Laut den deutschen Behörden basieren die genannten Werte auf dem Jahr 2006, jedoch seien die Beträge der anderen Jahre ähnlich der angegebenen Größenordnung gewesen. Deutschland macht ferner geltend, dass es sich bei den Endbegünstigten (Milchbetriebe/-erzeuger) um KMU handelte. |
BB 3
(50) |
Brandenburg hat bis Ende 2007 die Bereitstellung von Informationen zu wirtschaftlichen Fragen sowie die Weitergabe neu gewonnener Informationen und Erkenntnissen in milchwirtschaftlichen Fragen zu Milchrecht, Milchpolitik, Milchleistung und -qualität, Fütterung und Haltung, Förderung, Tierseuchenschutz usw. gefördert. Es fand weder eine Einzelberatung noch die Ausbildung einzelner Personen statt. Die Durchführung wurde der Landesvereinigung der Milchwirtschaft Brandenburg-Berlin e.V. (LVMB) und dem Landesbauernverband Brandenburg e.V. (LBV) übertragen. |
(51) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (15) hält Deutschland die oben genannte Maßnahme weiterhin mit dem Binnenmarkt für vereinbar. Sie sei dem Gemeinschaftsrahmen 2000-2006 zuzuordnen, und zwar als Bereitstellung fachlicher Hilfe gemäß Ziffer 14.1. Durch sie sollte die Effizienz und Professionalität der Landwirtschaft in der Gemeinschaft verbessert und auf diese Weise ein langfristiger Beitrag zur wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit des Sektors geleistet werden. |
(52) |
Die von der LVMB durchgeführten Landesmelk- und Qualitätswettbewerbe seien dem vierten Gedankenstrich der Ziffer 14.1 als „Veranstaltung von Wettbewerben“ zuzurechnen. |
(53) |
In der Mitteilung vom 27. Februar 2015 macht Deutschland geltend, dass bei den Wettbewerben verdiente Brandenburger Unternehmen anlässlich der IGW ausgezeichnet und somit einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht worden seien. Dazu seien im Jahr 2006 Mittel von rund 463 EUR über die LVMB, die aus der Milchumlage stammten, eingesetzt worden (16). |
(54) |
Über das Projekt „Milcherzeugerberatung“ des LBV habe eine Beratung durch den Milchreferenten des LBV für alle Beteiligten der Milchwirtschaft stattgefunden. Die Finanzierung erfolgte als Anteilsfinanzierung im Rahmen der Projektförderung aus Mitteln der Milchumlage. Gemäß den übermittelten Unterlagen erhielt der LBV im Jahr 2006 zu diesem Zweck aus Landesmitteln eine Zuwendung von 20 000 EUR. Laut Deutschland ist auch in den Jahren zuvor ähnlich verfahren worden. |
(55) |
Die Beihilfen seien nicht auf bestimmte Gruppen beschränkt gewesen. Allen betroffenen Personen in dem betreffenden Gebiet des Milchsektors habe die Möglichkeit der Teilnahme an den o. g. Berufswettbewerben offen gestanden. Die Bedingungen der Ziffer 14.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 seien daher erfüllt gewesen. |
HE 2
(56) |
Hessen gewährte finanzielle Unterstützung an die Landesvereinigung für Milch und Milcherzeugnisse Hessen e.V. (LVMH) für die Maßnahme „Fortbildung für Erzeuger durch das Innovationsteam“. Im Rahmen dieser Maßnahme bereitete das Innovationsteam der LVMH wissenschaftliche Informationen im Rahmen von Fachartikeln und Fortbildungen auf. Sie umfassten das Sammeln und Bündeln von Informationen, Weitergabe von Wissen durch wissenschaftliche Artikel und Fortbildungen für Landwirte und landwirtschaftliche Arbeitnehmer. |
(57) |
Deutschland behauptet, dass die Auswirkungen auf die Wettbewerbsbedingungen gering gewesen seien (17). Die Beihilfen könnten daher bis zu einem höchstzulässigen Satz von 100 % zur Deckung der Kosten für genau beschriebene Tätigkeiten gewährt werden, insbesondere für die Aus- und Fortbildung. Die zuschussfähigen Kosten könnten die tatsächlichen Kosten der Veranstaltung eines Ausbildungsprogramms, die Reisekosten und Spesen sowie die Kosten für die Bereitstellung von Vertretungsdiensten während der Abwesenheit des Landwirts oder der landwirtschaftlichen Arbeitnehmer umfassen. Im vorliegenden Fall handele es sich um eine Fortbildung für Landwirte zu den oben beschriebenen Themen, sodass die Anforderungen der Ziffer 14.1 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 erfüllt seien. |
(58) |
Ebenfalls erfüllt seien die Bedingungen der Ziffer 14.2, da grundsätzlich allen natürlichen und juristischen Personen in dem betreffenden Gebiet auf der Grundlage objektiv definierter Kriterien die Teilnahme an den Fortbildungen zur Verfügung gestanden habe. Die zulässige Höchstgrenze von 100 000 EUR sei bei Beihilfen von rund 125 EUR pro Begünstigten innerhalb von drei Jahren nicht überschritten worden (Ziffer 14.3). |
HE 3
(59) |
Hessen gewährte finanzielle Unterstützung für die Öffentlichkeitsarbeit zur Aufklärung der Verbraucher über Milch und Milcherzeugnisse einschließlich ihrer ernährungsphysiologischen Werte und Verwendungsmöglichkeiten. Das Ernährungsteam der LVMH verbreitete wissenschaftliche Erkenntnisse in allgemein verständlicher Form, organisierte Informationsveranstaltungen sowie Kampagnen und (nicht auf bestimmte Unternehmen gerichtete) PR-Maßnahmen in Form von Flyern, Broschüren, Handouts, Rezepten oder Plakaten zur Micherzeugung, sowie Be- und Verarbeitung von Milch und Milchprodukten. |
(60) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (18) machte Deutschland geltend, dass es sich bei der Maßnahme HE 3 nicht um eine staatliche Beihilfe handele, weil keine Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige vorliege. Die Maßnahme sei eine „reine Verbraucheraufklärung“ gewesen. Hilfsweise trug Deutschland vor, dass die Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar sei. |
(61) |
Die Maßnahme, soweit sie entgegen der Auffassung Deutschlands als Beihilfe einzuordnen wäre, wäre jedenfalls als in Übereinstimmung mit der damaligen Entscheidungspraxis und damit als materiell rechtmäßig anzusehen. Die Maßnahme sei nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt gewesen, sondern unterstützte den gesamten Milchsektor in einer allgemeinen Art und Weise. Somit seien die in Ziffer 14.2 genannten Bedingungen des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 eingehalten gewesen. Gemäß Ziffer 14.3 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 seien Beihilfen von bis zu 100 % zur Deckung der Kosten zulässig. Die tatsächliche Höhe der Zuschüsse habe weit unter dem anwendbaren Grenzwert von 100 000 EUR pro Begünstigten innerhalb von drei Jahren gelegen (Ziffer 14.3 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006). In Hessen seien im Zeitraum 2001-2006 ungefähr 6 000 Milchviehhalter aktiv gewesen, damit entfielen im infrage stehenden Zeitraum auf einen Begünstigten durchschnittlich ungefähr 170 EUR. |
HE 9
(62) |
Hessen gewährte finanzielle Unterstützung an die LVMH für die Maßnahme „Fortbildung für junge Milchviehhalter“. Mit dieser Maßnahme sollte die Qualifikation junger Milchviehhalter verbessert werden. Die zuschussfähigen Kosten umfassten die tatsächlichen Kosten der Veranstaltung eines Ausbildungsprogramms, die Reisekosten und Spesen sowie die Kosten für die Bereitstellung einer Vertretung während der Abwesenheit des Landwirts oder der landwirtschaftlichen Arbeitnehmer. |
(63) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (19) machte Deutschland geltend, dass die Auswirkungen auf die Wettbewerbsbedingungen gering gewesen seien. Solche Beihilfen könnten daher bis zu einem höchstzulässigen Satz von 100 % zur Deckung der Kosten für genau beschriebene Tätigkeiten gewährt werden, insbesondere für die Aus- und Fortbildung. Die beschriebene Maßnahme könne unter Ziffer 14.1 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 eingeordnet werden, da sie letztendlich die darin beschriebene Aus- und Fortbildungsförderung bereits dem Wortlaut nach darstelle. |
(64) |
Bei der Maßnahme handele es sich um klassische Fortbildungen im Milchsektor, die grundsätzlich allen Erzeugern zur Verfügung gestanden hätten und damit den Vorgaben der Ziffer 14.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 entsprochen hätten. In diesen Fällen seien Beihilfen in Höhe von 100 % der Kosten zulässig gewesen. Die Höhe der Beihilfe habe bei Gesamtaufwendungen im Zeitraum 2001 bis 2006 von ungefähr 35 000 EUR unter dem Grenzbetrag von 100 000 EUR pro Begünstigten innerhalb von drei Jahren (Ziffer 14.3 der Rahmenregelung 2000-2006) gelegen. |
NI 5
(65) |
Niedersachsen gewährte der Landesvereinigung der Milchwirtschaft Niedersachsen e.V. (LVMN) finanzielle Unterstützung für die Teilnahme an Messen und Ausstellungen und für die Aufbereitung wissenschaftlicher Erkenntnisse in leicht verständlicher Form. In diesem Zusammenhang wurden die Kosten für die Miete und Ausstattung für Ausstellungsräume, sowie die Kosten der Veröffentlichung von Sachinformation (Broschüren, Rezepte usw.) über Milch und Milchprodukte, einschließlich ihrer ernährungsphysiologischen Werte und Verwendungsmöglichkeiten sowie über die Milcherzeugung in Niedersachsen bezuschusst. Die Koordinierung der Maßnahme erfolgte durch die LVMN. Die technische Umsetzung der Maßnahme erfolgte entweder durch den Verein selbst oder durch von ihm beauftragte Dritte. |
(66) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (20) machte Deutschland geltend, dass die Maßnahme dem vierten Gedankenstrich (Veranstaltung von Wettbewerben, Ausstellungen und Messen) der Ziffer 14.1 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 zuzuordnen sei. Kern der Maßnahme sei die Bezuschussung des Messestandes der LVMN. Insoweit handele es sich nach Auffassung Deutschlands um eine zulässige und mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbare Beihilfe, wenn zusätzlich auch die Bedingungen der Ziffern 14.2 und 14.3 erfüllt seien. |
(67) |
Nach Auffassung Niedersachsens seien die diesbezüglichen Anforderungen erfüllt, da durch den Gemeinschaftsstand alle milcherzeugenden Betriebe (Durchschnitt 2001-2006: ungefähr 17 500 Betriebe) von der Maßnahme profitiert hätten. Damit sei einerseits gewährleistet, dass alle milcherzeugenden Betriebe Zugang zu der Maßnahme hätten (Ziffer 14.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006) und die Beihilfe nicht über einen Betrag von 100 000 EUR je Begünstigten innerhalb von drei Jahren hinausgegangen sei (Ziffer 14.3 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006). |
NI 6 (2001-2003)
(68) |
Überdies gewährte Niedersachsen finanzielle Unterstützung für die Beteiligungen von Verarbeitungsunternehmen an Messen. Deutschland behauptete, dass die in den Jahren 2001-2006 gewährte Unterstützung den Bedingungen der Ziffer 14.1 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 entsprochen habe. Ab 26. November 2003 habe sich die Maßnahme auf die genehmigte staatliche Beihilfe N 200/2003 gestützt, die bis zum 31. Dezember 2008 gegolten und eine Beihilfeintensität von maximal 50 % bzw. den maximalen Beihilfebetrag von 70 000 EUR pro Begünstigten innerhalb von drei Jahren zugelassen habe. |
(69) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (21) machte Deutschland geltend, dass die Maßnahme ausschließlich Beihilfen an Unternehmen des Verarbeitungs- und Vermarktungsbereichs (Molkereien) für die Beteiligung an Messen und Ausstellungen beinhaltet habe. Insoweit sei zur Beurteilung dieser Maßnahme nicht Ziffer 14.1, fünfter Gedankenstrich (wie im Eröffnungsbeschluss der Kommission angenommen), sondern Ziffer 14.1, vierter Gedankenstrich einschlägig. Die Beihilfe sei auf dieser Grundlage auch für den Zeitraum 2001-2003 als mit dem Binnenmarkt vereinbar anzusehen. |
(70) |
In ihrer Stellungnahme vom 27. Februar 2015 sichern die deutschen Behörden für den maßgeblichen Zeitraum (1. Januar 2002-26. November 2003) (22) zu, dass die Maßnahme NI 6 allen Unternehmen im Bereich Verarbeitung und Vermarktung von Milcherzeugnissen offenstand und nach objektiven Kriterien vergeben wurde. Die Maßnahme war darüber hinaus nicht an die Mitgliedschaft in einer Erzeugerorganisation oder sonstigen landwirtschaftlichen Organisation gebunden. |
(71) |
Gemäß der gleichen Stellungnahme lag die maximale Beihilfenintensität dieser Maßnahme bei 48 %. Lediglich ein Unternehmen (Nordmilch eG) erhielt im genannten Zeitraum im Rahmen der gegenständlichen Maßnahme einen Gesamtbeihilfebetrag, der über 100 000 EUR hinausging. Laut den deutschen Behörden sei die Nordmilch eG nicht unter die Definition eines KMU gefallen. Eine Rückforderung dieser Einzelbeihilfe werde daher geprüft. |
NI 7
(72) |
Niedersachsen gewährte finanzielle Unterstützung für allgemeine Informationsmaßnahmen für Verbraucher über Milch als Nahrungsmittel. Zahlungsempfänger war die LVMN, in deren Auftrag das Informationsmaterial erstellt wurde. |
(73) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (23) machte Deutschland geltend, dass es sich bei der Maßnahme „Allgemeine Öffentlichkeitsarbeit“ nicht um eine staatliche Beihilfe handele, da keine Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige vorliege. |
(74) |
Deutschland trug vor (24), dass die Maßnahme materiell den Vorgaben des damals gültigen Gemeinschaftsrahmens entspreche und grundsätzlich als Bereitstellung fachlicher Hilfe gemäß Ziffer 14.1 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 angesehen werden könne, da sie der allgemeinen Verbreitung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie der allgemeinen Informationsweitergabe über die Eigenschaften von Milch und Milchprodukten diene. |
(75) |
Laut Deutschland war die gesamte Maßnahme nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt, sondern unterstützte den gesamten Milchsektor in einer allgemeinen Art und Weise. Somit seien die in Ziffer 14.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 genannten Bedingungen eingehalten gewesen. |
(76) |
Laut Deutschland liegt die Höhe des Zuschusses weit unter dem Grenzwert der Ziffer 14.3 von 100 000 EUR pro Begünstigten innerhalb von drei Jahren. Ausgehend von durchschnittlich ungefähr 17 500 Milcherzeugern im oben genannten Zeitraum in Niedersachsen und einem Gesamtvolumen in Höhe von ungefähr 6,9 Mio. EUR entfielen für die Maßnahme NI 7 im gesamten Zeitraum ungefähr 395 EUR auf einen Begünstigten. |
NW 4 und NW 5
(77) |
Nordrhein-Westfalen gewährte finanzielle Unterstützung für Informationsveranstaltungen und Aktionen der allgemeinen Verbraucheraufklärung und Aktionen über die Verwendung von Milch- und Milchprodukten und ihren allgemeinen Eigenschaften (Teilmaßnahme NW 4). Zuwendungsempfänger waren die Landesvereinigung der Milchwirtschaft Nordrhein-Westfalen e.V. (LVMNRW) und die Landwirtschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe. |
(78) |
Nordrhein-Westfalen gewährte außerdem finanzielle Unterstützung für Veranstaltungen für den Wissensaustausch zwischen Milcherzeugern zu Fragen der Milchwirtschaft (Teilmaßnahme NW 5). |
(79) |
Bezuschusst wurden die Kosten für die Organisation und Durchführung von Veranstaltungen, für Beratung und Aufklärung und Fortbildungen zu Fragen der Milchwirtschaft. Die Förderintensität betrug bis zu 30 %. |
(80) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (25) machte Deutschland geltend, dass hinsichtlich der Maßnahmen NW 4 und NW 5 jegliche Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Wirtschaftszweige fehle, da diese Maßnahme auf die allgemeine Öffentlichkeit abgezielt hätten. Diese Maßnahmen könnten daher auch nicht als technische Hilfe angesehen werden. Darüber hinaus sei bezüglich beider Maßnahmen die materielle und geografische Selektivität potenzieller Begünstigungen zu verneinen. |
(81) |
In ihrer Stellungnahme vom 27. Februar 2015 beziffern die deutschen Behörden die jährlichen Gesamtausgaben der Maßnahme NW 4 im Zeitraum 2001-2006 mit einer Spannbreite von 335 200 EUR bis 497 800 EUR. Bei rund 10 000 milchviehhaltenden Betrieben im gleichen Zeitraum entfiel pro Begünstigen ein jährlicher Betrag zwischen 33,52 EUR und 49,78 EUR. Für die Maßnahme NW 5 ergibt sich bei jährlichen Ausgaben von 14 000 EUR ein Betrag von ungefähr 1,4 EUR pro Begünstigten und pro Jahr. |
NW 6
(82) |
Nordrhein-Westfalen gewährte finanzielle Unterstützung für die Erhebung von relevanten Daten, die zur Markttransparenz beitrugen. Förderfähig waren die der Vereinigung der Milchindustrie LVMNRW entstandenen Kosten für die Sammlung, Auswertung und Veröffentlichung der einschlägigen Daten über den Milchmarkt. Die Ergebnisse wurden als Mitteilungen und Marktberichte veröffentlicht und standen jedermann kostenfrei zur Verfügung. Sie trugen zur Markttransparenz bei und dienten der sachlichen und wissenschaftlichen Information sowie dem Wissensaustausch zwischen Unternehmen des Milchsektors. |
(83) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (26) machte Deutschland geltend, dass es hinsichtlich dieser Maßnahme an einer materiellen und geografischen Selektivität fehle. Hilfsweise wurde vorgetragen, dass die Vereinbarkeitsanforderungen des Gemeinschaftsrahmens eingehalten seien. |
(84) |
Begünstigte seien Landwirte, Erzeugergemeinschaften und alle Beteiligten des Milchsektors (27) gewesen. |
(85) |
In seiner Stellungnahme vom 27. Februar 2015 beziffert -Deutschland die jährlichen Gesamtausgaben der Maßnahme NW 6 im Zeitraum 2001-2006 auf eine Spannbreite von 139 400 EUR bis 155 900 EUR. Bei rund 10 000 milchviehhaltenden Betrieben im gleichen Zeitraum entfiel pro Begünstigen ein jährlicher Betrag zwischen 13,94 EUR und 15,59 EUR. |
RP 1 und SL 2
(86) |
Rheinland-Pfalz und Saarland gewährten finanzielle Unterstützung für Verbraucherinformationen einschließlich der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse in allgemein verständlicher Form, allgemeine Sachinformation über Erzeugnisse, ihre ernährungsphysiologischen Vorzüge und ihre vorgeschlagene Verwendung. Förderfähig waren die Kosten für die Teilnahme an Messen und Ausstellungen, Reisekosten, Kosten für Veröffentlichungen, Mieten für Ausstellungen, symbolische Preise im Wert von bis zu 250 EUR je Preis und Gewinner. |
(87) |
Werbemaßnahmen (28) oder Maßnahmen, die auf die Erzeugnisse bestimmter Unternehmen abzielten, waren von der Förderung ausgeschlossen. Die Koordinierung und die technische Durchführung der Maßnahme erfolgten durch die Milchwirtschaftliche Arbeitsgemeinschaft Rheinland-Pfalz e.V. (MILAG) und die Landesvereinigung der Milchwirtschaft des Saarlandes e.V. (LVMS). |
(88) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (29) machte Deutschland geltend, dass es sich bei diesen Maßnahmen nicht um eine staatliche Beihilfe handele, da keine Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige vorliege. Die Maßnahmen sind nach deutscher Auffassung „reine Verbraucheraufklärung“. Hilfsweise trug Deutschland vor, dass die Beihilfen mit dem Binnenmarkt vereinbar seien: Ziffer 8 der Gemeinschaftsleitlinien über staatliche Beihilfen zur Werbung für landwirtschaftliche Produkte konkretisiere die Maßnahmen, die unter die fachlich gewerblichen Hilfen im Agrarsektor im Sinne der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 fielen. |
(89) |
Aus der Entscheidungspraxis der Kommission in den Jahren 2000-2006, die über verschiedene Produktbereiche und Mitgliedstaaten hinweg praktiziert worden sei, ergäbe sich, dass die Durchführung von Maßnahmen, die mit den hier in Rede stehenden Maßnahmen vergleichbar seien, von der Kommission in dem genannten Zeitraum als materiell rechtmäßig und genehmigungsfähig angesehen worden sei. |
(90) |
Weiterhin trug Deutschland vor, dass die Maßnahmen RP 1 und SL 2, soweit sie entgegen der Auffassung Deutschlands als Beihilfen einzuordnen seien, jedenfalls als in Übereinstimmung mit der damaligen Entscheidungspraxis und damit als materiell rechtmäßig anzusehen seien. Laut Deutschland waren die gesamten Maßnahmen „Allgemeine Öffentlichkeitsarbeit“ nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt, sondern unterstützten den gesamten Milchsektor in einer allgemeinen Art und Weise. Somit seien die in Ziffer 14.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 genannten Bedingungen eingehalten gewesen. Gemäß Ziffer 14.3 könnten die Begünstigungen bis zu 100 % der Kosten decken. |
(91) |
In der Mitteilung vom 27. Februar 2015 machte Deutschland geltend, dass der gewährte Gesamtbeihilfebetrag über einen Zeitraum von drei Jahren unter der Obergrenze von 100 000 EUR pro Begünstigten gelegen habe und entsprechend zwischen 46 EUR und 73 EUR pro Jahr pro Begünstigten (30). |
RP 5 und SL 5
(92) |
Rheinland-Pfalz und Saarland gewährten finanzielle Unterstützung für Fachberatung sowie Fortbildungsprogramme für Milcherzeuger zur Verbesserung der Hygiene der Melktechnik und der Qualität der Anlieferungsmilch (Teilmaßnahmen RP 5 und SL 5). Bezuschusst worden seien die nachgewiesenen Beratungskosten bis zu einem Höchstsatz von 75 000 EUR pro Jahr in Rheinland-Pfalz und bis zu 15 000 EUR pro Jahr im Saarland. Fortlaufende Beratungsleistungen seien von der Förderung ausgeschlossen gewesen. Die Koordinierung und die technische Durchführung der Maßnahmen erfolgten durch den Landeskontrollverband Rheinland-Pfalz e.V. (LKVRP) und die LVMS. |
(93) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (31) machte Deutschland geltend, dass die melktechnische Spezialberatung und Maßnahmen zur Verbesserung der Rohmilchqualität in Rheinland-Pfalz und dem Saarland auch für den Zeitraum 2001 bis 2006 mit dem Binnenmarkt vereinbar gewesen seien. |
(94) |
Ziel der Maßnahmen sei gewesen, anlassbezogen betroffenen Milcherzeugern nach Feststellung von Problemen (z. B. erhöhte somatische Zellen) im Rahmen der Qualitätsprüfungen der Anlieferungsmilch eine melktechnische Spezialberatung sowie diesbezügliche Beratungs- und Schulungskonzepte unter Beteiligung von Tierärzten zur Verbesserung der Eutergesundheit und somit der Rohmilchqualität anzubieten. Dieses Angebot hätten alle rheinland-pfälzischen/saarländischen Milcherzeuger in Anspruch nehmen können. Eine Mitgliedschaft im LKVRP bzw. LVMS sei nicht erforderlich gewesen. Die Förderung fortlaufender oder in regelmäßigen Abständen in Anspruch genommener Beratungsdienste (z. B. Steuer- oder Rechtsberatung, Werbung) habe man ausgeschlossen. |
(95) |
Deutschland macht geltend, dass es sich somit um eine bezuschusste Dienstleitung handele. Direkte Zahlungen an Landwirte seien nicht geleistet worden. |
(96) |
Nach Auffassung von Rheinland-Pfalz ist eine Beratungsförderung nach Ziffer 14.1 dritter Gedankenstrich des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 nicht an die Verbreitung neuer Methoden gebunden. Diese Bindung gilt unbestritten für die Förderung „sonstiger Tätigkeiten für die Verbreitung neuer Methoden“ nach Ziffer 14.1, fünfter Gedankenstrich des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. Zudem ist in der Maßnahme ausdrücklich die Förderung fortlaufender oder in regelmäßigen Abständen in Anspruch genommener Beratungsdienste ausgeschlossen. |
(97) |
Die Bedingungen der Ziffern 14.2 und 14.3 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind nach deutscher Auffassung erfüllt, da eine Mitgliedschaft im LKVRP oder dem Beratungsanbieter nicht erforderlich sei. |
(98) |
Deutschland hat zugesichert, dass pro Begünstigten über einen Zeitraum von drei Jahren ein Gesamtbeihilfebetrag von 100 000 EUR nicht überschritten worden sei. Pro Jahr seien in Rheinland-Pfalz etwa 300 und im Saarland etwa 100 Milcherzeuger beraten worden. Angesichts eines jährlichen Mittelansatzes in Rheinland-Pfalz von ungefähr 59 000 EUR und im Saarland von ungefähr 13 000 EUR ergäbe sich eine durchschnittliche Förderung je Begünstigten in Rheinland-Pfalz von rund 197 EUR und im Saarland von 130 EUR. |
(99) |
Begünstigte seien Landwirte (KMU) und Erzeugergemeinschaften gewesen. |
TH 3 und TH 4
(100) |
Thüringen gewährte finanzielle Unterstützung für die Teilnahme der Landesvereinigung Thüringer Milch e.V. (LVTM) an Fach- und Verbraucherausstellungen (Grüne Tage Thüringen) und die Durchführung von Fachtagungen durch die LVTM zur Verbreitung wissenschaftlicher Informationen (Thüringer Milchtag) (Teilmaßnahme TH 3). |
(101) |
Zudem wurde die Veröffentlichung von Sachinformationen über Erzeuger aus der Region (allgemeine Öffentlichkeitsarbeit, Internationaler Tag der Milch oder Thüringer Milchkönigin) gefördert (Teilmaßnahme TH 4). |
(102) |
Förderfähig waren Sach- und Personalkosten. Zuwendungsempfänger war die LVTM. |
(103) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (32) machte Deutschland geltend, dass die Maßnahme TH 3 als mit dem Binnenmarkt vereinbar anzusehen sei (Ziffer 14.1 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006). Sie sollte die Effizienz und Professionalität der Landwirtschaft in der Gemeinschaft verbessern und auf diese Weise langfristig zur wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit des Sektors beitragen. |
(104) |
Die Durchführung von Fachtagungen zur Verbreitung wissenschaftlicher Informationen (z. B. Thüringer Milchtag) könne dem dritten Gedankenstrich „Beratungsgebühren“ unter Ziffer 14.1 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 zugeordnet werden. Die Teilnahme an Fachausstellungen und Verbraucherausstellungen zur Darstellung der Thüringer Milchwirtschaft (z. B. Grüne Tage Thüringen) falle unter Ziffer 14.1 vierter Gedankenstrich (Veranstaltung von Wettbewerben, Ausstellungen und Messen). |
(105) |
Deutschland trug vor, dass die gesamte Maßnahme nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt gewesen sei, sondern der Unterstützung des gesamten Milchsektor in allgemeiner Art und Weise gedient habe (Ziffer 14.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006). Der gewährte Beihilfebetrag lag pro Begünstigten nicht über 100 000 EUR innerhalb eines Dreijahreszeitraums. |
(106) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (33) machte Deutschland ferner geltend, dass es sich bei der Maßnahme TH 4 um „allgemeine Öffentlichkeitsarbeit“ handele. Sie diente der weit verbreiteten Bekanntmachung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse der Eigenschaften von Milch und Milchprodukten und sei demnach eine technische Hilfe im Sinne von Ziffer 14.1 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. Die Aktivitäten der Landesvereinigung Thüringer Milch e.V., seien als Beratungsgebühren Ziffer 14.1, dritter Gedankenstrich des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 zuzuordnen. |
(107) |
Ausgaben für sämtliche Stände und für Verbraucherkampagnen auf Messen fielen unter Ziffer 14.1, vierter Gedankenstrich des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 (Veranstaltung von Wettbewerben, Ausstellungen und Messen) zuzurechnen. Die Multiplikatorenveranstaltungen, welche neue Methoden und Erkenntnisse weitertrügen, ließen sich unter den fünften Gedankenstrich (sonstige Tätigkeiten für die Verbreitung neuer Methoden) subsumieren. |
(108) |
Die gesamte Maßnahme sei nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt gewesen, sondern habe den gesamten Milchsektor in einer allgemeinen Art und Weise unterstützt (Ziffer 14.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006). |
(109) |
Der gewährte Beihilfebetrag habe pro Begünstigten innerhalb von drei Jahren 100 000 EUR nicht überschritten. |
TH 9 und TH 10
(110) |
Thüringen gewährte finanzielle Unterstützung für die Weiterbildung von Beschäftigten in Milchbetrieben (Teilmaßnahme TH 9) und für die Förderung von Berufswettbewerben (Teilmaßnahme TH 10). |
(111) |
Die Weiterbildungsmaßnahmen richteten sich an Beschäftigte in Milchbetrieben und zielten darauf ab, die Qualifikation der landwirtschaftlichen Arbeitnehmer (Sachkundenachweis „Milchgewinnung“) zu verbessern. Die Durchführung der Maßnahme erfolgte durch den Verein Landvolksbildung Thüringen (VLT). |
(112) |
Die zweite Maßnahme finanzierte die Durchführung von Berufswettbewerben in den Bereichen Tierzüchtung und Milchgewinnung. Die Wettbewerbe wurden vom Thüringer Landjugendverband e.V. (TLJV) sowie der Thüringer Melkergemeinschaft e.V. (TMG) veranstaltet. Finanziert wurden die Kosten der Vorbereitung und Durchführung der Wettbewerbe sowie die Teilnahme an länderübergreifenden Wettbewerben. |
(113) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (34) machte Deutschland zur Teilmaßnahme TH 9 geltend, dass sich die Weiterbildungsmaßnahmen an Beschäftigte in Milchkühe haltenden Betrieben richteten. Träger der Weiterbildungsmaßnahmen sei der Verein Landvolkbildung Thüringen gewesen. Die Zahlungen seien als Leistungsentgelt an den Verein einzustufen, denen die tatsächlich erbrachten Leistungen, die marktüblich kalkuliert und vergütet worden seien, gegenüberstünden. |
(114) |
Deutschland hielt daher an seiner Auffassung fest, dass es an der Erfüllung des Beihilfetatbestandes gemäß Artikel 107 AEUV fehle. In Bezug auf das Weiterbildungsangebot an die Beschäftigten sei der Beihilfentatbestand gemäß Artikel 107 AEUV ebenfalls nicht erfüllt, da es sich nicht um unternehmensbezogene Zahlungen handele. |
(115) |
Hilfsweise wurde vorgetragen, dass bei dieser Maßnahme die Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 erfüllt seien. Im vorliegenden Fall handele es sich um eine Fortbildung für Landwirte zu den oben beschriebenen Themen, sodass die Anforderungen der Ziffer 14.1, erster Gedankenstrich, erfüllt seien. Die Möglichkeit der Teilnahme an Weiterbildungen der oben beschriebenen Art habe allen betroffenen Personen, die in dem betreffenden Gebiet tätig waren, auf der Grundlage objektiv definierter Kriterien zur Verfügung gestanden. Die Bedingungen der Ziffer 14.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 seien daher erfüllt. Die zulässige Höchstgrenze von 100 000 EUR pro Begünstigten pro Dreijahreszeitraum sei nicht überschritten worden (Ziffer 14.3). Vielmehr hätten die Beihilfebeträge im Rahmen dieser Teilmaßnahme in Summe 100 000 EUR über drei Jahre nicht überschritten. |
(116) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (35) machte Deutschland zur Teilmaßnahme TH 10 ferner geltend, dass mit dieser Maßnahme die Organisation und Durchführung von Berufswettbewerben in den Bereichen Tierzüchtung und Milchgewinnung finanziert worden sei. Die Träger der Wettbewerbe seien der TLJV bzw. die TMG. Diese erhielten für die Organisation und Durchführung bzw. Teilnahme an länderübergreifenden Veranstaltungen ein marktüblich kalkuliertes Entgelt. |
(117) |
Da die Zahlungen als Leistungsentgelt angesehen würden, denen äquivalente Aufwendungen gegenüber stünden, läge keine Begünstigung und damit keine beihilfenrechtliche Relevanz vor. |
(118) |
Hilfsweise wurde vorgetragen, dass bei dieser Maßnahme die Voraussetzungen der Ziffer 14, vierter Gedankenstrich des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 erfüllt seien. Die Beihilfen seien nicht auf bestimmte Gruppen beschränkt gewesen. Die Möglichkeit der Teilnahme an den Berufswettbewerben der oben beschriebenen Art habe allen betroffenen Personen in dem betreffenden Gebiet auf der Grundlage objektiv definierter Kriterien zur Verfügung gestanden. Die Bedingungen der Ziffer 14.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 seien daher erfüllt. Die zulässige Höchstgrenze gemäß Ziffer 14.3 des Gemeinschaftsrahmens von 100 000 EUR pro Begünstigten pro Dreijahreszeitraum sei nicht überschritten worden. Vielmehr hätten die Beihilfebeträge im Rahmen dieser Teilmaßnahme in Summe 100 000 EUR über drei Jahre nicht überschritten. |
Technische Hilfe ab dem Jahr 2007
RP 2
(119) |
Rheinland-Pfalz gewährte Verarbeitungs- und Vermarktungsunternehmen finanzielle Unterstützung für die Teilnahme an Veranstaltungen zum Wissensaustausch zwischen Unternehmen, Wettbewerben, Ausstellungen und Messen (Teilmaßnahme RP 2). Die Förderung war nicht auf die erstmalige Teilnahme eines Unternehmens an einer bestimmten Messe oder Ausstellung beschränkt. Die Beihilfeintensität war auf 10 % der nachgewiesenen Kosten, aber höchstens 5 200 EUR je Unternehmen und Veranstaltung beschränkt. |
(120) |
Nach Ziffer 105 der Rahmenregelung der Gemeinschaft für staatliche Beihilfen im Agrar- und Forstsektor 2007-2013 (36) (im Folgenden: „Rahmenregelung 2007-2013“) müssen staatliche Beihilfen für die Bereitstellung technischer Hilfe zugunsten von Unternehmen, die in den Bereichen Verarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse tätig sind, alle Voraussetzungen von Artikel 5 der Verordnung (EG) Nr. 70/2001 der Kommission (37), später ersetzt durch Artikel 27 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 800/2008 der Kommission (38), erfüllen. Demzufolge darf die Beihilfeintensität 50 % der beihilfefähigen Kosten nicht überschreiten. Beihilfefähig sind die Kosten für Miete, Aufbau und Betrieb eines Stands bei der ersten Teilnahme des Unternehmens an einer bestimmten Messe oder Ausstellung. Nach Nummer 106 der Rahmenregelung 2007-2013 werden staatliche Beihilfen für Großbetriebe zur Deckung der unter die Nummern 104 und 105 fallenden Kosten nicht genehmigt. |
(121) |
Da Deutschland nicht nachgewiesen hat, dass jede der oben genannten Bedingungen für technische Hilfe in Bezug auf diese Maßnahme erfüllt ist, äußerte die Kommission im Eröffnungsbeschluss Zweifel hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt. Deutschland wurde im Eröffnungsbeschluss aufgefordert, eine ausführliche Bewertung der jeweiligen Maßnahmen im Lichte der oben ausgeführten Kriterien sowie eine angemessene Dokumentation zur Stützung seiner Antworten vorzulegen (39). |
(122) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (40) erklärte Deutschland, dass Rheinland-Pfalz den Bedenken der Kommission Rechnung trage und die Förderbestimmungen für die künftige Förderung um die Voraussetzung insofern ergänze, dass nur die erstmalige Teilnahme eines Unternehmens an einer bestimmten Messe oder Ausstellung gefördert werden könne. Deutschland macht geltend, dass dadurch die Bedingungen von Abschnitt IV.K der Rahmenregelung 2007 bis 2013 in Verbindung mit Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1857/2006 (41) erfüllt seien. |
(123) |
Die geförderten Vorhaben wurden unter Berücksichtigung dieser zusätzlichen Voraussetzung von den deutschen Behörden neu bewertet. In den einzelnen Jahren betrafen folgende Zahlungen die wiederholte Teilnahme eines Unternehmens an einer bestimmten Messe oder Ausstellung.
|
(124) |
Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft teilte der Kommission am 30. Juni 2016 mit (vgl. Randnummer 16), dass die Maßnahme RP 2 im Zeitraum ab 2007 nicht auf KMU beschränkt war. Es hätten auch die beiden Unternehmen Hochwald Foods GmbH und die MUH Arla eG Beihilfen im Rahmen dieser Maßnahme erhalten. |
(125) |
In seiner Stellungnahme vom 13. Januar 2017 erklärte Deutschland, dass sich die förderfähigen Kosten der gegenständlichen Teilmaßnahme im Zeitraum ab 2007 ausschließlich auf die Erstellung eines Messestandes bezogen hätten. Weitere Kosten seien in diesem Zeitraum nicht gefördert worden. |
2.2. Beihilfen für die Verbesserung der Qualität der Anlieferungsmilch (2001-2006)
(126) |
Baden-Württemberg, Niedersachsen und Thüringen (Teilmaßnahmen BW 10, BW 11, NI 1 und TH 5) gewährten finanzielle Unterstützung für die Verbesserung der Qualität der Anlieferungsmilch durch Beratung und Schulung von Milcherzeugern, die Zusammenstellung und Aktualisierung von Datenbanken und Kontrollen von Milcherzeugern im Zusammenhang mit der Einführung von „Qualitätsmanagement QM-Milch“ Qualitätssicherungssystemen (42). Ziel der Maßnahmen war die Verbesserung der Qualität der Anlieferungsmilch. Unterstützt wurden weder Schulungen des Kontrollpersonals zur Erlangung der fachspezifischen Kenntnisse noch die Akkreditierung der zugelassenen Labore. |
(127) |
Die Endbegünstigten dieser Teilmaßnahmen waren Milch erzeugende landwirtschaftliche KMU im Primärsektor. Laut Deutschland stand die Beihilfe allen Landwirten in dem betreffenden Gebiet auf der Grundlage objektiv definierter Kriterien zur Verfügung (43). |
(128) |
Zwischen 2001 und 2011 beliefen sich die aufgewendeten Haushaltsmittel (alle Länder zusammengerechnet) auf insgesamt 3,3 Mio. EUR. |
(129) |
Nach den von den deutschen Behörden vorgelegten Informationen betrug die Beihilfeintensität in den Jahren 2001-2011 maximal 100 % der förderfähigen Kosten. Die deutschen Behörden gaben an, dass in Baden-Württemberg die Finanzierung der Maßnahme zum 31. Dezember 2012 ausgelaufen sei, und in Niedersachsen und Thüringen bis zum 31. Dezember 2014 befristet war. |
(130) |
Im Eröffnungsbeschluss wurde Deutschland aufgefordert, eine ausführliche Bewertung gemäß Gemeinschaftsrahmen 2000-2006 (insbesondere Ziffer 13.2 — höchstens 50 % der zuschussfähigen Kosten oder 100 000 EUR pro Begünstigten während eines Zeitraums von drei Jahren, je nachdem, welcher Betrag höher ist) vorzulegen (44). |
BW 10 und BW 11
(131) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (45) machte Deutschland geltend, dass diese Maßnahmen vom Milchprüfring Baden-Württemberg (BW 10) und vom Milchwirtschaftlichen Verein Baden-Württemberg (BW 11) durchgeführt wurden. |
(132) |
Begünstigte der Maßnahme waren laut Deutschland milcherzeugende landwirtschaftliche Betriebe (Milcherzeuger), die an dem Qualitätssicherungssystem „QM Milch“ teilnahmen. |
(133) |
Im Fall der Maßnahme BW 10 wurden die Durchführung von Audits bei Milcherzeugerbetrieben (46) und die Kosten der Erstzertifizierung (einführendes Hofaudit, ggf. ein Nachaudit) durch eine anerkannte Zertifizierungsstelle gefördert. |
(134) |
Im Fall der Maßnahme BW 11 wurden begleitende Informations- und Beratungsaufgaben im Zusammenhang mit der Einführung der Qualitätssicherungssysteme gefördert (47). Laut Deutschland sind diese Leistungen den Erzeugern beim Einstieg in das Qualitätssicherungssystem „QM Milch“ anteilig zuzurechnen. |
(135) |
Laut Deutschland betrugen die gesamten Aufwendungen insgesamt 478 575 EUR. Es wurden 4 500 Milcherzeuger im Rahmen des Einstiegs in das Qualitätssicherungssystem in Verbindung mit der Erstzertifizierung begünstigt. Die Aufwendungen je Begünstigten betrugen demnach 106 EUR. |
NI 1
(136) |
Niedersachsen gewährte finanzielle Unterstützung für die Einführung eines Qualitätssicherungssystems für Milcherzeuger (nicht für Bearbeitungs- und Vermarktungsbetriebe). Die Durchführung der Maßnahme wurde der LVMN übertragen. |
(137) |
Gemäß der Stellungnahme Deutschlands vom 20. September 2013 (48) wurden dabei in den Jahren 2001-2005 vorbereitende Maßnahmen zur Einführung des Qualitätssicherungssystems „QM–Milch“ (im Wesentlichen Beratungsleistungen gegenüber Landwirten, die QM–Milch einführen wollten) und ab 2003 die im Rahmen dieses Qualitätssicherungssystems vorgesehenen Hofaudits finanziert. Ab 2003 fielen darüber hinaus auch Kosten für die Koordination des Qualitätssicherungssystems und den Aufbau einer Datenbank an. |
(138) |
In seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 (49) machte Deutschland geltend, dass die Beihilfen je Landwirt für Beratungsleistungen mit 50 % der Kosten und einem Betrag von 12,78 EUR je Förderfall unter den in Ziffer 13.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 genannten Höchstwerten lagen. Für die ab 2003 eingeführten Hofaudits lag die Beihilfeintensität bei 50 % der Kosten und einem Betrag von 35 EUR je Landwirt innerhalb von drei Jahren. |
(139) |
Deutschland hat bestätigt, dass die Kontrollen im Rahmen der Hofaudits von oder im Namen von Dritten durchgeführt wurden. Unabhängige Kontrollinstitution war der Landeskontrollverband Niedersachsen. |
TH 5
(140) |
Die Maßnahme wurde im Jahr 2004 eingeführt (50). Die Durchführung der Maßnahme wurde dem Thüringer Verband für Leistungs- und Qualitätsprüfungen in der Tierzucht (TVLEV) übertragen. |
(141) |
Laut Deutschland wurden mit Umlagemitteln Aufwendungen für die Erstzertifizierung, für einen notwendigen Wiederholungsaudit nach drei Jahren sowie für den Aufbau und die Pflege von Datenbanken beglichen. Im Zeitraum 2004-2006 wurden Erzeuger lediglich im Rahmen der Erstzertifizierung begünstigt. Die durchschnittliche Begünstigung je Erzeuger betrug dabei ungefähr 83 EUR. |
(142) |
Begünstigte dieser Maßnahme waren Milcherzeuger. |
3. GRÜNDE FÜR DIE ERÖFFNUNG DES FÖRMLICHEN PRÜFVERFAHRENS
(143) |
Im Eröffnungsbeschluss stellte die Kommission fest, dass alle Voraussetzungen für das Vorliegen einer Beihilfe erfüllt sind (51). |
(144) |
Die Kommission eröffnete das Verfahren gemäß Artikel 108 Absatz 2 AEUV, weil sie auf der Grundlage der damals verfügbaren Informationen Zweifel hatte, ob bestimmte Teilmaßnahmen mit dem Binnenmarkt vereinbar sind (siehe dazu Randnummer 18). |
4. STELLUNGNAHME DEUTSCHLANDS ZUR ERÖFFNUNG DES FÖRMLICHEN PRÜFVERFAHRENS
(145) |
Die Stellungnahmen der deutschen Behörden wurden der Kommission am 20. September 2013, 27. Februar 2015 und 13. Januar 2017 übermittelt. Eine Zusammenfassung der Ausführungen der deutschen Behörden zu den einzelnen Maßnahmen lässt sich der oben stehenden Beschreibungen der Maßnahmen (siehe Punkt 2: „Beschreibung der Maßnahmen und Stellungnahmen der deutschen Behörden“) entnehmen. |
5. STELLUNGNAHME VON BETEILIGTEN ZUR ERÖFFNUNG DES FÖRMLICHEN PRÜFVERFAHRENS
(146) |
Zwischen dem 6. und 18. Februar 2014 gingen bei der Kommission zehn Stellungnahmen von Beteiligten ein, die sich auf die diesem Beschluss zugrunde liegenden Maßnahmen beziehen (52). |
(147) |
In seiner Stellungnahme vom 6. Februar 2014, eingegangen am 13. Februar 2014, bringt der Verband der Milcherzeuger Bayern e.V. (VMB) in Bezug auf die Maßnahme BY 3 seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass im Eröffnungsbeschluss die vom VMB durchgeführten Maßnahmen aus den Jahren bis 2006 beihilferechtlich in Zweifel gezogen wurden, wohingegen die seit 2007 durchgeführten Maßnahmen keine Beanstandung erfahren haben. Der VMB bringt in diesem Zusammenhang vor, dass sich die Aufgabenschwerpunkte sowie die Art und Weise seiner Tätigkeit seit 1954 nicht verändert hätten und der VMB seit dem Jahr 1957 Mittel aus der „Milchumlage“ erhalte. In seiner Stellungnahme stellt der VMB außerdem fest, dass es sich bei den von ihm angebotenen Dienstleistungen um keine konkrete „technische Hilfe“ für einzelne Betriebe, sondern vielmehr um Fach- und Sachinformationen allgemeiner Art handele, die für alle Interessierten gleichermaßen zugänglich seien. |
(148) |
In seiner Stellungnahme vom 4. Februar 2014, die der Kommission am 6. Februar zugegangen ist, trägt der Milchwirtschaftliche Verein Allgäu-Schwaben e.V (MV) in Bezug auf die Maßnahme BY 10 vor, dass das Ziel dieser Maßnahme die Vermittlung von Know-how und Wissen zu milchrelevanten Themen (z. B. in Bezug auf lebensmittelrechtliche Bestimmungen) an staatliche und sonstige Institutionen sei. Zu diesem Zweck erhalten die Mitarbeiter der MUVA Zugang zu branchenrelevanten Informationen, bereiten diese auf und geben sie weiter (in Form von Stellungnahmen, Vorträgen und Veröffentlichungen, insbesondere an die betroffenen Behörden). Neben den „Muva-Newslettern“, die der „Deutschen Molkereizeitung“ beigelegt sind, werden relevante Beiträge zur Verbreitung von Informationen zur Qualitätssicherheit (Hygiene, Produktionssicherheit) verbreitet. Gemäß dem MV handele es sich um eine übergreifende Tätigkeit, deren Ergebnisse nicht einzelnen Betrieben zugutekommen, sondern insbesondere bestimmten Behörden zur Fortbildung zur Kenntnis gebracht werden. |
(149) |
Die Landesvereinigung für Milch und Milcherzeugnisse Hessen e.V. (LVMH) nahm mit Schreiben vom 4. Februar 2014, das bei der Kommission am 11. Februar 2014 eingegangen ist, zu den durch sie durchgeführten Maßnahmen (HE 2, HE 3 und HE 9) Stellung. Zunächst merkte sie an, dass entgegen der Feststellung im Anhang zum Eröffnungsbeschluss der Kommission nicht bloß die Molkereien, sondern die gesamte Milchwirtschaft zu den Begünstigten der betreffenden Maßnahmen zähle. Inhaltlich führte die LVMH in Bezug auf die Maßnahme HE 3 aus, dass die Verbraucherinformation und Verbraucheraufklärung im Vordergrund der allgemeinen Öffentlichkeitsarbeit standen, wobei die Verbraucheraufklärung auf molkereiunabhängiger, neutraler Ebene erfolgt sei. Zur Maßnahme HE 2 („Fortbildung für Erzeuger durch das Innovationsteam“) merkte die LVMH an, dass der Arbeitsschwerpunkt im Wissenstransfer gelegen habe. Aktuelle Informationen und Studienergebnisse seien gebündelt, für die Landwirte aufbereitet und in Form von u. a. Vortragsveranstaltungen, Fachtagungen und Fortbildungen weitergegeben worden. Mit HE 2 und HE 9 seien speziell Aus- und Fortbildungsveranstaltungen für den Berufsnachwuchs und für Landwirte und landwirtschaftliche Angestellte gefördert worden, wobei jeder Landwirt oder landwirtschaftliche Arbeitnehmer die Möglichkeit gehabt habe, an den Fortbildungen zu gleichen Bedingungen teilzunehmen. |
(150) |
Der Landeskontrollverband Nordrhein-Westfalen e.V. sowie die Landesvereinigung der Milchwirtschaft Nordrhein-Westfalen e.V. schließen sich in ihren Schreiben vom 6. Februar 2014, die bei der Kommission am 10. Februar 2014 bzw. am 11. Februar 2014 eingegangen sind, in Bezug auf die in Nordrhein-Westfalen durchgeführten Maßnahmen der Stellungnahme Deutschlands vom 20. September 2013 vollumfänglich an. |
(151) |
Ebenso schließen sich der Rheinische Landwirtschafts-Verband e.V. und der Westfälisch-Lippische Landwirtschaftsverband e.V. in ihrem gemeinsamen Schreiben vom 6. Februar 2014, bei der Kommission eingegangen am 11. Februar 2014, in Bezug auf die Maßnahme NW 5 der Mitteilung Deutschlands vom 20. September 2013 an. |
(152) |
Die Landesvereinigung Thüringer Milch e.V. schließt sich in ihrem Schreiben vom 6. Februar 2014, das bei der Kommission am 11. Februar 2014 eingegangen ist, in Bezug auf die in Thüringen durchgeführten Maßnahmen, der Stellungnahme Deutschlands vom 20. September 2013 vollumfänglich an. |
(153) |
In ihrer Stellungnahme vom 10. Februar 2014, bei der Kommission eingegangen am 14. Februar 2014, trägt die Milchwirtschaftliche Arbeitsgemeinschaft Rheinland-Pfalz e.V. (MILAG) in Bezug auf die Maßnahme RP 1 vor, dass diese einen allgemeinen Charakter habe. Es handele sich um Informationen über das Lebensmittel Mich im Allgemeinen, wobei die Zielsetzung nicht sei, Verbraucher davon abzuhalten, Milcherzeugnisse anderer Mitgliedstaaten zu kaufen. Außerdem erfolge keine Förderung einzelner Marken oder Erzeugnisse einesbestimmten Unternehmens/Einzelerzeugers. Die MILAG vertritt daher die Auffassung, dass es sich bei dieser Maßnahme nicht um eine staatliche Beihilfe handele. Hilfsweise bringt die MILAG in ihrer Stellungnahme zur gleichen Maßnahme vor, dass diese jedenfalls materiell den Vorgaben des damals gültigen Gemeinschaftsrahmens entsprach und grundsätzlich als Bereitstellung fachlicher Hilfe gem. Ziffer 14.1 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 angesehen werden kann. Insbesondere habe die Maßnahme grundsätzlich allen Verbrauchern und damit auch den Marktteilnehmern des Milchsektors zur Verfügung gestanden. Es habe sich um reine Verbraucheraufklärung gehandelt und die Maßnahme stelle keine Unterstützung milchverarbeitender Unternehmen dar, sondern habe für die allgemeine Verbraucherinformation gesorgt. In Bezug auf die Maßnahme RP 2 ist die MILAG der Auffassung, dass durch die ergänzende Fördervoraussetzung, wonach nur die erstmalige Teilnahme eines Unternehmens an einer bestimmten Messe oder Ausstellung gefördert werden kann, die einschlägigen Bedingungen der Beihilferegeln erfüllt sind. Hinsichtlich der Maßnahme RP 5 trägt die MILAG vor, dass die Maßnahme darauf abgezielt habe, betroffenen Milcherzeugern anlassbezogen eine melktechnische Spezialberatung anzubieten. Dieses Angebot habe von allen rheinland-pfälzischen Milcherzeugern in Anspruch genommen werden können, wobei eine Mitgliedschaft im Landeskontrollverband als dem Beratungsanbieter nicht erforderlich gewesen sei. Die Förderung fortlaufender oder in regelmäßigen Abständen in Anspruch genommener Beratungsdienste sei ausgeschlossen gewesen und es sei keine Direktzahlung an den Landwirt erfolgt. Somit sei die Maßnahme auch für den Zeitraum vom 28. November 2001 bis zum 31. Dezember 2006 mit den Regelungen für staatliche Beihilfen vereinbar. Laut Auffassung der MILAG sei außerdem eine Beratungsförderung nach Ziffer 14.1 dritter Gedankenstrich des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 nicht an die Verbreitung neuer Methoden gebunden. Die MILAG sichert ferner zu, dass der Gesamtbeihilfebetrag von 100 000 EUR pro Begünstigten über einen Zeitraum von drei Jahren nicht überschritten wurde. Die durchschnittliche Förderung je Begünstigten pro Jahr liege bei 197 EUR. |
(154) |
Der Milchprüfring Baden-Württemberg e.V. (MPBW) geht in seiner Stellungnahme vom 6. Februar 2014, bei der Kommission als eingegangen registriert am 18. Februar 2014, davon aus, dass in Bezug auf die Maßnahme BW 10 keine Beihilfe, jedenfalls aber keine Begünstigung vorliege. |
(155) |
Der Milchwirtschaftliche Verein Baden Württemberg e.V. (MVBW) stützt sich in seinem Schreiben vom 6. Februar 2014, bei der Kommission eingegangen am 7. Februar 2014, in Bezug auf die Maßnahmen BW 4 und BW 11 auf die Ausführungen des MPBW und geht davon aus, dass auch in Bezug auf diese beiden Maßnahmen keine Beihilfe, jedenfalls aber keine Begünstigung vorliege. |
6. WÜRDIGUNG DER MAẞNAHMEN
6.1. Vorliegen einer staatlichen Beihilfe — Anwendung von Artikel 107 Absatz 1 AEUV
(156) |
Nach Artikel 107 Absatz 1 AEUV sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen. |
6.1.1. Vom Staat bzw. aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen
(157) |
Die deutschen Behörden haben bestätigt, dass die diesem Beschluss zugrunde liegenden Maßnahmen ausschließlich aus der Milchumlage finanziert wurden (vgl. Randnummer 26). |
(158) |
Bei den Milchumlagemitteln handelt es sich um staatliche Mittel im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 AEUV. |
(159) |
Nach ständiger Rechtsprechung darf nicht danach unterschieden werden, ob eine Beihilfe direkt vom Staat oder von einer öffentlichen oder privaten Einrichtung gewährt wird, die von diesem Staat dazu bestimmt oder errichtet wurde (53). Damit Vorteile als staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 AEUV angesehen werden können, müssen sie erstens unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mittel gewährt werden und zweitens dem Staat zurechenbar sein. (54) |
(160) |
Hinsichtlich der oben beschriebenen Maßnahmen gilt, dass Unterstützungen auf der Grundlage eines Bundesgesetzes, dem MFG, unter Anwendung der Rechtsvorschriften der Bundesländer, gewährt werden. |
(161) |
Im Einzelnen sieht das MFG in § 22 Absatz 1 vor, dass die Landesregierungen im Benehmen mit der Landesvereinigung oder den berufsständischen Organisationen gemeinsam von den Molkereien, Milchsammelstellen und Rahmstationen Umlagen erheben können, um die Milchwirtschaft zu fördern. |
(162) |
Gemäß § 22 Absatz 1 Satz 2 MFG können die Landesregierungen auf Antrag der Landesvereinigung oder der berufsständischen Organisationen gemeinsam Umlagen bis zu 0,2 Cent je Kilogramm angelieferter Milch erheben. Die Erhebungshoheit liegt damit eindeutig bei den Landesregierungen. |
(163) |
Rechtliche Grundlage für die Erhebung einer Milchumlage in den einzelnen Bundesländern sind entsprechende Verordnungen der Länder, die die Einzelheiten der Umlageerhebung, u. a. deren Höhe, regeln. Es obliegt somit den Landesregierungen, also dem Staat, die Erhebung einer Milchumlage zu regeln. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Verordnungen im Benehmen mit der jeweiligen Landesvereinigung der Milchwirtschaft erlassen wurden (55). |
(164) |
Im gegenwärtigen Fall wird eine Umlage bei privaten Unternehmen (Molkereien, Milchsammelstellen, Rahmstationen) erhoben. Einnahmen aus dieser Umlage fließen in die jeweiligen Länderhaushalte, bevor sie zur Finanzierung der verschiedenen Unterstützungsmaßnahmen verwendet werden. Sie werden daher als unter staatlicher Kontrolle stehend angesehen (56). |
(165) |
Daraus folgt, dass die durch Milchumlagemittel finanzierten Maßnahmen aus staatlichen Mitteln gewährt werden und dem Staat zuzurechnen sind. |
6.1.2. Selektiver Vorteil/Unternehmen
(166) |
Kosten wie Aus- und Fortbildungskosten, Beratungskosten, Kosten für Informationsmaterial im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit oder Kosten für die Teilnehme an Messen und Wettbewerben sind Kosten, die ein Unternehmen im Rahmen seiner gewöhnlichen Geschäftstätigkeit selbst zu tragen hat. Ebenso verhält es sich mit Aufwendungen in Zusammenhang mit der Herstellung und Vermarktung von Erzeugnissen hoher Qualität. Werden bestimmte Unternehmen von diesen Kosten ganz oder teilweise befreit, dann liegt eine Begünstigung vor. |
(167) |
Die Kommission ist der Auffassung, dass die gegenständlichen Teilmaßnahmen Milcherzeuger und Molkereibetriebe begünstigen. |
(168) |
Deutschland machte zunächst in seiner Mitteilung vom 20. September 2013 geltend, dass einige der dem Eröffnungsbeschluss zugrunde liegende Maßnahmen keine Beihilfe darstellten, weil sie entweder keinen konkreten Vorteil für ein einzelnes Unternehmen brächten (vgl. Randnummer 33 in Bezug auf die Maßnahme BY 3), die Maßnahme nicht auf einen Wissenstransfer hin zu Milcherzeugern oder Molkereien ausgerichtet gewesen sei (vgl. Randnummer 39 in Bezug auf die Maßnahmen BY 10), keine Begünstigung einzelner Unternehmen oder Wirtschaftszweige vorläge (vgl. Randnummern 44, 60, 73, 80 und 88 in Bezug auf die Maßnahmen BW 4, HE 3, NI 7, NW 4 und NW 5, RP 1 und SL 2) bzw. die materielle und geografische Selektivität potenzieller Begünstigungen zu verneinen sei (vgl. Randnummern 80 und 83 in Bezug auf die Maßnahmen NW 4 und NW 5 bzw. NW 6). |
(169) |
Darüber hinaus brachten der MPBW sowie der MVBW in ihren Stellungnahmen vom 6. Februar 2014 vor, dass in Bezug auf die Maßnahmen BW 10 bzw. BW 4 und BW 11 keine Begünstigung vorläge (vgl. Randnummer 154 bzw. 155). |
(170) |
Die Kommission ist allerdings auch in Bezug auf die vorgenannten Maßnahmen der Auffassung, dass auch diese Maßnahmen letztlich dem Milchsektor zugutekommen und somit Milcherzeuger bzw. Molkereibetriebe, die als Unternehmen zu betrachten sind, begünstigen. |
(171) |
Im Fall der Maßnahme BY 3 geht die Kommission davon aus, dass diese, auch wenn sie an die breite Öffentlichkeit gerichtet war, letztlich den Milchsektor begünstigte, da anzunehmen war, dass sie sich positiv auf den Milchkonsum auswirken würde. |
(172) |
In Bezug auf die Maßnahme BY 10 erwähnt der Milchwirtschaftliche Verein Allgäu-Schwaben in seiner Stellungnahmen vom 4. Februar 2014, dass MUVA-Newsletter der „Deutschen Molkereizeitung“ beigelegt und dass darüber hinaus entsprechende Artikel zur Informationsverbreitung bezüglich Qualitätssicherheit verbreitet würden (vgl. Randnummer 148). Die Kommission ist daher der Auffassung, dass auch im Fall der Maßnahme BY 10 der gesamte Milchsektor (Milcherzeuger und Molkereien) als Begünstigter anzusehen sei. |
(173) |
In Bezug auf die Maßnahmen BW 4, HE 3, NI 7, NW 4 u. NW 5, RP 1 und SL 2 ist die Kommission der Auffassung, dass auch die Verbreitung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Eigenschaften von Milch und Milchprodukten, die Veranstaltung von Kampagnen, Informationsveranstaltungen und Aktionen der allgemeinen Verbraucheraufklärung, Veranstaltungen für den Wissensaustausch zwischen Produzenten, bzw. allgemeine Informationsmaßnahmen über Milch als fachliche Hilfe anzusehen sind, die dem gesamten Milchsektor zugutekamen. |
(174) |
In Bezug auf die Maßnahmen BW 10 und BW 11 ist die Kommission ferner der Auffassung, dass diese milcherzeugenden landwirtschaftlichen Betrieben, die am Qualitätssicherungssystem „QM Milch“ teilnahmen, zugutekamen. |
(175) |
Zudem waren die gegenständlichen Maßnahmen selektiv, da sie lediglich einem Wirtschaftssektor (Milchwirtschaft) zugutekamen. |
6.1.3. Wettbewerbsverzerrungen und Auswirkungen auf den Handel
(176) |
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs führt die Stärkung der Wettbewerbsposition eines Unternehmens infolge der Gewährung einer staatlichen Beihilfe normalerweise zu einer Wettbewerbsverzerrung gegenüber konkurrierenden Unternehmen, die diese Beihilfe nicht erhalten (57). Jede Beihilfe für ein Unternehmen, das auf einem Markt tätig ist, auf dem Handel innerhalb der Union stattfindet, kann den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen (58). Im Zeitraum 2001-2012 erreichte der Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen innerhalb der Union einen erheblichen Umfang. So beliefen sich beispielsweise die Ein- und Ausfuhren von Erzeugnissen, die in die Position 0401 der Kombinierten Nomenklatur (Milch und Rahm, weder eingedickt noch mit Zusatz von Zucker oder anderen Süßmitteln) (59), einzureihen sind, im Jahr 2011 auf 1 200 Mio. EUR bzw. 957 Mio. EUR (60). |
