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Amtsblatt
der Europäischen Union

DE

Serie C


C/2023/1270

15.12.2023

Bekanntmachung der Kommission — Handbuch zur ausstellung und Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls

(C/2023/1270)

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis 5
VORWORT 8
EINLEITUNG 9

1.

ÜBERBLICK ÜBER DEN EUROPÄISCHEN HAFTBEFEHL (EUHB) 9

1.1.

Hintergrund des EuHb 9

1.2.

Definition und wesentliche Merkmale des EuHb 9

1.3.

Das EuHb-Formblatt 11

TEIL I:

AUSSTELLUNG EINES EuHB 11

2.

ANFORDERUNGEN AN DIE AUSSTELLUNG EINES EUHB 11

2.1.

Anwendungsbereich des EuHb 11

2.1.1.

Strafverfolgung 12

2.1.2.

Zu den Begriffen der ausstellenden und der vollstreckenden Justizbehörde 12

2.1.3.

Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung 14

2.1.4.

Das Erfordernis einer vollstreckbaren justiziellen Entscheidung 14

2.1.5.

Zum Erfordernis der Sicherstellung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes 16

2.2.

Liste der 32 Arten von Straftaten, die eine Übergabe ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zur Folge haben 17

2.3.

Akzessorische Straftaten 18

2.4.

Verhältnismäßigkeit 18

2.5.

Sonstige von Unionsrechtsakten vorgesehene Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen 19

2.5.1.

Europäische Ermittlungsanordnung (EEA) 20

2.5.2.

Überstellung von Strafgefangenen 21

2.5.3.

Europäische Überwachungsanordnung (EÜA) 22

2.5.4.

Übertragung von Bewährungsentscheidungen und alternativen Sanktionen 22

2.5.5.

Geldstrafen und Geldbußen 23

2.5.6.

Übertragung der Strafverfolgung 23

2.6.

Grundsatz der Spezialität – etwaige Strafverfolgung wegen anderer Straftaten 23

3.

VERFAHREN FÜR DEN ERLASS EINES EUHB 25

3.1.

Andere anhängige Strafverfahren und EuHb gegen dieselbe Person 25

3.1.1.

Im Ausstellungsmitgliedstaat 25

3.1.2.

In einem anderen Mitgliedstaat 26

3.2.

Ausfüllen des EuHb-Formblatts 27

3.2.1.

In allen Fällen notwendige Angaben 27

3.2.2.

Nützliche zusätzliche Informationen der ausstellenden Justizbehörde 27

3.3.

Übermittlung des EuHb 28

3.3.1.

Wenn der Aufenthaltsort der gesuchten Person nicht bekannt ist 28

3.3.2.

Wenn der Aufenthaltsort der gesuchten Person bekannt ist 30

3.3.3.

Übermittlung des EuHb an Mitgliedstaaten, die das SIS nicht nutzen 30

3.4.

Übersetzung des EuHb 30

3.5.

Nach Festnahme der gesuchten Person: Zusammenarbeit und Kommunikation mit den zuständigen Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats 31

TEIL II:

VOLLSTRECKUNG EINES EuHB 31

4.

Verfahren für die Vollstreckung eines EuHb 31

4.1.

Fristen für die Entscheidung über die Vollstreckung des EuHb 31

4.2.

Fristen für die Übergabe der gesuchten Person (nach der Entscheidung über die Vollstreckung des EuHb) 32

4.3.

Übersetzung des EuHb 33

4.4.

Kommunikation zwischen den zuständigen Justizbehörden der Mitgliedstaaten vor der Entscheidung über die Übergabe 33

4.4.1.

Wann sollte Kontakt aufgenommen werden? 33

4.4.2.

Wie sollte Kontakt aufgenommen werden? 34

4.5.

Pflicht der vollstreckenden Justizbehörde, nach der Entscheidung über die Übergabe die ausstellende Justizbehörde zu unterrichten 35

4.5.1.

Unterrichtung über die Übergabeentscheidung 35

4.5.2.

Unterrichtung über die Dauer der Haft 36

4.6.

Inhafthaltung der mit EuHb gesuchten Person im Vollstreckungsmitgliedstaat 37

5.

Entscheidung über die Übergabe 38

5.1.

Allgemeine Pflicht zur Vollstreckung der EuHb 38

5.2.

Bereitstellung von Informationen durch die ausstellende Justizbehörde 38

5.3.

Liste der 32 Arten von Straftaten, die eine Übergabe ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zur Folge haben 39

5.4.

Akzessorische Straftaten 39

5.5.

Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung 40

5.5.1.

Zwingende Ablehnungsgründe 40

5.5.2.

Fakultative Ablehnungsgründe 42

5.6.

Abwesenheitsurteile 47

5.6.1.

Autonome Begriffe des Unionsrechts 49

5.7.

Grundrechtserwägungen der vollstreckenden Justizbehörde 50

5.7.1.

Erwägungen im Zusammenhang mit den Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat 51

5.7.2.

Erwägungen zum Recht der gesuchten Person auf ein faires Verfahren 54

5.8.

Verhältnismäßigkeit – Rolle des Vollstreckungsmitgliedstaats 57

5.9.

Garantien, die der Ausstellungsmitgliedstaat zu gewähren hat 57

5.9.1.

Überprüfung des lebenslangen Freiheitsentzugs 58

5.9.2.

Rücküberstellung von Staatsangehörigen und Gebietsansässigen 58

5.10.

Verhältnis zum Rahmenbeschluss 2008/909/JI über die Überstellung von Häftlingen 59

5.11.

Aufschub und vorübergehende Übergabe 61

5.11.1.

Schwerwiegende humanitäre Gründe 61

5.11.2.

Laufendes Strafverfahren oder Vollstreckung einer Freiheitsstrafe 61

5.11.3.

Vorübergehende Übergabe statt Aufschub 62

5.11.4.

Aufschub der Vollstreckung der Entscheidung über die Übergabe wegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung der gesuchten Person 62

5.12.

Mehrere EuHb gegen dieselbe Person 63

5.12.1.

Entscheidung, welcher EuHb vollstreckt wird 63

5.12.2.

„Parallelverfahren“ 64

6.

Anrechnung der im Vollstreckungsmitgliedstaat verbüßten Haft 64

7.

Grundsatz der Spezialität – Verfahren für den Verzicht auf die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität – Zustimmung der vollstreckenden Justizbehörde 65

8.

Weitere Übergabe 66

8.1.

An den Vollstreckungsmitgliedstaat auf der Grundlage der Dublin-III-Verordnung 66

8.2.

In einen anderen Mitgliedstaat auf der Grundlage eines EuHb 66

8.3.

An einen Drittstaat 67

9.

Verpflichtungen im Verhältnis zu Drittstaaten 67

9.1.

Auslieferungsersuchen eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats 67

9.2.

Gleichzeitiger Eingang von EuHb und Auslieferungsersuchen für dieselbe Person 68

9.2.1.

Ersuchen von Drittstaaten 68

9.2.2.

Ersuchen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) 69

9.3.

Vorherige Auslieferung aus einem Drittstaat und Grundsatz der Spezialität 69

10.

Durchlieferung 69

10.1.

Durchlieferung durch einen anderen Mitgliedstaat 69

10.2.

Staatsangehörige und Gebietsansässige des Durchlieferungsmitgliedstaats 70

10.3.

Auslieferung aus einem Drittstaat an einen Mitgliedstaat 70

11.

Nicht vollstreckte EuHb 70

11.1.

Verhinderung der erneuten Festnahme der Person im selben Mitgliedstaat 70

11.2.

Mitteilung an den Ausstellungsmitgliedstaat 70

11.3.

Prüfung der Aufrechterhaltung oder Aufhebung des EuHb durch die ausstellende Justizbehörde 71

11.4.

Überprüfung von seit Langem bestehenden EuHb im SIS 71

12.

Verfahrensrechte der gesuchten Person 71

12.1.

Recht auf Dolmetschleistung und Übersetzung 72

12.2.

Recht auf Information 72

12.3.

Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand 73

12.4.

Recht auf Benachrichtigung eines Dritten von dem Freiheitsentzug 74

12.5.

Recht auf Kommunikation mit Dritten 74

12.6.

Recht auf Kommunikation mit Konsularbehörden 74

12.7.

Besondere Rechte von Kindern 74

12.8.

Anspruch auf Prozesskostenhilfe 74

12.9.

Recht auf Unschuldsvermutung und Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung 75
ANHANG I 76
EUHB-RAHMENBESCHLUSS, INOFFIZIELLE KONSOLIDIERTE FASSUNG 115
ANHANG II 93
EUHB-FORMBLATT 115
ANHANG III 98
LEITLINIEN FÜR DAS AUSFÜLLEN EINES EuHB-FORMBLATTS 115
ANHANG IV 107
Sprachen, in denen ein euhb von den mitgliedstaaten akzeptiert wird 115
ANHANG V 109
Liste von urteilen des gerichtshofs zum euhb-rahmenbeschluss 115
ANHANG VI 112
Urteile des gerichtshofs zum grundsatz „ne bis in idem“ in strafsachen 115
ANHANG VII 113
Standardformular zu einer euhb-entscheidung 115
ANHANG VIII 115
Liste der Mitgliedstaaten, deren Rechtsordnung die Übergabe wegen Straftaten erlaubt, die mit einem niedrigeren Strafmass bedroht sind als in Artikel 2 Absatz 1 des euhb-Rahmenbeschlusses angegeben, wenn diese taten das merkmal der akzessorietät zu der (den) Haupttat(en) erfüllen 115
ANHANG IX 116
MUSTERBEISPIEL EINER RECHTSBELEHRUNG FÜR PERSONEN, DIE AUF DER GRUNDLAGE EINES EuHB FESTGENOMMENEN WERDEN 115
ANHANG X 117
MUSTER FÜR AUSKUNFTSERSUCHEN ZU DEN HAFTBEDINGUNGEN 115
ANHANG XI 119
EMPFEHLUNG DER KOMMISSION ZU DEN VERFAHRENSRECHTEN VON VERDÄCHTIGEN ODER BESCHULDIGTEN IN UNTERSUCHUNGSHAFT UND ZU DEN MATERIELLEN HAFTBEDINGUNGEN 115
ANHANG XII 133
Bekanntmachung der Kommission – Leitlinien für die Auslieferung an Drittstaaten 115

Abkürzungsverzeichnis

Charta

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

SDÜ

Schengener Durchführungsübereinkommen

ER

Europarat

EuHb

Europäischer Haftbefehl

EMRK

EGMR

EFTA

Europäische Menschenrechtskonvention

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Europäische Freihandelsassoziation (European Free Trade Association)

EEA

Europäische Ermittlungsanordnung

EJN

Europäisches Justizielles Netz

EÜA

Europäische Überwachungsanordnung

FRA

Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (European Union Agency for Fundamental Rights)

EuHb-Rahmenbeschluss

Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten

SIRENE

Antrag auf Zusatzinformationen bei der nationalen Eingangsstelle (Supplementary Information Request at the National Entries)

SIS

Schengener Informationssystem

EUV

Vertrag über die Europäische Union

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Haftungsausschluss:

Dieses Handbuch ist weder rechtsverbindlich noch erschöpfend. Es berührt weder das bestehende Unionsrecht noch seine künftige Entwicklung. Es berührt auch nicht die verbindliche Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof der Europäischen Union.

ERLASS EINES EUROPÄISCHEN HAFTBEFEHLS

Ablauf

(JB = Justizbehörde; MS = Mitgliedstaat)

Image 1

VOLLSTRECKUNG EINES EUROPÄISCHEN HAFTBEFEHLS

Ablauf

(JB = Justizbehörde)

Image 2

VORWORT

Das Europäische Handbuch zum Ausstellen eines Europäischen Haftbefehls (EuHb) wurde erstmals 2008 vom Rat herausgegeben (1) und 2010 überarbeitet (2). Nach Ablauf der im Vertrag von Lissabon vorgesehenen fünfjährigen Übergangsfrist für Rechtsakte (3), die im Rahmen der ehemaligen „dritten Säule“ des Vertrags erlassen worden sind, wozu auch der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (4) (der „EuHb-Rahmenbeschluss“) gehört, hat die Kommission die Aktualisierung und Überarbeitung des Handbuchs übernommen. Bei diesem Handbuch handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des von der Kommission im Jahr 2017 herausgegebenen Handbuchs (5).

In dieses Handbuch sind die Erfahrungen eingeflossen, die in den letzten 20 Jahren in der Union mit der Anwendung des EuHb gemacht wurden. Seit dem Ende der im Vertrag von Lissabon vorgesehenen Übergangsfrist ist die Zahl der Urteile des Gerichtshofs über den EuHb erheblich gestiegen. Zweck dieser Überarbeitung ist es, das Handbuch zu aktualisieren. Dazu wurden neue Urteile aufgenommen, die bis zum 31. Juli 2023 ergangen sind, und bestimmte Probleme behandelt, die sich in der Praxis stellen, z. B. bei den Haftbedingungen. Zur Vorbereitung der neuen Fassung hat die Kommission verschiedene Akteure und Fachkreise, darunter Eurojust, das Sekretariat des Europäischen Justiziellen Netzes und Regierungssachverständige der Mitgliedstaaten, sowie die Justizbehörden konsultiert.

Bei dieser Überarbeitung wurden auch die Ergebnisse der neunten Runde der gegenseitigen Begutachtungen und die Empfehlungen berücksichtigt, die in den Schlussfolgerungen des Rates „Der Europäische Haftbefehl und Auslieferungsverfahren – aktuelle Herausforderungen und weiteres Vorgehen“  (6), dem Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments (7), dem Bericht der Europäischen Kommission über die Umsetzung des Europäischen Haftbefehls (8) und der Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem Europäischen Haftbefehl und den Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (9) ausgesprochen wurden.

Das Handbuch ist im Internet in allen Amtssprachen der Europäischen Union abrufbar unter: https://e-justice.europa.eu.

EINLEITUNG

1.   ÜBERBLICK ÜBER DEN EUROPÄISCHEN HAFTBEFEHL (EUHB)

1.1.   Hintergrund des EuHb

Der Rahmenbeschluss über den EuHb wurde vom Rat am 13. Juni 2002 erlassen und die Mitgliedstaaten mussten ihn bis zum 31. Dezember 2003 in innerstaatliches Recht umsetzen. Seit dem 1. Januar 2004 hat die neue Übergaberegelung somit – mit einigen wenigen Ausnahmen – die Auslieferungsregelungen ersetzt. Was die Übergabeverfahren im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander betrifft, hat der Rahmenbeschluss die diesbezüglichen Bestimmungen der folgenden Übereinkünfte ersetzt:

a)

des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (SEV Nr. 024), des dazugehörigen Zusatzprotokolls vom 15. Oktober 1975 (SEV Nr. 086), des dazugehörigen Zweiten Zusatzprotokolls vom 17. März 1978 (SEV Nr. 098) und des Europäischen Übereinkommens zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Januar 1977 (SEV Nr. 090), soweit es sich auf die Auslieferung bezieht;

b)

des Übereinkommens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vereinfachung und Modernisierung der Verfahren zur Übermittlung von Auslieferungsersuchen vom 26. Mai 1989;

c)

des Übereinkommens vom 10. März 1995 über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (10);

d)

des Übereinkommens vom 27. September 1996 über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (11);

e)

des Titels III Kapitel 4 des Übereinkommens vom 19. Juni 1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (12).

1.2.   Definition und wesentliche Merkmale des EuHb

Der EuHb ist eine in der Union vollstreckbare justizielle Entscheidung, die von einem Mitgliedstaat erlassen und in einem anderen Mitgliedstaat auf der Grundlage des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung vollstreckt wird.

Der EuHb hat das herkömmliche Auslieferungssystem durch einfachere und schnellere Verfahren für die Übergabe gesuchter Personen zu Zwecken der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ersetzt. Ein EuHb kann ausgestellt werden für die Zwecke:

a)

der Strafverfolgung bei Handlungen, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind (während des Ermittlungsverfahrens, des Zwischenverfahrens und des gerichtlichen Hauptverfahrens, bis das Urteil rechtskräftig wird);

b)

der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung von mindestens vier Monaten.

Buchstaben a und b sind nicht kumulativ.

Für Übergabeersuchen gibt es ein einheitliches Formular („EuHb-Formblatt“), sodass es einfacher ist, einen EuHb auszustellen und zu bearbeiten. Vorher muss jedoch unabhängig vom Europäischen Haftbefehl ein nationales vollstreckbares Urteil oder ein nationaler Haftbefehl oder eine vergleichbare justizielle Entscheidung ergangen sein (siehe Abschnitt 2.1.4).

Die zentralen Behörden, die zuvor im Auslieferungsverfahren eine maßgebliche Rolle gespielt haben, sind nunmehr vom Entscheidungsprozess in EuHb-Verfahren ausgeschlossen. Sie können die zuständigen Justizbehörden (siehe Abschnitt 2.1.2) in Bezug auf die Entscheidung über die Ausstellung des EuHb nicht ersetzen (13). Die Mitgliedstaaten können jedoch nach Artikel 7 des EuHb-Rahmenbeschlusses zentrale Behörden zur Unterstützung der Justizbehörden, insbesondere für die Übermittlung und Entgegennahme von EuHb, benennen.

In den Mitgliedstaaten, in denen das Schengen-Informationssystem (SIS) in Betrieb ist (d. h. alle Mitgliedstaaten (14)), spielen die nationalen SIRENE-Büros eine wichtige Rolle im Verfahren des EuHb, wenn eine entsprechende Ausschreibung im SIS veranlasst worden ist. Die Vorschriften und Verfahren für die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei Ausschreibungen zur Festnahme aufgrund eines EuHb sind in den Artikeln 24 bis 31 der Verordnung (EU) 2018/1862 (15) (im Folgenden „SIS-Polizeiverordnung“), in den Kapiteln 6 und 7 des Durchführungsbeschlusses der Kommission zur Festlegung detaillierter Vorschriften für die Aufgaben der SIRENE-Büros (16) (im Folgenden „SIRENE-Handbuch – Polizei“) und im Durchführungsbeschluss der Kommission zur Festlegung der technischen Vorschriften für die Eingabe, Aktualisierung, Löschung und Abfrage von Daten in das SIS (im Folgenden „Durchführungsbeschluss der Kommission über die SIS-Dateneingabe“) (17) festgelegt. Weitere Erläuterungen zum SIS-Ausschreibungsmanagement finden sich im „SIS-Handbuch“  (18).

Der EuHb-Rahmenbeschluss spiegelt den Grundgedanken der Integration in einen gemeinsamen Rechtsraum wider. Er ist das erste Rechtsinstrument, das eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Strafsachen auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung vorsieht. Entscheidungen des Ausstellungsmitgliedstaats sind allein auf Grundlage rechtlicher Kriterien ohne weitere Formalitäten anzuerkennen.

Die Übergabe eigener Staatsangehöriger gilt als Grundsatz und allgemeine Regel, wobei einige wenige Ausnahmen bestehen. Diese Ausnahmen betreffen die Vollstreckung von Freiheitsstrafen und gelten in gleicher Weise auch für Gebietsansässige. In der Praxis betreffen etwa ein Fünftel aller Übergaben in der Union eigene Staatsangehörige.

Die Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung sind grundsätzlich begrenzt und in den Artikeln 3, 4 und 4a des EuHb-Rahmenbeschlusses aufgeführt. Die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit als Grund für die Ablehnung der Vollstreckung oder der Übergabe entfällt bei 32 in Artikel 2 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses aufgeführten Straftaten, wenn diese Straftaten im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind.

Eine Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit ist allerdings nach wie vor möglich, wenn die in Rede stehenden Straftaten nach Ansicht der zuständigen Behörde des Ausstellungsmitgliedstaats nicht von Artikel 2 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses erfasst sind. Wie der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache C-289/15, Grundza (19), festgestellt hat, obliegt es der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, im Zuge der Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit zu überprüfen, ob die der Straftat zugrunde liegenden Sachverhaltselemente als solche auch im Vollstreckungsmitgliedstaat, wenn sie sich in dessen Hoheitsgebiet ereignet hätten, einer strafrechtlichen Sanktion unterliegen würden. In seinem Urteil in der Rechtssache C-168/21, Procureur général près la cour d’appel d’Angers (20), hat der Gerichtshof bestätigt, dass die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit nach Artikel 2 Absatz 4 und Artikel 4 Nummer 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses erfüllt ist, wenn der EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt wird, die für Handlungen verhängt wurde, die im Ausstellungsmitgliedstaat eine Straftat betreffen, die voraussetzt, dass diese Handlungen ein in diesem Mitgliedstaat geschütztes rechtliches Interesse beeinträchtigen, auch wenn die Beeinträchtigung eines entsprechenden rechtlichen Interesses nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats kein Tatbestandsmerkmal darstellt. (siehe Abschnitt 5.3).

Der EuHb-Rahmenbeschluss wurde zum 28. März 2011 durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates (21) dahin geändert, dass Artikel 5 Nummer 1 gestrichen und ein neuer Artikel 4a über Entscheidungen eingefügt wurde, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich erschienen ist (Abwesenheitsurteil).

1.3.   Das EuHb-Formblatt

Der EuHb ist eine justizielle Entscheidung, die in der im Anhang des EuHb-Rahmenbeschlusses vorgegebenen Form ausgestellt wird. Das Formblatt liegt in allen Amtssprachen der Union vor. Nur dieses Formblatt darf verwendet werden. Es darf nicht verändert werden. Der Rat wollte den Justizbehörden mit dem leicht auszufüllenden und leicht anzuerkennenden Formblatt eine Arbeitshilfe zur Verfügung stellen.

Durch die Verwendung des Formblatts werden zeitaufwendige und kostspielige Übersetzungen vermieden und die Angaben leichter zugänglich gemacht. Da das Formblatt prinzipiell die einzige Grundlage für die Festnahme und die spätere Übergabe der gesuchten Person ist, sollte es mit besonderer Sorgfalt ausgefüllt werden, damit unnötige Ersuchen um zusätzliche Angaben vermieden werden.

Das Formblatt kann entweder direkt online mithilfe des Kompendium-Assistenten auf der Website des Europäischen Justiziellen Netzes (EJN) (https://www.ejn-crimjust.europa.eu/ejn/EJN_Compendium/EN/ff/EAW) ausgefüllt oder als Word-Datei aus dem EuHb-Bereich der Justiz-Bibliothek der EJN-Website (https://www.ejn-crimjust.europa.eu) heruntergeladen werden; bitte besuchen Sie die Justiz-Bibliothek ☐ Legal Framework ☐ EU Judicial Cooperation ☐ European Arrest Warrant ☐ EAW Forms). Die Formulare stehen in allen Amtssprachen der EU zur Verfügung.

Mit dem Kompendium ist das Ausfüllen genauso einfach wie in einer Word-Datei, aber es bietet darüber hinaus eine Reihe moderner, nützlicher und benutzerfreundlicher Funktionen wie:

a)

die Möglichkeit, die zuständige vollstreckende Justizbehörde direkt aus dem EJN-Gerichtsatlas zu übernehmen;

b)

das Formblatt in einer der vom Vollstreckungsmitgliedstaat akzeptierten Sprachenaufzurufen sowie

c)

das Formblatt abzuspeichern und per E-Mail zu versenden.

TEIL I:   AUSSTELLUNG EINES EuHB

2.   ANFORDERUNGEN AN DIE AUSSTELLUNG EINES EUHB

2.1.   Anwendungsbereich des EuHb

Eine Justizbehörde kann einen EuHb zu folgenden Zwecken ausstellen (Artikel 1 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses):

a)

Strafverfolgung; oder

b)

Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung.

Buchstabe a betrifft Strafverfahren, die eine strafrechtliche Verfolgung der gesuchten Person zulassen (siehe Abschnitt 2.1.1).

Buchstabe b betrifft von einem Gericht wegen einer Straftat verhängte vollstreckbare Freiheitsstrafen oder freiheitsentziehende Maßregeln der Sicherung (siehe Abschnitt 2.1.3). Ein EuHb kann nicht für alle Straftaten ausgestellt werden, sondern, wie weiter unten im Einzelnen ausgeführt wird, nur für hinreichend schwere Straftaten.

Ein EuHb kann nur von einer Justizbehörde ausgestellt werden, die den Begriff der Justizbehörde im Sinne des Rahmenbeschlusses erfüllt (siehe Abschnitt 2.1.2), und erst nach Erlass einer vollstreckbaren innerstaatlichen justiziellen Entscheidung (siehe Abschnitt 2.1.4). Entweder diese nationale Entscheidung oder die Entscheidung über die Ausstellung des EuHb muss den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz vor der Übergabe der gesuchten Person durch den Vollstreckungsmitgliedstaat genügen (siehe Abschnitt 2.1.5). Die ausstellenden Justizbehörden müssen prüfen, ob die Ausstellung eines EuHb im konkreten Fall verhältnismäßig wäre (siehe Abschnitt 2.4). Darüber hinaus wird ihnen empfohlen, zu prüfen, ob nicht mit weniger einschneidenden Maßnahmen des Unionsrechts ein angemessenes Ergebnis erreicht werden kann (siehe Abschnitt 2.5).

2.1.1.   Strafverfolgung

Ein EuHb kann zur strafrechtlichen Verfolgung von Handlungen erlassen werden, die nach innerstaatlichem Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind (Artikel 2 Absatz 1).

Es handelt sich hierbei um das im nationalen Recht des Ausstellungsmitgliedstaats vorgeschriebene Höchstmaß der Strafe. Das Strafhöchstmaß im Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats ist unbeachtlich.

Beschluss des Gerichtshofs in der Rechtssache C-463/15 PPU, Openbaar Ministerie gegen A (22).:

„Die Art. 2 Abs. 4 und 4 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates … sind dahin auszulegen, dass sie es nicht gestatten, die Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht nur davon abhängig zu machen, dass die Handlung, derentwegen dieser Haftbefehl ausgestellt wurde, eine Straftat nach dem Recht dieses Mitgliedstaats darstellt, sondern auch davon, dass sie nach dem Recht dieses Staates mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht ist.“

Die „Strafverfolgung“ umfasst zwar auch die vorgerichtliche Phase des Strafverfahrens, doch dient der EuHb nicht der Überstellung von Personen allein zum Zwecke ihrer Vernehmung als Beschuldigte. Hierfür kommen andere Instrumente wie die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA) in Betracht. In Abschnitt 2.5 wird kurz auf andere Maßnahmen der justiziellen Zusammenarbeit eingegangen.

2.1.2.   Zu den Begriffen der ausstellenden und der vollstreckenden Justizbehörde

Nach Artikel 6 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses ist die ausstellende Justizbehörde die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines EuHb zuständig ist. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der betraute Delegierte Europäische Staatsanwalt gemäß Artikel 33 der Verordnung (EU) 2017/1939 einen Europäischen Haftbefehl im Einklang mit dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates erlassen oder die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats um Erlass eines Europäischen Haftbefehls ersuchen kann, wenn die Festnahme und Übergabe einer Person erforderlich ist, die sich nicht in dem Mitgliedstaat aufhält (23).

Der Gerichtshof hat in seinen Urteilen in der Rechtssache C-452/16 PPU, Poltorak (24), und der Rechtssache C-477/16 PPU, Kovalkovas (25), darauf hingewiesen, dass der EuHb nach Artikel 1 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses eine „justizielle Entscheidung“ darstellt, die von einer „Justizbehörde“ im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses zu treffen ist (26).

Der Gerichtshof hat entschieden, dass sich der Begriff „Justizbehörde“ in Artikel 6 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses nicht auf die Richter oder Gerichte eines Mitgliedstaats beschränkt. Er kann auch im weiteren Sinne die Behörden erfassen, die in dem betreffenden Rechtssystem an der Strafrechtspflege mitwirken, im Unterschied zu Ministerien oder Polizeibehörden, die zur Exekutive gehören.

So hat der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache C-509/18, PF (27) entschieden, dass der Generalstaatsanwalt eines Mitgliedstaats, der als eine strukturell von der Judikative unabhängige Stelle für die Verfolgung von Straftaten zuständig ist und dessen Status in diesem Mitgliedstaat ihm eine Gewähr für die Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive im Rahmen der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls verschafft, als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses angesehen werden kann.

Zudem hat der Gerichtshof hat in seinem Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-508/18 und C-82/19 PPU, OG und PI (28), entschieden, dass bei Staatsanwaltschaften, die im Rahmen des Strafverfahrens befugt sind, eine einer Straftat verdächtige Person zu verfolgen, davon auszugehen ist, dass sie im betreffenden Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirken, sie aber nur dann als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses angesehen werden können, wenn sie nicht der Gefahr ausgesetzt sind, im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines EuHb unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive, etwa eines Justizministers, unterworfen zu werden.

Nach dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-489/19, NJ (29), ist der Begriff des EuHb im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 dahin auszulegen, dass die von den Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaats ausgestellten EuHb unter diesen Begriff fallen, auch wenn die Staatsanwaltschaften im Rahmen der Ausstellung dieser Haftbefehle unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen der Exekutive, etwa eines Justizministers, unterworfen werden können, sofern zwingend vorgeschrieben ist, dass die Haftbefehle, bevor sie von den Staatsanwaltschaften übermittelt werden können, von einem Gericht bewilligt werden, das Zugang zur gesamten, etwaige Anordnungen oder Einzelweisungen der Exekutive enthaltenden Ermittlungsakte hat, das in unabhängiger und objektiver Weise prüft, ob die Voraussetzungen für die Ausstellung der Haftbefehle vorliegen und ob sie verhältnismäßig sind, und das damit eine eigenständige Entscheidung trifft, die den Haftbefehlen ihre endgültige Form gibt.

In den verbundenen Rechtssachen C-566/19 PPU und C-626/19 PPU, JR und YC (30), hat der Gerichtshof bestätigt, dass unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ die Beamten der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats fallen, die mit der Strafverfolgung betraut sind und der Leitung und Kontrolle ihrer Vorgesetzten unterliegen, sofern ihnen ihr Status eine Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive im Rahmen der Ausstellung eines EuHb verschafft. Dies wurde vom Gerichtshof in der Rechtssache C-813/19 PPU, MN (31), bekräftigt.

Wie der Gerichtshof in der Rechtssache C-414/20 PPU, MM (32), hervorgehoben hat, ist Artikel 6 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass die Eigenschaft als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne dieser Bestimmung nicht davon abhängt, dass die Entscheidung über den Erlass des EuHb und die nationale Entscheidung, auf die er sich bezieht, einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt nämlich, wenn ein EuHb von einer anderen Behörde als einem Gericht ausgestellt wird, das Bestehen einer gerichtlichen Kontrolle keine Voraussetzung dafür dar, dass diese Behörde als ausstellende Justizbehörde angesehen werden kann, da die gerichtliche Kontrolle nicht unter die Rechts- und Organisationsvorschriften dieser Behörde fällt, sondern das Verfahren der Ausstellung eines EuHb betrifft (33).

In den verbundenen Rechtssachen C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, L und P (34), hat der Gerichtshof ferner entschieden, dass systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats, so gravierend sie auch sein mögen, nicht ausreichen, um eine vollstreckende Justizbehörde zu der Annahme zu berechtigen, dass kein einziges Gericht dieses Mitgliedstaats unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses falle.

Im Übrigen hat der Gerichtshof in der Rechtssache C-158/21, Puig Gordi u. a (35)., entschieden, dass die vollstreckende Justizbehörde nicht überprüfen darf, ob ein EuHb von einer dafür zuständigen Justizbehörde ausgestellt wurde, und die Vollstreckung dieses EuHb nicht ablehnen darf, wenn dies ihres Erachtens nicht der Fall ist.

In Artikel 6 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses ist festgelegt, dass die vollstreckende Justizbehörde die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats ist, die nach dem Recht dieses Staats zuständig für die Vollstreckung des EuHb ist.

Der Gerichtshof hat in der Rechtssache C-510/19, AZ (36), bestätigt, dass der Begriff „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Artikel 6 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses genauso auszulegen ist wie der Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 dieses Rahmenbeschlusses.