(177) |
Die in diesem Beschluss gewürdigten Maßnahmen begünstigen Milcherzeuger und Molkereibetriebe und stärken somit ihre Wettbewerbsposition. Mit Erzeugnissen der Molkereien und Milcherzeuger findet Handel innerhalb der Union statt, wie vorstehend in Randnummer 176 beschrieben. Die Kommission ist daher der Auffassung, dass die in Rede stehenden Maßnahmen den Wettbewerb verzerren oder zu verzerren drohen und den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen. |
(178) |
Somit sind die Bedingungen von Artikel 107 Absatz 1 AEUV erfüllt. Daher kann geschlossen werden, dass es sich bei den vorliegenden Maßnahmen um staatliche Beihilfen im Sinne dieses Artikels handelt. |
6.2. Rechtmäßigkeit der Beihilfe
(179) |
Nach Artikel 108 Absatz 1 AEUV muss die Kommission bestehende Beihilfen in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten fortlaufend überprüfen. Zu diesem Zweck kann die Kommission von den Mitgliedstaaten alle erforderlichen Informationen für die Überprüfung der bestehenden Beihilferegelungen anfordern und gegebenenfalls eine Empfehlung für geeignete Maßnahmen abgeben. |
(180) |
Nach Artikel 1 Buchstabe b Ziffer i der Verordnung (EU) 2015/1589 bezeichnet der Ausdruck bestehende Beihilfe jede Beihilfe, die vor Inkrafttreten des AEUV in dem entsprechenden Mitgliedstaat eingeführt worden ist und auch nach dessen Inkrafttreten noch anwendbar ist. |
(181) |
Nach Artikel 1 Buchstabe c der Verordnung (EU) 2015/1589 führt jedoch jede Änderung einer bestehenden Beihilfe dazu, dass diese zu einer „neuen Beihilfe“ wird. Nach Artikel 4 der Verordnung (EG) Nr. 794/2004 der Kommission (61) gilt als Umgestaltung einer bestehenden Beihilfe „jede Änderung, außer einer Änderung rein formaler oder verwaltungstechnischer Art, die keinen Einfluss auf die Würdigung der Vereinbarkeit der Beihilfemaßnahme mit dem Gemeinsamen Markt haben kann“. |
(182) |
Laut Rechtsprechung (62) wird die ursprüngliche Regelung nur dann in eine neue Beihilferegelung umgewandelt, wenn die Änderung sie in ihrem Kern trifft; um eine derartige wesentliche Änderung kann es sich jedoch nicht handeln, wenn sich das neue Element eindeutig von der ursprünglichen Regelung trennen lässt. |
(183) |
Nach Artikel 108 Absatz 3 AEUV sind alle neuen Beihilfen bei der Kommission anzumelden und dürfen nicht durchgeführt werden, bevor sie von der Kommission genehmigt wurden (Durchführungsverbot). |
(184) |
Nach Artikel 1 Buchstabe f der Verordnung (EU) 2015/1589 ist eine neue Beihilfe, die unter Verstoß gegen Artikel 108 Absatz 3 AEUV eingeführt wird, rechtswidrig. |
(185) |
Auf der Grundlage des Milch- und Fettgesetzes und im Rahmen der ihnen verliehenen Befugnisse haben die Bundesländer Durchführungsvorschriften verabschiedet, welche die Rechtsgrundlagen der in diesem Beschluss gewürdigten Maßnahmen darstellen. Auch wenn das Milch- und Fettgesetz, das den Rahmen für die gegenständlichen Beihilferegelungen darstellt, bereits 1952 in Kraft getreten ist (63), wurden die einzelnen Regelungen durch entsprechende Durchführungsbestimmungen der betreffenden Länder erst nach 1958 eingeführt (64). |
(186) |
Die diesem Beschluss zugrunde liegenden Maßnahmen stellen somit neue Beihilfen gemäß Artikel 1 Buchstabe c der Verordnung (EU) 2015/1589 dar. |
(187) |
Deutschland hat die fraglichen Beihilferegelungen zu keinem Zeitpunkt gemäß Artikel 108 Absatz 3 AEUV angemeldet. Deshalb sind diese Regelungen rechtswidrig. |
6.3. Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt
(188) |
Nach Artikel 107 Absatz 3 Buchstabe c AEUV können Beihilfen zur Förderung der Entwicklung bestimmter Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden, soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft. |
(189) |
Gemäß der Bekanntmachung der Kommission über die zur Beurteilung unrechtmäßiger staatlicher Beihilfen anzuwendenden Regeln (65) sind unrechtmäßige staatliche Beihilfen anhand der zum Zeitpunkt der Beihilfegewährung geltenden Regeln zu beurteilen. |
(190) |
Seit dem 1. Januar 2000 gelten besondere Rahmenregelungen für den Agrarsektor. Beihilfen, die zwischen dem 28. November 2001 und dem 31. Dezember 2006 gewährt wurden (im Folgenden „Zeitraum 2001-2006“), werden nach Maßgabe des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 geprüft. |
(191) |
Beihilfen, die seit dem 1. Januar 2007 (im Folgenden „Zeitraum ab 2007“) gewährt wurden, werden nach Maßgabe der Rahmenregelung der Rahmenregelung 2007-2013 geprüft. |
(192) |
Der Zeitraum seit dem 28. November 2001 wird nachfolgend als „Untersuchungszeitraum“ bezeichnet. |
(193) |
Basierend auf der suspensiven Wirkung des Hauptprüfverfahrens gemäß Artikel 108 Absatz 3 AEUV prüft die Kommission die diesem Beschluss zugrunde liegenden Maßnahmen bis zum 17. Juli 2013, dem Tag an dem die Kommission Deutschland ihren Beschluss mitgeteilt hat, das Verfahren nach Artikel 108 Absatz 2 AEUV einzuleiten (vgl. Randnummer 3). |
6.3.1. Bereitstellung fachlicher Hilfe im Agrarsektor im Zeitraum 2001-2006
(194) |
Die zwischen 2001 und 2006 ausgeführten Maßnahmen, die die Bereitstellung fachlicher Hilfe im Agrarsektor zum Ziel haben, müssen die unter Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 festgelegten Bedingungen erfüllen. |
(195) |
Beihilfefähig nach Ziffer 14.1 sind u. a. Kosten für Bildungs- und Ausbildungsprogramme, die Bereitstellung von Betriebsführungsdiensten, Beratungsgebühren, die Veranstaltung von Wettbewerben, Ausstellungen und Messen, einschließlich der Kosten, die durch die Teilnahme an diesen Veranstaltungen entstehen, sowie sonstige Tätigkeiten für die Verbreitung neuer Methoden (66). Gemäß Ziffer 14.1 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 können derartige Beihilfen zu einem Satz von 100 % der Kosten gewährt werden. |
(196) |
Gemäß Ziffer 14.2 sollten die Beihilfen allen zuschussfähigen natürlichen und juristischen Personen in dem betreffenden Gebiet auf der Grundlage objektiv definierter Kriterien zur Verfügung stehen. |
(197) |
Gemäß Ziffer 14.3 sollte der zu gewährende Gesamtbeihilfebetrag 100 000 EUR pro Begünstigten über einen Zeitraum von drei Jahren nicht überschreiten, bzw. für den Fall, dass die Beihilfe kleinen und mittleren Unternehmen gewährt wird, 50 % der zuschussfähigen Kosten, je nachdem, welcher Betrag höher ist. Zur Berechnung des Beihilfebetrags wird der Begünstigte als die Person angesehen, die solche Dienste in Anspruch nimmt. |
(198) |
Die Kommission ist der Auffassung, dass für die unten aufgeführten Maßnahmen die Bestimmungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 gleichermaßen für Beihilfen im Zusammenhang mit Tätigkeiten zur [Primär-]Erzeugung als auch zur Verarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse gelten. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der Ziffer 2.1 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 und daraus, dass Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens selbst keine diesbezügliche Beschränkung vorsieht. |
(199) |
Die Kommission geht davon aus, dass solche Maßnahmen langfristig zur wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit des Sektors beitragen, während sie sich auf die Wettbewerbsbedingungen nur sehr gering auswirken (Ziffer 14.1, Satz 2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006). |
(200) |
Im Eröffnungsbeschluss hegte die Kommission Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit einiger Maßnahmen mit dem Binnenmarkt im fraglichen Zeitraum (67). |
BY 3
(201) |
Der Verband der Milcherzeuger e.V. (VMB) erhielt Mittel zur Erhebung von Sach- und Fachinformationen allgemeiner Art sowie zur Veröffentlichung und Bereitstellung allgemeiner Informationen zu milchwirtschaftlichen Themenstellungen. Für die gewährten Beihilfen finden die Bestimmungen über die Bereitstellung fachlicher Hilfe Anwendung. |
(202) |
Die bezuschussten Kosten (Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie die Erstellung von Sachinformationen über Qualitätssysteme — Randnummer 32 dieses Beschlusses) entsprechen den zuschussfähigen Kosten der Ziffer 14.1. |
(203) |
Die Maßnahme war offen für alle zuschussfähigen natürlichen und juristischen Personen in dem betreffenden Gebiet und die Zuschüsse lagen unter 100 000 EUR pro Begünstigten in drei Jahren (Randnummer 35 in Verbindung mit Randnummer 37 dieses Beschlusses). Die Bedingungen der Ziffer 14.2 und 14.3 sind erfüllt. |
(204) |
Die Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit eingehalten. |
BY 10
(205) |
Für die gewährten Beihilfen zur Vermittlung von Know-how und Wissen zu milchrelevanten Themen finden die Bestimmungen über die Bereitstellung fachlicher Hilfe Anwendung. |
(206) |
Die bezuschussten Kosten (Informationsverbreitung in Form von Stellungnahmen, Vorträgen und Veröffentlichungen, vgl. Randnummer 148) entsprechen den zuschussfähigen Kosten der Ziffer 14.1 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. |
(207) |
Es handelt sich um eine allgemeine Informationsmaßnahme zugunsten der Milchwirtschaft, die allen zuschussfähigen natürlichen und juristischen Personen in dem betreffenden Gebiet offen stand. Aus den von den deutschen Behörden genannten jährlichen Gesamtausgaben für die Maßnahmen BY 3 und BY 10 (vgl. Randnummer 41) ergibt sich, dass die Zuschüsse jedenfalls 100 000 EUR pro Begünstigten in drei Jahren nicht überschritten. Die Voraussetzungen der Ziffern 14.2 und 14.3 sind damit eingehalten. |
(208) |
Die Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit erfüllt. |
BW 4
(209) |
Die Maßnahmen dienten der allgemeinen und weiten Verbreitung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Eigenschaften von Milch und Milchprodukten. Sie sind als fachliche Hilfe anzusehen, die dem gesamten Milchsektor zugutekam. Die bezuschussten Kosten (vgl. Randnummer 42) entsprechen den zuschussfähigen Kosten nach Ziffer 14.1. |
(210) |
Die Maßnahmen waren nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt, sondern allen zuschussfähigen natürlichen und juristischen Personen in dem betreffenden Gebiet auf der Grundlage objektiv definierter Kriterien zugänglich (Randnummer 46). Die in Ziffer 14.2 genannten Bedingungen des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit erfüllt. Die Höhe des Zuschusses lag unter dem Grenzwert der Ziffer 14.3 von 100 000 EUR pro Begünstigten in drei Jahren (Randnummer 46). Die in Ziffer 14.3 genannten Voraussetzungen sind eingehalten. |
(211) |
Die Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit erfüllt. |
BB1
(212) |
Brandenburg hat im Zeitraum 2001-2006 im Rahmen der Maßnahme „Verbesserung der Hygiene“ Beratungskosten gefördert. Schwerpunkte waren hierbei die Tiergesundheit, Verbesserung der Melkhygiene und Rohmilchqualität und Analyse der Leistungsbeeinträchtigungen. |
(213) |
Die gegenständliche Maßnahme fällt somit unter den Anwendungsbereich von Ziffer 14 (Bereitstellung fachlicher Hilfe) des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. Die bezuschussten Kosten (Beratungsleistungen) entsprechen den zuschussfähigen Kosten nach Ziffer 14.1. |
(214) |
Die deutschen Behörden haben in ihrer Mitteilung vom 27. Februar 2015 bestätigt, dass alle Milcherzeuger des Landes grundsätzlich die Möglichkeit hatten, die gegenständliche Beratung (Komplex- und Spezialberatung) in Anspruch zu nehmen (vgl. Randnummer 49). Deutschland hat außerdem in derselben Mitteilung dargelegt, dass im Rahmen der Maßnahme BB 1 eine Überschreitung von 100 000 EUR pro Betrieb pro Dreijahreszeitraum nicht zustande kommen konnte (vgl. Randnummer 49). Die Maßnahme entspricht damit den in den Ziffern 14.2 und 14.3 genannten Voraussetzungen. |
(215) |
Die Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit erfüllt. |
BB 3
(216) |
Die Landesvereinigung der Milchwirtschaft Brandenburg-Berlin e.V. (LVMB) und der Landesbauernverband Brandenburg e.V. (LBV) führten Maßnahmen zur Bereitstellung von Informationen zu wirtschaftlichen Fragen sowie zur Weitergabe neu gewonnener Informationen und Erkenntnissen in milchwirtschaftlichen Fragen durch. Außerdem wurden Wettbewerbe veranstaltet. Diese Maßnahmen stellen fachliche Hilfe dar. |
(217) |
Die bezuschussten Kosten (Bereitstellung von Informationen und Veranstaltung von Wettbewerben Randnummer 50) entsprechen den zuschussfähigen Kosten nach Ziffer 14.1 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. |
(218) |
Die Beihilfen waren nicht auf bestimmte Gruppen beschränkt. Ziffer 14.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 ist daher erfüllt. |
(219) |
Im Jahr 2006 wurden über die LVMB 463 EUR, die aus der Milchumlage stammen, für die Auszeichnung verdienter Brandenburger Unternehmen eingesetzt (vgl. Randnummer 53). Ferner erhielt der LBV im Jahr 2006 aus Landesmitteln eine Zuwendung von 20 000 EUR für die Milcherzeugerberatung (vgl. Randnummer 54). Nach Angabe Deutschlands wurde auch in anderen Jahren zuvor ähnlich verfahren (vgl. Randnummer 54). Die Kommission schließt daher aus, dass es bei den beiden vorerwähnten Maßnahmen im Zeitraum 2001-2006 zu einer Überschreitung von 100 000 EUR pro Begünstigten über einen Zeitraum von drei Jahren gekommen ist. Ziffer 14.3 des Gemeinschaftsrahmens ist somit erfüllt. |
(220) |
Die Maßnahme BB 3 entspricht damit den Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. |
HE 2
(221) |
Hessen gewährte finanzielle Unterstützung an die Landesvereinigung für Milch und Milcherzeugnisse Hessen e.V. (LVMH) für die Maßnahme „Fortbildung für Erzeuger durch das Innovationsteam“. Im Rahmen dieser Maßnahme wurden vom LVMH Informationen in Form von Fachartikeln bereitgestellt sowie Fortbildungen für Landwirte und landwirtschaftliche Arbeitnehmer veranstaltet. Diese Aktivitäten sind als fachliche Hilfe zu qualifizieren. |
(222) |
Die zuschussfähigen Kosten (Randnummer 57) entsprechen den zuschussfähigen Kosten der Ziffer 14.1 erster Gedankenstrich des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. |
(223) |
Die Beihilfen waren nicht auf bestimmte Gruppen beschränkt (Randnummer 57). Dies bestätigt auch die LVMH in ihrer Stellungnahme vom 4. Februar 2014, wonach jeder Landwirt oder landwirtschaftliche Arbeitnehmer die Möglichkeit hatte, an den Fortbildungen zu gleichen Bedingungen teilzunehmen (vgl. Randnummer 149).Ziffer 14.2 des Gemeinschaftsrahmens ist daher erfüllt. |
(224) |
Die Zuschüsse lagen unter 100 000 EUR pro Begünstigten in drei Jahren (Randnummer 57). Ziffer 14.3 des Gemeinschaftsrahmens ist daher auch erfüllt. |
(225) |
Die Maßnahme HE 2 entspricht somit den Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. |
HE 3
(226) |
Das Ernährungsteam der LVMH verbreitete wissenschaftliche Erkenntnisse in allgemein verständlicher Form, organisierte Informationsveranstaltungen sowie Kampagnen und (nicht auf bestimmte Unternehmen gerichtete) PR-Maßnahmen zur Micherzeugung, Be- und Verarbeitung von Milch und Milchprodukten. |
(227) |
Die LVMH merkte in ihrer Stellungnahme vom 4. Februar 2014 an, dass die Verbraucherinformation und Verbraucheraufklärung im Vordergrund dieser Maßnahme standen und die Verbraucheraufklärung auf molkereiunabhängiger, neutraler Ebene erfolgte. Die Kommission ist dennoch der Auffassung, dass Maßnahmen zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Veranstaltung von Kampagnen als fachliche Hilfe anzusehen ist, die dem gesamten Milchsektor zugutekommen (vgl. dazu auch Randnummer 173). |
(228) |
Die bezuschussten Kosten (Randnummer 59) entsprechen den zuschussfähigen Kosten nach Ziffer 14.1. |
(229) |
Die Maßnahme war nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt (Randnummer 61). Die in Ziffer 14.2 genannten Bedingungen sind erfüllt. |
(230) |
Die Höhe des Zuschusses lag unter dem Grenzwert der Ziffer 14.3 (Randnummer 61). |
(231) |
Die Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind im Fall der Maßnahme HE 3 somit erfüllt. |
HE 9
(232) |
Hessen gewährte finanzielle Unterstützung an die LVMH für die Maßnahme „Fortbildung für junge Milchviehhalter“ (vgl. Randnummer 62). Eine Fortbildung für junge Milchviehhalter ist als fachliche Hilfe zu qualifizieren. |
(233) |
Die zuschussfähigen Kosten (Randnummer 62) entsprechen den zuschussfähigen Kosten der Ziffer 14.1 erster Gedankenstrich. |
(234) |
Die Fortbildungen standen allen Erzeugern offen (Randnummer 64). Dies bestätigt auch die LVMH in ihrer Stellungnahme vom 4. Februar 2014, wonach jeder Landwirt oder landwirtschaftliche Arbeitnehmer die Möglichkeit hatte, an den Fortbildungen zu gleichen Bedingungen teilzunehmen (vgl. Randnummer 149). Die Maßnahme entsprach somit auch den Vorgaben der Ziffer 14.2. |
(235) |
Die Gesamtaufwendungen der Maßnahme HE 9 lagen im Zeitraum 2001 bis 2006 bei ungefähr 35 000 EUR (vgl. Randnummer 64). Somit konnte es zu keiner Überschreitung des Grenzwerts von 100 000 EUR pro Begünstigten in drei Jahren (Ziffer 14.3) kommen. |
(236) |
Die Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit für die Maßnahme HE 9 erfüllt. |
NI 5
(237) |
Niedersachsen gewährte der Landesvereinigung der Milchwirtschaft Niedersachsen e.V. (LVMN) finanzielle Unterstützung für die Teilnahme an Messen und Ausstellungen und für die Aufbereitung wissenschaftlicher Erkenntnisse in leicht verständlicher Form (vgl. Randnummer 65). Die Teilnahme an Messen und Ausstellungen und die Aufbereitung wissenschaftlicher Erkenntnisse ist als fachliche Hilfe anzusehen. |
(238) |
Die Kosten für Miete und Ausstattung für Ausstellungsräume, sowie die Kosten der Veröffentlichung von Sachinformationen entsprechen den zuschussfähigen Kosten nach Ziffer 14.1 erster Gedankenstrich. |
(239) |
Laut den Angaben der deutschen Behörden war der Kern der Maßnahme die Bezuschussung des Messestandes der LVMN (vgl. Randnummer 66), der allen milcherzeugenden Betrieben in Niedersachsen (Durchschnitt 2001-2006: ungefähr 17 500 Betriebe) zugutekam (vgl. Randnummer 67). Die Maßnahme war somit offen für alle milcherzeugenden Betriebe, und die Bedingungen der Ziffer 14.2 sind erfüllt. |
(240) |
Deutschland hat in seinen Stellungnahmen zwar nicht bestätigt, dass die Maßnahme auf maximal 100 000 EUR pro Begünstigten über einen Zeitraum von drei Jahren beschränkt war. Die Kommission geht aber davon aus, dass im Falle der Förderung eines Messestands zugunsten aller niedersächsischen milcherzeugenden Betriebe dieser Maximalwert jedenfalls nicht überschritten werden kann. Die Voraussetzungen der Ziffer 14.3 sind somit auch erfüllt. |
(241) |
Die Maßnahme NI 5 entspricht somit den Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. |
NI 6 (2002-2003)
(242) |
Niedersachsen gewährte finanzielle Unterstützung für die Teilnahme von Verarbeitungsunternehmen (Molkereien) an Messen. Die Förderung der Teilnahme von Unternehmen an Messen ist als fachliche Hilfe anzusehen. |
(243) |
Die deutschen Behörden haben zugesichert, dass im Jahr 2001 (im für das Hauptprüfverfahren maßgeblichen Zeitraum) keine rechtsverbindlichen Verpflichtungen gegenüber Beihilfeempfängern eingegangen wurden (68). Sie haben ferner angegeben, dass sich die gegenständliche Maßnahme ab dem 26. November 2003 auf die genehmigte staatliche Beihilfe N 200/2003 gestützt habe (vgl. Randnummer 68). Somit umfasst die Würdigung der gegenständlichen Maßnahme nur den Zeitraum 1. Januar 2002 bis 26. November 2003. |
(244) |
Die zuschussfähigen Kosten (Randnummer 68) entsprechen den zuschussfähigen Kosten nach Ziffer 14.1 vierter Gedankenstrich. |
(245) |
Die deutschen Behörden haben zugesichert, dass die Maßnahme NI 6 allen Unternehmen im Bereich Verarbeitung und Vermarktung von Milcherzeugnissen offenstand und nach objektiven Kriterien vergeben wurde. Die Maßnahme war darüber hinaus nicht an die Mitgliedschaft in einer Erzeugerorganisation oder sonstigen landwirtschaftlichen Organisation gebunden (vgl. Randnummer 70). Die Bedingungen von Ziffer 14.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit erfüllt. |
(246) |
Die maximale Beihilfenintensität der gegenständlichen Maßnahme lag im maßgeblichen Zeitraum bei 48 % (vgl. Randnummer 71). Nur ein Unternehmen (die Nordmilch eG) erhielt, nach Angabe der deutschen Behörden, einen Gesamtbeihilfebetrag, der über 100 000 EUR hinausging. Nach Angabe derselben Behörden fiel die Nordmilch eG nicht unter die Definition eines KMU. Die Voraussetzungen der Ziffer 14.3 sind somit bis auf die der Nordmilch eG gewährten Beihilfen erfüllt. |
(247) |
Die Nordmilch eG war mit rund 2 500 Mitarbeitern und einem Umsatz von rund 1,9 Mrd. EUR eines der größten milchwirtschaftlichen Unternehmen Deutschlands (69). Mit diesen Unternehmenszahlen fiel sie nicht unter die in Ziffer 14.3 genannte Definition der Kommission der kleinen und mittleren Unternehmen (70). Sie hätte somit gemäß Ziffer 14.3 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 höchstens einen Gesamtbeihilfebetrag von 100 000 EUR über einen Zeitraum von drei Jahren erhalten dürfen. Die Voraussetzungen der Ziffer 14.3 sind somit für die der Nordmilch eG gewährten Beihilfen nicht erfüllt (71). |
(248) |
Die Maßnahme NI 6 entspricht somit grundsätzlich den Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. |
(249) |
Die Maßnahme NI 6 entspricht im Fall der der Nordmilch eG im Zeitraum 2002-2003 gewährten Beihilfe nicht den Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens. |
NI 7
(250) |
Niedersachsen gewährte finanzielle Unterstützung für von der LVMN durchgeführte allgemeine Informationsmaßnahmen für Verbraucher über Milch als Nahrungsmittel. Allgemeine Informationsmaßnahmen über Milch stellen Beihilfen dar, die dem gesamten Milchsektor zugutekommen (vgl. dazu Randnummer 173). Die Bestimmungen für die Bereitstellung fachliche Hilfe gemäß Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 finden Anwendung. |
(251) |
Die bezuschussten Kosten (Randnummer 72) entsprechen den zuschussfähigen Kosten nach Ziffer 14.1. |
(252) |
Die Maßnahme war nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt sondern unterstützte den gesamten Sektor Milch in einer allgemeinen Art und Weise (Randnummer 75). Somit entsprach die Maßnahme den Vorgaben der Ziffer 14.2. |
(253) |
Gemäß den deutschen Behörden entfielen im Rahmen der Maßnahme NI 7 im gesamten Zeitraum durchschnittlich 395 EUR auf einen Begünstigten (vgl. Randnummer 76). Die Höhe des Zuschusses lag somit weit unter dem in Ziffer 14.3 definierten Grenzwert. |
(254) |
Die Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit für die Maßnahme NI 7 erfüllt. |
NW 4 und NW 5
(255) |
Nordrhein-Westfalen gewährte an die Landesvereinigung der Milchwirtschaft Nordrhein-Westfalen e.V. (LVMNRW) und die Landwirtschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe finanzielle Unterstützung für Informationsveranstaltungen und Aktionen der allgemeinen Verbraucheraufklärung und Aktionen über die Verwendung von Milch- und Milchprodukten und ihren allgemeinen Eigenschaften (Teilmaßnahme NW 4). Nordrhein-Westfalen gewährte außerdem finanzielle Unterstützung für Veranstaltungen für den Wissensaustausch zwischen Milchproduzenten zu Fragen der Milchwirtschaft (Teilmaßnahme NW 5). |
(256) |
Informationsveranstaltungen und Aktionen der allgemeinen Verbraucheraufklärung (NW 4) und Veranstaltungen für den Wissensaustausch zwischen Produzenten (NW 5) stellen Beihilfen dar, die den gesamten Milchsektor begünstigen (vgl. dazu Randnummer 173). Sie sind außerdem als selektiv anzusehen, da sie lediglich einem Wirtschaftssektor (Milchwirtschaft) zugutekommen (vgl. dazu Randnummer 175). Die gegenständlichen Maßnahmen sind als fachliche Hilfe anzusehen dar. |
(257) |
Die bezuschussten Kosten für Organisation und Durchführung von Veranstaltungen, für Beratung und Aufklärung und Fortbildungen zu Fragen der Milchwirtschaft (vgl. Randnummer 79) entsprechen den zuschussfähigen Kosten nach Ziffer 14.1. |
(258) |
Die Maßnahmen richteten sich an alle milchviehhaltenden Betriebe (vgl. Randnummer 81), weshalb die Bedingung der Ziffer 14.2 erfüllt ist. |
(259) |
Ausgehend von den Gesamtausgaben für die beiden Maßnahmen im Untersuchungszeitraum und der durchschnittlichen Anzahl von milchviehhaltenden Betrieben in Nordrhein-Westfalen ergeben sich Beihilfebeträge pro Begünstigten, die weit unter dem Grenzwert nach Ziffer 14.3 lagen (vgl. Randnummer 81). |
(260) |
Die Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit für die Maßnahmen NW 4 und NW 5 erfüllt. |
NW 6
(261) |
Nordrhein-Westfalen gewährte der Vereinigung der Milchindustrie LVMNRW finanzielle Unterstützung für die Sammlung, Auswertung und Veröffentlichung (als Mitteilungen und Marktberichte) einschlägiger Daten über den Milchmarkt. |
(262) |
Die Veröffentlichung von Sach- und wissenschaftlichen Informationen in der Form von Mitteilungen und Marktberichten ist als fachliche Hilfe anzusehen, weshalb Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 zur Anwendung kommt. |
(263) |
Die bezuschussten Kosten (Randnummer 82) entsprechen den zuschussfähigen Kosten nach Ziffer 14.1. |
(264) |
Die Veröffentlichungen standen jedermann kostenfrei zur Verfügung, wodurch auch Ziffer 14.2 erfüllt ist. |
(265) |
Ausgehend von den Gesamtausgaben für die Maßnahme NW 6 im Untersuchungszeitraum und der durchschnittlichen Anzahl von milchviehhaltenden Betrieben in Nordrhein-Westfalen ergeben sich Beihilfebeträge pro Begünstigten, die weit unter dem Grenzwert nach Ziffer 14.3 lagen (vgl. Randnummer 85). |
(266) |
Die Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit für die Maßnahme NW 6 erfüllt. |
RP 1 und SL 2
(267) |
Rheinland-Pfalz und das Saarland gewährten der Milchwirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft Rheinland-Pfalz e.V. (MILAG) bzw. der Landesvereinigung der Milchwirtschaft des Saarlandes e.V. (LVMS) finanzielle Unterstützung für Verbraucherinformationen einschließlich der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse, allgemeine Sachinformation über Erzeugnisse, ihre ernährungsphysiologischen Vorzüge und ihre vorgeschlagene Verwendung. |
(268) |
Allgemeine Informationsmaßnahmen über Milch stellen Beihilfen dar, die dem gesamten Milchsektor zugutekommen (vgl. dazu Randnummer 173). Die Bestimmungen über die Bereitstellung fachlicher Hilfen nach Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 finden Anwendung. |
(269) |
Die unter diesen Teilmaßnahmen förderfähigen Kosten (vgl. Randnummer 86) entsprechen den zuschussfähigen Kosten nach Ziffer 14.1. |
(270) |
Nach Angabe der deutschen Behörden waren die Maßnahmen nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt, sondern unterstützten den gesamten Sektor Milch in einer allgemeinen Art und Weise (vgl. Randnummer 90). Dies bestätigt auch die MILAG in ihrer Stellungnahme vom 10. Februar 2014 (vgl. Randnummer 153). Die Bedingungen der Ziffer 14.2 sind somit erfüllt. |
(271) |
Deutschland machte außerdem geltend, dass der gewährte Gesamtbeihilfebetrag über einen Zeitraum von drei Jahren weit unter der Obergrenze von 100 000 EUR pro Begünstigten gelegen habe (vgl. Randnummer 91), was den in Ziffer 14.3 festgelegten Bedingungen entspricht. |
(272) |
Die Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit erfüllt. |
RP 5 und SL 5
(273) |
Rheinland-Pfalz und das Saarland gewährten dem Landeskontrollverband Rheinland-Pfalz e.V. (LKVRP) bzw. der LVMS finanzielle Unterstützung für Fachberatung sowie Fortbildungsprogramme für Milcherzeuger zur Verbesserung der Hygiene der Melktechnik und der Qualität der Anlieferungsmilch. Fortlaufende Beratungsleistungen waren von der Förderung ausgeschlossen (vgl. Randnummer 92). Die Beratung und Fortbildung von Milcherzeugern fällt unter die Bereitstellung fachlicher Hilfe gemäß Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. |
(274) |
Die bezuschussten Kosten (vgl. Randnummer 92 und 94) entsprechen den zuschussfähigen Kosten gemäß Ziffer 14.1. |
(275) |
Gemäß den deutschen Behörden konnten alle rheinland-pfälzischen/saarländischen Milcherzeuger das Beratungs-/Schulungsangebot in Anspruch nehmen, wobei eine Mitgliedschaft im LKVRP bzw. LVMS nicht erforderlich war (vgl. Randnummer 94) (72). Die Bestimmungen der Ziffer 14.2 sind somit auch erfüllt. |
(276) |
Die durchschnittlichen Förderbeträge lagen in Rheinland-Pfalz bei jährlich ungefähr 197 EUR (73) und im Saarland bei jährlich ungefähr 130 EUR (vgl. Randnummer 98). Somit konnte es zu keiner Überschreitung der in Ziffer 14.3 festgesetzten Obergrenze kommen. |
(277) |
Die Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit für die gegenständliche Maßnahme erfüllt. |
TH 3 und TH 4
(278) |
Thüringen gewährte der Landesvereinigung Thüringer Milch e.V. (LVTM) finanzielle Unterstützung für die Teilnahme an Fach- und Verbraucherausstellungen und die Durchführung von Fachtagungen zur Verbreitung wissenschaftlicher Informationen (Teilmaßnahme TH 3, vgl. Randnummer 100). Zudem wurde die Veröffentlichung von Sachinformationen über Erzeuger aus der Region gefördert (Teilmaßnahme TH 4, vgl. Randnummer 101). Die Teilnahme an Ausstellungen, die Veranstaltung von Fachtagungen und die Veröffentlichung von Sachinformationen ist als fachliche Hilfe gemäß Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 anzusehen. |
(279) |
Die bezuschussten Kosten (vgl. Randnummern 100 und 101) entsprechen den zuschussfähigen Kosten gemäß Ziffer 14.1. |
(280) |
Nach den Angaben Deutschlands waren die beiden Teilmaßnahmen nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt, sondern haben den gesamten Sektor Milch in einer allgemeinen Art und Weise unterstützt (vgl. Randnummern 105 und 108). Die Bestimmungen der Ziffer 14.2 sind somit auch erfüllt. |
(281) |
Die deutschen Behörden haben zudem bestätigt, dass die Beihilfebeträge unter der in Ziffer 14.3 genannten Obergrenze lagen (vgl. Randnummern 105 und 109). |
(282) |
Die Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit für die gegenständliche Maßnahme erfüllt. |
TH 9 und TH 10
(283) |
Thüringen gewährte dem Verein Landvolksbildung Thüringen (VLT) finanzielle Unterstützung für die Weiterbildung von Beschäftigten in Milchbetrieben (Teilmaßnahme TH 9). Thüringen gewährte außerdem dem Thüringer Landjugendverband e.V. (TLJV) sowie der Thüringer Melkergemeinschaft e.V. (TMG) finanzielle Unterstützung für die Förderung von Berufswettbewerben (Teilmaßnahme TH 10) (vgl. Randnummer 110). |
(284) |
Deutschland hatte zunächst vorgebracht, dass es sich bei diesen beiden Teilmaßnahmen nicht um staatliche Beihilfen handele, da die Zahlungen an den VLT (TH 9) bzw. an den TLJV und die TMG (TH 10) als Leistungsentgelte angesehen würden, denen äquivalente Aufwendungen gegenüberstünden, und somit keine Begünstigung vorläge (vgl. Randnummern 114 und 117). Die Kommission ist allerdings der Auffassung, dass, auch wenn auf Ebene der Leistungserbringer keine Begünstigung vorliegt, die Weiterbildungsmaßnahmen in Milchbetrieben sowie die Veranstaltung von Berufswettbewerben den Milchvieh haltenden Betrieben zugutekommen und als fachliche Hilfe gemäß Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 anzusehen sind. |
(285) |
Die bezuschussten Kosten (vgl. Randnummern 111 und 112) entsprechen den zuschussfähigen Kosten gemäß den Bestimmungen von Ziffer 14.1. |
(286) |
Nach den Angaben Deutschlands stand die Möglichkeit der Teilnahme an den Weiterbildungsmaßnahmen bzw. an den Berufswettbewerben allen betroffenen Personen, die in dem betreffenden Gebiet tätig waren, auf der Grundlage objektiv definierter Kriterien offen (vgl. Randnummern 115 und 118). Die Voraussetzungen der Ziffer 14.2 sind somit auch erfüllt. |
(287) |
Deutschland hatte angegeben, dass die Beihilfebeträge im Rahmen der beiden Teilmaßnahme in der Summe 100 000 EUR über drei Jahre nicht überschritten haben (vgl. Randnummer 118). Somit konnte es jedenfalls zu keiner Überschreitung der in Ziffer 14.3 genannten Obergrenze kommen. |
(288) |
Die Voraussetzungen der Ziffer 14 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit für die gegenständliche Maßnahme erfüllt. |
(289) |
Die Kommission zieht den Schluss, dass die Beihilfen BY 3, BY 10, BW 4, BB 1, BB 3, HE 2, HE 3, HE 9, NI 5, NI 6, NI 7, NW 4, NW 5, NW 6, RP 1, RP 5, SL 2, SL 5, TH 3, TH 4, TH 9 und TH 10, mit Ausnahme der im Rahmen der Maßnahme NI 6 der Nordmilch e.G. gewährte Beihilfe (vgl. Randnummer 290), die einschlägigen Bedingungen des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 erfüllten und folglich im Zeitraum 2001-2006 mit dem Binnenmarkt vereinbar waren. |
(290) |
Die Kommission zieht ferner den Schluss, dass die Maßnahme NI 6 im Fall der der Nordmilch eG im Zeitraum 2002-2003 gewährten Beihilfe die einschlägigen Bedingungen des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 nicht erfüllte und folglich im Zeitraum 2001-2006 mit dem Binnenmarkt unvereinbar war. |
6.3.2. Bereitstellung technischer Hilfe im Agrarsektor im Zeitraum ab 2007
(291) |
Für den Zeitraum ab 2007 änderten sich die Bestimmungen über die Binnenmarktvereinbarkeit der Bereitstellung technischer Hilfe. |
(292) |
Die Bereitstellung technischer Hilfe ist in der Rahmenregelung 2007-2013 in Kapitel IV.K geregelt. |
(293) |
Gemäß Randnummer 105 der Rahmenregelung 2007-2013 erklärt die Kommission staatliche Beihilfen für die Bereitstellung technischer Hilfe zugunsten von Unternehmen, die in den Bereichen Verarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse tätig sind, als mit Artikel 87 Absatz 3 Buchstabe c des Vertrags (74) vereinbar, wenn die Voraussetzungen von Artikel 5 der Verordnung (EG) Nr. 70/2001 insgesamt erfüllt sind. Dabei werden, gemäß Randnummer 106 derselben Rahmenregelung, keine staatlichen Beihilfen für Großbetriebe genehmigt. |
(294) |
Artikel 5 Buchstabe b der Verordnung (EG) Nr. 70/2001 sieht vor, dass Beihilfen, die die Teilnahme an Messen und Ausstellungen ermöglichen sollen, 50 % brutto der anfallenden Mehrkosten für Miete, Aufbau und Betrieb des Standes nicht überschreiten dürfen. Die Freistellung gilt nur bei erstmaliger Teilnahme eines Unternehmens an einer bestimmten Messe oder Ausstellung. |
(295) |
Die Verordnung (EG) Nr. 70/2001 wurde zum 29. August 2008 durch Verordnung (EG) Nr. 800/2008 (75) ersetzt. Artikel 27 der Verordnung (EG) Nr. 800/2008 sieht dabei vor, dass Beihilfen zugunsten von KMU für die Teilnahme an Messen mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar sind, wenn die Beihilfeintensität 50 % der beihilfefähigen Kosten nicht überschreitet und die beihilfefähigen Kosten auf die Miete, den Aufbau und den Betrieb eines Stands bei der ersten Teilnahme des Unternehmens an einer bestimmten Messe oder Ausstellung begrenzt sind. |
(296) |
Gemäß Randnummer 106 der Rahmenregelung 2007-2013 werden im Rahmen der technischen Hilfe keine staatlichen Beihilfen für Großbetriebe genehmigt. |
(297) |
Im Eröffnungsbeschluss hegte die Kommission Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit einer Maßnahme (RP 2) mit dem Binnenmarkt im fraglichen Zeitraum (76). |
Maßnahme RP 2
(298) |
Rheinland-Pfalz gewährte im Rahmen der Maßnahme RP 2 Verarbeitungs- und Vermarktungsunternehmen finanzielle Unterstützung für die Teilnahme an Veranstaltungen zum Wissensaustausch zwischen Unternehmen, Wettbewerben, Ausstellungen und Messen. Förderfähig waren die Kosten zur Erstellung eines Messestandes (vgl. Randnummer 125). Die Förderung war nicht nur auf die erstmalige Teilnahme eines Unternehmens an einer bestimmten Messe oder Ausstellung begrenzt. Die Beihilfeintensität war auf 10 % der nachgewiesenen Kosten, aber höchstens 5 200 EUR je Unternehmen und Veranstaltung beschränkt (vgl. Randnummer 119). |
(299) |
Die Beihilfeintensität von 10 % im Rahmen der Maßnahme RP 2 liegt unter der in Artikel 5 Buchstabe b der Verordnung (EG) Nr. 70/2001 bzw. Artikel 27 der Verordnung (EG) Nr. 800/2008 vorgesehenen maximalen Beihilfeintensität von 50 %. |
(300) |
Die bezuschussten Kosten (Kosten im Zusammenhang mit der Erstellung eines Messestandes) entsprechen den beihilfefähigen Kosten gemäß Artikel 5 Buchstabe b der Verordnung (EG) Nr. 70/2001 bzw. Artikel 27 der Verordnung (EG) Nr. 800/2008, wonach die Miete, der Aufbau und der Betrieb eines Standes förderfähig sind (vgl. dazu Randnummern 294 und 295). Allerdings ist gemäß diesen Vorschriften nur die erste Teilnahme eines Unternehmens an einer bestimmten Messe oder Ausstellung beihilfefähig. |
(301) |
Deutschland hat in seiner Stellungnahme vom 20. September 2013 eine Tabelle mit der Anzahl von Unternehmen, die im Zeitraum 2003-2012 Beihilfen für die wiederholte Teilnahme an einer bestimmten Messe oder Ausstellung erhalten haben, und den jeweiligen Förderbeträgen übermittelt (vgl. Randnummer 123). Daraus ergeben sich für die Periode 2007-2012 durchschnittliche Förderbeträge für die wiederholte Teilnahme an einer bestimmten Messe oder Ausstellung pro gefördertes Unternehmen und Jahr von 294 EUR bis 5 113 EUR. |
(302) |
Deutschland hat in seiner Stellungnahme vom 13. Januar 2017 ferner angegeben, dass auch die beiden Unternehmen Hochwald Foods GmbH und die MUH Arla eG Beihilfen im Rahmen dieser Teilmaßnahme erhalten haben (vgl. Randnummer 124). |
(303) |
Die MUH Arla ist 2012 durch eine Fusion der Milch-Union Hocheifel (MUH) und dem skandinavischen Molkereikonzern Arla Foods entstanden. 2011 beschäftigte die MUH rund 800 Mitarbeiter und erzielte einen Umsatz von rund 693 Mio. EUR (77). |
(304) |
Die Hochwald Gruppe beschäftigt mehr als 1 900 Mitarbeiter und erwirtschaftete 2015 einen Umsatz von rund 1,44 Mrd. EUR (78). |
(305) |
Mit diesen Unternehmenszahlen fielen weder die MUH Arla eG noch die Hochwald Foods GmbH unter die in Kapitel II Randnummer 9 der Rahmenregelung 2007-2013 genannte Definition der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) (79). Sie hätten somit, gemäß Punkt 106 der Rahmenregelung 2007-2013 keine Beihilfe erhalten dürfen (vgl. dazu Randnummer 296). |
(306) |
Die Bedingungen des Kapitels IV.K. der Rahmenregelung 2007-2013 in Verbindung mit Artikel 5 Buchstabe b der Verordnung (EG) Nr. 70/2001 bzw. Artikel 27 der Verordnung (EG) Nr. 800/2008 sind somit nur für die Fälle erfüllt, in denen im Rahmen der Maßnahme RP 2 Verarbeitungs- und Vermarktungsunternehmen, die unter die Definition eines KMU fallen, Beihilfen für die erstmalige Teilnahme an einer bestimmten Messe oder Ausstellung erhalten haben. |
(307) |
Die Bedingungen des Kapitels IV.K. der Rahmenregelung 2007-2013, in Verbindung mit Artikel 5 Buchstabe b der Verordnung (EG) Nr. 70/2001 bzw. Artikel 27 der Verordnung (EG) Nr. 800/2008 sind nicht erfüllt für jene Beihilfen, die im Rahmen der Maßnahme RP 2 an nicht unter die Definition eines KMU fallenden Unternehmen und insbesondere an die MUH Arla eG und die Hochwald Foods GmbH gewährt wurden (vgl. Randnummer 305). |
(308) |
Die Bedingungen des Kapitels IV.K. der Rahmenregelung 2007-2013, in Verbindung mit Artikel 5 Buchstabe b der Verordnung (EG) Nr. 70/2001 bzw. Artikel 27 der Verordnung (EG) Nr. 800/2008 sind ferner auch nicht für jene Beihilfen erfüllt, die im Rahmen der Maßnahme RP 2 in Zusammenhang mit der wiederholten Teilnahme an einer bestimmten Messe oder Ausstellung gewährt wurden (vgl. Randnummer 301). |
(309) |
Die Kommission zieht den Schluss, dass die Beihilfe RP 2 nur in den in Randnummer 306 genannten Fällen die einschlägigen Bedingungen der Rahmenregelung 2007-2013 erfüllte und folglich im Zeitraum ab 2007 mit dem Binnenmarkt vereinbar war. |
(310) |
In den in Randnummern 307 und 308 genannten Fällen erfüllte die Beihilfe RP 2 die einschlägigen Bedingungen der Rahmenregelung 2007-2013 nicht und war folglich im Zeitraum ab 2007 nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar. |
6.3.3. Beihilfen für Qualitätserzeugnisse im Zeitraum 2001-2006
(311) |
Maßnahmen, zur Förderung der Erzeugung und Vermarktung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen hoher Qualität, die zwischen 2001 und 2006 durchgeführt wurden, müssen die unter Ziffer 13 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 festgelegten Bedingungen erfüllen. |
(312) |
Ziffer 13.2 enthält eine nicht erschöpfende Liste der förderfähigen Tätigkeiten in diesem Bereich. Die Kommission genehmigt Beihilfen für Beratungs- und ähnliche Unterstützungsleistungen, einschließlich technischer Studien, Durchführbarkeits- und Konzeptstudien und Marktforschungen, zugunsten von Tätigkeiten, die mit der Förderung landwirtschaftlicher Erzeugnisse von hoher Qualität zu tun haben; hierzu zählen u. a. Beihilfen für
Ferner können Beihilfen zur Deckung von Kosten gewährt werden, die von anerkannten Zertifizierungsstellen für die Erstzertifizierung im Rahmen von Qualitätssicherungs- und ähnlichen Systemen erhoben werden. |
(313) |
Die Ziffern 3, 4 und 5 von Abschnitt 13 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sehen besondere Bedingungen und Beschränkungen vor. Die Kommission ist der Ansicht, dass für die von den Herstellern während des Produktionsprozesses routinemäßig durchgeführten Qualitäts- und Produktkontrollen keine Beihilfen gewährt werden sollten, unabhängig davon, ob diese Kontrollen freiwillig erfolgen oder aber im Rahmen eines HACCP- oder ähnlichen Verfahrens vorgeschrieben sind. Beihilfen sollten nur für Kontrollen gewährt werden, die von oder im Namen von Dritten durchgeführt werden, wie etwa durch die zuständigen Ordnungsbehörden bzw. durch von diesen beauftragte Stellen, oder aber von unabhängigen Institutionen, die für die Kontrolle und Überwachung der Verwendung von Ursprungsbezeichnungen, Kennzeichen des ökologischen Landbaus oder Gütezeichen zuständig sind. |
(314) |
Der Gesamtbetrag der Beihilfe, die im Rahmen dieses Abschnitts gewährt werden kann, sollte im Falle von Beihilfen für KMU 50 % der zuschussfähigen Kosten oder 100 000 EUR pro Begünstigten während eines Zeitraums von drei Jahren, je nachdem, welcher Betrag höher ist, nicht überschreiten (Ziffer 13.2). |
(315) |
Baden-Württemberg, Niedersachsen und Thüringen (Teilmaßnahmen BW 10, BW 11, NI 1 und TH 5) gewährten finanzielle Unterstützung für die Verbesserung der Qualität der Anlieferungsmilch durch Beratung und Schulung von Milcherzeugern, die Zusammenstellung und Aktualisierung von Datenbanken und Kontrollen von Milcherzeugern im Zusammenhang mit der Einführung von Qualitätssicherungssystemen „Qualitätsmanagement QM-Milch“ (vgl. Randnummer 126). |
(316) |
Gemäß den deutschen Behörden betrug die Beihilfeintensität maximal 100 % der förderfähigen Kosten (vgl. Randnummer 129). |
(317) |
Im Eröffnungsbeschluss hegte die Kommission Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der o. g. Teilmaßnahmen mit dem Binnenmarkt im fraglichen Zeitraum (80). |
BW 10 und BW 11
(318) |
Die beiden Teilmaßnahmen wurden vom Milchprüfring Baden-Württemberg (BW 10) bzw. vom Milchwirtschaftlichen Verein Baden-Württemberg (BW 11) zugunsten von milcherzeugenden landwirtschaftlichen Betrieben, die am Qualitätssicherungssystem „QM-Milch“ teilnahmen, durchgeführt (vgl. Randnummern 131 und 132). |
(319) |
Gefördert wurden die Durchführung von Audits bei Milcherzeugerbetrieben und die Kosten der Erstzertifizierung durch eine anerkannte Zertifizierungsstelle (BW 10) bzw. Beratungsaufgaben im Zusammenhang mit der Einführung des Qualitätssicherungssystems (BW 11) (vgl. Randnummern 133 und 134). Die bezuschussten Kosten entsprechen somit den zuschussfähigen Kosten gemäß Ziffer 13.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. |
(320) |
Nicht gefördert wurden dabei von den Herstellern während des Produktionsprozesses routinemäßig durchgeführte Qualitäts- und Produktkontrollen, die auch gemäß Ziffer 13.3 von einer Förderung ausgeschlossen sind. |
(321) |
Gemäß den deutschen Behörden betrug die durchschnittliche Aufwendung je Begünstigten 106 EUR (vgl. Randnummer 135) und lag somit weit unter dem gemäß Ziffer 13.2 zulässigen Höchstbetrag von 100 000 EUR pro Begünstigten während eines Zeitraums von drei Jahren. |
(322) |
Die Bedingungen des Abschnitts 13 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 sind somit für die Teilmaßnahmen BW 10 und BW 11 erfüllt. |
NI 1
(323) |
Niedersachsen gewährte der LVMN finanzielle Unterstützung für die Einführung eines Qualitätssicherungssystems für Milcherzeuger („QM–Milch“). Abschnitt 13 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 kommt daher zur Anwendung. |
(324) |
Gefördert wurden dabei vorbereitende Maßnahmen zur Einführung von QM-Milch (Beratungsleistungen) sowie Kosten für die Koordination von QM Milch und den Aufbau einer Datenbank (vgl. Randnummer 137). Die bezuschussten Kosten entsprechen somit den zuschussfähigen Kosten gemäß Ziffer 13.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. |
(325) |
Die Förderbeträge lagen mit 12,78 EUR je Förderfall für Beratungsleistungen und 35 EUR je Landwirt innerhalb von drei Jahren für Hofaudits (vgl. Randnummer 138) weit unter der in Ziffer 13.2 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 festgelegten Obergrenze. |
(326) |
Deutschland hat bestätigt, dass die Kontrollen im Rahmen der Hofaudits von oder im Namen von Dritten durchgeführt wurden, wobei der Landeskontrollverband Niedersachsen als unabhängige Kontrollinstitution fungierte (vgl. Randnummer 139). Dies entspricht den Vorgaben der Ziffer 13.3. |
(327) |
Die gegenständliche Maßnahme erfüllt somit die Voraussetzungen des Abschnitts 13 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. |
TH 5
(328) |
Thüringen gewährte dem Thüringer Verband für Leistungs- und Qualitätsprüfungen in der Tierzucht (TVLEV) finanzielle Unterstützung für die Einführung eines Qualitätssicherungssystems bei Milcherzeugern (vgl. Randnummer 140). Abschnitt 13 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 kommt daher zur Anwendung. |
(329) |
Nach Angabe der deutschen Behörden wurde die Maßnahme im Jahr 2004 eingeführt (vgl. Randnummer 140). |
(330) |
Laut Deutschland wurden im Zeitraum 2004-2006 Erzeuger lediglich im Rahmen der Erstzertifizierung begünstigt. Die durchschnittliche Begünstigung je Erzeuger betrug dabei ungefähr 83 EUR (vgl. Randnummer 141). |
(331) |
Die bezuschussten Kosten entsprechen den zuschussfähigen Kosten gemäß Ziffer 13.2 und die Beihilfebeträge liegen weit unter der in derselben Ziffer festgesetzten Obergrenze. |
(332) |
Die Maßnahme TH 5 erfüllt somit die Voraussetzungen des Abschnitts 13 des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006. |
(333) |
Die Kommission zieht den Schluss, dass die Beihilfen BW 10, BW 11, NI 1 und TH 5 die einschlägigen Bedingungen des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 erfüllten und folglich im Zeitraum 2001-2006 mit dem Binnenmarkt vereinbar waren. |
6.4. Rückforderung
(334) |
Nach Artikel 17 Absatz 1 der Verordnung (EU) 2015/1589 gelten die Befugnisse der Kommission zur Rückforderung von Beihilfen für eine Frist von zehn Jahren. Nach Artikel 17 Absatz 2 derselben Verordnung unterbricht jede Maßnahme der Kommission bezüglich der rechtswidrigen Beihilfe die Verjährungsfrist. |
(335) |
Nachdem Deutschland den Jahresbericht 2010 über staatliche Beihilfen im Agrarsektor vorgelegt hatte, ersuchte die Kommission Deutschland mit Schreiben vom 28. November 2011 um zusätzliche Informationen zu der Regelung. Durch diese Maßnahme der Kommission wurde die Verjährungsfrist unterbrochen. Daher bezieht sich der vorliegende Beschluss — entsprechend der in Randnummer 334 erwähnten Verjährungsfrist von zehn Jahren — auf den Zeitraum ab dem 28. November 2001. |
(336) |
Die Kommission stellt fest, dass die im Rahmen der Maßnahme NI 6 der Nordmilch eG im Zeitraum 2002-2003 gewährte Beihilfe (vgl. Randnummer 289) nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar ist. Diese Beihilfe ist zurückzufordern. |
(337) |
Die Kommission stellt ferner fest, dass die im Rahmen der Maßnahme RP 2 nicht unter die Definition eines KMU fallenden Unternehmen und insbesondere der MUH Arla eG und der Hochwald Foods GmbH gewährten Beihilfen (vgl. Randnummer 307) sowie jene Beihilfen, die in Zusammenhang mit der wiederholten Teilnahme an einer bestimmten Messe oder Ausstellung gewährt wurden (vgl. Randnummer 308), nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar sind. Diese Beihilfen sind zurückzufordern. |
(338) |
Basierend auf der suspensiven Wirkung des Hauptprüfverfahrens gemäß Artikel 108 Absatz 3 AEUV prüft die Kommission die Maßnahme RP 2 vom 1. Januar 2007 bis zum 17. Juli 2013, dem Tag an dem die Kommission Deutschland ihren Beschluss mitgeteilt hat, das Verfahren nach Artikel 108 Absatz 2 AEUV einzuleiten. |
7. SCHLUSSFOLGERUNG
(339) |
Die Kommission stellt fest, dass Deutschland die gegenständlichen Beihilfen unter Verstoß gegen Artikel 108 Absatz 3 AEUV gewährt hat. Diese Beihilfen sind, mit Ausnahme der im nachfolgenden Erwägungsgrund genannten Beihilfefälle, mit dem Binnenmarkt vereinbar (vgl. dazu Randnummern 289, 309 und 333). |
(340) |
Die Kommission stellt fest, dass die im Rahmen der Maßnahme NI 6 der Nordmilch eG gewährte Beihilfe sowie die im Rahmen der Maßnahme RP 2 der MUH Arla eG und der Hochwald Foods GmbH gewährten Beihilfen beziehungsweise jene Beihilfen, die im Rahmen der Maßnahme RP 2 in Zusammenhang mit der wiederholten Teilnahme an einer bestimmten Messe oder Ausstellung gewährt wurden, mit dem Binnenmarkt unvereinbar sind (vgl. Randnummern 290 und 310). Diese Beihilfen sind zurückzufordern — |
HAT FOLGENDEN BESCHLUSS ERLASSEN:
Artikel 1
Die Beihilfen, die Deutschland zwischen dem 28. November 2001 und dem 31. Dezember 2006 (Maßnahmen BY 3, BY 10, BW 4, BB 1, BB 3, HE 2, HE 3, HE 9, NI 5, NI 6, NI 7, NW 4, NW 5, NW 6, RP 1, RP 5, SL 2, SL 5, TH 3, TH 4, TH 9, TH 10, BW 10, BW 11, NI 1 und TH 5) bzw. zwischen dem 1. Januar 2007 und dem 17. Juli 2013 (Maßnahme RP 2) unter Verletzung des Artikels 108 Absatz 3 AEUV gewährt hat, sind, mit Ausnahme der in Artikel 2 genannten Beihilfefälle, mit dem Binnenmarkt vereinbar.
Artikel 2
Die Beihilfen, die Deutschland in den Jahren 2002 und 2003 im Rahmen der Maßnahme NI 6 unter Verletzung des Artikels 108 Absatz 3 AEUV zugunsten der Nordmilch eG gewährt hat, sind mit dem Binnenmarkt unvereinbar.
Die Beihilfen, die Deutschland zwischen dem 1. Januar 2007 und dem 17. Juli 2013 im Rahmen der Maßnahme RP 2 unter Verletzung des Artikels 108 Absatz 3 AEUV zugunsten von Unternehmen, die nicht unter die Definition eines KMU fallen, und insbesondere der MUH Arla eG und der Hochwald Foods GmbH, gewährt hat, sind mit dem Binnenmarkt unvereinbar.
Die Beihilfen, die Deutschland zwischen dem 1. Januar 2007 und dem 17. Juli 2013 im Rahmen der Maßnahme RP 2 unter Verletzung des Artikels 108 Absatz 3 AEUV in Zusammenhang mit der wiederholten Teilnahme an einer bestimmten Messe oder Ausstellung gewährt hat, sind mit dem Binnenmarkt unvereinbar.
Artikel 3
Einzelbeihilfen, die aufgrund der in Artikel 2 genannten Regelung gewährt wurden, stellen keine Beihilfen dar, sofern sie zum Zeitpunkt ihrer Bewilligung die Voraussetzungen erfüllten, die in einer nach Artikel 2 der Verordnung (EU) 2015/1588 des Rates (81) erlassenen und zum Zeitpunkt der Bewilligung der Beihilfen geltenden Verordnung vorgesehen sind.
Artikel 4
Einzelbeihilfen, die aufgrund der in Artikel 2 genannten Regelung gewährt wurden und zum Zeitpunkt ihrer Bewilligung die Voraussetzungen erfüllten, die in einer nach Artikel 1 der Verordnung (EU) 2015/1588 erlassenen Verordnung oder in einer anderen genehmigten Beihilferegelung vorgesehen sind, sind bis zu den für derartige Beihilfen geltenden Beihilfehöchstintensitäten mit dem Binnenmarkt vereinbar.
Artikel 5
(1) Deutschland fordert die mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilfen, die aufgrund der in Artikel 2 genannten Beihilferegelungen gewährt wurden, von den Begünstigten zurück.
(2) Der Rückforderungsbetrag umfasst Zinsen, die von dem Zeitpunkt, ab dem die Beihilfen den Begünstigten zur Verfügung standen, bis zu deren tatsächlicher Rückzahlung berechnet werden.
(3) Die Zinsen werden gemäß Kapitel V der Verordnung (EG) Nr. 794/2004 und gemäß der Verordnung (EG) Nr. 271/2008 der Kommission (82) zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 794/2004 nach der Zinseszinsformel berechnet.
(4) Deutschland stellt mit dem Tag des Erlasses dieses Beschlusses alle aufgrund der in Artikel 2 genannten Beihilferegelungen ausstehenden Zahlungen ein.
Artikel 6
(1) Die Beihilfen, die aufgrund der in Artikel 2 genannten Regelungen gewährt wurden, werden sofort und tatsächlich zurückgefordert.
(2) Deutschland stellt sicher, dass dieser Beschluss binnen vier Monaten nach seiner Bekanntgabe umgesetzt wird.
Artikel 7
(1) Deutschland übermittelt der Kommission binnen zwei Monaten nach Bekanntgabe dieses Beschlusses die folgenden Informationen:
a) |
Liste der Begünstigten, die aufgrund der in Artikel 2 genannten Regelungen Beihilfen erhalten haben, sowie Gesamtbetrag der Beihilfen, die jeder von ihnen aufgrund dieser Regelungen erhalten hat; |
b) |
Gesamtbetrag (Hauptforderung und Zinsen), der von jedem Begünstigten zurückzufordern ist; |
c) |
ausführliche Beschreibung der Maßnahmen, die ergriffen wurden bzw. beabsichtigt sind, um diesem Beschluss nachzukommen; |
d) |
Unterlagen, aus denen hervorgeht, dass an die Begünstigten Rückzahlungsanordnungen ergangen sind. |
(2) Deutschland unterrichtet die Kommission über den Fortgang seiner Maßnahmen zur Umsetzung dieses Beschlusses, bis die Rückzahlung der Beihilfen, die aufgrund der in Artikel 2 genannten Regelungen gewährt wurden, abgeschlossen ist. Auf Anfrage der Kommission legt Deutschland unverzüglich Informationen über die Maßnahmen vor, die ergriffen wurden bzw. beabsichtigt sind, um diesem Beschluss nachzukommen. Ferner übermittelt Deutschland ausführliche Angaben über die Beihilfebeträge und die Zinsen, die von den Begünstigten bereits zurückgezahlt wurden.
Artikel 8
Dieser Beschluss ist an die Bundesrepublik Deutschland gerichtet.
Deutschland wird aufgefordert, den Begünstigten unverzüglich eine Kopie dieses Beschlusses zuzuleiten.
Brüssel, den 29. Mai 2017
Für die Kommission
Phil HOGAN
Mitglied der Kommission
(1) Mit Wirkung vom 1. Dezember 2009 sind an die Stelle der Artikel 87 und 88 EG-Vertrag die Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) getreten. Die Artikel 87 und 88 EG-Vertrag und die Artikel 107 und 108 AEUV sind im Wesentlichen identisch. Im Rahmen dieses Beschlusses sind Bezugnahmen auf die Artikel 107 und 108 AEUV gegebenenfalls als Bezugnahmen auf die Artikel 87 und 88 EG-Vertrag zu verstehen.
(2) Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. L 83 vom 27.3.1999, S. 1).
(3) Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. L 248 vom 24.9.2015, S. 9. Mit Wirkung vom 14. November 2015 hebt diese Verordnung die Verordnung (EG) Nr. 659/1999 auf und ersetzt diese. Gemäß Artikel 35 der Verordnung (EU) 2015/1589 gelten Bezugnahmen auf die aufgehobene Verordnung als Bezugnahmen auf Verordnung (EU) 2015/1589 und sind nach Maßgabe der Entsprechungstabelle in Anhang II dieser Verordnung zu lesen.
(4) Siehe Fußnote 3.
(5) Zuletzt durch Artikel 397 der Verordnung vom 31. August 2015 (BGBl. I S. 1474).
(6) S. 34-36.
(7) Verordnung (EG) Nr. 1857/2006 der Kommission vom 15. Dezember 2006 über die Anwendung der Artikel 87 und 88 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen an kleine und mittlere in der Erzeugung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen tätige Unternehmen und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 70/2001 (ABl. L 358 vom 16.12.2006, S. 3).
(8) Rahmenregelung der Gemeinschaft für Staatliche Beihilfen im Agrar- und Forstsektor 2007-2013 (ABl. C 319 vom 27.12.2006, S. 1)..
(9) S. 37-39.
(10) S. 38.
(11) S. 43.
(12) S. 47.
(13) ABl. C 28 vom 1.2.2000, S. 2.
(14) S. 39-40.
(15) S. 40-41.
(16) Mitteilung vom 27. Februar 2015, S. 47.
(17) Mitteilung vom September 2013, S. 41-42.
(18) S. 43-47.
(19) S. 43-47.
(20) S. 55.
(21) S. 56.
(22) Die deutschen Behörden haben in diesem Zusammenhang zugesichert, dass im Jahr 2001 (im für das Hauptprüfverfahren maßgeblichen Zeitraum) keine rechtsverbindlichen Verpflichtungen gegenüber Beihilfeempfängern eingegangen wurden.
(23) S. 43.
(24) S. 58-59.
(25) S. 70-74.
(26) S. 76.
(27) Mitteilung vom Februar 2013.
(28) Die rechtliche Grundlage für Werbemaßnahmen in Rheinland-Pfalz ist in der Entscheidung über die staatliche Beihilfe N 381/2009 „Agrarmarketingmaßnahmen in Rheinland-Pfalz“ festgelegt.
(29) S. 43.
(30) Mitteilung vom 27. Februar 2015, S. 48.
(31) S. 80.
(32) S. 82.
(33) S. 83.
(34) S. 84.
(35) S. 85.
(36) ABl. C 319 vom 27.12.2006, S. 1.
(37) Verordnung (EG) Nr. 70/2001 der Kommission vom 12. Januar 2001 über die Anwendung der Artikel 87 und 88 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen an kleine und mittlere Unternehmen (ABl. L 10 vom 13.1.2001, S. 33).
(38) Die Verordnung (EG) Nr. 800/2008 der Kommission vom 6. August 2008 zur Erklärung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt in Anwendung der Artikel 87 und 88 EG-Vertrag (allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung) (ABl. L 214 vom 9.8.2008, S. 3) wurde mit 1. Juli 2014 durch die Verordnung (EU) Nr. 651/2014 der Kommission vom 17. Juni 2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. L 187 vom 26.6.2014, S. 1) aufgehoben.
(39) Rn. 244 des Eröffnungsbeschlusses.
(40) S. 77.
(41) Diese Verordnung wurde mit 1. Juli 2014 durch die Verordnung (EU) Nr. 702/2014 vom 25. Juni 2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Arten von Beihilfen im Agrar- und Forstsektor und in ländlichen Gebieten mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. L 193 vom 1.7.2014, S. 1) aufgehoben.
(42) Beim Qualitätsmanagement Milch (QM-Milch) handelt es sich um einen bundeseinheitlichen zwischen Milcherzeugern und Molkereien geltenden Business-to-business-Standard für die Milcherzeugung, der als Zertifizierungsgrundlage für Prüfstellen anerkannt wurde.
(43) Rn. 66 des Eröffnungsbeschlusses.
(44) Rn. 253 des Eröffnungsbeschlusses.
(45) S. 11.
(46) Stellungnahme vom 20. September 2013, S. 12.
(47) Stellungnahme vom 20. September 2013, S. 12.
(48) Stellungnahme vom 20. September 2013, S. 50.
(49) S. 50.
(50) Stellungnahme vom 20. September 2013, S. 83-84.
(51) Abschnitt 3.3.
(52) Die Kommission erhielt eine Stellungnahme der Landesvereinigung der Milchwirtschaft Niedersachsen e.V., in der auf alle aus der Milchumlage finanzierten Maßnahmen im Allgemeinen und nicht nur auf die hier erörterten Teilmaßnahmen eingegangen wurde. Die Landesvereinigung argumentierte, eine Beihilfe liege nicht vor. Eine ausführliche Beschreibung der Stellungnahmen findet sich im Beschluss (EU) 2015/2432 der Kommission vom 18. September 2015 über die für Milchgüteprüfungen im Rahmen des Milch- und Fettgesetzes von Deutschland gewährten staatlichen Beihilfen — SA.35484 (2013/C) (ex SA.35484 (2012/NN)) (ABl. L 334 vom 22.12.2015, S. 23).
(53) Urteil des Gerichtshofs vom 20. November 2003, Ministère de l'Économie, des Finances et de l'Industrie/GEMO, C-126/01, EU:C:2003:622, Rn. 23.
(54) Urteil des Gerichtshofs vom 20. November 2003,Rechtssache C-126/01, Ministère de l'Économie, des Finances et de l'Industrie/GEMO, C-126/01, EU:C:2003:622, Slg. 2003, I-13769, Rn. 24.
(55) Z.B. für Niedersachsen: Verordnung über die Erhebung einer Umlage auf dem Gebiet der Milchwirtschaft vom 26. November 2004 (Nds.GVBl. Nr. 36/2004, S. 519), geändert durch Artikel 6 der Verordnung vom 22 Dezember.2005 (Nds. GVBl. Nr.31/2005, S. 475).
(56) Urteil des Gerichtshofs vom 30. Mai 2013, Doux Élevage SNC und Coopérative agricole UKL-ARREE/Ministère de l'Agriculture, C677/11, EU:C:2013:348, Rn. 32, 35 und 38.
(57) Urteil des Gerichtshofs vom 17. September 1980, Philip Morris Holland BV/Kommission, 730/79, EU:C:1980:209, Rn. 11-12.
(58) Siehe insbesondere Urteil des Gerichtshofs vom 13. Juli 1988, Französische Republik/Kommission, ECLI:EU:C:1988:391, Rn. 19.
(59) Durchführungsverordnung (EU) Nr. 927/2012 der Kommission vom 9. Oktober 2012 zur Änderung von Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 304, 31.10.2012, S. 1).
Quelle: Eurostat.
(61) Verordnung (EG) Nr. 794/2004 der Kommission vom 21. April 2004 zur Durchführung der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. L 140 vom 30.4.2004, S. 1).
(62) Urteil des Gerichts vom 30. April 2002, Gibraltar/Kommission, T-195/01 und T-207/01, ECLI:EU:T:2002:111, Rn. 111.
(63) Vgl. Erwägungsgrund 17.
(64) Bayern: Verordnung über eine Umlage für Milch vom 30. Juni 1983 (GVBL S. 547); Baden-Württemberg: Verordnung über die Erhebung von milchwirtschaftlichen Umlagen vom 18. Mai 2004 (GBl, S. 350, 355); Nordrhein-Westfalen: Verordnung über Umlagen zur Förderung der Milchwirtschaft vom 30. November 1965 (GV. NW. 1965 S. 349); Z. B. Rheinland-Pfalz: Landesverordnung zur Durchführung des Milch- und Fettgesetzes vom 16. August 1960 (GVBl, S. 218, BS 7842-2); Brandenburg — Verordnung zur Übertragung der Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen nach dem Milch- und Fettgesetz (ÜErmVO) vom 05. Dezember 1992 (GVBl.II/92, [Nr. 72], S. 764); Hessen — Verordnung über die Erhebung einer Umlage zur Förderung der Milchwirtschaft vom 1. Dezember 1981 (GVBl. I 1981 S. 427); Saarland: Verordnung über die Erhebung einer Umlage auf dem Gebiet der Milchwirtschaft vom 9. Dezember 1982 (Amtsblatt 1982, S. 1007); Thüringen: Thüringer Verordnung über die Erhebung einer Umlage zur Förderung der Milchwirtschaft vom 29. Dezember 1999 in der Fassung vom 27. November 2001. (GVBl. 2000, 20). In Niedersachsen wurde die Milchumlage durch die Anordnung über die Erhebung einer Umlage auf dem Gebiet der Milch- und Fettwirtschaft vom 6. Juli 1951 in der Fassung der Anordnung vom 25. März 1952 (Nds. GVBl. Sb. I S. 689) eingeführt. Die Erhebung der Umlage basierte allerdings im beihilferechtlich relevanten Zeitraum auf der Verordnung über die Erhebung einer Umlage auf dem Gebiet der Milchwirtschaft vom 22. Mai 1973 (Nds. GVBl, S. 179) und die Verwendung der Umlagemittel wurde über die Landes-Richtlinie über die Gewährung von Zuwendungen zur Förderung der Milchwirtschaft in Niedersachsen nach § 22, Abs. 2 Milch- und Fettgesetz vom 8. November 1985 (Nds. MBl. 43/1985) geregelt.
(65) ABl. C 119 vom 22.5.2002, S. 22.
(66) Die deutsche Sprachversion des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 enthält eine abschließende Aufzählung der zuschussfähigen Kosten. Die englische Sprachfassung, in der der Gemeinschaftsrahmen ursprünglich verfasst wurde, führt jedoch dieselben zuschussfähigen Kosten beispielhaft und nicht abschließend an. Dies gilt auch für die französische Sprachfassung.
(67) Eröffnungsbeschluss, Randnummern 235-236. Dabei stützte sich die Kommission in Randnummer 236 des Eröffnungsbeschlusses auf die deutsche Sprachfassung des Gemeinschaftsrahmens 2000-2006 und vertrat die Auffassung, dass unter Ziffer 14.1 nur Beihilfen für die Verbreitung neuer Methoden gewährt werden können (vgl. dazu Fußnote 72).
(68) Vgl. Fußnote 24 dieses Beschlusses.
(69) Zahlen: 2009; Quelle: http://www.nordmilch.de/unternehmen/geschichte/. Im April 2011 haben sich die Nordmilch GmbH und die Humana Milchindustrie GmbH zur DMK Deutsches Milchkontor GmbH zusammengeschlossen.
(70) ABl. L 107 vom 30.4.1996, S. 4.
(71) In seiner Mitteilung vom 27. Februar 2015 hat Deutschland angegeben, dass eine Rückforderung dieser Beihilfe bereits geprüft würde (vgl. Randnummer 68).
(72) Dies bestätigt in Bezug auf die Maßnahme RP 5 auch die MILAG in ihrer Stellungnahme vom 10. Februar (vgl. Randnummer 153).
(73) Vgl. Fußnote 79.
(74) Jetzt Artikel 107 Absatz 3 Buchstage c AEUV.
(75) Die Verordnung (EG) Nr. 800/2008 wurde zum 1. Juli 2014 durch die Verordnung (EU) Nr. 651/2014 aufgehoben.
(76) Eröffnungsbeschluss, Randnummer 244.
Quelle: http://www.arlafoods.de/ubersicht/presse/2012/pressrelease/eu-genehmigt-fusion-der-milch-union-hocheifel-und-arla-836614/.
Quelle: https://www.hochwald.de/de/unternehmen/zahlen-fakten.html.
(79) Randnummer 9 der Rahmenregelung 2007-2013 verweist dabei auf Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 70/2001, der zum 29. August 2008 durch Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 800/2008 ersetzt wurde.
(80) Eröffnungsbeschluss, Randnummer 253.
(81) Verordnung (EU) 2015/1588 des Rates vom 13. Juli 2015 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen (ABl. L 248 vom 24.9.2015, S. 1).
(82) Verordnung (EG) Nr. 271/2008 der Kommission vom 30. Januar 2008 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 794/2004 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 93 des EG-Vertrags (ABl. L 82 vom 25.3.2008, S. 1).
EMPFEHLUNGEN
19.12.2017 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
L 339/83 |
EMPFEHLUNG (EU) 2017/2338 DER KOMMISSION
vom 16. November 2017
für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch“, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist
DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION —
gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 292,
in Erwägung nachstehender Gründe:
(1) |
In der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (1) sind gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger festgelegt. |
(2) |
Es muss sichergestellt werden, dass diese gemeinsamen Normen und Verfahren von allen zuständigen Behörden einheitlich angewandt werden; daher gab die Kommission mit ihrer Empfehlung C(2015) 6250 vom 1. Oktober 2015 (2) ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch“ mit gemeinsamen Leitlinien, bewährten Verfahren und Empfehlungen heraus, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist. Aufgrund neuer Entwicklungen im Bereich der Rückkehr illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger muss das Rückkehr-Handbuch aktualisiert werden. |
(3) |
In der Empfehlung C(2017) 1600 der Kommission vom 7. März 2017 (3) wird eine Orientierungshilfe gegeben, wie die Bestimmungen der Richtlinie 2008/115/EG angewandt werden sollten, um die Rückkehrverfahren wirksamer zu gestalten, und die Mitgliedstaaten werden ersucht, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, damit die der Rückkehr entgegenstehenden rechtlichen und praktischen Hindernisse beseitigt werden. Das Rückkehr-Handbuch sollte daher der genannten Empfehlung Rechnung tragen. |
(4) |
Die jüngste Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Zusammenhang mit der Richtlinie 2008/115/EG sollte im Handbuch ihren Niederschlag finden. |
(5) |
Das Rückkehr-Handbuch sollte sich an alle Mitgliedstaaten richten, die durch die Richtlinie 2008/115/EG gebunden sind. |
(6) |
Im Interesse einer einheitlicheren Anwendung gemeinsamer EU-Normen für die Rückkehr sollte das Rückkehr-Handbuch bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben und zu Schulungszwecken als wichtigstes Instrument herangezogen werden — |
HAT FOLGENDE EMPFEHLUNG ABGEGEBEN:
(1) |
Das Rückkehr-Handbuch im Anhang sollte das Handbuch im Anhang der Empfehlung C(2015) 6250 der Kommission ersetzen. |
(2) |
Die Mitgliedstaaten sollten das Rückkehr-Handbuch den Behörden ihres Landes, die für die Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben zuständig sind, übermitteln und die betreffenden Behörden anweisen, das Handbuch als wichtigstes Instrument bei der Durchführung dieser Aufgaben heranzuziehen. |
(3) |
Das Rückkehr-Handbuch sollte für die Schulung der für rückkehrbezogene Aufgaben eingesetzten Mitarbeiter sowie von Sachverständigen verwendet werden, die an dem mit der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 des Rates (4) eingeführten Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands in den Mitgliedstaaten beteiligt sind. |
Brüssel, den 16. November 2017
Für die Kommission
Dimitris AVRAMOPOULOS
Mitglied der Kommission
(1) Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 vom 24.12.2008, S. 98).
(2) Empfehlung C(2015) 6250 der Kommission vom 1. Oktober 2015 für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch“, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist.
(3) Empfehlung C(2017) 1600 der Kommission vom 7. März 2017 für eine wirksamere Gestaltung der Rückkehr im Rahmen der Durchführung der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates.
(4) Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 des Rates vom 7. Oktober 2013 zur Einführung eines Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands und zur Aufhebung des Beschlusses des Exekutivausschusses vom 16. September 1998 bezüglich der Errichtung des Ständigen Ausschusses Schengener Durchführungsübereinkommen (ABl. L 295 vom 6.11.2013, S. 27).
ANHANG
RÜCKKEHR-HANDBUCH
1. |
BEGRIFFSBESTIMMUNGEN | 87 |
1.1. |
Drittstaatsangehöriger | 87 |
1.2. |
Illegaler Aufenthalt | 88 |
1.3. |
Rückkehr/Rückführung | 90 |
1.4. |
Rückkehrentscheidung | 90 |
1.5. |
Abschiebungsanordnung | 91 |
1.6. |
Fluchtgefahr | 91 |
1.7. |
Freiwillige Ausreise | 93 |
1.8. |
Schutzbedürftige Personen | 94 |
2. |
ANWENDUNGSBEREICH | 94 |
2.1. |
„Grenzfälle“ – Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a | 95 |
2.2. |
Besondere Garantien für „Grenzfälle“ | 96 |
2.3. |
Strafrechts- und Auslieferungsfälle | 97 |
3. |
GÜNSTIGERE BESTIMMUNGEN | 98 |
4. |
SANKTIONEN BEI VERSTÖSSEN GEGEN DIE MIGRATIONSBESTIMMUNGEN | 98 |
5. |
FESTNAHME UND VERPFLICHTUNG ZUM ERLASS VON RÜCKKEHRENTSCHEIDUNGEN | 100 |
5.1. |
Festnahme während der Ausreisekontrolle | 102 |
5.2. |
Adressaten einer von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Rückkehrentscheidung | 102 |
5.3. |
Verhältnis zu den Dublin-Bestimmungen | 103 |
5.4. |
Illegal aufhältige Drittstaatsangehörige mit Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats | 104 |
5.5. |
Illegal aufhältige Drittstaatsangehörige im Anwendungsbereich geltender bilateraler Abkommen zwischen Mitgliedstaaten | 106 |
5.6. |
Illegal aufhältige Drittstaatsangehörige mit Aufenthaltstitel/Aufenthaltsberechtigung aus humanitären (oder sonstigen) Gründen | 107 |
5.7. |
Illegal aufhältige Drittstaatsangehörige mit anhängigem Verfahren zur Verlängerung eines Aufenthaltstitels/einer Aufenthaltsberechtigung | 107 |
5.8. |
Sonderregelungen in den Richtlinien über legale Migration in Bezug auf die Rückübernahme zwischen Mitgliedstaaten in Fällen von Mobilität innerhalb der Union | 108 |
6. |
FREIWILLIGE AUSREISE | 108 |
6.1. |
Verlängerte Frist für die freiwillige Ausreise | 109 |
6.2. |
Verpflichtungen bis zum Zeitpunkt der freiwilligen Rückkehr | 110 |
6.3. |
„Kontraindikationen“ | 110 |
6.4. |
Konforme Anwendung in der Praxis — Transit auf dem Landweg | 111 |
6.5. |
Konforme Anwendung in der Praxis — Transit auf dem Landweg | 112 |
6.6. |
Erfassung der freiwilligen Ausreise | 113 |
7. |
ABSCHIEBUNG | 113 |
7.1. |
Abschiebung auf dem Luftweg | 115 |
7.2. |
Transit auf dem Luftweg | 118 |
7.3. |
Gemeinsame Rückführungsmaßnahmen auf dem Luftweg | 118 |
7.4. |
Von der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache koordinierte Rückführungsmaßnahmen (Rückkehraktionen) | 119 |
8. |
ÜBERWACHUNG VON RÜCKFÜHRUNGEN | 119 |
9. |
AUFSCHUB DER ABSCHIEBUNG | 120 |
10. |
RÜCKKEHR UNBEGLEITETER MINDERJÄHRIGER | 121 |
10.1. |
Unterstützung durch geeignete Stellen | 122 |
10.2. |
Übergabe an ein Familienmitglied, einen offiziellen Vormund oder eine geeignete Aufnahmeeinrichtung | 123 |
11. |
EINREISEVERBOTE | 123 |
11.1. |
EU-weite Wirkung | 124 |
11.2. |
Nutzung des SIS II | 125 |
11.3. |
Verfahrensbezogene Aspekte | 125 |
11.4. |
Gründe für die Verhängung von Einreiseverboten | 125 |
11.5. |
Dauer der Einreiseverbote | 126 |
11.6. |
Aufhebung, Verkürzung und Aussetzung von Einreiseverboten | 127 |
11.7. |
Sanktionen bei Nichteinhaltung eines Einreiseverbots | 128 |
11.8. |
Konsultation zwischen den Mitgliedstaaten | 128 |
11.9. |
Einreiseverbote, die vor dem 24.12.2010 verhängt wurden | 129 |
12. |
VERFAHRENSGARANTIEN | 130 |
12.1. |
Recht auf eine gute Verwaltung und auf Anhörung | 130 |
12.2. |
Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr | 131 |
12.3. |
Form der Entscheidungen und Übersetzung | 133 |
12.4. |
Rechtsbehelfe | 134 |
12.5. |
Sprachbeistand und unentgeltlicher Rechtsbeistand | 135 |
13. |
GARANTIEN BIS ZUR RÜCKKEHR | 137 |
13.1. |
Schriftliche Bestätigung | 138 |
13.2. |
Längere Illegalität | 138 |
14. |
INHAFTNAHME | 139 |
14.1. |
Die Inhaftnahme rechtfertigende Umstände | 139 |
14.2. |
Form und erste Überprüfung der Inhaftnahme | 142 |
14.3. |
Regelmäßige Überprüfung der Inhaftnahme | 142 |
14.4. |
Beendigung der Inhaftnahme | 143 |
14.4.1. |
Fehlende hinreichende Aussicht auf Abschiebung | 144 |
14.4.2. |
Erreichen der maximalen Haftdauer | 144 |
14.5. |
Erneute Inhaftnahme von rückzuführenden Personen | 146 |
14.6. |
Anwendung weniger intensiver Zwangsmaßnahmen nach Beendigung der Haft | 146 |
15. |
HAFTBEDINGUNGEN | 146 |
15.1. |
Anfängliche Ingewahrsamnahme | 146 |
15.2. |
Grundsätzliche Nutzung spezieller Einrichtungen | 147 |
15.3. |
Trennung von gewöhnlichen Strafgefangenen | 148 |
15.4. |
Materielle Haftbedingungen | 148 |
16. |
INHAFTNAHME VON MINDERJÄHRIGEN UND FAMILIEN | 153 |
17. |
NOTLAGEN | 155 |
18. |
UMSETZUNG, AUSLEGUNG UND ÜBERGANGSREGELUNGEN | 156 |
19. |
QUELLEN UND REFERENZDOKUMENTE | 157 |
20. |
ABKÜRZUNGEN | 159 |
VORWORT
Das vorliegende Handbuch zum Thema Rückkehr/Rückführung gibt den für die diesbezüglichen Aufgaben zuständigen nationalen Behörden, d. h. der Polizei, den Grenzschutzbehörden und den Einwanderungsbehörden, dem Personal von Hafteinrichtungen und den Aufsichtsorganen, Orientierungshilfen für ihre Tätigkeit.
Es bezieht sich auf die Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger und stützt sich auf die diesbezüglichen Rechtsinstrumente der Union, in erster Linie auf die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (1) („Rückführungsrichtlinie“). Rückkehrverfahren sind in der Praxis häufig mit anderen Arten von Verfahren (Asylverfahren, Grenzkontrollverfahren, Verfahren, die zu einer Einreise- oder Aufenthaltsberechtigung führen) verbunden, die in anderen einschlägigen Rechtsvorschriften der Union und der Mitgliedstaaten geregelt sind. In diesen Fällen sollten die Mitgliedstaaten eine enge Zusammenarbeit zwischen den an diesen Verfahren beteiligten Behörden gewährleisten.
Die erste Fassung des Handbuchs wurde im Oktober 2015 angenommen. (2) Die derzeitige Fassung, die 2017 überarbeitet wurde, stützt sich auf die Empfehlung der Kommission vom 7. März 2017 (3) und enthält zusätzliche Leitlinien, die den nationalen Behörden Aufschluss darüber geben, wie die Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie im Hinblick auf wirksamere Rückkehrsysteme unter uneingeschränkter Achtung der Grundrechte anzuwenden sind.
Neben den entsprechenden Normen und Verfahren ist eine gestraffte und gut integrierte Organisation der Zuständigkeiten auf nationaler Ebene eine unerlässliche Voraussetzung für ein wirksames Rückkehrsystem. Dies bedeutet, dass es möglich sein muss, alle an rückkehrbezogenen Verfahren beteiligten Akteure (wie Strafverfolgungs- und Einwanderungsbehörden, aber auch die Justiz, Kindesschutzbehörden, medizinische und soziale Einrichtungen und das Personal von Hafteinrichtungen) zu mobilisieren und ihre Maßnahmen im Einklang mit ihren Aufgaben und Befugnissen zu koordinieren, um den jeweiligen Rückkehrfall bereichsübergreifend zügig und angemessen bearbeiten zu können. Die nationalen Rückkehrsysteme müssen auf die Unterstützung seitens einer ausreichend großen Zahl ausgebildeter und kompetenter Mitarbeiter zählen, die rasch — erforderlichenfalls rund um die Uhr — mobilisiert werden können, vor allem wenn die Belastung bei der Durchführung von Rückführungen zunimmt, und die im Bedarfsfall an den Außengrenzen der Union eingesetzt werden können, um dem Migrationsdruck mit Sofortmaßnahmen zu begegnen. Daher sollten die Systeme gewährleisten, dass kontinuierlich operative Informationen mit der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache und den Mitgliedstaaten ausgetauscht werden, wobei auf die technische und operative Unterstützung seitens der Agentur in Anspruch zurückgegriffen werden kann.
Damit die Herausforderungen mithilfe der Systeme bewältigt werden können, sollten die Mitgliedstaaten die im Rahmen der Rückführungsrichtlinie mögliche Flexibilität bestmöglich nutzen und ihre Strukturen und Rückführungskapazitäten regelmäßig überprüfen und anpassen, um dem tatsächlichen Bedarf auch künftig wirksam Rechnung zu tragen.
Aus diesem Handbuch ergeben sich keine rechtlich bindenden Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten, und es werden auch keine neuen Rechte und Pflichten festgelegt. Als Grundlage diente weitestgehend die Arbeit der Mitgliedstaaten und der Kommission im Rahmen des Kontaktausschusses „Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG“ in den Jahren 2009-2017. Im Handbuch werden die Ergebnisse der in diesem Forum geführten Diskussionen, die nicht unbedingt einen Konsens unter den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Auslegung der Rechtsakte widerspiegeln, in systematischer, zusammengefasster Form wiedergegeben.
Der erläuternde Teil des Handbuchs wird durch Hinweise zu neuen Aspekten (zum Beispiel neue Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union, internationale Normen) ergänzt. Nur die Rechtsakte, auf denen dieses Handbuch beruht bzw. auf die es sich bezieht, entfalten eine verbindliche Rechtswirkung und können vor einem nationalen Gericht geltend gemacht werden. Eine rechtsverbindliche Auslegung des Unionsrechts kann nur der Gerichtshof der Europäischen Union vornehmen.
1. BEGRIFFSBESTIMMUNGEN
1.1. Drittstaatsangehöriger
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 3 Nummer 1, Schengener Grenzkodex (4) — Artikel 2 Nummer 5
Alle Personen, die nicht Unionsbürger im Sinne von Artikel 17 Absatz 1 EG-Vertrag sind und die nicht das gemäß Unionsrecht bestehende Recht auf freien Personenverkehr nach Artikel 2 Nummer 5 des Schengener Grenzkodexes genießen.
Die folgenden Personengruppen gelten nicht als „Drittstaatsangehörige“:
— |
Personen, die Unionsbürger im Sinne von Artikel 20 Absatz 1 AEUV (früher Artikel 17 Absatz 1 EG-Vertrag) sind = Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaats (5); |
— |
Personen, die die Staatsangehörigkeit eines EWR-Landes/die CH-Staatsangehörigkeit besitzen; |
— |
Familienangehörige von Unionsbürgern, die ihr Recht auf Freizügigkeit gemäß Artikel 21 AEUV oder der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (6) wahrnehmen; |
— |
Familienangehörige von EWR-/CH-Bürgern, die das gleiche Recht auf Freizügigkeit genießen wie Unionsbürger. |
Alle anderen Personen (Staatenlose eingeschlossen) (7) sind als „Drittstaatsangehörige“ anzusehen.
Weitere Klarstellung:
— |
Familienangehörige von EU-/EWR-/CH-Bürgern, die ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, ein Recht auf Einreise und auf Aufenthalt mit dem Unionsbürger im Aufnahmestaat genießen, sind:
Zusätzlich zu den unter den Buchstaben a bis c genannten Personengruppen können andere Familienmitglieder unter bestimmten Umständen ebenfalls in den Genuss des Freizügigkeitsrechts nach dem Unionsrecht kommen, insbesondere wenn ihnen das Einreise- und Aufenthaltsrecht gemäß den nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung von Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG gewährt wurde. |
— |
Drittstaatsangehörige, deren Anspruch auf Anerkennung als Familienangehörige von Unionsbürgern, die gemäß Artikel 21 AEUV oder der Richtlinie 2004/38/EG das Unionsrecht auf Freizügigkeit genießen, von einen Mitgliedstaat abgelehnt wurde, können als Drittstaatsangehörige angesehen werden. Diese Personen können daher der Rückführungsrichtlinie unterliegen, und es sind die darin vorgesehenen Mindestnormen, Verfahren und Rechte anzuwenden. Im Hinblick auf einen möglichen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, mit der die Anwendbarkeit der Richtlinie 2004/38/EG abgelehnt wurde, vertritt die Kommission die Auffassung, dass für die Personen auch weiterhin — als günstigere Bestimmung im Sinne des Artikels 4 der Rückführungsrichtlinie — die Verfahrensgarantien nach Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG gelten (beispielsweise in Bezug auf die Mitteilung und Begründung von Entscheidungen, die Frist zum freiwilligen Verlassen des Hoheitsgebiets und das Einlegen von Rechtsbehelfen). |
1.2. Illegaler Aufenthalt
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 3 Nummer 2, Schengener Grenzkodex — Artikel 6
Die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodexes oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats.
Diese sehr weit gefasste Begriffsbestimmung schließt alle Drittstaatsangehörigen ein, die nicht im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung für einen Mitgliedstaat sind. Jeder Drittstaatsangehörige, der sich physisch im Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedstaats aufhält, befindet sich dort entweder legal oder illegal. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.
Juristische Fiktionen nach nationalem Recht, wonach Personen, die sich physisch in speziell benannten Teilen des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats (zum Beispiel in Transitbereichen oder bestimmten Grenzgebieten) aufhalten, als „nicht im Hoheitsgebiet aufhältig“ angesehen werden, sind in diesem Zusammenhang nicht relevant, da andernfalls die einheitliche Anwendung der EU-Rechtsvorschriften im Bereich der Rückkehr/Rückführung gefährdet würde. Allerdings können die Mitgliedstaaten beschließen, einige dieser Bestimmungen nicht auf diese Personengruppe anzuwenden (siehe Abschnitt 2).
Nach der 2016 erfolgten Kodifizierung des Schengener Grenzkodexes (SGK) gilt die Bezugnahme auf Artikel 5 SGK in Artikel 3 Nummer 2 der Rückführungsrichtlinie als Bezugnahme auf den derzeitigen Artikel 6 SGK.
Die folgenden Kategorien von Drittstaatsangehörigen beispielsweise gelten als in dem betreffenden Mitgliedstaat illegal aufhältig:
— |
Inhaber eines abgelaufenen Aufenthaltstitels oder Visums; |
— |
Inhaber eines entzogenen Aufenthaltstitels oder Visums; |
— |
abgelehnte Asylbewerber; |
— |
Asylbewerber, deren Aufenthaltsrecht als Asylbewerber durch eine entsprechende Entscheidung beendet wird; |
— |
Personen, denen an der Grenze die Einreise verweigert wurde; |
— |
Personen, die im Zusammenhang mit einem irregulären Grenzübertritt aufgegriffen wurden; |
— |
irreguläre Migranten, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufgegriffen wurden; |
— |
Personen, die aufgegriffen wurden, als sie durch das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats durchreisen, um ohne entsprechende Berechtigung in einen anderen Mitgliedstaat zu gelangen; |
— |
Personen ohne Aufenthaltsberechtigung für den Mitgliedstaat, in dem sie aufgegriffen wurden (auch wenn sie eine Aufenthaltsberechtigung für einen anderen Mitgliedstaat besitzen); |
— |
Personen, die sich während der Frist für die freiwillige Ausreise im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten; |
— |
Personen, deren Abschiebung aufgeschoben wurde. |
Die folgenden Personengruppen gelten nicht als illegal aufhältig, da sie eine Aufenthaltsberechtigung für den betreffenden Mitgliedstaat haben (die befristet sein kann):
— |
Asylbewerber, die sich in dem Mitgliedstaat aufhalten, in dem sie bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens aufenthaltsberechtigt sind; |
— |
Staatenlose, die sich in dem Mitgliedstaat aufhalten, in dem sie nach nationalem Recht während eines Verfahrens zur Feststellung der Staatenlosigkeit aufenthaltsberechtigt sind; |
— |
Personen, die sich in dem Mitgliedstaat aufhalten, in dem sie eine formelle Duldung genießen (sofern dieser Status nach nationalem Recht als „legaler Aufenthalt“ angesehen wird); |
— |
Inhaber eines in betrügerischer Weise erlangten Aufenthaltstitels, solange dieser nicht aufgehoben oder entzogen wurde und weiterhin als gültiger Titel angesehen wird. |
Weitere Klarstellung:
— |
Personen mit einem anhängigen Antrag auf einen Aufenthaltstitel können je nachdem, ob sie über ein gültiges Visum oder eine andere Aufenthaltsberechtigung verfügen oder nicht, legal oder illegal aufhältig sein. |
— |
Voraussetzung für die Illegalität eines Aufenthalts ist weder eine Mindestdauer der Anwesenheit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats noch die Absicht des Drittstaatsangehörigen zum illegalen Verbleib in diesem Hoheitsgebiet — siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-47/15, Affum (8) (Rn. 48). |
— |
Personen mit einem Antrag auf Verlängerung eines bereits abgelaufenen Aufenthaltstitels sind illegal aufhältig, sofern das nationale Recht des Mitgliedstaats nichts anderes vorsieht (siehe auch Abschnitt 5.7). |
— |
Drittstaatsangehörige, auf die das Rückkehrverfahren gemäß der Rückführungsrichtlinie angewandt wurde und die sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für ihre Nichtrückkehr illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten (Verweis auf diesen Fall unter Rn. 48 des Urteils des EuGH in der Rechtssache C-329/11, Achughbabian (9)) sind illegal aufhältig. Der spezielle Verweis des EuGH im Urteil in der Rechtssache Achughbabian bezieht sich ausschließlich auf die Vereinbarkeit von nationalen Maßnahmen strafrechtlicher Art mit der Rückführungsrichtlinie. Das Urteil enthält keine Feststellungen zum Anwendungsbereich und zur Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie. Daher gilt weiterhin die allgemeine Regelung nach Artikel 2 Absatz 1, wonach eine Person entweder illegal aufhältig ist und die Rückführungsrichtlinie Anwendung findet oder die Person eine Aufenthaltsberechtigung hat und die Rückführungsrichtlinie keine Anwendung findet. |
1.3. Rückkehr/Rückführung
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 3 Nummer 3
Die Rückreise von Drittstaatsangehörigen — in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung — in
1. |
deren Herkunftsland oder |
2. |
ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder |
3. |
ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird. |
Diese Begriffsbestimmung enthält Beschränkungen in Bezug auf die Frage, was im Sinne der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie als „Rückkehr“ akzeptiert werden kann und was nicht. Die Überstellung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen in einen anderen Mitgliedstaat kann nach Unionsrecht nicht als „Rückkehr“ gelten. Im Rahmen von bilateralen Rückübernahmeabkommen oder der Dublin-Bestimmungen allerdings ist eine solche Vorgehensweise in Ausnahmefällen möglich, die daher, so wird empfohlen, nicht als „Rückkehr“ bezeichnet werden sollte, sondern als „Überstellung“.
Die Begriffsbestimmung impliziert auch, dass Mitgliedstaaten die Rückführung in ein Drittland nur unter den Umständen durchführen dürfen, die in einem der drei Unterpunkte erschöpfend aufgelistet sind. Daher ist es beispielsweise nicht möglich, einen Rückzuführenden ohne dessen Zustimmung in ein Drittland zu schicken, das weder das Herkunftsland noch das Transitland ist.
Weitere Klarstellung:
— |
Das „Herkunftsland“ im ersten Gedankenstrich bezieht sich auf das Land, dessen Staatsangehörigkeit der Drittstaatsangehörige besitzt; bei einem Staatenlosen ist dies in der Regel das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts. |
— |
Als „Transitland“ im zweiten Gedankenstrich kommt nur ein Drittland und nicht ein EU-Mitgliedstaat in Betracht. |
— |
„Gemeinschaftliche oder bilaterale Rückübernahmeabkommen oder andere Vereinbarungen“ im zweiten Gedankenstrich beziehen sich ausschließlich auf Vereinbarungen mit Drittländern. Bilaterale Rückübernahmeabkommen zwischen Mitgliedstaaten sind in diesem Zusammenhang nicht relevant, können jedoch in bestimmten Fällen die Überstellung von irregulären Migranten in andere Mitgliedstaaten gemäß Artikel 6 Absatz 3 der Rückführungsrichtlinie ermöglichen (siehe Abschnitt 5.5). |
— |
Die Formulierung „freiwillig zurückkehren will“ im dritten Gedankenstrich ist nicht gleichbedeutend mit freiwilliger Ausreise. In diesem Zusammenhang bezieht sich „freiwillig“ auf die Wahl des Ziellandes durch den Rückkehrer. Eine solche freiwillige Wahl des Ziellandes kann auch in Vorbereitung einer Abschiebung erfolgen, wenn beispielsweise der Rückzuführende statt des Transit- oder Herkunftslands ein anderes Drittland als Zielland bevorzugt. |
— |
Bestimmung des Rückkehrlandes im Falle der Abschiebung: Wird eine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt, so muss der Rückzuführende dafür sorgen, dass er der Rückkehrverpflichtung innerhalb der dafür festgesetzten Frist nachkommt, doch ist eine Bestimmung des Rückkehrlandes grundsätzlich nicht notwendig. Nur wenn die Mitgliedstaaten Zwangsmaßnahmen (Abschiebung) anwenden müssen, muss bestimmt werden, in welches Drittland die Person abgeschoben wird (siehe Abschnitt 1.5). |
1.4. Rückkehrentscheidung
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 3 Nummer 4 und Artikel 6 Absatz 6
Die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.
Bei der Bestimmung des Begriffs „Rückkehrentscheidung“ liegt der Fokus auf zwei wesentlichen Elementen, die Bestandteil einer solchen Entscheidung sein müssen, nämlich
1. |
Feststellung der Rechtswidrigkeit des Aufenthalts und |
2. |
Auferlegung einer Rückkehrverpflichtung. |
Eine Rückkehrentscheidung kann darüber hinaus noch weitere Elemente enthalten, wie etwa ein Einreiseverbot, eine Frist für die freiwillige Ausreise und die Bestimmung des Rückkehrlandes. Wenn das Rückkehrland nicht angegeben ist, haben die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung im Einklang mit Artikel 5 der Rückführungsrichtlinie eingehalten wird.
Die Mitgliedstaaten verfügen hinsichtlich der Form, in der Rückkehrentscheidungen angenommen werden können (richterliche oder behördliche Entscheidung oder Maßnahme), über einen breiten Ermessensspielraum.
Rückkehrentscheidungen können als eigenständige Entscheidungen oder Maßnahmen erlassen werden oder aber zusammen mit anderen Entscheidungen wie einer Abschiebungsanordnung oder einer Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts (siehe Abschnitt 12.1).
Mit einer Rückkehrentscheidung wird zum einen die Rechtswidrigkeit des Aufenthalts in dem Mitgliedstaat festgestellt, der die Entscheidung erlässt, zum anderen die Verpflichtung zur Ausreise aus den Hoheitsgebieten der EU-Mitgliedstaaten und der assoziierten Schengen-Länder. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Artikel 11 Rückkehrentscheidungen mit Einreiseverboten einhergehen können, die EU-weit wirksam sind (bindend für alle Staaten, die durch die Rückführungsrichtlinie gebunden sind).
Weitere Klarstellung:
— |
Die flexible Auslegung des Begriffs „Rückkehrentscheidung“ schließt nicht aus, dass die Entscheidung über die Auferlegung der Rückkehrverpflichtung in Form eines Strafurteils und im Rahmen von Strafverfahren getroffen wird — siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-430/11, Sagor (10) (Rn. 39). |
1.5. Abschiebungsanordnung
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 3 Nummer 5 und Artikel 8 Absatz 3
Behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme zur Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. zur tatsächlichen Verbringung aus dem Mitgliedstaat.
Eine Abschiebungsanordnung kann entweder zusammen mit einer Rückkehrentscheidung (einstufiges Verfahren) oder getrennt (zweistufiges Verfahren) erlassen werden. Es muss darauf hingewiesen werden, dass bei Anwendung des einstufigen Verfahrens im Falle der Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise die Abschiebung nur dann erfolgt, wenn der Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen wird.
In Anbetracht der Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung darf die Abschiebung (die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat) nicht mit unbestimmtem Ziel erfolgen, sondern nur in ein benanntes Rückkehrland. Der Rückzuführende muss vorab über das Zielland der Abschiebung in Kenntnis gesetzt werden, sodass er etwaige Gründe für die Annahme, dass die Abschiebung in das vorgesehene Zielland gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstößt, vorbringen und vom Recht auf einen Rechtsbehelf Gebrauch machen kann. Die Kommission empfiehlt, dass das Rückkehrland entweder in der separaten Abschiebungsanordnung (zweistufiges Verfahren) genannt wird oder in der kombinierten Rückkehr- und Abschiebungsentscheidung (einstufiges Verfahren) angegeben wird, in welches Land im Falle der Nichterfüllung der Rückkehrverpflichtung die Abschiebung erfolgt, oder der Drittstaatsangehörige durch eine andere Entscheidung oder Maßnahme informiert wird.
1.6. Fluchtgefahr
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 3 Nummer 7, Erwägungsgrund 6
Das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich Drittstaatsangehörige einem Rückkehrverfahren durch Flucht entziehen könnten.
Das Vorhandensein (oder Nichtvorhandensein) einer „Fluchtgefahr“ entscheidet maßgeblich darüber, ob eine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt wird und ob eine Inhaftnahme notwendig ist.
Bei der Bewertung der Fluchtgefahr müssen sich die Mitgliedstaaten auf objektive Kriterien des nationalen Rechts stützen. Das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-528/15, Al Chodor (11), in Bezug auf die Definition des Begriffs „Fluchtgefahr“ in Artikel 2 Buchstabe n (12) der Dublin-Verordnung, dessen Wortlaut im Wesentlichen mit der Begriffsbestimmung in Artikel 3 Nummer 7 der Rückführungsrichtlinie identisch ist, bestätigt dies indirekt. In diesem Urteil hat der EuGH festgestellt, dass diese objektiven Kriterien in zwingenden Vorschriften mit allgemeiner Geltung festzulegen sind und eine gefestigte nationale Rechtsprechung, mit der eine ständige Praxis bestätigt wird, nicht genügt. Außerdem kam der EuGH zu dem Schluss, dass die Inhaftnahme für rechtswidrig zu erklären ist, wenn solche Kriterien nicht in zwingenden Vorschriften mit allgemeiner Geltung enthalten sind.
Auch wenn die Mitgliedstaaten bei der Festlegung dieser Kriterien über einen weiten Ermessensspielraum verfügen, sollten sie folgende Kriterien als Anhaltspunkte für die Fluchtgefahr eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen gebührend berücksichtigen:
— |
fehlende Ausweispapiere; |
— |
kein nachweisbarer oder kein fester Wohnsitz oder keine zuverlässige Anschrift; |
— |
Verstoß gegen die Meldepflicht bei den zuständigen Behörden; |
— |
ausdrückliche Erklärung, sich nicht an rückkehrbezogene Maßnahmen (wie eine Rückkehrentscheidung oder Maßnahmen zur Verhinderung der Flucht) halten zu wollen; |
— |
Verurteilung wegen einer Straftat, auch wegen einer schweren Straftat in einem anderen Mitgliedstaat (13); |
— |
laufende strafrechtliche Ermittlungen und Verfahren; |
— |
Verstoß gegen eine Rückkehrentscheidung, einschließlich einer Verpflichtung zur Rückkehr innerhalb der Frist für die freiwillige Ausreise; |
— |
früheres Verhalten (d. h. Flucht); |
— |
unzureichende Finanzmittel; |
— |
in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Rückkehrentscheidung; |
— |
Verstoß gegen die Verpflichtung, sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, der ihnen einen gültigen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung erteilt hat; |
— |
illegale Einreise in das Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedstaats oder assoziierten Schengen-Landes. |
In den nationalen Rechtsvorschriften können weitere objektive Kriterien zur Ermittlung des Bestehens von Fluchtgefahr festgelegt werden.
Im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, müssen alle Entscheidungen nach Maßgabe der Rückführungsrichtlinie auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung getroffen werden. Die vorstehend aufgelisteten Kriterien sollten in jeder Phase des Rückkehrverfahrens im Rahmen der allgemeinen Bewertung der individuellen Situation herangezogen werden. Sie dürfen jedoch nicht die einzige Grundlage dafür bilden, dass automatisch von Fluchtgefahr ausgegangen wird, denn häufig führt eine Kombination aus mehreren der oben genannten Kriterien zu der Schlussfolgerung, dass Fluchtgefahr besteht. Jede automatische Schlussfolgerung, zum Beispiel dass eine illegale Einreise oder das Fehlen von Ausweispapieren auf Fluchtgefahr schließen lässt, ist zu vermeiden. Bei der Einzelfallprüfung müssen alle relevanten Faktoren berücksichtigt werden, darunter das Alter, der Gesundheitszustand und die sozialen Umstände der betreffenden Person, die sich möglicherweise unmittelbar darauf auswirken, dass der Drittstaatsangehörige fliehen könnte, und die in bestimmten Fällen durchaus zu der Schlussfolgerung führen können, dass keine Fluchtgefahr besteht, obwohl mindestens eines der im nationalen Recht festgelegten Kriterien erfüllt ist.
Zusätzlich zu den oben genannten Kriterien, die möglicherweise auf das Bestehen von Fluchtgefahr schließen lassen, und unbeschadet des Rechts des betreffenden Drittstaatsangehörigen auf Anhörung und seines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, können in den nationalen Rechtsvorschriften auch bestimmte, im Folgenden beispielhaft aufgeführte objektive Umstände als widerlegbare Annahme des Bestehens von Fluchtgefahr festgelegt werden (d. h. der Drittstaatsangehörige muss widerlegen, dass eine solche Gefahr trotz des Vorliegens dieser Umstände nicht besteht).
— |
Verweigerung der Kooperation bei der Identitätsfeststellung, Verwendung falscher oder gefälschter Ausweisdokumente, Vernichtung oder anderweitige Beseitigung vorhandener Dokumente oder Verweigerung der Abgabe von Fingerabdrücken; |
— |
gewaltsame oder betrügerische Widersetzung gegen die Rückführung; |
— |
Nichterfüllung einer zur Fluchtverhinderung verhängten Auflage (siehe Abschnitt 6.2); |
— |
Verstoß gegen ein bestehendes Einreiseverbot; |
— |
unerlaubte Sekundärmigration in einen anderen Mitgliedstaat. |
Die Kommission schlägt vor, solche widerlegbaren Annahmen in die nationalen Rechtsvorschriften aufzunehmen.
1.7. Freiwillige Ausreise
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 3 Nummer 8
Die Erfüllung der Rückkehrverpflichtung innerhalb der dafür in der Rückkehrentscheidung festgesetzten Frist.
„Freiwillige Ausreise“ gemäß den Rechtsvorschriften der Union im Bereich der Rückkehr/Rückführung bedeutet die freiwillige Erfüllung der Verpflichtung zur Rückkehr in ein Drittland. Nicht eingeschlossen sind Fälle, in denen legal aufhältige Drittstaatsangehörige von sich aus beschließen, in ihr Heimatland zurückzukehren. Eine solche „wirklich“ freiwillige Rückkehr (Szenario 1 in der nachstehenden Abbildung) fällt nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie, da sie legal aufhältige Drittstaatsangehörige betrifft. Die Ausreise von illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, die noch nicht entdeckt oder aufgegriffen wurden (zum Beispiel Personen, die die zulässige Aufenthaltsdauer überschritten haben), kann als „freiwillige Ausreise“ gemäß der Definition gelten. Für diese Personen besteht bereits eine „abstrakte“ Rückkehrverpflichtung nach der Rückführungsrichtlinie, und gegen sie dürften eine Rückkehrentscheidung sowie ein Einreiseverbot erlassen werden, sobald die Behörden von ihrem illegalen Aufenthalt Kenntnis erlangen (spätestens bei der Ausreisekontrolle — siehe Abschnitte 5.1 und 11.3).
Die Rückführungsrichtlinie findet nur auf die Szenarien 2 und 3 Anwendung:
1. FREIWILLIGE RÜCKKEHR: freiwillige Rückkehr von legal aufhältigen Drittstaatsangehörigen
2. FREIWILLIGE AUSREISE: freiwillige Erfüllung der Rückkehrverpflichtung durch illegal aufhältige Drittstaatsangehörige
3. ABSCHIEBUNG: erzwungene Erfüllung der Rückkehrverpflichtung durch illegal aufhältige Drittstaatsangehörige
2 + 3 = „Rückkehr“ (im Sinne von Artikel 3 Nummer 3 Rückführungsrichtlinie)
Begeben sich Personen gemäß Artikel 6 Absatz 2 (siehe Abschnitt 5.4) vom nationalen Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats, kann dies nicht als freiwillige Ausreise angesehen werden. Definitionsgemäß erfordert eine „freiwillige Ausreise“ stets die Ausreise in ein Drittland. Spezifische Regelungen zur Durchbeförderung auf dem Landweg durch Hoheitsgebiete anderer Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit einer freiwilligen Ausreise sind im Abschnitt 6.4 dargelegt.
1.8. Schutzbedürftige Personen
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 3 Nummer 9
Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen, Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben.
Anders als bei der im Asylrecht verwendeten Definition (siehe beispielsweise Artikel 21 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (14) („Richtinie über die Aufnahmebedingungen“) oder Artikel 20 Absatz 3 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (15) („Anerkennungsrichtlinie“)) wird die Definition von schutzbedürftigen Personen in der Rückführungsrichtlinie als erschöpfend angesehen.
Die Notwendigkeit, der Situation von schutzbedürftigen Personen und ihren besonderen Bedürfnissen im Zusammenhang mit der Rückkehr besondere Aufmerksamkeit zu widmen, ist jedoch nicht auf die in Artikel 3 Nummer 9 ausdrücklich aufgeführten Kategorien von schutzbedürftigen Personen beschränkt. Die Kommission empfiehlt den Mitgliedstaaten, auch andere Fälle besonderer Schutzbedürftigkeit, wie sie im Asylrecht aufgeführt sind, zu berücksichtigen. Das betrifft Opfer von Menschenhandel oder weiblicher Genitalverstümmelung wie auch Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen oder psychischen Störungen.
Die Notwendigkeit, besonderes Augenmerk auf die Lage schutzbedürftiger Personen zu richten, darf nicht auf die in der Rückführungsrichtlinie genannten Situationen (während der Frist für die freiwillige Ausreise, im Zeitraum der aufgeschobenen Rückführung und während der Inhaftnahme) beschränkt werden. Daher empfiehlt die Kommission den Mitgliedstaaten, im Rahmen der Prüfung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls den Bedürfnissen schutzbedürftiger Personen in allen Phasen des Rückkehrverfahrens mit der gebotenen Aufmerksamkeit zu begegnen.
2. ANWENDUNGSBEREICH
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 2 und Artikel 4 Absatz 4
Die Rückführungsrichtlinie hat einen breiten Anwendungsbereich und gilt für alle Drittstaatsangehörigen, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten. Derzeit sind die folgenden Mitgliedstaaten durch die Rückführungsrichtlinie gebunden:
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alle EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs und Irlands; |
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die Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein. |
Die Mitgliedstaaten können beschließen, die Richtlinie nicht auf bestimmte Kategorien von Drittstaatsangehörigen anzuwenden:
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„Grenzfälle“ gemäß Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a der Rückführungsrichtlinie (siehe Abschnitt 2.1) und |
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„Strafrechtsfälle“ gemäß Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b der Rückführungsrichtlinie (siehe Abschnitt 2.2). |
Beschließt ein Mitgliedstaat, von der Ausnahmeregelung Gebrauch zu machen und die Richtlinie in „Grenzfällen“ oder „Strafrechtsfällen“ nicht anzuwenden, muss dies im Voraus in den nationalen Umsetzungsvorschriften (16) eindeutig festgelegt werden, da der Beschluss andernfalls keine Rechtswirkung entfaltet. Es bestehen keine besonderen formellen Anforderungen an die Bekanntgabe eines solchen Beschlusses. Allerdings muss aus den nationalen Rechtsvorschriften — explizit oder implizit — klar hervorgehen, ob und in welchem Umfang ein Mitgliedstaat die Ausnahmeregelung anwendet.
Wenn ein Mitgliedstaat seinen Beschluss, die Ausnahmeregelungen gemäß Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a oder b der Rückführungsrichtlinie anzuwenden, nicht im Voraus bekannt gemacht hat, können diese Bestimmungen nicht später in einzelnen Fällen als Begründung für die Nichtanwendung der Rückführungsrichtlinie herangezogen werden.
Nichts hindert die Mitgliedstaaten an einer Beschränkung der Ausnahmeregelung von Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a oder b der Rückführungsrichtlinie auf bestimmte Personengruppen (zum Beispiel nur Personen, die einem Einreiseverbot an Luft- oder Seegrenzen unterliegen), sofern dies in den nationalen Umsetzungsvorschriften klargestellt wird.
Die Mitgliedstaaten können beschließen, die Ausnahmeregelung in einer späteren Phase nach der ersten Umsetzung der Rückführungsrichtlinie in nationales Recht anzuwenden. Das darf jedoch keine nachteiligen Folgen für die Personen haben, auf die die Wirkungen der Richtlinie bereits anwendbar waren (siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-297/12, Filev and Osmani (17): „Sofern … ein Mitgliedstaat … von dieser Möglichkeit noch keinen Gebrauch gemacht hat, … kann er sich nicht auf das Recht berufen, den persönlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie gemäß ihrem Art. 2 Abs. 2 Buchst. b gegenüber Personen einzuschränken, auf die die Wirkungen der Richtlinie bereits anwendbar waren.“)
2.1. „Grenzfälle“ – Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a
Für Personen, denen die Einreise verweigert wurde und die sich in einer Transitzone oder in einem Grenzgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, gelten häufig besondere Regelungen: Aufgrund einer „juristischen Fiktion“ werden diese Personen zuweilen nicht als „im Hoheitsgebiet des (betreffenden) Mitgliedstaats aufhältig“ angesehen, und es finden bestimmte Regelungen Anwendung. In der Rückführungsrichtlinie wird dieser Ansatz nicht zugrunde gelegt, und es wird davon ausgegangen, dass jeder Drittstaatsangehörige, der sich physisch im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, in ihren Anwendungsbereich fällt.
Es bleibt jedoch den Mitgliedstaaten überlassen zu beschließen, die Richtlinie nicht auf „Grenzfälle“ anzuwenden, die definiert werden als Drittstaatsangehörige,
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die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 des Schengener Grenzkodexes (18) unterliegen oder |
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die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land-, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen wurden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten. |
Die Inanspruchnahme dieser Ausnahmeregelung kann beispielsweise zweckmäßig sein, wenn Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen einem erheblichen Migrationsdruck ausgesetzt sind und dadurch wirksamere Verfahren gewährleistet werden können. In solchen Fällen empfiehlt die Kommission, von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch zu machen.
Nationale Verfahren für „Grenzfälle“ müssen den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts und den Grundrechten der betroffenen Drittstaatsangehörigen sowie den Garantien nach Artikel 4 Absatz 4 der Rückführungsrichtlinie Rechnung tragen (siehe Abschnitt 2.2).
Weitere Klarstellung:
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Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a setzt einen unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zum Überschreiten der Außengrenze voraus. Er betrifft somit Drittstaatsangehörige, die von den zuständigen Behörden zum Zeitpunkt des illegalen Überschreitens der Außengrenze selbst oder nach dem Übertritt in der Nähe dieser Grenze aufgegriffen oder abgefangen worden sind — siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-47/15, Affum (Rn. 72). |
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Die folgenden Personengruppen beispielsweise gelten als „ von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze … aufgegriffen bzw. abgefangen “, da noch ein UNMITTELBARER Zusammenhang zu dem illegalen Grenzübertritt besteht:
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Die folgenden Personengruppen gelten nicht als „ von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze … aufgegriffen bzw. abgefangen “, da kein UNMITTELBARER Zusammenhang mehr zu dem illegalen Grenzübertritt besteht:
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Praktische Beispiele für Fälle, auf die die Klausel „ und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten “ zutrifft und für die die Ausnahmeregelung nicht gilt:
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Form, Inhalt und Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen in Bezug auf Drittstaatsangehörige, die gemäß Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a vom Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie ausgenommen sind, unterliegen dem nationalen Recht. |
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Einreiseverweigerungen gemäß Artikel 14 SGK betreffen alle, die nicht die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 6 Absatz 1 SGK erfüllen. |
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Personen, denen die Einreise im Transitbereich eines Flughafens oder an einer Grenzübergangsstelle im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verweigert wird, fallen in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie (da sie sich physisch bereits im Hoheitsgebiet aufhalten). Allerdings können die Mitgliedstaaten von der Ausnahmeregelung nach Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a Gebrauch machen, wonach es ihnen möglich ist zu beschließen, die Richtlinie nicht auf diese Fälle anzuwenden. |
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Die in Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a festgelegten Ausnahmen sind für „Grenzfälle“ nur dann anwendbar, wenn der Aufgriff an einer Außengrenze und nicht an einer Binnengrenze erfolgt — siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-47/15, Affum. |
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Durch die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen werden Binnengrenzen nicht wieder zu Außengrenzen. Dieser Umstand berührt also nicht den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie. |
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„Grenzfälle“ und ähnlich gelagerte Fälle, die nach Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a der Richtlinie von deren Anwendungsbereich ausgenommen werden können, sind nicht mit den in Artikel 12 Absatz 3 der Richtlinie genannten Fällen gleichzusetzen (vereinfachtes Verfahren im Falle der illegalen Einreise): Illegale Einreise (gemäß Artikel 12 Absatz 3) ist nicht gleichbedeutend mit den in Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a der Rückführungsrichtlinie beschriebenen „Grenzfällen“ und ähnlich gelagerten Fällen. Beispiel: Ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, der drei Monate nach seiner illegalen Einreise im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufgegriffen wird, fällt nicht unter Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a der Rückführungsrichtlinie, möglicherweise jedoch unter Artikel 12 Absatz 3 dieser Richtlinie. |
2.2. Besondere Garantien für „Grenzfälle“
Beschließt ein Mitgliedstaat, die Richtlinie nicht auf „Grenzfälle“ anzuwenden, muss er dennoch den Grundsatz der Nichtzurückweisung einhalten und — gemäß Artikel 4 Absatz 4 der Rückführungsrichtlinie — sicherstellen, dass den betroffenen Personen nicht ein geringeres Maß an Schutz gewährt wird, als dies in den Artikeln der Richtlinie zu den folgenden Aspekten vorgesehen ist:
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Beschränkung der Anwendung von Zwangsmaßnahmen; |
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Aufschub der Abschiebung; |
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medizinische Notversorgung, erforderliche Behandlung von Krankheiten und Berücksichtigung der Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen und |
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Haftbedingungen. |
Außerdem sei besonders darauf hingewiesen, dass die Garantien gemäß den Asylvorschriften der Union (insbesondere Zugang zum Asylverfahren) durch den Beschluss der Mitgliedstaaten, die Rückführungsrichtlinie nicht auf „Grenzfälle“ anzuwenden, in keiner Weise außer Kraft gesetzt werden. Aus dem Asylrecht der Union ergeben sich für die Mitgliedstaaten die folgenden wesentlichen Verpflichtungen:
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Bereitstellung von Informationen für Drittstaatsangehörige, die unter Umständen einen Antrag auf internationalen Schutz stellen möchten, zu den diesbezüglichen Möglichkeiten; |
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Sicherstellung, dass der Grenzschutz und andere zuständige Behörden über die einschlägigen Informationen verfügen, das Personal für das Erkennen von Antragstellern ausreichend geschult sowie angewiesen ist, die Antragsteller darüber zu informieren, wo und wie Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden können; |
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Treffen von Sprachmittlungsvorkehrungen, soweit dies notwendig ist, um die Inanspruchnahme des Verfahrens zu erleichtern; |
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Sicherstellung, dass Organisationen und Personen, die Beratungsleistungen erbringen, effektiven Zugang zu Antragstellern an Grenzübergangsstellen an den Außengrenzen, einschließlich Transitzonen, erhalten. |
Weitere Klarstellung:
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Praktische Anwendung dieser Bestimmung im Falle der Einreiseverweigerung an der Grenze: Es bestehen zwei Möglichkeiten. Entweder hält sich die Person nach Einreiseverweigerung an der Grenze physisch im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats auf (zum Beispiel im Transitbereich eines Flughafens) oder sie hält sich nicht physisch im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats auf (zum Beispiel wenn ihr die Einreise an einer Landgrenze verweigert wird und sie sich noch im Hoheitsgebiet des Drittlandes befindet). Im ersten Fall werden die Garantien nach Artikel 4 Absatz 4 der Rückführungsrichtlinie angewandt; im zweiten Fall findet Artikel 4 Absatz 4 keine Anwendung. |
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Die in Artikel 4 Absatz 4 Buchstabe b der Rückführungsrichtlinie anerkannte — und in Artikel 19 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta — GRC) sowie in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankerte — Achtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung hat absoluten Charakter und darf unter keinen Umständen beschränkt werden, selbst wenn von Ausländern eine Gefahr für die öffentliche Ordnung ausgeht oder wenn sie eine besonders schwere Straftat begangen haben. Solche Personen können von der Anerkennung als Flüchtling oder der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, nicht jedoch an einen Ort rückgeführt werden, an dem sie möglicherweise gefoltert oder getötet werden. |
2.3. Strafrechts- und Auslieferungsfälle
Die Mitgliedstaaten können beschließen, die Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden,
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die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind, |
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die nach einzelstaatlichem Recht infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder |
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gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist. |
Weitere Klarstellung:
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Mit dieser Bestimmung werden die Strafrechtsfälle erfasst, die in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten normalerweise einen Straftatbestand erfüllen.
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Auslieferungsverfahren stehen nicht unbedingt mit Rückkehrverfahren in Zusammenhang. Im Europäischen Auslieferungsübereinkommen von 1957 (19) wird die Auslieferung darauf begrenzt, „die Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates wegen einer strafbaren Handlung verfolgt oder zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Maßregel der Sicherung und Besserung gesucht werden“. Es kann jedoch Überschneidungen geben, und mit dieser Ausnahmeregelung soll eindeutig festgelegt werden, dass es den Mitgliedstaaten freigestellt ist, bei Rückführungen im Rahmen von Auslieferungsverfahren die in der Rückführungsrichtlinie enthaltenen Verfahrensgarantien nicht anzuwenden. |
3. GÜNSTIGERE BESTIMMUNGEN
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 4
Obwohl mit der Rückführungsrichtlinie eine Harmonisierung der Rückkehrverfahren in den Mitgliedstaaten erreicht werden soll, bleiben günstigere Bestimmungen in bilateralen oder multilateralen internationalen Vereinbarungen von ihr ausdrücklich unberührt (Artikel 4 Absatz 1).
Ebenso unberührt bleiben „jede im gemeinschaftlichen Besitzstand auf dem Gebiet Asyl und Einwanderung festgelegte Bestimmung, die für Drittstaatsangehörige günstiger sein kann“ (Artikel 4 Absatz 2), sowie „das Recht der Mitgliedstaaten, Vorschriften zu erlassen oder beizubehalten, die für Personen, auf die die Richtlinie Anwendung findet, günstiger sind, sofern diese Vorschriften mit der Richtlinie im Einklang stehen“ (Artikel 4 Absatz 3).
Weitere Klarstellung:
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Da die Rückführungsrichtlinie darauf abzielt, gemeinsame Mindestnormen für die Achtung der Grundrechte des Einzelnen bei Rückkehrverfahren festzulegen, muss „günstiger“ stets als günstiger für die rückzuführende Person und nicht als günstiger für den ausweisenden/rückführenden Staat ausgelegt werden. |
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Den Mitgliedstaaten steht es nicht frei, in den von der Rückführungsrichtlinie geregelten Bereichen strengere Normen anzuwenden. Siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-61/11, El Dridi (20) (Rn. 33): „… Richtlinie 2008/115/EG … gestattet es den Mitgliedstaaten jedoch nicht, in dem von ihr geregelten Bereich strengere Normen anzuwenden“. |
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Verhängung einer Geldbuße statt Erlass einer Rückkehrentscheidung: Nach der Rückführungsrichtlinie ist es nicht möglich, einen Mechanismus festzulegen, wonach im Fall eines illegalen Aufenthalts von Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats je nach den Umständen eine Geldbuße verhängt oder die Ausweisung angeordnet wird, da die beiden Maßnahmen einander ausschließen (siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-38/14, Zaizoune (21)). |
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Die Anwendung von Teilen der Rückführungsrichtlinie auf Personen, die nach Artikel 2 Absatz 2 Buchstaben a und b von ihrem Anwendungsbereich ausgenommen sind, ist mit der Richtlinie vereinbar und kann als durch Artikel 4 Absatz 3 abgedeckt gelten, da eine solche Praxis für den betreffenden Drittstaatsangehörigen günstiger wäre. |
4. SANKTIONEN BEI VERSTÖSSEN GEGEN DIE MIGRATIONSBESTIMMUNGEN
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — in der Auslegung durch den EuGH in den Rechtssachen C-61/11, El Dridi, C-329/11, Achughbabian, C-430/11, Sagor, C-297/12, Filev und Osmani, C-38/14, Zaizoune, C-290/14, Celaj, C-47/15, Affum.