In der Rechtssache C-492/22 PPU, CJ (37), hat der Gerichtshof klargestellt, dass Artikel 24 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass die Entscheidung über die Aufschiebung der Übergabe eine Entscheidung über die Vollstreckung eines EuHb darstellt, die nach Artikel 6 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses von der vollstreckenden Justizbehörde zu treffen ist.

In der Rechtssache C-804/21 PPU, C und CD (38), hat der Gerichtshof ferner klargestellt, dass das Tätigwerden der vollstreckenden Justizbehörde dahin, dass diese prüft, ob ein Fall höherer Gewalt vorliegt, und gegebenenfalls ein neues Übergabedatum festlegt, nicht einer Polizeidienststelle des Vollstreckungsmitgliedstaats übertragen werden kann. Die Feststellung eines Falles höherer Gewalt durch die Polizeibehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats und die anschließende Festlegung eines neuen Übergabedatums ohne Tätigwerden der vollstreckenden Justizbehörde genügen nämlich nicht den förmlichen Anforderungen gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584, und zwar unabhängig davon, ob dieser Fall höherer Gewalt tatsächlich vorliegt. Folglich können unter diesen Umständen die in Artikel 23 Absätze 2 bis 4 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen nicht wirksam nach Absatz 3 verlängert werden.

2.1.3.   Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung

Ein EuHb kann zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung von mindestens vier Monaten erlassen werden (Artikel 2 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Ist jedoch nur noch eine kurze Reststrafzeit zu verbüßen, müssen die zuständigen Justizbehörden prüfen, ob der Erlass eines EuHb verhältnismäßig ist (siehe Abschnitt 2.4).

Innerstaatliche Vorschriften über eine vorzeitige oder bedingte Entlassung, eine Strafaussetzung zur Bewährung oder ähnliche Vorschriften, die eine kürzere effektive Haftzeit zur Folge haben und nach der Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat Anwendung finden können, sind für die Bestimmung der Mindestzeit von vier Monaten unbeachtlich.

Es besteht kein Zusammenhang zwischen der tatsächlichen und der möglichen Haftdauer. Ist eine Person beispielsweise wegen mehrerer Straftaten zu einer Gesamtstrafe von mindestens vier Monaten verurteilt worden, kann der EuHb ungeachtet der für jede einzelne Straftat geltenden möglichen Höchststrafe erlassen werden.

Ist bekannt, dass die Person in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, sollten die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats die Möglichkeit prüfen, die vollstreckbare Strafe auf den Wohnsitzmitgliedstaat zu übertragen, statt einen EuHb zu erlassen. Bei dieser Prüfung sollten die sozialen Bindungen der Person und ihre Chancen auf eine bessere Rehabilitation sowie andere Anforderungen nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (39) berücksichtigt werden (siehe Abschnitt 2.5.2).

2.1.4.   Das Erfordernis einer vollstreckbaren justiziellen Entscheidung

Vor Erlass des EuHb müssen sich die ausstellenden Justizbehörden stets vergewissern, dass eine vollstreckbare justizielle Entscheidung vorliegt. Wie diese Entscheidung im Einzelnen beschaffen sein muss, hängt vom Zweck des EuHb ab.

Wird der EuHb zum Zwecke der Strafverfolgung erlassen, muss von den zuständigen Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats vorher ein nationaler Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung erlassen worden sein (Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe c des EuHb-Rahmenbeschlusses). Der nationale Haftbefehl oder die vollstreckbare justizielle Entscheidung ist, wie der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache C-241/15, Bob-Dogi (40), bestätigt hat, nicht mit dem EuHb identisch.

Der Gerichtshof befand in Rechtssache C-241/15, Bob-Dogi, dass das System des EuHb einen zweistufigen Schutz der Verfahrens- und Grundrechte enthält, der der gesuchten Person zugutekommen muss – der gerichtliche Schutz auf der ersten Stufe beim Erlass einer nationalen justiziellen Entscheidung (wie z. B. eines nationalen Haftbefehls) und der Schutz, der auf der zweiten Stufe bei der Ausstellung des EuHb zu gewährleisten ist. An diesem zweistufigen gerichtlichen Schutz fehlt es prinzipiell, wenn vor der Ausstellung eines EuHb keine durch eine nationale Justizbehörde getroffene innerstaatliche Entscheidung, auf die sich der EuHb stützt, ergangen ist.

Der Begriff der (nicht mit dem EuHb identischen) „justiziellen Entscheidung“ im Sinne von Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe c des EuHb-Rahmenbeschlusses ist vom Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache C-453/16 PPU, Özçelik (41), weiter dahin präzisiert worden, dass die Bestätigung eines nationalen Haftbefehls, der zuvor von einer Polizeibehörde erlassen wurde und Grundlage des EuHb bildet, durch die Staatsanwaltschaft eine „justizielle Entscheidung“ darstellt.

Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-453/16 PPU, Özçelik:

„Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates … ist dahin auszulegen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bestätigung eines zuvor von einer Polizeibehörde zur Strafverfolgung erlassenen nationalen Haftbefehls durch die Staatsanwaltschaft eine ‚justizielle Entscheidung‘ im Sinne dieser Vorschrift darstellt.“

In seinem Urteil in der Rechtssache C-414/20, MM (42), hat der Gerichtshof weiter ausgeführt, welche Bedeutung dem Begriff „[nationaler] Haftbefehl oder … andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung“ beizumessen ist:

„[Ein] nationaler Rechtsakt, der einem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, [muss] auch dann, wenn er in den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats nicht als ‚nationaler Haftbefehl‘ bezeichnet wird, gleichwertige Rechtswirkungen erzeugen, d. h. die einer Anordnung der Suche und Festnahme der strafrechtlich verfolgten Person … Dieser Begriff erfasst somit nicht alle Rechtsakte, mit denen Strafverfolgungsmaßnahmen gegen eine Person eingeleitet werden, sondern nur solche, die mit einer justiziellen Zwangsmaßnahme die Festnahme dieser Person ermöglichen sollen, um sie zwecks Vornahme strafverfahrensrechtlicher Handlungen einem Richter vorzuführen.“

Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof entschieden, dass es Sache des nationalen Gerichts des Ausstellungsmitgliedstaats ist, nach seinem nationalen Recht zu entscheiden, welche Folgen das Fehlen eines gültigen nationalen Haftbefehls als Rechtsgrundlage des EuHb für die Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft der bereits übergebenen Person haben kann.

Wird der EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung erlassen, muss zuvor ein vollstreckbares innerstaatliches Urteil ergangen sein. In manchen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen kann ein EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bereits ausgestellt werden, obwohl der Strafausspruch nicht rechtskräftig ist und noch gerichtlich nachgeprüft werden kann. In anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen kann ein EuHb dieser Art erst dann ausgestellt werden, wenn die Freiheitsstrafe oder die freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung rechtskräftig ist. Es wird empfohlen, dass die vollstreckende Justizbehörde zwecks Vollstreckung des EuHb die rechtliche Würdigung der ausstellenden Justizbehörde anerkennt, auch wenn sie in dieser Hinsicht nicht ihrem eigenen Rechtssystem entspricht.

Das Vorliegen der innerstaatlichen justiziellen Entscheidung muss im EuHb-Formblatt beim Erlass des EuHb angegeben werden (Artikel 8 Absatz l Buchstabe c des EuHb-Rahmenbeschlusses und Abschnitt 3.2). Die Entscheidung oder der Haftbefehl braucht dem EuHb nicht beigefügt zu werden.

In der Rechtssache C-488/19, JR (43), hat der Gerichtshof klargestellt, dass ein EuHb auf der Grundlage einer justiziellen Entscheidung des Ausstellungsmitgliedstaats ausgestellt werden kann, mit der die Vollstreckung einer von einem Gericht eines Drittstaats verhängten Strafe in diesem Mitgliedstaat angeordnet wird, wenn das fragliche Urteil in Anwendung eines bilateralen Abkommens zwischen diesen Staaten durch eine Entscheidung eines Gerichts des Ausstellungsmitgliedstaats anerkannt wurde. Die Ausstellung des EuHb ist jedoch an zwei Bedingungen geknüpft: (i) Die gesuchte Person ist zu einer Freiheitsstrafe von mindestens vier Monaten verurteilt worden; und (ii) das Verfahren, das zum Erlass des später im Ausstellungsmitgliedstaat anerkannten Urteils im Drittstaat geführt hat, hat die Grundrechte und insbesondere die sich aus den Artikeln 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: „Charta“) ergebenden Verpflichtungen gewahrt.

2.1.5.   Zum Erfordernis der Sicherstellung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes

In seinem Urteil in der Rechtssache C-241/15, Bob-Dogi (44), bestätigte der Gerichtshof, dass das EuHb-System einen zweistufigen Schutz für Verfahrens- und Grundrechte enthält, insbesondere im Hinblick auf Artikel 47 der Charta, der der gesuchten Person zugutekommen muss (siehe Abschnitt 2.1.4). Neben dem gerichtlichen Schutz auf der ersten Stufe beim Erlass einer nationalen justiziellen Entscheidung wie eines nationalen Haftbefehls kommt der Schutz hinzu, der auf der zweiten Stufe bei der Ausstellung des EuHb zu gewährleisten ist.

In seinen Urteilen in den verbundenen Rechtssachen C-508/18 und C-82/19 PPU, OG und PI (45), sowie in der Rechtssache C-509/18, PF (46), hat der Gerichtshof entschieden, dass dieser Schutz impliziert, dass zumindest auf einer seiner beiden Stufen eine Entscheidung erlassen wird, die den einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen genügt. Der Gerichtshof hat entschieden, dass, wenn nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats für die Ausstellung eines EuHb eine Behörde zuständig ist, die in diesem Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt, aber selbst kein Gericht ist, in dem Mitgliedstaat die Entscheidung über die Ausstellung eines solchen Haftbefehls und insbesondere ihre Verhältnismäßigkeit in einer Weise gerichtlich überprüfbar sein muss, die den Erfordernissen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes voll und ganz genügt.

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass eine Person, gegen die ein EuHb zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, vor ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat über einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verfügen muss, und zwar zumindest auf einer der beiden von dieser Rechtsprechung geforderten Stufen des Schutzes.

In seinen Urteilen in den verbundenen Rechtssachen C-566/19 PPU und C-626/19 PPU, JR und YC (47), sowie in der Rechtssache C-625/19 PPU, XD (48), hat der Gerichtshof entschieden, dass die Aufnahme von Verfahrensvorschriften in die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats, wonach die Verhältnismäßigkeit der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, einen EuHb auszustellen, vor oder fast zeitgleich zum Erlass des EuHb und in jedem Fall nach seinem Erlass einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen werden kann, dem Erfordernis eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes genügt. In den Rechtssachen, in denen diese Urteile ergangen sind, beruhte diese Feststellung auf dem Bestehen einer Reihe von Verfahrensvorschriften, die die Beteiligung eines Gerichts ab dem Zeitpunkt der Ausstellung des nationalen Haftbefehls gegen die gesuchte Person und damit vor der Übergabe der gesuchten Person sicherstellten.

In der Rechtssache C-625/19 PPU, XD (49), hat der Gerichtshof entschieden, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, darauf zu achten, dass ihre Rechtsordnungen das Rechtsschutzniveau, wie es vom Rahmenbeschluss in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs gefordert wird, mittels von ihnen umgesetzten Rechtsbehelfen, die von System zu System unterschiedlich sein können, wirksam garantieren. Insbesondere ist die Einrichtung eines gesonderten Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung zum Erlass eines Europäischen Haftbefehls, die von einer Justizbehörde, die kein Gericht ist, getroffen wurde, insoweit nur eine Möglichkeit.

In der Rechtssache C-414/20, MM (50), stellte der Gerichtshof jedoch klar, dass der EuHb-Rahmenbeschluss zwar den nationalen Behörden entsprechend ihrer Verfahrensautonomie ein Ermessen hinsichtlich der konkreten Modalitäten für die Erreichung der mit ihm verfolgten Ziele einräumt, insbesondere in Bezug auf die Möglichkeit, gegen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem EuHb einen Rechtsbehelf bestimmter Art vorzusehen, die Mitgliedstaaten gleichwohl darauf achten müssen, dass die sich aus diesem Rahmenbeschluss ergebenden Anforderungen, insbesondere hinsichtlich des ihm zugrunde liegenden gerichtlichen Rechtsschutzes, nicht vereitelt werden. Wenn das Verfahrensrecht des Ausstellungsmitgliedstaats keinen gesonderten Rechtsbehelf vorsieht, der es ermöglicht, die Voraussetzungen für den Erlass des EuHb und seine Verhältnismäßigkeit gerichtlich prüfen zu lassen, weder vor oder zeitgleich zu seinem Erlass noch später, ist der EuHb-Rahmenbeschluss im Licht des durch Artikel 47 der Charta garantierten Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz dahin auszulegen, dass ein Gericht, das in einem zeitlich nach der Übergabe der gesuchten Person liegenden Stadium des Strafverfahrens zu entscheiden hat, die Voraussetzungen für den Erlass dieses Haftbefehls inzident prüfen können muss, wenn dessen Gültigkeit vor ihm bestritten wird.

In der Rechtssache C-648/20, PI (51), hat der Gerichtshof entschieden, dass Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe c des EuHb-Rahmenbeschlusses im Licht von Artikel 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Anforderungen an den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, der einer Person zugutekommen muss, gegen die ein EuHb zur Strafverfolgung besteht, nicht erfüllt sind, wenn sowohl der EuHb als auch die ihm zugrunde liegende justizielle Entscheidung von einem Staatsanwalt, der als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 des Rahmenbeschlusses eingestuft werden kann, ausgestellt werden, beide aber vor der Übergabe der gesuchten Person durch den Vollstreckungsmitgliedstaat keiner gerichtlichen Kontrolle im Ausstellungsmitgliedstaat unterzogen werden können.

Eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidung eines Staatsanwalts über die Ausstellung eines EuHb, die erst nach der Übergabe der gesuchten Person erfolgt, genügt nicht der Verpflichtung des Ausstellungsmitgliedstaats, Verfahrensvorschriften umzusetzen, die es einem Gericht ermöglichen, vor dieser Übergabe die Rechtmäßigkeit des nationalen Haftbefehls, wenn er von einem Staatsanwalt erlassen wurde, oder des EuHb zu überprüfen.

Wird ein EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt, hat der Gerichtshof in der Rechtssache C-627/19 PPU, ZB (52), entschieden, dass ein solcher Haftbefehl, wie sich aus Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe c und f des EuHb-Rahmenbeschlusses ergibt, auf einem vollstreckbaren Urteil beruht, mit dem gegen die betroffene Person eine Freiheitsstrafe verhängt wird und mit dem die Unschuldsvermutung, die ihr zugutekommt, in einem gerichtlichen Verfahren widerlegt wird, das den Anforderungen des Artikel 47 der Charta genügen muss. In einer solchen Situation wird die gerichtliche Kontrolle, auf die im Urteil OG und PI (53) verwiesen wird und die der Notwendigkeit Rechnung trägt, der Person, die auf der Grundlage eines zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten EuHb gesucht wird, einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu garantieren, durch das vollstreckbare Urteil verwirklicht. Wenn ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe erlassen wird, ergibt sich seine Verhältnismäßigkeit zudem aus der Verurteilung, die, wie aus Artikel 2 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses hervorgeht, in einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt, bestehen muss.

2.2.   Liste der 32 Arten von Straftaten, die eine Übergabe ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zur Folge haben3.1.

Vor Erlass des EuHb sollte die zuständige Justizbehörde prüfen, ob die Straftat(en) einer der 32 Arten von Straftaten zuzuordnen ist (sind), bei denen das Vorliegen der beiderseitigen Strafbarkeit nicht zu überprüfen ist. Die Liste der Straftaten findet sich in Artikel 2 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses sowie im EuHb-Formblatt, in dem die infrage kommenden Straftaten „anzukreuzen“ sind.

Maßgeblich ist das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats. Dieser Grundsatz wurde vom Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache C-303/05, Advocaten voor de Wereld (54), bestätigt. Danach verstößt Artikel 2 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses weder gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen noch gegen den Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung.

Die vollstreckende Justizbehörde darf nur bei Straftaten, die nicht in der Liste aufgeführt sind, das Vorliegen der beiderseitigen Strafbarkeit prüfen (siehe auch Abschnitt 5.3).

2.3.   Akzessorische Straftaten

Das Europäische Auslieferungsübereinkommen von 1957 enthält eine Bestimmung zu akzessorischen Straftaten:

„Artikel 2

Auslieferungsfähige strafbare Handlungen

1.   Ausgeliefert wird wegen Handlungen, die sowohl nach dem Recht des ersuchenden als auch nach dem des ersuchten Staates mit einer Freiheitsstrafe oder die Freiheit beschränkenden Maßregel der Sicherung und Besserung im Höchstmaß von mindestens einem Jahr oder mit einer schwereren Strafe bedroht sind. Ist im Hoheitsgebiet des ersuchenden Staates eine Verurteilung zu einer Strafe erfolgt oder eine Maßregel der Sicherung und Besserung angeordnet worden, so muss deren Maß mindestens vier Monate betragen.

2.   Betrifft das Auslieferungsersuchen mehrere verschiedene Handlungen, von denen jede sowohl nach dem Recht des ersuchenden als auch nach dem des ersuchten Staates mit einer Freiheitsstrafe oder die Freiheit beschränkenden Maßregel der Sicherung und Besserung bedroht ist, einige aber die Bedingung hinsichtlich des Strafmaßes nicht erfüllen, so ist der ersuchte Staat berechtigt, die Auslieferung auch wegen dieser Handlungen zu bewilligen.“

Im EuHb-Rahmenbeschluss gibt es keine vergleichbare Bestimmung. Die Übergabe wegen einer Straftat, die mit einem niedrigeren Strafmaß als in Artikel 2 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses bedroht ist, ist nicht geregelt, soweit es sich um eine akzessorische Straftat handelt und die Haupttat die Anforderungen dieses Rahmenbeschlusses an das Strafmaß erfüllt. In der Praxis lassen einige Mitgliedstaaten die Übergabe in solchen Fällen zu, andere hingegen nicht.

In Anhang VIII sind die Mitgliedstaaten aufgeführt, deren Rechtsordnung die Möglichkeit einer Übergabe wegen akzessorischer Straftaten vorsieht.

Die ausstellende Justizbehörde kann akzessorische Straftaten im EuHb-Formblatt angeben, um die Einwilligung des Vollstreckungsmitgliedstaats zur Verfolgung dieser Straftaten zu erlangen. Mindestens eine Straftat, für die der EuHb erlassen wird, muss jedoch stets dem Strafmaß in Artikel 2 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses entsprechen.

Lässt der Vollstreckungsmitgliedstaat eine Übergabe wegen akzessorischer Straftaten nicht zu, könnte der Grundsatz der Spezialität (Artikel 27 des EuHb-Rahmenbeschlusses) den Ausstellungsmitgliedstaat an der Verfolgung dieser Straftaten hindern (siehe Abschnitt 2.6).

2.4.   Verhältnismäßigkeit

Ein EuHb muss stets in einem angemessenen Verhältnis zu seinem Zweck stehen. Selbst wenn die Umstände des Falles in den Anwendungsbereich von Artikel 2 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses fallen, hat der Gerichtshof in den verbundenen Rechtssachen C-508/18 und C-82/19 PPU, OG und PI (55), sowie in der Rechtssache C-414/20, MM (56), entschieden, dass die ausstellenden Justizbehörden unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls – unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Gesichtspunkte – zu prüfen haben, ob die Ausstellung des EuHb verhältnismäßig ist (siehe auch Abschnitt 2.1.5).

Der Gerichtshof hat in der Rechtssache C-627/19 PPU, ZB (57), entschieden, dass, wenn ein EuHb zur Vollstreckung einer Strafe erlassen wird, sich seine Verhältnismäßigkeit aus der Verurteilung ergibt, die, wie aus Artikel 2 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses hervorgeht, in einer Strafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt, bestehen muss.

Angesichts der schwerwiegenden Folgen, die sich aus der Vollstreckung eines EuHb hinsichtlich der persönlichen Freiheit der gesuchten Person ergeben, sowie der Beschränkungen der Freizügigkeit, sollten die ausstellenden Justizbehörden vor der Ausstellung eines EuHb anhand einer Reihe von Kriterien prüfen, ob es gerechtfertigt ist, einen EuHb auszustellen.

Dabei könnten insbesondere folgende Kriterien herangezogen werden:

a)

die Schwere der Straftat (beispielsweise die dadurch verursachte Schädigung oder Gefährdung);

b)

die zu erwartende Strafe, falls die Person der ihr zur Last gelegten Tat für schuldig befunden wird (beispielsweise ob eine Freiheitsstrafe zu erwarten ist);

c)

die Wahrscheinlichkeit, dass die Person nach ihrer Übergabe im Ausstellungsmitgliedstaat in Haft genommen wird;

d)

die Interessen der Opfer der Straftat.

Des Weiteren sollten die ausstellenden Justizbehörden prüfen, ob anstelle des EuHb nicht andere Maßnahmen der justiziellen Zusammenarbeit genutzt werden könnten. Andere Unionsrechtsinstrumente im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sehen eine Reihe anderer Maßnahmen vor, die in vielen Fällen effektiv, aber weniger einschneidend sind (siehe Abschnitt 2.5).

Ganz allgemein ist die Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass eines EuHb dazu angetan, das Vertrauen der mitgliedstaatlichen Behörden untereinander zu stärken. Eine solche Prüfung trägt daher wesentlich zur effektiven Verwendung des EuHb in der Union bei.

2.5.   Sonstige von Unionsrechtsakten vorgesehene Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen

Vor Erlass eines EuHb sollten die ausstellenden Justizbehörden andere Möglichkeiten sorgfältig prüfen.

Es gibt im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mehrere von Unionsrechtsakten vorgesehene Maßnahmen, die auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhen und den EuHb ergänzen. In manchen Fällen können diese Instrumente zweckmäßiger sein als der EuHb. Hierzu gehören insbesondere:

a)

die Europäische Ermittlungsanordnung;

b)

die Überstellung von Strafgefangenen;

c)

die Übertragung von Bewährungsentscheidungen und alternativen Sanktionen;

d)

die Europäische Überwachungsanordnung;

e)

die Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen.

Der Anwendungsbereich dieser Maßnahmen wird kurz in den Abschnitten 2.5.1 bis 2.5.5 erläutert. Die zuständigen Behörden können darüber hinaus die Möglichkeiten nutzen, die andere internationale Instrumente wie das Übereinkommen des Europarats über die Übertragung der Strafverfolgung vom 15. Mai 1972 (SEV Nr. 073) bieten (Näheres dazu in Abschnitt 2.5.6).

Weitere Informationen über die praktische Anwendung der Unionsrechtsinstrumente im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen finden sich auf der EJN-Website: www.ejn-crimjust.europa.eu.

Zu jedem Rechtsinstrument finden sich in der Justiz-Bibliothek der EJN-Website umfassende, nützliche Informationen, darunter die im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten Texte, Änderungsrechtsakte, Stand der Umsetzung, Formulare im Word-Format, Bekanntmachungen, Erklärungen, Berichte, Handbücher und sonstige praktische Hinweise. Um leichter auf die Unionsrechtsinstrumente für die justizielle Zusammenarbeit und den Stand ihrer Umsetzung in den Mitgliedstaaten zugreifen zu können, gibt es auf der Startseite der EJN-Website separate Zugangsmöglichkeiten (Shortcuts).

In der vorgerichtlichen Phase des Strafverfahrens kommen unter anderem folgende Maßnahmen in Betracht:

a)

Ausschreibung im SIS zum Zweck der verdeckten Kontrolle – verdecktes Sammeln möglichst vieler Informationen über den Aufenthaltsort der verdächtigen Person, den Ort, den Zeitpunkt und den Grund der Kontrolle, die Route, den Bestimmungsort, die Begleitpersonen und die Sachen der verdächtigen Person (Ausschreibungen zur verdeckten Kontrolle können gemäß Artikel 36 SIS-Polizeiverordnung erstellt werden und werden im Einklang mit Artikel 37 SIS-Polizeiverordnung durchgeführt (58));

b)

Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) zur Vernehmung einer beschuldigten Person in einem anderen Mitgliedstaat per Videoverbindung;

c)

Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) zur Vernehmung einer beschuldigten Person in einem anderen Mitgliedstaat durch die dortigen zuständigen Behörden;

d)

Erlass einer Europäischen Überwachungsanordnung (EÜA) zur Unterstellung einer beschuldigten Person unter eine durch ihren Wohnsitzmitgliedstaat in der vorgerichtlichen Phase durchzuführende Überwachungsmaßnahme ohne Freiheitsentzug;

e)

Ausschreibung einer Person im SIS zwecks Mitteilung ihres Wohnsitzes oder Aufenthaltsorts (siehe Artikel 34 des SIS- Verordnung (59)): Diese Ausschreibungen unterscheiden sich von den in Abschnitt 3.3.1 beschriebenen Ausschreibungen zur Festnahme und sollten nur in Fällen erfolgen, in denen die Ausstellung eines EuHb und einer Ausschreibung zur Festnahme im SIS unverhältnismäßig oder unmöglich ist. Sobald der ausstellenden Justizbehörde der Wohnsitz oder Aufenthaltsort mitgeteilt wurde, muss diese die Ausschreibung aus dem SIS löschen (siehe Artikel 55 Absatz 3 der SIS-Polizeiverordnung) und die erforderlichen Folgemaßnahmen ergreifen (z. B. die Aufforderung an den Verdächtigen, vor einer für das Strafverfahren zuständigen Behörde zu erscheinen). Die Durchführung dieser Folgemaßnahmen ist jedoch nicht das Ziel dieser Art von SIS-Ausschreibung.

f)

Verpflichtung einer sich im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhaltenden beschuldigten Person, vor einer für die Strafverfolgung zuständigen Behörde im Ausstellungsmitgliedstaat zu erscheinen;

g)

Aufforderung einer Person, sich freiwillig am Strafverfahren zu beteiligen.

Nach Abschluss des Strafverfahrens, d. h. nach dem Strafausspruch, kommen insbesondere folgende Maßnahmen in Betracht:

a)

Übertragung einer Freiheitsstrafe auf den Wohnsitzmitgliedstaat der verurteilten Person zur Strafvollstreckung in diesem Mitgliedstaat;

b)

Übertragung einer alternativen Sanktion (z. B. gemeinnützige Arbeit) oder einer zur Bewährung ausgesetzten Strafe auf den Wohnsitzmitgliedstaat der verurteilten Person zur Vollstreckung in diesem Mitgliedstaat.

2.5.1.   Europäische Ermittlungsanordnung (EEA)

Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen  (60)

Die EEA kann zur Erlangung von Beweisen aus einem anderen Mitgliedstaat verwendet werden. Sie erfasst Ermittlungsmaßnahmen jedweder Art mit Ausnahme der Einsetzung gemeinsamer Ermittlungsgruppen. Damit soll es einem Mitgliedstaat ermöglicht werden, einen anderen Mitgliedstaat auf der Basis des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung um die Vornahme von Ermittlungshandlungen oder die Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der Vollstreckungsbehörde befinden, zu ersuchen. Europäischen Ermittlungsanordnungen, die Maßnahmen zum Gegenstand haben, die es im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht gibt oder die dort nicht genutzt werden können, kann dessen ungeachtet durch Rückgriff auf alternative Ermittlungsmaßnahmen Folge geleistet werden.

Die EEA ist an die Stelle die entsprechenden Bestimmungen des Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (61) getreten und hat die bisher lückenhafte Regelung in diesem Bereich abgelöst. Mit der Zusammenführung der bestehenden Maßnahmen in einem einzigen neuen Rechtsinstrument soll die justizielle Zusammenarbeit schneller und effizienter vonstattengehen. Eine EEA kann in Strafverfahren und auch – nach Validierung durch eine Justizbehörde – in Verfahren, die von einer Verwaltungsbehörde eingeleitet wurden, eingesetzt werden, wenn diese Verfahren eine strafrechtliche Komponente aufweisen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in der Rechtssache C-584/19, A u. a (62)., klargestellt hat, dass Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 2 Buchstabe c der Richtlinie 2014/41/EU dahin auszulegen sind, dass unter die Begriffe „Justizbehörde“ und „Anordnungsbehörde“ im Sinne dieser Bestimmungen der Staatsanwalt eines Mitgliedstaats oder ganz allgemein die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats fällt, unabhängig davon, ob zwischen diesem Staatsanwalt oder dieser Staatsanwaltschaft und der Exekutive dieses Mitgliedstaats möglicherweise ein rechtliches Unterordnungsverhältnis besteht und dieser Staatsanwalt oder diese Staatsanwaltschaft der Gefahr ausgesetzt ist, im Rahmen des Erlasses einer Europäischen Ermittlungsanordnung unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive unterworfen zu werden.

Die Mitgliedstaaten müssen innerhalb von 30 Tagen des Eingangs der EEA bei der zuständigen Vollstreckungsbehörde über die Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA entscheiden und die betreffende Ermittlungsmaßnahme innerhalb von 90 Tagen nach Erlass dieser Entscheidung durchführen.

In bestimmten Fällen kann eine EEA auch zur Vernehmung einer beschuldigten Person per Videoverbindung erlassen werden, um auf diese Weise festzustellen, ob gegen die Person ein EuHb zu Strafverfolgungszwecken erlassen werden muss oder nicht.

Beispiel 1: Pierre ist kürzlich von Mitgliedstaat A in Mitgliedstaat B gezogen. Es gibt Hinweise darauf, dass er als Gehilfe an einer schweren Straftat in A beteiligt war. Die Behörden von A können jedoch erst dann über eine etwaige Strafverfolgung entscheiden, nachdem sie ihn vernommen haben. Die Justizbehörde von A kann eine EEA zur Vernehmung von Pierre in B per Videoverbindung erlassen.

Beispiel 2: Eine andere Möglichkeit im Fall des Beispiels 1 bestünde darin, dass die Justizbehörde von A eine EEA erlässt, mit der die zuständigen Behörden von B um die Vernehmung von Pierre und die Vorlage eines schriftlichen Vernehmungsprotokolls ersucht werden.

2.5.2.   Überstellung von Strafgefangenen

Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union  (63)

Der Rahmenbeschluss 2008/909/JI regelt die Überstellung verurteilter Strafgefangener in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen oder in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, oder in einen anderen Mitgliedstaat, zu dem sie eine enge Verbindung haben. Rahmenbeschluss 2008/909/JI gilt auch dann, wenn sich die verurteilte Person bereits in dem betreffenden Mitgliedstaat befindet. Die Zustimmung der verurteilten Person zu einer solchen Überstellung ist nicht mehr in allen Fällen erforderlich. Durch diesen Rahmenbeschluss wurde das Übereinkommen des Europarats vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen (SEV Nr. 112) und dessen Zusatzprotokoll vom 18. Dezember 1997 (SEV Nr. 167) im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander ersetzt.

In manchen Fällen könnte statt eines EuHb, der auf die Übergabe der Person zwecks Verbüßung ihrer Strafe in dem Mitgliedstaat, in dem sie verurteilt wurde, gerichtet ist, Rahmenbeschluss 2008/909/JI herangezogen werden, um die Strafe dort zu vollstrecken, wo die verurteilte Person wohnt und unter Umständen eine bessere Wiedereingliederungsprognose hat.

Artikel 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI enthält eine besondere Regelung für die Vollstreckung von Freiheitsstrafen im Vollstreckungsmitgliedstaat in Fällen nach Artikel 4 Nummer 6 und Artikel 5 Nummer 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses (siehe die Abschnitte 5.5.2 und 5.9.2 zur Verknüpfung zwischen den beiden Rahmenbeschlüssen). In Fällen, in denen Artikel 4 Nummer 6 oder Artikel 5 Nummer 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses Anwendung finden, muss auch der Rahmenbeschluss 2008/909/JI zur Übertragung der Strafe auf den Mitgliedstaat, in dem sie vollstreckt werden soll, angewendet werden.