Es steht den Mitgliedstaaten frei, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen festzulegen, darunter Freiheitsentzug als strafrechtliche Sanktion bei Verstößen gegen die Migrationsbestimmungen, sofern diese Maßnahmen nicht die Anwendung der Rückführungsrichtlinie beeinträchtigen und sofern sie die uneingeschränkte Achtung der Grundrechte gewährleisten, insbesondere derjenigen, die durch die GRC in der mit den entsprechenden Bestimmungen der EMRK im Einklang stehenden Auslegung garantiert sind. Welche Art von Verstößen gegen die Migrationsbestimmungen geahndet werden sollen, ist im nationalen Recht zu regeln.
Nichts hindert die Mitgliedstaaten daran, auch in anderen Mitgliedstaaten begangene Verstöße gegen die Migrationsbestimmungen im nationalen Strafrecht zu berücksichtigen und zu ahnden.
Verstoß gegen ein Einreiseverbot: Die Mitgliedstaaten können strafrechtliche Sanktionen gegen illegal aufhältige Drittstaatsangehörige vorsehen, die rückgeführt wurden und unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot erneut in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen. Eine solche strafrechtliche Sanktion ist nur unter der Voraussetzung zulässig, dass das gegen den Drittstaatsangehörigen verhängte Einreiseverbot mit den Bestimmungen der Richtlinie im Einklang steht. Zudem müssen die Grundrechte und das Genfer Abkommen (22) von 1951, insbesondere dessen Artikel 31 Absatz 1 (23) in vollem Umfang gewahrt bleiben (siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-290/14, Celaj (24)).
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Die Rückführungsrichtlinie steht strafrechtlichen Sanktionen nicht entgegen, die nach den nationalen strafverfahrensrechtlichen Vorschriften gegen Drittstaatsangehörige verhängt werden, auf die das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und die sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für ihre Nichtrückkehr illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten. Bei der Verhängung strafrechtlicher Sanktionen, mit denen die betreffenden Personen vom illegalen Verbleib abgehalten werden sollen, müssen die Grundrechte, insbesondere diejenigen, die in der EMRK gewährleistet sind, in vollem Umfang gewahrt bleiben (siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-329/11, Achughbabian, Rn. 48 und 49); außerdem muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen werden. |
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Die Kommission empfiehlt den Mitgliedstaaten, in den nationalen Rechtsvorschriften wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen vorzusehen (zum Beispiel Geldstrafen, Beschlagnahme von Dokumenten, Kürzung/Ablehnung von Leistungen/Zulagen, Verweigerung der Arbeitserlaubnis) bei Drittstaatsangehörigen, die die Rückkehr vorsätzlich behindern (beispielsweise durch Beseitigung von Reisedokumenten, Angabe falscher Personalien, Verhinderung der Identifizierung, wiederholte Weigerung, den Flug anzutreten), sofern diese Sanktionen nicht der Verwirklichung des mit der Rückführungsrichtlinie verfolgten Ziels zuwiderlaufen und die Grundrechte in vollem Umfang gewahrt bleiben. |
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Kriminalisierung des bloßen illegalen Aufenthalts: Die Mitgliedstaaten dürfen nicht vor oder während Rückkehrverfahren allein wegen illegalen Aufenthalts eine Haftstrafe nach nationalem Strafrecht verhängen, da dies die Rückkehr verzögern würde (siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-61/11, El Dridi). Die Rückführungsrichtlinie hindert die Mitgliedstaaten jedoch nicht daran, andere Straftatbestände als solche, die nur eine illegale Einreise zum Gegenstand haben, mit einer Freiheitsstrafe zu ahnden, und zwar auch in Fällen, in denen das Rückkehrverfahren noch nicht abgeschlossen ist (siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-47/15, Affum, Rn. 65). |
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Geldstrafen und Geldbußen: Die Verhängung einer (angemessenen) Geldstrafe bei illegalem Aufenthalt nach einzelstaatlichem Strafrecht ist als solche mit den Zielen der Rückführungsrichtlinie nicht unvereinbar, denn sie steht dem Erlass und der Durchführung einer Rückkehrentscheidung unter voller Beachtung der in der Richtlinie genannten Voraussetzungen nicht entgegen (siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-430/11, Sagor). Eine nationale Regelung, die im Falle des illegalen Aufenthalts eine Geldbuße oder alternativ die Ausweisung vorsieht, ist mit der Rückführungsrichtlinie unvereinbar, da die beiden Maßnahmen einander ausschließen und damit die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigt wird (siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-38/14, Zaizoune). |
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Im Einklang mit Artikel 5 der Richtlinie 2009/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Sanktionen gegen Arbeitgeber (25) („Richtlinie über Sanktionen gegen Arbeitgeber“) drohen Arbeitgebern, die illegal aufhältige Drittstaatsangehörige ohne Erlaubnis beschäftigen, finanzielle Sanktionen, zu denen auch die Übernahme der Kosten der Rückführung der betreffenden Personen gehört, sofern Rückführungsverfahren durchgeführt werden. Die Mitgliedstaaten können beschließen, zumindest die durchschnittlichen Rückführungskosten bei den finanziellen Sanktionen zu berücksichtigen. |
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Die unverzügliche Ausweisung nach einzelstaatlichem Strafrecht (in Fällen, die nicht nach Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b vom Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie ausgenommen sind — siehe Abschnitt 2.3.) ist nur zulässig, wenn im Urteil festgestellt wird, dass mit dieser Strafe alle Garantien der Rückführungsrichtlinie eingehalten werden (die Form der Rückkehrentscheidungen, rechtliche Garantien, frühzeitige Berücksichtigung der Möglichkeit der freiwilligen Ausreise betreffend usw.) (siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-430/11, Sagor). |
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Hausarrest nach einzelstaatlichem Strafrecht ist nur zulässig, wenn es Garantien dafür gibt, dass der Hausarrest die Rückkehr nicht behindert und dass er beendet wird, sobald die tatsächliche Verbringung des Betroffenen aus dem entsprechenden Mitgliedstaat möglich ist (siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-430/11, Sagor). |
Weitere Klarstellung:
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„Berechtigte Gründe für die Nichtrückkehr“ können
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„Nicht berechtigte Gründe für die Nichtrückkehr“ können Gründe innerhalb des Einflussbereichs des Rückzuführenden sein, die durch das Unionsrecht und das nationale Recht nicht als rechtmäßig oder berechtigt anerkannt werden (wie etwa mangelnde Kooperation bei der Beschaffung der Reisedokumente, mangelnde Kooperation bei der Offenlegung der Identität, Vernichtung von Dokumenten, Flucht oder Behinderung der Abschiebung). |
5. FESTNAHME UND VERPFLICHTUNG ZUM ERLASS VON RÜCKKEHRENTSCHEIDUNGEN
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 6 Absatz 1
Die Mitgliedstaaten erlassen gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.
Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, sofern nicht das Unionsrecht eine ausdrückliche Ausnahme vorsieht (siehe nachstehend beschriebene Ausnahmen). Den Mitgliedstaaten ist es nicht gestattet, den illegalen Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen in ihrem Hoheitsgebiet zu tolerieren, ohne entweder ein Rückkehrverfahren einzuleiten oder eine Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. Ziel dieser Verpflichtung der Mitgliedstaaten ist es, „Grauzonen“ zu verringern, die Ausbeutung illegal aufhältiger Personen zu verhindern und die Rechtssicherheit für alle Beteiligten zu verbessern.
Die Mitgliedstaaten müssen eine Rückkehrentscheidung erlassen, unabhängig davon, ob der betreffende Drittstaatsangehörige im Besitz eines gültigen Identitätspapiers oder Reisedokuments ist, und unabhängig davon, ob die Rückübernahme in ein Drittland möglich ist.
Rückkehrentscheidungen sollten zeitlich unbefristet gelten. Die zuständigen nationalen Behörden sollten Rückkehrentscheidungen vollstrecken können, ohne dass das Verfahren nach einer gewissen Zeit (beispielsweise nach einem Jahr) erneut in Gang gesetzt werden muss. Voraussetzung hierfür ist, dass sich die persönliche Situation des betreffenden Drittstaatsangehörigen faktisch oder rechtlich nicht wesentlich verändert hat (anderer Rechtsstatus, drohende Zurückweisung usw.). Das Recht des Drittstaatsangehörigen auf Anhörung und sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bleiben davon unberührt.
Grundsätzlich gilt der Ort der Festnahme als maßgebliches Kriterium dafür, welcher Mitgliedstaat für die Durchführung von Rückkehrverfahren zuständig ist. Beispiel: Ist ein irregulärer Migrant über den Mitgliedstaat A (unentdeckt) in die EU eingereist und danach über die Mitgliedstaaten B und C (unentdeckt) in den Mitgliedstaat D weitergereist, wo er schließlich aufgegriffen wird, so ist Mitgliedstaat D für die Durchführung des Rückkehrverfahrens zuständig. Dieser Grundsatz bleibt von einer vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen zwischen Schengen-Staaten unberührt. Die Ausnahmen von dieser allgemeinen Regel sind in den Abschnitten 5.2, 5.3, 5.4, 5.5 und 5.8 dargelegt.
Weitere Klarstellung:
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Eine nach nationalem Recht bei illegalem Aufenthalt fällige Geldbuße kann zusammen mit einer Rückkehrentscheidung verhängt werden. Sie ist jedoch in keinem Fall ein Ersatz für die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Erlass einer Rückkehrentscheidung und zur Durchführung der Abschiebung (siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-38/14, Zaizoune). |
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In einer Rückkehrentscheidung ist anzugeben, dass der betreffende Drittstaatsangehörige im Einklang mit der Definition von „Rückkehr“ (siehe Abschnitt 1.3) aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der die Entscheidung erlassen hat, in ein Drittland ausreisen beziehungsweise die Hoheitsgebiete der EU-Mitgliedstaaten und der assoziierten Schengen-Länder verlassen muss. Eine unzureichende Klarheit hinsichtlich dieser Verpflichtung des Drittstaatsangehörigen kann die unbeabsichtigte Folge eines Risikos unerlaubter Sekundärmigration haben. |
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Rückkehrentscheidungen gemäß der Rückführungsrichtlinie müssen auch dann getroffen werden, wenn dem Rückkehrverfahren ein Rückübernahmeabkommen zugrunde liegt: Die Anwendung von Rückübernahmeabkommen mit Drittländern (Regelung der Beziehungen zwischen EU-Mitgliedstaaten und Drittländern in dieser Frage) hat keine Auswirkungen auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Rückführungsrichtlinie (Regelung der Beziehung zwischen rückführendem Staat und Rückzuführendem) in jedem einzelnen Rückkehrfall. So wird bei der Anwendung von Rückübernahmeabkommen der Erlass einer Rückkehrentscheidung vorausgesetzt. |
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Das nationale Recht kann vorsehen, dass ein Drittstaatsangehöriger bei illegalem Aufenthalt zum Verlassen des Hoheitsgebiets der EU verpflichtet ist. Eine solche abstrakte rechtliche Verpflichtung ist kein Ersatz für eine Rückkehrentscheidung. Sie muss vielmehr in jedem einzelnen Fall durch eine individualisierte Rückkehrentscheidung konkretisiert werden. |
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Die einschlägigen IT-Systeme der Union wie das Schengener Informationssystem (SIS II), Eurodac und das Visa-Informationssystem (VIS) sollten von den zuständigen nationalen Behörden vollumfänglich genutzt werden, um die Identifizierung und Einzelfallprüfung zu vereinfachen sowie die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei Rückkehr- und Rückübernahmeverfahren zu erleichtern und zu unterstützen. |
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Im Hinblick auf die Erfüllung ihrer Verpflichtung zum Erlass von Rückkehrentscheidungen sollten die Mitgliedstaaten effiziente und angemessene Maßnahmen für das Ausfindigmachen, Aufspüren und Aufgreifen von Drittstaatsangehörigen, die sich illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten, festlegen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten nach Artikel 13 Absatz 1 SGK verpflichtet sind, Drittstaatsangehörige, die die Außengrenzen unerlaubt überschritten haben und über kein Aufenthaltsrecht in der EU verfügen, aufzugreifen und Rückkehrverfahren zu unterziehen. Artikel 14 der Richtlinie über Sanktionen gegen Arbeitgeber sieht ferner vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass in ihrem Hoheitsgebiet wirksame und angemessene Inspektionen durchgeführt werden, bei denen kontrolliert wird, ob Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigt werden. |
Festnahmepraktiken — Wahrung der Grundrechte
Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen alle in ihrem Hoheitsgebiet illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen gilt vorbehaltlich der Wahrung der Grundrechte und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Erwägungsgrund 24). So kann das rechtmäßige Ziel der Bekämpfung der illegalen Migration gegen andere rechtmäßige staatliche Interessen abgewogen werden, wie etwa Aspekte des öffentlichen Gesundheitswesens, das Interesse des Staates an der Kriminalitätsbekämpfung, das Interesse an einer umfassenden Geburtenregistrierung, die Achtung des Wohls des Kindes (speziell hervorgehoben in Erwägungsgrund 22), das Genfer Abkommen (auf das in Erwägungsgrund 23 hingewiesen wird) sowie andere durch die GRC anerkannte relevante Grundrechte.
Die Kommission verweist auf die von der Agentur für Grundrechte 2012 in ihrem Dokument „Apprehension of migrants in an irregular situation — fundamental rights considerations“ (Aufgriff von Migranten in einer irregulären Situation — grundrechtliche Erwägungen) (Ratsdokument 13847/12) dargelegten Erwägungen, die als Orientierungshilfe dafür dienen sollten, wie Festnahmen unter Achtung der Grundrechte der betroffenen Drittstaatsangehörigen erfolgen können und gleichzeitig die Wirksamkeit der Rückkehrverfahren gewährleistet werden kann. Praktiken der Mitgliedstaaten, die dieser Orientierungshilfe Rechnung tragen, können als mit der Verpflichtung zum Erlass von Rückkehrentscheidungen gegen illegal aufhältige Drittstaatsangehörige nach Artikel 6 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie vereinbar angesehen werden:
Zugang zu Gesundheitsleistungen:
Migranten in einer irregulären Situation, die medizinische Hilfe suchen, sollten in oder in der Nähe von medizinischen Einrichtungen nicht festgenommen werden.
Von medizinischen Einrichtungen sollte nicht verlangt werden, dass sie die persönlichen Daten von Migranten den Strafverfolgungsbehörden für die Zwecke einer eventuellen Rückkehr/Rückführung zur Verfügung stellen.
Zugang zu Bildung:
Migranten in einer irregulären Situation sollten in oder in der Nähe der Schule, die ihre Kinder besuchen, nicht festgenommen werden.
Von Schulen sollte nicht verlangt werden, dass sie die persönlichen Daten von Migranten den Strafverfolgungsbehörden für die Zwecke einer eventuellen Rückkehr/Rückführung zur Verfügung stellen.
Religionsfreiheit:
Migranten in einer irregulären Situation sollten in oder in der Nähe anerkannter religiöser Einrichtungen bei der Ausübung ihrer Religion nicht festgenommen werden.
Geburtenregistrierung:
Migranten in einer irregulären Situation sollten die Geburt ihrer Kinder registrieren lassen können und eine Geburtsurkunde für sie erhalten, ohne dass die Gefahr der Festnahme besteht.
Von Standesämtern sollte nicht verlangt werden, dass sie die persönlichen Daten von Migranten den Strafverfolgungsbehörden für die Zwecke einer eventuellen Rückkehr/Rückführung zur Verfügung stellen.
Zugang zur Justiz:
Im Interesse der Kriminalitätsbekämpfung können die Mitgliedstaaten neue Möglichkeiten ins Auge fassen, wie Opfer und Zeugen Straftaten zur Anzeige bringen können, ohne eine Festnahme befürchten zu müssen. In diesem Zusammenhang sind die folgenden bewährten Verfahren zu erwägen:
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Einführung der Möglichkeit der anonymen oder halbanonymen Anzeigeerstattung oder anderer wirksamer Arten der Anzeigeerstattung; |
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Angebote für Opfer und Zeugen schwerer Straftaten, sich über Dritte (wie Migrantenbeauftragte, speziell eingesetzte Beamte) an die Polizei zu wenden; |
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Festlegung von Voraussetzungen, unter denen Opfern oder Zeugen von Straftaten, einschließlich häuslicher Gewalt, Aufenthaltstitel nach den in der Richtlinie 2004/81/EG des Rates (26) und der Richtlinie 2009/52/EG festgelegten Normen erteilt werden können; |
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Berücksichtigung einer möglicherweise notwendigen Abkopplung des Einwandererstatus von Gewaltopfern vom Inhaber des eigentlichen Aufenthaltstitels, der gleichzeitig auch der Täter ist; |
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Erarbeitung von Broschüren in Zusammenarbeit mit Arbeitsaufsichtsbehörden und anderen zuständigen Stellen, um am Arbeitsplatz festgenommene Migranten systematisch und objektiv über Möglichkeiten der Beschwerdeführung gegen ihre Arbeitgeber nach der Richtlinie 2009/52/EG zu informieren, und in diesem Zusammenhang Schritte zur Sicherung entsprechenden Beweismaterials. |
Migranten in einer irregulären Situation, die Rechtsbeistand suchen, sollten in oder in der Nähe von Gewerkschaftseinrichtungen oder anderen Stellen, die derartige Unterstützung bieten, nicht festgenommen werden.
Außerdem empfiehlt die Kommission, dass Drittstaatsangehörige in einer irregulären Situation, die öffentliche Verwaltungen zwecks Registrierung von Anträgen auf internationalen Schutz oder auf Zuerkennung des Status der Staatenlosigkeit aufsuchen möchten, in diesen Einrichtungen oder in deren Nähe nicht festgenommen werden sollten.
Sonderfälle:
5.1. Festnahme während der Ausreisekontrolle
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 6
Nach einer Einzelfallprüfung und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit kann eine Rückkehrentscheidung unter bestimmten Umständen auch dann erlassen werden, wenn ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger an der EU-Außengrenze beim Verlassen des EU-Hoheitsgebiets aufgegriffen wird. Gerechtfertigt könnte dies in Fällen sein, in denen bei der Ausreisekontrolle eine beträchtliche Überschreitung der zulässigen Aufenthaltsdauer oder ein illegaler Aufenthalt festgestellt wird. In diesen Fällen können die Mitgliedstaaten bei Kenntnisnahme eines illegalen Aufenthalts ein Rückkehrverfahren einleiten und dieses „ in absentia “ bis zum Erlass einer Rückkehrentscheidung führen, die mit einem Einreiseverbot einhergeht, wobei die in den Abschnitten 11.3 und 12 genannten Verfahrensgarantien zu wahren sind.
Obwohl in einem solchen speziellen Fall die betreffende Person ohnehin im Begriff ist, die EU zu verlassen, ist der Erlass einer Rückkehrentscheidung dennoch sinnvoll, da die Mitgliedstaaten gleichzeitig ein Einreiseverbot erlassen und somit einer erneuten Einreise und der möglichen Gefahr eines illegalen Aufenthalts vorbeugen können.
Die Kommission fordert die Mitgliedstaaten auf, Verfahren festzulegen, die für spezielle Fälle den Erlass von Rückkehrentscheidungen und — gegebenenfalls — Einreiseverboten direkt am Flughafen oder an anderen Außengrenzübergangsstellen oder — im Falle von Einreiseverboten — in absentia (siehe Abschnitt 11.3) ermöglichen.
Hat ein Drittstaatsangehöriger die gemäß Visum oder Aufenthaltstitel zulässige Aufenthaltsdauer in einem ersten Mitgliedstaat überschritten und verlässt er die Union über einen zweiten Mitgliedstaat/Transitmitgliedstaat, so müssen die Rückkehrentscheidung und das Einreiseverbot vom zweiten Mitgliedstaat erlassen werden (die Person, die die zulässige Aufenthaltsdauer überschritten hat, ist normalerweise auch im zweiten Mitgliedstaat im Sinne der Rückführungsrichtlinie „illegal aufhältig“).
5.2. Adressaten einer von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Rückkehrentscheidung
Rechtsgrundlage: Richtlinie 2001/40/EG des Rates (27)
Zur Erinnerung/Erläuterung: Die Auswirkungen einer von einem Mitgliedstaat erlassenen Rückkehrentscheidung in einem anderen Mitgliedstaat waren Gegenstand eines separaten Kapitels V im Vorschlag der Kommission für die Rückführungsrichtlinie von 2005 („Ergreifung in anderen Mitgliedstaaten“). Dieses Kapitel wurde jedoch ebenso wie Artikel 20 des Kommissionsvorschlags, der die Aufhebung der Richtlinie 2001/40/EG vorsah, im Zuge der Verhandlungen gestrichen, und die Richtlinie 2001/40/EG blieb in Kraft. Die Richtlinie 2001/40/EG ermöglicht ausdrücklich die Anerkennung einer Rückführungsentscheidung, die von einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats gegenüber einem Drittstaatsangehörigen erlassen wurde, der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält. In Artikel 6 der Rückführungsrichtlinie wird eine solche Anerkennung einer Rückführungsentscheidung durch einen zweiten Mitgliedstaat gemäß der Richtlinie 2001/40/EG nicht ausdrücklich erwähnt. Bei einer wörtlichen Auslegung von Artikel 6, wonach in einem solchen Fall der anerkennende Mitgliedstaat auch eine vollständige zweite Rückkehrentscheidung gemäß der Richtlinie 2008/115/EG erlassen müsste, würde die Richtlinie 2001/40/EG jeglichen zusätzlichen Nutzen verlieren. Es musste daher eine Auslegung gefunden werden, die das weitere Nebeneinanderbestehen der beiden Richtlinien und damit auch den Fortbestand der Richtlinie 2001/40/EG sinnvoll macht.
Wenn Mitgliedstaat A eine Person aufgreift, gegen die bereits in Mitgliedstaat B eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde, hat Mitgliedstaat A die folgenden Möglichkeiten:
a) |
Erlass einer neuen Rückkehrentscheidung nach Artikel 6 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie oder |
b) |
Überstellung der Person in Mitgliedstaat B im Rahmen eines bestehenden bilateralen Abkommens nach Artikel 6 Absatz 3 der Rückführungsrichtlinie oder |
c) |
Anerkennung der von Mitgliedstaat B gemäß der Richtlinie 2001/40/EG erlassenen Rückführungsentscheidung. |
Erkennt Mitgliedstaat A die von Mitgliedstaat B gemäß der Richtlinie 2001/40/EG erlassene Rückführungsentscheidung an, so ist er dennoch verpflichtet, bei Vollstreckung der anerkannten Rückkehrentscheidung die in der Rückführungsrichtlinie vorgesehenen Garantien für den Fall einer solchen Vollstreckung (Abschiebung) anzuwenden.
Die gegenseitige Anerkennung von Rückkehrentscheidungen kann bei bestimmten Konstellationen einen erheblichen zusätzlichen Nutzen haben, insbesondere im Zusammenhang mit der Durchbeförderung von Rückzuführenden auf dem Landweg (siehe Abschnitt 6.4). Die Kommission fordert die Mitgliedstaaten auf, von der Option der gegenseitigen Anerkennung Gebrauch zu machen, wenn dies dazu beiträgt, die Rückkehrverfahren zu beschleunigen und den Verwaltungsaufwand zu reduzieren.
5.3. Verhältnis zu den Dublin-Bestimmungen
Rechtsgrundlage: Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (28) („Dublin-Verordnung“) — Artikel 19 und 24
In Artikel 6 der Rückführungsrichtlinie wird nicht ausdrücklich der Fall erwähnt, dass ein zweiter Mitgliedstaat die von der Dublin-Verordnung gebotene Möglichkeit nutzt und einen ersten Mitgliedstaat um Wiederaufnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen ersucht. Bei einer wörtlichen Auslegung von Artikel 6, wonach in einem solchen Fall der ersuchende (zweite) Mitgliedstaat auch eine vollständige Rückkehrentscheidung gemäß der Richtlinie 2008/115/EG erlassen müsste, würden die einschlägigen Dublin-Bestimmungen ihren zusätzlichen Nutzen verlieren. In der Dublin-Verordnung wird ausdrücklich auf diese Problematik eingegangen. So enthält sie eindeutige Bestimmungen über die Anwendung von Rückführungsrichtlinie und Dublin-Verordnung.
Die Fälle, in denen Drittstaatsangehörige Asyl beantragt und als Asylbewerber im zweiten Mitgliedstaat eine Aufenthaltsberechtigung erhalten haben, fallen nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie, da die Drittstaatsangehörigen aufgrund dieser Aufenthaltsberechtigung im zweiten Mitgliedstaat nicht als „illegal aufhältig“ gelten können.
Andererseits fallen die Fälle, in denen Drittstaatsangehörige kein Asyl beantragt und keine Aufenthaltsberechtigung als Asylbewerber im zweiten Mitgliedstaat erhalten haben, grundsätzlich in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie. Die folgenden Situationen (29) sind vorstellbar:
a) |
Der Drittstaatsangehörige hat im ersten Mitgliedstaat den Asylbewerberstatus (laufendes Verfahren, noch keine endgültige Entscheidung): Die Dublin-Verordnung findet Anwendung, da grundsätzlich für jeden Drittstaatsangehörigen, der in einem der Mitgliedstaaten einen Asylantrag stellt, der Bedarf an internationalem Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat umfassend zu bewerten ist. Es ist nicht möglich, dass ein Mitgliedstaat die Rückführung dieses Drittstaatsangehörigen in ein Drittland vornimmt; vielmehr kann er ihn in den nach der Dublin-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat zurück- oder ausweisen, damit sein Anspruch dort geprüft wird. |
b) |
Der Drittstaatsangehörige hat seinen Asylantrag im ersten Mitgliedstaat zurückgenommen: Hat die Rücknahme des Antrags zu einer Ablehnung des Antrags geführt (gemäß Artikel 27 oder 28 der neu gefassten Asylverfahrensrichtlinie), so können die nachstehend unter Buchstabe c erläuterten Vorschriften (Wahl zwischen Dublin-Bestimmungen und Rückführungsrichtlinie) Anwendung finden. Hat die Rücknahme des Antrags nicht zu einer Ablehnung des Antrags geführt, hat die Dublin-Verordnung Vorrang (als „lex specialis“), da grundsätzlich für jeden Drittstaatsangehörigen, der in einem der Mitgliedstaaten einen Asylantrag stellt, der Bedarf an internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat umfassend zu bewerten ist. |
c) |
Dem Drittstaatsangehörigen liegt im ersten Mitgliedstaat eine rechtskräftige Entscheidung über die Ablehnung seines Antrags vor: Entweder die Dublin-Verordnung oder die Rückführungsrichtlinie kann angewandt werden. Die Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten ist in Artikel 24 Absatz 4 der Dublin-Verordnung ausdrücklich vorgesehen, und es wird klärend hinzugefügt, dass von dem Zeitpunkt an, ab dem sich die Behörden für ein Wiederaufnahmegesuch nach der Dublin-Verordnung entscheiden, die Anwendung der Rückführungsrichtlinie und der Rückkehrverfahren ausgesetzt ist und nur die Dublin-Bestimmungen Anwendung finden (das betrifft auch die Bestimmungen über die Inhaftnahme und über Rechtsbehelfe). |
d) |
Der Drittstaatsangehörige ist (nach Ablehnung oder Rücknahme eines Asylantrags) bereits erfolgreich aus dem ersten Mitgliedstaat in ein Drittland rückgeführt/abgeschoben worden: Für den Fall seiner Wiedereinreise in das Hoheitsgebiet der EU ist in der Dublin-Verordnung in Artikel 19 Absatz 3 festgelegt, dass der erste Mitgliedstaat für den Drittstaatsangehörigen nicht mehr zuständig ist — daher kann keine Überstellung in diesen Mitgliedstaat vorgenommen werden. Somit findet die Rückführungsrichtlinie Anwendung. |
Praktische Beispiele:
— |
Eine Person, die in Mitgliedstaat A internationalen Schutz beantragt hat, reist ohne Berechtigung in einen benachbarten Mitgliedstaat B (und überquert dabei Binnengrenzen), wo der Betreffende von der Polizei aufgegriffen wird. Gemäß der Dublin-Verordnung wird die betreffende Person aus dem Mitgliedstaat B in den Mitgliedstaat A überstellt. Sollte Mitgliedstaat B in dieser Situation eine Rückkehrentscheidung gegen diese Person wegen illegalen Aufenthalts in seinem Hoheitsgebiet erlassen?
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— |
Ist es Mitgliedstaat A (im oben beschriebenen Szenario) gestattet, selbst eine Rückkehrentscheidung zu erlassen (zusammen mit einem Einreiseverbot, das bis zum Abschluss des Asylverfahrens ausgesetzt wird)?
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— |
Ein Drittstaatsangehöriger, dem von Mitgliedstaat A internationaler Schutz gewährt wurde, hält sich illegal in Mitgliedstaat B auf (zum Beispiel Überschreitung der zulässigen Aufenthaltsdauer um 90 Tage). Ist die Rückführungsrichtlinie in solchen Fällen anwendbar? Wie wird vorgegangen, wenn die Person eine freiwillige Rückkehr in den ersten Mitgliedstaat, der den Schutz gewährt hat, verweigert?
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Ein Drittstaatsangehöriger, dem nach irregulärer Einreise in Mitgliedstaat A die Fingerabdrücke abgenommen wurden und der in Mitgliedstaat A kein Asyl beantragt hat, wird später in Mitgliedstaat B aufgegriffen. Kann Mitgliedstaat B die Person gemäß den Dublin-Bestimmungen nach Mitgliedstaat A überstellen?
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5.4. Illegal aufhältige Drittstaatsangehörige mit Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 6 Absatz 2
Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, sind zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommen die betreffenden Drittstaatsangehörigen dieser Verpflichtung nicht nach, oder ist die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, so findet Absatz 1 Anwendung.
Diese Bestimmung — die eine ähnliche Regelung in Artikel 23 Absätze 2 und 3 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) (30) ersetzt — sieht vor, dass keine Rückkehrentscheidung gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen erlassen werden sollte, der über einen gültigen Aufenthaltstitel eines anderen Mitgliedstaats verfügt. In solchen Fällen sollte der Drittstaatsangehörige zunächst verpflichtet werden, unverzüglich in den Mitgliedstaat zurückzukehren, in dem er über eine Aufenthaltsberechtigung verfügt. Nur wenn der Betreffende dieser Aufforderung nicht nachkommt oder wenn eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit besteht, ist eine Rückkehrentscheidung zu erlassen.
Weitere Klarstellung:
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Die Form, in der die Aufforderung, „ sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben “, ergeht, sollte im Einklang mit dem nationalen Recht festgelegt werden. Es wird empfohlen, Entscheidungen schriftlich und mit einer Begründung zu erlassen. Zur Vermeidung von Unklarheiten sollte die Entscheidung nicht als „Rückkehrentscheidung“ bezeichnet werden. |
— |
Frist für die Rückkehr in den anderen Mitgliedstaat: Es lässt sich nicht generell angeben, wie viel Zeit zwischen der Aufforderung zur Rückkehr in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats und dem Erlass einer Rückkehrentscheidung nach Artikel 6 Absatz 1 vergehen sollte. Ein angemessener Zeitrahmen sollte im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften festgelegt werden, und zwar unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände, des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sowie der Tatsache, dass in der betreffenden Bestimmung von „ unverzüglich “ die Rede ist. Die Zeit zwischen der Aufforderung zur Rückkehr in den anderen Mitgliedstaat und dem Erlass einer Rückkehrentscheidung nach Artikel 6 Absatz 1 darf auf die spätere Frist für die freiwillige Ausreise nicht angerechnet werden, da diese Frist Bestandteil der Rückkehrentscheidung ist und erst mit deren Erlass beginnt. |
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Kontrolle der Ausreise in den anderen Mitgliedstaat: Im Unionsrecht ist nicht konkret festgelegt, wie die Erfüllung der Rückkehrverpflichtung zu kontrollieren ist. Die Mitgliedstaaten sollten im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften sicherstellen, dass ihre Entscheidungen angemessen nachverfolgt werden. |
— |
Überprüfung der Gültigkeit von Aufenthaltstiteln/Aufenthaltsberechtigungen eines anderen Mitgliedstaats: Derzeit gibt es kein zentrales System für den diesbezüglichen Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten werden daher aufgefordert, im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften und bilateralen Kooperationsvereinbarungen bilateral zusammenzuarbeiten und einander alle relevanten Informationen unverzüglich mitzuteilen. Bestehende nationale Kontaktstellen (zum Beispiel die Stellen, die in Anhang 2 des Schengen-Handbuchs (31) aufgeführt sind) können ebenfalls für diesen Zweck genutzt werden. |
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Die Formulierung „ Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung “ (32) ist sehr weit auszulegen und umfasst jeglichen Status und jegliche Berechtigung, mit denen ein Mitgliedstaat das Recht auf legalen Aufenthalt gewährt und nicht nur den vorübergehenden Aufschub einer Rückkehr/Abschiebung anerkennt. Erfasst sind:
Nicht erfasst sind:
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— |
Grundsätzlich keine Abschiebung in andere Mitgliedstaaten: Erklärt sich ein Drittstaatsangehöriger nicht gemäß Artikel 6 Absatz 2 zur freiwilligen Rückkehr in den Mitgliedstaat bereit, für den er einen Aufenthaltstitel besitzt, so gelangt Artikel 6 Absatz 1 zur Anwendung, und es wird eine Rückkehrentscheidung erlassen werden, die eine direkte Rückkehr in ein Drittland vorsieht. Eine erzwungene Überstellung in den anderen Mitgliedstaat ist nicht möglich, essei denn, ein bestehendes bilaterales Abkommen zwischen Mitgliedstaaten, das bereits am 13. Januar 2009 in Kraft war, sieht diese Möglichkeit ausdrücklich vor (siehe Abschnitt 5.5) oder unter bestimmten Umständen ist die Rückkehr/Abschiebung in ein Drittland nicht möglich und der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel erteilt hat, ist zur Rücknahme der Person bereit. |
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Kein Erlass von EU-Einreiseverboten bei Anwendung von Artikel 6 Absatz 2: Bei Überstellung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen in einen anderen Mitgliedstaat gemäß Artikel 6 Absatz 2 kann kein EU-Einreiseverbot gemäß Artikel 11 erlassen werden, da Artikel 11 nur im Zusammenhang mit dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gilt und im Falle einer „Überstellung“ in einen anderen Mitgliedstaat nicht anwendbar ist. Zudem ist es aus praktischer Sicht nicht sinnvoll, ein EU-Einreiseverbot zu verhängen, wenn sich der Betreffende in einem anderen Mitgliedstaat weiterhin legal aufhält. |
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Notwendigkeit der sofortigen Ausreise aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit: Unter den außergewöhnlichen Umständen, auf die Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 zweiter Fall Bezug nimmt, muss gegen die Person unverzüglich eine Rückkehrentscheidung erlassen werden und die Abschiebung in ein Drittland erfolgen. Der Mitgliedstaat, in dem der Person ein Aufenthaltsrecht gewährt wurde, sollte darüber in Kenntnis gesetzt werden. |
Praktisches Beispiel:
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Welche Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie sollten in Bezug auf Drittstaatsangehörige angewandt werden, die in Mitgliedstaat A aufgegriffen werden, einen gültigen Aufenthaltstitel des Mitgliedstaats B besitzen und für die im SIS eine von Mitgliedstaat C eingegebene Ausschreibung (Einreiseverbot) vorliegt?
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5.5. Illegal aufhältige Drittstaatsangehörige im Anwendungsbereich geltender bilateraler Abkommen zwischen Mitgliedstaaten
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 6 Absatz 3
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Eine indikative Liste geltender bilateraler Rückübernahmeabkommen zwischen Mitgliedstaaten ist abrufbar unter: http://rsc.eui.eu/RDP/research/analyses/ra/ |
Die Mitgliedstaaten können davon absehen, eine Rückkehrentscheidung gegen illegal in ihrem Gebiet aufhältige Drittstaatsangehörige zu erlassen, wenn diese Personen von einem anderen Mitgliedstaat aufgrund von zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie (13. Januar 2009) geltenden bilateralen Abkommen oder Vereinbarungen wieder aufgenommen wird. In einem solchen Fall wendet der Mitgliedstaat, der die betreffenden Drittstaatsangehörigen wieder aufgenommen hat, Absatz 1 an.
Diese Bestimmung sieht — als Ausnahme und in Form einer „Stillstandsklausel“ — für Mitgliedstaaten die Möglichkeit vor, aufgrund von am 13. Januar 2009 geltenden bilateralen Abkommen oder Vereinbarungen irreguläre Migranten in andere Mitgliedstaaten zu überstellen.
Zur Erinnerung/Erläuterung: Diese Bestimmung wurde in einer späten Phase der Verhandlungen in die Rückführungsrichtlinie aufgenommen, nachdem einige Mitgliedstaaten nachdrücklich darum ersucht hatten. Sie machten geltend, dass sie durch die Richtlinie nicht zur Änderung bewährter Vorgehensweisen verpflichtet werden dürften, wonach illegal aufhältige Drittstaatsangehörige auf der Grundlage bilateraler Abkommen von anderen Mitgliedstaaten wieder aufgenommen bzw. in diese überstellt würden.
Das Prinzip, auf dem die Rückführungsrichtlinie beruht, ist die direkte Rückkehr illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger aus der EU in ein Drittland. Artikel 6 Absatz 3 der Richtlinie sieht also eine Ausnahme vor, die nur die Verpflichtung des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich der Drittstaatsangehörige befindet, zum Erlass einer Rückkehrentscheidung betrifft. Diese Verpflichtung fällt dann dem Mitgliedstaat zu, der den Betreffenden wieder aufnimmt. Er enthält nicht eine Ausnahme vom Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie, die zu den in Artikel 2 Absatz 2 genannten Ausnahmen hinzukommt — siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-47/15, Affum (Rn. 82 bis 85).
Weitere Klarstellung:
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Nachfolgende Anwendung bilateraler Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten A-B und B-C: Die Rückführungsrichtlinie, insbesondere Artikel 6 Absatz 3, untersagt nicht ausdrücklich eine Wiederaufnahme nach dem Dominoprinzip auf der Grundlage geltender bilateraler Abkommen. Wichtig ist jedoch, dass letztlich von einem einzigen Mitgliedstaat ein vollständiges Rückkehrverfahren gemäß der Richtlinie durchgeführt wird. Da diese Art von nachfolgenden Verfahren mit hohen Verwaltungskosten und mit zusätzlichen Unannehmlichkeiten für die Rückzuführenden verbunden ist, sollten die Mitgliedstaaten nach Möglichkeit von dieser Praxis absehen. |
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Keine EU-weiten Einreiseverbote bei Anwendung von Artikel 6 Absatz 3: Bei Überstellung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen in einen anderen Mitgliedstaat gemäß Artikel 6 Absatz 3 kann kein EU-Einreiseverbot gemäß Artikel 11 erlassen werden, da Artikel 11 nur im Zusammenhang mit dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gilt und im Falle einer einfachen „Überstellung“ in einen anderen Mitgliedstaat nicht anwendbar ist. Zudem ist es aus praktischer Sicht nicht sinnvoll, ein EU-Einreiseverbot zu verhängen, wenn der Betreffende die EU noch nicht verlässt. Zur Möglichkeit des Erlasses von rein nationalen Einreiseverboten unter außergewöhnlichen Umständen gemäß Artikel 25 Absatz 2 SDÜ wird auf Abschnitt 11.8 verwiesen. |
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Entscheidung zur Überstellung des Drittstaatsangehörigen in einen anderen Mitgliedstaat: Eine solche Entscheidung stellt eine der Maßnahmen dar, die die Rückführungsrichtlinie zur Beendigung des illegalen Aufenthalts vorsieht; sie ist ein vorbereitender Schritt für die Abschiebung des Betreffenden aus dem Gebiet der Union. Die Mitgliedstaaten müssen daher diese Entscheidung mit der gebotenen Sorgfalt und innerhalb kürzester Frist erlassen, damit die Überstellung in den für das Rückkehrverfahren zuständigen Mitgliedstaat so schnell wie möglich erfolgt — siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-47/15, Affum (Rn. 87). |
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Da der Begriff „Rückkehr“ gemäß der Rückführungsrichtlinie stets die Rückkehr in ein Drittland beinhaltet, ist es empfehlenswert, diese Art der nationalen Entscheidung „Überstellungsentscheidung“ und nicht „Rückkehrentscheidung“ zu nennen. |
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Stillstandsklausel: Artikel 6 Absatz 3 ist eine ausdrückliche „Stillstandsklausel“. Die Mitgliedstaaten können die darin gebotene Option nur in Bezug auf bilaterale Rückübernahmeabkommen anwenden, die vor dem 13. Januar 2009 in Kraft getreten sind. Abkommen, die nach dem 13. Januar 2009 neu verhandelt oder verlängert wurden, können auch weiterhin unter Artikel 6 Absatz 3 fallen, wenn das neu verhandelte/verlängerte Abkommen eine Änderung des bereits bestehenden Abkommens darstellt und als solche klar ausgewiesen ist. Handelt es sich bei dem neu verhandelten/verlängerten Abkommen um ein Aliud (ein vollständig neues Abkommen mit anderem Inhalt) wäre Artikel 6 Absatz 3 darauf nicht mehr anwendbar. |
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Rückübernahmeabkommen zwischen Schengen-Mitgliedstaaten und dem Vereinigten Königreich: Für die Auslegung von Artikel 6 Absatz 3 ist das Vereinigte Königreich als Mitgliedstaat zu betrachten. |
5.6. Illegal aufhältige Drittstaatsangehörige mit Aufenthaltstitel/Aufenthaltsberechtigung aus humanitären (oder sonstigen) Gründen
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 6 Absatz 4
Die Mitgliedstaaten können jederzeit beschließen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegen eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. In diesem Fall wird keine Rückkehrentscheidung erlassen. Ist bereits eine Rückkehrentscheidung ergangen, so ist diese zurückzunehmen oder für die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels oder der sonstigen Aufenthaltsberechtigung auszusetzen.
Den Mitgliedstaaten steht es frei, illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen — jederzeit — einen Aufenthaltstitel oder eine Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. In einem solchen Fall sind alle anhängigen Rückkehrverfahren einzustellen, und eine bereits erlassene Rückkehrentscheidung oder Abschiebungsanordnung ist — je nach Art des Aufenthaltstitels — zurückzunehmen oder auszusetzen. Gleiches gilt in Fällen, in denen Mitgliedstaaten ein Aufenthaltsrecht gewähren müssen, beispielsweise nach Stellung eines Asylantrags.
Die Entscheidung über die Vorgehensweise (Rücknahme oder Aussetzung der Rückkehrentscheidung) liegt bei den Mitgliedstaaten, wobei die Art und die voraussichtliche Gültigkeitsdauer des erteilten Aufenthaltstitels bzw. der erteilten Aufenthaltsberechtigung zu berücksichtigen sind und die Wirksamkeit der Rückkehrverfahren gewährleistet werden muss. Nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache C-601/15, J. N. (34) (Rn. 75 bis 80) sollte ein Mitgliedstaat, wenn er einem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz beantragt hat und gegen den vor Stellung dieses Antrags bereits eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde, die Berechtigung zum Verbleib in seinem Hoheitsgebiet erteilt hat, die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung aussetzen (und nicht die Entscheidung zurücknehmen), bis über den Antrag auf internationalen Schutz entschieden worden ist (siehe auch Abschnitt 7).
5.7. Illegal aufhältige Drittstaatsangehörige mit anhängigem Verfahren zur Verlängerung eines Aufenthaltstitels/einer Aufenthaltsberechtigung
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 6 Absatz 5
Ist ein Verfahren anhängig, in dem über die Verlängerung des Aufenthaltstitels oder einer anderen Aufenthaltsberechtigung von illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen entschieden wird, so prüft dieser Mitgliedstaat unbeschadet des Absatzes 6, ob er vom Erlass einer Rückkehrentscheidung absieht, bis das Verfahren abgeschlossen ist.
Den Mitgliedstaaten steht es frei, vom Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen illegal aufhältige Drittstaatsangehörige abzusehen, die auf eine Entscheidung über die Verlängerung ihres Aufenthaltstitels warten. Diese Bestimmung ist als Schutz für Drittstaatsangehörige gedacht, die sich für eine gewisse Zeit legal in einem Mitgliedstaat aufgehalten haben und — wegen Verzögerungen im Verfahren zur Verlängerung des Aufenthaltstitels — zeitweilig illegal aufhältig werden.Sie bezieht sich nur auf anhängige Verfahren zur Verlängerung eines Aufenthaltstitels in dem Mitgliedstaat, in dem die Festnahme erfolgte („dieser Mitgliedstaat“). Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, die Bestimmung auch in Fällen anzuwenden, in denen die Verlängerungsanträge aller Wahrscheinlichkeit nach positiv beschieden werden, und den betreffenden Personen zumindest die gleiche Behandlung zuteilwerden zu lassen wie Rückzuführenden während der Frist für die freiwillige Ausreise oder im Zeitraum der aufgeschobenen Rückführung.
Diese Bestimmung gilt nicht für anhängige Verfahren zur Verlängerung eines Aufenthaltstitels in einem anderen Mitgliedstaat. Allerdings können derartige anhängige Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat unter besonderen Umständen einen Aufschub der Rückführung gemäß Artikel 9 Absatz 2 oder die Anwendung günstigerer Maßnahmen gemäß Artikel 4 Absatz 3 rechtfertigen.
5.8. Sonderregelungen in den Richtlinien über legale Migration in Bezug auf die Rückübernahme zwischen Mitgliedstaaten in Fällen von Mobilität innerhalb der Union
Rechtsgrundlage: Richtlinie 2014/66/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (35) („Richtlinie über unternehmensinterne Transfers“) — Artikel 23; Richtlinie 2003/109/EG des Rates (36) („Richtlinie über langfristig Aufenthaltsberechtigte“) (in der durch die Richtlinie 2011/51/EU des Rates (37) geänderten Fassung) — Artikel 12 und 22; Richtlinie 2009/50/EG (38) („Richtlinie über die Blaue Karte“) — Artikel 18
Die genannten Richtlinien enthalten Sonderregelungen für die Rückübernahme zwischen Mitgliedstaaten in Fällen von Mobilität bestimmter Kategorien von Drittstaatsangehörigen innerhalb der EU (unternehmensintern transferierte Arbeitnehmer, Inhaber einer Blauen Karte EU, langfristig Aufenthaltsberechtigte). Diese Bestimmungen sind als leges speciales (Sonderregelungen) anzusehen, die in den von den genannten Richtlinien abgedeckten Fällen vorrangig anzuwenden sind.
6. FREIWILLIGE AUSREISE
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 7 Absatz 1
Eine Rückkehrentscheidung sieht unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 und 4 eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vor. Die Mitgliedstaaten können in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorsehen, dass diese Frist nur auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen eingeräumt wird. In einem solchen Fall unterrichtet der Mitgliedstaat die betreffenden Drittstaatsangehörigen davon, dass die Möglichkeit besteht, einen solchen Antrag zu stellen.
Die Förderung einer freiwilligen Ausreise ist eines der Hauptziele der Rückführungsrichtlinie. Besteht keine Veranlassung zu der Annahme, dass die Rückkehr dadurch gefährdet wird, so ist die freiwillige Ausreise in Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung der Abschiebung vorzuziehen, weil es sich dabei um eine menschenwürdigere, sicherere und häufig kostengünstigere Rückkehroption handelt.
Während der Frist für die freiwillige Ausreise ist der betreffende Drittstaatsangehörige zur Rückkehr verpflichtet, auch wenn diese Verpflichtung erst vollstreckt werden kann, wenn die Frist abgelaufen ist oder wenn Fluchtgefahr besteht oder von dem Betreffenden eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit ausgeht oder wenn der Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden ist (siehe Abschnitt 6.3). Die Mitgliedstaaten sollten so vielen zur Rückkehr verpflichteten Personen wie möglich die freiwillige Ausreise ermöglichen und nur dann davon absehen, wenn dies dem Zweck des Rückkehrverfahrens entgegenstehen könnte.
Nach dem zweiten Satz von Artikel 7 Absatz 1 können die Mitgliedstaaten beschließen, nur auf Antrag der Drittstaatsangehörigen eine Frist für die freiwillige Ausreise einzuräumen. In diesem Fall sind die betreffenden Drittstaatsangehörigen einzeln davon zu unterrichten, dass die Möglichkeit besteht, eine solche Frist zu beantragen. Allgemeine Informationsblätter für die Öffentlichkeit (zum Beispiel die Bekanntgabe der Möglichkeit, einen derartigen Antrag zu stellen, auf der Website der Einwanderungsstellen oder der Druck von Bekanntmachungen und deren Anbringung auf Informationstafeln in den Räumlichkeiten der örtlichen Einwanderungsbehörden) können zwar hilfreich sein, sollten aber durch individuell erteilte Informationen ergänzt werden. Diese Informationen sollten Minderjährigen auf kindgerechte und ihrem Alter und den Umständen angemessene Art und Weise erteilt werden, und der Situation unbegleiteter Minderjähriger ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
Die Mitgliedstaaten können zudem beschließen, bestimmten Gruppen von illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen (zum Beispiel Personen, deren Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden ist) auf Antrag eine Frist für die freiwillige Ausreise oder für den Erhalt von Unterstützung (beispielsweise in Form einer Wiedereingliederungshilfe) einzuräumen und in anderen Fällen eine solche Frist ohne Antrag zu gewähren.
Die Kommission empfiehlt, eine Frist für die freiwillige Ausreise auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen einzuräumen und gleichzeitig sicherzustellen, dass den Drittstaatsangehörigen die für die Antragstellung erforderlichen Informationen ordnungsgemäß und systematisch erteilt werden.
Programme zur Unterstützung der freiwilligen Rückkehr: Nach der Rückführungsrichtlinie sind die Mitgliedstaaten zwar nicht verpflichtet, ein Programm zur Unterstützung der freiwillige Rückkehr aufzulegen, in Erwägungsgrund 10 wird allerdings Folgendes bekräftigt: „Zur Förderung der freiwilligen Rückkehr sollten die Mitgliedstaaten eine verstärkte Rückkehrhilfe und -beratung gewähren und die einschlägigen … Finanzierungsmöglichkeiten optimal nutzen.“ Die Mitgliedstaaten werden daher nachdrücklich ermutigt, — im Zuge der Bemühungen zur Förderung einer menschenwürdigen Rückkehr und generell im Hinblick auf eine bessere Durchsetzung der Rückkehr — im Rahmen der Verfahren Programme zur Unterstützung der freiwilligen Rückkehr bereitzustellen. Um den Zugang zu solchen Regelungen zu erleichtern und dafür zu sorgen, dass die betreffenden Drittstaatsangehörigen in Kenntnis der Sachlage eine Entscheidung treffen können, sollten die Mitgliedstaaten für eine angemessene Verbreitung von Informationen über die freiwillige Rückkehr und die Programme zur Unterstützung der freiwilligen Rückkehr sorgen. Dabei sollten sie auch mit nationalen Behörden (wie Bildungs-, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen), Nichtregierungsorganisationen und sonstigen Stellen zusammenarbeiten, die möglicherweise direkt mit Drittstaatsangehörigen in Kontakt kommen. Minderjährige sollten auf kindgerechte und ihrem Alter und den Umständen angemessene Art und Weise informiert werden. Die nationalen Programme sollten sich an den von den Mitgliedstaaten umgesetzten unverbindlichen gemeinsamen Standards für die Programme zur Unterstützung der freiwilligen Rückkehr (und der Wiedereingliederung) (39) orientieren, die die Kommission in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten ausgearbeitet und der Rat „Justiz und Inneres“ in seinen Schlussfolgerungen vom 9./10. Juni 2016 (40) gebilligt hat.
Die Expertengruppe für Rückführung (Return Expert Group — REG) des Europäischen Migrationsnetzwerks (EMN) setzt sich für eine bessere praktische Zusammenarbeit zwischen den Staaten und Akteuren im Bereich von Programmen für Rückkehr, unterstützte freiwillige Rückkehr und Wiedereingliederung ein. Sie bietet sich für die Sammlung und den Austausch von Informationen als zentrales Gremium an, von dem die Mitgliedstaaten aktiv Gebrauch machen sollten.
Weitere Klarstellung:
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Der Zeitrahmen sieben bis 30 Tage stellt einen allgemeinen Grundsatz dar. Die Mitgliedstaaten müssen eine Frist festsetzen, die sich in diesem Zeitrahmen bewegt, sofern nicht besondere Umstände des Einzelfalls eine Verlängerung gemäß Artikel 7 Absatz 2 der Rückführungsrichtlinie rechtfertigen (siehe Abschnitt 6.1). |
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Die Gewährung von grundsätzlich 60 Tagen wäre mit der in der Rückführungsrichtlinie festgelegten Harmonisierung und gemeinsamen Disziplin eines Zeitrahmens von sieben bis 30 Tagen unvereinbar und lässt sich daher nicht als günstigere Vorschrift gemäß Artikel 4 Absatz 3 begründen. Fristen zwischen 30 und 60 Tagen (also über den durch Absatz 1 harmonisierten Rahmen hinaus), die nur bei Vorliegen besonderer Umstände (nach Absatz 2) gewährt werden, sind jedoch durch Artikel 7 Absatz 2 der Rückführungsrichtlinie abgedeckt. |
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Im Einklang mit den Anforderungen, die sich aus dem in Artikel 41 Absatz 2 GRC anerkannten Recht, gehört zu werden, ergeben, sollten die Mitgliedstaaten dem Rückkehrer die Möglichkeit einräumen, individuelle Umstände und Bedürfnisse darzulegen, die bei der Festlegung der zu gewährenden Frist zu berücksichtigen sind, und zwar sowohl, wenn die Frist für die freiwillige Ausreise von Amts wegen festgesetzt wird, als auch bei Festsetzung der Frist auf Antrag des Rückkehrers. |
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Auch wenn die Rückführungsrichtlinie die erzwungene Rückführung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen während der Frist für die freiwillige Ausreise untersagt, hindert sie die Mitgliedstaaten nicht daran, während dieser Frist die erforderlichen Verwaltungsverfahren im Hinblick auf die etwaige Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung (wie Kontaktaufnahme mit den Behörden von Drittländern für die Beschaffung der Reisedokumente und logistische Organisation der Abschiebung) einzuleiten. |
Auf der Grundlage einer Bewertung der persönlichen Situation des Drittstaatsangehörigen und unter besonderer Berücksichtigung der Rückkehraussichten und der Bereitschaft des Drittstaatsangehörigen, mit den zuständigen Behörden zu kooperieren, empfiehlt die Kommission den Mitgliedstaaten, die kürzeste Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, die notwendig ist, um die Rückkehr zu organisieren und durchzuführen. Eine Frist von mehr als sieben Tagen sollte nur dann eingeräumt werden, wenn der Drittstaatsangehörige im Zuge des Rückkehrprozesses aktiv kooperiert.
6.1. Verlängerte Frist für die freiwillige Ausreise
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 7 Absatz 2
Die Mitgliedstaaten verlängern – soweit erforderlich – die Frist für die freiwillige Ausreise unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls – wie etwa Aufenthaltsdauer, Vorhandensein schulpflichtiger Kinder und das Bestehen anderer familiärer und sozialer Bindungen – um einen angemessenen Zeitraum.
Für die Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise ist keine Höchstgrenze festgelegt worden, sodass jeder Einzelfall entsprechend den nationalen Durchführungsbestimmungen und der einzelstaatlichen Verwaltungspraxis separat behandelt werden sollte. Die Mitgliedstaaten verfügen über einen weiten Ermessensspielraum, wenn zu beurteilen ist, ob die Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise „angemessen“ wäre. Angesichts der Bezugnahme der Richtlinie auf schulpflichtige Kinder ist eine Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise bis zum Ende des Schulhalbjahres oder Schuljahres oder für die Dauer von bis zu einem Schuljahr möglich, sofern dies dem Wohl des Kindes dient und alle relevanten Umstände des Falls gebührend berücksichtigt werden.
Eine Verlängerung der Frist über 30 Tage hinaus kann bereits von vornherein (ab Erlass der Rückkehrentscheidung) gewährt werden, wenn dies aufgrund der Einzelfallprüfung gerechtfertigt ist. Es ist nicht notwendig, zunächst eine Frist von 30 Tagen einzuräumen und diese anschließend zu verlängern.
Die Formulierung „ soweit erforderlich “ bezieht sich auf Umstände sowohl im Einflussbereich der zur Rückkehr verpflichteten Person als auch im Einflussbereich des rückführenden Staates. Die Mitgliedstaaten verfügen über einen Ermessensspielraum, was den Inhalt und die Regelungstiefe ihrer Durchführungsbestimmungen in dieser Frage betrifft.
Die in Artikel 7 Absatz 2 genannten drei Aspekte (Aufenthaltsdauer, Vorhandensein schulpflichtiger Kinder, familiäre Bindungen) sollten in den nationalen Durchführungsbestimmungen und in der einzelstaatlichen Verwaltungspraxis ausdrücklich beachtet werden. Die Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten können detaillierter sein und weitere Verlängerungsgründe vorsehen, sollten jedoch nicht weniger genau sein, damit die Harmonisierung nicht beeinträchtigt wird.
6.2. Verpflichtungen bis zum Zeitpunkt der freiwilligen Rückkehr
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 7 Absatz 3
Den Betreffenden können für die Dauer der Frist für die freiwillige Ausreise bestimmte Verpflichtungen zur Vermeidung einer Fluchtgefahr auferlegt werden, wie eine regelmäßige Meldepflicht bei den Behörden, die Hinterlegung einer angemessenen finanziellen Sicherheit, das Einreichen von Papieren oder die Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten.
Die in Artikel 7 Absatz 3 der Rückführungsrichtlinie aufgeführten Verpflichtungen können auferlegt werden, wenn Fluchtgefahr zu vermeiden ist. Ergibt die Einzelfallprüfung, dass keine besonderen Umstände vorliegen, so sind diese Verpflichtungen nicht gerechtfertigt — siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-61/11, El Dridi, Rn. 37: „Nach Art. 7 Abs. 3 und 4 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten nur unter besonderen Umständen, etwa wenn Fluchtgefahr besteht, zum einen dem Adressaten einer Rückkehrentscheidung aufgeben, sich regelmäßig bei den Behörden zu melden, eine angemessene finanzielle Sicherheit zu hinterlegen, Papiere einzureichen oder sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, und zum anderen eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen oder gar keine solche Frist vorsehen.“ Die Kommission empfiehlt den Mitgliedstaaten, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, damit während der Frist für die freiwillige Ausreise eine Fluchtgefahr vermieden wird.
Die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, dem Betreffenden bestimmte Verpflichtungen aufzuerlegen, kann für den Rückkehrer durchaus von Vorteil sein, da sich auf diese Weise eine Frist für die freiwillige Ausreise in Fällen einräumen lässt, in denen ein solches Vorgehen ansonsten normalerweise nicht vorgesehen ist.
Die Angabe eines generell zugrunde zu legenden Betrags für eine „angemessene finanzielle Sicherheit“ ist nicht möglich. Auf jeden Fall ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren, d. h. der Betrag sollte der persönlichen Situation des Rückkehrers Rechnung tragen. In der derzeitigen Praxis der Mitgliedstaaten sind Beträge von etwa 200 bis 5 000 EUR vorgesehen.
Sollte es im Einzelfall erforderlich sein, so können die in Artikel 7 Absatz 3 genannten Verpflichtungen auch kumulativ auferlegt werden.
Legen die Mitgliedstaaten Verpflichtungen gemäß Artikel 7 Absatz 3 fest, sollten sie der persönlichen Situation des Rückkehrers Rechnung tragen und die uneingeschränkte Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gewährleisten. Sie sollten vermeiden, Verpflichtungen aufzuerlegen, die sich de facto nicht einhalten lassen (wenn beispielsweise eine Person nicht im Besitz eines Reisepasses ist, wird sie ihn auch nicht vorlegen können).
6.3. „Kontraindikationen“
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 7 Absatz 4
Besteht Fluchtgefahr oder ist der Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden oder stellt die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar, so können die Mitgliedstaaten davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder sie können eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen.
Den Mitgliedstaaten steht es frei, von der Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise in den (in Artikel 7 Absatz 4 der Rückführungsrichtlinie erschöpfend aufgeführten) Fällen abzusehen, in denen „Kontraindikationen“ vorliegen, namentlich wenn bei dem Drittstaatsangehörigen Fluchtgefahr besteht (siehe Abschnitt 1.6) oder wenn er eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt (zum Beispiel Verurteilung wegen schwerer Straftaten, auch wenn diese in anderen Mitgliedstaaten begangen wurden) und wenn der Antrag auf eine Aufenthaltsberechtigung (beispielsweise Asylantrag oder Antrag auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels) als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden ist.
Lässt sich auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung feststellen, dass solche „Kontraindikationen“ in einem bestimmten Fall gegeben sind, so sollte keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt werden, und eine Frist von weniger als sieben Tagen sollte nur eingeräumt werden, wenn dadurch die nationalen Behörden nicht daran gehindert werden, die Abschiebung durchzuführen.
Allerdings können die Mitgliedstaaten ihre Beurteilung der Lage jederzeit ändern (so kann ein bislang nicht kooperativer Rückzuführender seine Einstellung ändern und ein Angebot für die unterstützte freiwillige Rückkehr annehmen) und eine Frist für die freiwillige Ausreise gewähren, obwohl zunächst Fluchtgefahr bestand.
Weitere Klarstellung:
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Es ist nicht möglich, generell allen illegal Einreisenden die Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise zu versagen. Eine allgemeine Regelung dieser Art würde der Definition des Begriffs „Fluchtgefahr“, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Pflicht zur Einzelfallprüfung zuwiderlaufen und die praktische Wirksamkeit von Artikel 7 (Förderung der freiwilligen Ausreise) untergraben. |
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Es ist möglich, gemäß Artikel 7 Absatz 4 Drittstaatsangehörige auszuschließen, die Anträge missbräuchlich gestellt haben. Artikel 7 Absatz 4 erstreckt sich ausdrücklich auf offensichtlich unbegründete oder missbräuchliche Anträge. Da missbräuchlichen Anträgen in der Regel ein verwerflicheres Verhalten zugrunde liegt als offensichtlich unbegründeten Anträgen, sollte Artikel 7 Absatz 4 so ausgelegt werden, dass auch missbräuchlich gestellte Anträge erfasst sind. |
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Es ist auch möglich, Personen auszuschließen, die eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellen. In der Rechtssache C-554/13, Zh. und O. (41), stellte der EuGH dazu klar, dass es den Mitgliedstaaten im Wesentlichen weiterhin freisteht, nach ihren nationalen Bedürfnissen zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung erfordert. Der Begriff der „Fluchtgefahr“ unterscheidet sich von der „Gefahr für die öffentliche Ordnung“. So setzt eine „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ neben der Störung der gesellschaftlichen Ordnung, die jede Rechtsverletzung mit sich bringt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr voraus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Ein Mitgliedstaat kann einen Drittstaatsangehörigen nicht allein deshalb als Gefahr für die öffentliche Ordnung betrachten, weil er einer nach nationalem Recht strafbaren Handlung verdächtig ist oder dafür in einem Strafverfahren verurteilt wurde. Auch andere Faktoren wie Art und Schwere der Handlung, die seit der Handlung verstrichene Zeit sowie alle Angelegenheiten, die sich auf die Stichhaltigkeit des Verdachts beziehen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige die zur Last gelegte Straftat begangen hat, sind für die stets vorzunehmende Einzelfallprüfung von Belang. |
6.4. Konforme Anwendung in der Praxis — Transit auf dem Landweg
Anhang 39 des Schengen-Handbuchs „Standardformular für die Anerkennung einer Rückkehrentscheidung für die Zwecke des Transits auf dem Landweg“
Karte der teilnehmenden Mitgliedstaaten (verfügbar als EMN-Ad-hoc-Anfrage, Rückkehr, 2015, auf der Europa-Website des EMN)
Zur Erinnerung/Erläuterung: Eine zur Rückkehr verpflichtete Person, die innerhalb der Frist für die freiwillige Ausreise auf dem Landweg das Gebiet der EU verlassen will, besitzt — auf ihrem Weg in das Rückkehrland — für die Durchreise durch einen anderen Mitgliedstaat kein gültiges Visum oder eine andere Genehmigung und läuft daher Gefahr, dass sie unterwegs von der Polizei aufgegriffen bzw. aufgehalten wird und der Transitmitgliedstaat eine zweite Rückkehrentscheidung gegen sie erlässt. Dies läuft dem politischen Ziel der Rückführungsrichtlinie — Sicherstellung der tatsächlichen Rückkehr, unter anderem durch freiwillige Ausreise — zuwider.
Die Ausstellung eines Transitvisums für den Rückkehrer wäre eine unangemessene und ungeeignete Lösung, da die Erteilung eines Visums für ausreisepflichtige illegal aufhältige Drittstaatsangehörige gegen die EU-Vorschriften über Visa verstoßen würde. Darüber hinaus haben die Transitmitgliedstaaten offenbar keinen Anreiz, derartige Visa auszustellen (Fluchtgefahr und/oder Abschiebekosten) und lehnen in der Praxis die Ausstellung eines Visums daher häufig ab. Auch die Einführung eines „Europäischen Passierscheins“ für den Rückkehrer bietet keine Lösung: Da der Rechtscharakter und die rechtlichen Auswirkungen eines derartigen Passierscheins nicht klar festgelegt sind, würde der Rückkehrer — rein rechtlich gesehen — weiterhin als illegal aufhältig im Transitmitgliedstaat gelten, sodass gemäß Artikel 6 Absatz 1 eine neue Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen werden könnte.
Eine Möglichkeit zur Umgehung des Problems ist die Förderung der direkten Rückkehr in ein Drittland auf dem Luftweg. Dies kann jedoch für den Rückkehrer teuer und nicht praktikabel sein.
Eine ausdrücklich von der Kommission empfohlene Vorgehensweise besteht darin, dass die Transitmitgliedstaaten Rückkehrentscheidungen des ersten Mitgliedstaats auf der Grundlage von Anhang 39 des Schengen-Handbuchs „Standardformular für die Anerkennung einer Rückkehrentscheidung für die Zwecke des Transits auf dem Landweg“ (herausgegeben von der Kommission im September 2011 nach auf technischer Ebene geführte Konsultationen mit betroffenen Mitgliedstaaten und Gesprächen innerhalb der Gruppe „Migration und Rückführung“ des Rates der Europäischen Union) anerkennen.
Bei dieser Vorgehensweise können die Transitmitgliedstaaten die Rückkehrentscheidung des ersten Mitgliedstaats einschließlich der Frist für die freiwillige Ausreise anerkennen und ermöglichen dem Rückkehrer die Durchreise auf der Grundlage der anerkannten Entscheidung und der anerkannten Frist für die freiwillige Ausreise. Dies hat den Vorteil, dass der Transitmitgliedstaat nicht verpflichtet ist, eine neue Rückkehrentscheidung zu erlassen, und den ersten Mitgliedstaat um Erstattung aller Kosten im Zusammenhang mit einer Abschiebung ersuchen kann, falls etwas nicht wie geplant abläuft und der Rückkehrer auf Kosten des Transitstaates abgeschoben werden muss (anwendbar ist hier die Entscheidung 2004/191/EG des Rates (42)).
Mitgliedstaaten, die noch zögern, diese freiwillige Option (entweder als sendender oder als empfangender Mitgliedstaat) anzuwenden, werden ermutigt, sich zu beteiligen und die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten von ihrer Teilnahme in Kenntnis zu setzen.
Weitere Klarstellung:
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Form der Anerkennung: Die sehr breit gefasste und allgemein gehaltene Formulierung der Richtlinie 2001/40/EG lässt einen Ermessensspielraum zu, was die praktischen Modalitäten (Verfahrensdetails) der gegenseitigen Anerkennung entsprechend den praktischen Erfordernissen und nationalen Rechtsvorschriften betrifft. Das in Anhang 39 des Schengen-Handbuchs vorgeschlagene Formular ermöglicht eine, aber nicht die einzige Vorgehensweise. |
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Rechtlich gesehen werden alle relevanten Elemente der von Mitgliedstaat A erlassenen Rückkehrentscheidung von Mitgliedstaat B anerkannt, einschließlich der Erklärung, dass der Drittstaatsangehörige illegal aufhältig ist und ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt wurde — mit Wirkung für das Hoheitsgebiet des anerkennenden Mitgliedstaats B. |
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Der anerkennende Mitgliedstaat genießt drei verschiedene „Garantien“:
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6.5. Konforme Anwendung in der Praxis — Transit auf dem Landweg
Die Richtlinie 2003/110/EG des Rates (43) über die Unterstützung bei der Durchbeförderung im Rahmen von Rückführungsmaßnahmen auf dem Luftweg bietet den rechtlichen Rahmen, den die zuständigen Behörden für die Zusammenarbeit auf den Transitflughäfen der Mitgliedstaaten bei auf dem Luftweg erfolgenden unbegleiteten bzw. begleiteten Rückführungen nutzen können. Der Begriff „unbegleitete Rückführung“ in dieser Richtlinie (die fünf Jahre vor der Rückführungsrichtlinie erlassen wurde) kann so ausgelegt werden, dass er auch die „freiwillige Ausreise“ im Sinne der Rückführungsrichtlinie (44) umfasst. Die Kommission empfiehlt, von der Richtlinie 2003/110/EG bei der Organisation der Durchbeförderung auf dem Luftweg im Rahmen der freiwilligen Ausreise systematisch Gebrauch zu machen (siehe auch Abschnitt 7.2).
6.6. Erfassung der freiwilligen Ausreise
Derzeit gibt es kein zentrales EU-System für die Erfassung freiwilliger Ausreisen. Bei der Durchbeförderung von Rückkehrern auf dem Landweg gemäß der Empfehlung in Anhang 39 des Schengen-Handbuchs sendet der entsprechende Grenzschutzbeamte eine Bestätigung per Fax an den Mitgliedstaat, der die Rückkehrentscheidung erlassen hat. In anderen Fällen melden sich Rückkehrer mitunter bei den Konsulaten der Mitgliedstaaten in den betreffenden Drittländern. Zuweilen wird die Ausreise auch von Grenzschutzbeamten bei der Ausreisekontrolle erfasst. Aufgrund des Fehlens eines zentralen Systems der Union für die Erfassung freiwilliger Ausreisen entsteht eine Lücke sowohl bei der Überprüfung der Durchsetzung als auch in statistischer Hinsicht. Der Vorschlag der Kommission für eine Verordnung über die Nutzung des Schengener Informationssystems für die Rückkehr illegal aufhältiger Drittstaatsangehörigen (45) zielt darauf ab, diese Lücke zu schließen.
Kurzfristig sollten die Mitgliedstaaten die Voraussetzungen dafür schaffen, dass nachgeprüft werden kann, ob ein Drittstaatsangehöriger die Union tatsächlich verlassen hat und ob dies innerhalb der für die freiwillige Ausreise gesetzten Frist und ohne Unterstützung geschehen ist, und dass andernfalls wirksame Folgemaßnahmen getroffen werden. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, die zur Verfügung stehenden Informationskanäle bestmöglich auf folgende Weise zu nutzen:
1. |
Zur Rückkehr verpflichteten Personen, denen eine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, sollten dazu aufgefordert werden, die Behörden, die die Rückkehrentscheidung (und das Einreiseverbot) erlassen haben, über ihre erfolgreiche Ausreise in Kenntnis zu setzen. Der Rückkehrer kann seine Ausreise dem Grenzschutzbeamten (bei der Ausreise), in der konsularischen Vertretung eines Mitgliedstaats in seinem Herkunftsland (nach der Rückkehr) oder auch schriftlich (mit beigefügtem hinreichendem Nachweis) mitteilen. Zur Verbesserung dieser Praxis könnte der Rückkehrentscheidung oder dem Reisedokument systematisch ein Informationsblatt beigefügt werden, auf dem der Name und andere Identifikatoren des Drittstaatsangehörigen sowie Anweisungen und Kontaktangaben der erlassenden Behörde vermerkt sind, sodass es der Grenzschutzbeamte bei der Ausreise abstempeln und als Ausreisenachweis an die erlassende Behörde zurücksenden kann. In diesem Informationsblatt könnte der Rückkehrer auch auf die Vorzüge der Meldung der erfolgreichen Ausreise bei den Behörden hingewiesen werden. |
2. |
Die die Ausreisekontrolle durchführenden Grenzschutzbeamten sollten angewiesen werden, sich bei der Ausreise irregulärer Migranten danach zu erkundigen, ob gegen die Betreffenden eine Rückkehrentscheidung mit einer Frist für die freiwillige Rückkehr erlassen wurde, und in diesen Fällen die Behörden, die die Rückkehrentscheidung erlassen haben, systematisch über die Ausreise zu informieren. |
3. |
Unter Verwendung von Anhang 39 (siehe Abschnitt 6.4) sollte die Ausreise illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, die auf dem Landweg durch das Hoheitsgebiet eines anderen als des Mitgliedstaats, der die Rückkehrentscheidung erlassen hat, durchreisen, bestätigt werden. |
Die Mitgliedstaaten sollten auch erwägen, mit Fluggesellschaften Kontakt aufzunehmen, um Informationen darüber zu erhalten, ob sich die ohne Begleitung zurückkehrenden Drittstaatsangehörigen zum Zeitpunkt der voraussichtlichen Ausreise an Bord des Flugzeugs befanden.
7. ABSCHIEBUNG
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 8 Absätze 1 bis 4
(1) |
Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist. |
(2) |
Hat ein Mitgliedstaat eine Frist für die freiwillige Ausreise gemäß Artikel 7 eingeräumt, so kann die Rückkehrentscheidung erst nach Ablauf dieser Frist vollstreckt werden, es sei denn, innerhalb dieser Frist entsteht eine der Gefahren im Sinne von Artikel 7 Absatz 4. |
(3) |
Die Mitgliedstaaten können eine getrennte behördliche oder gerichtliche Entscheidung oder Maßnahme erlassen, mit der die Abschiebung angeordnet wird. |
(4) |
Machen die Mitgliedstaaten – als letztes Mittel – von Zwangsmaßnahmen zur Durchführung der Abschiebung von Widerstand leistenden Drittstaatsangehörigen Gebrauch, so müssen diese Maßnahmen verhältnismäßig sein und dürfen nicht über die Grenzen des Vertretbaren hinausgehen. Sie müssen nach dem einzelstaatlichen Recht im Einklang mit den Grundrechten und unter gebührender Berücksichtigung der Menschenwürde und körperlichen Unversehrtheit des betreffenden Drittstaatsangehörigen angewandt werden. |
In der Rückführungsrichtlinie ist ein Ziel festgelegt („Vollstreckung der Rückkehrentscheidung“), das auf wirksame und verhältnismäßige Weise mit „allen erforderlichen Maßnahmen“ erreicht werden sollte, wobei die konkreten Modalitäten (das „Wie“) in den Rechtsvorschriften und der Verwaltungspraxis der Mitgliedstaaten zu regeln ist — siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-329/11, Achughbabian, Rn. 36: „… die darin verwendeten Begriffe ‚Maßnahmen‘ und ‚Zwangsmaßnahmen‘ (beziehen) sich auf jegliches Vorgehen …, das auf wirksame Weise unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit zur Rückkehr des Betroffenen führt.“
Ungeachtet der Verpflichtung eines Drittstaatsangehörigen, bei seiner Identifizierung zu kooperieren und die erforderlichen Dokumente bei seinen nationalen Behörden zu beantragen, beinhaltet die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, „alle erforderlichen Maßnahmen“ zu ergreifen, auch, dass das für die Rückübernahme vorgesehene Drittland zügig aufgefordert wird, ein gültiges Identitäts- oder Reisedokument auszustellen oder das für die Rückkehr ausgestellte europäische Reisedokument (46) anzuerkennen — sofern dies in den geltenden Abkommen oder Vereinbarungen mit dem betreffenden Drittland vorgesehen ist —, um die tatsächliche Verbringung des Drittstaatsangehörigen aus dem Mitgliedstaat zu ermöglichen. Die Verwendung des europäischen Reisedokuments für die Rückkehr sollte in Verhandlungen und im Rahmen der Anwendung von bilateralen und EU-Rückübernahmeabkommen und sonstigen Vereinbarungen mit Drittländern weiter gefördert werden. In Zusammenarbeit mit Drittländern können während der Frist für die freiwillige Ausreise Verwaltungsverfahren zur Vorbereitung der Abschiebung (beispielsweise für die Beschaffung der erforderlichen Reisedokumente und Genehmigungen) eingeleitet werden, wobei der betreffende Drittstaatsangehörige keinerlei Gefahren ausgesetzt werden darf (siehe auch Abschnitt 6).
Zur Verringerung der Auswirkungen eines möglichen Missbrauchs, vor allem im Zusammenhang mit unbegründeten, mehrfachen und „in letzter Minute“ gestellten Asylanträgen sowie unbegründeten Rechtsbehelfen gegen Asylentscheidungen oder rückkehrbezogene Entscheidungen, deren Zweck einzig und allein darin besteht, die Vollstreckung von Rückkehrentscheidungen zu verzögern oder zu vereiteln, empfiehlt die Kommission den Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu ergreifen, um nach Maßgabe der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (47) („Asylverfahrensrichtlinie“) Modalitäten für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz in einem beschleunigten Verfahren oder gegebenenfalls einem Verfahren an der Grenze festzulegen.
Abgrenzung zwischen freiwilliger Ausreise und Abschiebung: Der Begriff „Rückkehr“ ist sehr breit gefasst und erstreckt sich auf den Prozess der Rückkehr in ein Drittland in (freiwilliger oder erzwungener) Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung. Der Begriff „Abschiebung“ hingegen ist weitaus enger gefasst und bedeutet die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat. Der EuGH hat bereits in der Rechtssache C-61/11, El Dridi, (Rn. 41) und der Rechtssache C-329/11, Achughbabian, darauf hingewiesen, dass die Rückführungsrichtlinie eine „Abstufung von Maßnahmen“ von freiwillig bis erzwungen vorsieht. In der Praxis gibt es häufig Fälle, die Elemente sowohl der erzwungenen Rückkehr (Inhaftnahme) als auch der Freiwilligkeit (spätere freiwillige Ausreise ohne Zwangsmaßnahmen) enthalten. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, in allen Phasen des Verfahrens die am wenigsten einschneidenden Maßnahmen anzuwenden. Ändern Rückzuführende, die sich in Abschiebehaft befinden, ihre Einstellung und zeigen Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise, sind die Mitgliedstaaten gehalten und berechtigt, flexibel zu handeln.
Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung nach Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz: In seinem Urteil in der Rechtssache C-601/15, J. N. (Rn. 75, 76 und 80) hat der EuGH festgestellt, dass nach der erstinstanzlichen Ablehnung eines Asylantrags die Vollstreckung einer zuvor erlassenen Rückkehrentscheidung in dem Stadium, in dem sie unterbrochen wurde, fortgeführt werden muss und dass das Rückkehrverfahren nicht von vorne beginnen sollte: „… die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 2008/115/EG verlangt, dass ein nach dieser Richtlinie eingeleitetes Verfahren, in dessen Rahmen eine Rückkehrentscheidung, … einhergehend mit einem Einreiseverbot, ergangen ist, in dem Stadium, in dem es wegen der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz unterbrochen wurde, wieder aufgenommen werden kann, sobald dieser Antrag erstinstanzlich abgelehnt wurde … Insoweit ergibt sich sowohl aus der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten, die aus Art. 4 Abs. 3 EUV folgt und auf die in Rn. 56 des Urteils El Dridi … hingewiesen wird, als auch aus den … Erfordernissen der Wirksamkeit, dass die den Mitgliedstaaten durch Art. 8 dieser Richtlinie auferlegte Pflicht, in den in Art. 8 Abs. 1 genannten Fällen die Abschiebung vorzunehmen, binnen kürzester Frist zu erfüllen ist … Dieser Pflicht würde aber nicht genügt, wenn die Abschiebung dadurch verzögert würde, dass nach der erstinstanzlichen Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz ein Verfahren … nicht in dem Stadium, in dem es unterbrochen wurde, fortgeführt würde, sondern von vorne beginnen müsste.“
Freiheitsentzug als strafrechtliche Maßnahme bei illegalem Aufenthalt kann niemals eine „erforderliche Maßnahme“ im Sinne von Artikel 8 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie sein (siehe Abschnitt 4). Im Einklang mit dem unter Berücksichtigung des Artikels 5 EMRK ausgelegten Artikel 6 GRC über das Recht auf Freiheit ist nach Maßgabe des Artikels 15 der Rückführungsrichtlinie Freiheitsentzug im Kontext der Rückkehr/Rückführung nur für die Zwecke der Abschiebung zulässig — siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-329/11, Achughbabian (Rn. 37): „Die Verhängung und Vollstreckung einer Freiheitsstrafe während des von der Richtlinie 2008/115/EG vorgesehenen Rückkehrverfahrens trägt nicht zur Verwirklichung der mit diesem Verfahren verfolgten Abschiebung bei, d. h. zur tatsächlichen Verbringung des Betroffenen aus dem entsprechenden Mitgliedstaat. Eine derartige Strafe stellt somit keine „Maßnahme“ oder „Zwangsmaßnahme“ im Sinne von Art. 8 der Richtlinie 2008/115/EG dar.“
Gemäß Artikel 5 Buchstabe c berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie in gebührender Weise den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen; außerdem wahren sie bei derVollstreckung von Rückkehrentscheidungen in Anwendung von Artikel 8 Absatz 1 der Richtlinie die Würde und körperliche Unversehrtheit der Drittstaatsangehörigen in gebührender Weise. Unter vollständiger Achtung des Rechts auf Gesundheit und angesichts dessen, dass nach der Richtlinie keine Verpflichtung zur systematischen Durchführung ärztlicher Untersuchungen oder zur Ausstellung einer „Flugtauglichkeitserklärung“ bei allen abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen besteht, empfiehlt die Kommission den Mitgliedstaaten, Maßnahmen gegen potenziellen Missbrauch durch falsche Angaben der Drittstaatsangehörigen zu ihrem Gesundheitszustand zu ergreifen, die ungerechtfertigterweise zur Verhinderung oder Aussetzung der Abschiebung aus medizinischen Gründen führen würden (siehe auch Abschnitt 12.4), beispielsweise indem sie sicherstellen, dass von der zuständigen nationalen Behörde bestelltes qualifiziertes medizinisches Fachpersonal für eine unabhängige und objektive ärztliche Begutachtung des jeweiligen Falls zur Verfügung steht.
7.1. Abschiebung auf dem Luftweg
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 8 Absatz 5; Gemeinsame Leitlinien für Sicherheitsvorschriften bei gemeinsamen Rückführungen auf dem Luftweg im Anhang zur Entscheidung 2004/573/EG des Rates (48); Verordnung (EU) 2016/1624 des Europäischen Parlaments und des Rates (49) — Artikel 28 Absatz 3
Bei der Durchführung der Abschiebungen auf dem Luftweg tragen die Mitgliedstaaten den Gemeinsamen Leitlinien für Sicherheitsvorschriften bei gemeinsamen Rückführungen auf dem Luftweg im Anhang zur Entscheidung 2004/573/EG Rechnung.
Gemäß der Rückführungsrichtlinie haben die Mitgliedstaaten den Gemeinsamen Leitlinien für Sicherheitsvorschriften bei gemeinsamen Rückführungen auf dem Luftweg im Anhang zur Entscheidung 2004/573/EG Rechnung zu tragen, und zwar bei sämtlichen Abschiebungen auf dem Luftweg und nicht nur — wie ursprünglich in dieser Entscheidung vorgesehen — bei gemeinsamen Rückführungen.
Einige Teile dieser Leitlinien sind naturgemäß so konzipiert, dass sie nur bei Sammelflügen zu berücksichtigen sind, beispielsweise die Regeln für die Zuständigkeit und Aufgabenteilung des organisierenden Mitgliedstaats und der teilnehmenden Mitgliedstaaten. Daher sind sie in einem rein nationalen Kontext nicht maßgeblich. Alle anderen Teile der Leitlinien (siehe die wichtigsten Auszüge im nachstehenden Kasten) sollten jedoch auch bei rein nationalen Abschiebungen Berücksichtigung finden.
GEMEINSAME LEITLINIEN FÜR SICHERHEITSVORSCHRIFTEN BEI GEMEINSAMEN RÜCKFÜHRUNGEN AUF DEM LUFTWEG
(Auszüge)
1. PHASE VOR DER RÜCKFÜHRUNG
1.1.2 Gesundheitszustand und Gesundheitsunterlagen
Der organisierende Mitgliedstaat und jeder teilnehmende Mitgliedstaat stellt sicher, dass der Gesundheitszustand der rückzuführenden Personen, für die er zuständig ist, eine rechtlich und faktisch sichere Rückführung auf dem Luftweg erlaubt. Für rückzuführende Personen, bei denen ein Gesundheitsproblem entdeckt wurde oder bei denen eine ärztliche Behandlung erforderlich ist, werden Gesundheitsunterlagen zur Verfügung gestellt. Die Gesundheitsunterlagen umfassen die Ergebnisse ärztlicher Untersuchungen, eine Diagnose und Angaben zu möglicherweise erforderlichen Arzneimitteln, damit die nötigen medizinischen Maßnahmen durchgeführt werden können. …
1.1.3 Reisedokumente
Der organisierende Mitgliedstaat und jeder teilnehmende Mitgliedstaat stellt sicher, dass für jede rückzuführende Person gültige Reisedokumente und andere erforderliche Urkunden, Nachweise oder sonstige Unterlagen vorliegen. Diese werden bis zur Ankunft im Zielland von einer dazu befugten Person unter Verschluss gehalten. …
1.2.3 Private Sicherheitsdienste als Begleitpersonal
Setzt ein teilnehmender Mitgliedstaat private Sicherheitsdienste als Begleitpersonal ein, so tragen die Behörden dieses Mitgliedstaats dafür Sorge, dass sich mindestens ein amtlicher Vertreter dieses Landes an Bord des Luftfahrzeugs befindet.
1.2.4 Qualifikation und Lehrgänge für die Begleitpersonen
Die auf Sammelflügen eingesetzten Begleitpersonen müssen zuvor einen speziellen Rückführungslehrgang absolviert haben; je nach Einsatz erhalten sie auch die nötige medizinische Unterstützung.
…
1.2.5 Verhaltenskodex für Begleitpersonen
Die Begleitpersonen sind nicht bewaffnet. Sie können Zivilkleidung tragen, an der ein Erkennungszwecken dienendes Zeichen angebracht ist. Das übrige ordnungsgemäß ernannte Begleitpersonal trägt ebenfalls ein spezielles Zeichen.
Die Begleitpersonen wählen ihre Plätze im Flugzeug strategisch so, dass optimale Sicherheit gewährleistet ist. Dabei ist zu beachten, dass sie neben den rückzuführenden Personen sitzen, für die sie zuständig sind.
1.2.6 Vereinbarungen in Bezug auf die Zahl der Begleitpersonen
Die Zahl der erforderlichen Begleitpersonen wird auf der Grundlage einer Analyse der potenziellen Gefahren und nach gegenseitiger Absprache fallweise festgelegt. In den meisten Fällen sollte mindestens die gleiche Anzahl von Begleitpersonen und rückzuführenden Personen an Bord sein. Erforderlichenfalls (z. B. auf Langstreckenflügen) wird ein Ersatzteam zur Unterstützung bereitgestellt.
2. PHASE VOR DEM ABFLUG IN ABFLUG- ODER TRANSITFLUGHÄFEN
2.1 Beförderung zum und Aufenthalt im Flughafen
Hinsichtlich der Beförderung zum und des Aufenthalts im Flughafen gilt Folgendes:
a) |
Die Begleitpersonen und die rückzuführenden Personen finden sich grundsätzlich mindestens drei Stunden vor dem Abflug im Flughafen ein. |
b) |
Die Rückzuführenden werden über den Verlauf der Rückführung informiert; ihnen wird mitgeteilt, dass die Zusammenarbeit mit den Begleitpersonen in ihrem Interesse ist. Sie werden ferner darauf hingewiesen, dass störendes Verhalten weder geduldet wird noch einen Abbruch der Rückführung nach sich zieht. |
…
2.2 Einchecken, an Bord gehen und Sicherheitskontrollen vor dem Start
Hinsichtlich des Eincheckens, des An-Bord-Gehens und der Sicherheitskontrollen vor dem Start gilt Folgendes:
a) |
Die Begleitpersonen des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Rückführung beginnt, begleiten die rückzuführenden Personen beim Einchecken und beim Passieren der Kontrollbereiche. |
b) |
Jede rückzuführende Person wird einer ausführlichen Sicherheitskontrolle unterzogen, bevor sie an Bord des für den Sammelflug vorgesehenen Luftfahrzeugs geht. Gegenstände, die die Sicherheit von Personen oder die Flugsicherheit bedrohen könnten, werden beschlagnahmt und im Gepäckraum aufbewahrt. |
c) |
Das Gepäck der rückzuführenden Personen wird nicht in der Passagierkabine verstaut. Die im Gepäckraum verstauten Gepäckstücke werden einer Sicherheitskontrolle unterzogen und mit dem Namen des Eigentümers versehen. Alle nach den Richtlinien der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) als gefährlich eingestuften Gegenstände werden aus den Gepäckstücken herausgenommen. |
d) |
Geld und Wertgegenstände werden in einem mit dem Namen des Eigentümers versehenen transparenten Umschlag aufbewahrt. Die rückzuführenden Personen sind darüber zu informieren, was mit den beschlagnahmten Wertgegenständen und dem Geld geschieht. |
…
3. VERFAHREN WÄHREND DES FLUGS
…
3.2 Anwendung von Zwangsmaßnahmen
Für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen gilt Folgendes:
a) |
Bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen werden die Rechte des Einzelnen gebührend geachtet. |
b) |
Zwangsmaßnahmen können bei rückkehrunwilligen oder Widerstand leistenden Personen angewandt werden. Die Zwangsmaßnahmen müssen angemessen sein und dürfen nicht über die Grenzen des Vertretbaren hinausgehen. Die Würde und körperliche Unversehrtheit der rückzuführenden Person müssen gewahrt werden. Im Zweifelsfall ist die Rückführung, einschließlich der Anwendung rechtmäßiger Zwangsmaßnahmen, die durch den Widerstand und die Gefährlichkeit der rückzuführenden Person gerechtfertigt sind, nach dem Grundsatz „keine Rückführung um jeden Preis“ abzubrechen. |
c) |
Bei Zwangsmaßnahmen muss die freie Atmung des Rückzuführenden gewährleistet sein. Bei Anwendung von körperlicher Gewalt ist dafür Sorge zu tragen, dass der Rückzuführende in einer aufrechten Position verbleibt, die eine unbeeinträchtigte Atmung gewährleistet. |
d) |
Die Immobilisierung Widerstand leistender Personen kann durch Maßnahmen erreicht werden, die deren Würde und körperliche Unversehrtheit nicht berühren. |
e) |
Der organisierende Mitgliedstaat und alle teilnehmenden Mitgliedstaaten einigen sich vor der Rückführung auf eine Liste erlaubter Zwangsmaßnahmen. Die Verabreichung von Beruhigungsmitteln, mit denen die Rückführung erleichtert werden soll, ist unbeschadet etwaiger Notmaßnahmen zur Gewährleistung der Flugsicherheit verboten. |
f) |
Die Begleitpersonen werden über die erlaubten und verbotenen Zwangsmaßnahmen in Kenntnis gesetzt. |
g) |
Rückzuführende Personen, bei denen Zwangsmaßnahmen angewendet wurden, bleiben während der gesamten Flugdauer unter ständiger Kontrolle. |
h) |
Der Leiter der Rückführung oder sein Stellvertreter entscheidet über die vorübergehende Aufhebung von Zwangsmaßnahmen. |
3.3 Medizinisch ausgebildetes Personal und Dolmetscher
Für medizinisch ausgebildetes Personal und Dolmetscher gilt Folgendes:
a) |
Auf jedem Sammelflug sollte mindestens ein Arzt anwesend sein. |
b) |
Der Arzt hat Zugang zu den Gesundheitsunterlagen aller rückzuführenden Personen und wird vor dem Abflug über Rückzuführende mit besonderen Gesundheitsproblemen informiert. Zuvor nicht bekannte Gesundheitsprobleme, die unmittelbar vor dem Abflug entdeckt werden und die Vollstreckung der Rückführung beeinflussen können, sind in Abstimmung mit den zuständigen Behörden zu bewerten. |
c) |
Nur der Arzt darf den rückzuführenden Personen nach einer genauen ärztlichen Diagnose Medikamente verabreichen. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass sich die während des Fluges benötigten Medikamente an Bord befinden. |
d) |
Jede rückzuführende Person muss sich unmittelbar oder mithilfe eines Dolmetschers in einer Sprache, in der sie sich verständigen kann, an den Arzt oder die Begleitpersonen wenden können. |
e) |
Der organisierende Mitgliedstaat stellt sicher, dass eine angemessene Zahl von medizinisch und sprachlich ausgebildeten Personen für die Rückführung zur Verfügung stehen. |
3.4 Dokumentation und Überwachung von Rückführungen
3.4.1 Aufnahmen und Überwachung durch Dritte
Video- und/oder Audio-Aufnahmen oder die Überwachung von Rückführungen durch Dritte auf Sammelflügen unterliegen der vorherigen Zustimmung des organisierenden Mitgliedstaats und der teilnehmenden Mitgliedstaaten.
…
5. ANKUNFTSPHASE
Bei der Ankunft gilt Folgendes:
…
c) |
Der organisierende Mitgliedstaat und jeder teilnehmende Mitgliedstaat überstellen die aus seinem Land rückzuführenden Personen den Behörden des Ziellandes und übergeben ihnen das Gepäck und die vor dem An-Bord-Gehen beschlagnahmten Gegenstände. Die leitenden Vertreter des organisierenden Mitgliedstaats und der teilnehmenden Mitgliedstaaten sind dafür zuständig, bei der Ankunft den örtlichen Behörden die rückzuführenden Personen zu übergeben. Die Begleitpersonen verlassen das Luftfahrzeug in der Regel nicht. |
d) |
Im Rahmen des Angemessenen und Möglichen sollten der organisierende Mitgliedstaat und die teilnehmenden Mitgliedstaaten das Konsulatspersonal, die für Einwanderung zuständigen Verbindungsbeamten oder vorab entsandte Beamte der Mitgliedstaaten auffordern, die Übergabe der rückzuführenden Personen an die örtlichen Behörden in dem mit den nationalen Verfahren zu vereinbarenden Maß zu erleichtern. |
e) |
Bei der Übergabe an die örtlichen Behörden tragen die rückzuführenden Personen keine Handschellen und unterliegen auch keinen anderen Zwangsmaßnahmen. |
f) |
Die Überstellung der rückzuführenden Personen findet außerhalb des Luftfahrzeugs statt (entweder am Fuß der Gangway oder in einem dafür geeigneten Raum im Flughafen). Nach Möglichkeit ist zu vermeiden, dass sich die örtlichen Behörden an Bord des Luftfahrzeugs begeben. |
g) |
Der Aufenthalt im Flughafen des Ziellands sollte von möglichst kurzer Dauer sein. |
h) |
Der organisierende Mitgliedstaat und jeder teilnehmende Mitgliedstaat muss Notmaßnahmen für Begleitpersonen und Beamte (und die rückzuführenden Personen, deren Rückübernahme nicht genehmigt wurde) für den Fall vorsehen, dass sich der Abflug des Luftfahrzeugs nach dem Aussteigen der rückzuführenden Personen verzögert. Diese Maßnahmen umfassen erforderlichenfalls auch Vorkehrungen für die Übernachtung. |
6. SCHEITERN DER RÜCKFÜHRUNG
Verweigern die Behörden des Ziellandes die Einreise in ihr Hoheitsgebiet oder muss die Rückführung aus anderen Gründen abgebrochen werden, so veranlasst der organisierende Mitgliedstaat und jeder teilnehmende Mitgliedstaat auf seine Kosten die Rückkehr der rückzuführenden Personen in sein Hoheitsgebiet.
Weitere Klarstellung:
— |
Die Begleitung von rückzuführenden Personen durch das Sicherheitspersonal der Fluggesellschaft oder Fremdpersonal ist grundsätzlich mit Artikel 8 der Rückführungsrichtlinie vereinbar. Den Mitgliedstaaten kommt jedoch eine Gesamtverantwortung für die Durchführung der Abschiebung zu (Erlass der Abschiebungsanordnung und verhältnismäßiger Einsatz von Zwangsmaßnahmen/Begleitung). So sieht Abschnitt 1.2.3 der genannten Leitlinien Folgendes vor: „Setzt ein teilnehmender Mitgliedstaat private Sicherheitsdienste als Begleitpersonal ein, so tragen die Behörden dieses Mitgliedstaats dafür Sorge, dass sich mindestens ein amtlicher Vertreter dieses Landes an Bord des Luftfahrzeugs befindet.“ Daraus ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten in allen Fällen der „Fremdvergabe“ von Abschiebungen generell eine Aufsichtspflicht haben und der Einsatz von Sicherheitspersonal der Fluggesellschaften zu Begleitzwecken nicht ausgeschlossen ist, aber von mindestens einem Beamten des Mitgliedstaats genehmigt und begleitet werden muss. |
— |
Sammelrückkehraktionen (Drittstaatsbehörden schicken zur Rückführung ihrer Staatsangehörigen unter ihrer Aufsicht ein Flugzeug in die EU): Den Mitgliedstaaten kommt für die Durchführung der Rückführung, bis zu dem Zeitpunkt, da das Flugzeug den EU-Boden verlassen hat und die Übergabe an die Behörden des Ziellandes abgeschlossen ist, eine Gesamtverantwortung zu. Während der gesamten Rückführung müssen jedoch die Wahrung der Grundrechte sowie ein verhältnismäßiger Einsatz von Zwangsmitteln im Einklang mit den oben dargelegten gemeinsamen EU-Standards sichergestellt sein. Zu Aufsichtszwecken hat ein Vertreter des Mitgliedstaats die Rückführungsphase zu beobachten, die vom Zielland durchgeführt wird. Gemäß Artikel 28 Absatz 3 der Verordnung (EU) 2016/1624 über die Europäische Grenz- und Küstenwache („Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache“) kann die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Unterstützung bei der Organisation von Sammelrückkehraktionen gewähren. Während dieser Aktionen gewährleisten die teilnehmenden Mitgliedstaaten und die Agentur die Achtung der Grundrechte, des Grundsatzes der Nichtzurückweisung sowie einen verhältnismäßigen Einsatz der Zwangsmittel. Zu diesem Zweck muss während der gesamten Rückkehraktion bis zur Ankunft im Zielland mindestens ein Vertreter eines an der Aktion teilnehmenden Mitgliedstaats und ein Rückkehrbeobachter (entweder eines teilnehmenden Mitgliedstaats oder aus dem nach Artikel 29 der Verordnung gebildeten Pool) an Bord des Flugzeugs zugegen sein. |
7.2. Transit auf dem Luftweg
Rechtsgrundlage: Richtlinie 2003/110/EG
— |
Ersuchen auf Durchbeförderung zum Zweck der Rückführung auf dem Luftweg: Anhang zur Richtlinie 2003/110/EG |
— |
Liste der zentralen Behörden gemäß Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie 2003/110/EG für die Entgegennahme von Durchbeförderungsersuchen (verfügbar als EMN-Ad-hoc-Anfrage, Rückkehr, 2015, auf der Europa-Website des EMN) |
In der Richtlinie 2003/110/EG sind detaillierte Maßnahmen zur Unterstützung zwischen den zuständigen Behörden bei unbegleiteten und begleiteten Rückführungen auf dem Luftweg auf den Transitflughäfen der Mitgliedstaaten festgelegt. Sie enthält Vorschriften zur Erleichterung der Durchbeförderung von rückzuführenden Personen auf einem Flughafen eines anderen Mitgliedstaats als dem, der den Rückführungsbeschluss erlassen und umgesetzt hat. Dazu ist festgelegt, unter welchen Bedingungen die Durchbeförderung erfolgen darf, und wird angegeben, welche Unterstützungsmaßnahmen der ersuchte Mitgliedstaat bereitstellen sollte. Durchbeförderungsersuchen sind auf dem der Richtlinie 2003/110/EG beigefügten Standardformular zu stellen. Diese Ersuchen werden den für diesen Zweck benannten zentralen Behörden der Mitgliedstaaten zugeleitet.
7.3. Gemeinsame Rückführungsmaßnahmen auf dem Luftweg
Rechtsgrundlage: Entscheidung 2004/573/EG
— |
Liste der einzelstaatlichen Behörden, die gemäß Artikel 3 der Entscheidung 2004/573/EG für die Organisation von Sammelflügen und/oder die Beteiligung daran zuständig sind (verfügbar als EMN-Ad-hoc-Anfrage, Rückkehr, 2015, auf der Europa-Website des EMN) |
In der Entscheidung 2004/573/EG werden insbesondere die gemeinsamen und die spezifischen Aufgaben der für die Organisation dieser Maßnahmen oder die Beteiligung daran zuständigen Behörden genannt. Dieser Entscheidung des Rates beigefügt sind Gemeinsame Leitlinien für Sicherheitsvorschriften bei gemeinsamen Rückführungen auf dem Luftweg. Nach Artikel 8 Absatz 5 der Rückführungsrichtlinie ist diesen Leitlinien bei allen Abschiebungen auf dem Luftweg — auch bei rein nationalen Rückführungen (siehe Abschnitt 7.1) — Rechnung zu tragen.
7.4. Von der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache koordinierte Rückführungsmaßnahmen (Rückkehraktionen)
Rechtsgrundlage: Verordnung (EU) 2016/1624 — Artikel 28
Eine der Aufgaben der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache besteht darin, — nach Maßgabe der Rückkehrpolitik der Union und insbesondere der Rückführungsrichtlinie als Kernstück der Rechtsvorschriften der Union im Bereich Rückkehr/Rückführung — Unterstützung bei der Organisation und Durchführung von Rückführungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten zu gewähren. Die Rolle der Agentur in Fragen der Rückkehr/Rückführung und die Einhaltung der Grundrechte durch die Agentur wurden im Jahr 2016 mit dem Erlass der Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache gestärkt.
Da die Durchführung von der Agentur koordinierter Rückführungsmaßnahmen einen eindeutigen Mehrwert bietet, werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, umfassend von dieser Option Gebrauch zu machen.
Die von der Agentur koordinierten Rückführungsmaßnahmen müssen überwacht werden (siehe Abschnitt 8).
8. ÜBERWACHUNG VON RÜCKFÜHRUNGEN
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 8 Absatz 6
— |
Liste der nationalen Stellen für die Überwachung von Rückführungen (verfügbar als EMN-Ad-hoc-Anfrage, Rückkehr, 2015, auf der Europa-Website des EMN); eine von der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) erstellte Übersicht über die nationalen Stellen für die Überwachung von Rückführungen ist abrufbar unter: http://fra.europa.eu/en/theme/asylum-migration-borders/forced-return. |
Die Mitgliedstaaten schaffen ein wirksames System für die Überwachung von Rückführungen.
Die Überwachung von Rückführungen ist ein wichtiges Instrument, das als integrierter Kontrollmechanismus den Interessen sowohl des Rückzuführenden als auch der Vollzugsbehörden in der täglichen Rückführungspraxis dienen kann. Eine wirksame Überwachung kann zur Deeskalierung beitragen. Sie gestattet eine rasche Ermittlung und Korrektur etwaiger Mängel. Außerdem schützt sie die Vollzugsbehörden — die mitunter von Medien oder NRO ungerechtfertigterweise kritisiert werden — durch eine unvoreingenommene und neutrale Berichterstattung.
In der Rückführungsrichtlinie ist nicht im Einzelnen vorgeschrieben, wie die nationalen Systeme für die Überwachung von Rückführungen gestaltet sein sollen. Sie lässt den Mitgliedstaaten einen breiten Ermessensspielraum. Ausgehend vom Wortlaut der Richtlinie und ihrem Kontext lassen sich jedoch einige Orientierungshilfen geben:
1. |
Die Überwachung von Rückführungen sollte sich auf alle Tätigkeiten der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit Abschiebungen erstrecken: von der Vorbereitung der Ausreise bis zur Aufnahme im Rückkehrland bzw. — bei fehlgeschlagener Abschiebung — bis zur Rückkehr zum Ausgangsort. Sie umfasst nicht die Überwachung nach der Rückkehr, d. h. die Zeit nach der Aufnahme des Rückkehrers im Drittland. |
2. |
In die Überwachungssysteme sollten Organisationen/Stellen einbezogen werden, die von den für die Vollstreckung von Rückkehrentscheidungen zuständigen Behörden unabhängig sind („nemo monitor in res sua“). |
3. |
Öffentliche Stellen (wie ein nationaler Bürgerbeauftragter oder eine unabhängige allgemeine Prüfstelle) können als Überwachungsinstanz fungieren. Es dürfte jedoch problematisch sein, eine Unterabteilung der Verwaltungseinheit, die Rückführungen/Abschiebungen durchführt, mit der Überwachung zu betrauen. |
4. |
Die bloße Existenz von Rechtsbehelfen in Einzelfällen oder von nationalen Aufsichtssystemen für die Wirksamkeit einzelstaatlicher Rückführungsstrategien kann nicht als korrekte Anwendung von Artikel 8 Absatz 6 der Rückführungsrichtlinie betrachtet werden. |
5. |
Die Mitgliedstaaten sind nicht automatisch verpflichtet, alle Kosten zu übernehmen, die der Überwachungseinrichtung entstehen (zum Beispiel Personalkosten), müssen aber dafür zu sorgen, dass ein System für die Überwachung von Rückführungen eingerichtet wird und funktioniert (praktische Wirksamkeit). |
6. |
Artikel 8 Absatz 6 der Rückführungsrichtlinie begründet keine Verpflichtung, jede einzelne Abschiebungsmaßnahme zu überwachen. Ein Überwachungssystem auf der Grundlage von Stichprobenkontrollen und der Überwachung von Zufallsstichproben kann als ausreichend gelten, solange die Überwachungsintensität die Gesamteffizienz der Überwachung hinlänglich gewährleistet. |
7. |
Artikel 8 Absatz 6 der Rückführungsrichtlinie bedingt kein subjektives Recht einer zur Rückkehr verpflichteten Person auf Überwachung. |
Überwachung der von der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache koordinierten Rückführungsmaßnahmen (Rückkehraktionen):
— |
Artikel 28 Absatz 6 der Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache sieht Folgendes vor: „Jede Rückkehraktion wird gemäß Artikel 8 Absatz 6 der Richtlinie 2008/115/EG … auf der Grundlage objektiver und transparenter Kriterien (überwacht) und erstreckt sich auf die gesamte Rückkehraktion von der Phase vor Verlassen des Landes bis zur Übergabe der zur Rückkehr verpflichteten Personen im Bestimmungsdrittstaat.“ Dies bedeutet, dass jede Rückkehraktion, die von der Agentur koordiniert und mit technischer und operativer Verstärkung durch einen oder mehrere Mitgliedstaaten durchgeführt wird, gemäß den nationalen Vorschriften und Modalitäten zur Umsetzung von Artikel 8 Absatz 6 der Rückführungsrichtlinie überwacht werden muss. |
— |
Unbeschadet der im nationalen Recht vorgesehenen Berichterstattungspflichten müssen die Rückkehrbeobachter nach jeder Aktion dem Exekutivdirektor der Agentur, dem Grundrechtsbeauftragten und den zuständigen nationalen Behörden aller an der an der Aktion teilnehmenden Mitgliedstaaten Bericht erstatten. |
9. AUFSCHUB DER ABSCHIEBUNG
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 9
(1) |
Die Mitgliedstaaten schieben die Abschiebung auf,
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(2) |
Die Mitgliedstaaten können die Abschiebung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls um einen angemessenen Zeitraum aufschieben. Die Mitgliedstaaten berücksichtigen insbesondere
|
(3) |
Wird eine Abschiebung gemäß den Absätzen 1 und 2 aufgeschoben, so können dem betreffenden Drittstaatsangehörigen die in Artikel 7 Absatz 3 vorgesehenen Verpflichtungen auferlegt werden. |
Die Rückführungsrichtlinie schreibt zwei absolute Verbote vor: Zum einen ist es den Mitgliedstaaten nicht gestattet, eine Person abzuschieben, wenn dies gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde. Zum anderen ist eine Abschiebung unzulässig, solange aufgrund eines eingelegten Rechtsbehelfs aufschiebende Wirkung besteht.
In anderen Fällen können die Mitgliedstaaten die Abschiebung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls um einen angemessenen Zeitraum aufschieben. Der Katalog möglicher Gründe ist erweiterbar und erlaubt den Mitgliedstaaten, flexibel auf alle neu entstehenden oder neu festgestellten Umstände zu reagieren, die einen Aufschub der Abschiebung rechtfertigen. Die in der Rückführungsrichtlinie aufgeführten konkreten Beispiele (körperliche oder psychische Verfassung des Betreffenden, technische Gründe wie fehlende Beförderungskapazitäten) sollen lediglich als Anhaltspunkte dienen. Die Mitgliedstaaten können in ihren nationalen Durchführungsbestimmungen und/oder in der einzelstaatlichen Verwaltungspraxis weitere Fälle vorsehen.
Weitere Klarstellung:
— |
Unterschied zwischen Frist für die freiwillige Ausreise und Aufschub der Abschiebung: In Artikel 7 der Rückführungsrichtlinie (freiwillige Ausreise) ist eine Zusatzfrist festgelegt, die eine geordnete und gut vorbereitete Ausreise ermöglichen soll; dies betrifft jedoch nur diejenigen zur Rückkehr verpflichteten Personen, bei denen davon ausgegangen wird, dass sie einer Rückkehrentscheidung freiwillig nachkommen. Artikel 9 dieser Richtlinie (Aufschub der Abschiebung) bezieht sich auf Fälle, in denen die Rückkehrverpflichtung vom Staat durchgesetzt werden muss, weil eine freiwillige Ausreise nicht möglich ist oder nicht gestattet wurde. |
— |
Rechtlicher Status bis zur aufgeschobenen Abschiebung: Bis zur aufgeschobenen Abschiebung gelten für den Rückzuführenden die in Artikel 14 der Rückführungsrichtlinie aufgeführten Garantien (schriftliche Bestätigung der aufgeschobenen Rückkehrverpflichtung sowie einige grundlegende Garantien wie Gewährung medizinischer Notfallversorgung und unbedingt erforderlicher Behandlung von Krankheiten und Aufrechterhaltung der Familieneinheit — siehe Abschnitt 13 dieses Handbuchs). Der Rückzuführende gilt jedoch nicht als legal in einem Mitgliedstaat aufhältig, es sei denn, ein Mitgliedstaat beschließt in Anwendung von Artikel 6 Absatz 4 der Rückführungsrichtlinie, dem Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel oder eine Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. |
— |
Verpflichtung, sich bis zur aufgeschobenen Abschiebung an einem bestimmten Ort aufzuhalten: Artikel 9 Absatz 3 enthält einen ausdrücklichen Verweis auf die in Artikel 7 Absatz 3 aufgeführten Möglichkeiten zur Vermeidung einer Fluchtgefahr (siehe Abschnitt 6.2), einschließlich der Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten. |
10. RÜCKKEHR UNBEGLEITETER MINDERJÄHRIGER
Die Rückführungsrichtlinie gilt auch für Minderjährige einschließlich unbegleiteter Minderjähriger und enthält eine Reihe spezifischer Garantien, die von den Mitgliedstaaten einzuhalten sind. Diese Garantien gelten somit für Personen unter 18 Jahren (also für Minderjährige), die ohne Begleitung eines für sie verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen, solange sie sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befinden (dies schließt Minderjährige ein, die nach der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dort ohne Begleitung zurückgelassen wurden). In einigen Mitgliedstaaten ist es Heranwachsenden unter 18 Jahren gestattet, sich in Rückkehr- (und Asyl-)Verfahren selbst zu vertreten; die Garantien der Rückführungsrichtlinie sind jedoch für die Mitgliedstaaten in Bezug auf alle Minderjährigen bis zum Alter von 18 Jahren verbindlich.
Dauerhafte Lösungen sind entscheidend für die langfristige Schaffung von Normalität und Stabilität für alle Minderjährigen. Die Rückkehr bzw. Rückführung stellt nur eine der Optionen dar, die zu prüfen sind, wenn eine dauerhafte Lösung für unbegleitete Minderjährige ermittelt werden soll, und jede Maßnahme des Mitgliedstaats muss vor allem das Wohl des Kindes berücksichtigen. Bevor die Rückführung eines unbegleiteten Minderjährigen beschlossen wird, muss der betreffende Minderjährige gemäß Artikel 12 Absatz 2 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (50) entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle gehört werden, und das Kindeswohl ist stets einer Einzelfallprüfung zu unterziehen, bei der auch die besonderen Bedürfnisse des Minderjährigen, die Situation der Familie zu dem betreffenden Zeitpunkt sowie die Lage und die Aufnahmebedingungen im Rückkehrland zu berücksichtigen sind. Dabei sollte systematisch beurteilt werden, ob die Rückkehr in das Herkunftsland und die Zusammenführung mit der Familie im Wohl des Minderjährigen liegen.
Die Beurteilung sollte von den zuständigen Behörden nach einem multidisziplinären Ansatz durchgeführt werden, wobei der offizielle Vormund des Minderjährigen und/oder die zuständige Kindesschutzbehörde beteiligt werden. Außerdem sollten die Mitgliedstaaten eine regelmäßige Neubewertung des Kindeswohls angesichts der Entwicklungen des jeweiligen Falles vornehmen.
Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, die Auslegungshilfen und operativen Hinweise der gemeinsamen Leitlinien von UNHCR und Unicef zur Bestimmung des Kindeswohls (51), die Allgemeine Bemerkung Nr. 14 des UN-Kinderrechtsausschusses zum Recht des Kindes auf vorrangige Berücksichtigung seines Wohls (52), die Leitlinien des UNHCR zur Bestimmung des Kindeswohls (53) und das praktische Handbuch für die Umsetzung der Leitlinien des UNHCR zur Bestimmung des Kindeswohls (54) zu berücksichtigen.
Das Recht des Minderjährigen, in ihn berührenden Rückkehrverfahren gehört zu werden, ist fester Bestandteil einer Beurteilung des Kindeswohls (siehe Artikel 12 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes) und muss als Grundrecht beachtet werden, das als allgemeiner Grundsatz des EU-Rechts anerkannt und in der GRC verankert ist. Es beinhaltet, dass den Meinungen des Minderjährigen gebührende Bedeutung beigemessen wird, seinem Alter und Reifegrad sowie etwaigen Kommunikationsschwierigkeiten Rechnung getragen wird, um eine sinnvolle Beteiligung des Minderjährigen zu ermöglichen, und dass sein Recht, sich frei zu äußern, gewahrt wird (weitere Hinweise hierzu finden sich in Abschnitt 12.1).
Definition des Begriffs „unbegleiteter Minderjähriger“: In der Rückführungsrichtlinie wird der Begriff nicht definiert. Da unbegleitete Minderjährige oftmals Asylbewerber sind oder gewesen sind, wird empfohlen, die in den jüngsten Asylrichtlinien verwendeten Begriffsbestimmungen heranzuziehen, insbesondere Artikel 2 Buchstabe e der neu gefassten Aufnahmerichtlinie: Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck „unbegleiteter Minderjähriger“ einen Minderjährigen, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem einzelstaatlichen Recht oder den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet; dies schließt Minderjährige ein, die nach der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dort ohne Begleitung zurückgelassen wurden“.
Verzicht auf den Erlass einer Rückkehrentscheidung bei unbegleiteten Minderjährigen: Nach Artikel 6 Absatz 4 der Rückführungsrichtlinie ist es den Mitgliedstaaten ausdrücklich gestattet, im Einklang mit dem nationalen Recht illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen jederzeit einen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. Diese allgemeine Bestimmung gilt auch für Minderjährige. Somit steht es Mitgliedstaaten, die in ihrem Hoheitsgebiet illegal aufhältige Minderjährige aus Drittländern nicht rückführen/abschieben oder aufgrund einer Beurteilung des Kindeswohls nicht abschieben können, frei, einen Aufenthaltstitel oder eine Aufenthaltsberechtigung zu erteilen (zum Beispiel einen befristeten Aufenthaltstitel, der bis zum Alter von 18 Jahren gilt).
Artikel 6 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten zu einer klaren Entscheidung, also entweder Erteilung eines Aufenthaltstitels bzw. einer Aufenthaltsberechtigung oder aber Durchführung des Rückkehrverfahrens (siehe Abschnitt 5). Daher sollten die Mitgliedstaaten klare Regeln für die Rechtsstellung unbegleiteter Minderjähriger festlegen, wonach entweder eine Rückkehrentscheidung erlassen und die Rückführung vorgenommen oder im Einklang mit dem nationalen Recht eine Aufenthaltsberechtigung erteilt werden kann. Die Mitgliedstaaten sollten bestrebt sein, dafür zu sorgen, dass Verfahren zur Bestimmung der Rechtsstellung für jene unbegleiteten Minderjährigen verfügbar sind, die nicht rückgeführt werden. Das ist ein sehr geradliniger Ansatz, mit dem versucht wird, „Grauzonen“ zu vermeiden und die Rechtssicherheit für alle Beteiligten zu verbessern. Folglich sollte im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit der Rückführungsrichtlinie die Rechtslage in Bezug auf unbegleitete Minderjährige in Mitgliedstaaten, die nach einer Beurteilung des Kindeswohls Minderjährige aus Drittländern nicht rückführen oder abschieben, so sein, dass entweder in Anwendung von Artikel 6 Absatz 4 der Richtlinie ein (befristeter) Aufenthaltstitel oder eine Aufenthaltsberechtigung (beispielsweise bis zum Alter von 18 Jahren) erteilt oder im Einklang mit den Artikeln 6 und 9 der Rückführungsrichtlinie eine Rückkehrentscheidung erlassen und die Abschiebung aufgeschoben wird.
10.1. Unterstützung durch geeignete Stellen
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 10 Absatz 1
Vor Ausstellung einer Rückkehrentscheidung für unbegleitete Minderjährige wird Unterstützung durch geeignete Stellen, bei denen es sich nicht um die für die Vollstreckung von Rückkehrentscheidungen zuständigen Behörden handelt, unter gebührender Berücksichtigung des Wohles des Kindes gewährt.
Zur Erinnerung/Erläuterung: Artikel 10 Absatz 1 war im Vorschlag der Kommission nicht enthalten. Er wurde während der Verhandlungen in den Wortlaut aufgenommen und war unmittelbar angelehnt an die Leitlinie 2 Absatz 5 der 20 Leitlinien des Europarates zur Frage der erzwungenen Rückkehr (55), wonach vor Ausstellung einer Abschiebungsanordnung für ein unbegleitetes Kind Unterstützung — insbesondere Rechtshilfe — unter gebührender Berücksichtigung des Wohles des Kindes gewährt werden sollte.
Art der „geeigneten Stellen“: Die „geeignete Stelle“ sollte getrennt von der für die Vollstreckung zuständigen Behörde sein; sie könnte eine staatliche Stelle (möglicherweise eine gesonderte Dienststelle innerhalb desselben Ministeriums), eine nichtstaatliche Stelle oder eine Kombination aus beiden sein, sodass eine fachgebietsübergreifende Zusammenarbeit zwischen vom Staat unterstützten und nichtstaatlichen Vormundsystemen und/oder Kinderschutzstellen gewährleistet ist. Die für die Betreuung und den Schutz von Kindern zuständigen Stellen müssen die Standards in den Bereichen Sicherheit, Gesundheit, Eignung des Personals und kompetente Beaufsichtigung einhalten. Die verschiedenen Aufgaben und Zuständigkeiten der Akteure müssen insbesondere für die unbegleiteten Minderjährigen klar und transparent sein, damit diese sich aktiv und wirksam in alle sie betreffenden Angelegenheiten einbringen können.
Art der „Unterstützung“: Die Unterstützung sollte rechtlichen Beistand umfassen, jedoch nicht darauf beschränkt sein. Weiteren ausdrücklich in der Rückführungsrichtlinie genannten Aspekten — wie notwendige ärztliche Hilfe und Gesundheitsfürsorge, Kontakt zur Familie und Zugang zur Grundbildung — zur Förderung der Rechte des Kindes nach Maßgabe des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes ist ebenfalls Rechnung zu tragen. Besonderes Augenmerk sollte darauf gelegt werden, mit den Minderjährigen im Voraus und bei allen Prozessen und Verfahren sämtliche Entscheidungen zu besprechen, die sie betreffen. Minderjährige sollten über ihre Rechte, über Verfahren und über Dienste zu ihrem Schutz informiert werden, und zwar auf kindgerechte und ihrem Alter und der Situation angemessene Art und Weise.
Zeitpunkt der „Unterstützung“: Die Unterstützung durch geeignete Stellen sollte möglichst frühzeitig und vor Erlass einer Rückkehrentscheidung beginnen. Dazu ist es erforderlich, das Alter umgehend zu bestimmen — im Zweifel zugunsten des Betreffenden. Die Unterstützung sollte kontinuierlich und beständig und auch während der Rückkehrphase erfolgen. Sie kann sich auch auf die Phase nach der Rückkehr erstrecken, um eine angemessene Nachsorge sicherzustellen. Erforderlichenfalls sollte im Einklang mit Artikel 10 Absatz 2 der Rückführungsrichtlinie die Vormundschaft von dem Mitgliedstaat auf das Rückkehrland übertragen werden.
Altersbestimmung: Die Rückführungsrichtlinie enthält keine Vorschriften zur Altersbestimmung. Ausgehend von einer systematischen Auslegung des Besitzstands der Union im Bereich Einwanderung und Asyl empfiehlt die Kommission, auf die Bestimmungen von Artikel 25 Absatz 5 der Asylverfahrensrichtlinie Bezug zu nehmen sowie die entsprechenden Dokumente zu berücksichtigen, die beispielsweise vom Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen ausgearbeitet wurden (56).
Kontinuität bei der Unterstützung in Asyl- und Rückkehrverfahren: Obwohl die Vormundschaft über Asylbewerber und die unbegleiteten Minderjährigen/Kindern im Rückkehrverfahren zu gewährende „Unterstützung“ nicht auf derselben Rechtsgrundlage beruhen, bestehen zwischen den Anforderungen in Asylrechtsvorschriften und in der Rückführungsrichtlinie enge Verbindungen, sodass in Asyl- und Rückkehrverfahren Kontinuität angestrebt werden sollte.
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Die bloße Bestellung eines Vormunds reicht für die Erfüllung der Verpflichtung, Minderjährige zu unterstützen, nicht aus, da die „Unterstützung durch geeignete Stellen“ mehr umfasst als die reine Vormundschaft. |
10.2. Übergabe an ein Familienmitglied, einen offiziellen Vormund oder eine geeignete Aufnahmeeinrichtung
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 10 Absatz 2
Vor Abschiebung von unbegleiteten Minderjährigen aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vergewissern sich die Behörden dieses Mitgliedstaats, dass die Minderjährigen
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einem Mitglied ihrer Familie, |
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einem offiziellen Vormund oder |
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einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben werden. |
Es wird empfohlen, dass von den in Artikel 10 Absatz 2 der Rückführungsrichtlinie aufgeführten Optionen die Übergabe an Familienmitglieder den Vorzug erhält, außer wenn dies offensichtlich nicht dem Wohl des Kindes dient. Daher sollten sich die Mitgliedstaaten darum bemühen, die Identität und Staatsangehörigkeit von unbegleiteten Minderjährigen festzustellen und Familienmitglieder ausfindig zu machen. Die Übergabe an einen Vormund oder eine geeignete Aufnahmeeinrichtung kann unter bestimmten Voraussetzungen eine annehmbare Alternative darstellen.
Die Kommission empfiehlt den Mitgliedstaaten, geeignete Maßnahmen zur Wiedereingliederung unbegleiteter Minderjähriger, die in ihr Herkunftsland zurückkehren, einzuführen und dafür zu sorgen, dass diese Maßnahmen sowohl vor der Abreise als auch nach der Ankunft im Bestimmungsdrittland unverzüglich in Anspruch genommen werden können.
Weitere Klarstellung:
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Suche nach Familienmitgliedern: Die Mitgliedstaaten sollten Verfahren einleiten, um die Eltern oder sonstige Familienmitglieder unbegleiteter Minderjähriger — unter Einbeziehung des offiziellen Vormunds und/oder einer für Kinderschutz zuständigen Person — so bald wie möglich ausfindig zu machen. Zur Erleichterung der Suche nach Familienmitgliedern sowie zur Bestimmung eines Vormunds oder einer geeigneten Einrichtung im Hinblick auf die Rückkehr sollten die zuständigen nationalen Behörden Maßnahmen ergreifen, um mit Konsularstellen, Verbindungsbeamten, Kinderschutzstellen, internationalen Organisationen und NRO im Rückkehrland unter voller Nutzung der bestehenden grenzüberschreitenden Kommunikationskanäle zusammenzuarbeiten. |
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Freiwillige Ausreise von Minderjährigen: Grundsätzlich gilt Artikel 10 Absatz 2 nur für Fälle, in denen der Minderjährige abgeschoben wird, und nicht bei einer freiwilligen Ausreise des Minderjährigen aus dem Mitgliedstaat. Unter Berücksichtigung der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die sich aus der Pflicht zur gebührenden Berücksichtigung des Kindeswohls ergibt, wird empfohlen, bei einer freiwilligen Rückkehr auch die Situation in der Familie sowie die Lage und Aufnahmebedingungen im Rückkehrland mit zu bewerten. |
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Die Eignung der Aufnahmeeinrichtungen im Rückkehrland muss fallweise bewertet werden, wobei den jeweiligen Umständen und dem Alter des rückzuführenden Minderjährigen Rechnung zu tragen ist. Der bloße Empfang durch die Grenzpolizei im Rückkehrland ohne notwendige Folgemaßnahmen oder flankierende Maßnahmen kann nicht als „geeignete Aufnahme“ betrachtet werden. Die Mitgliedstaaten sollten besonders darauf achten, dass im Rückkehrland eine angemessene Unterkunft zur Verfügung steht und der Zugang zur Gesundheitsfürsorge und zur Bildung gewährleistet ist. Die Mitgliedstaaten haben Artikel 20 des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes zu beachten und sollten sich an die UN-Leitlinien für alternative Formen der Betreuung von Kindern (57) halten. |
11. EINREISEVERBOTE
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie, Artikel 3 Absatz 6 und Artikel 11
Ein „Einreiseverbot“ ist eine mit einer Rückkehrentscheidung einhergehende behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird.