Beispiel 1

Jerzy ist Staatsangehöriger des Mitgliedstaats B, wo er seinen gewöhnlichen Wohnsitz hat. Bei einem Besuch in Mitgliedstaat A begeht er eine Straftat. Er wird in A zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Die Behörden von A können die Strafe ohne Jerzys Zustimmung auf B zur Vollstreckung übertragen, wenn sich dadurch seine Chance auf Wiedereingliederung verbessert und andere Voraussetzungen des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI erfüllt sind.

Beispiel 2

Gustav ist Staatsangehöriger des Mitgliedstaats B, lebt aber mit seiner Familie in Mitgliedstaat A, wo er einer unbefristeten Erwerbstätigkeit nachgeht. In Mitgliedstaat В wird er wegen einer Steuerstraftat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Statt einen EuHb zwecks Strafvollstreckung zu erlassen, können die Behörden von Mitgliedstaat B die Freiheitsstrafe auf Mitgliedstaat A übertragen, wenn Mitgliedstaat A der Übermittlung des Urteils zustimmt, sodass Gustav die Strafe in Mitgliedstaat A verbüßen kann.

2.5.3.   Europäische Überwachungsanordnung (EÜA)

Rahmenbeschluss 2009/829/JI des Rates vom 23. Oktober 2009 über die Anwendung – zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft  (64)

Der Rahmenbeschluss 2009/829/JI sieht die Möglichkeit vor, dass eine Überwachungsmaßnahme ohne Freiheitsentzug von dem Mitgliedstaat, in dem eine nicht dort ansässige Person einer Straftat verdächtigt wird, auf den Mitgliedstaat übertragen wird, in dem die Person wohnt. Damit kann eine beschuldigte Person bis zur Gerichtsverhandlung im anderen Mitgliedstaat in ihrer gewöhnlichen Umgebung einer Überwachungsmaßnahme unterstellt werden. Die Europäische Überwachungsanordnung („EÜA“) kann für alle vorgerichtlichen Überwachungsmaßnahmen ohne Freiheitsentzug (wie z. B. Reisebeschränkungen oder Meldeauflagen) verwendet werden.

Der Strafverfolgungsmitgliedstaat entscheidet, ob eine Anordnung zur Übertragung einer Entscheidung über Überwachungsmaßnahmen ergeht. Welche Arten von Überwachungsmaßnahmen infrage kommen, ergibt sich aus dem Rahmenbeschluss 2009/829/JI und den diesbezüglichen Erklärungen der Mitgliedstaaten (65). Die betroffene Person muss der Übertragung einer Überwachungsmaßnahme zustimmen.

Beispiel: Sonia lebt und arbeitet in Mitgliedstaat B. Sie hält sich vorübergehend in Mitgliedstaat A auf, wo gegen sie wegen Betrugs ermittelt wird. Die Justizbehörde von A weiß, wo Sonia in B wohnt, und hält die Fluchtgefahr für gering. Statt sie in A in Untersuchungshaft zu nehmen, kann die Justizbehörde von A ihr zur Auflage machen, sich regelmäßig bei der Polizei in B zu melden. Damit Sonia nach B zurückkehren und dort bis zur Gerichtsverhandlung, die in A stattfindet, bleiben kann, kann die zuständige Behörde von A mit Sonias Zustimmung eine Europäische Überwachungsanordnung erlassen, um die Meldepflicht in B anerkennen und vollstrecken zu lassen.

2.5.4.   Übertragung von Bewährungsentscheidungen und alternativen Sanktionen

Rahmenbeschluss 2008/947/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen  (66)

Der Rahmenbeschluss 2008/947/JI sieht die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Alternativen zum Freiheitsentzug und auf Maßnahmen, die eine vorzeitige Entlassung begünstigen, vor (67). Er bezieht sich auf die Phase nach Abschluss des Strafverfahrens.

Dem Rahmenbeschluss zufolge kann ein anderer Mitgliedstaat als der, in dem die Person verurteilt wurde, Bewährungsentscheidungen oder andere alternative Sanktionen vollstrecken, sofern die Person dem zugestimmt hat.

Beispiel: Anna ist Staatsangehörige des Mitgliedstaats A. Sie verbringt ihre Ferien in Mitgliedstaat B und wird dort straffällig. Sie kommt in B vor Gericht und wird zu gemeinnütziger Arbeit anstelle einer Freiheitsstrafe verurteilt. Sie kann nach A zurückkehren. In diesem Fall sind die Behörden von A verpflichtet, die Verpflichtung zur Erbringung einer gemeinnützigen Leistung anzuerkennen und Anna bei der Erfüllung dieser Verpflichtung in Mitgliedstaat A zu überwachen.

2.5.5.   Geldstrafen und Geldbußen

Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen  (68)

Der Rahmenbeschluss 2005/214/JI wendet den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung auf von Justiz- oder Verwaltungsbehörden verhängte Geldstrafen und Geldbußen an. Damit soll die Vollstreckung solcher Sanktionen in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Sanktionen verhängt wurden, erleichtert werden. Entscheidungen einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde, mit denen Geldstrafen oder Geldbußen verhängt werden, können so direkt der zuständigen Behörde in einem anderen Mitgliedstaat zur Anerkennung und Vollstreckung übermittelt werden, ohne dass es weiterer Formalitäten bedarf.

Der Rahmenbeschluss 2005/214/JI erstreckt sich auf alle strafbaren Handlungen (Artikel 1 Buchstabe a Ziffern i und ii) sowie auf „Zuwiderhandlungen gegen Rechtsvorschriften“, vorausgesetzt, dass der Rechtsweg zu einem „in Strafsachen zuständigen Gericht“ gegeben ist (69).

Das Verfahren findet in Fällen mit grenzüberschreitendem Bezug Anwendung, d. h. wenn eine in einem Mitgliedstaat verhängte Geldstrafe oder Geldbuße in dem Mitgliedstaat vollstreckt werden soll, in dem der Täter wohnt oder in dem er über Vermögen oder Einkommen verfügt.

In manchen Mitgliedstaaten kann eine nicht beglichene Geldstrafe oder Geldbuße in eine Haftstrafe umgewandelt werden. In diesen Fällen kann zur Vollstreckung der Haftstrafe ein EuHb ausgestellt werden. Bevor eine Geldstrafe in eine Haftstrafe umgewandelt wird, sollte wenn möglich Rahmenbeschluss 2005/214/JI zur Durchsetzung finanzieller Sanktionen herangezogen werden, um nicht auf den EuHb zurückgreifen zu müssen.

2.5.6.   Übertragung der Strafverfolgung

In bestimmten Fällen sollte die Übertragung der Strafverfolgung auf den Mitgliedstaat, in dem die beschuldigte Person wohnhaft ist, in Betracht gezogen werden. Rechtsgrundlage ist das Übereinkommen des Europarats aus dem Jahr 1972 über die Übertragung der Strafverfolgung. Bei den Mitgliedstaaten, die dieses Übereinkommen nicht ratifiziert haben, kann die Übertragung der Strafverfolgung auf die allgemeine Zuständigkeit im ersuchten Mitgliedstaat für die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen gestützt werden. Im letzteren Fall wird das Ersuchen in der Regel auf Artikel 21 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 (SEV Nr. 030) gestützt.

Im Jahr 2003 veröffentlichte Eurojust unverbindliche Richtlinien für die Entscheidung „Welcher Mitgliedstaat soll die Strafverfolgung durchführen?“, die 2016 überarbeitet wurden (70). In diesen Richtlinien werden Faktoren vorgeschlagen, die in Fällen zu berücksichtigen sind, in denen mehr als ein Mitgliedstaat für die Strafverfolgung zuständig wäre. Seit ihrer Annahme werden sie von den zuständigen nationalen Behörden und Eurojust bei der Festlegung, welcher Mitgliedstaat in Fällen mit grenzüberschreitendem Bezug am besten die Strafverfolgung übernehmen sollte, berücksichtigt.

Am 5. April 2023 hat die Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung über die Übertragung von Verfahren in Strafsachen angenommen (71). In dem Vorschlag wird das Verfahren für die Übertragung der Strafverfolgung von einem Mitgliedstaat in einen anderen festgelegt, wobei dem Ziel einer effizienten und geordneten Rechtspflege durch die Durchführung eines Strafverfahrens in dem anderen Mitgliedstaat besser gedient wäre.

2.6.   Grundsatz der Spezialität – etwaige Strafverfolgung wegen anderer Straftaten

Überstellte Personen dürfen normalerweise wegen einer vor ihrer Überstellung begangenen anderen strafbaren Handlung als derjenigen, die ihrer Überstellung zugrunde liegt, weder verfolgt, verurteilt noch einer anderweitigen freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden. So lautet der in Artikel 27 des EuHb-Rahmenbeschlusses verankerte Grundsatz der Spezialität.

Von diesem Grundsatz gibt es jedoch eine Reihe von Ausnahmen. Der EuHb-Rahmenbeschluss gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit mitzuteilen, dass sie in ihren Beziehungen zu anderen Mitgliedstaaten, die die gleiche Mitteilung gemacht haben, auf die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität verzichten, sofern die vollstreckende Justizbehörde im Einzelfall in ihrer Übergabeentscheidung keine anders lautende Erklärung abgibt (siehe Artikel 27 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Den der Kommission vorliegenden Informationen zufolge haben nur Estland, Österreich und Rumänien von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.

Gemäß Artikel 27 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses gilt der Grundsatz der Spezialität des Weiteren nicht in folgenden Fällen:

a)

wenn die Person das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates, dem sie übergeben worden ist, innerhalb von 45 Tagen nach ihrer endgültigen Freilassung nicht verlassen hat, obwohl sie dazu die Möglichkeit hatte, oder wenn sie nach Verlassen dieses Gebiets dorthin zurückgekehrt ist;

b)

wenn die Straftat nicht mit einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bedroht ist;

c)

wenn die Strafverfolgung nicht zur Anwendung einer die persönliche Freiheit beschränkenden Maßnahme führt;

d)

wenn die Person der Vollstreckung einer Strafe oder Maßregel der Sicherung ohne Freiheitsentzug, insbesondere einer Geldstrafe bzw. einer vermögensrechtlichen Maßnahme oder der an deren Stelle tretenden Maßnahme unterzogen wird, selbst wenn diese Strafe oder Maßnahme die persönliche Freiheit einschränken kann;

e)

wenn die Person ihre Zustimmung zur Übergabe und gegebenenfalls den Verzicht auf die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität gemäß Artikel 13 erklärt hat;

f)

wenn die Person nach ihrer Übergabe ausdrücklich auf die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität in Bezug auf bestimmte vor der Übergabe begangene Handlungen verzichtet hat. Die Verzichterklärung wird vor den zuständigen Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats abgegeben und nach dessen innerstaatlichem Recht zu Protokoll genommen. Die Verzichterklärung ist so abzufassen, dass aus ihr hervorgeht, dass die betreffende Person sie freiwillig und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Folgen abgegeben hat. Zu diesem Zweck hat die Person das Recht, einen Rechtsbeistand hinzuzuziehen.

In anderen Fällen muss die Zustimmung des ursprünglichen Vollstreckungsmitgliedstaats zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung wegen der anderen Straftaten eingeholt werden (Artikel 27 Absatz 3 Buchstabe g des EuHb-Rahmenbeschlusses).

In seinem Urteil in der Rechtssache C-388/08 PPU, Leymann und Pustovarov (72), ging der Gerichtshof der Frage nach, wie festgestellt werden kann, ob die in Rede stehende Handlung im Sinne des Artikels 27 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses eine „andere Handlung“ ist als diejenige, die der Übergabe zugrunde liegt. Der Gerichtshof entschied wie folgt:

„[es] ist zu prüfen, ob die Tatbestandsmerkmale der Straftat nach deren gesetzlicher Umschreibung im Ausstellungsmitgliedstaat diejenigen sind, derentwegen die Person übergeben wurde, und ob sich die Angaben im Europäischen Haftbefehl und diejenigen in dem späteren Verfahrensschriftstück hinreichend entsprechen. Änderungen bei den zeitlichen und örtlichen Umständen sind zulässig, sofern sie sich aus den Tatsachen ergeben, die in dem im Ausstellungsmitgliedstaat bezüglich der im Haftbefehl beschriebenen Verhaltensweisen durchgeführten Verfahren ermittelt wurden, nicht die Art der Straftat verändern und keine Gründe für das Absehen von der Vollstreckung nach den Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses zur Folge haben.“

In demselben Urteil stellte der Gerichtshof ferner Folgendes klar:

„Die in Art. 27 Abs. 3 Buchst. c … vorgesehene Ausnahme … ist dahin auszulegen, dass bei einer ‚anderen Handlung‘ als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, nach Art. 27 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses um Zustimmung ersucht werden und diese Zustimmung eingegangen sein muss, wenn eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme zu vollstrecken ist. Die übergebene Person kann wegen einer solchen Handlung verfolgt und verurteilt werden, bevor diese Zustimmung eingegangen ist, sofern während des diese Handlung betreffenden Ermittlungs- und Strafverfahrens keine freiheitsbeschränkende Maßnahme angewandt wird. Die Ausnahme des Art. 27 Abs. 3 Buchst. c des Rahmenbeschlusses verbietet es jedoch nicht, die übergebene Person einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme zu unterwerfen, bevor die Zustimmung eingegangen ist, wenn diese Beschränkung durch andere Anklagepunkte im Europäischen Haftbefehl gerechtfertigt wird.“

Verfahren für den Verzicht auf die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität – Zustimmung der vollstreckenden Justizbehörde

Das Ersuchen um Zustimmung folgt demselben Verfahren wie ein regulärer EuHb und muss dieselben Angaben enthalten. Die zuständige Justizbehörde übermittelt demnach das Ersuchen um Zustimmung direkt der vollstreckenden Justizbehörde, die die Person übergeben hat.

Für die Übersetzung der Informationen, die nach Artikel 8 Absatz 1 in dem Ersuchen anzugeben sind, gelten dieselben Regeln wie für den EuHb. Die vollstreckende Justizbehörde muss ihre Entscheidung spätestens 30 Tage nach Eingang des Ersuchens treffen (Artikel 27 Absatz 4).

Die vollstreckende Behörde muss ihre Zustimmung erteilen, wenn die Straftat, derentwegen um Zustimmung ersucht wird, nach dem EuHb-Rahmenbeschluss der Verpflichtung zur Übergabe unterliegt, es sei denn, es liegt ein zwingender oder fakultativer Ablehnungsgrund vor.

Die vollstreckende Justizbehörde kann ihre Zustimmung gegebenenfalls an eine der in Artikel 5 des EuHb-Rahmenbeschlusses niedergelegten Bedingungen knüpfen, die lebenslange Freiheitsstrafen und die Rücküberstellung eigener Staatsangehöriger oder Gebietsansässiger betreffen (siehe Abschnitt 5.9). In solchen Fällen muss der Ausstellungsmitgliedstaat geeignete Garantien bieten (Artikel 27 Absatz 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Der Gerichtshof hat in seinem Urteil in der Rechtssache C-168/13 PPU, Jeremy F (73). entschieden, dass ein Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gegen die in Artikel 27 Absatz 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses genannte Entscheidung vorsehen kann, soweit die endgültige Entscheidung unter Einhaltung der nach Artikel 17 des EuHb-Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen erlassen wird (siehe Abschnitt 4.1).

In seinem Urteil in der Rechtssache C-195/20 PPU, XC (74), hat der Gerichtshof klargestellt, dass in einer Situation, in der die Person von einem ersten Mitgliedstaat auf der Grundlage eines EuHb übergeben wurde, das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats des ersten Haftbefehls freiwillig verlassen hat und dorthin von einem zweiten Mitgliedstaat in Vollstreckung eines zweiten, nach dieser Ausreise ausgestellten EuHb zurücküberstellt wurde, für die Beurteilung der Beachtung des Grundsatzes der Spezialität allein die auf der Grundlage eines zweiten Europäischen Haftbefehls erfolgte Übergabe relevant ist und die nach Artikel 27 Absatz 3 Buchstabe g erforderliche Zustimmung allein von der vollstreckenden Justizbehörde des Mitgliedstaats zu erteilen ist, der die verfolgte Person auf der Grundlage dieses EuHb übergeben hat.

In der Rechtssache C-510/19, AZ (75), hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Zustimmung zum Verzicht auf die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität nach Artikel 27 Absatz 3 Buchstabe g und Artikel 27 Absatz 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses von einer Justizbehörde erteilt werden muss, die die in Artikel 6 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses genannten Anforderungen erfüllt (siehe Abschnitt 2.1.2).

In seinem Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-428/21 und C-429/21 PPU (76), HM und TZ, hat der Gerichtshof Artikel 27 Absatz 3 Buchstabe g und Absatz 4 sowie Artikel 28 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses im Licht des durch Artikel 47 der Charta garantierten Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz ausgelegt. Folglich hat eine Person, die der ausstellenden Justizbehörde zur Vollstreckung eines EuHb übergeben wurde, das Recht, von der vollstreckenden Justizbehörde gehört zu werden, wenn ein Ersuchen um Zustimmung zum Verzicht auf den Grundsatz der Spezialität gestellt wird. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass die wirksame Ausübung dieses Rechts nicht die unmittelbare Beteiligung der vollstreckenden Justizbehörde erfordert, sofern sie sicherstellt, dass sie über ausreichende Informationen, insbesondere über den Standpunkt der betroffenen Person, verfügt, um eine Entscheidung treffen zu können. Es kann daher ausreichen, dass die betroffene Person der ausstellenden Justizbehörde ihren Standpunkt darlegen kann und diese Informationen schriftlich festgehalten und an die vollstreckende Justizbehörde übermittelt werden. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass diese Informationen von der vollstreckenden Justizbehörde im Einklang mit den Anforderungen des Artikel 47 der Charta eingeholt wurden. Erforderlichenfalls muss die vollstreckende Justizbehörde unverzüglich zusätzliche Informationen anfordern.

3.   VERFAHREN FÜR DEN ERLASS EINES EUHB

3.1.   Andere anhängige Strafverfahren und EuHb gegen dieselbe Person

3.1.1.   Im Ausstellungsmitgliedstaat

Vor Erlass eines EuHb sollte die zuständige Justizbehörde prüfen, ob im Ausstellungsmitgliedstaat andere Strafverfahren oder andere EuHb gegen die gesuchte Person eingeleitet bzw. erlassen worden sind.

Sind im Ausstellungsmitgliedstaat andere Strafverfahren gegen die gesuchte Person anhängig oder liegen vollstreckbare Freiheitsstrafen vor, sollte sich die zuständige Justizbehörde mit anderen nationalen Behörden ins Benehmen setzen, bevor ein EuHb ausgestellt wird. Es muss sichergestellt sein, dass der EuHb alle Straftaten einschließt, aufgrund deren die gesuchte Person verfolgt werden soll oder im Ausstellungsmitgliedstaat verurteilt worden ist. Dies ist vor allem wegen des Grundsatzes der Spezialität ratsam, der einer Strafverfolgung oder Strafvollstreckung wegen anderer Straftaten als derjenigen, die der Übergabe der betreffenden Person durch den Vollstreckungsmitgliedstaat zugrunde lagen, entgegenstehen kann (siehe Abschnitt 2.6). Zwar ist es möglich, die Zustimmung der mit EuHb gesuchten Person oder des Vollstreckungsmitgliedstaats zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung nach der Übergabe einzuholen (siehe Artikel 27 Absatz 3 Buchstaben f und g des EuHb-Rahmenbeschlusses), doch hat sich in der Praxis gezeigt, dass dies aufwendig oder langwierig sein kann.

Sofern möglich, sollten alle Straftaten in den EuHb aufgenommen werden, da das Verfahren im Vollstreckungsmitgliedstaat auf diese Weise schneller und effizienter vonstattengeht. Liegt gegen dieselbe Person bereits ein EuHb vor, sollte dieser nach Möglichkeit durch einen neuen EuHb ersetzt werden, in den die Straftaten aus dem alten EuHb und die neuen Straftaten aufgenommen werden. Ist die Person bereits zur Festnahme ausgeschrieben, sollte die Ausschreibung aktualisiert und der neue EuHb angegeben werden. Es ist möglich, mehr als einen EuHb pro Ausschreibung zur Festnahme einzugeben (siehe Artikel 27 Absatz 1 der SIS-Polizeiverordnung (77)).

Darüber hinaus hat der Gerichtshof in der Rechtssache C-203/20, AB u. a (78)., entschieden, dass Artikel 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Ausstellung eines EuHb gegen eine Person, deren Strafverfolgung ursprünglich durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung auf der Grundlage einer Amnestie eingestellt wurde und dann nach dem Erlass eines Gesetzes, mit dem diese Amnestie zurückgenommen wurde, wieder aufgenommen wurde, nicht entgegensteht, wenn diese gerichtliche Entscheidung vor der Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der betreffenden Person ergangen ist.

3.1.2.   In einem anderen Mitgliedstaat

Gibt es Hinweise auf andere laufende Strafverfahren oder andere vollstreckbare Freiheitsstrafen gegen die gesuchte Person in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten, kann es ratsam sein, vor Ausstellung des EuHb die Behörden dieser anderen Mitgliedstaaten zu kontaktieren (79). Die Behörden der verschiedenen Mitgliedstaaten könnten in solchen Fällen erwägen, sich untereinander abzusprechen, welcher Mitgliedstaat den (ersten) EuHb erlassen sollte, und möglicherweise beschließen, die Strafverfolgung auf einen Mitgliedstaat oder zumindest auf eine kleinere Zahl von Mitgliedstaaten zu übertragen.

Die zuständigen Behörden sollten im SIS überprüfen, ob die gesuchte Person nicht bereits von einem anderen Mitgliedstaat zur Festnahme ausgeschrieben worden ist. Ein und dieselbe Person kann von mehreren Mitgliedstaaten zur Festnahme ausgeschrieben werden. Im Falle einer Festnahme wird jeder betroffene Mitgliedstaat zeitgleich vom SIRENE-Büro des Vollstreckungsmitgliedstaats informiert (siehe Artikel 32 Absatz 3 des SIRENE-Handbuchs – Polizei) (80).

Die zuständigen Behörden können sich auch an Eurojust und/oder die EJN-Kontaktstellen wenden oder direkt an die zuständige Behörde des Mitgliedstaats (81).

Es sei darauf hingewiesen, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat, wenn er mehrere EuHb für die gesuchte Person erhalten hat, stets entscheiden muss, welchem Mitgliedstaat die Person zuerst zu übergeben ist (siehe Abschnitt 5.12). Es könnte sich daher als effizienter erweisen, wenn die ausstellenden Justizbehörden sich vor dem Erlass mehrerer EuHb darüber verständigen würden, welchem Mitgliedstaat die Person zuerst übergeben werden soll. Die vollstreckende Justizbehörde ist zwar nicht an die Vereinbarungen gebunden, die die ausstellenden Justizbehörden bei konkurrierenden EuHb untereinander getroffen haben, doch sollte die vollstreckende Justizbehörde diese Vereinbarungen berücksichtigen.

Gibt es solche Vereinbarungen, ist es ratsam, Buchstabe f des EuHb-Formblatts (Sonstige für den Fall relevante Umstände) auszufüllen, damit die vollstreckenden Justizbehörden sofort Kenntnis davon erhalten.

3.2.   Ausfüllen des EuHb-Formblatts

Detaillierte Leitlinien für das Ausfüllen des EuHb-Formblatts sind in Anhang III enthalten.

3.2.1.   In allen Fällen notwendige Angaben

Der vollstreckenden Justizbehörde sollten stets die notwendigen Mindestangaben vorliegen, damit sie über die Übergabe entscheiden kann (siehe Artikel 8 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Sie muss insbesondere in der Lage sein, die Identität der betreffenden Person zu bestätigen, und sie muss prüfen können, ob Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung gegeben sind. Die ausstellende Justizbehörde sollte beim Ausfüllen des EuHb-Formblatts daher besonders auf die Beschreibung der Straftat(en) achten.

Welche Informationen im Einzelnen mitzuteilen sind, hängt von den Umständen des betreffenden Falls ab. Es sollte jedoch bedacht werden, dass die Behörde, die den EuHb entgegennimmt, möglicherweise wenig oder gar nichts über den dem Haftbefehl zugrunde liegenden Fall oder die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats weiß. Es hat sich gezeigt, dass Ersuchen um zusätzliche Informationen zwischen den ausstellenden und den vollstreckenden Justizbehörden eine der Hauptursachen für Verzögerungen bei der Vollstreckung von EuHb sind. Dabei kommt es häufig zu einer Überschreitung der im EuHb-Rahmenbeschluss vorgegebenen Fristen (siehe Abschnitt 4.1).

Die ausstellenden Justizbehörden müssen daher unbedingt dafür sorgen, dass die Angaben im EuHb klar, korrekt und vollständig sind.

In der Rechtssache C-367/16, Piotrowski (82), hat der Gerichtshof Folgendes festgestellt:

„Der Rahmenbeschluss 2002/584 enthält, um das Übergabeverfahren unter Beachtung der in seinem Art. 17 vorgesehenen Fristen zu vereinfachen und zu beschleunigen, im Anhang ein besonderes Formblatt, das die ausstellenden Justizbehörden unter Angabe der ausdrücklich verlangten Informationen ausfüllen müssen.

Nach Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584 betreffen diese Informationen u. a. die Identität und die Staatsangehörigkeit der gesuchten Person, die Angabe, ob ein vollstreckbares Urteil, ein Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung nach den Art. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses vorliegt, die Art und rechtliche Würdigung der Straftat, die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatorts und der Art der Tatbeteiligung der gesuchten Person, die bereits verhängte Strafe oder der für die betreffende Straftat im Ausstellungsmitgliedstaat vorgeschriebene Strafrahmen sowie, soweit möglich, die anderen Folgen der Straftat.“

Wenn das EuHb-Formblatt ordnungsgemäß ausgefüllt worden ist, sind keine weiteren Unterlagen erforderlich.

3.2.2.   Nützliche zusätzliche Informationen der ausstellenden Justizbehörde

Zusätzlich zu dem Mindestdatensatz, der für die Erstellung der Ausschreibung zur Festnahme im SIS eingegeben werden muss (siehe Anhang II Abschnitt 1 Buchstabe a des Durchführungsbeschlusses der Kommission über die SIS-Dateneingabe) (83), sind alle anderen Daten zu der Person, insbesondere Lichtbilder, Fingerabdrücke und Identifizierungsdokumente, soweit verfügbar, auch einzutragen (siehe Artikel 20 und 22 SIS-Polizeiverordnung) (84).

Besonderes Augenmerk sollte auf die folgenden Informationen gelegt werden:

alle verfügbaren persönlichen Erkennungsmerkmale (insbesondere Fingerabdrücke, Handflächenabdrücke und aktuelle Lichtbilder),

Warnhinweise, wenn die gesuchte Person eine besondere Gefahr darstellt,

eine Kopie des EuHb (diese muss der Ausschreibung beigefügt werden, damit sie dem Original des EuHb oder des Haftbefehls, der direkt zwischen den zuständigen Behörden übermittelt wird, gleichwertig ist; mehrere Haftbefehle können einer einzigen Ausschreibung beigefügt werden),

Daten zu den von der gesuchten Person verwendeten Sachen („sachbezogene Erweiterungen“ – z. B. das von der gesuchten Person verwendete Fahrzeug) oder Identifizierungsdokumente,

Links zu anderen Personen- oder Sachfahndungsausschreibungen.

Dem SIRENE-Büro sind immer die Kontaktdaten und die Mobiltelefonnummer der zuständigen Stelle und der verantwortlichen Person anzugeben, sodass diese zu jeder Zeit sofort benachrichtigt werden können, egal zu welcher Zeit die gesuchte Person aufgefunden wurde.

Ist zu erwarten, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat vom Ausstellungsmitgliedstaat Garantien nach Artikel 5 des EuHb-Rahmenbeschlusses verlangen wird, empfiehlt es sich, die entsprechenden Angaben im Formblatt zu vermerken. Beispielsweise könnte die ausstellende Justizbehörde bereits unter bestimmten Bedingungen ihre Zustimmung zur Rücküberstellung der gesuchten Person an den Vollstreckungsmitgliedstaat signalisieren (siehe Abschnitt 5.9).

3.3.   Übermittlung des EuHb

Wie der EuHb übermittelt wird, hängt davon ab, ob der ausstellenden Justizbehörde der Aufenthalt der gesuchten Person bekannt ist (Artikel 9 des EuHb-Rahmenbeschlusses). In den meisten Fällen ist der Aufenthaltsort der gesuchten Person unbekannt oder ungewiss, sodass der EuHb allen Mitgliedstaaten über das SIS übermittelt werden sollte. Aber auch wenn der Aufenthaltsort der gesuchten Person bekannt ist, kann sich die ausstellende Justizbehörde für eine Ausschreibung im SIS entscheiden (Artikel 9 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

3.3.1.   Wenn der Aufenthaltsort der gesuchten Person nicht bekannt ist

Ist der Aufenthaltsort der gesuchten Person nicht bekannt, sollte der EuHb allen Mitgliedstaaten übermittelt werden. Hierzu sollte die Person gemäß Artikel 26 der SIS-Polizeiverordnung im SIS zur Festnahme oder Übergabe ausgeschrieben werden (85). Dabei ist darauf zu achten, dass die ausstellende Justizbehörde zuerst den EuHb ausstellt. Erst danach kann sie eine Ausschreibung im SIS veranlassen.

Die ausstellende Justizbehörde sollte dem nationalen SIRENE-Büro gegebenenfalls eine Kopie des Original-EuHb und alle relevanten Informationen zu der gesuchten Person über die zuständige Polizeistelle zukommen lassen oder dem SIRENE-Büro auf anderem Wege eine Kopie des Original-EuHb zur Verfügung stellen.

Das SIRENE-Büro des Ausstellungsmitgliedstaats prüft, ob die Informationen vollständig sind (beispielsweise ob Lichtbilder und Fingerabdrücke vorhanden sind, die hinzugefügt werden können), fügt der Ausschreibung eine Kopie des Original-EuHb und, falls vorhanden, eine Übersetzung bei und validiert die Eingabe der Ausschreibung im SIS. Außerdem übermittelt das SIRENE-Büro allen anderen SIRENE-Büros den Inhalt des EuHb durch den Austausch zusätzlicher Informationen (das SIRENE-Formular A). Liegen mehrere Haftbefehle gegen ein und dieselbe Person vor, sind für jeden Haftbefehl gesonderte Formulare A zu übermitteln. Das Formular A wird in englischer Sprache ausgefertigt. Es ist wichtig, im Formular A (Feld 311) anzugeben, ob die Suche nach der Person auf das Hoheitsgebiet bestimmter Mitgliedstaaten beschränkt ist (geografische Suche), und weitere Informationen über den möglichen Aufenthaltsort der Person aufzunehmen (Feld 061 des Formulars A).

Nach Eingang des Formulars A prüfen alle anderen SIRENE-Büros, ob die darin enthaltenen Informationen und die Angaben im EuHb vollständig sind.

Gemäß Artikel 25 der SIS-Polizeiverordnung (86) kann ein Mitgliedstaat auf Veranlassung einer zuständigen nationalen Behörde auch vom ausschreibenden Mitgliedstaat die Kennzeichnung einer Ausschreibung zum Zwecke der Übergabehaft verlangen, wenn offensichtlich ist, dass die Vollstreckung eines EuHb abzulehnen sein wird. Während dieser Überprüfung sollten die Nutzer weiterhin Zugang zu der Ausschreibung haben. Ein Mitgliedstaat kann ferner verlangen, dass einer Ausschreibung eine Kennzeichnung hinzugefügt wird, wenn seine zuständige Justizbehörde die ausgeschriebene Person während des Übergabeverfahrens freilässt. Eine Ausschreibung zum Zwecke der Übergabehaft wird nicht gekennzeichnet, wenn mindestens einer der mit der Ausschreibung verbundenen Haftbefehle vollstreckt werden kann.