Rückkehrentscheidungen gehen mit einem Einreiseverbot einher,
a) |
falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder |
b) |
falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. |
In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen.
Die Dauer des Einreiseverbots wird in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.
Die in der Rückführungsrichtlinie vorgesehenen rückführungsbezogenen Einreiseverbote sollen vorbeugende Wirkung haben und die Glaubwürdigkeit der Rückkehrpolitik der Union erhöhen, indem sie die klare Botschaft vermitteln, dass Personen, die die für die EU-Mitgliedstaaten geltenden Migrationsbestimmungen verletzen, während eines bestimmten Zeitraums nicht erneut in einen EU-Mitgliedstaat einreisen dürfen.
Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten in zwei konkreten Fällen zur Verhängung eines Einreiseverbots: (i) Es wurde keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt, und (ii) der Rückkehrverpflichtung wurde nicht nachgekommen.
In allen anderen Fällen können Rückkehrentscheidungen mit einem Einreiseverbot einhergehen, müssen dies jedoch nicht.
Die Dauer des Einreiseverbots muss in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt werden. Grundsätzlich sollte sie fünf Jahre nicht überschreiten. Nur bei einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit kann ein Einreiseverbot für einen längeren Zeitraum verhängt werden.
Von den Vorschriften der Rückführungsrichtlinie über rückführungsbezogene Einreiseverbote unberührt bleiben Einreiseverbote, die zu nichtmigrationsbedingten Zwecken erlassen werden, wie Einreiseverbote für Drittstaatsangehörige, die schwere Straftaten begangen haben oder bei denen konkrete Hinweise bestehen, dass sie eine solche Straftat planen (siehe Artikel 24 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates (SIS II-Verordnung)) (58), oder Einreiseverbote, die eine restriktive Maßnahme darstellen und in Übereinstimmung mit Titel V Kapitel 2 AEUV verfügt wurden, einschließlich vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhängte Maßnahmen zur Umsetzung von Reiseverboten.
11.1. EU-weite Wirkung
Ein Einreiseverbot untersagt die Einreise in das Hoheitsgebiet aller Mitgliedstaaten: Der Wortlaut von Erwägungsgrund 14 der Rückführungsrichtlinie und ein systematischer Vergleich aller Sprachfassungen der Richtlinie (insbesondere der englischen und der französischen Fassung) machen deutlich, dass ein Einreiseverbot die Einreise in das Hoheitsgebiet aller Mitgliedstaaten und den dortigen Aufenthalt untersagt. Die dänische Fassung, in der der Singular verwendet wird („ ophold på en medlemsstats “) enthält einen offensichtlichen Übersetzungsfehler. Die EU-weite Wirkung eines Einreiseverbots ist ein wesentlicher europäischer Mehrwert der Richtlinie. Die EU-weite Wirkung eines Einreiseverbots ist in der Entscheidung über die Verhängung eines Einreiseverbots gegen einen Drittstaatsangehörigen unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen.
Einreiseverbote sind für alle Mitgliedstaaten, die an die Rückführungsrichtlinie gebunden sind, verbindlich, also für alle EU-Mitgliedstaaten (mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs und Irlands) sowie für die assoziierten Schengen-Länder (Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein).
Unterrichtung der anderen Mitgliedstaaten über verhängte Einreiseverbote: Von entscheidender Bedeutung ist, dass die anderen Mitgliedstaaten von allen Einreiseverboten, die erlassen wurden, in Kenntnis gesetzt werden. Die Eingabe einer Ausschreibung in Anwendung von Artikel 24 Absatz 3 der SIS-II-Verordnung ist das wichtigste — wenn auch nicht das einzige — Instrument, um die anderen Mitgliedstaaten über das Vorliegen eines Einreiseverbots zu unterrichten und sicherzustellen, dass dieses erfolgreich durchgesetzt wird. Die Mitgliedstaaten sollten deshalb dafür sorgen, dass Ausschreibungen zu Einreiseverboten systematisch in das SIS eingegeben werden. Bei den Mitgliedstaaten, die keinen Zugang zum SIS haben, kann der Informationsaustausch über andere Kanäle (etwa über bilaterale Kontakte) erfolgen.
Rein nationale Einreiseverbote: Es ist mit der Rückführungsrichtlinie unvereinbar, rein nationale migrationsbedingte Einreiseverbote zu verhängen. In den nationalen Rechtsvorschriften ist festzulegen, dass im Zusammenhang mit Rückkehrentscheidungen verhängte Einreiseverbote die Einreise in alle Mitgliedstaaten und den dortigen Aufenthalt untersagen, beispielsweise durch die Verpflichtung zur systematischen Eingabe sämtlicher Verbote dieser Art in das SIS. Ist jedoch ein Drittstaatsangehöriger, gegen den von Mitgliedstaat A ein Einreiseverbot verhängt wurde, im Besitz eines von Mitgliedstaat B ausgestellten Aufenthaltstitels und hat Mitgliedstaat B nicht die Absicht, diesen Titel zu widerrufen, so hebt Mitgliedstaat A im Anschluss an eine Konsultation nach Artikel 25 SDÜ, auf die in Artikel 11 Absatz 4 der Rückführungsrichtlinie Bezug genommen wird, das EU-weite Einreiseverbot auf, es bleibt ihm jedoch unbenommen, den betreffenden Drittstaatsangehörigen nach Artikel 25 Absatz 2 letzter Satz SDÜ in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen („ Lex specialis “) (siehe auch Abschnitt 11.8).
11.2. Nutzung des SIS II
Erfassung von Einreiseverboten im SIS: Nach den derzeit anwendbaren Rechtsvorschriften können die Mitgliedstaaten Ausschreibungen zu Einreiseverboten, die im Einklang mit der Rückführungsrichtlinie verhängt wurden, im SIS erfassen, sind jedoch nicht dazu verpflichtet. Um allerdings die europäische Dimension der gemäß der Rückführungsrichtlinie erlassenen Einreiseverbote voll zur Geltung zu bringen, sollten die Mitgliedstaaten dies systematisch tun.
Zusammenhang zwischen der alle drei Jahre erfolgenden Überprüfung der im SIS erfassten Ausschreibungen (nach Artikel 112 SDÜ und Artikel 29 SIS-II-Verordnung) und der gemäß der Rückführungsrichtlinie festgesetzten Dauer des Einreiseverbots: Bei der Überprüfung der im SIS erfassten Ausschreibungen handelt es sich um eine Verfahrensvorschrift, mit der sichergestellt werden soll, dass Ausschreibungen nicht länger als für den verfolgten Zweck erforderlich gespeichert werden. Die maßgebliche Entscheidung der Mitgliedstaaten, die Dauer eines Einreiseverbots entsprechend den Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie festzusetzen, bleibt davon unberührt. Sollte zum Zeitpunkt der dreijährlichen Überprüfung ein Einreiseverbot, das gemäß der Rückführungsrichtlinie verhängt wurde, noch in Kraft sein (zum Beispiel weil das Verbot für fünf Jahre ausgesprochen und in der Zwischenzeit nicht aufgehoben wurde), so können die Mitgliedstaaten die Ausschreibung im SIS für die verbleibenden zwei Jahre aufrechterhalten, wenn diese in Anbetracht der anzuwendenden Bewertungskriterien — insbesondere Artikel 11 der Rückführungsrichtlinie in Verbindung mit Artikel 112 Absatz 4 SDÜ oder Artikel 29 Absatz 4 SIS-II-Verordnung — weiterhin erforderlich ist.
11.3. Verfahrensbezogene Aspekte
Verhängung von Einreiseverboten bei der Ausreise an der Grenze im Abwesenheitsverfahren (zum Beispiel bei Personen, die sich nicht an die Gültigkeitsdauer ihres Visums halten und sich im Flughafen erst kurz vor dem Abflug zur Grenzkontrolle begeben): Nichts hindert die Mitgliedstaaten daran, ein Rückkehrverfahren einzuleiten, wenn sie von der Überschreitung der laut Visum zulässigen Aufenthaltsdauer Kenntnis erlangen, und eine Rückkehrentscheidung (siehe Abschnitt 5.1), verbunden mit einem Einreiseverbot, in einem Abwesenheitsverfahren zu erlassen, sofern
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das nationale Verwaltungsrecht die Möglichkeit von Abwesenheitsverfahren vorsieht und |
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die betreffenden nationalen Verfahren mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts und mit den in der GRC verankerten Grundrechten im Einklang stehen, insbesondere mit dem Recht auf Anhörung und dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht. |
Verhängung eines Einreiseverbots gegen Rückkehrer, die zum Zeitpunkt der Ausreise ihrer Verpflichtung zur Rückkehr innerhalb der Frist für die freiwillige Ausreise nicht nachgekommen sind: Ein Einreiseverbot wird zu einem späteren Zeitpunkt (etwa bei der Ausreise) als zusätzliches und nachträgliches Element einer bereits erlassenen Rückkehrentscheidung verhängt, wenn die zur Rückkehr verpflichtete Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.
Anwesenheit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats: Der illegale Aufenthalt gilt als entscheidende Voraussetzung für den Erlass einer Rückkehrentscheidung und eines damit einhergehenden Einreiseverbots. Ein Mitgliedstaat kann keine Rückkehrentscheidung und kein damit einhergehendes Einreiseverbot gegen Personen erlassen, die sich nicht in seinem Hoheitsgebiet aufhalten. Ist eine Person untergetaucht (zum Beispiel nach Erhalt eines ablehnenden Bescheids zu einem Asylantrag) und kann dennoch davon ausgegangen werden, dass sie sich weiterhin im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhält, so kann in einem Abwesenheitsverfahren nach nationalem Recht eine Rückkehrentscheidung (einschließlich eines Einreiseverbots) erlassen werden.
Illegaler Aufenthalt in der Vergangenheit: Die Mitgliedstaaten können keine Rückkehrentscheidung und kein damit einhergehendes Einreiseverbot gemäß der Rückführungsrichtlinie gegen nicht in ihrem Hoheitsgebiet aufhältige Personen erlassen; dies gilt auch für Drittstaatsangehörige, die sich zuvor (in der Vergangenheit) illegal in diesem Gebiet aufhielten und in einen Drittstaat zurückkehrten, bevor ihr illegaler Aufenthalt entdeckt wurde. Reisen solche Personen erneut in einen Mitgliedstaat ein und werden Maßnahmen gemäß der Rückführungsrichtlinie (Rückkehrentscheidung, Einreiseverbot) getroffen, so können der (die) frühere(n) illegale(n) Aufenthalt(e) in anderen Mitgliedstaaten bei der Festsetzung der Dauer des Einreiseverbots als erschwerende Umstände berücksichtigt werden.
11.4. Gründe für die Verhängung von Einreiseverboten
Die Rückführungsrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten in zwei konkreten Fällen zur Verhängung eines Einreiseverbots:
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wenn keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder |
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wenn der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. |
In allen anderen Fällen (alle gemäß der Rückführungsrichtlinie erlassenen Rückkehrentscheidungen, die nicht unter die beiden genannten Fälle fallen) können Rückkehrentscheidungen mit einem Einreiseverbot einhergehen, müssen dies jedoch nicht. Das bedeutet, dass ein Einreiseverbot auch dann verhängt werden kann, wenn der Betreffende freiwillig ausgereist ist. Die Mitgliedstaaten verfügen jedoch in dieser Hinsicht über einen Ermessensspielraum und sollten von diesem in einer Weise Gebrauch machen, die zur freiwilligen Ausreise motiviert.
11.5. Dauer der Einreiseverbote
Die Dauer des Einreiseverbots ist im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Rückführungsrichtlinie in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festzusetzen. Wenn über die Dauer des Einreiseverbots entschieden wird, sollten erschwerende oder mildernde Umstände, von denen die erlassende Behörde Kenntnis hat, besonders berücksichtigt werden. So gilt es zu klären, ob
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gegen den Drittstaatsangehörigen in der Vergangenheit bereits eine Rückkehrentscheidung oder eine Abschiebungsanordnung ergangen ist, |
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der Drittstaatsangehörige in der Vergangenheit bereits Unterstützung bei der freiwilligen Ausreise und/oder der Wiedereingliederung erhalten hat, |
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der Drittstaatsangehörige während der Geltungsdauer eines Einreiseverbots ohne Berechtigung in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist, |
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der Drittstaatsangehörige sich im Rückkehrverfahren kooperativ verhielt oder aber keine Kooperationsbereitschaft erkennen ließ, |
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der Drittstaatsangehörige bereit war, freiwillig auszureisen. |
Im Regelfall darf die Dauer des Einreiseverbots fünf Jahre nicht übersteigen. Bei der Festsetzung der konkreten Dauer eines Einreiseverbots sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, eine Einzelfallprüfung der jeweiligen Umstände vorzunehmen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Als allgemeine Orientierungshilfe sei festgestellt, dass ein Mitgliedstaat für typische Fallkategorien voneinander abweichende zeitliche Rahmen vorsehen kann — etwa drei Jahre als allgemeine Standardregel, fünf Jahre bei Vorliegen erschwerender Umstände (zum Beispiel wiederholte Verstöße gegen das Migrationsrecht) und ein Jahr bei Vorliegen mildernder Umstände (beispielsweise lediglich aus Unwissenheit begangene Verstöße), wobei jedoch gesichert sein muss, dass jeder Fall einzeln und gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geprüft wird. Die Mitgliedstaaten können in ihren nationalen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften die allgemeinen Kriterien festlegen, die bei der Festsetzung der Dauer des Einreiseverbots nach Artikel 11 Absatz 2 der Rückführungsrichtlinie im Einzelfall zugrunde gelegt werden.
Schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit: Bei einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit können Einreiseverbote auch für mehr als fünf Jahre verhängt werden. Als Faktoren, die von den Mitgliedstaaten bei der Bestimmung einer solchen Bedrohung in Betracht gezogen werden können, kommen Straftaten und auch schwerwiegende Ordnungswidrigkeiten (zum Beispiel wiederholte Benutzung falscher Ausweispapiere, wiederholte und vorsätzliche Verstöße gegen das Migrationsrecht) in Frage. Für keinen dieser Faktoren gilt jedoch, dass er automatisch und per se eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt: Die Mitgliedstaaten sind stets verpflichtet, eine Einzelfallprüfung der jeweiligen Umstände vorzunehmen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.
Die Rückführungsrichtlinie liefert keine Definition der exakten Bedeutung dieses Terminus, und die Rechtsprechung des EuGH zur Verwendung dieses Terminus in anderen Migrationsrichtlinien und im Zusammenhang mit der Freizügigkeit lässt sich nicht unmittelbar auf den Kontext der Rückführungsrichtlinie anwenden, da die in Frage stehenden Aspekte und die Zusammenhänge andere sind. Dennoch können einige in der Rechtsprechung des EuGH enthaltene Überlegungen (insbesondere zu horizontalen Konzepten wie Verhältnismäßigkeit und Wirksamkeit der Richtlinien) eine gewisse Orientierungshilfe bieten: In Abschnitt 3 der Mitteilung Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (59) lieferte die Kommission detaillierte Anhaltspunkte für die Auslegung des Begriffs der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit im Zusammenhang mit der Freizügigkeit. Vergleichende Informationen dazu, wie die Mitgliedstaaten diesen Begriff im Migrationszusammenhang ausgelegt haben, können zudem den Ergebnissen der EMN-Ad-hoc-Anfrage (140) zum Verständnis der Begriffe „öffentliche Ordnung“ und „öffentliche Sicherheit“ entnommen werden. In Rn. 48 seines Urteils in der Rechtssache C-554/13, Zh. und O., in der es um den Begriff der „öffentlichen Ordnung“ im Kontext der Rückführungsrichtlinie ging (siehe Abschnitt 6.3), bekräftigte der EuGH ausdrücklich, dass Analogien zu seiner Rechtsprechung zur Richtlinie 2004/38/EG (Urteil des EuGH in der Rechtssache C-430/10, Gaydarov (60), Rn. 32) hergestellt werden können.
Die Dauer von aus Gründen der öffentlichen Ordnung verhängten Einreiseverboten: Die Dauer von Einreiseverboten, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung verhängt werden, ist im Einzelfall festzusetzen, wobei die Schwere der von den betreffenden Drittstaatsangehörigen begangenen Verstöße, die damit verbundenen Gefahren für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit und die konkrete Situation der betroffenen Personen zu berücksichtigen sind. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist in jedem Fall Rechnung zu tragen. Eine systematische Verhängung lebenslanger Einreiseverbote in allen Fällen, die die öffentliche Ordnung betreffen (ohne Unterscheidung nach Schwere der Verstöße und der Gefahren), ohne dabei die Umstände im Einzelfall zu berücksichtigen, verstößt gegen die Richtlinie. Die Mitgliedstaaten könnten unterschiedliche Zeitspannen für typische Fallkategorien vorsehen – beispielsweise zehn Jahre als allgemeine Standardregel für Fälle im Zusammenhang mit der öffentlichen Ordnung und20 Jahre bei Vorliegen besonders erschwerender Umstände. Die Mitgliedstaaten sollten die Möglichkeit einräumen, dass die Entscheidung über das Einreiseverbot und insbesondere das Fortbestehen der ihr zugrunde liegenden Voraussetzungen von Amts wegen oder auf Antrag des Betreffenden überprüft werden.
Weitere Klarstellung:
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Keine unbegrenzten Einreiseverbote: Die Dauer des Einreiseverbots ist ein entscheidender Aspekt der Entscheidung über dieses Verbot. Sie ist von Amts wegen in jedem Einzelfall vorab festzulegen. Dies wurde vom EuGH in der Rechtssache C-297/12, Filev und Osmani, (Rn. 27 und 34) ausdrücklich betont: „Es ist festzustellen, dass aus den Worten,[d]ie Dauer des Einreiseverbots wird … festgesetzt' klar hervorgeht, dass eine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten besteht, alle Einreiseverbote — grundsätzlich auf höchstens fünf Jahre — zu befristen, unabhängig von einem hierauf gerichteten Antrag des betroffenen Drittstaatsangehörigen. … Artikel 11 Absatz 2 der Richtlinie 2008/115/EG ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Vorschrift … entgegensteht, die die Befristung eines Einreiseverbots davon abhängig macht, dass der betreffende Drittstaatsangehörige einen Antrag auf derartige Befristung stellt.“ |
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Der Zeitpunkt, zu dem die Uhr zu ticken beginnt: In der Rückführungsrichtlinie ist der Zeitpunkt, ab dem die Dauer des Einreiseverbots zu berechnen ist, nicht ausdrücklich festgelegt. Allerdings hat der EuGH in der Rechtssache C-225/16, Ouhrami (61) diesen Aspekt klargestellt. |
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Der EuGH stellte klar, dass die Bestimmung dieses Zeitpunkts nicht in das Ermessen jedes einzelnen Mitgliedstaats gestellt sein kann, da dies den Zweck gefährden würde, der mit der Rückführungsrichtlinie und den Einreiseverboten verfolgt wird. Der EuGH kam zu folgendem Schluss (Rn. 53): „Aus dem Wortlaut, der Systematik und dem Zweck der Richtlinie 2008/115/EG folgt damit, dass der Zeitraum des Einreiseverbots erst ab dem Zeitpunkt, zu dem der Betroffene tatsächlich das Territorium der Mitgliedstaaten verlassen hat, zu laufen beginnt.“ Gilt ein Einreiseverbot bereits vor der tatsächlichen Ausreise des Drittstaatsangehörigen, so wäre die Dauer des Verbots unzulässig verkürzt. |
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Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass „die … Dauer eines Einreiseverbots … ab dem Zeitpunkt zu berechnen ist, zu dem der Betroffene tatsächlich das Territorium der Mitgliedstaaten verlassen hat“ (Rn. 58). |
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Die Mitgliedstaaten sollten die Voraussetzung dafür schaffen, dass das Datum der tatsächlichen Ausreise des Drittstaatsangehörigen (siehe Abschnitt 6.4 und 6.6) bestätigt und nachgeprüft werden kann, um sicherzustellen, dass das Einreiseverbot ab dem Zeitpunkt berechnet wird, zu dem der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten tatsächlich verlässt. |
11.6. Aufhebung, Verkürzung und Aussetzung von Einreiseverboten
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 11 Absatz 3
Unterabsatz 1: Die Mitgliedstaaten prüfen die Aufhebung oder Aussetzung eines Einreiseverbots, wenn Drittstaatsangehörige, gegen die ein Einreiseverbot nach Absatz 1 Unterabsatz 2 verhängt wurde, nachweisen können, dass sie das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter uneingeschränkter Einhaltung einer Rückkehrentscheidung verlassen haben.
Die Möglichkeit, ein Einreiseverbot in Fällen, in denen ein Rückzuführender das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats in voller Übereinstimmung mit einer Rückkehrentscheidung verlassen hat (insbesondere im Rahmen der eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise), aufzuheben oder auszusetzen, ist als Anreiz und Ansporn für die freiwillige Ausreise einzusetzen. Die Mitgliedstaaten sollten in ihren nationalen Rechtsvorschriften und Verwaltungspraktiken eine Möglichkeit vorsehen, unter solchen Umständen eine Aufhebung oder Aussetzung eines Einreiseverbots vorzunehmen. Es sollte versucht werden, derartige Verfahren für den Rückzuführenden leicht zugänglich und praktisch durchführbar zu machen. Um es dem Rückzuführenden zu ermöglichen, seine Ausreise aus dem Hoheitsgebiet der EU nachzuweisen, stehen unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung: ein Ausreisestempel im Pass des Rückzuführenden, Daten in den nationalen Grenzkontroll-Datensystemen oder eine Rückmeldung des Rückzuführenden in einer konsularischen Vertretung eines Mitgliedstaats im Drittland.
Verkürzung von Einreiseverboten: Den Mitgliedstaaten steht es auch frei, unter den in Artikel 11 Absatz 3 der Rückführungsrichtlinie genannten Umständen ein bestehendes Einreiseverbot zu verkürzen. Die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, ein Einreiseverbot im Sinne von Artikel 11 Absatz 3 aufzuheben, kann auch als Möglichkeit der teilweisen Aufhebung (z. B. Verkürzung) eines Einreiseverbots ausgelegt werden.
Unterabsatz 2: Gegen Opfer des Menschenhandels, denen nach Maßgabe der Richtlinie 2004/81/EG ein Aufenthaltstitel erteilt wurde, wird unbeschadet des Absatzes 1 Unterabsatz 1 Buchstabe b kein Einreiseverbot verhängt, sofern die betreffenden Drittstaatsangehörigen keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellen.
Gegen Opfer des Menschenhandels, denen in der Vergangenheit ein Aufenthaltstitel gemäß Richtlinie 2004/81/EG erteilt wurde, wird kein Einreiseverbot verhängt, sofern die betreffende Person nicht gegen eine Verpflichtung zur Rückkehr innerhalb einer Frist für die freiwillige Ausreise verstoßen hat oder eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Diese Regel gilt nur für illegale Aufenthalte unmittelbar nach einem legalen Aufenthalt im Sinne der Richtlinie 2004/81/EG und begründet keine lebenslange Ausnahme für vorherige Inhaber dieser Aufenthaltstitel.
Unterabsatz 3: Die Mitgliedstaaten können in Einzelfällen aus humanitären Gründen von der Verhängung eines Einreiseverbots absehen oder ein Einreiseverbot aufheben oder aussetzen.
Den Mitgliedstaaten steht es frei, insbesondere in den nach Artikel 11 Absatz 1 Buchstaben a und b der Rückführungsrichtlinie vorgeschriebenen Fällen, in Einzelfällen aus rein humanitären Gründen keine Einreiseverbote zu verhängen. Dies ist auf nationaler Ebene festzulegen. Die Mitgliedstaaten können aus humanitären Gründen ein bestehendes Einreiseverbot aufheben oder aussetzen.
Es handelt sich um eine Kann-Bestimmung, von der die Mitgliedstaaten entsprechend ihren einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Verwaltungspraktiken Gebrauch machen können.
Unterabsatz 4: Die Mitgliedstaaten können in Einzelfällen oder bestimmten Kategorien von Fällen ein Einreiseverbot aus sonstigen Gründen aufheben oder aussetzen.
Den Mitgliedstaaten steht es frei, ein bestehendes Einreiseverbot aus anderen als humanitären Gründen aufzuheben oder auszusetzen. Dies ist auf nationaler Ebene festzulegen.
Bei humanitären Katastrophen (wie Erdbeben, sonstigen Naturkatastrophen oder bewaffneten Konflikten) in Drittstaaten, die einen Massenzustrom von Flüchtlingen auslösen können, nehmen die förmlichen Verfahren für die Aufhebung von Einreiseverboten in Einzelfällen unter Umständen zu viel Zeit in Anspruch und sind nicht durchführbar. Daher besteht die Möglichkeit, dass für die betroffenen Personengruppen bestehende Einreiseverbote horizontal ausgesetzt oder ganz aufgehoben werden.
Die Aufhebung eines rechtmäßig nach Maßgabe der Rückführungsrichtlinie erlassenen Einreiseverbots kann auch dann erforderlich werden, wenn Drittstaatsangehörige zu einem späteren Zeitpunkt nachweisen, dass sie das Freizügigkeitsrecht nach Unionsrecht genießen, weil sie beispielsweise Mitglied der Familie eines EU-, EWR- oder CH-Bürgers geworden sind, für den Artikel 21 AEUV oder die Richtlinie 2004/38/EG gilt.
11.7. Sanktionen bei Nichteinhaltung eines Einreiseverbots
Die Nichtbeachtung eines Einreiseverbots sollte von den Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Dauer eines weiteren Einreiseverbots berücksichtigt werden. Vor diesem Hintergrund heißt es in Erwägungsgrund 14 der Rückführungsrichtlinie ausdrücklich: „Die Dauer des Einreiseverbots sollte in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt werden und im Regelfall fünf Jahre nicht überschreiten. In diesem Zusammenhang sollte der Umstand, dass die betreffenden Drittstaatsangehörigen bereits Gegenstand von mehr als einer Rückkehrentscheidung oder Abschiebungsanordnung gewesen oder während eines Einreiseverbots in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist sind, besonders berücksichtigt werden.“
Die Rückführungsrichtlinie gestattet es den Mitgliedstaaten, vorbehaltlich der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie und der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH im Rahmen des nationalen Verwaltungsrechts weitere Sanktionen (Ordnungsstrafen) vorzusehen. Wenn die Mitgliedstaaten in dieser Weise verfahren, sollten sie keinen Unterschied machen zwischen Einreiseverboten, die von den eigenen Behörden verhängt wurden, und solchen der Behörden anderer Mitgliedstaaten, da dies das in der Rückführungsrichtlinie vorgesehene harmonisierte Konzept eines EU-Einreiseverbots untergraben würde.
Die Mitgliedstaaten können strafrechtliche Sanktionen gegen illegal aufhältige Drittstaatsangehörige vorsehen, die nach ihrer Rückführung unter Verstoß gegen ein gültiges Einreiseverbot wieder eingereist sind (Urteil des EuGH in der Rechtssache C-290/14, Celaj, siehe Abschnitt 4).
In Artikel 11 Absatz 5 der Rückführungsrichtlinie wird klargestellt, dass die Bestimmungen über rückkehrbezogene Einreiseverbote unbeschadet des Rechts auf internationalen Schutz im Rahmen des Asyl-Besitzstands der EU gelten: Zu einem früheren Zeitpunkt im Rahmen der Rückführungsrichtlinie verhängte Einreiseverbote dürfen also auf keinen Fall zur Rechtfertigung der Rückführung oder Bestrafung von Drittstaatsangehörigen herangezogen werden, die berechtigt sind, als Asylbewerber oder als Personen mit internationalem Schutzstatus in die EU einzureisen oder sich dort aufzuhalten — siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-290/14, Celaj (Rn. 32). Solche Einreiseverbote sind auszusetzen (bei schwebenden Asylverfahren) oder aufzuheben (sobald der internationale Schutzstatus zuerkannt wurde).
11.8. Konsultation zwischen den Mitgliedstaaten
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie – Artikel 11 Absatz 4; Schengener Durchführungsübereinkommen — Artikel 25
Erwägt ein Mitgliedstaat, einen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung für Drittstaatsangehörige auszustellen, gegen die ein Einreiseverbot eines anderen Mitgliedstaats besteht, so konsultiert er zunächst den Mitgliedstaat, der das Einreiseverbot verhängt hat, und berücksichtigt dessen Interessen gemäß Artikel 25 des Schengener Durchführungsübereinkommens.
In Artikel 25 des Schengener Durchführungsübereinkommens heißt es:
(1) |
Beabsichtigt ein Mitgliedstaat, einen Aufenthaltstitel zu erteilen, so ruft er systematisch die Daten im Schengener Informationssystem ab. Beabsichtigt ein Mitgliedstaat, einem zur Einreiseverweigerung ausgeschriebenen Drittausländer einen Aufenthaltstitel zu erteilen, so konsultiert er vorab den ausschreibenden Mitgliedstaat und berücksichtigt dessen Interessen; der Aufenthaltstitel wird nur bei Vorliegen gewichtiger Gründe erteilt, insbesondere aus humanitären Gründen oder aufgrund internationaler Verpflichtungen. Wird der Aufenthaltstitel erteilt, so zieht der ausschreibende Mitgliedstaat die Ausschreibung zurück, wobei es ihm unbenommen bleibt, den betroffenen Drittausländer in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen. |
(1a) |
Vor einer Ausschreibung zum Zwecke der Einreiseverweigerung im Sinne von Artikel 96 prüfen die Mitgliedstaaten ihre nationalen Register von erteilten Visa für den längerfristigen Aufenthalt oder Aufenthaltstiteln. |
(2) |
Stellt sich heraus, dass der Drittausländer, der über einen von einer der Vertragsparteien erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, zum Zwecke der Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist, konsultiert die ausschreibende Vertragspartei die Vertragspartei, die den Aufenthaltstitel erteilt hat, um zu prüfen, ob ausreichende Gründe für die Einziehung des Aufenthaltstitels vorliegen. Wird der Aufenthaltstitel nicht eingezogen, so zieht die ausschreibende Vertragspartei die Ausschreibung zurück, wobei es ihr unbenommen bleibt, den betroffenen Drittausländer in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen. |
(3) |
Die Absätze 1 und 2 finden auch auf Visa für den längerfristigen Aufenthalt Anwendung. |
Artikel 25 SDÜ ist eine unmittelbar anwendbare Bestimmung und kann von den Mitgliedstaaten ohne für die Umsetzung in innerstaatliches Recht erlassene Vorschriften angewendet werden.
Nur der Mitgliedstaat, der das Einreiseverbot verhängt hat (Mitgliedstaat A), kann es auch aufheben. Entschließt sich ein anderer Mitgliedstaat (Mitgliedstaat B), der betreffenden Personen einen Aufenthaltstitel zu erteilen oder einen vorhandenen nicht einzuziehen (nach Konsultation des Mitgliedstaats, der das Einreiseverbot verhängt hat), so ist Mitgliedstaat A verpflichtet, die Ausschreibung zurückzuziehen (Artikel 25 Absatz 2 SDÜ), wobei es ihm dennoch unbenommen bleibt, den betroffenen Drittstaatsangehörigen in seine nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen. Die Gründe für das bestehende Einreiseverbot, das Mitgliedstaat A verhängt hat, sowie die Interessen des Mitgliedstaats A sind von Mitgliedstaat B zu prüfen und zu berücksichtigen, bevor er einen Aufenthaltstitel erteilt oder sich entscheidet, diesen nicht einzuziehen (beispielsweise zum Zwecke der Familienzusammenführung). Damit Mitgliedstaat B die Gründe für das Einreiseverbot angemessen würdigen kann, ist es erforderlich, dass Mitgliedstaat A die entsprechende Information rechtzeitig an Mitgliedstaat B übermittelt.
Diejenigen Mitgliedstaaten, in denen die Schengen-Regelungen noch nicht in vollem Umfang zur Anwendung kommen und die daher Artikel 25 SDÜ (noch) nicht unmittelbar anwenden können, sollten dennoch im Sinne des Artikels 11 Absatz 4 der Rückführungsrichtlinie verfahren und die Behörden, von denen das Einreiseverbot verhängt wurde, kontaktieren, wenn ihnen zur Kenntnis gelangt (durch welche Informationsquelle auch immer, unter anderem auch durch Informationen vom Antragsteller selbst), dass von einem anderen Mitgliedstaat ein Einreiseverbot gegen eine bestimmte Person verhängt wurde. Bevor dieser Person ein Einreisetitel ausgestellt wird, sollte der Mitgliedstaat bestrebt sein, „die Interessen des Mitgliedstaats“, von dem das Einreiseverbot verhängt wurde, „zu berücksichtigen“.
11.9. Einreiseverbote, die vor dem 24.12.2010 verhängt wurden
Einreiseverbote, die vor dem 24. Dezember 2010 verhängt wurden, sind an die in Artikel 11 der Rückführungsrichtlinie festlegten Standards anzupassen (höchstens fünf Jahre, Einzelfallprüfung, Pflicht zur Aufhebung/Prüfung der Aufhebung bei Vorliegen besonderer Umstände), wenn sie Wirkung nach dem 24. Dezember 2010 entfalten und den materiellen Garantien des Artikels 11 noch nicht entsprechen.
Die Anpassung sollte entweder jederzeit auf Antrag der betreffenden Person oder aber von Amts wegen zum frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgen, keinesfalls jedoch später als bei der regelmäßigen (alle drei Jahre stattfindenden) Überprüfung der Einreiseverbote, die für SIS-Ausschreibungen vorgesehen ist.
In der Rechtssache C-297/12, Filev und Osmani, (Rn. 39-41 und 44) bestätigte der EuGH ausdrücklich: „Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die genannte Richtlinie keine Übergangsbestimmungen für Einreiseverbote enthält, die erlassen wurden, bevor sie anwendbar wurde. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt indessen eine neue Vorschrift, soweit nichts Abweichendes bestimmt ist, unmittelbar für die künftigen Auswirkungen eines Sachverhalts, der unter der Geltung der alten Vorschrift entstanden ist… Daraus ergibt sich, dass die Richtlinie 2008/115/EG auf nach dem Zeitpunkt, ab dem sie in dem betreffenden Mitgliedstaat anwendbar war, eingetretene Wirkungen von Einreiseverboten, die gemäß den vor diesem Zeitpunkt geltenden innerstaatlichen Vorschriften erlassen wurden, Anwendung findet. … Daraus folgt, dass Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG es verbietet, die Wirkungen unbefristeter Einreiseverbote wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, die vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115/EG verhängt wurden, über die in dieser Bestimmung vorgesehene Höchstdauer des Verbots hinaus aufrechtzuerhalten, es sei denn, diese Verbote wurden gegen Drittstaatsangehörige verhängt, die eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellen.“
12. VERFAHRENSGARANTIEN
12.1. Recht auf eine gute Verwaltung und auf Anhörung
Das Recht auf eine gute Verwaltung ist ein als allgemeiner Grundsatz des EU-Rechts anerkanntes und in der GRC verankertes Recht, das fester Bestandteil der EU-Rechtsordnung ist. Dazu gehört das Recht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige oder ihre Interessen stark beeinträchtigende individuelle Maßnahme getroffen wird, wobei dieses Recht auch Teil der Achtung der Verteidigungsrechte ist, d. h. eines weiteren allgemeinen Grundsatzes des EU-Rechts.
In seinen Urteilen in den Rechtssachen C-383/13, G. und R. (62), und C-249/13, Boudjlida (63), nahm der EuGH eine wichtige Klarstellung zu dem Recht vor, zu Abschiebungs- und Haftentscheidungen gehört zu werden. Diese Urteile bedeuten, dass die Mitgliedstaaten stets die nachstehenden Garantien beachten müssen, wenn sie Entscheidungen im Zusammenhang mit der Rückkehr/Rückführung treffen (d. h. Rückkehrentscheidungen, Entscheidungen über Einreiseverbote, Abschiebungsentscheidungen, Inhaftnahme usw.), auch wenn dies in den entsprechenden Artikeln der Rückführungsrichtlinie nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist:
1. |
das Recht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird; |
2. |
das Recht jeder Person auf Zugang zu den sie betreffenden Akten und auf Analyse der ihr entgegengehaltenen Beweise, auf die die zuständige nationale Behörde ihre Entscheidung unter Wahrung des berechtigten Interesses der Vertraulichkeit sowie des Berufs- und Geschäftsgeheimnisses stützt; |
3. |
das Recht einer jeden Person auf Hinzuziehung eines Rechtsberaters vor Erlass einer Rückkehrentscheidung, sofern durch die Wahrnehmung dieses Rechts nicht der ordnungsgemäße Ablauf des Rückkehrverfahrens und die wirksame Durchführung der Richtlinie beeinträchtigt werden. Dies ist nicht dahin gehend auszulegen, dass die Mitgliedstaaten zur Übernahme der Kosten dieses Beistands verpflichtet sind; |
4. |
die Pflicht der Verwaltung, die entsprechenden Erklärungen der betroffenen Person mit aller gebotenen Sorgfalt zur Kenntnis zu nehmen, indem sie sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls untersucht; |
5. |
die Verpflichtung der Verwaltung, ihre Entscheidungen zu begründen. |
Die Mitgliedstaaten verfügen über einen beachtlichen Ermessensspielraum, wie das Recht auf Anhörung in der Praxis gewährt wird: Die Missachtung dieses Rechts macht eine Entscheidung jedoch nur ungültig, wenn das Ergebnis des Verfahrens bei Beachtung dieses Rechts ein anderes gewesen wäre (Urteil des EuGH in der Rechtssache C-383/13, G. und R., Rn. 38).
Eine Behörde eines Mitgliedstaats kann darüber hinaus auf die Anhörung eines Drittstaatsangehörigen zu einer Rückkehrentscheidung verzichten, wenn sie in einem vorangegangenen Asylverfahren, in dem das Recht auf Anhörung in vollem Umfang gewahrt wurde, die Rechtswidrigkeit des Aufenthalts dieser Person im Hoheitsgebiet festgestellt hat und beabsichtigt, eine solche Rückkehrentscheidung zu erlassen (Urteil des EuGH in der Rechtssache C-166/13, Mukarubega (64)). In der Rechtssache Mukarubega heißt es: „Das Recht auf Anhörung vor Erlass einer Rückkehrentscheidung darf … nicht instrumentalisiert werden, um das Verwaltungsverfahren immer wieder zu eröffnen, und zwar zur Wahrung des Gleichgewichts zwischen dem Grundrecht des Betroffenen auf Anhörung vor Erlass einer ihn belastenden Entscheidung und der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, illegale Zuwanderung zu bekämpfen.“
Diese Argumentation lässt sich auch auf andere Fallkonstellationen, wie jene nach Maßgabe des Artikels 6 Absatz 6 der Rückführungsrichtlinie (Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts oder Rückkehrentscheidung) anwenden. Folglich ist eine wiederholte Abschätzung der Gefahr, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung verletzt wird, nicht erforderlich, wenn die Einhaltung dieses Grundsatzes bereits in früheren Verfahren bewertet wurde, die Bewertung endgültig ist und sich die persönliche Situation des betreffenden Drittstaatsangehörigen nicht geändert hat. In gleicher Weise sollte eine wiederholte Bewertung anderer Elemente, die geltend gemacht werden könnten, um eine Rückführung zu verhindern, vermieden werden. Die Mitgliedstaaten sollten Maßnahmen ergreifen, um wiederholte Bewertungen zu vermeiden, indem beispielsweise die Anhörungen vor den zuständigen Behörden für verschiedene Zwecke (etwa im Hinblick auf die Verlängerung oder die Erteilung eines Aufenthaltstitels, die Feststellung des Rechts auf Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, die endgültige ablehnende Entscheidung eines Antrags auf internationalen Schutz) soweit als möglich in einem Verfahrensschritt zusammengefasst werden, sofern das Recht auf Anhörung in vollem Umfang gewahrt bleibt. Auch könnten zu diesem Zweck innovative Verfahren wie Videokonferenzen genutzt werden. Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass sich derartige Maßnahmen nicht nachteilig auf die Verfahrensgarantien auswirken; und sie sollten vor allem auf Personen achten, die besondere Verfahrensgarantien benötigen, darunter insbesondere Minderjährige (siehe im Folgenden).
Das Recht auf Anhörung schließt das Recht ein, zur möglichen Anwendung des Artikels 5 und des Artikels 6 Absätze 2 bis 5 der Rückführungsrichtlinie und zu den Einzelheiten der Rückkehrmodalitäten gehört zu werden, d. h. zur Ausreisefrist und dazu, ob die Rückkehr freiwillig erfolgen oder zwangsweise durchgesetzt werden soll. Die Behörde braucht den Drittstaatsangehörigen jedoch vor der Anhörung nicht darauf hinzuweisen, dass sie die Annahme einer Rückkehrentscheidung in Erwägung zieht, noch ihm die Gründe, auf die sie diese zu stützen gedenkt, mitzuteilen, noch ihm vor Einholung seiner Stellungnahme eine Bedenkzeit zu gewähren, sofern der Drittstaatsangehörige die Möglichkeit hat, seinen Standpunkt zur Rechtswidrigkeit seines Aufenthalts sowie Gründe, die es nach dem nationalen Recht rechtfertigen können, dass diese Behörde vom Erlass einer Rückkehrentscheidung absieht, sachdienlich und wirksam vorzutragen (Urteil des EuGH in der Rechtssache C-249/13, Boudjlida).
Die in den Artikeln 12 und 13 der Rückführungsrichtlinie enthaltenen Verfahrensgarantien sind auf alle Entscheidungen im Zusammenhang mit der Rückkehr anzuwenden und dürfen nicht auf die drei Entscheidungsarten beschränkt werden, die in Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie erwähnt werden.
Das Recht des Minderjährigen, in ihn berührenden Rückkehrverfahren gehört zu werden, muss geachtet werden. Nach Artikel 12 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes und unter Berücksichtigung der Allgemeinen Bemerkung Nr. 12 des UN-Kinderrechtsausschusses zum Recht des Minderjährigen auf Anhörung (65) muss der betreffende Minderjährige entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle gehört werden. Es gilt, das Recht des Minderjährigen auf freie Meinungsäußerung zu achten und seiner Meinung gebührende Bedeutung beizumessen sowie seinem Alter und Reifegrad sowie etwaigen Kommunikationsschwierigkeiten Rechnung zu tragen, um eine sinnvolle Beteiligung von Minderjährigen zu ermöglichen.
Um die Wahrung des Rechts auf Anhörung des Minderjährigen in der Praxis zu gewährleisten, sollten sich die von den Mitgliedstaaten erlassenen Maßnahmen an folgenden wichtigen Grundsätzen orientieren:
— |
die Meinungsäußerung ist freiwillig und stellt keine Verpflichtung dar; |
— |
das Recht auf Anhörung sollte keiner Altersgrenze oder sonstigen willkürlichen Einschränkungen — gesetzlicher oder praktischer Art — unterliegen; |
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ein Minderjähriger sollte in einem Umfeld gehört werden, das auf seine Bedürfnisse abgestimmt ist; |
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ein Minderjähriger sollte nicht öfter als nötig befragt werden, um der Notwendigkeit, Minderjährige vor Schaden zu schützen, umfassend Rechnung zu tragen; |
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unter umfassender Berücksichtigung der Notwendigkeit, Minderjährige vor Schaden zu schützen, sollte ein Minderjähriger nicht öfter als nötig befragt werden; |
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um Minderjährigen, insbesondere in schutzbedürftiger Lage, die Meinungsäußerung zu erleichtern, sind gegebenenfalls besondere Maßnahmen erforderlich, dazu gehören auch Dolmetschleistungen und Übersetzungen. |
Sammlung von Informationen über Schleusung: Entsprechend den im EU-Aktionsplan gegen die Schleusung von Migranten 2015-2020 (66) angegebenen Prioritäten, insbesondere der Notwendigkeit einer besseren Sammlung und Weitergabe von Informationen, empfiehlt die Kommission, dass die Mitgliedstaaten angemessene Mechanismen einführen, um unter voller Achtung der Grundrechte und des Asyl-Besitzstands der EU die systematische Informationserhebung bei Drittstaatsangehörigen, die in vorschriftswidrigen Situationen aufgegriffen wurden, sicherzustellen: Wird von den Mitgliedstaaten vor der Annahme einer Rückkehrentscheidung das Recht auf Anhörung eingeräumt, so sollten sie die Rückzuführenden zur Offenlegung der Informationen auffordern, über die diese möglicherweise in Bezug auf den Modus operandi und die Routen der Schleusernetze, aber auch auf Querverbindungen zu Menschenhandel und anderen Straftaten sowie zum Finanztransfer verfügen. Die auf diese Weise erlangten Informationen sollten dem nationalen Recht und den in einschlägigen EU-Foren ausgetauschten besten Praktiken entsprechend gesammelt und unter den zuständigen Behörden (Einwanderungs-, Grenz- und Polizeibehörden) und Agenturen auf nationaler Ebene und auch auf EU-Ebene ausgetauscht werden.
12.2. Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr
In der Rückführungsrichtlinie finden sich ausdrücklich Bestimmungen, die die verschiedenen Arten von Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr betreffen:
1. |
Rückkehrentscheidungen (Artikel 3 Nummer 4 und Artikel 6 Absatz 1), |
2. |
Entscheidungen über die Frist für die freiwillige Ausreise wie auch Verlängerungen dieser Frist (Artikel 7), |
3. |
Abschiebungsentscheidungen (Artikel 8 Absatz 3), |
4. |
Entscheidungen über die Aufschiebung der Abschiebung (Artikel 9), |
5. |
Entscheidungen über Einreiseverbote sowie über die Aufhebung oder Aussetzung eines Einreiseverbots (Artikel 11), |
6. |
Entscheidungen über die Inhaftnahme und die Verlängerung der Haftdauer (Artikel 15). |
Die meisten vorgenannten Entscheidungen erfolgen zusätzlich zu der Rückkehrentscheidung und sollten normalerweise in ein und demselben Verwaltungsakt zusammen mit der Rückkehrentscheidung erlassen werden: Rückkehrentscheidungen können eine Frist für die freiwillige Ausreise (Artikel 7), ein Einreiseverbot (Artikel 11) und gegebenenfalls eine Entscheidung über die Anordnung einer Abschiebung (im Falle der Nichteinhaltung einer Frist für die freiwillige Ausreise) beinhalten.
Spätere Änderungen dieser zusätzlichen Entscheidungen sind in bestimmten Fällen möglich:
— |
Ein Einreiseverbot kann zu einem späteren Zeitpunkt als zusätzlicher und nachträglicher Bestandteil der bereits verhängten Rückkehrentscheidung erlassen werden, wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist (Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe b). |
— |
Ein bereits verhängtes Einreiseverbot kann aufgehoben oder ausgesetzt werden (Artikel 11 Absätze 3-5). |
— |
Eine bereits eingeräumte Frist für die freiwillige Ausreise kann verlängert werden (Artikel 7 Absatz 2). |
— |
Eine bereits vollstreckbare Rückkehrentscheidung (oder Abschiebungsanordnung) kann aufgeschoben werden (Artikel 9). |
In Artikel 6 Absatz 6 der Rückführungsrichtlinie wird der allgemeine Grundsatz bekräftigt, der es den Mitgliedstaaten gestattet, mehrere unterschiedliche Entscheidungen (darunter Entscheidungen ohne unmittelbaren Bezug zur Rückkehr/Rückführung) im Rahmen einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung zusammenzufassen, sofern die einschlägigen Verfahrensgarantien und Vorschriften bei jeder Einzelentscheidung beachtet werden. Entscheidungen über die Beendigung des legalen Aufenthalts (wie die endgültige Ablehnung eines Asylantrags, die Aufhebung eines Visums oder die Ablehnung der Verlängerung eines Aufenthaltstitels) können somit entweder gesondert oder aber in ein und derselben behördlichen oder richterlichen Entscheidung zusammen mit einer Rückkehrentscheidung erlassen werden.
Die Mitgliedstaaten sollten mit der gebotenen Sorgfalt und umgehend eine Entscheidung bezüglich des rechtlichen Status von Drittstaatsangehörigen treffen (siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache C-329/11, Achughbabian (Rn. 31): „Dabei sind die zuständigen Behörden verpflichtet, zügig zu handeln, um nicht … das Ziel der Richtlinie 2008/115/EG zu gefährden, und sie müssen umgehend darüber entscheiden, ob der Aufenthalt der betroffenen Person illegal ist oder nicht.“ Die Mitgliedstaaten sollten daher Rückkehrentscheidungen und Entscheidungen über die Beendigung eines legalen Aufenthalts in einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung zusammen erlassen. Ist dies nicht möglich (weil beispielsweise die für die Verweigerung der Verlängerung des Aufenthaltstitels zuständige Behörde nicht befugt ist, Rückkehrentscheidung zu erlassen), sollten Mitgliedstaaten schnelle und wirksame Verfahren unter Einbeziehung der zuständigen Behörden einrichten, um sicherzustellen, dass Informationen rasch ausgetauscht werden und Rückkehrentscheidungen unverzüglich erlassen werden, nachdem eine Entscheidung über die Beendigung des legalen Aufenthalts ergangen ist; davon unberührt bleibt jedoch das Recht auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung im Einklang mit Artikel 6 Absatz 4 der Rückführungsrichtlinie.
Konkrete Beispiele:
— |
Wenn ein Mitgliedstaat entscheidet, ein Visum zu annullieren und dem betreffenden Drittstaatsangehörigen eine Frist von maximal sieben Tagen zur freiwilligen Ausreise aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einzuräumen, handelt es sich dann um eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie? Oder ist sie durch andere EU-Visavorschriften abgedeckt?
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— |
Wird ein Drittstaatsangehöriger mit dem erforderlichen Visum im Hoheitsgebiet angetroffen, erfüllt aber nicht (oder nicht mehr) die Voraussetzungen für einen Aufenthalt (Artikel 6 SGK), so sollte der Mitgliedstaat eine Rückkehrentscheidung erlassen können. Würde diese Rückkehrentscheidung (vielleicht mit einem Einreiseverbot einhergehend) automatisch bedeuten, dass das Visum nicht mehr gültig ist?
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— |
Kann eine Entscheidung über die Ablehnung eines Asylantrags mit einer Rückkehrverpflichtung verbunden werden?
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12.3. Form der Entscheidungen und Übersetzung
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 12 Absätze 1-3
1. |
Rückkehrentscheidungen sowie — gegebenenfalls — Entscheidungen über ein Einreiseverbot oder eine Abschiebung ergehen schriftlich und enthalten eine sachliche und rechtliche Begründung sowie Informationen über mögliche Rechtsbehelfe. Die Information über die Gründe kann begrenzt werden, wenn nach einzelstaatlichem Recht eine Einschränkung des Rechts auf Information vorgesehen ist, insbesondere um die nationale Sicherheit, die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit oder die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten zu gewährleisten. |
Eine schriftliche Entscheidung bildet den Eckstein der Verfahrensgarantien, die in der Rückführungsrichtlinie vorgesehen sind. Auf diese Anforderung kann nicht verzichtet werden. Die Information, die dem Rückkehrer gegeben wird, sollte sich jedoch nicht auf Hinweise auf mögliche Rechtsbehelfe beschränken: Den Mitgliedstaaten wird empfohlen, darüber hinaus weitere Auskünfte zu erteilen, die die praktische Einhaltung der Entscheidung betreffen. So sollte dem Rückzuführenden beispielsweise mitgeteilt werden, ob der Mitgliedstaat einen Beitrag zu den Beförderungskosten leistet, ob der Rückzuführende in ein Programm zur Unterstützung der freiwilligen Rückkehr aufgenommen oder eine Verlängerung der Frist, innerhalb derer die Rückkehrentscheidung zu befolgen ist, erlangt werden kann. Um die betreffende Person zur freiwilligen Ausreise zu veranlassen, sollte der Rückzuführende auch auf die Verpflichtung zur Ausreise aus den Hoheitsgebieten der EU-Mitgliedstaaten und der assoziierten Schengen-Länder sowie auf die Folgen hingewiesen werden, die die Nichteinhaltung der Rückkehrverpflichtung nach sich zieht.
Nach Artikel 6 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Richtlinie über Sanktionen gegen Arbeitgeber werden Rückzuführende über ihr in dieser Richtlinie verbrieftes Recht, einen Anspruch gegen den Arbeitgeber für alle ausstehenden Vergütungen geltend zu machen, sowie über die zur Verfügung stehenden Beschwerdemechanismen unterrichtet. Diese Information könnte ebenfalls in die Rückkehrentscheidung aufgenommen bzw. ihr beigefügt werden.
2. |
Die Mitgliedstaaten stellen den betreffenden Drittstaatsangehörigen auf Wunsch eine schriftliche oder mündliche Übersetzung der wichtigsten Elemente einer Entscheidung in Bezug auf die Rückkehr nach Absatz 1 einschließlich von Informationen über mögliche Rechtsbehelfe in einer Sprache zur Verfügung, die die Drittstaatsangehörigen verstehen oder bei der vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass sie sie verstehen. |
Der Antrag auf Aushändigung einer Übersetzung kann vom Rückzuführenden oder dessen gesetzlichen Vertreter gestellt werden. Dem Mitgliedstaat steht die Entscheidung frei, ob eine schriftliche oder eine mündliche Übersetzung erfolgt, wobei zu gewährleisten ist, dass der Drittstaatsangehörige Sinnzusammenhang und Inhalt verstehen kann. Es ist nicht möglich, für die Übersetzung eine Gebühr zu fordern, da dies dem Geist der Bestimmung zuwiderliefe, wonach dem Rückzuführenden die notwendigen Informationen zur Verfügung zu stellen sind, damit er seine rechtliche Situation in all ihren Aspekten versteht und letztlich der Rückkehrentscheidung nachkommt.
Die Entscheidung, welche Sprache der betreffende Drittstaatsangehörige mutmaßlich versteht, richtet sich nach den einzelstaatlichen Durchführungsvorschriften und Verwaltungspraktiken. Diese Einschätzung kann in der gleichen Weise und nach denselben Kriterien wie in Asylverfahren (Artikel 12 der Asylverfahrens-Richtlinie, Artikel 22 der Neufassung der Anerkennungsrichtlinie und Artikel 5 der Richtlinie über die Aufnahmebedingungen) vorgenommen werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass aufgrund des komplexen Charakters der Asylverfahren möglicherweise höhere Anforderungen an Übersetzungen in diesem Bereich als im Bereich der Rückkehr/Rückführung zu stellen sind. Das Asylrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten, mit allen vertretbaren Maßnahmen dafür zu sorgen, dass eine Übersetzung in eine Sprache angefertigt wird, die von der betreffenden Person tatsächlich verstanden wird, wobei nur für extrem seltene Sprachen, bei denen ein objektiver Mangel an Übersetzern/Dolmetschern herrscht, die Nichtverfügbarkeit von Übersetzern/Dolmetschern als triftiger Grund gelten kann. Eine Situation, in der Übersetzer in die entsprechende Zielsprache vorhanden sind, jedoch aus verwaltungsinternen Gründen nicht verfügbar sind, rechtfertigt nicht das Unterbleiben einer Übersetzung.
Die Möglichkeit der Verwendung von Dokumentenvorlagen zur rationelleren Gestaltung der Arbeit der Verwaltung beschränkt sich nicht auf den Anwendungsbereich des Artikels 12 Absatz 3 (siehe im Folgenden). Solange die Dokumentenvorlage eine auf den Einzelfall zugeschnittene Übersetzung der Entscheidung in eine Sprache, die der Betreffende versteht oder von der vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass er sie versteht, erlaubt, befindet sich diese Übersetzung in Einklang mit Artikel 12 Absatz 2 der Rückführungsrichtlinie, und es besteht keine Notwendigkeit, die in Artikel 12 Absatz 3 genannte Ausnahme anzuwenden.
3. |
Die Mitgliedstaaten können beschließen, Absatz 2 nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist sind und die in der Folge nicht die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich weiterhin dort aufzuhalten. |
In solchen Fällen ergehen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Absatz 1 anhand des in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen Standardformulars.
Die Mitgliedstaaten halten allgemeine Informationsblätter mit Erläuterungen zu den Hauptelementen des Standardformulars in mindestens fünf der Sprachen bereit, die von den illegal in den betreffenden Mitgliedstaat eingereisten Migranten am häufigsten verwendet oder verstanden werden.
Die Verwendung eines Standardformulars für die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 3 der Rückführungsrichtlinie ist eine Ausnahme von den allgemeinen Regelungen, auf die nur dann zurückgegriffen werden kann, wenn ein Drittstaatsangehöriger illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist.
In diesen Fällen steht den Mitgliedstaaten die Verwendung eines Standardformulars als Option offen. Hierbei gilt zu beachten, dass die durch Artikel 12 Absatz 3 der Rückführungsrichtlinie abgedeckten Fälle illegaler Einreise nicht immer die gleichen sind wie die „Grenzfälle“ gemäß Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a der Richtlinie — siehe Abschnitt 2.1. Ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, der drei Monate nach seiner illegalen Einreise im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufgegriffen wird, fällt nicht unter die Ausnahme nach Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a der Rückführungsrichtlinie, jedoch kann für ihn die in Artikel 12 Absatz 3 genannte Ausnahme gelten.
Illegale Überschreitung der Binnengrenzen: Absatz 3 wird auf Drittstaatsangehörige angewendet, „die illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist sind und die in der Folge nicht die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich weiterhin dort aufzuhalten“. Vor dem besonderen Hintergrund dieser Bestimmung der Rückführungsrichtlinie kann der Begriff „illegale Einreise“ auch Fälle abdecken, in denen ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger unter Verstoß gegen die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden Einreise- und Aufenthaltsbedingungen aus einem anderen Mitgliedstaat eingereist ist. Hierbei ist zu beachten, dass in diesen besonderen Fällen (Einreise aus einem anderen Mitgliedstaat) Artikel 6 Absatz 2 oder Artikel 6 Absatz 3 der Rückführungsrichtlinie anwendbar sein kann.
Artikel 12 Absatz 3 enthält keine Ausnahme in Bezug auf die anwendbaren Rechtsbehelfe. Die Rechtsbehelfe nach Artikel 13 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie sind daher auch dann zu gewähren, wenn das in Artikel 12 Absatz 3 genannte Standardformular verwendet wird.
12.4. Rechtsbehelfe
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 13 Absätze 1 und 2
1. |
Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen. |
Wirksame Rechtsbehelfe sollten für alle Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr angeboten werden. Der Begriff „Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr“ ist in einem weiteren Sinne so zu verstehen, dass er Entscheidungen zu allen durch die Rückführungsrichtlinie geregelten Fragen abdeckt, Rückkehrentscheidungen ebenso wie Entscheidungen, mit denen eine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt oder verlängert wird, Abschiebungsentscheidungen, Entscheidungen über einen Aufschub der Abschiebung, Entscheidungen über Einreiseverbote wie auch über die Aussetzung oder Aufhebung von Einreiseverboten (siehe Abschnitt 12.2). Ausführlicher geregelt sind in Artikel 15 der Rückführungsrichtlinie die Rechtsbehelfe, die bei Entscheidungen über die Inhaftnahme oder über die Verlängerung der Haftdauer anwendbar sind (siehe Abschnitt 14).
Art der Überprüfungsinstanz: In Übereinstimmung mit Artikel 6 und 13 EMRK und Artikel 47 GRC muss die Überprüfungsinstanz ein im Wesentlichen unabhängiges und unparteiisches Gericht sein. Artikel 13 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie orientiert sich eng an der Leitlinie 5.1 des Europarats und sollte der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entsprechend ausgelegt werden. Nach dieser Rechtsprechung kommt als Überprüfungsinstanz unter der Voraussetzung, dass die Behörde aus unparteiischen Mitgliedern besteht, deren Unabhängigkeit garantiert wird, und in den nationalen Rechtsvorschriften die Möglichkeit der Überprüfung der Entscheidung durch eine Justizbehörde gemäß den in Artikel 47 GRC über das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf festgelegten Standards vorgesehen ist, auch eine Verwaltungsbehörde in Frage.
Es gibt verschiedene Garantien, um der Gefahr des Missbrauchs der Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsbehelfs zu begegnen: Artikel 13 entfaltet eine automatische aufschiebende Wirkung nicht unter allen Umständen (Absatz 2), und die Gewährung kostenloser Rechtsberatung kann eingeschränkt werden, wenn der Rechtsbehelf nicht erfolgversprechend ist (Absatz 4). Zudem ist der im Unionsrecht geltende allgemeine Grundsatz der rechtskräftig entschiedenen Sache (res judicata) zu beachten.
Die Fristen für Rechtsbehelfe gegen rückkehrbezogene Entscheidungen sind in nationalen Rechtsvorschriften festzulegen. Um einen möglichen Missbrauch von Rechten und Verfahren und insbesondere das Einlegen von Rechtsbehelfen kurz vor dem geplanten Abschiebetermin zu verhindern, empfiehlt die Kommission den Mitgliedstaaten, für Rechtsbehelfe gegen Rückkehrentscheidungen die kürzestmögliche Frist zu setzen, die das nationale Recht für vergleichbare Situationen vorsieht, sofern dies keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf darstellt. Gerichtliche Entscheidungen sollten ohne unnötige Verzögerungen erlassen werden.
2. |
Die in Absatz 1 genannte Behörde oder dieses Gremium ist befugt, Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 zu überprüfen, und hat auch die Möglichkeit, ihre Vollstreckung einstweilig auszusetzen, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist. |
Aufschiebende Wirkung: Die Überprüfungsinstanz muss befugt sein, die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung in Einzelfällen auszusetzen. In den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften sollte eindeutig festgelegt sein, dass die Überprüfungsinstanz selbst (die Instanz, die die Entscheidung in Bezug auf die Rückkehr überprüft) die Befugnis zur Aussetzung der Vollstreckung im Rahmen eines Verfahrens besitzt.
Verpflichtung zur Gewährung einer automatischen aufschiebenden Wirkung bei drohender Zurückweisung: In der Rechtsprechung des EGMR wird eine automatische aufschiebende Wirkung in den Fällen gefordert, in denen berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die rückgeführte Person der Gefahr einer Artikel 3 EMRK (Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Anschluss an die Rückkehr/Rückführung) widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein könnte (siehe Artikel 39 der Verfahrensordnung des EGMR). Somit verpflichtet Artikel 13 der Rückführungsrichtlinie in Verbindung mit den Artikeln 5 und 9 der Rückführungsrichtlinie die Überprüfungsinstanz, wenn es um den Grundsatz der Nichtzurückweisung geht, kraft Gesetzes eine aufschiebende Wirkung im Sinne dieser Anforderung einzuräumen.
Verpflichtung zur Gewährung einer automatischen aufschiebenden Wirkung im Falle der Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustands: In seinem Urteil in der Rechtssache C-562/13, Abdida (68), bekräftigte der EuGH unter Rn. 53, „dass die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115/EG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die keinen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gegen eine Rückkehrentscheidung vorsehen, deren Vollzug den betroffenen Drittstaatsangehörigen einer ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzt“.
Die Kommission empfiehlt, nur in den oben genannten zwingenden Fällen eine automatische aufschiebende Wirkung gegen eine Rückkehrentscheidung einzuräumen, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen wirksamem Rechtsbehelf und der Wirksamkeit der Rückkehrverfahren zu gewährleisten. Wird bei einem Rechtsbehelf auf andere Gründe verwiesen (etwa Verfahrensmängel, die Wahrung der Einheit der Familie oder sonstige Rechte und Interessen) und steht das Leben des Betreffenden nicht auf dem Spiel bzw. ist er keiner ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands ausgesetzt, so kann der Mitgliedstaat entscheiden, keine aufschiebende Wirkung zu gewähren. Allerdings müssen die zuständigen nationalen Behörden oder Stellen in jedem Fall weiterhin befugt sein, die Vollstreckung einer Entscheidung in Einzelfällen vorübergehend aussetzen zu können, wenn dies aus anderen Gründen (etwa dem Familienleben, der Gesundheit oder dem Wohl des Kindes) notwendig erscheint.
12.5. Sprachbeistand und unentgeltlicher Rechtsbeistand
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 13 Absätze 3 und 4; Richtlinie 2013/32/EU („Asylverfahrens-Richtlinie“) — Artikel 20 und 21, die Artikel 15 Absätze 3 bis 6 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates (69) ersetzen
3. |
Die betreffenden Drittstaatsangehörigen können rechtliche Beratung, rechtliche Vertretung und erforderlichenfalls Sprachbeistand in Anspruch nehmen. |
Sprachbeistand bedeutet nicht nur, dass für die Übersetzung einer Entscheidung gesorgt werden muss (diese Pflicht besteht bereits nach Artikel 12 Absatz 2 der Rückführungsrichtlinie), sondern dass auch Dolmetscher bereitgestellt werden müssen, damit der Drittstaatsangehörige die Verfahrensrechte in Anspruch nehmen kann, die ihm gemäß Artikel 13 der Richtlinie zustehen.
Es sei daran erinnert, dass der EGMR in der Rechtssache Conka gegen Belgien (70) die Verfügbarkeit von Dolmetschern als einen der Faktoren bezeichnet hat, die Einfluss auf die Zugänglichkeit eines wirksamen Rechtsbehelfs haben. Der Anspruch von Drittstaatsangehörigen auf Sprachbeistand sollte von den Mitgliedstaaten in einer Weise gewährt werden, der der betreffenden Person die konkrete und praktische Möglichkeit bietet, davon Gebrauch zu machen („praktische Wirksamkeit“ der Bestimmung).
4. |
Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass auf Antrag die erforderliche Rechtsberatung und/oder -vertretung gemäß einschlägigen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Bestimmungen zur Prozesskostenhilfe kostenlos gewährt wird, und sie können vorsehen, dass kostenlose Rechtsberatung und/oder -vertretung nach Maßgabe der Bestimmungen nach Artikel 15 Absätze 3 bis 6 der Richtlinie 2005/85/EG bereitgestellt wird. |
Rechtsberatung und Rechtsvertretung: In Absatz 4 ist festgelegt, in welchen Fällen und unter welchen Umständen die Mitgliedstaaten die Kosten für die Rechtsberatung und -vertretung zu übernehmen haben, wobei im Wesentlichen auf die in der Asylverfahrens-Richtlinie genannten Bestimmungen verwiesen wird. Sind die in der Richtlinie und in den einzelstaatlichen Durchführungsbestimmungen genannten Voraussetzungen erfüllt, so haben die Mitgliedstaaten sowohl für die Rechtsberatung als auch für die Rechtsvertretung unentgeltlich aufzukommen.
Der Antrag auf kostenlose Rechtsberatung und/oder Rechtsvertretung kann vom Rückzuführenden oder dessen Vertreter zu jedem angebrachten Zeitpunkt im Verlauf des Verfahrens gestellt werden.
Bereitstellung von Rechtsberatung durch die Verwaltungsbehörden: Die Rechtsberatung kann grundsätzlich auch von den Verwaltungsbehörden angeboten werden, die für die Verhängung der Rückkehrentscheidungen zuständig sind („praktische Wirksamkeit“), sofern die bereitgestellten Informationen objektiv und unvoreingenommen erteilt werden. Um etwaige Interessenkonflikte zu vermeiden, kommt es darauf an, dass die Informationen von einer unparteiisch/unabhängig handelnden Person vermittelt werden. Diese Informationen können daher nicht von der Person gegeben werden, die den Fall beispielsweise entscheidet oder überprüft. Eine gute Methode, die in einigen Mitgliedstaaten bereits gebräuchlich ist, besteht darin, eine Trennung zwischen den mit der Entscheidungsbefugnis ausgestatteten Behörden und denjenigen, die Rechts- und Verfahrensinformationen bereitstellen, vorzunehmen. Sollte sich ein Mitgliedstaat jedoch entschließen, die letztgenannte Zuständigkeit den mit der Entscheidungsbefugnis ausgestatteten Behörden zu übertragen, so ist bei den beteiligten Mitarbeitern eine klare Aufgabentrennung zu gewährleisten (etwa indem eine gesonderte und unabhängige Abteilung gebildet wird, die lediglich für die Bereitstellung von Rechts- und Verfahrensinformationen zuständig ist).
Bedingungen für kostenlose Rechtsberatung/Rechtsvertretung — Verweis auf Artikel 15 Absätze 3 bis 6 der Richtlinie 2005/85/EG: Bei dem Verweis auf bestimmte Bedingungen/Einschränkungen, die die Mitgliedstaaten in Bezug auf die kostenlose Rechtsberatung vorsehen können, handelt es sich um einen dynamischen Verweis, der jetzt als Verweis auf die geltenden Artikel 20 und 21 der derzeit geltenden Asylverfahrens-Richtlinie zu verstehen ist und die Richtlinie 2005/85/EG ersetzt. Den vorgenannten Bedingungen entsprechend können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass kostenlose Rechtsberatung und -vertretung nur gewährt wird,
— |
wenn die Auffassung herrscht, dass die Prüfung des Rechtsbehelfs durch ein Gericht oder eine andere zuständige Behörde konkrete Aussicht auf Erfolg hat, |
— |
für Personen, die nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügen, |
— |
durch Rechtsanwälte oder sonstige Rechtsberater, die nach nationalem Recht eigens zur Unterstützung und Vertretung von Antragstellern bestimmt wurden, |
— |
für erstinstanzliche Rechtsbehelfsverfahren, jedoch nicht für weitere Rechtsbehelfe oder Überprüfungen. |
Ferner können die Mitgliedstaaten
— |
für die kostenlose Rechtsberatung und -vertretung eine finanzielle und/oder zeitliche Begrenzung vorsehen, soweit dadurch der Zugang zu diesem Recht nicht willkürlich eingeschränkt wird, |
— |
vorsehen, dass Antragstellern hinsichtlich der Gebühren und anderen Kosten keine günstigere Behandlung zuteilwird, als sie den eigenen Staatsangehörigen in Fragen der Rechtsberatung im Allgemeinen gewährt wird, |
— |
verlangen, dass der Antragsteller ihnen die entstandenen Kosten ganz oder teilweise zurückerstattet, wenn sich seine finanzielle Lage beträchtlich verbessert hat oder wenn die Entscheidung über die Übernahme solcher Kosten aufgrund falscher Angaben des Antragstellers getroffen wurde. |
Wirksamer Rechtsbehelf gegen die Verweigerung unentgeltlichen Rechtsbeistands: Wird die Entscheidung, dass keine unentgeltliche Rechtsberatung und -vertretung gewährt wird, nicht von einem Gericht getroffen, so gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass der Antragsteller das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung vor einem Gericht hat. Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht zählt zu den Grundrechten, die Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind, und die auch dann zu wahren sind, wenn die anwendbare Regelung solche Verfahrensrechte nicht ausdrücklich vorsieht.
13. GARANTIEN BIS ZUR RÜCKKEHR
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 14 Absatz 1
Die Mitgliedstaaten stellen außer in Fällen nach Artikel 16 und 17 sicher, dass innerhalb der nach Artikel 7 für die freiwillige Ausreise gewährten Frist und der Fristen, während derer die Vollstreckung einer Abschiebung nach Artikel 9 aufgeschoben ist, die folgenden Grundsätze in Bezug auf Drittstaatsangehörige soweit wie möglich beachtet werden:
a) |
Aufrechterhaltung der Familieneinheit mit den in demselben Hoheitsgebiet aufhältigen Familienangehörigen; |
b) |
Gewährung medizinischer Notfallversorgung und unbedingt erforderlicher Behandlung von Krankheiten; |
c) |
Gewährleistung des Zugangs zum Grundbildungssystem für Minderjährige je nach Länge ihres Aufenthalts; |
d) |
Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen. |
Zur Erinnerung/Erläuterung: Gemäß der Rückführungsrichtlinie können die Mitgliedstaaten gegen illegal aufhältige Drittstaatsangehörige entweder eine Rückkehrentscheidung erlassen oder ihnen einen Aufenthaltstitel erteilen. Ziel ist die Beseitigung von Grauzonen. In der Praxis kann dies jedoch zu einer Erhöhung der absoluten Anzahl der Fälle führen, in denen die Mitgliedstaaten Rückkehrentscheidungen erlassen, die aufgrund praktischer oder rechtlicher Hindernisse nicht vollstreckbar sind (beispielsweise wegen Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten und Fälle, die dem Grundsatz der Nichtzurückweisung unterliegen). Damit diese illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, bei denen die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung aufgeschoben wurde oder die nicht rückgeführt werden können, sich nicht in einem rechtlichen Vakuum befinden, hatte die Kommission vorgeschlagen, ihnen bestimmte Mindestaufenthaltsbedingungen zu gewähren und sich dabei auf bestimmte Bedingungen bezogen, die bereits in den Artikeln 7 bis 10 bzw. 15 und 17 bis 20 der Richtlinie 2003/9/EG des Rates (71) (Richtlinie über die Aufnahmebedingungen) festgelegt sind und die im Wesentlichen folgende vier Grundrechte umfassen: 1. Wahrung der Einheit der Familie; 2. medizinische Versorgung; 3. Grundschulerziehung und weiterführende Bildung Minderjähriger und 4. Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse von besonders schutzbedürftigen Personen. Auf gemäß der Richtlinie über die Aufnahmebedingungen bestehende andere wichtige Rechte wie den Zugang zur Beschäftigung und die materiellen Aufnahmebedingungen wurde nicht Bezug genommen. Im Anschluss an die Verhandlungen, in deren Verlauf Bedenken dahin gehend geäußert wurden, dass Verweise auf die Richtlinie über die Aufnahmebedingungen als „Aufwertung“ der Situation irregulärer Migranten angesehen werden könnten, wurde eine „eigenständige“ Liste der Rechte aufgestellt.
Die Situationen, für die Artikel 14 Absatz 1 gilt, sind vielfältig: Sie umfassen sowohl die Frist, die für die freiwillige Ausreise gewährt wird, als auch die Frist, für die die Rückführung formell oder de facto gemäß Artikel 9 der Rückführungsrichtlinie aufgeschoben wurde (Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung; möglicher Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung; gesundheitliche Gründe, technische Gründe, Scheitern der Rückführungsbemühungen aufgrund fehlender Ausweispapiere). Haftzeiten sind ausdrücklich ausgenommen — da die entsprechenden Garantien anderweitig geregelt sind (siehe Abschnitt 15).
Die Gewährung medizinischer Notfallversorgung und die erforderliche Behandlung von Krankheiten stellt ein Mindestgrundrecht dar, weshalb der Zugang zu ihr nicht gebührenpflichtig gemacht werden darf.
Zugang zur Bildung: Die Einschränkung „je nach Länge ihres Aufenthalts“ ist restriktiv auszulegen. Bestehen Zweifel hinsichtlich der wahrscheinlichen Aufenthaltsdauer bis zur Rückkehr/Rückführung, ist der Zugang zur Bildung eher zu gestatten als abzulehnen. Eine nationale Regelung, wonach der Zugang zur Bildung üblicherweise nur ermöglicht wird, wenn die Aufenthaltsdauer mehr als zwei Wochen beträgt, kann als zulässig angesehen werden. Bei praktischen Problemen, wenn Minderjährigen beispielsweise kein Nachweis für ihre bereits in anderen Ländern erworbene Bildung vorliegt oder sie keine Sprache sprechen, in der sie im betreffenden Mitgliedstaat am Unterricht teilnehmen können, müssen auf nationaler Ebene geeignete Lösungen gefunden werden, die den Geist der Richtlinie und einschlägiger internationaler Rechtsinstrumente wie das Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 und die dazugehörige Allgemeine Bemerkung Nr. 6 (72) berücksichtigen. Eine Orientierungsmöglichkeit bietet auch das Asylrecht (insbesondere Artikel 14 der Richtlinie 2013/33/EU über die Aufnahmebedingungen).
Sonstige Grundbedürfnisse: In seinem Urteil in der Rechtssache C-562/13, Abdida, stellte der EuGH fest, dass die Mitgliedstaaten auch sonstige Grundbedürfnisse befriedigen müssen, um zu gewährleisten, dass die medizinische Notfallversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten in dem Zeitraum gewährt wird, in dem der betreffende Mitgliedstaat die Abschiebung aufschieben muss. Die Form, in der die Befriedigung der Grundbedürfnisse des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu erfolgen hat, wird dabei von den Mitgliedstaaten festgelegt.
Die der Einführung dieser Verpflichtung seitens des EuGH zugrunde liegende Logik bestand darin, dass das Erfordernis der Gewährung medizinischer Notfallversorgung und der unbedingt erforderlichen Behandlung von Krankheiten gemäß Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe b der Rückführungsrichtlinie ihre Wirkung verlieren könnte, wenn nicht zugleich das Erfordernis bestehen würde, die Grundbedürfnisse des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu befriedigen. Ausgehend von dieser Logik des EuGH und den Hinweisen in der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR kann geschlussfolgert werden, dass die Inanspruchnahme der übrigen in Artikel 14 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie genannten Rechte (wie insbesondere der Zugang zur Bildung und die Berücksichtigung der Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen) auch bedingt, dass die Grundbedürfnisse des betroffenen Drittstaatsangehörigen befriedigt werden müssen.
Auch wenn gemäß Unionsrecht keine allgemeine rechtliche Verpflichtung zur Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Drittstaatsangehörigen bis zur Rückkehr/Rückführung besteht, ruft die Kommission die Mitgliedstaaten dazu auf, diese in das nationale Recht aufzunehmen, um für die rückzuführenden Personen humane und würdige Lebensbedingungen zu gewährleisten.
13.1. Schriftliche Bestätigung
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 14 Absatz 2
Die Mitgliedstaaten stellen den in Absatz 1 genannten Personen eine schriftliche Bestätigung gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften zur Verfügung, der zufolge die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß Artikel 7 Absatz 2 verlängert worden ist oder die Rückkehrentscheidung vorläufig nicht vollstreckt wird.
In Erwägungsgrund 12 der Rückführungsrichtlinie heißt es dazu konkret: „Die betreffenden Personen sollten eine schriftliche Bestätigung erhalten, damit sie im Falle administrativer Kontrollen oder Überprüfungen ihre besondere Situation nachweisen können. Die Mitgliedstaaten sollten hinsichtlich der Gestaltung und des Formats der schriftlichen Bestätigung über einen breiten Ermessensspielraum verfügen und auch die Möglichkeit haben, sie in aufgrund dieser Richtlinie getroffene Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr aufzunehmen.“
Form der schriftlichen Bestätigung: Die Mitgliedstaaten verfügen hier über einen breiten Ermessensspielraum. Die Bestätigung kann entweder ein von den nationalen Behörden ausgestelltes separates Papier oder Teil einer formellen Rückkehrentscheidung sein. Maßgeblich ist, dass die rückzuführenden Personen — im Falle einer Polizeikontrolle — mit der Bestätigung eindeutig nachweisen können, dass gegen sie bereits ein Rückkehrverfahren anhängig ist und dass für sie eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht, die Abschiebung formell aufgeschoben wurde oder ihre Rückkehrentscheidung vorübergehend nicht vollstreckt werden kann. Sofern möglich, sollten in der Bestätigung die Dauer der Frist für die freiwillige Ausreise oder des Aufschubs angegeben werden.
In Mitgliedstaaten, deren Datenaustauschsysteme bei Polizeikontrollen eine schnelle Überprüfung des Status irregulärer Migranten anhand bestimmter personenbezogener Daten oder Referenznummern ermöglichen, gilt die Pflicht hinsichtlich der schriftlichen Bestätigung als erfüllt, wenn die betreffende Person Dokumente oder Papiere mit diesen personenbezogenen Daten oder Referenznummern erhält (oder bereits besitzt).
13.2. Längere Illegalität
Keine Pflicht zur Ausstellung eines Aufenthaltstitels für nicht rückführbare Personen: Die Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet, rückzuführenden Personen einen Aufenthaltstitel auszustellen, wenn sich herausstellt, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht, können dies aber nach Artikel 6 Absatz 4 der Rückführungsrichtlinie (siehe Abschnitt 5.6) jederzeit tun.
Hierzu hat der EuGH in der Rechtssache Mahdi (73) (C-146/14, Rn. 87 und 88) ausdrücklich klargestellt, dass die Richtlinie „… nicht zum Zweck [hat], die Voraussetzungen für den Aufenthalt illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, gegen die eine Rückkehrentscheidung nicht vollzogen werden kann oder konnte, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu regeln. Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG erlaubt den Mitgliedstaaten jedoch, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen des Vorliegens eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen“.
Kriterien für die Ausstellung von Aufenthaltstiteln: Wie bereits dargestellt, sind die Mitgliedstaaten rechtlich nicht zur Ausstellung von Aufenthaltstiteln für nicht rückführbare Personen verpflichtet und verfügen hier über einen breiten Ermessensspielraum. In diesem Zusammenhang wird empfohlen, in die von den Mitgliedstaaten heranzuziehenden Bewertungskriterien sowohl individuelle (fallbezogene) als auch horizontale (politikbezogene) Aspekte aufzunehmen, beispielsweise:
— |
die Kooperationsbereitschaft/mangelnde Kooperationsbereitschaft der rückzuführenden Person; |
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die Dauer ihres tatsächlichen Aufenthalts im betreffenden Mitgliedstaat; |
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ihre Integrationsbemühungen; |
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ihr persönliches Verhalten; |
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familiäre Bindungen; |
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humanitäre Gesichtspunkte; |
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die Wahrscheinlichkeit der Rückkehr in absehbarer Zeit; |
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die unbedingte Vermeidung der Belohnung der Illegalität; |
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die Auswirkungen der Legalisierungsmaßnahmen auf das Migrationsverhalten künftiger (irregulärer) Migranten; |
— |
die Wahrscheinlichkeit von Sekundärmigration innerhalb des Schengen-Raums. |
14. INHAFTNAHME
Die Verfahrensgarantien nach Artikel 12 (Form und Übersetzung) bzw. Artikel 13 (wirksamer Rechtsbehelf und unentgeltlicher Rechtsbeistand) der Rückführungsrichtlinie greifen das Recht auf eine gute Verwaltung sowie das Grundrecht auf Anhörung, auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein unparteiisches Gericht ausdrücklich auf und bilden somit einen festen Bestandteil der Rechtsordnung der Europäischen Union. Die Einhaltung dieser Rechte ist somit auch in Bezug auf Haftentscheidungen erforderlich.
Neben diesen allgemeinen Bedingungen werden in Artikel 15 der Rückführungsrichtlinie bestimmte speziell für Haftentscheidungen geltende Bedingungen festgelegt.
14.1. Die Inhaftnahme rechtfertigende Umstände
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 15 Absatz 1
Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn
a) |
Fluchtgefahr besteht oder |
b) |
die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern. |
Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen zu erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.
Die Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit dar und unterliegt daher strengen Einschränkungen.
Verpflichtung, von der Inhaftnahme ausschließlich als letztes Mittel Gebrauch zu machen: Artikel 8 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, „alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung von Rückkehrentscheidungen zu ergreifen. Die Möglichkeit der Inhaftnahme stellt eine der möglichen Maßnahmen dar, die die Mitgliedstaaten als letztes Mittel ergreifen können. In diesem Zusammenhang hat der EuGH in der Rechtssache El Dridi (C-61/11, Rn. 41) ausdrücklich betont, dass die Rückführungsrichtlinie eine ‚Abstufung der zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu treffenden Maßnahmen, die von der die Freiheit des Betroffenen am wenigsten beschränkenden Maßnahme — der Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise — bis zu den diese Freiheit am stärksten beschränkenden Maßnahmen — der Inhaftnahme in einer speziellen Einrichtung — reichen“ vorsieht.
Eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Inhaftnahme besteht also nur in Fällen, in denen eindeutig nur auf diese Weise sichergestellt werden kann, dass der Rückkehrprozess vorbereitet und die Abschiebung durchgeführt werden kann (Notwendigkeit der Inhaftnahme). Die Haftdauer sollte auf einer Einzelfallprüfung gründen und hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen zu erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden (Verhältnismäßigkeit der Inhaftnahme).
Gründe für die Inhaftnahme: Das einzige legitime Ziel der Inhaftnahme besteht nach Maßgabe der Rückführungsrichtlinie in der Vorbereitung der Rückkehr und/oder der Durchführung der Abschiebung, insbesondere wenn 1) Fluchtgefahr besteht oder 2) die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren durch die rückzuführende Person umgangen oder behindert wird. Liegen Gründe für eine Inhaftnahme vor und können in einem bestimmten Fall (als letztes Mittel) keine weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden, so sind die Mitgliedstaaten berechtigt, eine Inhaftnahme für den notwendigen Zeitraum zu veranlassen (und sollten dies auch tun), um sicherzustellen, dass das Rückführungsverfahren im Einklang mit den Bestimmungen des Artikels 8 der Rückführungsrichtlinie erfolgreich durchgeführt werden kann.
Auch wenn die Rückführungsrichtlinie eine unverbindliche Aufzählung beinhaltet („insbesondere“), decken diese beiden konkreten Fallkonstellationen die wichtigsten in der Praxis auftretenden Szenarien ab und können als Begründung für die Inhaftnahme zur Vorbereitung und Organisation der Rückkehr und zur Durchführung der Abschiebung herangezogen werden. Das Vorliegen eines speziellen Inhaftierungsgrunds und die Unmöglichkeit, wirksame und ausreichende weniger intensive Zwangsmaßnahmen anzuwenden, sind in jedem Fall individuell zu prüfen. Bei der Prüfung, ob Fluchtgefahr besteht und eine Inhaftnahme vorzunehmen ist, ist neben weiteren entsprechenden Anzeichen/Kriterien zu berücksichtigen, ob ein Einreiseverbot besteht, ein Eintrag zwecks Einreiseverbot im SIS vorliegt, Ausweispapiere fehlen, kein Wohnsitz nachweisbar ist und die rückzuführende Person es an Kooperationsbereitschaft mangeln lässt, sodass eine Inhaftnahme gegebenenfalls begründet ist (siehe Abschnitt 1.6).
Keine Inhaftnahme aus Gründen der öffentlichen Ordnung: Die Möglichkeit der Fortsetzung oder Verlängerung der Haft aus Gründen der öffentlichen Ordnung ist in der Rückführungsrichtlinie nicht vorgesehen, auch dürfen die Mitgliedstaaten die Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung nicht in Form einer „Haft zu erleichterten Bedingungen“ durchführen. Mit der Inhaftnahme im Vorfeld der Abschiebung soll vor allem verhindert werden, dass rückzuführende Personen sich ihrer Rückkehrverpflichtung durch Flucht entziehen. Es ist nicht Ziel von Artikel 15, die Gesellschaft vor Personen zu schützen, die die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden. Das legitime Ziel des Schutzes der Gesellschaft sollte vielmehr in andere Rechtsvorschriften, insbesondere das Strafrecht, das Verwaltungsstrafrecht und die Rechtsvorschriften über die Beendigung des legalen Aufenthalts aus Gründen der öffentlichen Ordnung aufgenommen werden. Siehe dazu auch das Urteil des EuGH in der Rechtssache Kadzoev (74) (C-357/09, Rn. 70): „Die Möglichkeit, eine Person aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu inhaftieren, kann ihre Grundlage nicht in der Richtlinie 2008/115/EG finden. Deshalb kann keiner der vom vorlegenden Gericht angeführten Gründe (aggressives Verhalten, keine eigenen Unterhaltsmittel, keine eigenen Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts, keine Unterkunft) für sich einen Haftgrund gemäß den Bestimmungen der Richtlinie bilden.“ „Das die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdende Verhalten einer Person in der Vergangenheit (beispielsweise der Verstoß gegen das Verwaltungsrecht in anderen Bereichen als dem Migrationsrecht oder Verstöße gegen das Strafrecht) kann jedoch bei der Beurteilung der Fluchtgefahr herangezogen werden (siehe Abschnitt 1.6): Legt dieses Verhalten den Schluss nahe, dass die betreffende Person aller Wahrscheinlichkeit rechtswidrig handeln und die Rückkehr/Rückführung umgehen wird, kann dies die Entscheidung rechtfertigen, dass Fluchtgefahr besteht.
Pflicht zur Schaffung von Alternativen zur Inhaftnahme: Artikel 15 Absatz 1 ist so auszulegen, dass jeder Mitgliedstaat in seinen nationalen Rechtsvorschriften Alternativen zur Inhaftnahme vorsehen muss; dies entspricht auch den Bedingungen von Erwägungsgrund 16 der Richtlinie („… wenn weniger intensive Zwangsmaßnahmen ihren Zweck nicht erfüllen“). In der Rechtssache El Dridi (C-61/11, Rn. 39) bestätigte der EuGH dies folgendermaßen: ‚… Hierzu ergibt sich aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie und aus dem Wortlaut ihres Art. 15 Abs. 1, dass die Mitgliedstaaten die Abschiebung unter Einsatz möglichst wenig intensiver Zwangsmaßnahmen vornehmen müssen. Nur wenn die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung mittels Abschiebung nach einer anhand jedes Einzelfalls vorzunehmenden Beurteilung durch das Verhalten des Betroffenen gefährdet zu werden droht, können die Mitgliedstaaten ihm durch Inhaftnahme die Freiheit entziehen.“ Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein Drittstaatsangehöriger zwingend in Haft zu nehmen ist, wenn gegen ihn bereits weniger intensive Zwangsmaßnahmen getroffen wurden.
Nach Artikel 15 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie müssen weniger intensive Zwangsmaßnahmen „ausreichen“ und es sollte möglich sein, diese „wirksam“ auf den betreffenden Drittstaatsangehörigen anzuwenden. Um seiner Verpflichtung zur Schaffung wirksamer Alternativen zur Inhaftnahme nachzukommen, muss der Mitgliedstaat Alternativen zur Inhaftnahme in den nationalen Rechtsvorschriften vorsehen, mithilfe derer die gleichen Ziele wie mit einer Inhaftnahme erreicht werden können (z. B. zur Verhinderung der Flucht oder dass der Drittstaatsangehörige die Rückkehr/Rückführung umgeht oder behindert) und gleichzeitig Maßnahmen anwenden, die das Grundrecht der Freiheit der Person weniger stark einschränken. Nationale Behörden, die über eine Inhaftnahme oder alternative Maßnahmen entscheiden, müssen in jedem Einzelfall prüfen, ob weniger intensive Zwangsmaßnahmen wirksam und ausreichend wären.
Zu den Alternativen zur Inhaftnahme gehören Aufenthaltsbeschränkungen, offene Häuser für Familien, Unterstützung durch Sachbearbeiter, regelmäßiges Melden, Überlassung des Ausweises/von Reisedokumenten, Bürgschaft und elektronische Überwachung. Der UNHCR führt einige praktische Beispiele bewährter Verfahren (75) als Alternativen zur Inhaftnahme an.
Vorteile und Risiken — Alternativen zur Inhaftnahme
Zu den Vorteilen von Alternativen zur Inhaftnahme gehören höhere Rückkehrquoten (einschließlich freiwillige Ausreise), bessere Zusammenarbeit mit den rückzuführenden Personen bei der Erlangung der erforderlichen Unterlagen, finanzielle Vorteile (geringere Kosten für den Staat) und geringere menschliche Kosten (Vermeidung haftbedingter Unannehmlichkeiten).
Die Risiken umfassen eine höhere Fluchtwahrscheinlichkeit, die potenzielle Schaffung von Pull-Faktoren (alternative Aufnahmeeinrichtungen wie Familienhäuser können sich für potenzielle illegale Einwanderer als attraktiv erweisen) und mögliche soziale Spannungen in der Nachbarschaft offener Zentren.
Empfehlung: Die Herausforderung besteht im Finden intelligenter Lösungen mit einer angemessenen Mischung aus belohnenden und abschreckenden Maßnahmen. Gibt es keinerlei Abschreckungsmaßnahmen, kann dies niedrige Abschiebungsquoten nach sich ziehen. Zugleich kann eine zu repressive Regelung mit systematischen Inhaftnahmen ebenfalls ineffizient sein, da für die rückzuführenden Personen kaum Anreize für Kooperationsbereitschaft im Rückführungs-/Rückkehrverfahren bestehen. Die Mitgliedstaaten sollen umfangreiche Alternativen ausarbeiten und anwenden, um die Situation verschiedener Kategorien von Drittstaatsangehörigen anzugehen. Als erfolgreich erwiesen hat sich eine maßgeschneiderte individuelle Betreuung, bei der die Betroffenen ihre Rückkehr/Rückführung selbst in die Hand nehmen können, sowie ein frühzeitiges Engagement und eine ganzheitliche Fallbearbeitung mit dem Fokus auf der Falllösung. Es sollte eine systematische horizontale Betreuung aller potenziellen Rückzuführenden angestrebt werden, bei der frühzeitig (und nicht erst nach Erlass eines Zwangsabschiebungsbescheids) eine Beratung zu den Möglichkeiten legalen Aufenthalts/Asyls sowie zu einer freiwilligen/erzwungenen Rückkehr erfolgt.
Weitere Klarstellung:
— |
Personen, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist: Die formelle Bedingung in Artikel 15 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie, Drittstaatsangehöriger zu sein, „gegen den ein Rückkehrverfahren anhängig ist“, ist nicht dasselbe wie eine Person zu sein, gegen die „eine Rückkehrentscheidung ergehen kann“. Die Inhaftnahme kann bereits erfolgen — sofern alle Bedingungen von Artikel 15 erfüllt sind —, bevor eine formelle Rückkehrentscheidung getroffen wird (beispielsweise während die Vorbereitungen für die Rückkehrentscheidung noch laufen und noch keine Rückkehrentscheidung getroffen wurde). |
Konkrete Beispiele:
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Illegal aufhältige Drittstaatsangehörige können ihre Identität verheimlichen (nicht offenlegen), um ihre Abschiebung zu umgehen. Ist in diesem Fall die Fortsetzung der Haft zulässig, um Druck auf die betreffenden Drittstaatsangehörigen auszuüben, damit sie kooperieren und so ihre eigene Abschiebung ermöglichen?
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— |
Kann die Haft fortgesetzt werden, wenn eine rückzuführende Person einen Asylantrag stellt?
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14.2. Form und erste Überprüfung der Inhaftnahme
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 15 Absatz 2
Die Inhaftnahme wird von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde angeordnet.
Die Inhaftnahme wird schriftlich unter Angabe der sachlichen und rechtlichen Gründe angeordnet.
Wurde die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so gilt Folgendes:
a) |
entweder lässt der betreffende Mitgliedstaat die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme so schnell wie möglich nach Haftbeginn innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüfen, |
b) |
oder der Mitgliedstaat räumt den betreffenden Drittstaatsangehörigen das Recht ein zu beantragen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüft wird, wobei so schnell wie möglich nach Beginn des betreffenden Verfahrens eine Entscheidung zu ergehen hat. In einem solchen Fall unterrichtet der Mitgliedstaat die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich über die Möglichkeit, einen solchen Antrag zu stellen. |
Ist die Inhaftnahme nicht rechtmäßig, so werden die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich freigelassen.
Justizbehörden können, müssen aber nicht notwendigerweise Richter angehören. Gemäß der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen sie Merkmale der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit aufweisen und Rechtsgarantien eines kontradiktorischen Verfahrens bieten.
Umfang der gerichtlichen Überprüfung: Bei der Überprüfung sind sämtliche in Artikel 15 der Rückführungsrichtlinie genannten Aspekte zu prüfen, sowohl die rechtlichen Fragen (etwa die Ordnungsmäßigkeit des Haftverfahrens und der Haftanordnung aus verfahrensrechtlicher/rechtlicher Sicht) als auch die Tatsachen (beispielsweise die persönliche Lage des Inhaftierten, familiäre Bindungen im betreffenden Land, Garantien für die Ausreise aus dem jeweiligen Hoheitsgebiet, hinreichende Aussicht auf Abschiebung).
Maximale Dauer der „innerhalb kurzer Frist“ vorzunehmenden gerichtlichen Überprüfung: Die Rückführungsrichtlinie orientiert sich am Wortlaut von Artikel 5 Absatz 4 der EMRK, wonach die Überprüfung durch ein Gericht „innerhalb kurzer Frist“ durchzuführen ist. In der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird klargestellt, dass die zulässige Höchstdauer (etwa ein angemessener Zeitraum) nicht abstrakt festgelegt werden kann. Sie muss vor dem Hintergrund eines jeden Falls individuell festgelegt werden, wobei die Komplexität des Verfahrens sowie das Verhalten der Behörden und des Antragstellers zu berücksichtigen sind. In weniger als einer Woche eine Entscheidung zu treffen, kann hier sicherlich als bewährtes Verfahren gelten, das der rechtlichen Anforderung der kurzen Frist entspricht.
Das Erfordernis der Vorlage der Entscheidung in Schriftform gilt auch für Entscheidungen über die Haftverlängerung: Das Erfordernis, eine mit Gründen versehene Entscheidung schriftlich zu erlassen, gilt auch für Entscheidungen über die Haftverlängerung. In der Rechtssache Mahdi (C-146/14) stellte der EuGH in Rn. 44 ausdrücklich Folgendes klar: „Dieses Erfordernis des Erlasses einer schriftlichen Entscheidung ist so zu verstehen, dass es sich zwangsläufig auf jede Entscheidung über die Haftverlängerung bezieht, denn zum einen sind die Inhaftnahme und die Haftverlängerung vergleichbar, weil dem betreffenden Drittstaatsangehörigen durch beide zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder zur Durchführung seiner Abschiebung die Freiheit entzogen wird, und zum anderen muss dieser Drittstaatsangehörige in beiden Fällen in der Lage sein, die Gründe für die ihm gegenüber getroffene Entscheidung zu erfahren.“
Sämtliche mit dem Recht auf Anhörung verbundenen Garantien gelten für Haftentscheidungen und Entscheidungen über die Haftverlängerung. Die Missachtung dieses Rechts macht eine Entscheidung jedoch nur ungültig, wenn das Ergebnis des Verfahrens bei Erfüllung dieses Rechts ein anderes gewesen wäre. Sie dazu das Urteil des EuGH in der Rechtssache G. und R. (C-383/13): „…das Unionsrecht, insbesondere Art. 15 Abs. 2 und 6 der Richtlinie 2008/115, (ist) dahin auszulegen …, dass das nationale Gericht, das mit der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer in einem Verwaltungsverfahren unter Missachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beschlossenen Verlängerung einer Haftmaßnahme betraut ist, die Haftmaßnahme nur dann aufheben darf, wenn es aufgrund aller tatsächlichen und rechtlichen Umstände des jeweiligen Falles der Ansicht ist, dass dieser Verstoß demjenigen, der sich darauf beruft, tatsächlich die Möglichkeit genommen hat, sich in solchem Maße besser zu verteidigen, dass dieses Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.“ (Siehe Abschnitt 12).
14.3. Regelmäßige Überprüfung der Inhaftnahme
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 15 Absatz 3
Die Inhaftnahme wird in jedem Fall — entweder auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen oder von Amts wegen — in gebührenden Zeitabständen überprüft.
Nach Artikel 15 Absatz 3 erster Satz ist eine schriftliche Überprüfungsentscheidung nicht erforderlich: Dies wurde im Urteil des EuGH in der Rechtssache Mahdi (C-146/14, Rn. 47) klargestellt: „Art. 15 der Richtlinie 2008/115/EG verlangt jedoch nicht, dass eine schriftliche ‚Maßnahme der Überprüfung‘ erlassen wird … Die Behörden, die die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 1 dieser Richtlinie in gebührenden Zeitabständen überprüfen, sind nicht verpflichtet, bei jeder Überprüfung eine ausdrückliche Maßnahme zu erlassen, die in schriftlicher Form ergeht und eine Darstellung ihrer tatsächlichen und rechtlichen Gründe enthält.“ Es steht den Mitgliedstaaten jedoch frei, entsprechend ihrem nationalen Recht eine schriftliche Überprüfungsentscheidung zu treffen.
Kombinierte Entscheidungen über die Überprüfung und Verlängerung der Haft müssen schriftlich erlassen werden: In seinem Urteil in der Rechtssache Mahdi (C-146/14) stellte der EuGH in Rn. 48 ausdrücklich Folgendes klar: „In einem solchen Fall erfolgen die Überprüfung der Inhaftnahme und der Erlass einer Entscheidung über die Fortdauer der Haft im selben Verfahrensabschnitt. Folglich muss diese Entscheidung die Erfordernisse des Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG erfüllen.“
Bei längerer Haftdauer müssen die Überprüfungen der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen.
Bedeutung der „längeren Haftdauer“: Artikel 15 Absatz 3 Satz 2 der Rückführungsrichtlinie schreibt bei „längerer Haftdauer“ eine Aufsicht einer Justizbehörde von Amts wegen vor. Dies bedeutet, dass die Justizbehörden auch in den Fällen tätig werden müssen, in denen die betreffende Person keine Berufung eingelegt hat. Anhand eines Vergleichs des Begriffs „ prolonged detention “ in verschiedenen Sprachen (DE: „ Bei längerer Haftdauer “; FR: „ En cas de périodes de rétention prolongées “; NL: „ In het geval van een lange periode van bewaring “; ES: „ En caso de periodos de internamiento prolongados “; IT: „ Nel caso di periodi di trattenimento prolungati “) wird deutlich, dass er im Wesentlichen eine lange Haftdauer bezeichnet, unabhängig davon, ob bereits eine formelle Entscheidung über die Haftverlängerung getroffen wurde. Nach Ansicht der Kommission ist ein zeitlicher Abstand von sechs Monaten bis zur ersten gerichtlichen Überprüfung der Haftentscheidung von Amts wegen sicherlich zu lang, während drei Monate die Untergrenze dessen darstellen, was noch mit Artikel 15 Absatz 3 der Richtlinie vereinbar ist, sofern auch die Möglichkeit besteht, auf Antrag gegebenenfalls individuelle Überprüfungen vorzunehmen.
Befugnisse der überwachenden Justizbehörde: Ein Überprüfungsmechanismus, bei dem nur rechtliche Fragen und keine Tatsachenfragen geprüft werden, reicht nicht aus. Die Justizbehörde muss befugt sein, sowohl zu den Tatsachenfragen als auch zu den rechtlichen Fragen Entscheidungen zu treffen. Siehe dazu das Urteil des EuGH in der Rechtssache Mahdi (C-146/14, Rn. 62): „… die zuständige Justizbehörde (muss) in der Lage sein, die Entscheidung der Verwaltungsbehörde oder gegebenenfalls der Justizbehörde, die die erstmalige Inhaftnahme angeordnet hat, durch ihre eigene Entscheidung zu ersetzen und über die Möglichkeit zu befinden, eine Ersatzmaßnahme oder die Freilassung des betreffenden Drittstaatsangehörigen anzuordnen. Zu diesem Zweck muss die Justizbehörde, die über einen Antrag auf Haftverlängerung entscheidet, in der Lage sein, sowohl die tatsächlichen Umstände und Beweise zu berücksichtigen, die von der Verwaltungsbehörde angeführt werden, die die erstmalige Inhaftnahme angeordnet hat, als auch jede etwaige Stellungnahme des Drittstaatsangehörigen. Außerdem muss es ihr möglich sein, jeden anderen für ihre Entscheidung relevanten Umstand zu ermitteln, falls sie dies für erforderlich hält…“
14.4. Beendigung der Inhaftnahme
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 15 Absätze 4 bis 6
4. |
Stellt sich heraus, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Absatz 1 nicht mehr gegeben sind, so ist die Haft nicht länger gerechtfertigt und die betreffende Person unverzüglich freizulassen. |
5. |
Die Haft wird so lange aufrechterhalten, wie die in Absatz 1 dargelegten Umstände gegeben sind und wie dies erforderlich ist, um den erfolgreichen Vollzug der Abschiebung zu gewährleisten. Jeder Mitgliedstaat legt eine Höchsthaftdauer fest, die sechs Monate nicht überschreiten darf. |
6. |
Die Mitgliedstaaten dürfen den in Absatz 5 genannten Zeitraum nicht verlängern; lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der nachstehend genannten Faktoren wahrscheinlich länger dauern wird, dürfen sie diesen Zeitraum im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängern:
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Unter bestimmten Umständen ist die Haft zu beenden und die rückzuführende Person freizulassen, insbesondere wenn
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aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht; |
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die Abschiebungsvorkehrungen von den Behörden nicht ordnungsgemäß weiterverfolgt werden; |
— |
die Höchsthaftdauer erreicht ist. |
Darüber hinaus sollte im Einzelfall die Haft beendet werden, wenn sich geeignete Alternativen bieten.
14.4.1. Fehlende hinreichende Aussicht auf Abschiebung
Fehlende hinreichende Aussicht auf Abschiebung: In seinem Urteil in der Rechtssache Kadzoev (C-357/09, Rn. 67) lieferte der EuGH folgende klärende Auslegung des Begriffs „hinreichende Aussicht“: „… nur eine tatsächliche Aussicht auf erfolgreichen Vollzug der Abschiebung unter Berücksichtigung der in Art. 15 Abs. 5 und 6 festgelegten Zeiträume (stellt) eine hinreichende Aussicht auf Abschiebung dar… (Hinreichende Aussicht) besteht (nicht), wenn es wenig wahrscheinlich erscheint, dass der Betreffende unter Berücksichtigung der genannten Zeiträume in einem Drittstaat aufgenommen wird.“
Eine „fehlende hinreichende Aussicht“ ist nicht dasselbe wie die „Unmöglichkeit des Vollzugs“: Die „Unmöglichkeit des Vollzugs“ ist eine kategorischere Behauptung und schwieriger nachzuweisen als die „fehlende hinreichende Aussicht“, die sich nur auf ein gewisses Maß an Wahrscheinlichkeit bezieht.
Bei der Beurteilung der „hinreichenden Aussicht auf Abschiebung“ zu berücksichtigende Haftzeiten: Da in Artikel 15 (sowie in Erwägungsgrund 6) der Rückführungsrichtlinie eine konkrete Einzelfallbeurteilung zur Bestimmung der Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs in den Mittelpunkt gestellt wird, ist im konkreten Fall stets die Höchsthaftdauer des betroffenen Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen. Folglich ist die im nationalen Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgeschriebene maximale Dauer maßgeblich. Dies bedeutet daher auch, dass eine rückzuführende Person in einem Mitgliedstaat nicht in Haft genommen werden sollte, wenn es von Anfang an unwahrscheinlich ist, dass sie innerhalb der nach den Rechtsvorschriften dieses Staates geltenden maximalen Haftdauer in einem Drittstaat aufgenommen wird. (In der Rechtssache Kadzoev (C-357/09) bezog sich der EuGH auf die maximale Haftdauer gemäß der Richtlinie, da diese genau der in den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats geltenden maximalen Haftdauer entsprach.)
Die Kommission empfiehlt eine anfängliche Höchsthaftdauer von sechs Monaten, die nach den jeweiligen Umständen des Falls angepasst und in gebührenden Zeitabständen unter der Aufsicht einer Justizbehörde überprüft und in den in Artikel 15 Absatz 6 der Rückführungsrichtlinie genannten Fällen auf bis zu 18 Monate verlängert werden kann.
Sobald die Höchsthaftdauer erreicht ist, ist Artikel 15 Absatz 4 der Rückführungsrichtlinie nicht mehr anwendbar und die betreffende Person in jedem Fall unverzüglich freizulassen. Siehe dazu das Urteil des EuGH in der Rechtssache Kadzoev (C-357/09, Rn. 60 und 61): „Wenn die in Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115/EG vorgesehene maximale Haftdauer erreicht ist, stellt sich nicht die Frage, ob keine ‚hinreichende Aussicht auf Abschiebung‘ im Sinne von Art. 15 Abs. 4 mehr besteht. In einem solchen Fall muss die betreffende Person nämlich auf jeden Fall unverzüglich freigelassen werden. Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG ist daher nur anwendbar, soweit die in Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie vorgesehenen maximalen Haftzeiträume nicht abgelaufen sind.“
Weitere Klarstellung:
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Die besondere Lage von Staatenlosen, die gegebenenfalls keine konsularische Unterstützung von Drittstaaten im Hinblick auf die Erlangung gültiger Ausweispapiere oder Reisedokumente erhalten, sollte beachtet werden. In Anbetracht des Urteils des EuGH in der Rechtssache C-457/09, Kadzoev, sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass eine hinreichende Aussicht auf Abschiebung besteht, die eine Inhaftnahme oder deren Verlängerung rechtfertigt. |
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Darf die Haft verlängert werden, wenn der Drittstaatsangehörige in dieser Zeit aufgrund des Grundsatzes der Nichtzurückweisung vor einer Abschiebung geschützt ist?
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14.4.2. Erreichen der maximalen Haftdauer
Nach Artikel 15 Absätze 5 und 6 der Rückführungsrichtlinie sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, in ihren nationalen Rechtsvorschriften (77) eine Höchsthaftdauer festzulegen, die sechs Monate (in regulären Fällen) bzw. 18 Monate nicht überschreiten darf (in zwei konkreten Fällen: bei mangelnder Kooperationsbereitschaft seitens der rückzuführenden Person oder bei Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten).
Die kürzere Höchsthaftdauer nach nationalem Recht hat Vorrang vor den in der Rückführungsrichtlinie vorgesehenen sechs/achtzehn Monaten: Bei der Bearbeitung konkreter Fälle ist die im nationalen Recht (in Übereinstimmung mit derRückführungsrichtlinie) vorgeschriebene Höchsthaftdauer und nicht die in der Rückführungsrichtlinie festgelegte Höchstdauer anzuwenden. Folglich kann ein Mitgliedstaat, der für nicht kooperationsbereite rückzuführende Personen eine nationale Höchsthaftdauer von beispielsweise 60 Tagen festgelegt hat, diese nicht länger als 60 Tage inhaftieren, obwohl in Artikel 15 Absatz 6 bis zu 18 Monate vorgesehen sind.
In nationalen Rechtsvorschriften sollte eine Höchsthaftdauer vorgesehen werden, damit die zuständigen nationalen Behörden alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung ergreifen können, und somit die notwendigen Verfahren für eine erfolgreiche Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger abgeschlossen und die Rückübernahme im Bestimmungsdrittland gewährleistet werden. Die Kommission empfiehlt den Mitgliedstaaten, die Zeitspannen nach Artikel 15 der Rückführungsrichtlinie anzuwenden, der eine Höchsthaftdauer von sechs Monaten vorsieht und eine Verlängerung der Inhaftnahme auf bis zu 18 Monaten in Fällen nach Artikel 15 Absatz 6 dieser Richtlinie gestattet. Es sei daran erinnert, dass die tatsächliche Haftdauer auf Einzelfallbasis festzulegen und der Rückzuführende freizulassen ist, wenn die Bedingungen für die Inhaftnahme (beispielsweise eine hinreichende Aussicht auf Abschiebung) nicht mehr gegeben sind.
Beispiele für Gründe, die eine längere Haftdauer nach Artikel 15 Absatz 6 rechtfertigen/nicht rechtfertigen:
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Das Fehlen von Identitätsdokumenten an sich rechtfertigt keine längere Haftdauer. Siehe dazu das Urteil in der Rechtssache Mahdi (C-146/14, Rn. 73): „… der Umstand, dass der betreffende Drittstaatsangehörige keine Identitätsdokumente besitzt, (kann) nicht bereits eine Haftverlängerung nach Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115/EG rechtfertigen.“ |
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Mangelnde Kooperationsbereitschaft bei der Erlangung von Identitätsdokumenten kann eine längere Haftdauer rechtfertigen, wenn ein kausaler Zusammenhang zwischen der mangelnden Kooperationsbereitschaft und dem Verbleib im Aufnahmeland besteht. Siehe dazu das Urteil des EuGH in der Rechtssache Mahdi (C-146/14, Rn. 85): „nur dann, … wenn die Prüfung des Verhaltens des Drittstaatsangehörigen während der Haft ergibt, dass er nicht bei der Durchführung der Abschiebung kooperiert hat und dass diese wegen dieses Verhaltens wahrscheinlich länger dauern wird als vorgesehen …“ |
Weitere Klarstellung:
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Berücksichtigung der Haftzeiten als Asylbewerber: Bei der Berechnung der Dauer der Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung brauchen Haftzeiten als Asylbewerber nicht berücksichtigt zu werden, da für die Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung und die Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern unterschiedliche Rechtsvorschriften und Regelungen gelten. Siehe dazu das Urteil des EuGH in der Rechtssache Kadzoev (C-357/09, Rn. 45 und 48): „Die Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung gemäß der Richtlinie 2008/115/EG und die Ingewahrsamnahme eines Asylbewerbers insbesondere gemäß den Richtlinien 2003/9/EG und 2005/85/EG sowie den anwendbaren nationalen Vorschriften unterliegen somit unterschiedlichen rechtlichen Regelungen. Folglich (ist) … die Zeit, während deren eine Person auf der Grundlage einer gemäß den nationalen und den gemeinschaftlichen Bestimmungen über Asylbewerber getroffenen Entscheidung in einem Zentrum für die vorübergehende Unterbringung untergebracht war, nicht als Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2008/115/EG anzusehen …“ |
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Unter Randnummer 47 heißt es weiter: „Sollte sich herausstellen, dass im Rahmen der Verfahren, die auf die in Randnr. 19 des vorliegenden Urteils erwähnten Asylanträge von Herrn Kadzoev hin eingeleitet wurden, keine Entscheidung bezüglich der Unterbringung von Herrn Kadzoev im Zentrum für die vorübergehende Unterbringung getroffen wurde und dass seine Haft damit auf die frühere nationale Regelung über die Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung oder die Regelung der Richtlinie 2008/115/EG gestützt blieb, müsste die der Dauer dieser Asylverfahren entsprechende Haftzeit von Herrn Kadzoev bei der Berechnung der in Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2008/115/EG genannten Dauer der Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung berücksichtigt werden.“ |
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Berücksichtigung von Haftzeiten während der Vorbereitung einer Überstellung nach der Dublin-Verordnung: Hier gilt dieselbe Herangehensweise wie oben (in Bezug auf Zeiten der Ingewahrsamnahme als Asylbewerber). |
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Berücksichtigung von Haftzeiten, die während eines Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung zurückgelegt werden: Diese Zeiten müssen berücksichtigt werden (siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache Kadzoev (C-357/09, Rn. 53-54). „Die Haftzeit, die die betreffende Person während des Verfahrens zurücklegt, in dem die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsentscheidung gerichtlich überprüft wird, ist … bei der Berechnung der in Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2008/115/EG vorgesehenen maximalen Haftdauer zu berücksichtigen. Andernfalls könnte die Dauer der Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung von einem Fall zum anderen im selben Mitgliedstaat oder aber von einem Mitgliedstaat zum anderen aufgrund der jeweiligen Besonderheiten und Umstände der nationalen Gerichtsverfahren schwanken — unter Umständen erheblich —, was dem Ziel von Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2008/115/EG zuwiderliefe, eine allen Mitgliedstaaten gemeinsame maximale Haftdauer zu gewährleisten.“ |
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Berücksichtigung von in (einem anderen) Mitgliedstaat A für die Zwecke der Abschiebung zurückgelegten Haftzeiten, an die sich direkt eine Inhaftnahme vor der Abschiebung in Mitgliedstaat B anschließt (eine solche Situation kann beispielsweise entstehen, wenn ein Drittstaatsangehöriger im Rahmen eines bilateralen Rückübernahmeabkommens nach Artikel 6 Absatz 3 der Rückführungsrichtlinie von Mitgliedstaat A nach Mitgliedstaat B überstellt wird): Nach Ansicht der Kommission sollte die absolute Grenze von 18 Monaten ununterbrochener Inhaftnahme vor der Abschiebung in Anbetracht der notwendigen Einhaltung des Effektivitätsgrundsatzes der in Artikel 15 Absatz 6 der Rückführungsrichtlinie festgelegten Höchsthaftdauer nicht überschritten werden. Die Fragen des Informationsaustauschs zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten über in dem anderen Mitgliedstaat bereits zurückgelegte Haftzeiten sowie der Möglichkeit, dass Mitgliedstaat B die Überstellung von Mitgliedstaat A ablehnt, wenn Mitgliedstaat A den entsprechenden Antrag mit übermäßiger Verzögerung stellt, sollten in den einschlägigen bilateralen Rückübernahmeabkommen geregelt werden. |
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Berücksichtigung von vor Inkrafttreten der Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie zurückgelegten Haftzeiten: Diese Zeiten müssen berücksichtigt werden (siehe Urteil des EuGH in der Rechtssache Kadzoev, C-357/09, Rn. 36-38). |
14.5. Erneute Inhaftnahme von rückzuführenden Personen
Die in der Rückführungsrichtlinie vorgesehene Höchsthaftdauer darf nicht durch eine erneute Inhaftnahme von rückzuführenden Personen unmittelbar nach deren Freilassung aus der Haft untergraben werden.
Eine erneute Inhaftnahme einer Person zu einem späteren Zeitpunkt ist nur zulässig, wenn sich die maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben (zum Beispiel durch die Ausstellung der erforderlichen Papiere durch den Drittstaat oder die Verbesserung der Lage im Herkunftsland, die eine sichere Rückkehr ermöglicht), wenn diese Änderung eine „ hinreichende Aussicht auf Abschiebung “ gemäß Artikel 15 Absatz 4 der Rückführungsrichtlinie eröffnet und alle anderen Bedingungen für eine Inhaftnahme nach Artikel 15 der Richtlinie erfüllt sind.
14.6. Anwendung weniger intensiver Zwangsmaßnahmen nach Beendigung der Haft
Weniger intensive Zwangsmaßnahmen, wie die regelmäßige Meldepflicht bei den Behörden, die Hinterlegung einer angemessenen finanziellen Sicherheit, die Überlassung von Papieren oder die Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, können so lange und in dem Umfang auferlegt werden, wie sie noch als „erforderliche Maßnahme“ zur Vollstreckung der Rückführung angesehen werden können. Während für weniger intensive Zwangsmaßnahmen keine absolute Höchstdauer festgelegt ist, sollten Umfang und Dauer solcher Maßnahmen gründlich auf ihre Verhältnismäßigkeit hin geprüft werden.
Ähneln die Art und Intensität einer weniger intensiven Zwangsmaßnahme zudem einem Freiheitsentzug oder kommen sie diesem gleich (wie die Pflicht zum uneingeschränkten Aufenthalt in einer bestimmten Einrichtung, ohne diese verlassen zu können), so ist dies de facto als Fortsetzung der Haft anzusehen, und es gelten die Fristen nach Artikel 15 Absätze 5 und 6 der Rückführungsrichtlinie.
15. HAFTBEDINGUNGEN
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 16
1. |
Die Inhaftierung erfolgt grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Sind in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so werden in Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht. |
2. |
In Haft genommenen Drittstaatsangehörigen wird auf Wunsch gestattet, zu gegebener Zeit mit Rechtsvertretern, Familienangehörigen und den zuständigen Konsularbehörden Kontakt aufzunehmen. |
3. |
Besondere Aufmerksamkeit gilt der Situation schutzbedürftiger Personen. Medizinische Notfallversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten wird gewährt. |
4. |
Einschlägig tätigen zuständigen nationalen und internationalen Organisationen sowie nicht-staatlichen Organisationen wird ermöglicht, in Absatz 1 genannte Hafteinrichtungen zu besuchen, soweit diese Einrichtungen für die Inhaftnahme von Drittstaatsangehörigen gemäß diesem Kapitel genutzt werden. Solche Besuche können von einer Genehmigung abhängig gemacht werden. |
5. |
In Haft genommene Drittstaatsangehörige müssen systematisch Informationen erhalten, in denen die in der Einrichtung geltenden Regeln erläutert und ihre Rechte und Pflichten dargelegt werden. Diese Information schließt eine Unterrichtung über ihren nach einzelstaatlichem Recht geltenden Anspruch auf Kontaktaufnahme mit den in Absatz 4 genannten Organisationen und Stellen ein. |
15.1. Anfängliche Ingewahrsamnahme
Die anfängliche Ingewahrsamnahme durch die Polizei zu Identifikationszwecken ist durch das national Recht geregelt, worauf in Erwägungsgrund 17 der Rückführungsrichtlinie ausdrücklich hingewiesen wird: „Unbeschadet desursprünglichen Aufgriffs durch Strafverfolgungsbehörden, für den einzelstaatliche Rechtsvorschriften gelten, sollte die Inhaftierung grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen erfolgen.“ Damit ist klargestellt, dass während einer Anfangszeit das einzelstaatliche Recht weiterhin gelten kann. Obwohl rechtlich nicht dazu verpflichtet, sollten die Mitgliedstaaten trotzdem bereits in dieser Phase dafür sorgen, dass Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht werden.
Dauer der Phase des ursprünglichen Aufgriffs, während der verdächtige irreguläre Migranten in Polizeigewahrsam gehalten werden können: Eine kurze, jedoch angemessene Zeit, um die Identität der kontrollierten Personen festzustellen und um die Fakten zu recherchieren, auf deren Grundlage entschieden werden kann, ob es sich um einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen handelt. Siehe dazu das Urteil des EuGH in der Rechtssache Achughbabian (C-329/11, Rn. 31): „Zu berücksichtigen ist dabei, dass die zuständigen Behörden über eine zwar kurze, aber angemessene Zeit verfügen müssen, um die Identität der kontrollierten Personen festzustellen und um die Fakten zu recherchieren, auf deren Grundlage entschieden werden kann, ob es sich bei dieser Person um einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen handelt. Die Feststellung des Namens und der Staatsangehörigkeit kann sich bei mangelnder Kooperationsbereitschaft des Betroffenen als schwierig erweisen. Die Prüfung, ob ein illegaler Aufenthalt vorliegt, kann sich ebenfalls als sehr komplex erweisen, insbesondere, wenn der Betroffene den Status eines Asylbewerbers oder eines Flüchtlings geltend macht. Dabei sind die zuständigen Behörden verpflichtet, zügig zu handeln, um nicht, wie in der vorangehenden Randnummer ausgeführt, das Ziel der Richtlinie 2008/115/EG zu gefährden, und sie müssen umgehend darüber entscheiden, ob der Aufenthalt der betroffenen Person illegal ist oder nicht.“ Obwohl im Einzelnen kein verbindlicher Zeitrahmen festgelegt ist, fordert die Kommission die Mitgliedstaaten auf, dafür Sorge zu tragen, dass irreguläre Migranten normalerweise innerhalb von 48 Stunden nach Aufgriff in eine spezielle Hafteinrichtung überstellt werden (im Ausnahmefall können bei abgelegenen Standorten längere Zeiten zulässig sein).
15.2. Grundsätzliche Nutzung spezieller Einrichtungen
Die Nutzung spezieller Einrichtungen ist die allgemeine Regel: Rückzuführende sind keine Straftäter und verdienen eine andere Behandlung als gewöhnliche Strafgefangene, weshalb die Rückführungsrichtlinie grundsätzlich eine Unterbringung in speziellen Einrichtungen vorsieht. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige für die Zwecke der Abschiebung in speziellen Hafteinrichtungen und nicht in gewöhnlichen Haftanstalten zu inhaftieren. Im Zusammenhang damit sind die Mitgliedstaaten verpflichtet sicherzustellen, dass in speziellen Einrichtungen ausreichende Kapazitäten zur Verfügung stehen; sie müssen daher die Haftkapazitäten mit den tatsächlichen Bedürfnissen in Einklang bringen und für angemessene materielle Haftbedingungen sorgen.
Ausnahmen von der allgemeinen Regel: Die in Artikel 16 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie vorgesehene Ausnahmeregelung, wonach Abschiebungshäftlinge in Ausnahmefällen auch in gewöhnlichen Haftanstalten untergebracht werden können, ist eng auszulegen. Ausdrücklich bestätigt wurde dies vom EuGH in den verbundenen Rechtssachen Bero (C-473/13) und Bouzalmate (78) (C-514/13) (Rn. 25): „Art. 16 Abs. 1 Satz 2 sieht eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor, die als solche eng auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Kamberaj, C-571/10, EU:C:2012:233, Rn. 86)“. Wird von dieser Ausnahme Gebrauch gemacht, so ist das Augenmerk in vollem Umfang auf die Grundrechte zu richten, aber auch Aspekte wie Überbelegung, Vermeidung wiederholter Überstellungen und mögliche negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden des Rückzuführenden insbesondere im Falle schutzbedürftiger Personen sind gebührend zu berücksichtigen.
Unvorhersehbare sprunghafte Anstiege bei den Inhaftiertenzahlen: Die in Artikel 16 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie enthaltene Ausnahmeregelung kann angewandt werden, wenn sich aufgrund unvorhersehbarer quantitativer Schwankungen bei den illegalen Migrationsströmen — was dieser Erscheinung durchaus eigen ist — auch die Zahl der Inhaftierten sprunghaft erhöht (dabei jedoch noch keine „Notlage“ entsteht, die durch Artikel 18 der Rückführungsrichtlinie ausdrücklich geregelt wird) und die Unterbringung der Inhaftierten in speziellen Einrichtungen auch für einen Mitgliedstaat zu einem Problem wird, der normalerweise über eine angemessene/ausreichende Zahl von Plätzen in solchen Einrichtungen verfügt.
Aggressive Inhaftierte: Gemäß der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, Rückzuführende in Hafteinrichtungen vor aggressivem oder unangemessenem Verhalten anderer Häftlinge zu schützen. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, nach praktischen Möglichkeiten für den Umgang mit dieser Problematik innerhalb der speziellen Einrichtungen zu suchen, ohne dass eine Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten vorgenommen wird. Denkbar wäre beispielsweise, dass bestimmte Teile/Flügel der Hafteinrichtungen ausschließlich für aggressive Personen genutzt werden oder ganze Einrichtungen nur mit dieser Personengruppe belegt werden.
Fehlen von speziellen Hafteinrichtungen in einzelnen Regionen eines Mitgliedstaats: Ist in einer bestimmten Region eines Mitgliedstaats keine spezielle Hafteinrichtung vorhanden — sehr wohl aber in einem anderen Teil dieses Mitgliedstaats —, so rechtfertigt das an sich nicht die Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt. Ausdrücklich bestätigt wurde dies vom EuGH in den verbundenen Rechtssachen Bero (C-473/13) und Bouzalmate (C-514/13) (Rn. 32): „Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG [ist] dahin auszulegen …, dass ein Mitgliedstaat auch dann verpflichtet ist, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige grundsätzlich in einer speziellen Hafteinrichtung dieses Staates in Abschiebungshaft zu nehmen, wenn er föderal strukturiert ist und die nach nationalem Recht für die Anordnung und Vollziehung einer solchen Haft zuständige föderale Untergliederung über keine solche Hafteinrichtung verfügt.“
Kurze Haftdauer: Die Tatsache, dass die Inhaftierung wahrscheinlich nur für einen kurzen Zeitraum (etwa sieben Tage oder weniger) erfolgt, ist kein legitimer Grund, die Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt vorzunehmen.