Die Ausschreibung bleibt für Nutzer sichtbar, wenn ein Mitgliedstaat den EuHb nicht vollstreckt und deshalb beschließt zu ersuchen, die Ausschreibung zu kennzeichnen. Der Ausschreibungsgrund lautet in diesem Fall nach wie vor „zum Zwecke der Übergabe- oder Auslieferungshaft ausgeschriebene Person“. Die zu ergreifende Maßnahme besteht jedoch nicht in der Festnahme der gesuchten Person, sondern in der Feststellung des Wohnorts oder des Aufenthaltsorts der Person (siehe Artikel 12 Absatz 2 und Anhang I des Durchführungsbeschlusses der Kommission über die SIS-Dateneingabe) (87).

Die SIRENE-Büros, die das Formular A erhalten, müssen ferner nach Maßgabe des nationalen Rechts alle verfügbaren nationalen Informationen durchsuchen, um zu versuchen, die ausgeschriebene Person ausfindig zu machen. Sie werden auch die nationalen Datenbanken (z. B. Datenbanken der Polizei und Haftanstalten) durchsuchen, um festzustellen, ob die gesuchte Person ihnen bekannt oder sogar wegen einer anderen Straftat bereits in Haft ist. Wird die Person auf der Grundlage dieser Überprüfung ausfindig gemacht, leitet das SIRENE-Büro die im Formular A enthaltenen Informationen an die zuständige Behörde weiter, die den EuHb vollstrecken wird.

Die Ausschreibung zur Festnahme ist für die zuständigen Behörden aller Mitgliedstaaten (Strafverfolgungs-, Grenzschutz- und Justizbehörden) im SIS sichtbar. Wird die Person auf der Grundlage der Ausschreibung im SIS in einem anderen Mitgliedstaat ausfindig gemacht und festgenommen, teilt das nationale SIRENE-Büro dies der ausstellenden Justizbehörde mit.

Eine Ausschreibung zur Festnahme im SIS, der eine Kopie des Original-EuHb beigefügt ist, gilt als EuHb und hat die gleiche Wirkung (Artikel 31 Absatz 1 der SIS-Polizeiverordnung (88)). Die Übermittlung des Original-EuHb in Papierform zusätzlich zur SIS-Ausschreibung ist nicht mehr erforderlich, da die Kopie des Original-EuHb der Ausschreibung direkt beigefügt wird. Die ausstellende Justizbehörde muss allerdings nach Festnahme der gesuchten Person dem Vollstreckungsmitgliedstaat unter Umständen nach wie vor eine Übersetzung des EuHb übermitteln, da der Original-EuHb in der Sprache des Ausstellungsstaats, das Formular A aber in englischer Sprache ausgefertigt ist. Der Ausschreibung kann auch (muss aber nicht) sofort eine Kopie der Übersetzung des EuHb in eine oder mehrere Amtssprachen der Union beigefügt werden. Der Abschnitt „Fiches Belges“ auf der EJN-Website (89) enthält eine Liste der von den Mitgliedstaaten akzeptierten Sprachen, eine solche Liste findet sich auch in Anhang IV (siehe Abschnitt 3.4). Die ausstellende Justizbehörde sollte dafür sorgen, dass die Ausschreibung im SIS nicht länger als für den verfolgten Zweck erforderlich gespeichert wird (siehe Artikel 53 und 55 der SIS-Polizeiverordnung (90)). Das heißt, dass die Ausschreibung gelöscht werden muss, wenn der EuHb aufgehoben (siehe Abschnitt 11.4 dieses Handbuchs) oder die Person übergeben wurde (Abschnitt 55 Absatz 1 der SIS-Polizeiverordnung).

Darüber hinaus ist es möglich, Ausschreibungen zur Festnahme unsichtbar zu machen (siehe Artikel 26 der SIS-Polizeiverordnung (91)). Der ausstellende Mitgliedstaat kann im Falle einer laufenden operativen Maßnahme eine bestehende Ausschreibung zur Festnahme vorübergehend für die Abfrage durch die an der operativen Maßnahme beteiligten Endnutzer in den Mitgliedstaaten nicht verfügbar machen. In solchen Fällen können nur die SIRENE-Büros auf die Ausschreibung zugreifen. Dies bedeutet, dass, wenn dies operativ erforderlich ist, anstatt die Ausschreibung zur Festnahme zu löschen und eine neue Ausschreibung zur Festnahme einzufügen, die Ausschreibung für die Endnutzer für einen bestimmten Zeitraum „unsichtbar“ gemacht werden kann.

Für diese Funktion gelten bestimmte Bedingungen. Die Mitgliedstaaten dürfen eine Ausschreibung nur dann als „nicht verfügbar“ kennzeichnen, wenn

a)

der Zweck der operativen Maßnahme nicht durch andere Maßnahmen erreicht werden kann,

b)

zuvor eine entsprechende Bewilligung durch die zuständige Justizbehörde des ausstellenden Mitgliedstaats erteilt wurde und

c)

alle an der operativen Maßnahme beteiligten Mitgliedstaaten im Wege des Austauschs von Zusatzinformationen informiert wurden.

Die Funktion darf nur für einen Zeitraum von höchstens 48 Stunden genutzt werden. Wenn es jedoch für operative Zwecke erforderlich ist, kann dieser Zeitraum um weitere Zeiträume von jeweils 48 Stunden verlängert werden. Die Mitgliedstaaten führen Statistiken über die Zahl der Ausschreibungen, bei denen von dieser technischen Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde.

3.3.2.   Wenn der Aufenthaltsort der gesuchten Person bekannt ist

Wenn der Aufenthaltsort der gesuchten Person bekannt ist, kann die ausstellende Justizbehörde den EuHb direkt der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats zur Vollstreckung übermitteln (Artikel 9 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Ist der ausstellenden Justizbehörde die zuständige vollstreckende Justizbehörde nicht bekannt, muss sie insbesondere mithilfe der Kontaktstellen des Europäischen Justiziellen Netzes Nachforschungen anstellen, um diese Information vom Vollstreckungsmitgliedstaat zu erlangen (Artikel 10 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Informationen und Kontaktdaten der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten finden sich auch im Atlas auf der EJN-Website (92).

Um die Fluchtgefahr zu verringern, kann die ausstellende Justizbehörde den EuHb auch ihrem nationalen SIRENE-Büro übermitteln, das ihn über das SIS an die anderen Mitgliedstaaten weiterleitet (siehe Abschnitt 3.3.1). Über die Ausschreibung im SIS erfahren die Polizeistellen der Mitgliedstaaten, dass die Person zur Festnahme ausgeschrieben ist. Es sollte jedoch allen SIRENE-Büros unmissverständlich angezeigt werden, dass der Aufenthaltsort der Person bekannt ist, um unnötige Nachforschungen zu vermeiden.

3.3.3.   Übermittlung des EuHb an Mitgliedstaaten, die das SIS nicht nutzen

Derzeit nutzen alle EU-Mitgliedstaaten das SIS. Zypern ist im Juli 2023 dem SIS als letztes Land beigetreten. Wenn es in Zukunft einen Mitgliedstaat gibt, der das SIS nicht nutzt, und die Übermittlung eines EuHb an diesen Mitgliedstaat erforderlich ist, kann der EuHb entweder direkt oder von der zuständigen nationalen Interpol-Stelle übermittelt werden. Die Übermittlung über Interpol ist in Artikel 10 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses vorgesehen.

Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass eine Interpol-Ausschreibung in einigen Mitgliedstaaten keine Grundlage für eine Festnahme darstellt. Daher muss klar angegeben werden, dass der Ausschreibung ein EuHb zugrunde liegt, weil ein EuHb stets die Verpflichtung zur Festnahme der gesuchten Person begründet.

3.4.   Übersetzung des EuHb

Das EuHb-Formblatt muss in der Amtssprache oder in einer der Amtssprachen des Vollstreckungsmitgliedstaats ausgefüllt oder in diese Sprache übersetzt werden. Wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat jedoch in einer Erklärung angegeben hat, dass er eine Übersetzung in eine Amtssprache der Organe der Union akzeptiert, kann der EuHb alternativ auch in eine oder mehrere dieser Sprachen übersetzt werden (Artikel 8 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Auf der EJN-Website (http://www.ejn-crimjust.europa.eu – Fiches Belges) findet sich eine Liste der von den Mitgliedstaaten zugelassenen Sprachen. Eine Liste findet sich auch in Anhang IV.

Wird der EuHb über das SIS übermittelt, kann der Ausstellungsmitgliedstaat der Ausschreibung nach Artikel 27 Absatz 2 des SIS-Polizeiverordnung (93) eine Übersetzung des Haftbefehls in eine oder mehrere andere Amtssprachen der Organe der Union beifügen. Diese Übersetzungen sowie die SIRENE-Formulare A dürften als Grundlage für die in Abschnitt 3.3.1 dieses Handbuchs genannten Überprüfungen ausreichen. Die Pflicht zur Übersetzung des EuHb in eine vom Vollstreckungsmitgliedstaat zugelassene Sprache bleibt allerdings bestehen, nachdem die Person festgenommen wurde.

Ist der Ort der Festnahme der gesuchten Person absehbar, empfiehlt es sich, den EuHb gleich in die Sprache dieses Mitgliedstaats zu übersetzen. Auf diese Weise können die kurzen Fristen für die Vollstreckung eines EuHb leichter eingehalten werden.

Wird ein EuHb direkt der vollstreckenden Justizbehörde übermittelt, muss eine Übersetzung beigefügt werden. Da EuHb als Eilsache erledigt und vollstreckt werden (Artikel 17 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses), sollte der Ausstellungsmitgliedstaat die Übersetzung so schnell wie möglich, in jedem Fall aber innerhalb der Frist, den der Mitgliedstaat für die Entgegennahme eines übersetzten EuHb gesetzt hat (siehe Abschnitt 4.3 dieses Handbuchs), übermitteln.

Dabei sollte darauf geachtet werden, dass das Standard-EuHb-Formblatt, das in allen 24 Amtssprachen der Union vorliegt, verwendet wird. Auf der EJN-Website sind alle Sprachfassungen sowohl in PDF als auch in Word verfügbar (Justiz-Bibliothek und Kompendium-Assistent).

3.5.   Nach Festnahme der gesuchten Person: Zusammenarbeit und Kommunikation mit den zuständigen Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats

Nach Festnahme der gesuchten Person in einem anderen Mitgliedstaat sollten die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats rasch auf Informationsanfragen oder andere Ersuchen der Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats reagieren. Die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats werden auf Abschnitt 4.4 in Teil II dieses Handbuchs verwiesen, der Leitlinien für eine gute Zusammenarbeit und Kommunikation mit den zuständigen Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats enthält. EJN oder Eurojust können behilflich sein, wenn es bei der Kommunikation Probleme gibt. Auch die SIRENE-Büros helfen regelmäßig bei der Kommunikation, wenn die Person nach einer Ausschreibung zur Festnahme im SIS festgenommen worden ist.

Falls die ausstellende Justizbehörde beschließt, den EuHb zurückzuziehen, sollte sie dies der vollstreckenden Justizbehörde unverzüglich mitteilen, vor allem dann, wenn der gesuchten Person die Freiheit entzogen wurde. Sie muss auch sicherstellen, dass die Ausschreibung im SIS gelöscht wird.

Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln (Artikel 15 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

TEIL II:   VOLLSTRECKUNG EINES EuHB

4.   VERFAHREN FÜR DIE VOLLSTRECKUNG EINES EUHB

4.1.   Fristen für die Entscheidung über die Vollstreckung des EuHb

Für die Vollstreckung eines EuHb gelten strenge Fristen. Die Fristen richten sich danach, ob die mit EuHb gesuchte Person ihrer Übergabe zustimmt. Es wird mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass alle EuHb trotz der Fristen als Eilsache erledigt und vollstreckt werden müssen (Artikel 17 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Wenn die gesuchte Person ihrer Übergabe zustimmt, sollte die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des EuHb innerhalb von zehn Tagen nach Erteilung der Zustimmung erfolgen (Artikel 17 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Wenn die Person ihrer Übergabe nicht zustimmt, sollte die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des EuHb innerhalb von 60 Tagen nach der Festnahme der gesuchten Person erfolgen (Artikel 17 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Nach dem EuHb-Rahmenbeschluss ist die Zustimmung grundsätzlich unwiderruflich. Jeder Mitgliedstaat kann jedoch vorsehen, dass die Zustimmung und gegebenenfalls der Verzicht auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität (siehe Abschnitt 2.6) nach den anwendbaren Vorschriften seines innerstaatlichen Rechts widerruflich sein können (94). Wenn die gesuchte Person ihre Zustimmung widerruft, gilt nicht mehr die ursprüngliche Frist von zehn Tagen, sondern die ab dem Tag der Festnahme laufende Frist von 60 Tagen (Artikel 13 Absatz 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Bei der Berechnung dieser Frist wird der Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt, zu dem die Zustimmung erklärt wurde, und dem Zeitpunkt, zu dem sie widerrufen wurde, nicht berücksichtigt.

Wenn in einem Sonderfall der EuHb nicht innerhalb der oben genannten geltenden Fristen vollstreckt werden kann, können die Fristen ausnahmsweise um weitere 30 Tage verlängert werden. In einem solchen Fall muss die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde von diesem Umstand und von den jeweiligen Gründen unverzüglich in Kenntnis setzen (Artikel 17 Absatz 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Wie der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache C-168/13 PPU, Jeremy F (95)., entschieden hat, muss ein in einer nationalen Regelung gegen die Übergabeentscheidung etwaig vorgesehener Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung in jedem Fall unter Einhaltung der Fristen ausgeübt werden, die im EuHb-Rahmenbeschluss für den Erlass einer endgültigen Entscheidung vorgesehen sind.

In seinem Urteil in der Rechtssache C-237/15 PPU, Lanigan (96), hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Ablauf der Fristen für eine Entscheidung über die Vollstreckung eines EuHb die zuständige Behörde nicht ihrer Verpflichtung zum Erlass einer diesbezüglichen Entscheidung enthebt und einer Inhafthaltung der gesuchten Person an sich nicht entgegensteht. Jedoch muss die Freilassung der Person angeordnet und mit den erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung ihrer Flucht verbunden werden, wenn die Haftdauer übermäßig lang ist (siehe Abschnitt 4.6).

Pflicht Eurojust von Verzögerungen in Kenntnis zu setzen

Wenn ein Mitgliedstaat eine Frist nicht einhalten kann, müssen die zuständigen Behörden Eurojust von diesem Umstand und von den Gründen der Verzögerung in Kenntnis setzen (Artikel 17 Absatz 7 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Angesichts der zentralen Bedeutung, die der Einhaltung der Fristen für die Funktionsweise des EuHb zukommt, überwacht Eurojust die ihr zur Kenntnis gebrachten Fälle, in denen die Fristen nicht eingehalten werden konnten. Eurojust kann somit dazu beitragen, systematische Probleme zu ermitteln, die Verzögerungen verursachen. In vielen Fällen kann Eurojust den zuständigen Behörden helfen, die Fristen einzuhalten, indem sie beispielsweise den Informationsaustausch zwischen den zuständigen Behörden erleichtert (97).

4.2.   Fristen für die Übergabe der gesuchten Person (nach der Entscheidung über die Vollstreckung des EuHb)

Die Frist für die Übergabe der gesuchten Person beginnt unmittelbar nach Erlass der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des EuHb zu laufen. Die zuständigen Behörden sollten die Übergabe der Person so bald wie möglich regeln und vereinbaren (Artikel 23 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses). In jedem Fall muss die Übergabe spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des EuHb erfolgen (Artikel 23 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Es ist daher erforderlich, dass die praktischen Modalitäten der Übergabe unverzüglich vereinbart werden.

Wenn die Übergabe der betreffenden Person innerhalb der Frist von zehn Tagen aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich ist (Begriff der höheren Gewalt), müssen sich die vollstreckende und die ausstellende Justizbehörde unverzüglich miteinander in Verbindung setzen und einen neuen Übergabetermin vereinbaren. In diesem Fall muss die Übergabe innerhalb von zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin erfolgen (Artikel 23 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

In seinem Urteil in der Rechtssache C-640/15, Vilkas (98), gelangte der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die vollstreckende Justizbehörde mit der ausstellenden Justizbehörde einen neuen Übergabetermin vereinbaren kann, auch wenn bereits zwei Übergabeversuche am Widerstand der Person gescheitert sind, sofern dieser Widerstand für die Behörden nicht vorhersehbar war und die Folgen des Widerstands für die Übergabe trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt durch die Behörden nicht vermieden werden konnten (was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist). Die Behörden bleiben auch nach Ablauf der in Artikel 23 festgelegten Fristen verpflichtet, einen neuen Übergabetermin zu vereinbaren.

In der Rechtssache C-804/21 PPU, C und CD (99), hat der Gerichtshof entschieden, dass sich der Begriff der höheren Gewalt im Sinne von Artikel 23 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses nicht auf rechtliche Hindernisse für die Übergabe erstreckt, die sich aus von der Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, erhobenen und auf das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats gestützten gesetzlichen Klagen ergeben. Außerdem entspricht die Feststellung höherer Gewalt durch die Polizeidienste des Vollstreckungsmitgliedstaats, gefolgt von der Festlegung eines neuen Übergabedatums, ohne dass die vollstreckende Justizbehörde tätig wird, nicht den in Artikel 23 Absatz 3 vorgesehenen Formerfordernissen, unabhängig davon, ob diese Situation höherer Gewalt tatsächlich vorliegt. In Bezug auf Artikel 23 Absatz 5 des Rahmenbeschlusses stellte der Gerichtshof fest, dass die in Artikel 23 Absätze 2 bis 4 genannten Fristen als abgelaufen zu betrachten sind, sodass die Person freigelassen werden muss, wenn dem Erfordernis eines Tätigwerdens der vollstreckenden Justizbehörde gemäß Artikel 23 Absatz 3 nicht nachgekommen wurde. Angesichts der Verpflichtung des Vollstreckungsmitgliedstaats, das Verfahren zur Vollstreckung des EuHb fortzusetzen, ist die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats jedoch verpflichtet, im Falle der Freilassung der Person, gegen die der EuHb erlassen wurde, mit Ausnahme von freiheitsentziehenden Maßnahmen jedwede Maßnahme zu ergreifen, die sie für erforderlich hält, um die Flucht der betreffenden Person zu verhindern.

Zur Aussetzung der Übergabe aus schwerwiegenden humanitären Gründen (zum Beispiel wegen einer schweren Erkrankung der gesuchten Person), siehe Abschnitt 5.11.1.

4.3.   Übersetzung des EuHb

Die vollstreckende Justizbehörde kann eine Frist für den Eingang einer Übersetzung des EuHb bestimmen. Der EuHb ist in eine der Amtssprachen des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in eine andere Sprache zu übersetzen, die dieser Mitgliedstaat zu akzeptieren angegeben hat. Den vollstreckenden Justizbehörden wird dringend empfohlen, eine Frist von sechs bis zehn Kalendertagen zu setzen.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass eine Frist von weniger als sechs Tagen für eine Übersetzung in angemessener Qualität häufig zu kurz ist. Eine Frist von mehr als zehn Tagen hingegen könnte als übermäßige Verlängerung des Verfahrens angesehen werden, vor allem, wenn sich die betreffende Person in Haft befindet.

4.4.   Kommunikation zwischen den zuständigen Justizbehörden der Mitgliedstaaten vor der Entscheidung über die Übergabe

4.4.1.   Wann sollte Kontakt aufgenommen werden?

Zusätzliche Angaben, die für eine Entscheidung über die Übergabe erforderlich sind

Ersuchen um zusätzliche Angaben sollten eine Ausnahme bilden. In Fällen, in denen eine SIS-Ausschreibung vorgenommen wurde, sollte die mit entsprechenden Ersuchen verbundene Kommunikation über die SIRENE-Büros über den SIRENE-Kanal unter Verwendung des speziellen Formulars (Formular M) erfolgen. Der Funktionsweise des EuHb liegt die allgemeine Vermutung zugrunde, dass die vollstreckende Justizbehörde auf der Grundlage der Angaben im EuHb über die Übergabe entscheiden kann. Diese Vermutung beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und auf der Notwendigkeit, rasch über die Übergabe zu entscheiden. Dennoch sind in manchen Fällen Ersuchen um zusätzliche Angaben notwendig, um die Pflicht zur Vollstreckung eines EuHb erfüllen zu können.

Wenn die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Angaben nicht ausreichen, um der vollstreckenden Justizbehörde eine Entscheidung über die Übergabe zu ermöglichen, muss die vollstreckende Justizbehörde Kontakt zur ausstellenden Justizbehörde aufnehmen, um die notwendigen zusätzlichen Angaben einzuholen. Es ist darauf hinzuweisen, dass dies im EuHb-Rahmenbeschluss als Pflicht der vollstreckenden Justizbehörde vorgesehen ist (Artikel 15 Absatz 2).

In der Kommunikation zwischen der ausstellenden und der vollstreckenden Justizbehörde im Vorfeld der Übergabeentscheidung sollte es in erster Linie um zusätzliche Angaben gehen, die für die Entscheidung über die Übergabe von Belang sind (siehe Abschnitt 5.2). Ersuchen um zusätzliche Angaben sollten sich vor allem auf den vorgeschriebenen Inhalt des EuHb-Formblatts beziehen, der benötigt wird, um prüfen zu können, ob Ablehnungsgründe vorliegen.

Bei diesen Ersuchen ist auch die in Artikel 4 Absatz 3 Unterabsatz 1 EUV verankerte Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit zu beachten (100). Dies ist nicht der Fall, wenn eine vollstreckende Justizbehörde mehrere und/oder unnötige Fragen stellt, die (aufgrund ihrer Anzahl, ihres Umfangs und ihres Inhalts) es den Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats in Anbetracht der kurzen Fristen nach Artikel 17 des EuHb-Rahmenbeschlusses praktisch unmöglich machen, eine sachdienliche Antwort zu geben (siehe Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-220/18 PPU, ML (101)).

Im Einklang mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung darf die vollstreckende Justizbehörde die Begründetheit der Entscheidungen der Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats nicht infrage stellen.

Die Kommunikation sollte stets so rasch wie möglich, in jedem Fall aber innerhalb der in Artikel 17 des EuHb-Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen für den EuHb erfolgen.

Ein typischer Fall, in dem ein Ersuchen um zusätzliche Angaben erforderlich sein kann, liegt vor, wenn

a)

ein wichtiger Teil des EuHb-Formblatts nicht ausgefüllt ist,

b)

der Inhalt des EuHb unklar ist,

c)

der EuHb einen offensichtlichen Fehler enthält,

d)

unsicher ist, ob aufgrund des EuHb die richtige Person festgenommen wurde.

Vor Geltendmachung eines Ablehnungsgrundes

In vielen Fällen sollte sich die vollstreckende Justizbehörde mit der ausstellenden Justizbehörde in Verbindung setzen, bevor sie über die Geltendmachung eines Grundes für die Ablehnung der Vollstreckung entscheidet. Dies kann zum Beispiel nützlich sein, um zu ermitteln, ob andere Maßnahmen der justiziellen Zusammenarbeit angewandt werden könnten, falls der EuHb nicht vollstreckt werden kann.

Sonstige Gründe für eine Kontaktaufnahme

Eine zusätzliche Kontaktaufnahme könnte zum Beispiel auch notwendig sein,

a)

um beim Ausstellungsmitgliedstaat Garantien im Zusammenhang mit lebenslangen Freiheitsstrafen zu erwirken oder um Staatsangehörige oder Gebietsansässige zur Verbüßung von Freiheitsstrafen im Vollstreckungsmitgliedstaat zu überstellen (siehe Abschnitt 5.9),

b)

wenn gegen eine Person mehrere EuHb vorliegen (siehe Abschnitt 5.12),

c)

wenn der Beklagte berechtigte Bedenken in Bezug auf eine mutmaßliche Grundrechtsverletzung geäußert hat, die Informationen der ausstellenden Justizbehörde erfordert.

4.4.2.   Wie sollte Kontakt aufgenommen werden?

Der EuHb basiert auf dem Grundsatz des direkten Kontakts zwischen den zuständigen Behörden. Die direkte Kommunikation zwischen der ausstellenden und der vollstreckenden Justizbehörde hat den Vorteil, schnell und zuverlässig zu sein.

Wenn der Mitgliedstaat eine zentrale Behörde für den amtlichen Schriftverkehr benannt hat (gemäß Artikel 7 des EuHb-Rahmenbeschlusses), muss die Kommunikation jedoch über die zentralen Behörden erfolgen. Informationen über die Mitgliedstaaten, die eine zentrale Behörde benannt haben, finden Sie im EuHb-Bereich der Justiz-Bibliothek auf der EJN-Website (102).

Gerichtsatlas (Kontaktdaten)

Die Kontaktdaten der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten finden sich im Atlas auf der EJN-Website (https://www.ejn-crimjust.europa.eu). Der Atlas soll dazu dienen, die für die Entgegennahme einer zu vollstreckenden Entscheidung örtlich zuständige Behörde zu ermitteln und sich mit der zuständigen Person in Verbindung zu setzen, um praktische Fragen in Bezug auf den EuHb und andere Instrumente zu erörtern, die der gegenseitigen Anerkennung unterliegen.

Kommunikationsmittel

Der EuHb-Rahmenbeschluss enthält keine besonderen Vorschriften über die Form oder das Verfahren der Kommunikation nach Eingang eines EuHb. In Betracht kommen alle verfügbaren hinreichend sicheren Mittel (z. B. Telefon oder E-Mail). Am effizientesten ist es, direkt und möglichst formlos zu kommunizieren und nach Möglichkeit die Verwendung einer gemeinsamen Sprache zu vereinbaren.

Auf der Grundlage von zwei Vorschlägen der Kommission vom 1. Dezember 2021 – einem Vorschlag für eine Verordnung zur Festlegung von Vorschriften für die digitale Kommunikation in Verfahren der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil-, Handels- und Strafsachen (103) und einem Vorschlag für eine Richtlinie zur Angleichung der bestehenden Kommunikationsvorschriften an die Vorschriften der vorgeschlagenen Verordnung (104) – werden voraussichtlich neue Vorschriften für Kommunikationsmittel angenommen.

Es ist ratsam, die Sprache in der schriftlichen Kommunikation so einfach wie möglich zu halten. Ausdrücke und Begriffe, die in verschiedenen Rechtsordnungen unterschiedliche Konnotationen haben könnten, sollten vermieden oder aber erläutert werden. Dies trägt dazu bei, Missverständnisse und Probleme mit Übersetzungen zu vermeiden.

Eine gute Kommunikation hilft dabei, das Verfahren zügig durchzuführen, Missverständnisse zu vermeiden und die in Artikel 17 des EuHb-Rahmenbeschlusses festgelegten kurzen Fristen einzuhalten (siehe die Abschnitte 4.1 und 4.2 zu den Fristen).

Dringlichkeit

Die ausstellende Justizbehörde muss Ersuchen um zusätzliche Angaben als Eilsache behandeln. Die vollstreckende Justizbehörde kann eine (angemessene) Frist für den Erhalt dieser Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 des EuHb-Rahmenbeschlusses zu beachten ist (Artikel 15 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Die zuständigen Behörden sollten auch den Verzögerungen Rechnung tragen, die durch Ersuchen um zusätzliche Angaben verursacht werden können, und versuchen, solche Verzögerungen möglichst gering zu halten.

Erleichterung der Kommunikation durch Kontaktstellen des Europäischen Justiziellen Netzes (EJN) oder von Eurojust

Die Kontaktstellen des EJN oder die nationalen Mitglieder von Eurojust können die Kommunikation zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten erleichtern. Sowohl das EJN als auch Eurojust kann eine rasche, formlose Kontaktaufnahme zwischen Vertretern der Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten vermitteln.

Das EJN oder Eurojust unter Berücksichtigung ihrer besonderen Aufgaben in Anspruch zu nehmen ist insbesondere in dringenden Fällen sowie dann ratsam, wenn es schwierig ist, die richtige Behörde zu erreichen.

Beispielsweise können die EJN-Website (Gerichtsatlas, Fiches Belges) und die EJN-Kontaktstellen bei der Ermittlung der zuständigen vollstreckenden Justizbehörde helfen und Auskunft über die besonderen Anforderungen im Vollstreckungsmitgliedstaat geben. Im Falle wiederholter Verzögerungen oder mehrfacher Ablehnung der Vollstreckung sollte das nationale Eurojust-Mitglied des vollstreckenden Mitgliedstaats angesprochen werden. Die vollstreckende Justizbehörde kann Eurojust auch bei mehreren EuHb im Sinne von Artikel 16 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses um Stellungnahme ersuchen. Zudem kann für die Übermittlung des EuHb das gesicherte Telekommunikationssystem des EJN genutzt werden, wie in Artikel 10 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses vorgesehen. Es hat sich bewährt, auf dem EuHb-Formblatt anzugeben, ob EJN-Kontaktstellen oder nationale Eurojust-Mitglieder oder andere für den Fall zuständige Personen an der Ausarbeitung des EuHb beteiligt waren (105).

Rolle der SIRENE-Büros

Bei SIS-Ausschreibungen zur Festnahme sind für den Informationsaustausch im Anschluss an den Zeitpunkt, zu dem die Ausschreibung erfolgt und die Person gefunden wird (der „Treffer“), bis mindestens zum Beginn des förmlichen Übergabeverfahrens die SIRENE-Büros verantwortlich. Die Justizbehörden sollten das SIRENE-Büro über die Entwicklungen zwischen dem Treffer und der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des EuHb auf dem Laufenden halten (106).

4.5.   Pflicht der vollstreckenden Justizbehörde, nach der Entscheidung über die Übergabe die ausstellende Justizbehörde zu unterrichten

Nachdem die vollstreckende Justizbehörde entschieden hat, ob die mit EuHb gesuchte Person übergeben wird oder nicht, ist sie verpflichtet, den Ausstellungsmitgliedstaat über ihre Entscheidung und über die Dauer der Haft der gesuchten Person zu unterrichten.

4.5.1.   Unterrichtung über die Übergabeentscheidung

Die vollstreckende Justizbehörde muss der ausstellenden Justizbehörde die Entscheidung über die Übergabe mitteilen. Unabhängig davon, ob die Person übergeben wird oder nicht, muss diese Mitteilung nach der Entscheidung unverzüglich erfolgen, damit die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats geeignete Maßnahmen treffen können. Diese Pflicht zur unverzüglichen Unterrichtung des Ausstellungsmitgliedstaats über die Entscheidung ergibt sich aus Artikel 22 des EuHb-Rahmenbeschlusses.

Es ist ratsam, für diesen Zweck das Standardformular in Anhang VII dieses Handbuchs zu verwenden. Ferner wird der vollstreckenden Justizbehörde empfohlen, der ausstellenden Justizbehörde die Entscheidung direkt zu übermitteln, da dies eine schnelle, klare Kommunikation erleichtert (siehe Abschnitt 4.4.2).

Eine Ablehnung der Vollstreckung eines EuHb ist zu begründen (Artikel 17 Absatz 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Es ist wichtig, dass die vollstreckenden Justizbehörden genau angeben, welche Straftat(en) der Übergabe zugrunde lag(en). Dies ist wegen des in Artikel 27 des EuHb-Rahmenbeschlusses verankerten Grundsatzes der Spezialität von Belang (siehe Abschnitt 2.6). Der Grundsatz der Spezialität könnte den Ausstellungsmitgliedstaat daran hindern, andere als die der Übergabe zugrunde liegenden Straftaten zu verfolgen, die vor der Übergabe begangen wurden.

Wenn der EuHb in das SIS eingegeben wurde, sollte die vollstreckende Justizbehörde ihre Entscheidung dem SIRENE-Büro ihres Mitgliedstaats mitteilen.

Die Justizbehörden sollten das SIRENE-Büro über die Entwicklungen zwischen dem Treffer und der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des EuHb auf dem Laufenden halten.

Sobald die Person aufgefunden wird, wird die ausstellende Justizbehörde über das SIRENE-Büro informiert, das in den meisten Fällen die praktischen Modalitäten für die Übergabe der Person regelt und die ausstellende Justizbehörde, die die Festnahme beantragt, uneingeschränkt unterstützen wird (in einigen Ländern führen die SIRENE-Büros Übergaben direkt durch, in anderen stellen SIRENE-Büros Einheiten für die Übergaben bereit). Es wurde ein spezielles SIRENE-Formular („Formular T“) erstellt, um den Informationsaustausch zwischen den SIRENE-Büros über die Übergabe, Auslieferung und Durchbeförderung von festgenommenen Personen zu erleichtern (siehe Artikel 38 bis 40 des SIRENE-Handbuchs – Polizei) (107).

4.5.2.   Unterrichtung über die Dauer der Haft

Der ausstellenden Justizbehörde sind alle Angaben zur Dauer der Haft, welche die gesuchte Person aufgrund des EuHb verbüßt hat, zu übermitteln. Der EuHb-Rahmenbeschluss schreibt vor, dass diese Angaben zum Zeitpunkt der Übergabe übermittelt werden (Artikel 26 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Die Angaben können von der vollstreckenden Justizbehörde oder der benannten Zentralbehörde übermittelt werden.

Es ist wichtig, dass die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats die genaue Haftdauer kennen. Denn dieser Zeitraum muss auf die rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung angerechnet werden (Artikel 26 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Im Standardformular in Anhang VII ist ein Feld für die Angabe der Dauer der Haft vorgesehen.

In seinem Urteil in der Rechtssache C-294/16 PPU, JZ (108), hat der Gerichtshof Folgendes entschieden:

„47

… ist der Begriff ‚Haft‘ im Sinne von Art. 26 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass er neben der Inhaftierung jede dem Betroffenen auferlegte Maßnahme oder Gesamtheit von Maßnahmen umfasst, durch die ihm aufgrund ihrer Art, ihrer Dauer, ihrer Wirkungen und ihrer Durchführungsmodalitäten die Freiheit in einer der Inhaftierung vergleichbaren Weise entzogen wird.

53

Bei der Umsetzung von Art. 26 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 muss die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats des Europäischen Haftbefehls prüfen, ob die gegenüber dem Betroffenen im Vollstreckungsmitgliedstaat angeordneten Maßnahmen einem Freiheitsentzug in dem in Rn. 47 des vorliegenden Urteils genannten Sinne gleichzustellen sind und daher eine Haft im Sinne von Art. 26 Abs. 1 darstellen. Kommt die Justizbehörde im Rahmen ihrer Prüfung zu dem Ergebnis, dass dies der Fall ist, ist sie nach Art. 26 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verpflichtet, die Gesamtdauer des Zeitraums, in dem die Maßnahmen angewendet wurden, auf die Dauer der von dieser Person im Ausstellungsmitgliedstaat des Europäischen Haftbefehls zu verbüßenden Freiheitsstrafe anzurechnen.

55

Da sich Art. 26 Abs. 1 darauf beschränkt, ein Mindestschutzniveau der Grundrechte der im Europäischen Haftbefehl bezeichneten Person vorzuschreiben, kann er jedoch, wie der Generalanwalt in Nr. 72 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats des Haftbefehls daran hindert, auf der Grundlage allein des nationalen Rechts einen Zeitraum, in dem die Person im Vollstreckungsmitgliedstaat keinen freiheitsentziehenden, sondern freiheitsbeschränkenden Maßnahmen unterworfen war, ganz oder teilweise auf die Gesamtdauer des von ihr im Ausstellungsmitgliedstaat zu verbüßenden Freiheitsentzugs anzurechnen.

56

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats des Europäischen Haftbefehls bei der in Rn. 53 des vorliegenden Urteils angesprochenen Prüfung auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats um alle Informationen ersuchen kann, deren Übermittlung für notwendig erachtet wird.“

4.6.   Inhafthaltung der mit EuHb gesuchten Person im Vollstreckungsmitgliedstaat

Nach der Festnahme der mit EuHb gesuchten Person aufgrund des EuHb muss die vollstreckende Justizbehörde entscheiden, ob die Person bis zur Entscheidung über die Vollstreckung des EuHb in Haft zu halten oder freizulassen ist. Haft ist daher nicht unbedingt erforderlich, und eine vorläufige Haftentlassung nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ist jederzeit möglich (Artikel 12 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Wenn die Person nicht in Haft gehalten wird, ist die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats verpflichtet, alle Maßnahmen zu treffen, die sie zur Verhinderung einer Flucht der Person für erforderlich erachtet (Artikel 12 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Zu diesen Maßnahmen könnten Reiseverbote oder eine Meldeauflage und eine elektronische Überwachung gehören.

In seinem Urteil in der Rechtssache C-492/18, TC (109), hat der Gerichtshof entschieden, dass der EuHb-Rahmenbeschluss einer nationalen Bestimmung entgegensteht, die eine allgemeine und unbedingte Verpflichtung zur Freilassung einer gesuchten und aufgrund eines EuHb festgenommenen Person vorsieht, sobald eine Frist von 90 Tagen seit ihrer Festnahme abgelaufen ist, wenn eine sehr ernsthafte Fluchtgefahr dieser Person besteht, die nicht durch geeignete Maßnahmen auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden kann.

In seinem Urteil in der Rechtssache C-237/15 PPU, Lanigan (110), hat der Gerichtshof Folgendes festgestellt:

„Art. 12 des Rahmenbeschlusses ist in Verbindung mit dessen Art. 17 im Licht von Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er in einem solchen Fall der Inhafthaltung der gesuchten Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht entgegensteht, auch wenn die gesamte Haftdauer dieser Person die betreffenden Fristen überschreitet, sofern sie nicht in Anbetracht der Merkmale des Verfahrens, das in dem Fall, um den es im Ausgangsverfahren geht, angewandt wurde, übermäßig lang ist; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts. Entscheidet die vollstreckende Justizbehörde, die Inhaftierung der gesuchten Person zu beenden, muss sie deren vorläufige Freilassung mit den ihres Erachtens zur Verhinderung einer Flucht erforderlichen Maßnahmen verbinden und sicherstellen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person weiterhin gegeben sind, solange noch keine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ergangen ist.“

Die Haftentscheidung muss jedoch nach nationalem Recht und im Einklang mit Artikel 6 der Charta, nach dem jeder Mensch das Recht auf Freiheit und Sicherheit hat, getroffen werden. Dieser Artikel verlangt das Bestehen einer die fortgesetzte Inhaftnahme rechtfertigenden Rechtsgrundlage, die die Anforderungen der Klarheit, Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit zu erfüllen hat, um jede Gefahr von Willkür zu vermeiden. Der Gerichtshof hat in der Rechtssache C-492/18, TC (111), entschieden, dass

„Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach die Inhafthaltung einer gesuchten Person über die Frist von 90 Tagen hinaus zulässig ist und die auf einer Auslegung dieser nationalen Bestimmung beruht, nach der diese Frist ausgesetzt wird, wenn die vollstreckende Justizbehörde entweder beschließt, dem Gerichtshof der Europäischen Union eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen oder die Beantwortung einer von einer anderen vollstreckenden Justizbehörde zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage abzuwarten bzw. die Übergabeentscheidung wegen des möglichen Bestehens einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat aufzuschieben, wenn diese Rechtsprechung nicht sicherstellt, dass die nationale Bestimmung mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 in Einklang steht, und Abweichungen aufweist, die zu einer unterschiedlichen Dauer der Inhafthaltung führen können.“

5.   ENTSCHEIDUNG ÜBER DIE ÜBERGABE

5.1.   Allgemeine Pflicht zur Vollstreckung der EuHb

Die vollstreckende Justizbehörde hat grundsätzlich die Pflicht, jeden EuHb nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen des EuHb-Rahmenbeschlusses (Artikel 1) zu vollstrecken.

In seinem Urteil in der Rechtssache C-268/17, AY (112), hat der Gerichtshof entschieden, dass Artikel 1 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats zum Erlass einer Entscheidung über jeden ihr übermittelten EuHb verpflichtet ist, auch wenn in diesem Mitgliedstaat bereits über einen früheren EuHb gegen dieselbe Person und zu derselben Handlung entschieden wurde, der zweite EuHb aber lediglich aufgrund der Anklageerhebung gegen die gesuchte Person im Ausstellungsmitgliedstaat erlassen wurde. In ähnlicher Weise hat der Gerichtshof in der Rechtssache C-158/21, Puig Gordi u. a (113)., entschieden, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 dem Erlass mehrerer aufeinanderfolgender EuHb gegen eine gesuchte Person nicht entgegensteht, wenn die Vollstreckung eines ersten EuHb abgelehnt wurde, sofern die Vollstreckung eines neuen EuHb nicht zu einem Verstoß gegen Artikel 1 Absatz 3 dieses Rahmenbeschlusses führt und der Erlass verhältnismäßig ist.

Wie der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache C-510/19, AZ (114), entschieden hat, muss die Entscheidung über die Vollstreckung eines EuHb von einer „Justizbehörde“ getroffen werden, die die mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz einhergehenden Anforderungen erfüllt (siehe Abschnitt 2.1.5).

Auf die Bestimmungen des EuHb-Rahmenbeschlusses über die Entscheidung über die Vollstreckung eines EuHb wird in den Abschnitten 5 bis 9 dieses Handbuchs eingegangen. Der Entscheidung über die Übergabe muss innerhalb der in Abschnitt 4 genannten Fristen nachgekommen werden.

Zudem müssen die zuständigen Behörden gewährleisten, dass die in Abschnitt 12 genannten Mindestverfahrensrechte der gesuchten Person geachtet werden.

5.2.   Bereitstellung von Informationen durch die ausstellende Justizbehörde

Die von der ausstellenden Justizbehörde nach Artikel 8 des EuHb-Rahmenbeschlusses bereitgestellten Informationen dienen dazu, der vollstreckenden Justizbehörde die erforderlichen amtlichen Mindestangaben zu geben, damit sie rasch über die Vollstreckung des EuHb entscheiden kann.

In der Rechtssache C-551/18 PPU, IK (115), hatte die ausstellende Justizbehörde es versäumt, die zusätzliche Strafe der Überantwortung an das Strafvollstreckungsgericht zu erwähnen, zu der die gesuchte Person wegen derselben Tat durch dieselbe richterliche Entscheidung, mit der auch die Hauptfreiheitsstrafe verhängt wurde, verurteilt worden war. Da die Hauptfreiheitsstrafe von drei Jahren Haft die in Artikel 2 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses festgelegte Schwelle von vier Monaten überschritt, war der Gerichtshof der Auffassung, dass ihre Erwähnung durch die ausstellende Behörde ausreichte, um sicherzustellen, dass der EuHb der in Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe f des EuHb-Rahmenbeschlusses genannten Anforderung an die Ordnungsmäßigkeit genügt.

Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass

„Art. 8 Abs. 1 Buchst. f des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass der Umstand, dass in dem Europäischen Haftbefehl, auf dessen Grundlage die Übergabe der betroffenen Person erfolgt ist, die zusätzliche Strafe der Überantwortung an das Strafvollstreckungsgericht nicht erwähnt wird, zu der diese Person wegen derselben Tat durch dieselbe richterliche Entscheidung, mit der auch die Hauptfreiheitsstrafe verhängt worden ist, verurteilt worden ist, unter den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umständen nicht dem entgegensteht, dass die Vollstreckung dieser zusätzlichen Strafe nach Ablauf der Hauptstrafe und nach einem zu diesem Zweck ergangenen förmlichen Beschluss des für die Strafvollstreckung zuständigen nationalen Gerichts zu einem Freiheitsentzug führt.“

In der Rechtssache C-241/15, Bob-Dogi (116), hat der Gerichtshof entschieden, dass die vollstreckende Justizbehörde, bevor sie die Vollstreckung eines EuHb wegen Ungültigkeit ablehnt, gemäß Artikel 15 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen bitten muss.

5.3.   Liste der 32 Arten von Straftaten, die eine Übergabe ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zur Folge haben

Die vollstreckende Justizbehörde hat zu prüfen, ob von der ausstellenden Justizbehörde festgestellte Straftaten einer der in Artikel 2 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses aufgelisteten 32 Straftaten zuzuordnen sind. Nur bei Straftaten, die nicht in dieser Liste aufgeführt sind, darf die vollstreckende Justizbehörde das Vorliegen der beiderseitigen Strafbarkeit prüfen.

Zu betonen ist, dass nur die Definition der Straftat und der Höchststrafe nach dem Recht des Ausstellungsstaats maßgeblich ist. Die vollstreckende Justizbehörde kann feststellen, was die ausstellende Justizbehörde im EuHb angegeben hat. Falls die vollstreckende Justizbehörde der Auffassung ist, dass in dieser Hinsicht ein offensichtlicher Fehler vorliegt, sollte sie sich mit der ausstellenden Justizbehörde in Verbindung setzen und eine Klärung herbeiführen (siehe Abschnitt 4.4 zur Kommunikation zwischen den Justizbehörden).

In Bezug auf die einschlägige Fassung des Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats hat der Gerichtshof Artikel 2 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses in seinem Urteil in der Rechtssache C-717/18, X (117), ausgelegt. Er hat Folgendes entschieden:

„die vollstreckende Justizbehörde [hat] bei der Prüfung, ob die Straftat, wegen der ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt worden ist, im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist, das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats in der für die Handlungen, die zu der Rechtssache geführt haben, in deren Rahmen der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, geltenden Fassung heranzuziehen“.

5.4.   Akzessorische Straftaten

Von „akzessorischen Straftaten“ spricht man im Zusammenhang mit einer oder mehrerer Straftaten, die mit einem niedrigeren als dem in Artikel 2 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses angegebenen Strafmaß bedroht sind. Solche Straftaten können als akzessorische Straftaten in den EuHb aufgenommen werden. Die ausstellende Justizbehörde kann solche Straftaten im EuHb-Formblatt angeben, auch wenn sie nicht in den Anwendungsbereich des EuHb fallen (siehe Abschnitt 2.3).

Der EuHb muss jedoch für mindestens eine Straftat erlassen werden, die dem Strafmaß in Artikel 2 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses entspricht.

Im EuHb-Rahmenbeschluss ist nicht ausdrücklich geregelt, wie die Übergabe wegen akzessorischer Straftaten zu behandeln ist. Einige Mitgliedstaaten lassen sie zu, andere nicht. Wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat eine solche Übergabe einer gesuchten Person nicht zulässt, kann der Grundsatz der Spezialität den Ausstellungsmitgliedstaat an der Verfolgung dieser Straftaten hindern (siehe Abschnitt 2.6 zum Grundsatz der Spezialität).

Falls der EuHb akzessorische Straftaten umfasst, sollte die vollstreckende Justizbehörde in der Übergabeentscheidung klar angeben, ob die Übergabe auch die akzessorischen Straftaten betrifft. Mit der Übergabe wegen der akzessorischen Straftaten erhält der Ausstellungsmitgliedstaat die Zuständigkeit für die Verfolgung dieser Straftaten oder die Vollstreckung einer entsprechenden Freiheitsstrafe.

In Anhang VIII sind die Mitgliedstaaten aufgeführt, deren Rechtsordnung die Möglichkeit einer Übergabe wegen akzessorischer Straftaten vorsieht.

5.5.   Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung

Die (in Artikel 1 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses verankerte) allgemeine Pflicht zur Vollstreckung der EuHb wird durch die zwingenden bzw. fakultativen Ablehnungsgründe eingeschränkt (Artikel 3, 4 und 4a des EuHb-Rahmenbeschlusses). Es ist darauf hinzuweisen, dass dies nach dem EuHb-Rahmenbeschluss grundsätzlich die einzigen Gründe sind, auf die sich die vollstreckende Justizbehörde berufen kann, um die Vollstreckung eines gültig ausgestellten EuHb abzulehnen. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass die Gründe abschließend aufgezählt sind (insbesondere in seinen Urteilen in der Rechtssache C-123/08, Wolzenburg, und in den verbundenen Rechtssachen C-404/15 und C-659/15 PPU, Aranyosi und Căldăraru (118)).

Die vollstreckende Justizbehörde muss sich in manchen Situationen mit der ausstellenden Justizbehörde in Verbindung setzen, bevor sie über die Ablehnung der Übergabe entscheidet. Dies könnte ratsam sein, wenn unsicher ist, ob ein Ablehnungsgrund besteht. Bevor die vollstreckende Justizbehörde die Ablehnungsentscheidung trifft, könnte sie auch eruieren, welche anderen Maßnahmen möglich wären, wie zum Beispiel die Überstellung von Strafgefangenen (siehe Abschnitt 4.4 zur Kommunikation zwischen den Justizbehörden und Abschnitt 2.5 zu sonstigen Maßnahmen der Union im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit).

Wenn entschieden wurde, die Übergabe abzulehnen, kann die gesuchte Person nicht länger aufgrund des EuHb in Haft gehalten werden.

5.5.1.   Zwingende Ablehnungsgründe

Wenn mindestens einer der zwingenden Ablehnungsgründe vorliegt, muss die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des EuHb ablehnen (Artikel 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Diese Gründe sind in Artikel 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses festgelegt.

Amnestie (Artikel 3 Nummer 1)

Die Straftat, aufgrund deren der EuHb ergangen ist, fällt im Vollstreckungsmitgliedstaat unter eine Amnestie. Ferner muss der Vollstreckungsmitgliedstaat nach seinem eigenen Strafrecht für die Verfolgung der Straftat zuständig sein.

Grundsatz „ne bis in idem“ (Artikel 3 Nummer 2)

Aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt sich, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat bereits rechtskräftig verurteilt worden ist. Darüber hinaus wird verlangt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.

Der Gerichtshof hat sich in mehreren Rechtssachen zur Auslegung des Grundsatzes „ne bis in idem“ im Zusammenhang mit Artikel 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) geäußert. Diese Urteile sind aufgrund des Urteils in der Rechtssache C-261/09, Mantello (119), auf den EuHb-Rahmenbeschluss anwendbar. In seinem Urteil in der Rechtssache C-129/14 PPU, Spasic (120), hat der Gerichtshof entscheiden, dass Artikel 54 SDÜ mit Artikel 50 der Charta vereinbar ist, in dem dieser Grundsatz verankert ist.

Artikel 54 SDÜ

„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“

Artikel 50 der Charta

„Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden

Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“

In seinen Urteilen in den Rechtssachen C-261/09, Mantello (121), und C-268/17, AY (122), hat der Gerichtshof die Auslegung von Begriffen wie „endgültige Entscheidung“, „dieselbe Handlung“ und „Sanktion wurde vollstreckt“ in seiner früheren Rechtsprechung bestätigt. In der Rechtssache C-268/17, AY, hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Entscheidung einer Staatsanwaltschaft, ein Ermittlungsverfahren einzustellen, in dessen Verlauf die Person, die Gegenstand eines EuHb ist, lediglich als Zeuge befragt wurde, nicht angeführt werden kann, um die Vollstreckung des betreffenden EuHb nach Artikel 3 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses abzulehnen.

In seinem Urteil in der Rechtssache C-505/19, WS (Red Notice von Interpol) (123), hat der Gerichtshof zur Rechtmäßigkeit der Festnahme und Inhaftierung einer gesuchten Person Folgendes ausgeführt:

„die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls [wird] gemäß Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zwar abgelehnt, wenn sich aus den der Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats vorliegenden Informationen ergibt, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift. Nach Art. 12 dieses Rahmenbeschlusses entscheidet diese Behörde im Fall der Festnahme einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls aber, ob die gesuchte Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist. Danach ist die Festnahme oder Inhafthaltung der gesuchten Person nur dann ausgeschlossen, wenn die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats nachgewiesen hat, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift.“

Darüber hinaus hat der Gerichtshof in der Rechtssache C-203/20, AB u. a (124)., entschieden, dass Artikel 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Ausstellung eines EuHb gegen eine Person, deren Strafverfolgung ursprünglich durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung auf der Grundlage einer Amnestie eingestellt und dann nach dem Erlass eines Gesetzes, mit dem diese Amnestie zurückgenommen wurde, wieder aufgenommen wurde, nicht entgegensteht, wenn diese gerichtliche Entscheidung vor einer Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der betreffenden Person ergangen ist.

Anhang VI enthält eine Liste von Urteilen des Gerichtshofs zum Grundsatz „ne bis in idem“ in Strafsachen. Zusammenfassungen dieser Fälle finden sich in der Zusammenstellung von Eurojust mit dem Titel „ Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Grundsatz ne bis in idem in Strafsachen “ (abrufbar unter www.eurojust.europa.eu).

Mangelnde Strafmündigkeit (Artikel 3 Nummer 3)

Die gesuchte Person kann nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats aufgrund ihres Alters für die Handlung, die dem Haftbefehl zugrunde liegt, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.

Das Alter der Strafmündigkeit ist in den Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt. Auch der Zeitpunkt, zu dem dieses Alter im konkreten Fall erreicht sein muss, ist verschieden. Dies kann beispielsweise der Zeitpunkt sein, zu dem die mutmaßliche Straftat begangen wurde, oder der Zeitpunkt, zu dem die Person angeklagt wird.

Dieser Ablehnungsgrund liegt vor, wenn gegen die gesuchte Person wegen ihres Alters im Vollstreckungsmitgliedstaat nur ein Zivil- oder Verwaltungs-, aber kein Strafverfahren eingeleitet werden könnte.

In seinem Urteil in der Rechtssache C-367/16, Piotrowski (125), hat der Gerichtshof entschieden, dass die vollstreckende Justizbehörde nur die Übergabe von Minderjährigen ablehnen muss, gegen die ein EuHb ergangen ist und die nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht das erforderliche Alter haben, um für die Handlungen, die dem gegen sie ergangenen Haftbefehl zugrunde liegen, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden zu können. Die vollstreckende Justizbehörde muss nicht zusätzliche, eine individuelle Begutachtung betreffende Voraussetzungen prüfen, von denen das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats die Verfolgung oder Verurteilung eines Minderjährigen konkret abhängig macht. Es ist Sache der ausstellenden Justizbehörde, die speziellen Vorschriften für die strafrechtliche Ahndung von Handlungen anzuwenden, die in ihrem Mitgliedstaat von Minderjährigen begangen wurden.

5.5.2.   Fakultative Ablehnungsgründe

Wenn einer der fakultativen Ablehnungsgründe vorliegt, die in nationales Recht umgesetzt wurden, kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des EuHb je nach den Umständen des Falles ablehnen. Diese Gründe sind in Artikel 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses festgelegt.

Der Gerichtshof hat in der Rechtssache C-665/20 PPU, Openbaar Ministerie gegen X (126), entschieden, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie sich für die Umsetzung eines fakultativen Ablehnungsgrundes nach dem Rahmenbeschluss entscheiden, nicht vorsehen dürfen, dass die Justizbehörden verpflichtet sind, die Vollstreckung jedes in den Anwendungsbereich dieser Gründe fallenden EuHb abzulehnen. Vielmehr muss die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats über ein eigenes Ermessen verfügen und in der Lage sein, die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen und den fakultativen Ablehnungsgrund im vorliegenden Fall zu beurteilen.

Insbesondere sollten die besonderen Umstände jedes Falles sorgfältig geprüft werden, wenn ein EuHb von einem Europäischen Delegierten Staatsanwalt der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) (127) oder auf sein Ersuchen hin ausgestellt wurde, wenn Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union (128), z. B. komplexer Mehrwertsteuerbetrug mit grenzüberschreitendem Bezug, ermittelt bzw. verfolgt werden, da die EUStA als supranationale einheitliche Behörde fungiert.

Fehlen der beiderseitigen Strafbarkeit (Artikel 4 Nummer 1)

Die Handlung, aufgrund deren der EuHb ergangen ist, stellt nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat dar.

Dieser Grund gilt für Straftaten, die nicht in der Liste des Artikels 2 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses unter den Straftaten aufgeführt sind, bei denen die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit entfällt. Darüber hinaus kann dieser fakultative Ablehnungsgrund auch vorliegen, wenn die Handlung zwar einer der in Artikel 2 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses aufgelisteten Straftaten entspricht, diese aber i) mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von weniger als drei Jahren bedroht ist, und wenn diese Handlung nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt, und ii) nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt.

In seinen Urteilen in der Rechtssache C-289/15, Grundza (129), und in der Rechtssache C-168/21, Procureur général près la cour d'appel d'Angers (130), hat der Gerichtshof klargestellt, wie die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit zu beurteilen ist.

In seinem Urteil in der Rechtssache C-289/15, Grundza (131), hat der Gerichtshof Artikel 7 Absatz 3 und Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe d des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI ausgelegt (und zwar wie geprüft werden muss, ob die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit erfüllt ist). Der Gerichtshof hat wie folgt entschieden:

„38

dass es der zuständigen Behörde des Vollstreckungsstaats obliegt, im Zuge der Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit zu überprüfen, ob die der Straftat zugrunde liegenden Sachverhaltselemente, wie sie in dem von der zuständigen Stelle des Ausstellungsstaats erlassenen Urteil wiedergegeben werden, als solche auch im Vollstreckungsstaat, wenn sie sich in dessen Hoheitsgebiet ereignet hätten, einer strafrechtlichen Sanktion unterliegen würden.

49

Im Rahmen der Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit hat die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats … nicht zu prüfen, ob das vom Ausstellungsstaat geschützte Interesse verletzt wurde, sondern ob dann, wenn die betreffende Straftat im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dem diese Behörde zuzurechnen ist, begangen worden wäre, ein ähnliches, vom nationalen Recht dieses Staates geschütztes Interesse als verletzt gegolten hätte.“

In der Rechtssache C-168/21, Procureur général près la cour d'appel d'Angers (132), hat der Gerichtshof weiter ausgeführt, dass es für die Feststellung, ob die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit der Handlung erfüllt ist, notwendig und hinreichend ist, dass die Handlungen, die zur Ausstellung des EuHb geführt haben, auch nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats eine Straftat darstellen. Daher verlangt der Unionsgesetzgeber keine exakte Übereinstimmung der Tatbestandsmerkmale der Straftat, wie sie im Recht des ausstellenden und des vollstreckenden Mitgliedstaats festgelegt sind, oder der Bezeichnung bzw. der Einstufung dieser Straftat nach den betreffenden nationalen Rechtsordnungen.

Des Weiteren hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit nach Artikel 2 Absatz 4 und Artikel 4 Nummer 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses erfüllt ist, wenn der EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe für Handlungen ausgestellt wird, die im Ausstellungsmitgliedstaat den Tatbestand einer Straftat erfüllen, die voraussetzt, dass diese Handlungen ein in diesem Mitgliedstaat geschütztes rechtliches Interesse beeinträchtigen, auch wenn die Beeinträchtigung eines entsprechenden rechtlichen Interesses nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats kein Tatbestandsmerkmal darstellt. Eine Auslegung der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit der Tat, nach der diese Bedingung eine exakte Übereinstimmung der Tatbestandsmerkmale der Straftat wie auch hinsichtlich des in den Rechtsordnungen des ausstellenden und des vollstreckenden Mitgliedstaats geschützten rechtlichen Interesses verlangen würde, würde die Wirksamkeit des Übergabeverfahrens beeinträchtigen. Im Übrigen ist daher die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit der Tat auch dann als erfüllt anzusehen, wenn der EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt wird und diese Strafe im Ausstellungsmitgliedstaat für die Begehung einer aus mehreren Handlungen bestehenden einheitlichen Straftat verhängt wurde, von denen nur ein Teil im Vollstreckungsmitgliedstaat eine Straftat darstellt. Eine solche Auslegung steht auch im Einklang mit dem in Artikel 49 Absatz 3 der Charta vorgesehenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen. Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass es der vollstreckenden Justizbehörde nicht zusteht, im Rahmen der Prüfung der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe anhand von Artikel 49 Absatz 3 der Charta zu bewerten.

In Steuer-, Zoll- und Währungsangelegenheiten kann die Vollstreckung des EuHb nicht aus dem Grund abgelehnt werden, dass das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine gleichartigen Steuern vorschreibt oder keine gleichartigen Steuer-, Zoll- und Währungsbestimmungen enthält wie das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats.

Strafverfolgung im Vollstreckungsmitgliedstaat anhängig (Artikel 4 Nummer 2)

Die Person, gegen die der EuHb ergangen ist, wird im Vollstreckungsmitgliedstaat wegen derselben Handlung, aufgrund deren der EuHb ausgestellt worden ist, strafrechtlich verfolgt.

Strafverfolgung wegen derselben Straftat im Vollstreckungsmitgliedstaat ausgeschlossen (Artikel 4 Nummer 3)

Die Justizbehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats haben beschlossen, wegen der Straftat, aufgrund deren der EuHb ausgestellt worden ist, kein Verfahren einzuleiten bzw. das Verfahren einzustellen; oder gegen die gesuchte Person ist in einem Mitgliedstaat aufgrund derselben Handlung eine rechtskräftige Entscheidung ergangen, die einer weiteren Strafverfolgung entgegensteht.

In der Rechtssache C-268/17, AY (133), hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Entscheidung einer Staatsanwaltschaft, ein gegen eine unbekannte Person eröffnetes Ermittlungsverfahren einzustellen, in dem die Person, gegen die ein EuHb ergangen ist, lediglich als Zeuge befragt wurde, ohne dass ein Strafverfahren gegen diese Person eingeleitet wurde und wenn die Entscheidung nicht in Bezug auf diese Person ergangen ist, nicht angeführt werden kann, um die Vollstreckung des betreffenden EuHb nach Artikel 4 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses abzulehnen.

Siehe auch Abschnitt 5.5.1 zum Grundsatz „ne bis in idem“.

Strafverfolgung oder Strafvollstreckung verjährt (Artikel 4 Nummer 4)

Die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung ist nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats verjährt, und die Handlungen fielen nach seinem eigenen Strafrecht in seine Zuständigkeit.

Rechtskräftige Verurteilung in einem Drittstaat (Artikel 4 Nummer 5)

Aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt sich, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.

In seinem Urteil in der Rechtssache C-665/20 PPU, X (134), hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Begriff „dieselbe Handlung“ in Artikel 3 Nummer 2 und Artikel 4 Nummer 5 des EuHb-Rahmenbeschlusses in den beiden Bestimmungen einheitlich auszulegen ist. Darüber hinaus hat der Gerichtshof klargestellt, dass die in Artikel 4 Nummer 5 vorgesehene Voraussetzung für die Vollstreckung auch dann erfüllt ist, wenn die gesuchte Person wegen derselben Handlung rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, die sie im Drittstaat teilweise verbüßt hat und die ihr im Übrigen von einer Behörde dieses Staates, die keine Justizbehörde ist, erlassen wurde. Der Gerichtshof betonte, dass die vollstreckende Justizbehörde bei der Ausübung ihres Ermessens die Verhinderung von Straflosigkeit gegen die Gewährleistung der Rechtssicherheit der betroffenen Person abwägen muss.

Siehe auch Abschnitt 5.5.1 zum Grundsatz „ne bis in idem“.

Vollstreckungsmitgliedstaat übernimmt Vollstreckung der Sanktion (Artikel 4 Nummer 6)

Wenn der EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist und sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat, kann die vollstreckende Justizbehörde prüfen, ob die Sanktion in ihrem Mitgliedstaat vollstreckt werden könnte, anstatt die Person dem Ausstellungsmitgliedstaat zu übergeben.

Artikel 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI enthält auch eine besondere Regelung betreffend die Vollstreckung von Freiheitsstrafen im Vollstreckungsmitgliedstaat in Fällen nach Artikel 4 Nummer 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses (siehe Abschnitt 2.5.2). Der Rahmenbeschluss 2008/909/JI ist an die Stelle des Übereinkommens von 1983 über die Überstellung verurteilter Personen und seines Zusatzprotokolls (135) getreten. Daher muss der Rahmenbeschluss 2008/909/JI zur Übertragung der Strafe auf den Mitgliedstaat, in dem sie vollstreckt werden soll, herangezogen werden.

Nach dem Rahmenbeschluss 2008/909/JI ist die Zustimmung der verurteilten Person zu ihrer Überstellung nicht mehr in jedem Fall erforderlich.