Unterbringung in geschlossenen medizinischen/psychiatrischen Einrichtungen: Eine Unterbringung in geschlossenen medizinischen/psychiatrischen Einrichtungen im Vorfeld der Abschiebung oder zusammen mit Personen, die aus medizinischen Gründen dort untergebracht sind, ist durch Artikel 16 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie nicht vorgesehen und würde seiner praktischen Wirksamkeit zuwiderlaufen, sofern nicht im Interesse der Verhinderung der Verschlechterung des Gesundheitszustandes aus medizinischer Sicht angesichts des Allgemeinbefindens des Betreffenden die Überweisung in eine spezielle oder dafür hergerichtete Einrichtung oder der Aufenthalt dort angeraten ist, um eine ausreichende und ständige medizinische Fachüberwachung, -unterstützung und -betreuung zu gewährleisten.
15.3. Trennung von gewöhnlichen Strafgefangenen
Die getrennte Unterbringung von Rückkehrern und Strafgefangenen ist zwingend vorgeschrieben: Gemäß der Rückführungsrichtlinie sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige immer gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen unterzubringen, wenn ausnahmsweise eine Unterbringung dieser Drittstaatsangehörigen in speziellen Hafteinrichtungen nicht möglich ist.
Ehemalige Strafgefangene mit nachfolgender Rückkehr: Von dem Zeitpunkt an, da die Freiheitsstrafe abgelaufen ist und die Person normalerweise entlassen werden könnte, gelten die Bestimmungen für die Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung (einschließlich der Verpflichtung nach Artikel 16 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie zur Inhaftierung in speziellen Einrichtungen). Werden die Vorbereitungen auf die Abschiebung und möglicherweise die Abschiebung selbst in einem Zeitraum vorgenommen, der noch in die Haftzeit fällt, kann die Unterbringung weiterhin in einer gewöhnlichen Haftanstalt erfolgen (da zu dieser Zeit die im strafrechtlichen Urteil verhängte Freiheitsstrafe noch nicht verbüßt ist). Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, die für die Abschiebung notwendigen Verfahren frühzeitig einzuleiten, wenn die betreffenden Personen noch ihre Freiheitsstrafe in einer Haftanstalt verbüßen, um sicherzustellen, dass Drittstaatsangehörige spätestens zum Zeitpunkt ihrer Haftentlassung erfolgreich rückgeführt werden können.
Aggressive Inhaftierte: Aggressives oder unangemessenes Verhalten von Rückkehrern rechtfertigt nicht eine gemeinsame Unterbringung mit gewöhnlichen Strafgefangenen, sofern nicht ein aggressiver Übergriff als Straftat eingestuft und von einem Gericht mit einer Freiheitsstrafe geahndet wurde.
Der Begriff „gewöhnliche Strafgefangene“ umfasst sowohl verurteilte Straftäter als auch Untersuchungshäftlinge: Das wird durch Richtlinie 10 Punkt 4 der vom Ministerkomitee des Europarates am 4. Mai 2005 angenommenen „20 Leitlinien zur Frage der erzwungenen Rückkehr“ bestätigt, indem es ausdrücklich heißt, dass „bis zu ihrer Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet in Haft befindliche Personen normalerweise nicht mit gewöhnlichen Strafgefangenen — seien es verurteilte Straftäter oder Untersuchungshäftlinge — untergebracht werden sollten“. Die Häftlinge sind daher auch getrennt von Untersuchungshäftlingen unterzubringen.
Ein Einverständnis des Rückkehrers zur gemeinsamen Unterbringung mit Strafgefangenen ist nicht möglich: In der Rechtssache Pham (79) (C-474/13, Rn. 21 und 22) bestätigte der EuGH ausdrücklich: „Insoweit geht das in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 dieser Richtlinie vorgesehene Gebot der Trennung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger von gewöhnlichen Strafgefangenen über eine bloße spezifische Durchführungsmodalität der Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen in gewöhnlichen Haftanstalten hinaus und stellt eine materielle Voraussetzung für diese Unterbringung dar, ohne deren Erfüllung die Unterbringung grundsätzlich nicht mit der Richtlinie in Einklang stünde. In diesem Zusammenhang darf ein Mitgliedstaat nicht auf den Willen des betroffenen Drittstaatsangehörigen abstellen.“
15.4. Materielle Haftbedingungen
Rückführungsrichtlinie — Artikel 16 Leitlinie des Europarates zur Frage der erzwungenen Rückkehr Nr. 10 („Bedingungen der Abschiebehaft“); CPT-Standards und Factsheet über die Inhaftnahme von Immigranten Europäische Strafvollzugsgrundsätze 2006
Die Rückführungsrichtlinie selbst sieht eine Reihe konkreter Garantien vor. So sind die Mitgliedstaaten verpflichtet,
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medizinische Notfallversorgung und unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten zu gewähren; |
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der Situation schutzbedürftiger Personen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, wozu allgemein gesagt auch die gebührende Beachtung von Aspekten wie Alter, Grad der Behinderung und Gesundheitszustand des Betreffenden (darunter auch der geistige Zustand) gehören; |
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Inhaftierte mit Informationen zu versorgen, in denen die in der Einrichtung geltenden Regeln erläutert und ihre Rechte und Pflichten dargelegt werden. Dies, so wird empfohlen, sollte schnellstmöglich geschehen, auf keinen Fall später als 24 Stunden nach Ankunft; |
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Inhaftierten zu gestatten, mit Rechtsvertretern, Familienangehörigen und den zuständigen Konsularbehörden Kontakt aufzunehmen; |
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einschlägig tätigen zuständigen nationalen und internationalen Organisationen sowie nichtstaatlichen Organisationen zu ermöglichen, Hafteinrichtungen zu besuchen. Dieses Recht muss den betreffenden Stellen direkt eingeräumt werden, unabhängig von einer konkreten Aufforderung durch die inhaftierte Person. |
Bei den Aspekten, die nicht ausdrücklich durch die Rückführungsrichtlinie geregelt sind, müssen die Mitgliedstaaten die entsprechenden Standards des Europarates einhalten, insbesondere die „CPT-Standards“: In der Rückführungsrichtlinie finden sich keine Festlegungen zu den materiellen Haftbedingungen wie beispielsweise Größe der Räume, Zugang zu sanitären Einrichtungen, Freigang und Ernährung. In Erwägungsgrund 17 wird jedoch bekräftigt, dass in Haft genommene Drittstaatsangehörige eine „menschenwürdige Behandlung“ unter Beachtung ihrer Grundrechte und im Einklang mit dem Völkerrecht erfahren müssen. In den Fällen, in denen Mitgliedstaaten eine Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung anordnen, muss dies unter Bedingungen erfolgen, die in Einklang mit Artikel 4 GRC stehen, wonach niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden darf. Die praktischen Auswirkungen dieser Verpflichtung der Mitgliedstaaten sind detaillierter aufgeführt in:
1. |
Leitlinie des Europarates zur Frage der erzwungenen Rückkehr Nr. 10 („Bedingungen der Abschiebehaft“); |
2. |
Den Standards des Komitees des Europarates zur Verhütung von Folter (CPT-Standards, Dokument CPT/Inf/E (2002) 1 — Rev. 2013; CPT-Factsheet über die Inhaftnahme von Immigranten, Dokument CPT/Inf(2017)3), in denen insbesondere die speziellen Bedürfnisse und der Status von inhaftierten irregulären Migranten (Immigrationshäftlingen) angesprochen wird; |
3. |
Den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen 2006 (Empfehlung Rec(2006)2 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten) als grundlegende Mindeststandards zu allen Aspekten, die bei den oben genannten Standards nicht berücksichtigt werden; |
4. |
Den UN-Mindestgrundsätzen für die Behandlung Gefangener (gebilligt durch die Resolutionen 663 C (XXIV) und 2076(LXII) des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen vom 31. Juli 1957 bzw. 13. Mai 1977). |
Diese Standards stellen eine allgemein anerkannte Beschreibung der Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Inhaftnahme dar, die die Mitgliedstaaten in jedem Falle als absolutes Minimum einhalten müssen, damit die Wahrung der sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und der GRC herleitenden Verpflichtungen bei der Durchführung des Unionsrechts gewährleistet ist.
Europarat- Leitlinie 10 — Bedingungen der Abschiebehaft
1. |
In Abschiebehaft genommene Personen sollten normalerweise schnellstmöglich in speziell für diesen Zweck vorgesehenen Einrichtungen untergebracht werden, in denen die materiellen Bedingungen und das Regime ihrem rechtlichen Status angemessen und die mit hinreichend qualifiziertem Personal besetzt sind. |
2. |
Solche Einrichtungen sollten über Unterbringungsmöglichkeiten verfügen, die ausreichend möbliert, sauber und in einem guten Erhaltungszustand sind und genügend Wohnraum für die Zahl der Insassen bieten. Darüber hinaus sollte bei dem Entwurf und der Gestaltung der Räumlichkeiten dafür Sorge getragen werden, dass, soweit möglich, jeder Eindruck einer Gefängnisumgebung vermieden wird. Zu den organisierten Aktivitäten sollte Bewegung an der frischen Luft gehören, ebenso Zugang zu einem Tagesraum und zu einem Radio/Fernseher, zu Zeitungen/Zeitschriften, sowie zu anderen geeigneten Freizeitartikeln. |
3. |
Das Personal in solchen Einrichtungen sollte sorgfältig ausgesucht werden und eine angemessene Ausbildung erhalten. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, bei dieser Ausbildung weitestgehend sicherzustellen, dass das Personal nicht nur gut entwickelte Qualitäten im Bereich zwischenmenschlicher Kommunikation besitzt, sondern auch mit den verschiedenen Kulturen der Inhaftierten vertraut ist. Nach Möglichkeit sollten einige von ihnen über einschlägige Sprachkenntnisse verfügen und in der Lage sein, mögliche Symptome von Stressreaktionen, die inhaftierte Personen zeigen, zu erkennen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Im Bedarfsfalle sollte auch Hilfe von außen zur Verfügung, insbesondere im medizinischen und sozialen Bereich. |
4. |
Bis zu ihrer Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet sollten in Haft befindliche Personen normalerweise nicht mit gewöhnlichen Strafgefangenen — seien es verurteilte Straftäter oder Untersuchungshäftlinge — untergebracht werden. Männer und Frauen sollten getrennt voneinander untergebracht werden, falls sie dies wünschen. Jedoch sollte der Grundsatz der Einheit der Familie respektiert und Familien eine entsprechende Unterbringung gewährleistet werden. |
5. |
Die nationalen Behörden sollten sicherstellen, dass die in diesen Einrichtungen inhaftierten Personen gemäß den geltenden nationalen Vorschriften Zugang zu Rechtsanwälten, Ärzten, Nichtregierungsorganisationen, Mitgliedern ihrer Familien und dem UNHCR haben und den Kontakt mit der Außenwelt wahren können. Zudem sollte die Funktionsweise dieser Einrichtungen regelmäßig kontrolliert werden, unter anderem durch anerkannte unabhängige Beobachter. |
6. |
Die Inhaftierten haben das Recht, wegen angeblicher Misshandlung oder fehlenden Schutzes vor gewaltsamen Übergriffen anderer Inhaftierter Beschwerde einzureichen. Beschwerdeführer und Zeugen sind gegen alle Formen der Misshandlung oder Einschüchterung zu schützen, die aus der Beschwerde oder der Zeugenaussage resultieren. |
7. |
Die Inhaftierten sollten systematisch Informationen erhalten, in denen die in der Einrichtung geltenden Regeln und das für sie anwendbare Verfahren erläutert und ihre Rechte und Pflichten dargelegt werden. Diese Informationen sollten in den bei den Betroffenen gebräuchlichsten Sprachen verfügbar sein, und, falls erforderlich, sollten die Dienste eines Dolmetschers in Anspruch genommen werden. Die Inhaftierten sollten über ihr Recht unterrichtet sein, mit einem Anwalt ihrer Wahl, der zuständigen diplomatischen Vertretung ihres Landes, internationalen Organisationen wie dem UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sowie Nichtregierungsorganisationen Kontakt aufzunehmen. Hierbei sollte Unterstützung gewährt werden. |
CPT-Standards für ausländerrechtliche Haft — Auszüge
29. |
(Hafteinrichtungen). … Offenkundig sollten solche Zentren über Unterbringungsmöglichkeiten verfügen, die ausreichend möbliert, sauber und in einem guten Erhaltungszustand sind und genügend Wohnraum für die Zahl der Insassen bieten. Darüber hinaus sollte bei dem Entwurf und der Gestaltung der Räumlichkeiten dafür Sorge getragen werden, dass, soweit möglich, jeder Eindruck einer Gefängnisumgebung vermieden wird. Zum Aktivitätenregime sollte Bewegung an der frischen Luft gehören, ebenso Zugang zu einem Tagesraum und zu einem Radio/Fernseher, zu Zeitungen/Zeitschriften, sowie zu anderen geeigneten Freizeitartikeln (z. B. Brettspiele, Tischtennis). Je länger der Zeitraum ist, für den Personen festgehalten werden, desto weiter sollten die Betätigungsmöglichkeiten entwickelt sein, die ihnen angeboten werden. Das Personal in Zentren für Immigrationshäftlinge hat eine besonders schwere Aufgabe. Zum einen werden zwangsläufig Kommunikationsschwierigkeiten aufgrund von Sprachbarrieren auftreten. Zum zweiten wird es für viele inhaftierte Personen schwierig sein, die Tatsache zu akzeptieren, dass ihnen die Freiheit entzogen wird, obwohl sie keiner Straftat verdächtigt werden. Drittens besteht das Risiko von Spannungen zwischen Häftlingen verschiedener Nationalitäten oder ethnischer Gruppen. Folglich legt das CPT besonders Wert darauf, dass das Aufsichtspersonal in solchen Zentren sorgfältig ausgesucht wird und eine angemessene Ausbildung erhält. Die Mitglieder des Personals sollten gut entwickelte Qualitäten im Bereich zwischenmenschlicher Kommunikation besitzen sowie mit den verschiedenen Kulturen der Inhaftierten vertraut sein, und zumindest einige von ihnen sollten über einschlägige Sprachkenntnisse verfügen. Darüber hinaus sollten sie darin unterrichtet werden, mögliche Symptome von Stressreaktionen, die inhaftierte Personen zeigen, zu erkennen (seien sie nun post-traumatisch oder durch soziokulturelle Veränderungen verursacht) und geeignete Maßnahmen zu ergreifen. |
79. |
Die Haftbedingungen für Immigrationshäftlinge sollte die Natur ihres Freiheitsentzuges widerspiegeln, mit wenigen Einschränkungen und vielfältigen Aktivitäten. So sollten Immigrationshäftlinge z. B. die Möglichkeit haben, in wesentlichem Umfang Kontakte mit der Außenwelt zu pflegen (was häufige Gelegenheiten, Telefonate zu führen oder Besucher zu empfangen, beinhaltet) und sollten so wenig wie möglich in ihrer Bewegungsfreiheit innerhalb der Hafteinrichtung eingeschränkt sein. Selbst wenn die Haftbedingungen in Gefängnissen diese Auflagen erfüllen — und dies ist sicherlich nicht immer der Fall — hält das CPT die Inhaftierung von Immigrationshäftlingen in Gefängnissen, aus bereits erwähnten Gründen, grundsätzlich für fragwürdig. |
82. |
Das Recht auf einen Rechtsanwalt sollte das Recht beinhalten, unter vier Augen mit einem Anwalt zu sprechen, sowie den Zugang zu einer Rechtsberatung bei Fragen, die sich auf Aufenthaltsort, Haft und Abschiebung beziehen. Dies impliziert, dass, wenn Immigrationshäftlinge nicht in der Lage sind, selbst für einen Anwalt zu zahlen, sie Rechtsbeihilfe erhalten sollten. Des Weiteren sollten alle neu eingetroffenen Häftlinge unverzüglich von einem Arzt untersucht werden, oder von einer qualifizierten Krankenschwester, die wiederum einem Arzt Bericht erstattet. Das Recht auf Zugang zu einem Arzt sollte das Recht einschließen, wenn ein Immigrationshäftling dies wünscht, von einem Arzt seiner/ihrer Wahl untersucht zu werden; allerdings kann von dem Häftling erwartet werden, die Kosten einer solchen Untersuchung zu zahlen. Die Benachrichtigung eines Angehörigen oder einer anderen Person eigener Wahl hinsichtlich der Inhaftierung wird erheblich erleichtert, wenn den Immigrationshäftlingen gestattet wird, ihre Handys während des Freiheitsentzugs zu behalten oder diese zumindest zu benutzen. |
90. |
Die Beurteilung des Gesundheitszustands von Immigrationshäftlingen während ihres Freiheitsentzugs ist eine wichtige Verantwortung in Bezug auf jeden Inhaftierten und in Bezug auf eine Gruppe Immigrationshäftlinge als Ganzes. Die psychische und körperliche Gesundheit von Immigrationshäftlingen kann durch vorausgegangene traumatische Erlebnisse beeinträchtigt sein. Des Weiteren kann der Verlust vertrauter Menschen und der kulturellen Umgebung und die Unsicherheit über die eigene Zukunft zu einer psychischen Beeinträchtigung führen, einschließlich der Verstärkung bereits bestehender Symptome von Depression, Angst und einer posttraumatischen Störung. |
91. |
Zumindest eine Person mit einer anerkannten Qualifikation als Krankenschwester muss täglich in allen Gewahrsamseinrichtungen für Immigrationshäftlinge vor Ort sein. Diese Person sollte insbesondere die erste medizinische Untersuchung aller Neuankömmlinge durchführen (insbesondere auf übertragbare Krankheiten, inkl. Tuberkulose), Anträge auf Konsultation eines Arztes entgegennehmen, die Bereitstellung und Ausgabe von rezeptpflichtigen Medikamenten sicherstellen, Krankenakten führen und die allgemeinen Hygienebedingungen überwachen. |
Europäische Strafvollzugsgrundsätze 2006 — Auszüge
Unterbringung
18.1 |
Alle für Gefangene, insbesondere für deren nächtliche Unterbringung vorgesehenen Räume haben den Grundsätzen der Menschenwürde zu entsprechen, die Privatsphäre so weit wie möglich zu schützen und den Erfordernissen der Gesundheit und der Hygiene zu entsprechen; dabei sind die klimatischen Verhältnisse und insbesondere die Bodenfläche, die Luftmenge sowie die Beleuchtung, Heizung und Belüftung zu berücksichtigen. |
18.2 |
In allen Gebäuden, in denen Gefangene leben, arbeiten oder sich aufhalten,
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Hygiene
19.1 |
Alle Bereiche einer Anstalt müssen jederzeit ordentlich in Stand gehalten werden und sauber sein. |
19.2 |
Bei der Aufnahme von Gefangenen sollen die Hafträume oder andere Räumlichkeiten, in denen sie untergebracht werden, sauber sein. |
19.3 |
Gefangene müssen jederzeit Zugang zu sanitären Einrichtungen haben, die hygienisch sind und die Intimsphäre schützen. |
19.4 |
Es sind angemessene Einrichtungen vorzusehen, damit alle Gefangenen bei einer dem Klima angemessenen Temperatur möglichst täglich, mindestens jedoch zweimal wöchentlich (oder, wenn nötig, häufiger) im Interesse der allgemeinen Hygiene baden oder duschen können. |
19.5 |
Gefangene haben sich, ihre Kleidung und den Raum für ihre nächtliche Unterbringung sauber und ordentlich zu halten. |
19.6 |
Die Vollzugsbehörden stellen ihnen die Mittel hierfür zur Verfügung, einschließlich Toilettenartikel und allgemeiner Reinigungsgeräte und Reinigungsmittel. |
19.7 |
Spezielle Vorkehrungen sind für die sanitären Bedürfnisse von Frauen zu treffen. |
Kleidung und Bettzeug
20.1 |
Gefangene, die nicht über angemessene eigene Kleidung verfügen, sind mit Kleidung auszustatten, die dem Klima angepasst ist. |
20.2 |
Diese Kleidung darf nicht herabsetzend oder erniedrigend sein. |
20.3 |
Alle Kleidungsstücke sind in gutem Zustand zu halten und, wenn nötig, zu ersetzen. |
20.4 |
Von Gefangenen, die die Erlaubnis erhalten, die Justizvollzugsanstalt zu verlassen, darf nicht verlangt werden, Kleidung zu tragen, die sie als Gefangene erkennbar macht. |
21. |
Allen Gefangenen ist ein eigenes Bett mit angemessenem, eigenem Bettzeug zur Verfügung zu stellen, das in gutem Zustand zu halten und oft genug zu wechseln ist, um den Erfordernissen der Sauberkeit zu genügen. |
Ernährung
22.1 |
Gefangene erhalten eine nährstoffreiche Nahrung, die ihrem Alter, ihrer Gesundheit, ihrem körperlichen Zustand, ihrer Religion und Kultur sowie der Art ihrer Arbeit Rechnung trägt. |
22.2 |
Die Anforderungen an eine nährstoffreiche Nahrung einschließlich ihres Mindestgehalts an Energie und Eiweiß sind im innerstaatlichen Recht festzulegen. |
22.3 |
Die Nahrung ist unter hygienischen Bedingungen zuzubereiten und auszugeben. |
22.4 |
Es sind täglich drei Mahlzeiten in angemessenen Zeitabständen auszugeben. |
22.5 |
Den Gefangenen muss jederzeit sauberes Trinkwasser zur Verfügung stehen. |
22.6 |
Der Arzt/die Ärztin oder medizinisches Fachpersonal hat eine Umstellung der Ernährung für bestimmte Gefangene anzuordnen, wenn dies aus medizinischen Gründen notwendig ist. |
Gestaltung des Vollzugs
25.1 |
Der Vollzug hat allen Gefangenen ein ausgewogenes Programm an Aktivitäten zu bieten. |
25.2 |
Der Vollzug ist so zu gestalten, dass er allen Gefangenen ermöglicht, sich täglich so viele Stunden außerhalb ihrer Hafträume aufzuhalten, wie dies für ein angemessenes Maß an zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen notwendig ist. |
25.3 |
Der Vollzug hat auch den Bedürfnissen der Gefangenen nach Unterstützung Rechnung zu tragen. |
25.4 |
Besondere Beachtung ist auf Bedürfnisse von Gefangenen zu richten, die körperliche oder seelische Misshandlungen oder sexuellen Missbrauch erfahren haben. |
Bewegung und Erholung
27.1 |
Allen Gefangenen wird täglich ermöglicht, sich mindestens eine Stunde im Freien zu bewegen, wenn es die Witterung zulässt. |
27.2 |
Bei ungünstiger Witterung sind alternative Maßnahmen vorzusehen, um Gefangenen Bewegung zu ermöglichen. |
27.3 |
Bestandteil des Vollzuges müssen sinnvoll gestaltete Angebote zur Förderung der körperlichen Leistungsfähigkeit und eine angemessene Auswahl an Bewegungs- und Erholungsmöglichkeiten sein. |
27.4 |
Die Vollzugsbehörden haben solche Aktivitäten zu ermöglichen, indem sie geeignete Einrichtungen und Geräte zur Verfügung stellen. |
27.5 |
Die Vollzugsbehörden haben auf Besonderheiten der Freizeitgestaltung einzugehen, wenn hierfür ein Bedarf besteht. |
27.6 |
Es sind Angebote, die der Erholung dienen, z. B. Sport, Spiele und kulturelle Aktivitäten vorzusehen sowie Hobbys und andere Freizeitbeschäftigungen zu ermöglichen. Den Gefangenen ist so weit wie möglich zu gestatten, diese selbst zu organisieren. |
27.7 |
Gefangenen ist zu gestatten, sich gemeinsam zu bewegen und an Freizeitaktivitäten teilzunehmen. |
Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
29.1 |
Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit der Gefangenen ist zu respektieren. |
29.2 |
Das Vollzugssystem ist so weit wie möglich so zu organisieren, dass den Gefangenen gestattet ist, ihre Religion auszuüben und ihrem Glauben zu folgen, Gottesdienste oder Zusammenkünfte, die von zugelassenen Vertretern/Vertreterinnen dieser Religions- oder Glaubensgemeinschaft geleitet werden, zu besuchen, persönliche Einzelbesuche von solchen Vertretern/Vertreterinnen ihrer Religions- oder Glaubensgemeinschaft zu erhalten und Bücher oder Schriften ihrer Religions- oder Glaubensgemeinschaft zu besitzen. |
29.3 |
Gefangene dürfen nicht gezwungen werden, eine Religion oder einen Glauben auszuüben, Gottesdienste oder religiöse Zusammenkünfte zu besuchen, an religiösen Handlungen teilzunehmen oder den Besuch eines Vertreters/einer Vertreterin einer Religions- oder Glaubensgemeinschaft zu |
Ethnische oder sprachliche Minderheiten
38.1 |
Für die Bedürfnisse von Gefangenen, die ethnischen oder sprachlichen Minderheiten angehören, sind besondere Vorkehrungen zu treffen. |
38.2 |
Die verschiedenen Gruppen dürfen ihre kulturellen Gebräuche im Vollzug so weit wie möglich weiterpflegen. |
38.3 |
Sprachlichen Unzulänglichkeiten ist durch den Einsatz kompetenter Dolmetscher/innen und die Bereitstellung schriftlichen Materials in den Sprachen, die in der betreffenden Anstalt gesprochen werden, zu begegnen. |
Gesundheitsfürsorge
40.3 |
Gefangenen ist unabhängig von ihrem rechtlichen Status Zugang zur Gesundheitsfürsorge des betreffenden Staates zu gewähren. |
40.4 |
Der anstaltsärztliche Dienst soll körperliche oder geistige Krankheiten oder Beschwerden, an denen Gefangene möglicherweise leiden, aufdecken und behandeln. |
40.5 |
Zu diesem Zweck müssen den Gefangenen alle erforderlichen ärztlichen, chirurgischen und psychiatrischen Einrichtungen auch außerhalb der Anstalt zur Verfügung gestellt werden. |
Ärztliches und sonstiges medizinisches Personal
41.1 |
In jeder Justizvollzugsanstalt muss mindestens ein/e anerkannte/r Arzt/Ärztin für Allgemeinmedizin zur Verfügung stehen. |
41.2 |
Es ist sicherzustellen, dass diese/r Arzt/Ärztin in dringenden Fällen jederzeit ohne Verzögerung zur Verfügung steht. |
41.3 |
Verfügen Anstalten nicht über eine/n vollzeitbeschäftigte/n Arzt/Ärztin, muss ein/e teilzeitbeschäftigte/r Arzt/Ärztin die Justizvollzugsanstalt regelmäßig aufsuchen. |
41.4 |
Jede Justizvollzugsanstalt muss im Bereich der Gesundheitsfürsorge über angemessen ausgebildetes Personal verfügen. |
41.5 |
Die Versorgung durch anerkannte Zahnärzte/Zahnärztinnen und durch Augenoptiker/innen ist allen Gefangenen zu gewährleisten. |
Pflichten des/der anerkannten Arztes/Ärztin für Allgemeinmedizin
42.1 |
Dem ärztlichen oder dem diesem zugeordneten ausgebildeten pflegerischen Personal sind alle Gefangenen so bald wie möglich nach der Aufnahme vorzustellen. Es erfolgt eine Untersuchung, sofern dies nicht offensichtlich unnötig ist. |
42.2 |
Das ärztliche oder das diesem zugeordnete ausgebildete pflegerische Personal hat die Gefangenen auf Verlangen bei der Entlassung oder wenn immer nötig zu untersuchen. |
42.3 |
Bei der Untersuchung der Gefangenen hat das ärztliche oder das diesem zugeordnete ausgebildete pflegerische Personal ein besonderes Augenmerk zu richten auf:
|
Gesundheitsfürsorgeleistungen
46.1 |
Kranke Gefangene, die fachärztlicher Behandlung bedürfen, sind in entsprechend spezialisierte Vollzugseinrichtungen oder in öffentliche Krankenhäuser zu verlegen, soweit die Behandlung im Vollzug nicht möglich ist. |
46.2 |
Verfügt eine Anstalt über eigene Krankenstationen, müssen diese personell und sachlich so ausgestattet sein, dass die dorthin verlegten Gefangenen angemessen ärztlich versorgt und behandelt werden können. |
16. INHAFTNAHME VON MINDERJÄHRIGEN UND FAMILIEN
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 17
1. |
Bei unbegleiteten Minderjährigen und Familien mit Minderjährigen wird Haft nur im äußersten Falle und für die kürzestmögliche angemessene Dauer eingesetzt. |
2. |
Bis zur Abschiebung in Haft genommene Familien müssen eine gesonderte Unterbringung erhalten, die ein angemessenes Maß an Privatsphäre gewährleistet. |
3. |
In Haft genommene Minderjährige müssen die Gelegenheit zu Freizeitbeschäftigungen einschließlich altersgerechter Spiel- und Erholungsmöglichkeiten und, je nach Dauer ihres Aufenthalts, Zugang zur Bildung erhalten. |
4. |
Unbegleitete Minderjährige müssen so weit wie möglich in Einrichtungen untergebracht werden, die personell und materiell zur Berücksichtigung ihrer altersgemäßen Bedürfnisse in der Lage sind. |
5. |
Dem Wohl des Kindes ist im Zusammenhang mit der Abschiebehaft bei Minderjährigen Vorrang einzuräumen. |
In der Rückführungsrichtlinie ist vorgesehen, dass unbegleitete Minderjährige und Familien mit Minderjährigen im Hinblick auf eine Abschiebung nur im äußersten Falle und für die kürzestmögliche angemessene Dauer in Haft genommen werden dürfen, sofern spezifische Garantien ordnungsgemäß eingehalten werden.
Zusätzlich zu den Garantien nach Artikel 17 der Rückführungsrichtlinie sind die für die allgemeinen Regeln zur Inhaftnahme geltenden Grundsätze nach Artikel 15 der Richtlinie einzuhalten. So darf insbesondere die Inhaftnahme nur im äußersten Falle erfolgen, es müssen genügend brauchbare wirksame Alternativen zur Inhaftnahme verfügbar sein, und es muss eine Einzelfallprüfung erfolgen (siehe Abschnitt 14). Bei der Inhaftnahme von Minderjährigen und Familien ist dem Wohl des Kindes stets Vorrang einzuräumen. Die Mitgliedstaaten sind aufgefordert, Kinderschutzstellen in alle Fragen der Inhaftnahme einzubinden und wenn Gründe für eine Inhaftnahme vorliegen, ist alles zu tun, was möglich ist, damit genügend brauchbare wirksame Alternativen zur Inhaftnahme von Minderjährigen (sowohl für unbegleitete als auch in Begleitung ihrer Familien) zur Verfügung stehen und in Anspruch genommen werden können.
Der UNHCR (80) und die FRA (81) führen einige Beispiele für bewährte Verfahren mit Blick auf Alternativen für die Inhaftnahme von unbegleiteten Minderjährigen und Familien mit Kindern an.
Die Kommission empfiehlt, dass die Möglichkeit der Inhaftnahme von Minderjährigen in nationalen Rechtsvorschriften nicht ausgeschlossen werden sollte, sofern dies unabdingbar ist, um die Durchführung einer endgültigen Rückkehrentscheidung sicherzustellen, und soweit im Einzelfall weniger intensive Zwangsmaßnahmen nicht wirksam angewandt werden können.
Artikel 17 der Rückführungsrichtlinie lehnt sich in ihrem Wortlaut eng an die Leitlinie 11 des Europarates — Kinder und Familien — an. Weitere konkrete Hinweise finden sich im Kommentar zu dieser Leitlinie:
Europarat — Leitlinie 11 — Kinder und Familien
Kommentar
1. |
Die Ziffern 1, 3 und 5 dieser Leitlinien sind an die entsprechenden Bestimmungen des Übereinkommens über die Rechte des Kindes angelehnt, das von der UN-Generalversammlung mit Resolution 44/25 vom 20. November 1989 angenommen und zur Unterzeichnung, Ratifizierung und zum Beitritt aufgelegt und von allen Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert wurde. In Bezug auf Ziffer 2 sei daran erinnert, dass das Recht auf Schutz des Familienlebens gemäß Artikel 8 EMRK auch im Zusammenhang mit der Inhaftnahme gültig ist. |
2. |
Im Hinblick auf den Freiheitsentzug bei Kindern heißt es in Artikel 37 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes insbesondere, dass „Festnahme, Freiheitsentziehung oder Freiheitsstrafe … bei einem Kind im Einklang mit dem Gesetz nur als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene Zeit angewendet werden (darf)“ (Artikel 37 Buchstabe b). Artikel 20 Absatz 1 des Übereinkommens lautet: „Ein Kind, das vorübergehend oder dauernd aus seiner familiären Umgebung herausgelöst wird oder dem der Verbleib in dieser Umgebung im eigenen Interesse nicht gestattet werden kann, hat Anspruch auf den besonderen Schutz und Beistand des Staates.“ |
3. |
Anregungen wurden ebenfalls in Ziffer 38 der Regeln der Vereinten Nationen zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug gefunden, die von der Generalversammlung mit Resolution 45/113 vom 14. Dezember 1990 angenommen wurden. Diese Regeln gelten für jeden Freiheitsentzug, der zu verstehen ist als „jede Form von Haft, Gefangenschaft oder Unterbringung einer Person, angeordnet durch ein Justizorgan, eine Verwaltungsbehörde oder andere öffentliche Stelle, in einer staatlichen oder privaten Einrichtung, welche diese Person nicht nach Belieben verlassen darf“ (Ziffer 11 Buchstabe b). Ziffer 38 lautet: „Jeder Jugendliche im schulpflichtigen Alter hat nach Maßgabe seiner Bedürfnisse und Fähigkeiten Anspruch auf Unterricht, der darauf ausgerichtet ist, ihn auf die Rückkehr in die Gesellschaft vorzubereiten. Wo immer möglich, soll dieser Unterricht außerhalb der freiheitsentziehenden Einrichtung in örtlichen Schulen stattfinden; in jedem Fall ist er durch qualifizierte Lehrkräfte nach Plänen zu erteilen, die dem staatlichen Ausbildungssystem entsprechen, sodass der Jugendliche nach der Entlassung ohne Schwierigkeiten den Schulbesuch fortsetzen kann. Besondere Aufmerksamkeit hat die Verwaltung der Einrichtungen der Schulausbildung Jugendlicher ausländischer Herkunft oder mit eigenen kulturellen oder ethnischen Bedürfnissen zuzuwenden. Jugendliche Analphabeten oder solche mit Auffassungsschwierigkeiten oder Lernschwächen haben ein Recht auf speziellen Unterricht.“ |
4. |
In der letzten Ziffer findet sich das Leitprinzip des Übereinkommens über die Rechte des Kindes wieder, wo es in Artikel 3 Absatz 1 heißt: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Dies gilt selbstverständlich auch für Entscheidungen, die die Festhaltung von Kindern betreffen, die aus dem Gebiet abgeschoben werden sollen. |
Was die Inhaftnahme von Minderjährigen betrifft, enthalten die CPT-Standards die folgenden Regeln, die von den Mitgliedstaaten stets einzuhalten sind, wenn sie eine Inhaftnahme — im Ausnahmefall und als letztes Mittel — anwenden:
CPT-Standards zur Inhaftierung von Minderjährigen — Auszüge
97. |
Das CPT erklärt, dass alles Erdenkliche unternommen werden sollte, um den Freiheitsentzug eines minderjährigen irregulären Migranten zu vermeiden. Nach dem Grundsatz des „besten Kindeswohls“, wie in Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention formuliert, ist der Freiheitsentzug bei Kindern, einschließlich unbegleiteten und getrennt reisenden Kindern, selten gerechtfertigt und kann, nach Meinung des Komitees, sicherlich nicht allein mit dem Fehlen einer Aufenthaltsgenehmigung gerechtfertigt werden. Wenn ein Kind ausnahmsweise inhaftiert wurde, sollte der Freiheitsentzug möglichst kurz sein; alle erdenklichen Schritte müssen durchgeführt werden, um die umgehende Freilassung von unbegleiteten oder getrennt reisenden Kindern aus der Hafteinrichtung und die Unterbringung an einem geeigneteren Ort zu bewirken. Des Weiteren sollten, angesichts der Schutzbedürftigkeit eines Kindes, zusätzliche Schutzmaßnahmen angewendet werden, wenn ein Kind inhaftiert ist, insbesondere in jenen Fällen, in denen Kinder von ihren Eltern oder anderen Betreuern getrennt wurden oder ohne Eltern, Betreuer oder Verwandte reisen. |
98. |
Sobald den Behörden bekannt wird, dass ein Kind betroffen ist, sollte eine beruflich qualifizierte Person in der Sprache, die das Kind versteht, ein erstes Gespräch mit dem Kind führen. Er sollte eine Beurteilung über die speziellen Bedürfnisse des Kindes erstellt werden, einschließlich im Hinblick auf Alter, Gesundheit, psychosoziale Faktoren und andere Schutzbedürfnisse, einschließlich jenen, die sich aus Gewalt, Menschenhandel oder Traumata ergeben. Unbegleitete oder allein reisende Kinder, denen die Freiheit entzogen wird, sollten prompt freien Zugang zu einer rechtlichen oder anderen angemessenen Unterstützung erhalten, einschließlich der Zuweisung eines Vormunds oder gesetzlichen Vertreters. Es sollten außerdem Überprüfungsmechanismen eingeführt werden, um laufend die Qualität der Vormundschaft zu überwachen. |
99. |
Es sollten Schritte unternommen werden, um in Einrichtungen, in denen Kindern die Freiheit entzogen wird, die regelmäßige Anwesenheit eines Sozialarbeiters und eines Psychologen und den persönlichen Kontakt mit diesen sicherzustellen. Eine gemischtgeschlechtliche Zusammensetzung des Personals ist eine weitere Schutzmaßnahme gegen Misshandlungen; die Anwesenheit von Frauen und Männern im Personal kann sich positiv im Hinblick auf den Überwachungsethos auswirken und einen gewissen Grad von Normalität in den Inhaftierungseinrichtungen schaffen. Kindern, denen die Freiheit entzogen wurde, sollten konstruktive Aktivitäten angeboten werden (insbesondere im Hinblick auf die schulische Ausbildung der Kinder). |
100. |
Um das Risiko von Ausbeutung zu begrenzen, sollten besondere Vorkehrungen für die Unterkünfte getroffen werden, die für Kinder geeignet sind, z. B. durch eine von den Erwachsenen getrennte Unterbringung, außer wenn zum Wohle des Kindes etwas Anderes angeraten erscheint. Dies würde z. B. zutreffen, wenn Kinder von ihren Eltern oder anderen engen Angehörigen begleitet werden. In diesem Fall sollte eine Trennung der Familie unbedingt vermieden werden. |
131. |
Wirksame Beschwerde- und Inspektionsverfahren stellen eine grundlegende Schutzmaßnahme gegen Misshandlung in allen Inhaftierungseinrichtungen, einschließlich Inhaftierungseinrichtungen für Jugendliche, dar. Jugendlichen (sowie deren Eltern oder gesetzlichen Vertretern) sollten Möglichkeiten der Beschwerde innerhalb des Verwaltungssystems der Einrichtung zur Verfügung stehen, und sie sollten Anspruch darauf haben, Beschwerden — vertraulich — an eine unabhängige Stelle zu richten. Beschwerdeverfahren sollten einfach, wirksam und kinderfreundlich sein, insbesondere im Hinblick auf die verwendeten sprachlichen Formulierungen. Jugendliche (sowie deren Eltern oder gesetzliche Vertreter) sollten Anspruch auf Einholung von Rechtsberatung zu ihren Beschwerden haben und Prozesskostenhilfe erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. |
132. |
Besondere Bedeutung misst das CPT regelmäßigen Visiten aller Inhaftierungseinrichtungen für Jugendliche durch eine unabhängige Stelle bei, bei der es sich um einen Fachbeirat, einen Richter, einen Bürgerbeauftragten für Kinder oder den nationalen Präventionsmechanismus (eingerichtet im Rahmen des Fakultativprotokolls zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter) handeln kann und die befugt ist, Beschwerden der Jugendlichen oder deren Eltern oder gesetzlicher Vertreter entgegenzunehmen und gegebenenfalls zu verfolgen, die Unterbringung und die Anlagen zu inspizieren und zu bewerten, ob diese Einrichtungen den Anforderungen des nationalen Rechts und einschlägiger internationaler Standards entsprechend betrieben werden. Die Mitglieder der Prüfstelle sollten initiativ vorgehen und direkten Kontakt zu den Jugendlichen aufnehmen, auch in Form von Vier-Augen-Gesprächen mit inhaftierten Jugendlichen. |
17. NOTLAGEN
Rechtsgrundlage: Rückführungsrichtlinie — Artikel 18
1. |
Führt eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen eines Mitgliedstaats oder seines Verwaltungs- oder Justizpersonals, so kann der betreffende Mitgliedstaat, solange diese außergewöhnliche Situation anhält, die für die gerichtliche Überprüfung festgelegten Fristen über die in Artikel 15 Absatz 2 Unterabsatz 3 genannten Fristen hinaus verlängern und dringliche Maßnahmen in Bezug auf die Haftbedingungen ergreifen, die von den Haftbedingungen nach den Artikeln 16 Absatz 1 und 17 Absatz 2 abweichen. |
2. |
Ein Mitgliedstaat, der auf diese außergewöhnlichen Maßnahmen zurückgreift, setzt die Kommission davon in Kenntnis. Er unterrichtet die Kommission ebenfalls, sobald die Gründe für die Anwendung dieser außergewöhnlichen Maßnahmen nicht mehr vorliegen. |
3. |
Dieser Artikel ist nicht so auszulegen, als gestatte er den Mitgliedstaaten eine Abweichung von ihrer allgemeinen Verpflichtung, alle geeigneten — sowohl allgemeinen als auch besonderen — Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass sie ihren aus dieser Richtlinie hervorgehenden Verpflichtungen nachkommen. |
Umfang möglicher Abweichungen auf drei Bestimmungen begrenzt: In Artikel 18 ist die Möglichkeit festgelegt, dass die Mitgliedstaaten in Notlagen, die mit der plötzlichen Ankunft einer großen Zahl von irregulären Migranten zusammenhängen, drei Inhaftnahme-Bestimmungen der Richtlinie nicht anwenden: (i) die Verpflichtung zur zügigen Erstüberprüfung der Inhaftnahme durch eine Justizbehörde, (ii) die Verpflichtung zur Inhaftnahme nur in speziellen Hafteinrichtungen und (iii) die Verpflichtung zur gesonderten Unterbringung von Familien, die ein angemessenes Maß an Privatsphäre gewährleistet). Abweichungen von anderen Vorschriften der Rückführungsrichtlinie sind nicht möglich.
Umsetzung in nationales Recht ist Voraussetzung für mögliche Anwendung der Notlagenklausel: Artikel 18 beschreibt und begrenzt die Anwendungsfälle sowie den Umfang möglicher Abweichungen und die Informationspflichten gegenüber der Kommission. Wenn ein Mitgliedstaat diese Schutzklausel in Notlagen anwenden will, muss er sie vorher (82) — als Möglichkeit und im Einklang mit den Kriterien von Artikel 18 — in nationales Recht umsetzen. Hinweis: Im Gegensatz zu Schutzklauseln in Verordnungen (beispielsweise im Schengener Grenzkodex im Zusammenhang mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen) müssen Schutzklauseln in Richtlinien in nationales Recht umgesetzt werden, bevor ihre Anwendung möglich ist.)
Die Mitgliedstaaten müssen der Kommission mitteilen, wenn sie zu diesen Mitteln greifen und wenn diese nicht mehr zur Anwendung kommen. Informationen sollten der Kommission auf dem üblichen Dienstweg, d. h. über die Ständige Vertretung an das Generalsekretariat der Europäischen Kommission, übermittelt werden.
18. UMSETZUNG, AUSLEGUNG UND ÜBERGANGSREGELUNGEN
Direkte Wirkung der Rückführungsrichtlinie bei unzureichender oder verspäteter Umsetzung: Nach der Rechtsprechung des EuGH erlangen Bestimmungen einer Richtlinie, mit denen Rechte auf Einzelpersonen übertragen werden und die hinreichend eindeutig und vorbehaltlos sind, mit Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie direkte Geltung. Viele Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie erfüllen diese Voraussetzungen und müssen von den nationalen Verwaltungs- und Justizbehörden direkt angewendet werden, wenn die Mitgliedstaaten bestimmte Bestimmungen der Richtlinie nicht (oder unzureichend) umgesetzt haben. Dies gilt insbesondere auf die Bestimmungen zu folgenden Punkten:
— |
Achtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung (Artikel 5 und 9 der Rückführungsrichtlinie); |
— |
die Bestimmung, dass rückzuführenden Personen normalerweise eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise angeboten werden sollte (Artikel 7 der Rückführungsrichtlinie); |
— |
Einschränkungen beim Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen im Zusammenhang mit der erzwungenen Rückkehr (Artikel 8 der Rückführungsrichtlinie); |
— |
das Recht unbegleiteter Minderjähriger, gegen die ein Rückkehrverfahren eingeleitet wurde, Unterstützung durch geeignete Stellen zu erhalten, bei denen es sich nicht um die für die Vollstreckung von Rückkehrentscheidungen zuständigen Behörden handelt, und die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dafür Sorge zu tragen, dass unbegleitete Minderjährige nur einem Mitglied ihrer Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben werden (Artikel 10 der Rückführungsrichtlinie); |
— |
Einschränkungen bei der Dauer von Einreiseverboten sowie Notwendigkeit der Einzelfallprüfung (Artikel 11 der Rückführungsrichtlinie) (Dies wurde vom EuGH in der Rechtssache C-297/12, Filev und Osmani (Rn. 55) ausdrücklich bestätigt); |
— |
Verfahrensgarantien, darunter das Recht auf eine schriftliche, begründete Rückkehrentscheidung sowie das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf Rechts- und Sprachbeistand (Artikel 12 und 13 der Rückführungsrichtlinie); |
— |
Einschränkungen für den Einsatz des Mittels der Inhaftnahme und Höchstfristen für die Inhaftnahme (Artikel 15 der Rückführungsrichtlinie) und Recht auf menschenwürdige Haftbedingungen (Artikel 16 der Rückführungsrichtlinie) (Dies wurde vom EuGH in der Rechtssache C-61/11, El Dridi (Rn. 46 und 47) ausdrücklich bestätigt); |
— |
Einschränkungen und besondere Schutzvorkehrungen bei der Inhaftnahme von Minderjährigen und Familien (Artikel 17 der Rückführungsrichtlinie). |
Vorabentscheidung durch den EuGH: Gemäß Artikel 267 AEUV entscheidet der EuGH im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung und die Gültigkeit der Rückführungsrichtlinie. Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem EuGH zur Entscheidung vorlegen. Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet. Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren, das eine inhaftierte Person betrifft, bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, so entscheidet der EuGH im Wege eines beschleunigten Verfahrens. Vorabentscheidungen haben bereits eine wichtige Rolle für die Gewährleistung einer harmonisierten Auslegung mehrerer zentraler Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie gespielt.
Die Gerichte der Mitgliedstaaten werden aufgefordert, die Überweisung zur Vorabentscheidung kontinuierlich zu nutzen und um eine authentische Auslegung durch den EuGH zu ersuchen, wann immer dies notwendig erscheint.
Übergangsregelungen für Fälle/Verfahren mit Bezug auf Zeiträume vor dem 24. Dezember 2010: Die Mitgliedstaaten müssen dafür sorgen, dass alle vom Anwendungsbereich der Richtlinie erfassten Personen vom 24. Dezember 2010 an (bei neuen Mitgliedstaaten vom Tag des Beitritts an) in den Genuss der durch die Richtlinie zuerkannten materiellen Garantien und Rechte kommen. Obgleich es legitim sein kann, nationale Rückkehrverfahren unter Anwendung von einzelstaatlichen Rechtsvorschriften fortzusetzen, die vor Umsetzung der Richtlinie gültig waren, dürfen dadurch die durch die Richtlinie gewährten Rechte nicht wesentlich untergraben werden, wie z. B. die Einschränkung der Inhaftnahme und der Anwendung von Zwangsmaßnahmen, Verfahrensgarantien, einschließlich das Recht auf eine schriftliche Entscheidung und Rechtsbehelf dagegen, Vorrang der freiwilligen Ausreise. Für jede nicht bis zum 24. Dezember 2010 vollzogene Rückkehr ist eine schriftliche Rückkehrentscheidung nach Maßgabe der Bestimmungen von Artikel 12 der Richtlinie zu erlassen, zugleich ist gegen diese Entscheidung ein wirksamer Rechtsbehelf gemäß Artikel 13 der Richtlinie zu gewähren.
Vor dem 24. Dezember 2010 erteilte Einreiseverbote müssen den Anforderungen der Rückführungsrichtlinie angepasst werden (siehe den entsprechenden Abschnitt 11.9) Haftzeiten vor dem Inkrafttreten der Bestimmungen der Richtlinie müssen in die Berechnung der in der Rückführungsrichtlinie festgelegten Höchsthaftdauer einfließen (siehe Abschnitt 14.4.2).
Abweichung vom Anwendungsbereich zu einem späteren Zeitpunkt (nach 2010): Die Mitgliedstaaten können sich entschließen, die in Artikel 2 vorgesehene Ausnahmeregelung („Grenzfälle“ und „Strafrechtsfälle“) zu einem späteren Zeitpunkt anzuwenden. Eine Änderung der nationalen Rechtsvorschriften darf keine nachteiligen Folgen für die Personen haben, die bereits in den Nutzen der Wirkungen der Rückführungsrichtlinie kommen konnten (siehe Abschnitt 2).
19. QUELLEN UND REFERENZDOKUMENTE
Als Grundlage für dieses Handbuch dienen die folgenden Quellen:
1. |
Protokolle der Sitzungen der Kontaktgruppe zur Rückführungsrichtlinie. |
2. |
Auszüge aus der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH (unter Angabe der Schlüsselbegriffe und des Namens des betreffenden Mitgliedstaats in Klammern):
|
3. |
Besitzstand der EU:
|
4. |
Einschlägige Dokumente des Europarates:
|
5. |
Einschlägige Dokumente der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA):
|
6. |
Berichte zu Schengen Evaluierungen im Bereich der Rückkehr |
20. ABKÜRZUNGEN
|
GRC Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union |
|
CoE: Europarat |
|
EMRK: Europäische Menschenrechtskonvention |
|
EGMR: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte |
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EuGH: Gerichtshof der Europäischen Union |
|
EWR: Europäischer Wirtschaftsraum |
|
FRA: Agentur der Europäischen Union für Grundrechte |
|
Mitgliedstaaten: Die Mitgliedstaaten, die an die Rückkehrrichtlinie gebunden sind, d. h. alle EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs und Irlands sowie die Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein |
|
SGK: Schengener Grenzkodex |
|
SDÜ: Schengener Durchführungsübereinkommen |
|
SIS: Schengener Informationssystem |
|
EUV: Vertrag über die Europäische Union |
|
AEUV: Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
(1) Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 vom 24.12.2008, S. 98).
(2) C(2015) 6250.
(3) C(2017) 1600 final.
(4) Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 77 vom 23.3.2016, S. 1).
(5) Von den britischen Staatsbürgern sind aufgrund einer besonderen Bestimmung im Beitrittsvertrag des Vereinigten Königreichs nur die „Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs im Sinne des Rechts der Europäischen Union“ („United Kingdom nationals for European Union purposes“) Bürger der Europäischen Union.
(6) Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158 vom 30.4.2004, S. 77).
(7) Nach Artikel 1 Absatz 1 des Übereinkommens von 1954 über die Rechtsstellung der Staatenlosen ist ein Staatenloser „eine Person, die kein Staat auf Grund seines Rechtes als Staatsangehörigen ansieht“.
(8) Urteil des Gerichtshofs vom 7. Juni 2016, Affum, C-47/15, ECLI:EU:C:2016:408.
(9) Urteil des Gerichtshofs vom 6. Dezember 2011, Achughbabian, C-329/11, ECLI:EU:C:2011:807.
(10) Urteil des Gerichtshofs vom 6. Dezember 2012, Sagor, C-430/11, ECLI:EU:C:2012:777.
(11) Urteil des Gerichtshofs vom 15. März 2017, Al Chodor u. a., C-528/15, ECLI:EU:C:2017:213.
(12) Artikel 2 Buchstabe n der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31): „Fluchtgefahr“ das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte.“
(13) Diese Information ist über das Europäische Strafregisterinformationssystem erhältlich, das eingerichtet wurde durch den Rahmenbeschluss 2009/315/JI des Rates vom 26. Februar 2009 über die Durchführung und den Inhalt des Austauschs von Informationen aus dem Strafregister zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 93 vom 7.4.2009, S. 23) und den Beschluss 2009/316/JI des Rates vom 6. April 2009 zur Einrichtung des Europäischen Strafregisterinformationssystems (ECRIS) gemäß Artikel 11 des Rahmenbeschlusses 2009/315/JI (ABl. L 93 vom 7.4.2009, S. 33). Am 19. Januar 2016 unterbreitete die Kommission den Vorschlag COM(2016) 7 final zur Vereinfachung des Austauschs von Strafregistereinträgen von Nicht-EU-Bürgern in der EU.
(14) Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 96).
(15) Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9).
(16) Im Gegensatz zu den EU-Mitgliedstaaten sind die Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein nicht auf der Grundlage von Artikel 288 AEUV durch EU-Richtlinien gebunden, sondern erst, nachdem sie sie nach den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts angenommen haben. Folglich gilt für diese vier Länder auch nicht die Rechtsprechung des EuGH im Zusammenhang mit der Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht, und sie können die Modalitäten der Umsetzung der in der Rückführungsrichtlinie festgelegten Verpflichtung unter Einhaltung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen frei wählen (zum Beispiel durch unmittelbare Bezugnahme auf den Wortlaut der Richtlinie).
(17) Urteil des Gerichtshofs vom 19. September 2013, Filev und Osmani, C-297/12, ECLI:EU:C:2013:569.
(18) Nach der Kodifizierung des Schengener Grenzkodexes von 2016 gilt die Bezugnahme auf Artikel 13 des Schengener Grenzkodexes als Bezugnahme auf Artikel 14 der Verordnung (EU) 2016/399.
(19) Europarat, Europäisches Auslieferungsübereinkommen, 1957.
(20) Urteil des Gerichtshofs vom 28. April 2011, El Dridi, C-61/11 PPU, ECLI:EU:C:2011:268.
(21) Urteil des Gerichtshofs vom 23. April 2015, Zaizoune, C-38/14, ECLI:EU:C:2015:260.
(22) Vereinte Nationen, Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 1951.
(23) Artikel 31 Absatz 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge: „ 1. Die vertragschließenden Staaten werden wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalts keine Strafen gegen Flüchtlinge verhängen, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht waren und die ohne Erlaubnis in das Gebiet der vertragschließenden Staaten einreisen oder sich dort aufhalten, vorausgesetzt, dass sie sich unverzüglich bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrechtmäßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen. “
(24) Urteil des Gerichtshofs vom 1. Oktober 2015, Skerdjan Celaj, C-290/14, ECLI:EU:C:2015:640.
(25) Richtlinie 2009/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen (ABl. L 168 vom 30.6.2009, S. 24). Dänemark, die Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein sind nicht durch diese Richtlinie gebunden.
(26) Richtlinie 2004/81/EG des Rates vom 29. April 2004 über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren (ABl. L 261 vom 6.8.2004, S. 19).
(27) Richtlinie 2001/40/EG des Rates vom 28. Mai 2001 über die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Rückführung von Drittstaatsangehörigen (ABl. L 149 vom 2.6.2001, S. 34).
(28) Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31).
(29) Die angeführten Beispiele wurden zum Zwecke der Erläuterung vereinfacht. In der Praxis muss jeder Fall anhand der jeweiligen Umstände bewertet werden.
(30) Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. L 239 vom 22.9.2000, S. 19).
(31) Empfehlung K(2006) 5186 der Kommission vom 6. November 2006 über einen gemeinsamen „Leitfaden für Grenzschutzbeamte (Schengen-Handbuch)“, der von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Grenzkontrollen bei Personen heranzuziehen ist, und spätere Änderungen.
(32) Es handelt sich um eine umfassende „Auffangbestimmung“, die auch all jene Fälle erfasst, die nach Artikel 2 Nummer 16 Buchstabe b Ziffern i und ii SGK von der Definition des „Aufenthaltstitels“ ausdrücklich ausgenommen sind.
(33) Beschluss K(2010) 1620 der Kommission vom 19. März 2010 über ein Handbuch für die Bearbeitung von Visumanträgen und die Änderung von bereits erteilten Visa und spätere Änderungen.
(34) Urteil des Gerichtshofs vom 15. Februar 2016, J. N., C-601/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:84.
(35) Richtlinie 2014/66/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen eines unternehmensinternen Transfers (ABl. L 157 vom 27.5.2014, S. 1).
(36) Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. L 16 vom 23.1.2004, S. 44).
(37) Richtlinie 2011/51/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 zur Änderung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates zur Erweiterung ihres Anwendungsbereichs auf Personen, die internationalen Schutz genießen (ABl. L 132 vom 19.5.2011, S. 1).
(38) Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung (ABl. L 155 vom 18.6.2009, S. 17).
(39) Ratsdokument 8829/16.
(40) Ratsdokument 9979/16.
(41) Urteil des Gerichtshofs vom 11. Juni 2015, Zh. und O., C-554/13, ECLI:EU:C:2015:377.
(42) Entscheidung 2004/191/EG des Rates vom 23. Februar 2004 zur Festlegung der Kriterien und praktischen Einzelheiten zum Ausgleich finanzieller Ungleichgewichte aufgrund der Anwendung der Richtlinie 2001/40/EG über die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Rückführung von Drittstaatsangehörigen (ABl. L 60 vom 27.2.2004, S. 55).
(43) Richtlinie 2003/110/EG des Rates vom 25. November 2003 über die Unterstützung bei der Durchbeförderung im Rahmen von Rückführungsmaßnahmen auf dem Luftweg (ABl. L 321 vom 6.12.2003, S. 26).
(44) Hinweis: Diese Auslegung bedeutet nicht, dass die unbegleitete Rückführung mit der freiwilligen Ausreise gleichzusetzen ist. Der Begriff „unbegleitete Rückführung“ kann sich auch auf Fälle erzwungener Rückkehr (Abschiebung) ohne polizeiliche Begleitung erstrecken.
COM(2016) 881 final.
(46) Verordnung (EU) 2016/1953 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über die Einführung eines europäischen Reisedokuments für die Rückkehr illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger und zur Aufhebung der Empfehlung des Rates vom 30. November 1994 (ABl. L 311 vom 17.11.2016, S. 13).
(47) Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 60).
(48) Entscheidung 2004/573/EG des Rates vom 29. April 2004 betreffend die Organisation von Sammelflügen zur Rückführung von Drittstaatsangehörigen, die individuellen Rückführungsmaßnahmen unterliegen, aus dem Hoheitsgebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten (ABl. L 261 vom 6.8.2004, S. 28).
(49) Verordnung (EU) 2016/1624 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. September 2016 über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 863/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 des Rates und der Entscheidung 2005/267/EG des Rates (ABl. L 251 vom 16.9.2016, S. 1).
(50) Vereinte Nationen, Übereinkommen über die Rechte des Kindes, 1989.
(51) UNHCR-Unicef, Safe and Sound, 2014, abrufbar unter: http://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain?docid=574fd31f4.
(52) United Nations, General comment No. 14 (2013) on the right of the child to have his or her best interests taken as a primary consideration (Art. 3, para. 1)*, 2013, abrufbar unter: http://www2.ohchr.org/English/bodies/crc/docs/GC/CRC_C_GC_14_ENG.pdf.
(53) UNHCR, Guidelines on Determining the Best Interests of the Child, 2008, http://www.unhcr.org/4566b16b2.pdf.
(54) UNHCR, Field Handbook for the Implementation of UNHCR BID Guidelines, 2011, abrufbar unter: http://www.refworld.org/pdfid/4e4a57d02.pdf.
(55) Europarat, 20 Leitlinien zur Frage der erzwungenen Rückkehr, 2005.
(56) Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen, Age assessment practice in Europe, 2014, abrufbar unter: https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/public/EASO-Age-assessment-practice-in-Europe.pdf. Ein neuer Leitfaden wird derzeit ausgearbeitet.
(57) Vereinte Nationen, Leitlinien für alternative Formen der Betreuung von Kindern, 2010, abrufbar unter: http://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=4c3acd802.
(58) Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II) (ABl. L 381 vom 28.12.2006, S. 4).
(59) KOM(2009) 313 endg.
(60) Urteil des Gerichtshofs vom 17. November 2011, Gaydarov, C-430/10, ECLI:EU:C:2011:749.
(61) Urteil des Gerichtshofs vom 26. Juli 2017, Ouhrami, C-225/16, ECLI:EU:C:2017:590.
(62) Urteil des Gerichtshofs vom 10. September 2013, G. und R., C-383/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:533.
(63) Urteil des Gerichtshofs vom 11. Dezember 2014, Boudjlida, C-249/13, ECLI:EU:C:2014:2431.
(64) Urteil des Gerichtshofs vom 6. November 2014, Mukarubega, C-166/13, ECLI:EU:C:2014:2336.
(65) United Nations, General Comment No. 12 (2009): The right of the child to be heard, 2009, abrufbar unter: http://www.refworld.org/docid/4ae562c52.html.
(66) COM(2015) 285 final.
(67) Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) (ABl. L 243 vom 15.9.2009, S. 1).
(68) Urteil des Gerichtshofs vom 18. Dezember 2014, Abdida, C-562/13, ECLI:EU:C:2014:2453.
(69) Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326 vom 13.12.2005, S. 13), aufgehoben durch die Richtlinie 2013/32/EU.
(70) Urteil des EGMR vom 5. Februar 2002, Conka gegen Belgien, Antrag Nr. 51564/99.
(71) Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31 vom 6.2.2003, S. 18).
(72) Vereinte Nationen, General comment No. 6 (2005): Treatment of Unaccompanied and Separated Children Outside their Country of Origin, 2005, abrufbar unter: http://www.refworld.org/docid/42dd174b4.html.
(73) Urteil des Gerichtshofs vom 5. Juni 2014, Mahdi, C-146/14, ECLI:EU:C:2014:1320.
(74) Urteil des Gerichtshofs vom 30. November 2009, Kadzoev, C-357/09, ECLI:EU:C:2009:741.
(75) UNHCR, Options paper 2: Options for governments on open reception and alternatives to detention, 2015, abrufbar unter: http://www.unhcr.org/protection/detention/5538e53d9/unhcr-options-paper-2-options-governments-open-reception-alternatives-detention.html.
(76) Urteil des Gerichtshofs vom 30. Mai 2013, Arslan, C-534/11, ECLI:EU:C:2013:343.
(77) Ein Überblick über die unterschiedliche Höchsthaftdauer nach nationalem Recht findet sich unter: http://ec.europa.eu/smart-regulation/evaluation/search/download.do?documentId=10737855 (Seiten 44-50). Dieser gibt den Stand von Dezember 2013 wieder; die nationalen Vorschriften sind seither zum Teil geändert worden.
(78) Urteil vom 17. Juli 2014 Bero, C-473/13, und Bouzalmate, C 514/13, ECLI:EU:C:2014:2095.
(79) Urteil des Gerichtshofs vom 17. Juli 2014, Pham, C-474/13, ECLI:EU:C:2014:2096.
(80) UNHCR, Options paper 1: Options for governments on care arrangements and alternatives to detention for children and families, 2015, abrufbar unter: http://www.unhcr.org/553f58509.pdf.
(81) Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, European legal and policy framework on immigration detention of children, 2017, abrufbar unter: http://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2017-immigration-detention-children_en.pdf.
(82) Zur spezifischen Situation der Schweiz, Norwegens, Islands und Liechtensteins siehe die entsprechende Fußnote in Abschnitt 2.