In seinem Urteil in der Rechtssache C-514/17, Sut (136), hat der Gerichtshof das Verfahren und die Voraussetzungen für die Anwendung von Artikel 4 Nummer 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses hervorgehoben.

Er hat wie folgt entschieden:

„32.

Aus dem Wortlaut der Bestimmung geht daher hervor, dass die Anwendung dieses Grundes, aus dem die Vollstreckung abgelehnt werden kann, von zwei Voraussetzungen abhängt, nämlich zum einen, dass sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger sie ist oder in dem sie ihren Wohnsitz hat, und zum anderen, dass dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.

36.

Stellt die vollstreckende Justizbehörde fest, dass beide vorstehend genannten Voraussetzungen erfüllt sind, muss sie beurteilen, ob ein legitimes Interesse daran besteht, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt wird (vgl. Urteil vom 17. Juli 2008, Kozłowski, C-66/08, EU:C:2008:437, Rn. 44). Bei dieser Beurteilung kann die Behörde das mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verfolgte und in Rn. 33 des vorliegenden Urteils erläuterte Ziel berücksichtigen.“

In Bezug auf die erste Bedingung hat der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache C-66/08, Kozłowski (137), festgestellt, dass die Begriffe „sich aufhält“ und „ihren Wohnsitz hat“ in Artikel 4 Nummer 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses einheitlich ausgelegt werden müssen, da sie sich auf autonome Begriffe des Unionsrechts beziehen. Sie stehen jeweils für Situationen, in denen die gesuchte Person entweder ihren tatsächlichen Wohnsitz im Vollstreckungsmitgliedstaat begründet hat oder infolge eines beständigen Verweilens von gewisser Dauer in diesem Mitgliedstaat Bindungen zu diesem Staat von ähnlicher Intensität aufgebaut hat, wie sie sich aus einem Wohnsitz ergeben. Ob die Person „sich aufhält“, ist anhand einer Gesamtschau mehrerer objektiver Kriterien zu ermitteln, zu denen die Dauer, die Art und die Bedingungen des Verweilens der gesuchten Person sowie ihre familiären und wirtschaftlichen Verbindungen zum Vollstreckungsmitgliedstaat gehören. Der Gerichtshof stellte ferner klar, dass der Umstand, dass die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat gewerbsmäßig Straftaten begeht, und die Tatsache, dass sie sich dort in Strafhaft befindet, für die vollstreckende Justizbehörde bei der Prüfung, ob sich die betreffende Person im Vollstreckungsmitgliedstaat „aufhält“, unerheblich sind. Wenn sich die betreffende Person im Vollstreckungsmitgliedstaat „aufhält“, können solche Kriterien hingegen eine gewisse Relevanz im Rahmen der Prüfung erlangen, die die vollstreckende Justizbehörde gegebenenfalls im Anschluss vorzunehmen hat, um zu klären, ob es gerechtfertigt ist, einem EuHb nicht nachzukommen.

Der Gerichtshof hat in seinem Urteil in der Rechtssache C-123/08, Wolzenburg (138), entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Fälle beschränken können, in denen es als Vollstreckungsmitgliedstaat möglich ist, die Übergabe einer in den Anwendungsbereich von Artikel 4 Nummer 6 fallenden Person zu verweigern, indem sie die Anwendung dieser Bestimmung für den Fall, dass die gesuchte Person die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt, davon abhängig machen, dass sich diese Person fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig im Vollstreckungsmitgliedstaat aufgehalten hat. Ein Mitgliedstaat darf für die Anwendung des fakultativen Ablehnungsgrundes in Artikel 4 Nummer 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses jedoch keine ergänzenden verwaltungsrechtlichen Anforderungen wie den Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung stellen.

In seinem Urteil in der Rechtssache C-42/11, Lopes da Silva Jorge (139), hat der Gerichtshof klargestellt, dass Artikel 4 Nummer 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses und Artikel 18 AEUV dahin gehend auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat im Rahmen der Umsetzung des Artikels 4 Nummer 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses zwar die Fälle, in denen sich die nationale vollstreckende Justizbehörde weigern kann, eine in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallende Person zu übergeben, begrenzen kann, jedoch Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, nicht ungeachtet ihrer Bindungen zu diesem Mitgliedstaat von diesem Anwendungsbereich automatisch völlig ausschließen darf. Die nationalen Gerichte müssen das Recht anhand des Wortlauts und des Zwecks des EuHb-Rahmenbeschlusses auslegen, um dessen volle Wirksamkeit zu gewährleisten.

In seinem Urteil in der Rechtssache C-700/21, O.G (140)., hat der Gerichtshof entschieden, dass Artikel 4 Nummer 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses in Verbindung mit Artikel 20 der Charta einem nationalen Gesetz entgegensteht, das Drittstaatsangehörige, die sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, absolut und automatisch von der Anwendung des Grundes für die Ablehnung der Vollstreckung eines EuHb ausschließt, ohne dass die vollstreckende Justizbehörde die Bindungen des Drittstaatsangehörigen zu diesem Mitgliedstaat beurteilen kann. Um zu beurteilen, ob die Vollstreckung eines solchen EuHb abzulehnen ist, muss die vollstreckende Justizbehörde eine Gesamtwürdigung vornehmen, um festzustellen, ob die Bindungen der gesuchten Person zum Vollstreckungsmitgliedstaat ausreichen, um zu belegen, dass die betreffende Person, wenn die Sanktion in diesem Staat vollstreckt wird, dort höhere Resozialisierungschancen haben wird als im Ausstellungsmitgliedstaat. Zu den entsprechenden Faktoren gehören die familiären, sprachlichen, kulturellen, sozialen oder wirtschaftliche Bindungen des Drittstaatsangehörigen zum Vollstreckungsmitgliedstaat sowie Art, Dauer und Bedingungen seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat.

In Bezug auf die zweite Voraussetzung hat der Gerichtshof in der Rechtssache C-579/15, Popławski (Popławski I) (141), betont, dass das Erfordernis der Übernahme der Vollstreckung der Strafe voraussetzt, dass sich der Vollstreckungsmitgliedstaat tatsächlich verpflichtet, die vom Ausstellungsmitgliedstaat gegen die gesuchte Person verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken. Um Straflosigkeit zu vermeiden, muss die vollstreckende Justizbehörde zunächst prüfen, ob es möglich ist, die Strafe nach ihrem innerstaatlichen Recht tatsächlich zu vollstrecken. Ist dies nicht der Fall, muss die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des EuHb anordnen und die gesuchte Person übergeben.

Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass die Ablehnung der Vollstreckung eines EuHb aufgrund von Artikel 4 Nummer 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses nicht mit dem bloßen Umstand gerechtfertigt werden kann, dass die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats der Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats ihre „Bereitschaft“ mitteilt, die Strafe vollstrecken zu lassen oder gegen diese Person wegen derselben Tat, die Gegenstand des Urteils war, Ermittlungen einzuleiten.

In der Rechtssache C-514/17, Sut (142), hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Mitgliedstaat die Vollstreckung eines EuHb aus Gründen der Resozialisierung einer gesuchten Person verweigern kann, obwohl die diesem Haftbefehl zugrunde liegende Straftat nach dem nationalen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats nur mit einer Geldbuße bewehrt ist. Dies ist jedoch nur möglich, sofern dieser Umstand es nach seinem nationalen Recht nicht ausschließt, dass die gegen die gesuchte Person verhängte Freiheitsstrafe in diesem Mitgliedstaat tatsächlich vollstreckt wird.

In Bezug auf das berechtigte Interesse, das die Anwendung von Artikel 4 Nummer 6 rechtfertigt, hat der Gerichtshof in der Rechtssache C-579/15, Popławski I (143), betont, dass es sich bei Artikel 4 Nummer 6 um einen fakultativen Ablehnungsgrund handelt, d. h. dass die vollstreckenden Justizbehörden nicht verpflichtet werden können, die Vollstreckung eines EuHb abzulehnen, wenn die beiden oben genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Wie der Gerichtshof in der Rechtssache C-66/08, Kozłowski (144), hervorgehoben hat, muss die vollstreckende Justizbehörde bei der Ausübung ihres Ermessensspielraums prüfen, ob ein legitimes Interesse daran besteht, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt wird. Die vollstreckende Justizbehörde muss der Frage besondere Bedeutung beimessen, ob die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Ablauf der gegen sie verhängten Strafe erhöht werden können.

Schließlich hat der Gerichtshof in den Rechtssachen C-42/11, Lopes da Silva Jorge (145), C-579/15, Popławski I (146), und C-573/17, Popławski (Popławski II) (147), entschieden, dass die nationalen Gerichte verpflichtet sind, ihr nationales Recht anhand des Wortlauts und des Zwecks des EuHb-Rahmenbeschlusses auszulegen, um dessen volle Wirksamkeit zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziel im Einklang steht. In der Rechtssache C-573/17, Popławski (Popławski II) (148), hat der Gerichtshof ferner klargestellt, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er ein nationales Gericht nicht verpflichtet, eine Bestimmung des nationalen Rechts, die mit den Bestimmungen eines Rahmenbeschlusses (wie des EuHb-Rahmenbeschlusses) unvereinbar ist, unangewandt zu lassen, da diese Bestimmungen keine unmittelbare Wirkung haben.

Extraterritorialität (Straftaten, die außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden) (Artikel 4 Nummer 7)

Der EuHb erstreckt sich auf Straftaten, die

a)

nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ganz oder zum Teil in dessen Hoheitsgebiet oder an einem diesem gleichgestellten Ort begangen worden sind oder

b)

außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden, und die Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats die Verfolgung von außerhalb seines Hoheitsgebiets begangenen Straftaten gleicher Art nicht zulassen.

Der Gerichtshof hat in seinem Urteil in der Rechtssache C-488/19, JR (149), klargestellt, dass Artikel 4 Nummer 7 Buchstabe b keine Fälle umfasst, in denen ein EuHb auf der Grundlage einer justiziellen Entscheidung des Ausstellungsmitgliedstaats ausgestellt wird, mit der die Vollstreckung einer von einem Gericht eines Drittstaats, in dem die Straftat begangen wurde, verhängten Strafe in diesem Mitgliedstaat ermöglicht wird. In diesen Fällen ist die Frage, ob diese Straftat „außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats“ begangen wurde, unter Berücksichtigung der strafrechtlichen Zuständigkeit dieses Drittstaats zu beantworten, die es ermöglicht hat, diese Straftat zu verfolgen, und nicht unter Berücksichtigung der strafrechtlichen Zuständigkeit des Ausstellungsmitgliedstaats.

5.6.   Abwesenheitsurteile

Der EuHb-Rahmenbeschluss wurde durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI dahin geändert, dass Artikel 5 Absatz 1 gestrichen und ein neuer Artikel 4a über Abwesenheitsurteile eingefügt wurde. Diese Vorschriften betreffen Fälle, in denen bei einer vollstreckenden Justizbehörde ein EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe eingeht, die im Ausstellungsmitgliedstaat in einem Verfahren verhängt wurde, zu dem die Person nicht erschienen war.

Artikel 4a Absatz 1 enthält einen fakultativen Ablehnungsgrund. Die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten EuHb kann abgelehnt werden, wenn die Person nicht zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat (Abwesenheitsurteil). Von dieser Möglichkeit sieht Artikel 4a Absatz 1 Buchstaben a bis d des EuHb-Rahmenbeschlusses jedoch vier Ausnahmen vor.

Gemäß Artikel 4a Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses kann eine vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines auf ein Abwesenheitsurteil gestützten EuHb nicht ablehnen, wenn aus dem EuHb hervorgeht, dass die Person im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des nationalen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats

a)

rechtzeitig

i)

entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte, und

ii)

davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint; oder

b)

in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist; oder

c)

nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann,

i)

ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht, oder

ii)

innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat; oder

d)

die Entscheidung nicht persönlich zugestellt erhalten hat, aber

i)

sie unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten wird und ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden wird, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann, und

ii)

von der Frist in Kenntnis gesetzt werden wird, über die sie gemäß dem einschlägigen EuHb verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen.

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof klargestellt, dass die vollstreckende Behörde die Vollstreckung des EuHb nicht verweigern kann, wenn mindestens eine der Voraussetzungen nach Artikel 4a Absatz 1 Buchstaben a bis d des EuHb-Rahmenbeschlusses erfüllt ist (150).

In seinem Urteil in der Rechtssache C-271/17 PPU, Zdziaszek (151), hat der Gerichtshof jedoch hervorgehoben, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des EuHb verweigern kann, wenn weder die Angaben im EuHb-Formblatt noch die gemäß Artikel 15 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses erlangten Informationen ausreichende Anhaltspunkte für das Vorliegen eines der in Artikel 4a Absatz 1 Buchstaben a bis d aufgeführten Fälle enthalten.

Darüber hinaus hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung den fakultativen Charakter des Grundes für die Verweigerung hervorgehoben, indem er ausgeführt hat, dass die vollstreckende Justizbehörde, nachdem sie festgestellt hat, dass die in Artikel 4a Absatz 1 Buchstaben a bis d genannten Fälle nicht anwendbar sind, andere Umstände berücksichtigen kann, die es ihr erlauben, sich zu vergewissern, dass die Übergabe der betreffenden Person nicht zu einer Verletzung ihrer Verteidigungsrechte führt, und die Übergabe anordnen kann. Der EuHb-Rahmenbeschluss hindert die vollstreckende Justizbehörde somit nicht, sich unter Berücksichtigung aller Umstände des ihr vorliegenden Sachverhalts einschließlich der Informationen, über die sie möglicherweise selbst verfügt, der Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person zu vergewissern. In diesem Zusammenhang kann die Vollstreckungsbehörde das Verhalten der gesuchten Person und die Tatsache berücksichtigen, dass sie ihre persönliche Ladung oder jegliche Kontaktaufnahme durch die gerichtlich bestellten Pflichtverteidiger verhindert hat oder dass sie gegen erstinstanzliche Entscheidungen Rechtsmittel eingelegt hat (152). Dies bedeutet, dass die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe der gesuchten Person auch dann beschließen kann, wenn die vier in Artikel 4a Absatz 1 Buchstaben a bis d genannten Fälle nicht erfüllt sind.

Der abschließende Charakter der vier in Artikel 4a Absatz 1 Buchstaben a bis d des EuHb-Rahmenbeschlusses genannten Fälle wurde vom Gerichtshof in den Rechtssachen C-399/11, Melloni, und C-416/20 PPU, TR, bestätigt.

In der Rechtssache C-399/11, Melloni (153), wurde der Gerichtshof gefragt, ob Artikel 4a Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass er die vollstreckende Justizbehörde daran hindert, die Vollstreckung eines EuHb von der Bedingung abhängig zu machen, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat im Einklang mit einer nationalen Verfassungsvorschrift des Vollstreckungsstaats überprüft werden kann.

Nach Auffassung des Gerichtshofs sieht Artikel 4a Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses einen fakultativen Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eines zur Vollstreckung eines Urteils ausgestellten EuHb vor, wenn die betreffende Person in Abwesenheit verurteilt wurde. Von dieser Möglichkeit bestehen jedoch vier Ausnahmen, die in Artikel 4a Absatz 1 Buchstaben a bis d festgelegt sind. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die vollstreckende Justizbehörde in diesen vier Fällen die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person nicht von der Möglichkeit einer Überprüfung der Verurteilung in ihrer Anwesenheit abhängig machen darf. Das bedeutet, dass die vollstreckenden Justizbehörden keine zusätzlichen Anforderungen auf der Grundlage nationaler verfassungsrechtlicher Anforderungen stellen dürfen.

In der Rechtssache C-416/20 PPU, TR (154), hat der Gerichtshof entschieden, dass Artikel 4a des EuHb-Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde in einem Fall, in dem die betroffene Person ihre persönliche Ladung verhindert hat und aufgrund ihrer Flucht in den Vollstreckungsmitgliedstaat nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die Vollstreckung eines EuHb nicht verweigern kann, weil sie keine Zusicherung erhalten hat, dass bei einer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat das Recht auf eine neue Verhandlung (im Sinne der Artikel 8 und 9 der Richtlinie 2016/343/EU über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (155)) gewahrt wird.

Was das Verhältnis zwischen Artikel 4a des EuHb-Rahmenbeschlusses und der Richtlinie 2016/343/EU betrifft, hat der Gerichtshof in der Rechtssache C-416/20 PPU, TR, festgestellt, dass Artikel 4a bereits speziell den Fall erfasst, in dem ein EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung gegen eine Person ausgestellt wird, die nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, mit der diese Strafe oder Maßregel verhängt wurde. Aus diesem Grund „kann eine etwaige Unvereinbarkeit des nationalen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats mit den Bestimmungen der Richtlinie 2016/343 keinen Grund für die Verweigerung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls darstellen“, da der Unionsgesetzgeber eine Lösung gewählt hat, die darin besteht, abschließend die Fälle vorzusehen, in denen die Vollstreckung eines EuHb, der zur Vollstreckung einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung ausgestellt wurde, nicht als Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte anzusehen ist (156).

Der Gerichtshof hat jedoch betont, dass das Fehlen der Möglichkeit, sich auf die Richtlinie 2016/343 zu berufen, um die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu verhindern, die unbedingte Verpflichtung des Ausstellungsmitgliedstaats, in seiner Rechtsordnung sämtliche Bestimmungen des Unionsrechts, einschließlich der Richtlinie 2016/343, zu beachten, völlig unberührt lässt. Die betreffende Person kann sich gegebenenfalls nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat vor dessen Gerichten auf die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2016/343/EU berufen.

5.6.1.   Autonome Begriffe des Unionsrechts

Der Gerichtshof hat entschieden, dass die in Artikel 4a Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i des EuHb-Rahmenbeschlusses enthaltenen Begriffe „persönlich vorgeladen“, „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ und „auf andere Weise tatsächlich in Kenntnis gesetzt“ autonome Begriffe des Unionsrechts darstellen, die unabhängig von den Qualifikationen in den Mitgliedstaaten in der gesamten Union einheitlich auszulegen sind (157). Die Bedeutung dieser Begriffe kann daher nicht durch das nationale Recht bestimmt werden.

Die Behörden der Mitgliedstaaten sind daher verpflichtet, Kästchen d Abschnitt d des EuHb-Formblatts stets für Fälle auszufüllen, in denen Abwesenheitsurteile ergangen sind. Es ist wichtig, dass die Behörden nicht nur die in diesem Abschnitt angegebenen Kästchen ankreuzen, sondern auch Nummer 4 dieses Abschnitts ausfüllen und Angaben dazu machen, wie die einschlägigen Bedingungen erfüllt wurden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass die Informationen in klarer, umfassender und sachlicher Form gegeben werden und dass rechtliche Qualifikationen, die sich aus nationalen Rechtskonzepten ergeben, vermieden werden. Das Nichterscheinen der Person, die Art und Weise, wie die Ladung und das Urteil zugestellt wurden und ob ein von der Person bestellter (nicht gerichtlich bestellter) Rechtsbeistand den Angeklagten vertritt, sollte daher sachlich beschrieben werden, ohne auf die nationale Rechtsterminologie zurückzugreifen.

Durch die Bereitstellung vollständiger faktischer Informationen werden Ersuchen um zusätzliche Informationen gemäß Artikel 15 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses vermieden, die zu unnötigen Verzögerungen führen können.

Zum autonomen Begriff „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Artikel 4a

Für den Fall, dass das Verfahren in mehreren Instanzen stattgefunden hat, die zu aufeinanderfolgenden Entscheidungen geführt haben, hat der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache C-270/17 PPU, Tupikas (158), klargestellt, dass der Begriff „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“, nur die Instanz erfasst, nach deren Abschluss die Entscheidung erlassen wurde, durch die der Betroffene nach einer erneuten Prüfung des Sachverhalts in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht rechtskräftig für schuldig befunden und zu einer Strafe wie einer freiheitsentziehenden Maßregel verurteilt wurde.

In seinem Urteil in der Rechtssache C-271/17 PPU, Zdziaszek (159), hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Begriff „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“, nicht nur das Rechtsmittelverfahren umfasst, das zu einer Entscheidung geführt hat, mit der die Schuld des Betroffenen und die verhängte Strafe endgültig festgestellt wurde, sondern auch auf ein späteres Verfahren wie jenes, das zum Erlass einer Gesamtstrafe geführt hat, an dessen Ende die Entscheidung, mit der die Höhe der ursprünglichen Strafe endgültig geändert wurde, erlassen wurde, da die Behörde, die die letztgenannte Entscheidung erlassen hat, insoweit über ein gewisses Ermessen verfügte.

Für den Fall jedoch, dass die betroffene Person zu dem Strafprozess persönlich erschienen war, der zu der gerichtlichen Entscheidung geführt hat, mit der sie rechtskräftig einer Straftat für schuldig befunden und infolgedessen eine Freiheitsstrafe gegen sie verhängt wurde, deren Vollstreckung nachträglich unter der Bedingung der Einhaltung bestimmter Auflagen (wie z. B. Bewährungsmaßnahmen im Zusammenhang mit einem Verhalten) ausgesetzt wurde, hat der Gerichtshof in der Rechtssache C-571/17 PPU, Ardic (160), entschieden, dass die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ ein nachfolgendes Verfahren, das zum Widerruf dieser Aussetzung wegen des Verstoßes gegen die Auflagen in der Bewährungszeit führt, nicht erfasst, sofern der im Anschluss an dieses Verfahren erlassene Widerrufsbeschluss weder die Art noch das Maß der ursprünglich verhängten Strafe verändert.

In den verbundenen Rechtssachen C-514/21 und C-515/21, Minister for Justice and Equality (161), hat der Gerichtshof entschieden, dass Artikel 4a Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses im Licht der Artikel 47 und 48 der Charta dahin auszulegen ist, dass in einem Fall, in dem die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen einer neuen strafrechtlichen Verurteilung widerrufen und zur Vollstreckung dieser Strafe ein EuHb ausgestellt wird, diese in Abwesenheit ergangene strafrechtliche Verurteilung eine „Entscheidung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Bei der Entscheidung, die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zu widerrufen, ist dies nicht der Fall.

Artikel 4a Absatz 1 ist daher dahin auszulegen, dass er es der vollstreckenden Justizbehörde gestattet, die Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat abzulehnen, wenn sich ergibt, dass das Verfahren, das zu einer die Ausstellung des EuHb bedingenden zweiten strafrechtlichen Verurteilung dieser Person geführt hat, in ihrer Abwesenheit durchgeführt wurde, es sei denn, der EuHb enthält in Bezug auf dieses Verfahren eine der in den Buchstaben a bis d dieser Bestimmung vorgesehenen Angaben.

Es ist der vollstreckenden Justizbehörde jedoch verwehrt, die Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat mit der Begründung abzulehnen, dass das Verfahren, das zum Widerruf der Aussetzung der Freiheitsstrafe geführt hat, zu deren Vollstreckung der EuHb ausgestellt wurde, in Abwesenheit dieser Person durchgeführt wurde, oder ihre Übergabe von einer Garantie abhängig zu machen, dass sie in dem betreffenden Mitgliedstaat in den Genuss eines Wiederaufnahmeverfahrens oder eines Berufungsverfahrens kommen kann, das es ermöglicht, einen solchen Widerruf oder ihre zweite, in ihrer Abwesenheit erfolgte strafrechtliche Verurteilung, die die Ausstellung des Haftbefehls bedingt hat, zu überprüfen.

Der autonome Begriff „persönlich vorgeladen“ und „auf andere Weise tatsächlich in Kenntnis gesetzt “ im Sinne von Artikel 4a

In seinem Urteil in der Rechtssache C-108/16 PPU, Dworzecki (162), hat der Gerichtshof festgestellt:

„Art. 4a Abs. 1 Buchst. a Ziff. i des Rahmenbeschlusses 2002/584 [ist] dahin auszulegen, dass eine Vorladung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die nicht dem Betroffenen selbst zugestellt, sondern an dessen Anschrift einem dort wohnenden Erwachsenen übergeben wurde, der sich verpflichtete, sie dem Betroffenen auszuhändigen, ohne dass sich dem Europäischen Haftbefehl entnehmen lässt, ob und gegebenenfalls wann er sie dem Betroffenen tatsächlich ausgehändigt hat, die in der genannten Bestimmung aufgestellten Voraussetzungen für sich genommen nicht erfüllt.“

5.7.   Grundrechtserwägungen der vollstreckenden Justizbehörde

Die Ablehnung der Vollstreckung wegen einer Verletzung der Grundrechte der gesuchten Person im Ausstellungsmitgliedstaat ist im EuHb-Rahmenbeschluss nicht geregelt. In Artikel 1 Absatz 3 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 12 und 13 des EuHb-Rahmenbeschlusses wird jedoch klargestellt, dass der Rahmenbeschluss nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu achten, wie sie in Artikel 6 EUV niedergelegt sind und in der Charta zum Ausdruck kommen – eine Pflicht, die alle Mitgliedstaaten und insbesondere den Ausstellungs- und Vollstreckungsmitgliedstaat betrifft.

Wie der Gerichtshof in seinen Urteilen in den verbundenen Rechtssachen C-404/15 und C-659/15 PPU, Aranyosi und Căldăraru (163), und in der Rechtssache C-216/18 PPU, LM (164), bekräftigt hat, verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die im Unionsrecht anerkannten Grundrechte beachten.

Darüber hinaus hat der Gerichtshof in der Rechtssache C-158/21, Puig Gordi u. a (165)., entschieden, dass eine vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines EuHb grundsätzlich nicht mit der Begründung ablehnen darf, dass das Gericht, das im Ausstellungsmitgliedstaat über die gesuchte Person Recht zu sprechen hat, nach dem nationalen Recht des Ausstellungsmitgliedstaats hierfür nicht zuständig ist. Diese Behörde muss jedoch die Vollstreckung des EuHb ablehnen, wenn sie feststellt, dass das Justizsystem dieses Mitgliedstaats systemische oder allgemeine Mängel aufweist und dass das Gericht, das in diesem Mitgliedstaat über die gesuchte Person Recht zu sprechen hat, offensichtlich unzuständig ist, und zwar im Anschluss an die zweistufige Prüfung, die durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wie nachstehend in Abschnitt 5.7.2 dargelegt, vorgenommen worden ist.

In demselben Urteil hat der Gerichtshof auch entschieden, dass die vollstreckende Justizbehörde nicht befugt ist, die Vollstreckung eines EuHb aufgrund eines Ablehnungsgrundes zu verweigern, der sich nicht aus dem EuHb-Rahmenbeschluss, sondern allein aus dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats ergibt.

Der Gerichtshof hat in der Rechtssache C-327/18 PPU, RO (166), entschieden, dass die gemäß Artikel 50 EUV vorgenommene Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht, aus der Union auszutreten, nicht als außergewöhnlicher Umstand angesehen werden kann, der einen Aufschub oder die Ablehnung der Vollstreckung eines von diesem Mitgliedstaat ausgestellten EuHb rechtfertigen könnte.

Jedoch hat die vollstreckende Justizbehörde nach einer konkreten und genauen Beurteilung des Einzelfalls noch zu prüfen, ob es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die dieser Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Austritt des Ausstellungsmitgliedstaats aus der Union der Gefahr ausgesetzt ist, dass ihr die Grundrechte nicht mehr zustehen. Umstände wie die fortgesetzte Beteiligung an der EMRK und dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 können im Rahmen dieser Beurteilung berücksichtigt werden.

5.7.1.   Erwägungen im Zusammenhang mit den Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat

In Bezug auf die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat hat der Gerichtshof in seinen Urteilen in den verbundenen Rechtssachen C-404/15 und C-659/15 PPU, Aranyosi und Căldăraru (167), in der Rechtssache C-220/18 PPU, ML (168), und in der Rechtssache C-128/18, Dumitru-Tudor Dorobantu (169), festgestellt, dass das Erfordernis, zu gewährleisten, dass die betroffene Person keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Artikel 4 der Charta unterworfen wird, ausnahmsweise eine Einschränkung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung rechtfertigt. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass das in Artikel 4 der Charta verankerte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe absoluten Charakter hat, da es eng mit der Achtung der Menschenwürde verbunden ist, die Gegenstand von Artikel 1 der Charta ist.

In seinem Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-404/15 und C-659/15 PPU, Aranyosi und Căldăraru, hat der Gerichtshof entschieden,

„dass die vollstreckende Justizbehörde, sofern sie über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben verfügt, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat belegen, konkret und genau prüfen muss, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die sich ein zum Zweck der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassener Haftbefehl richtet, aufgrund der Bedingungen ihrer Inhaftierung in diesem Mitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt sein wird, falls sie ihm übergeben wird.

Dabei muss die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen bitten, und Letztere muss diese Informationen, nachdem sie erforderlichenfalls die oder eine der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats im Sinne von Art. 7 des Rahmenbeschlusses um Unterstützung ersucht hat, innerhalb der im Ersuchen gesetzten Frist übermitteln. Die vollstreckende Justizbehörde muss ihre Entscheidung über die Übergabe der betreffenden Person aufschieben, bis sie die zusätzlichen Informationen erhalten hat, die es ihr gestatten, das Vorliegen einer solchen Gefahr auszuschließen.

Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss die vollstreckende Justizbehörde darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist.“

Wenn die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass wegen der allgemeinen Haftbedingungen eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen im Ausstellungsmitgliedstaat besteht, muss sie das im Urteil des Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen C-404/15 und C-659/15 PPU, Aranyosi und Căldăraru (Rn. 89 bis 104) beschriebene und vom Gerichtshof in den Rechtssachen C-220/18 PPU, ML, und C-128/18, Dumitru-Tudor Dorobantu, ergänzte Verfahren befolgen.

Vorgehen der nationalen vollstreckenden Justizbehörden, wenn sie über Anhaltspunkte dafür verfügen , dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen im Ausstellungsmitgliedstaat besteht.

Die nachstehenden Schritte sind in folgender Reihenfolge zu befolgen:

1.

Prüfung, ob wegen der allgemeinen Haftbedingungen eine echte Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung der betreffenden Person besteht:

auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Informationen, die unter anderem aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, aus Entscheidungen von Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats oder aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen stammen können  (170) .

2.

Wenn eine solche Gefahr aufgrund der allgemeinen Haftbedingungen festgestellt worden ist, Prüfung durch Anforderung zusätzlicher Informationen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass eine solche echte Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung unter den besonderen Umständen des Falles für die betreffende Person besteht:

Nachfragepflicht auf der Grundlage des Artikels 15 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses: Die ausstellende Justizbehörde wird gebeten, unverzüglich alle notwendigen zusätzlichen Informationen über die Bedingungen zu übermitteln, unter denen die gesuchte Person inhaftiert werden soll;

Möglichkeit, eine Antwortfrist festzusetzen , wobei die für die Sammlung der Informationen nötige Zeit und die Frist nach Artikel 17 des EuHb-Rahmenbeschlusses zu berücksichtigen sind;

Möglichkeit, Informationen zu berücksichtigen , die von anderen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats als der ausstellenden Justizbehörde übermittelt wurden  (171) ;

Pflicht, sich auf die von der ausstellenden Justizbehörde gegebene oder bestätigte Zusicherung zu berufen , dass die betroffene Person aufgrund der konkreten und genauen Haftbedingungen keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren wird, zumindest wenn keine genauen und konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Hafteinrichtung gegen Artikel 4 der Charta verstoßen.

3.

Wenn die ausstellende Justizbehörde nicht zugesichert hat, dass die gesuchte Person keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren wird, oder wenn die vollstreckende Justizbehörde auf der Grundlage der von der ausstellenden Justizbehörde erhaltenen Informationen und sonstiger Informationen, über die die vollstreckende Justizbehörde verfügt, genaue und konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Hafteinrichtung gegen Artikel 4 der Charta verstoßen, zu prüfen, ob es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass eine solche tatsächliche Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung unter den besonderen Umständen des Falles für die gesuchte Person besteht:

Pflicht, nur die Haftbedingungen in bestimmten Gefängnissen zu prüfen , d. h. in den Gefängnissen, in denen die gesuchte Person nach den der Behörde vorliegenden Informationen wahrscheinlich, und sei es vorübergehend oder zu Übergangszwecken, inhaftiert sein wird  (172) ;

Pflicht zur Berücksichtigung aller relevanten materiellen Aspekte der Haftbedingungen , in denen die gesuchte Person inhaftiert sein wird, wie etwa der persönliche Raum, über den jeder Gefangene in einer Zelle dieser Anstalt verfügt, die sanitären Verhältnisse und das Ausmaß der Bewegungsfreiheit des Gefangenen innerhalb der Anstalt. Diese Beurteilung ist nicht auf die Prüfung offensichtlicher Unzulänglichkeiten beschränkt  (173) ;

Pflicht , in Bezug auf den persönlichen Raum, über den jeder Inhaftierte verfügt, die Mindestanforderungen nach Artikel 3 EMRK und nicht die sich aus dem innerstaatlichen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats ergebenden Anforderungen zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des EGMR liegt eine starke Vermutung eines Verstoßes gegen Artikel 3 EMRK vor, wenn der persönliche Raum, der einem Inhaftierten in jeder Art von Zelle zur Verfügung steht, weniger als 3 m2 beträgt. Diese Vermutung kann nur widerlegt werden, wenn i) die Verringerung der erforderlichen Mindestfläche von 3 m2 kurz, gelegentlich und geringfügig ist, ii) mit genügend Bewegungsfreiheit und ausreichenden Aktivitäten außerhalb der Zelle einhergeht und iii) die allgemeinen Haftbedingungen in der Anstalt angemessen sind und es keine weiteren erschwerenden Aspekte der Haftbedingungen der betroffenen Person gibt. Bei der Berechnung der verfügbaren Fläche sollte die von Möbeln, nicht aber die von sanitären Anlagen belegte Fläche berücksichtigt werden, und die Gefangenen sollten sich innerhalb der Zelle normal bewegen können. Bei einer Fläche von 3 bis 4 m2 in einer Gemeinschaftszelle kann ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK bejaht werden, wenn zum Raummangel weitere schlechte Haftbedingungen hinzutreten, wie etwa fehlender Zugang zum Freistundenhof bzw. zu Frischluft und Tageslicht, schlechte Belüftung, zu niedrige oder zu hohe Raumtemperatur, fehlende Intimsphäre in den Toiletten oder schlechte Sanitär- und Hygienebedingungen. Verfügt ein Gefangener über mehr als 4 m2 persönlichen Raum in einer Gemeinschaftszelle, sodass dieser Aspekt seiner materiellen Haftbedingungen keine Probleme aufwirft, bleiben die weiteren Aspekte dieser Bedingungen, wie etwa die im vorstehenden Absatz genannten, für die Beurteilung der Angemessenheit der Haftbedingungen des Betroffenen nach Maßgabe von Artikel 3 EMRK relevant  (174) .

Verbot, die Gefahr allein deshalb auszuschließen , weil die gesuchte Person im Ausstellungsmitgliedstaat über Rechtsschutzmöglichkeiten verfügt, die es ihr ermöglichen, die Haftbedingungen anzufechten , oder weil es gesetzgeberische oder strukturelle Maßnahmen gibt, die die Überwachung der Haftbedingungen verstärken sollen. Diese Rechtsbehelfe und Maßnahmen können jedoch bei der Gesamtbeurteilung der Haftbedingungen für die Zwecke der Entscheidung über die Übergabe der Person berücksichtigt werden  (175) ;

Verbot der Abwägung der Feststellung, dass es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden, gegen Erwägungen im Zusammenhang mit der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung  (176) .

4.

Wenn eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung für die gesuchte Person festgestellt worden ist (und in Erwartung einer endgültigen Entscheidung über den EuHb):

Pflicht, die Vollstreckung des in Rede stehenden EuHb aufzuschieben. Eurojust muss (nach Artikel 17 Absatz 7 des EuHb-Rahmenbeschlusses) in Kenntnis gesetzt werden;

Möglichkeit, die betreffende Person in Haft zu behalten , allerdings nur, wenn das Verfahren zur Vollstreckung des EuHb mit hinreichender Sorgfalt durchgeführt worden ist und keine übermäßig lange Inhaftierung vorliegt (im Einklang mit dem Urteil in der Rechtssache C-237/15 PPU, Lanigan, Rn. 58, 59 und 60), wobei der durch Artikel 48 der Charta gewährleisteten Unschuldsvermutung gebührend Rechnung zu tragen und nach Artikel 52 Absatz 1 der Charta der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten ist;

Möglichkeit oder sogar Pflicht zur vorläufigen Freilassung der betreffenden Person , verbunden mit Maßnahmen zur Verhinderung der Flucht.

5.

Endgültige Entscheidung:

Wenn die vollstreckende Justizbehörde auf der Grundlage der von der ausstellenden Justizbehörde erhaltenen Informationen und aller anderen Informationen, die der vollstreckenden Justizbehörde möglicherweise zur Verfügung stehen, die Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung der gesuchten Person ausschließen kann, muss sie über die Vollstreckung des EuHb entscheiden.

Wenn die vollstreckende Justizbehörde feststellt, dass die Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden kann, muss sie darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist.

In Fällen, in denen die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden kann, können die ausstellende und die vollstreckende Justizbehörde sich beraten und prüfen, ob es Alternativen zum EuHb gibt, wie die Übertragung des Verfahrens oder der Freiheitsstrafe auf den Vollstreckungsmitgliedstaat (siehe Abschnitt 5.11.4).

Anhang X dieses Handbuchs enthält ein Muster für die Anforderung zusätzlicher Informationen über die Haftbedingungen gemäß Artikel 15 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses. Die vollstreckende Justizbehörde sollte nur die Kästchen ankreuzen, die sie im konkreten Fall für relevant hält. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof in der Rechtssache ML entschieden, dass Ersuchen um zusätzliche Informationen einschließlich der Aspekte der Haft, die für die in einem konkreten Fall vorzunehmende Prüfung keine offensichtliche Bedeutung haben, mit der in Artikel 4 Absatz 3 Unterabsatz 1 EUV verankerten Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit unvereinbar sein können, weil solche Ersuchen es den Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats in Anbetracht der kurzen Fristen des Artikel 17 des EuHb-Rahmenbeschlusses praktisch unmöglich machen, eine sachdienliche Antwort zu geben (177).

Darüber hinaus wird für die Prüfung der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat auf die Empfehlung der Kommission vom 8. Dezember 2022 zu den Verfahrensrechten von Verdächtigen und Beschuldigten in Untersuchungshaft und zu den materiellen Haftbedingungen verwiesen (siehe Anhang XI).

5.7.2.   Erwägungen zum Recht der gesuchten Person auf ein faires Verfahren

In seinem Urteil in der Rechtssache C-216/18 PPU, LM (178), hat der Gerichtshof entschieden, dass es bei Bestehen einer echten Gefahr, dass die gesuchte Person im Fall ihrer Übergabe eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet (und damit der Wesensgehalt ihres durch Artikel 47 Absatz 2 der Charta garantierten Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird), der vollstreckenden Justizbehörde gestattet sein kann, ausnahmsweise davon abzusehen, dem EuHb Folge zu leisten. Der Gerichtshof hat wie folgt entschieden:

„die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, zu entscheiden hat, [muss,] wenn sie über Anhaltspunkte – wie diejenigen in einem begründeten Vorschlag der Europäischen Kommission nach Art. 7 Abs. 1 EUV – dafür verfügt, dass wegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats eine echte Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, konkret und genau prüfen …, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, und unter Berücksichtigung der Informationen, die der Ausstellungsmitgliedstaat gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in geänderter Fassung mitgeteilt hat, ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die besagte Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.“

Um zu beurteilen, ob die betroffene Person einer echten Gefahr der Verletzung ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt sein wird, muss die vollstreckende Justizbehörde das Verfahren befolgen, das im Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-216/18 PPU, LM (Rn. 30 bis 79), ergänzt durch den Gerichtshof in den verbundenen Rechtssachen C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, L und P (179), sowie in den verbundenen Rechtssachen C-562/21 PPU und C-563/21 PPU, Openbaar Ministerie (180), und C-480/21, W O und J L gegen Minister for Justice and Equality (181), und in der Rechtssache C-158/21, Puig Gordi u. a (182)., vorgesehen ist.

Verfahrensschritte, die von den nationalen vollstreckenden Justizbehörden einzuhalten sind.

Die nachstehenden Schritte sind in folgender Reihenfolge zu befolgen:

1.

Prüfung, ob eine echte Gefahr besteht, dass das Recht auf ein faires Verfahren aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Justiz verletzt wird, die die Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats beeinträchtigen könnten:

im Hinblick auf das Erfordernis eines durch Gesetz errichteten Gerichts auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats oder von Mängeln, die den gerichtlichen Schutz einer objektiv identifizierbaren Gruppe von Personen beeinträchtigen, zu der auch die betreffende Person gehört, die zur Folge haben, dass den betroffenen Personen in diesem Mitgliedstaat im Allgemeinen kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung steht, mit dem die Zuständigkeit des Strafgerichts, das über sie Recht zu sprechen hat, überprüft werden kann.

Die Informationen in einem begründeten Vorschlag, der jüngst von der Kommission auf der Grundlage des Artikel 7 Absatz 1 EUV an den Rat gerichtet wurde, stellen dabei besonders relevante Angaben dar.

Das Vorliegen eines Berichts, der nicht unmittelbar die Situation dieser Person betrifft, kann für sich allein genommen keine Ablehnung der Vollstreckung dieses EuHb rechtfertigen. Ein solcher Bericht kann aber von dieser Justizbehörde zusammen mit anderen Gesichtspunkten berücksichtigt werden, um das Vorliegen systemischer oder anderer Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Ausstellungsmitgliedstaats zu prüfen  (183).

Zu den Gesichtspunkten, die für die Beurteilung, ob eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, besonders relevant sind, gehört auch eine Verfassungsrechtsprechung des Ausstellungsmitgliedstaats, die den Vorrang des Unionsrechts und den verbindlichen Charakter der EMRK sowie die Verbindlichkeit der Urteile des Gerichtshofs und des EGMR über die Organisation des Justizsystems, insbesondere die Ernennung von Richtern, infrage stellt (184).

2.

Wird das Bestehen eines solchen Risikos aufgrund von systemischen oder allgemeinen Mängeln im Justizwesen festgestellt, ist zu prüfen, ob es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass unter den besonderen Umständen des Falles für die gesuchte Person eine solche Gefahr der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren besteht:

Diese Analyse kann sich nicht mit dem vorhergehenden Schritt überschneiden. Das Bestehen oder die Zunahme systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsmitgliedstaat reicht nicht aus, um anzunehmen, dass es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass die Person im Fall ihrer Übergabe an diesen Mitgliedstaat der echten Gefahr ausgesetzt wird, dass ihr Grundrecht auf ein faires Verfahren verletzt wird  (185) . Die Analyse kann sich auch nicht unmittelbar auf das Risiko einer möglichen individuellen Verletzung im konkreten Fall konzentrieren, bevor zunächst und gesondert geprüft wurde, ob systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf die Justiz vorliegen.

Pflicht, die ausstellende Justizbehörde auf der Grundlage von Artikel 15 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses um Übermittlung zusätzlicher Informationen zu ersuchen , die die vollstreckende Justizbehörde für die Beurteilung des Vorliegens einer solchen Gefahr für erforderlich hält. Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung eines EuHb nicht mit der Begründung ablehnen, dass die Person, gegen die sich dieser Haftbefehl richtet, Gefahr läuft, dass über sie nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat ein Gericht Recht sprechen wird, das dafür nicht zuständig ist, ohne zuvor die ausstellende Justizbehörde auf der Grundlage von Artikel 15 Absatz 2 um zusätzliche Informationen ersucht zu haben  (186) .

Pflicht zur Beurteilung, ob eine echte Gefahr besteht, unter Berücksichtigung u. a. der Informationen, die von der Person, gegen die der EuHb ausgestellt wurde, insbesondere der persönlichen Situation dieser Person, der Art der Straftat, wegen der sie strafrechtlich verfolgt wird, und des der Ausstellung des EuHb zugrunde liegenden Sachverhalts oder anderer relevanter Umstände wie Verlautbarungen öffentlicher Stellen, die geeignet sind, die die Behandlung des Einzelfalls beeinflussen können;

wird der EuHb zum Zwecke der Strafverfolgung ausgestellt , muss die vollstreckende Justizbehörde insbesondere untersuchen, inwieweit sich die systemischen oder allgemeinen Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats auf die Ebene der für die Verfahren gegen die gesuchte Person zuständigen Gerichte dieses Staates auswirken können. Bei dieser Untersuchung sind die Auswirkungen solcher Mängel, die möglicherweise nach der Ausstellung des EuHb aufgetreten sind, zu berücksichtigen  (187) . Die vollstreckende Justizbehörde kann die Übergabe der gesuchten Person ablehnen, wenn sie feststellt, dass es durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person insbesondere unter Berücksichtigung ihrer Angaben zu ihrer persönlichen Situation, der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat, des Sachverhalts, auf dem der EuHb beruht, oder jedes anderen Umstands, der für die Beurteilung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Spruchkörpers, der voraussichtlich mit dem Verfahren gegen sie befasst sein wird, relevant ist, im Fall der Übergabe einer echten Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz errichteten Gericht ausgesetzt ist. Diese Informationen können sich auch auf _Erklärungen staatlicher Behörden beziehen, die sich auf den konkreten Fall auswirken könnten. Dagegen reicht der Umstand, dass die Identität der Richter, die letztlich mit der Sache des Betroffenen befasst werden, zum Zeitpunkt der Übergabeentscheidung nicht bekannt ist oder, wenn ihre Identität bekannt ist, dass diese Richter auf Antrag eines Organs wie eines Landesjustizrats ernannt wurden, nicht aus, um die Übergabe abzulehnen  (188) .

wird der EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt und wird nach der möglichen Übergabe der gesuchten Person ein neues Gerichtsverfahren gegen diese Person im Zusammenhang mit der Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe oder ein Rechtsbehelf gegen die justizielle Entscheidung eingelegt, die Gegenstand des EuHb ist, muss die vollstreckende Justizbehörde auch prüfen, welche Auswirkungen die systemischen oder allgemeinen Mängel auf das für dieses Verfahren zuständige Gericht haben können. Die vollstreckende Justizbehörde muss auch prüfen, inwieweit die im Ausstellungsmitgliedstaat zum Zeitpunkt der Ausstellung des EuHb bestehenden systemischen oder allgemeinen Mängel unter den gegebenen Umständen die Unabhängigkeit des Gerichts, das die Freiheitsstrafe oder die freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung verhängt hat, beeinträchtigt haben  (189) . Die vollstreckende Justizbehörde kann die Übergabe der gesuchten Person ablehnen, wenn sie feststellt, dass in Anbetracht der von dieser Person vorgelegten Informationen über die Zusammensetzung des Spruchkörpers, der mit der Strafsache befasst ist, oder anderer Umstände, die für die Beurteilung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses Spruchkörpers von Bedeutung sind, ein Verstoß gegen das in Artikel 47 Absatz 2 der Charta verankerte Grundrecht dieser Person auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht vorliegt. Es reicht für die Ablehnung der Übergabe nicht aus, dass ein oder mehrere Richter, die an diesem Verfahren teilgenommen haben, auf Antrag einer Stelle wie eines Landesjustizrats ernannt wurden. Der Betroffene muss außerdem u. a. Angaben zum Verfahren zur Ernennung der betreffenden Richter und zu ihrer etwaigen Abordnung machen, was zu der Feststellung führen würde, dass die Zusammensetzung des Spruchkörpers geeignet war, sein Grundrecht auf ein faires Verfahren zu beeinträchtigen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass es der betroffenen Person möglich sein kann, die Ablehnung der Mitglieder des Spruchkörpers wegen Verletzung ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren zu beantragen, dass sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen kann, sowie das Ergebnis des Antrags auf Ablehnung  (190) .

3.

Wenn die von der ausstellenden Justizbehörde übermittelten Informationen nicht dazu führen, dass die echte Gefahr ausgeschlossen wird, dass im Ausstellungsmitgliedstaat das Recht der gesuchten Person auf ein faires Verfahren verletzt wird:

Verpflichtung, von der Vollstreckung des EuHb abzusehen.

In Fällen, in denen die echte Gefahr besteht, dass die gesuchte Person im Ausstellungsmitgliedstaat eine Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren erleiden wird, könnten die ausstellenden und die vollstreckenden Justizbehörden sich beraten und prüfen, ob es Alternativen zum EuHb gibt, wie die Übertragung des Verfahrens oder der Freiheitsstrafe auf den Vollstreckungsmitgliedstaat.

5.8.   Verhältnismäßigkeit – Rolle des Vollstreckungsmitgliedstaats

Der EuHb-Rahmenbeschluss gibt dem Vollstreckungsmitgliedstaat nicht die Möglichkeit, die Verhältnismäßigkeit eines EuHb zu prüfen. Dies entspricht dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Sollten im Vollstreckungsmitgliedstaat ernste Bedenken hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit eines eingegangenen EuHb bestehen, so sind die ausstellende und die vollstreckende Justizbehörde aufgefordert, sich direkt miteinander in Verbindung zu setzen. Solche Fälle dürften jedoch nur unter außergewöhnlichen Umständen auftreten. Im Rahmen von Konsultationen finden die zuständigen Justizbehörden möglicherweise eine bessere Lösung (siehe Abschnitt 4.4). So könnte je nach den Umständen des Falles der EuHb aufgehoben und eine andere im nationalen Recht oder im Unionsrecht vorgesehene Maßnahme angewandt werden.

In einem solchen Fall können die Justizbehörden auch Eurojust oder die EJN-Kontaktstellen konsultieren. Diese Einrichtungen können die Kommunikation erleichtern und bei der Suche nach Lösungen behilflich sein.

5.9.   Garantien, die der Ausstellungsmitgliedstaat zu gewähren hat

Nach Artikel 5 des EuHb-Rahmenbeschlusses kann die Vollstreckung des EuHb durch die vollstreckende Justizbehörde nach dem für sie geltenden nationalen Recht an bestimmte Bedingungen geknüpft werden. Diese Bedingungen können sich auf die Überprüfung des lebenslangen Freiheitsentzugs und die Rücküberstellung von Staatsangehörigen des Vollstreckungsmitgliedstaats zur Verbüßung der Freiheitsstrafe in diesen Mitgliedstaat beziehen.

Diese Garantien können unmittelbar im nationalen Recht des Ausstellungsmitgliedstaats vorgesehen sein oder im Wege einer Vereinbarung zwischen den zuständigen Behörden des Ausstellungs- und des Vollstreckungsmitgliedstaats gewährt werden. Sie dürfen jedoch nur den in Artikel 5 des EuHb-Rahmenbeschlusses festgelegten Inhalt haben, wie der Gerichtshof (insbesondere in seinen Urteilen in den verbundenen Rechtssachen C-404/15 und C-659/15 PPU, Aranyosi und Căldăraru, Rn. 80, und in der Rechtssache C-237/15 PPU, Lanigan, Rn. 36) bestätigt hat.

Hinweis: Artikel 5 Nummer 1, der eine Garantie in Bezug auf die Wiederaufnahme des Verfahrens im Falle von Abwesenheitsurteilen vorsah, ist mit dem Rahmenbeschluss 2009/299/JI gestrichen und durch den neuen Artikel 4a ersetzt worden, der umfassendere Bestimmungen zu Abwesenheitsurteilen enthält (siehe Abschnitt 5.6).

In seinem Urteil in der Rechtssache C-306/09, I.B (191)., hat der Gerichtshof Folgendes festgestellt:

„Die Art. 4 Nr. 6 und 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates … sind dahin auszulegen, dass, wenn der betreffende Vollstreckungsmitgliedstaat Art. 5 Nrn. 1 und 3 dieses Rahmenbeschlusses in sein nationales Recht umgesetzt hat, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellt wurde, die im Sinne dieses Art. 5 Nr. 1 in Abwesenheit verhängt worden ist, an die Bedingung geknüpft werden kann, dass die betroffene Person, die Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder dort wohnhaft ist, in diesen Staat rücküberstellt wird, um gegebenenfalls dort die Strafe zu verbüßen, die im Anschluss an ein wieder aufgenommenes und in ihrer Anwesenheit durchgeführtes Verfahren im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird.“

5.9.1.   Überprüfung des lebenslangen Freiheitsentzugs

Wenn dem EuHb eine Straftat zugrunde liegt, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder einer lebenslangen freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bedroht ist, kann der Vollstreckungsmitgliedstaat vom Ausstellungsmitgliedstaat eine Überprüfungsgarantie verlangen (Artikel 5 Nummer 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Die lebenslange Freiheitsstrafe wird in einer Strafvollzugsanstalt verbüßt. Bei einer lebenslangen freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung erfolgt die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik oder einer ähnlichen Einrichtung.

Die Garantie kann vom Ausstellungsmitgliedstaat gewährt werden, indem er nachweist, dass die Strafe oder Maßregel der Sicherung in seiner Rechtsordnung auf Antrag oder spätestens nach 20 Jahren überprüft werden kann. Alternativ würde als Garantie ausreichen, dass die Person nach dem Recht oder der Praxis des Ausstellungsmitgliedstaats Gnadenakte beantragen kann, um zu erreichen, dass die Strafe oder die Maßregel nicht vollstreckt wird.

5.9.2.   Rücküberstellung von Staatsangehörigen und Gebietsansässigen

Der EuHb-Rahmenbeschluss sieht die Möglichkeit vor, dass die gesuchte Person rücküberstellt wird, damit sie die Freiheitsstrafe in ihrem Heimatland verbüßt. Wenn die Person, gegen die ein EuHb zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder dort wohnhaft ist, kann der Vollstreckungsmitgliedstaat nach Artikel 5 Nummer 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses zur Bedingung machen, dass der Ausstellungsmitgliedstaat die betreffende Person zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in sein Hoheitsgebiet rücküberstellt.

Die Bedingung sollte durch den Vollstreckungsmitgliedstaat eindeutig festgelegt werden. Nach Möglichkeit sollten sich der Ausstellungs- und der Vollstreckungsmitgliedstaat über die Einzelheiten dieser Bedingung einigen, bevor der Vollstreckungsmitgliedstaat über die Übergabe entscheidet.

Wenn schon vor der Ausstellung des EuHb bekannt ist, dass die gesuchte Person Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder dort wohnhaft ist, sollte die ausstellende Justizbehörde ihre Zustimmung zu einer möglichen Rücküberstellungsbedingung bereits auf dem EuHb-Formblatt erteilen.

Der Ausstellungsmitgliedstaat hat dafür zu sorgen, dass diese Bedingung erfüllt wird. Wenn das Urteil, mit dem die Freiheitsstrafe oder die freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung gegen die übergebene Person verhängt wurde, rechtskräftig wird, muss der Ausstellungsmitgliedstaat sich mit dem Vollstreckungsstaat in Verbindung setzen, um die Rücküberstellung zu regeln. Der Ausstellungsmitgliedstaat sollte sicherstellen, dass das Urteil in die Sprache des Vollstreckungsmitgliedstaats übersetzt wird.

In der Rechtssache C-314/18, SF (192), wurde der Gerichtshof gefragt, ob der Ausstellungsmitgliedstaat die Rücküberstellung der betroffenen Person in den Vollstreckungsmitgliedstaat verschieben darf, bis andere Verfahrensschritte im Rahmen eines Strafverfahrens (z. B. Einziehungsverfahren) im Zusammenhang mit der dem EuHb zugrunde liegenden Straftat abgeschlossen sein werden. Der Gerichtshof vertrat die Auffassung, dass eine solche Aufschiebung nicht systematisch erfolgen sollte. Er hat Folgendes entschieden:

„Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates … in Verbindung mit dessen Art. 1 Abs. 3 sowie mit Art. 1 Buchst. a, Art. 3 Abs. 3 und 4 und Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates … ist dahin auszulegen, dass, wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat die Übergabe der Person, die Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats oder in diesem wohnhaft ist und gegen die ein Europäischer Haftbefehl für die Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, von der Voraussetzung abhängig macht, dass ihm diese Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsstaat gegen sie verhängt wird, rücküberstellt wird, der Ausstellungsstaat die Rücküberstellung vornehmen muss, sobald diese Verurteilung rechtskräftig geworden ist, es sei denn, dass konkrete Gründe, die die Achtung der Verteidigungsrechte des Betroffenen oder die geordnete Rechtspflege betreffen, seine Anwesenheit in diesem Staat unabdingbar machen, bis andere Verfahrensschritte im Rahmen des Strafverfahrens, das die Straftat betrifft, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, rechtskräftig abgeschlossen sind.“

Artikel 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI enthält auch eine besondere Regelung betreffend die Vollstreckung von Freiheitsstrafen im Vollstreckungsmitgliedstaat in Fällen nach Artikel 5 Nummer 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses. Auf die Übertragung der Sanktion auf den Vollstreckungsmitgliedstaat, in dem sie vollstreckt werden soll, sind das Verfahren und die Bedingungen anzuwenden, die im Rahmenbeschluss 2008/909/JI festgelegt sind (siehe Abschnitt 2.5.2).

In seinem Urteil in der Rechtssache C-314/18, SF (193), hat der Gerichtshof entschieden, dass Artikel 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI dahin auszulegen ist, dass, wenn die Vollstreckung eines für die Zwecke der Strafverfolgung ausgestellten EuHb von der in Artikel 5 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses vorgesehenen Bedingung abhängig gemacht wird, der Vollstreckungsmitgliedstaat für die Vollstreckung der gegen die betroffene Person im Ausstellungsstaat verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung die Dauer dieser Verurteilung nur unter den in Artikel 8 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI vorgesehenen strengen Voraussetzungen anpassen darf.

5.10.   Verhältnis zum Rahmenbeschluss 2008/909/JI über die Überstellung von Häftlingen

Die Verbindung zwischen dem EuHb-Rahmenbeschluss und dem Rahmenbeschluss 2008/909/JI wird in Artikel 25 und Erwägungsgrund 12 des letztgenannten Rahmenbeschlusses hergestellt.

Nach Artikel 4 Nummer 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses kann, wenn ein EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist und sich die gesuchte Person im Vollstreckungsstaat aufhält, dessen Staatsangehörige ist oder dort ihren Wohnsitz hat, dieser Staat die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht vollstrecken.

Nach Artikel 5 Nummer 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses kann die Übergabe, wenn eine Person, gegen die ein EuHb zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, Staatsangehörige des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft ist, davon abhängig gemacht werden, dass diese Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wurde, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.

Gemäß Artikel 25 und Erwägungsgrund 12 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI gilt in Fällen, in denen Artikel 4 Nummer 6 und Artikel 5 Nummer 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses zur Anwendung kommen, die innerstaatliche Rechtsvorschrift zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI sinngemäß und soweit sie mit dem EuHb-Rahmenbeschluss vereinbar ist, für die Vollstreckung der Sanktion. Das bedeutet auch, dass die in den Bestimmungen zur Anpassung der Sanktion (Grundsatz der fortgesetzten Vollstreckung nach Artikel 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI) enthaltenen Einschränkungen zu beachten sind (194).

Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, dass die Ablehnung der Vollstreckung eines EuHb gemäß Artikel 4 Nummer 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses voraussetzt, dass sich der Vollstreckungsmitgliedstaat tatsächlich verpflichtet, die gegen die gesuchte Person verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken, und dass jedenfalls der bloße Umstand, dass dieser Staat seine „Bereitschaft“ erklärt, die Strafe vollstrecken zu lassen, zur Rechtfertigung einer solchen Ablehnung nicht ausreichen kann (195).

Folglich muss die vollstreckende Justizbehörde vor jeder Ablehnung der Vollstreckung eines EuHb gemäß Artikel 4 Nummer 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses prüfen, ob es nach ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI überhaupt möglich ist, die Strafe tatsächlich zu vollstrecken. Ist es dem Vollstreckungsmitgliedstaat nicht möglich, sich tatsächlich zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe gemäß des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI zu verpflichten, muss er, um die Gefahr der Straflosigkeit zu vermeiden, den EuHb vollstrecken und somit die gesuchte Person dem Ausstellungsmitgliedstaat übergeben (196).

Der Gerichtshof hat weiter klargestellt, dass Artikel 4 Nummer 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sich eine Person, gegen die zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ein EuHb erlassen wurde, ihren Wohnsitz im Vollstreckungsmitgliedstaat hat, die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung dieses Haftbefehls aus Gründen der Resozialisierung der gesuchten Person verweigern kann, obwohl die dem Haftbefehl zugrunde liegende Straftat nach dem nationalen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats nur mit Geldstrafe bewehrt ist, sofern dieser Umstand es nach dem nationalen Recht nicht ausschließt, dass die gegen die gesuchte Person verhängte Freiheitsstrafe in diesem Mitgliedstaat tatsächlich vollstreckt wird (was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist) (197).

Es sei darauf hingewiesen, dass, wie sich aus der oben genannten Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, die Entscheidung des Vollstreckungsmitgliedstaats, die Sanktion nach dem innerstaatlichen Recht zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI zu vollstrecken, bestandskräftig sein muss, bevor die Entscheidung über die Ablehnung des EuHb nach Artikel 4 Absatz 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses getroffen werden kann.

Für den Fall, dass sich der Vollstreckungsmitgliedstaat verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung zu vollstrecken, und auf dieser Grundlage die Vollstreckung des EuHb nach Artikel 4 Absatz 6 des EuHb-Rahmenbeschlusses verweigern wird, kann sich die Vollstreckung dieser Sanktion nicht allein auf den EuHb stützen. Für eine solche Vollstreckung ist stets eine gesonderte Bescheinigung gemäß dem Rahmenbeschluss 2008/909/JI erforderlich.

Wahl des Rechtsinstruments durch den Ausstellungsstaat im Falle eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Haftbefehls

Falls der Mitgliedstaat, der die Ausstellung eines EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in Erwägung zieht, weiß, dass die gesuchte Person in ihrem Herkunfts- oder Wohnsitzmitgliedstaat aufgefunden werden kann, kann es ratsam sein, das Urteil und die Bescheinigung gemäß dem Rahmenbeschluss 2008/909/JI vor Ausstellung eines EuHb an diesen Mitgliedstaat weiterzuleiten.

Nach Artikel 14 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI kann der Ausstellungsmitgliedstaat den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die verurteilte Person besitzt oder in dem sie ihren Wohnsitz hat, vor Ankunft des Urteils und der Bescheinigung nach dem Rahmenbeschluss 2008/909/JI ersuchen, die verurteilte Person vorläufig in Haft zu nehmen oder jede andere Maßnahme zu treffen, um sicherzustellen, dass die verurteilte Person in seinem Hoheitsgebiet verbleibt. Durch eine solche Festnahme wird daher verhindert, dass die gesuchte Person bis zu einer Entscheidung über die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion nach dem Rahmenbeschluss 2008/909/JI flüchtig wird. Die Ausstellung eines EuHb ausschließlich zum Zwecke der Festnahme der Person ist daher in solchen Fällen nicht erforderlich.

Keiner der Rahmenbeschlüsse verhindert jedoch die parallele Ausstellung eines EuHb und einer Bescheinigung nach dem Rahmenbeschluss 2008/909/JI, wenn der ausstellende Mitgliedstaat weiß, dass die gesuchte Person die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt.

Werden beide gleichzeitig erlassen, ist die Konsultation zwischen dem Ausstellungs- und dem Vollstreckungsmitgliedstaat jedoch von großer Bedeutung (siehe Artikel 21 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI).

Diese Konsultation ist wichtig, um insbesondere zu klären, warum beide Ersuchen gestellt wurden, und um praktische Lösungen zu finden. Beispielsweise kann die Ausstellungsbehörde nach den Konsultationen beschließen, entweder den EuHb oder die Bescheinigung nach dem Rahmenbeschluss 2008/909/JI zurückzunehmen.

5.11.   Aufschub und vorübergehende Übergabe

5.11.1.   Schwerwiegende humanitäre Gründe

Wenn die vollstreckende Justizbehörde entschieden hat, den EuHb zu vollstrecken, beginnt die Frist von zehn Tagen für die Übergabe der Person zu laufen (wie in Abschnitt 4.2 erläutert). Die vollstreckende Justizbehörde kann jedoch in Ausnahmefällen beschließen, die Übergabe aus schwerwiegenden humanitären Gründen vorübergehend aufzuschieben. Ein solcher Grund liegt zum Beispiel vor, wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Übergabe offensichtlich eine Gefährdung für Leib oder Leben der gesuchten Person darstellt (Artikel 23 Absatz 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Die Vollstreckung des EuHb muss dann erfolgen, sobald diese Gründe nicht mehr gegeben sind. Die vollstreckende Justizbehörde muss die ausstellende Justizbehörde unverzüglich davon in Kenntnis setzen und einen neuen Übergabetermin vereinbaren. In diesem Fall hat die Übergabe innerhalb von zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin zu erfolgen. Nach Ablauf dieser Frist darf die Person vom Vollstreckungsmitgliedstaat nicht länger in Haft gehalten werden und muss freigelassen werden (Artikel 23 Absatz 5 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Wenn solche humanitären Gründe auf unbestimmte Zeit oder dauerhaft vorliegen, könnten die ausstellende und die vollstreckende Justizbehörde einander konsultieren und Alternativen zum EuHb erörtern. So könnte etwa die Möglichkeit geprüft werden, das Verfahren oder die Freiheitsstrafe auf den Vollstreckungsmitgliedstaat zu übertragen oder den EuHb aufzuheben (z. B. im Falle einer schweren dauerhaften Erkrankung).

In der Rechtssache C-699/21, E. D. L (198)., hat der Gerichtshof entschieden, dass Artikel 1 Absatz 3 und Artikel 23 Absatz 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses im Licht von Artikel 4 der Charta dahin auszulegen sind, dass die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe ausnahmsweise aussetzen kann, wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass im Rahmen der Vollstreckung eines EuHb die Übergabe einer gesuchten Person offensichtlich eine Gefährdung für deren Gesundheit darstellt.

Ist die vollstreckende Justizbehörde der Auffassung, dass es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass für die gesuchte Person im Fall der Übergabe die reale Gefahr einer erheblichen Verkürzung ihrer Lebenserwartung oder einer raschen, ernsten und unumkehrbaren Verschlechterung ihres Gesundheitszustands besteht, hat die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe auszusetzen und die ausstellende Justizbehörde zu ersuchen, sie umfassend darüber zu unterrichten, i) unter welchen Bedingungen die gesuchte Person der Strafverfolgung unterzogen oder inhaftiert werden soll, und ii) welche Möglichkeiten es gibt, diese Bedingungen an ihren Gesundheitszustand anzupassen, um zu verhindern, dass eine solche Gefahr eintritt. Wenn die oben genannte Gefahr durch Garantien der ausstellenden Justizbehörde abgewandt werden kann, muss der EuHb vollstreckt werden.

Geht aus den Angaben der ausstellenden Justizbehörde unter außergewöhnlichen Umständen hervor, dass diese Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist abgewandt werden kann, muss die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des EuHb ablehnen. Wenn diese Gefahr hingegen innerhalb einer angemessenen Frist abgewandt werden kann, ist mit der ausstellenden Justizbehörde ein neues Übergabedatum zu vereinbaren.

5.11.2.   Laufendes Strafverfahren oder Vollstreckung einer Freiheitsstrafe

Die vollstreckende Justizbehörde kann nach der Entscheidung zur Vollstreckung des EuHb die Übergabe aufschieben, damit die betreffende Person im Vollstreckungsmitgliedstaat wegen einer anderen Straftat gerichtlich verfolgt werden kann (Artikel 24 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

In einem solchen Fall sollte die Übergabe unmittelbar nach Durchführung der Strafverfolgung zu einem von der ausstellenden und der vollstreckenden Justizbehörde vereinbarten Termin erfolgen.

Wenn die Person bereits wegen einer anderen Straftat verurteilt worden ist, kann die Übergabe aufgeschoben werden, damit die Person die wegen dieser Straftat verhängte Strafe im Vollstreckungsmitgliedstaat verbüßen kann (Artikel 24 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

In diesem Fall sollte die Übergabe zu einem von der ausstellenden und der vollstreckenden Justizbehörde vereinbarten Termin erfolgen, nachdem die Person die Strafe verbüßt hat.

Hinweis: Falls das Strafverfahren im Vollstreckungsmitgliedstaat dieselbe Straftat betrifft, die auch dem EuHb zugrunde liegt, kann der Vollstreckungsmitgliedstaat die Vollstreckung des EuHb für diese Straftat ablehnen (siehe Artikel 4 Nummer 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses und Abschnitt 5.5.2). Wenn die Voraussetzungen des Artikels 3 Nummer 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses erfüllt sind, muss die Vollstreckung des EuHb abgelehnt werden (siehe Abschnitt 5.5.1).

In der Rechtssache C-492/22 PPU, CJ (199), hat der Gerichtshof klargestellt, dass Artikel 24 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass die Entscheidung über die Aufschiebung der Übergabe eine Entscheidung über die Vollstreckung eines EuHb darstellt, die nach Artikel 6 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses von der vollstreckenden Justizbehörde zu treffen ist. Ist eine solche Entscheidung von dieser Behörde nicht getroffen worden und sind die in Artikel 23 Absatz 2 bis 4 genannten Fristen abgelaufen, so ist die Person, gegen die der EuHb ergangen ist, gemäß Artikel 23 Absatz 5 freizulassen. Beschließt die vollstreckende Justizbehörde, die Übergabe gemäß Artikel 24 Absatz 1 aufzuschieben, so kann sie nach Artikel 6 der Charta beschließen, die gesuchte Person während der Strafverfolgung im Vollstreckungsmitgliedstaat in Haft zu halten. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn das Übergabeverfahren mit hinreichender Sorgfalt durchgeführt wurde und somit keine übermäßig lange Inhaftierung vorliegt. Schließlich hat der Gerichtshof entschieden, dass Artikel 24 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses in Verbindung mit Artikel 47 Absatz 2 und 3 sowie Artikel 48 Absatz 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dem nicht entgegensteht, dass die Übergabe der gesuchten Person ausschließlich aus dem Grund aufgeschoben wird, dass diese Person nicht auf ihr Recht verzichtet hat, in dem im Vollstreckungsmitgliedstaat gegen sie geführten Strafverfahren persönlich vor Gericht zu erscheinen.

5.11.3.   Vorübergehende Übergabe statt Aufschub

In den in Abschnitt 5.10 beschriebenen Fällen kann die vollstreckende Justizbehörde, statt die Übergabe aufzuschieben, die gesuchte Person dem Ausstellungsmitgliedstaat vorübergehend übergeben (Artikel 24 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Dies kann zum Zwecke der Strafverfolgung oder der Vollstreckung eines bereits verhängten Urteils geschehen.

Die ausstellende und die vollstreckende Justizbehörde müssen die Bedingungen dieser vorübergehenden Übergabe schriftlich und eindeutig vereinbaren. Die Vereinbarung ist für alle Behörden im Ausstellungsmitgliedstaat verbindlich (Artikel 24 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Mit einer vorübergehenden Übergabe kann verhindert werden, dass sich das Verfahren im Ausstellungsmitgliedstaat erheblich verzögert, weil die Person im Vollstreckungsmitgliedstaat strafrechtlich verfolgt wird oder bereits verurteilt wurde.

5.11.4.   Aufschub der Vollstreckung der Entscheidung über die Übergabe wegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung der gesuchten Person

Im Einklang mit dem Urteil des Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen C-404/15 und C-659/15 PPU, Aranyosi und Căldăraru, ist die Vollstreckung des EuHb aufzuschieben aber nicht aufzugeben, wenn anhand der von der ausstellenden Justizbehörde erhaltenen Informationen und sonstiger Informationen, über die die vollstreckende Justizbehörde verfügt, (und in Erwartung der endgültigen Entscheidung über den EuHb) eine echte Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung für die gesuchte Person festgestellt worden ist. Wenn die vollstreckende Justizbehörde über einen solchen Aufschub entscheidet, hat der Vollstreckungsmitgliedstaat nach Artikel 17 Absatz 7 des EuHb-Rahmenbeschlusses Eurojust von diesem Umstand und von den Gründen der Verzögerung in Kenntnis zu setzen (siehe die Abschnitte 5.7 und 4.1).

In ähnlicher Weise urteilte der Gerichtshof in der Rechtssache C-699/21, E.D.L (200)., dass, wenn die vollstreckende Justizbehörde der Auffassung ist, dass es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass für die gesuchte Person im Fall der Übergabe die reale Gefahr einer erheblichen Verkürzung ihrer Lebenserwartung oder einer raschen, ernsten und unumkehrbaren Verschlechterung ihres Gesundheitszustands besteht, sie die Übergabe aussetzen und die ausstellende Justizbehörde ersuchen muss, sie umfassend darüber zu unterrichten, unter welchen Bedingungen die gesuchte Person der Strafverfolgung unterzogen oder inhaftiert werden soll und welche Möglichkeiten es gibt, diese Bedingungen an ihren Gesundheitszustand anzupassen, um zu verhindern, dass eine solche Gefahr eintritt. Wenn die oben genannte Gefahr durch Garantien der ausstellenden Justizbehörde abgewandt werden kann, muss der EuHb vollstreckt werden. Es ist jedoch möglich, dass die vollstreckende Justizbehörde unter außergewöhnlichen Umständen aufgrund der von der ausstellenden Justizbehörde gemachten Angaben zu dem Schluss gelangt, dass i) für die gesuchte Person im Fall der Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat die echte Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung besteht; und ii) dieses Risiko nicht in angemessener Frist abgewandt werden kann. Unter diesen Umständen muss die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des EuHb ablehnen. Kann die genannte Gefahr hingegen in angemessener Frist abgewandt werden, ist mit der ausstellenden Justizbehörde ein neues Übergabedatum zu vereinbaren.

5.12.   Mehrere EuHb gegen dieselbe Person

5.12.1.   Entscheidung, welcher EuHb vollstreckt wird

Gegen dieselbe Person können wegen derselben Handlung oder wegen verschiedener Handlungen mehrere EuHb vorliegen, die von den Behörden eines oder mehrerer Mitgliedstaaten ausgestellt wurden. Die folgenden Leitlinien gelten unabhängig davon, ob die EuHb wegen derselben Handlung oder wegen verschiedener Handlungen ausgestellt wurden.

Wenn mehrere EuHb gegen dieselbe Person vorliegen, entscheidet die vollstreckende Justizbehörde unter gebührender Berücksichtigung aller Umstände (Artikel 16 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Bevor die vollstreckende Justizbehörde entscheidet, sollte sie versuchen, eine Abstimmung zwischen den Justizbehörden zu erreichen, die die EuHb ausgestellt haben. Falls sich die ausstellenden Justizbehörden bereits im Voraus miteinander abgestimmt haben, sollte die vollstreckende Justizbehörde dies berücksichtigen; sie ist nach dem EuHb-Rahmenbeschluss jedoch nicht an solche Vereinbarungen gebunden.

Die vollstreckende Justizbehörde kann auch Eurojust hinzuziehen (Artikel 16 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Eurojust kann die Abstimmung erleichtern und beschleunigen und auf Ersuchen eine Stellungnahme zu den konkurrierenden EuHb abgeben. Im Idealfall sollte die Entscheidung, welcher EuHb vollstreckt wird, auf der Zustimmung aller ausstellenden Justizbehörden beruhen.

Unabhängig davon, ob die ausstellenden Justizbehörden eine Einigung erzielt haben, sollte die vollstreckende Justizbehörde bei der Prüfung, welcher von mehreren EuHb vollstreckt wird, insbesondere folgende Faktoren berücksichtigen (Artikel 16 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses):

a)

die Schwere der Straftaten;

b)

den Ort der Begehung der Straftaten;

c)

den Zeitpunkt, zu dem die EuHb erlassen wurden;

d)

ob der Haftbefehl zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt wurde.

Diese Aufstellung ist nicht erschöpfend. Welcher dieser Faktoren Vorrang hat, ist nicht streng geregelt, sondern muss im Einzelfall geprüft werden. Auf jeden Fall hat die vollstreckende Justizbehörde nach Artikel 16 des EuHb-Rahmenbeschlusses alle Umstände gebührend zu berücksichtigen. Eine simple Entscheidung nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ sollte vermieden werden.

Die vollstreckenden Justizbehörden können sich auch auf die Eurojust-Richtlinien für die Entscheidung über konkurrierende Ersuchen um Überstellung und Auslieferung (überarbeitete Fassung, 2019) beziehen, die abrufbar sind unter: https://www.eurojust.europa.eu/nl/guidelines-deciding-competing-requests-surrender-and-extradition.

Bei der Entscheidung über die Übergabe ist wichtig, dass die vollstreckende Justizbehörde genau angibt, welcher EuHb der Übergabe zugrunde liegt. Ferner muss das SIRENE-Büro des Vollstreckungsmitgliedstaats jedem betroffenen Mitgliedstaat ein SIRENE-Formular G übersenden (siehe Artikel 32 Absatz 3 des SIRENE-Handbuchs – Polizei) (201).

Die Prüfung, welcher EuHb vollstreckt wird, sollte sich nur auf die EuHb beziehen, die vollstreckbar sind. Die vollstreckende Justizbehörde könnte daher zunächst jeden EuHb daraufhin prüfen, ob er für sich genommen vollstreckbar wäre. Falls auf einen der EuHb ein Ablehnungsgrund zutrifft, könnte sie aus Gründen der Klarheit die getrennte Entscheidung erlassen, diesen EuHb nicht zu vollstrecken.

In der Rechtssache C-158/21, Puig Gordi u. a (202)., hat der Gerichtshof entschieden, dass der EuHb-Rahmenbeschluss dem Erlass mehrerer aufeinanderfolgender EuHb gegen eine gesuchte Person nicht entgegensteht, selbst nachdem die Vollstreckung eines ersten EuHb bezüglich dieser Person vom vollstreckenden Mitgliedstaat abgelehnt wurde, sofern die Vollstreckung eines neuen EuHb nicht zu einem Verstoß gegen Artikel 1 Absatz 3 dieses Rahmenbeschlusses führt und der Erlass des nachfolgenden EuHb verhältnismäßig ist.

5.12.2.    „Parallelverfahren“

Wenn zwei oder mehr Mitgliedstaaten EuHb wegen Straftaten ausgestellt haben, die denselben Sachverhalt und dieselbe Person betreffen, sind die zuständigen Behörden verpflichtet, sich miteinander in Verbindung zu setzen und zusammenzuarbeiten. Diese Pflicht ergibt sich aus dem Rahmenbeschluss 2009/948/JI vom 30. November 2009 zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren (203). In diesen Fällen sollten sich die zuständigen Behörden nach den für sie geltenden nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses richten.

Wenn keine Einigung erzielt werden kann, müssen die beteiligten zuständigen Behörden die Sache Eurojust vorlegen, sofern der Fall in die Zuständigkeit von Eurojust fällt (204). Eurojust kann auch in anderen Fällen konsultiert werden (205). Am 13. Dezember 2016 hat Eurojust Richtlinien für die Entscheidung „Welcher Mitgliedstaat soll die Strafverfolgung durchführen?“ herausgegeben, um die Beilegung von Kompetenzkonflikten, die zu einem Verstoß gegen den Grundsatz „ne bis in idem“ führen könnten, zu verhindern und ihre Beilegung zu unterstützen (206).

Die Mitgliedstaaten, bei denen solche parallelen EuHb eingehen, sollten die zuständigen Behörden der Ausstellungsmitgliedstaaten von den Parallelverfahren in Kenntnis setzen.

Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, die die EuHb ausgestellt haben, sollten die vollstreckende Justizbehörde über ihre Mitwirkung an der Lösung des Zuständigkeitskonflikts und eine dabei erzielte Einigung unterrichten.

6.   ANRECHNUNG DER IM VOLLSTRECKUNGSMITGLIEDSTAAT VERBÜßTEN HAFT

Nachdem die gesuchte Person übergeben worden ist, muss der Ausstellungsmitgliedstaat der aufgrund des EuHb verbüßten Haft Rechnung tragen. Die Dauer dieser Haft ist auf die Gesamtdauer der im Ausstellungsmitgliedstaat zu verbüßenden Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung anzurechnen (Artikel 26 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Falls die Person freigesprochen wird, finden möglicherweise Schadensersatzvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats Anwendung.

Deshalb muss die vollstreckende Justizbehörde oder die zentrale Behörde des Ausstellungsmitgliedstaats wie in Abschnitt 4.5.2 beschrieben alle Angaben zur Dauer der aufgrund des EuHb verbüßten Haft bereitstellen. Diese Angaben sollten zum Zeitpunkt der Übergabe unter Verwendung des Formulars in Anhang VII (Standardformular für EuHb-Entscheidungen) bereitgestellt werden (siehe auch das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-294/16 PPU, JZ (207)).

7.   GRUNDSATZ DER SPEZIALITÄT – VERFAHREN FÜR DEN VERZICHT AUF DIE ANWENDUNG DES GRUNDSATZES DER SPEZIALITÄT – ZUSTIMMUNG DER VOLLSTRECKENDEN JUSTIZBEHÖRDE

Wie in Abschnitt 2.6 erörtert, dürfen überstellte Personen normalerweise wegen einer vor ihrer Überstellung begangenen anderen strafbaren Handlung als derjenigen, die ihrer Überstellung zugrunde liegt, weder verfolgt, verurteilt noch einer anderweitigen freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden. So lautet der in Artikel 27 des EuHb-Rahmenbeschlusses verankerte Grundsatz der Spezialität.

Von diesem Grundsatz gibt es jedoch eine Reihe von Ausnahmen, wie in Abschnitt 2.6 erörtert. Darüber hinaus sind in Artikel 27 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses weitere Fälle aufgeführt, in denen der Grundsatz der Spezialität nicht anwendbar ist (siehe Abschnitt 2.6 für weitere Einzelheiten und für die Definition des Begriffs „andere strafbare Handlung“ als diejenigen, derentwegen die Person im Sinne von Artikel 27 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses übergeben wurde).

In anderen Fällen muss die Zustimmung des ursprünglichen Vollstreckungsmitgliedstaats eingeholt werden (Artikel 27 Absatz 3 Buchstabe g des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Das Verfahren für den Verzicht auf den Grundsatz der Spezialität durch Zustimmung der vollstreckenden Justizbehörde setzt voraus, dass das Ersuchen um Zustimmung demselben Verfahren folgt und dieselben Angaben enthält wie ein normaler EuHb. Die zuständige Justizbehörde übermittelt demnach das Ersuchen um Zustimmung direkt der vollstreckenden Justizbehörde, die die Person übergeben hat.

Für die Übersetzung der Informationen, die nach Artikel 8 Absatz 1 in dem Ersuchen anzugeben sind, gelten dieselben Regeln wie für den EuHb. Die vollstreckende Justizbehörde muss ihre Entscheidung spätestens 30 Tage nach Eingang des Ersuchens treffen (Artikel 27 Absatz 4).

Die vollstreckende Behörde muss ihre Zustimmung erteilen, wenn die Straftat, derentwegen um Zustimmung ersucht wird, nach dem EuHb-Rahmenbeschluss der Verpflichtung zur Übergabe unterliegt, es sei denn, es liegt ein zwingender oder fakultativer Ablehnungsgrund vor.

Die vollstreckende Justizbehörde kann ihre Zustimmung gegebenenfalls an eine der in Artikel 5 des EuHb-Rahmenbeschlusses niedergelegten Bedingungen knüpfen, die lebenslange Freiheitsstrafen und die Rücküberstellung eigener Staatsangehöriger oder Gebietsansässiger betreffen (siehe Abschnitt 5.9). In solchen Fällen muss der Ausstellungsmitgliedstaat geeignete Garantien bieten (Artikel 27 Absatz 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Der Gerichtshof hat in seinem Urteil in der Rechtssache C-168/13 PPU, Jeremy F (208)., entschieden, dass ein Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gegen die in Artikel 27 Absatz 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses genannte Entscheidung vorsehen kann, wenn die endgültige Entscheidung innerhalb der in Artikel 17 des EuHb-Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen ergeht (siehe Abschnitt 4.1).

In seinem Urteil in der Rechtssache C-195/20 PPU, XC (209), hat der Gerichtshof klargestellt, dass in einer Situation, in der die Person von einem ersten Mitgliedstaat auf der Grundlage eines EuHb übergeben wurde, und diese Person das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats des ersten Haftbefehls freiwillig verlassen hat und dort von einem zweiten Mitgliedstaat zur Vollstreckung eines anderen nach dieser Ausreise ausgestellten EuHb zurücküberstellt wurde, i) für die Beurteilung der Beachtung des Grundsatzes der Spezialität allein die Übergabe relevant ist, die durch die vollstreckende Justizbehörde des zweiten EuHb erfolgte, und ii) die nach Artikel 27 Absatz 3 Buchstabe g erforderliche Zustimmung daher allein von der vollstreckenden Justizbehörde des Mitgliedstaats zu erteilen ist, der die verfolgte Person auf der Grundlage dieses EuHb übergeben hat.

In der Rechtssache C-510/19, AZ (210), hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Zustimmung zum Verzicht auf die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität nach Artikel 27 Absatz 3 Buchstabe g und Artikel 27 Absatz 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses von einer Justizbehörde erteilt werden muss, die die in Artikel 6 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses genannten Anforderungen erfüllt (siehe Abschnitt 2.1.2).

In seinem Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-428/21 und C-429/21 PPU (211), HM und TZ, hat der Gerichtshof Artikel 27 Absatz 3 Buchstabe g und Absatz 4 sowie Artikel 28 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses außerdem im Licht des durch Artikel 47 der Charta garantierten Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz ausgelegt. Folglich hat eine Person, die der ausstellenden Justizbehörde zur Vollstreckung eines EuHb übergeben wurde, das Recht, von der vollstreckenden Justizbehörde gehört zu werden, wenn ein Ersuchen um Zustimmung zum Verzicht auf den Grundsatz der Spezialität gestellt wird. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass die wirksame Ausübung dieses Rechts nicht die unmittelbare Beteiligung der vollstreckenden Justizbehörde erfordert, sofern sie sicherstellt, dass sie über ausreichende Informationen (insbesondere über den Standpunkt der betroffenen Person) verfügt, um eine Entscheidung treffen zu können. Es kann daher ausreichen, dass die betroffene Person der ausstellenden Justizbehörde ihren Standpunkt darlegen kann und diese Informationen schriftlich festgehalten und an die vollstreckende Justizbehörde übermittelt werden. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass diese Informationen von der vollstreckenden Justizbehörde im Einklang mit den Anforderungen des Artikel 47 der Charta eingeholt wurden. Erforderlichenfalls muss die vollstreckende Justizbehörde unverzüglich zusätzliche Informationen anfordern.

8.   WEITERE ÜBERGABE

8.1.   An den Vollstreckungsmitgliedstaat auf der Grundlage der Dublin-III-Verordnung

Zum Zeitpunkt ihrer Übergabe kann die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat auf der Grundlage der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben (212).

In einem solchen Fall und wenn die Person nach ihrer Übergabe im Ausstellungsmitgliedstaat keinen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, kann der Ausstellungsmitgliedstaat den Vollstreckungsmitgliedstaat ersuchen, die übergebene Person wieder aufzunehmen (siehe Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-213/17, X (213)).

8.2.   In einen anderen Mitgliedstaat auf der Grundlage eines EuHb

Nachdem die gesuchte Person aufgrund des EuHb dem Ausstellungsmitgliedstaat übergeben worden ist, muss dieser möglicherweise über die Vollstreckung eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten anderen EuHb entscheiden, der dieselbe Person betrifft. Nach Artikel 28 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses kann der Ausstellungsmitgliedstaat die Person anschließend ohne die Zustimmung des ursprünglichen Vollstreckungsmitgliedstaats einem anderen Mitgliedstaat übergeben,

a)

wenn die gesuchte Person das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dem sie übergeben worden ist, innerhalb von 45 Tagen nach ihrer endgültigen Freilassung nicht verlassen hat, obwohl sie dazu die Möglichkeit hatte, oder wenn sie nach Verlassen dieses Gebiets dorthin zurückgekehrt ist;

b)

wenn die gesuchte Person ihrer Übergabe an einen anderen Mitgliedstaat als den Vollstreckungsmitgliedstaat aufgrund eines EuHb zustimmt.

Die Zustimmung der gesuchten Person wird vor den zuständigen Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats erteilt. Sie muss nach dessen innerstaatlichem Recht zu Protokoll genommen werden. Die Zustimmungserklärung ist so abzufassen, dass aus ihr hervorgeht, dass die betreffende Person sie freiwillig und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Folgen gegeben hat;

c)

wenn der Grundsatz der Spezialität auf die gesuchte Person im Ausstellungsmitgliedstaat gemäß Artikel 27 Absatz 3 Buchstaben a, e, f und g nicht anzuwenden ist. Der Grundsatz der Spezialität verhindert gegebenenfalls den Freiheitsentzug der gesuchten Person wegen einer vor ihrer Übergabe begangenen Straftat, wegen der die Person nicht übergeben wurde, und verhindert somit auch eine spätere Übergabe an einen anderen Mitgliedstaat als den Vollstreckungsmitgliedstaat (siehe Abschnitt 2.6). Wenn der Grundsatz der Spezialität im Rahmen der ersten Übergabe nach Artikel 27 Absatz 3 Buchstabe a, e, f und g nicht anwendbar ist, steht er auch einer späteren Übergabe an einen anderen Mitgliedstaat nicht entgegen.

In anderen Fällen ist die Zustimmung des ursprünglichen Vollstreckungsmitgliedstaats zu einer weiteren Übergabe einzuholen (214).

Verfahren zur Einholung der Zustimmung der vollstreckenden Justizbehörde

Das Ersuchen um Zustimmung folgt demselben Verfahren wie ein regulärer EuHb und muss dieselben Angaben enthalten. Die zuständige Justizbehörde übermittelt das Ersuchen um Zustimmung direkt der vollstreckenden Justizbehörde, die die Person übergeben hat.

Die weitere Übergabe einer aufgrund mehrerer aufeinanderfolgender EuHb mehr als einmal zwischen den Mitgliedstaaten übergebenen Person an einen anderen als den Mitgliedstaat, der sie zuletzt übergeben hat, hängt nur von der Zustimmung des Mitgliedstaats ab, der diese letzte Übergabe vorgenommen hat (siehe Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-192/12 PPU, West (215)).

Für die Übersetzung der Informationen, die nach Artikel 8 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses in dem Ersuchen anzugeben sind, gelten dieselben Vorschriften wie für den EuHb. Die vollstreckende Justizbehörde muss ihre Entscheidung spätestens 30 Tage nach Eingang des Ersuchens treffen (Artikel 28 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Die Zustimmung muss erteilt werden, wenn die Straftat, derentwegen um Zustimmung ersucht wird, nach dem EuHb-Rahmenbeschluss der Verpflichtung zur Übergabe unterliegt, es sei denn, es liegt ein zwingender oder fakultativer Ablehnungsgrund vor.

Die vollstreckende Justizbehörde kann ihre Zustimmung gegebenenfalls an eine der in Artikel 5 des EuHb-Rahmenbeschlusses niedergelegten Bedingungen knüpfen, die lebenslange Freiheitsstrafen und die Rücküberstellung eigener Staatsangehöriger oder Gebietsansässiger betreffen (siehe Abschnitt 5.9). In solchen Fällen muss der Ausstellungsmitgliedstaat geeignete Garantien bieten (Artikel 28 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

8.3.   An einen Drittstaat

Eine Person, die aufgrund eines EuHb übergeben wurde, darf nicht ohne die Zustimmung der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, der die Person übergeben hat, an einen nicht der Union angehörenden Staat (Drittstaat) ausgeliefert werden. Die Zustimmung wird im Einklang mit den Auslieferungsabkommen, die diesen Mitgliedstaat binden, sowie nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften erteilt (Artikel 28 Absatz 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

9.   VERPFLICHTUNGEN IM VERHÄLTNIS ZU DRITTSTAATEN

9.1.   Auslieferungsersuchen eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats

Im Jahr 2016 hat der Gerichtshof in der Rechtssache C-182/15, Petruhhin (216), spezifische Verpflichtungen für Mitgliedstaaten eingeführt, die ihre eigenen Staatsangehörigen nicht ausliefern, wenn sie von einem Drittstaat einen Auslieferungsantrag zum Zwecke der Strafverfolgung eines Unionsbürgers erhalten, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und von seinem Recht auf Freizügigkeit nach Artikel 21 Absatz 1 AEUV Gebrauch gemacht hat.

Das Urteil in der Rechtssache Petruhhin ist der erste Fall, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass ein EU-Mitgliedstaat, der mit einem Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betreffend einen Staatsangehörigen eines anderen EU-Mitgliedstaats befasst ist, verpflichtet ist, ein Konsultationsverfahren mit dem Mitgliedstaat einzuleiten, dessen Staatsangehörigkeit der betroffene Unionsbürger besitzt (den sogenannten „Petruhhin-Mechanismus“), mit dem diesem Staat die Möglichkeit eingeräumt wird, seine Staatsbürger mittels eines EuHb, der sich zumindest auf dieselben Straftaten bezieht, die dieser Person im Auslieferungsersuchen vorgeworfen werden, strafrechtlich zu verfolgen.

Die den Mitgliedstaaten, die ihre eigenen Staatsangehörigen nicht ausliefern, auferlegten besonderen Verpflichtungen finden ihre Begründung in Artikel 18 AEUV (Nichtdiskriminierung) und Artikel 21 AEUV (Recht auf Freizügigkeit). Eine Ungleichbehandlung zwischen eigenen Staatsangehörigen und anderen Unionsbürgern stellt eine Beschränkung des Rechts auf Freizügigkeit dar, die nur gerechtfertigt werden kann, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu dem legitimen Ziel steht, der Gefahr der Straflosigkeit vorzubeugen. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass der Aufnahmemitgliedstaat, wenn er auf diese Weise mit dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene hat, zusammenarbeitet und einem etwaigen EuHb Vorrang vor dem Auslieferungsantrag einräumt, weniger stark in die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit eingreift, aber zugleich im Rahmen des Möglichen der Gefahr der Straflosigkeit entgegenwirkt.

Die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten wurden in der späteren Rechtsprechung weiter präzisiert. Darüber hinaus weitete der Gerichtshof den Petruhhin-Mechanismus auf Island und Norwegen aus.

Ausführliche Leitlinien zur Auslieferung an Drittstaaten und eine Zusammenfassung der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs finden sich in der Bekanntmachung der Kommission vom 8. Juni 2022 mit Leitlinien für die Auslieferung an Drittstaaten, die diesem Handbuch als Anhang X beigefügt ist (217).

Die Leitlinien berücksichtigen die Erfahrungen, die in den letzten Jahren bei der Anwendung des Petruhhin-Mechanismus innerhalb der EU, in Island und in Norwegen gesammelt wurden. Mit den Leitlinien wird auch ein Netz von Kontaktstellen für den raschen Austausch von Informationen über unrechtmäßige Auslieferungsersuchen eingerichtet, insbesondere über politisch motivierte Auslieferungsersuchen, die Unionsbürger, Drittstaatsangehörige und Staatenlose betreffen. Darüber hinaus kann eine Tabelle aller Auslieferungs- und Rechtshilfeabkommen, die die Mitgliedstaaten mit Drittstaaten geschlossen haben, auf der EJN-Website eingesehen werden.

9.2.   Gleichzeitiger Eingang von EuHb und Auslieferungsersuchen für dieselbe Person

9.2.1.   Ersuchen von Drittstaaten

Es ist denkbar, dass bei einem Mitgliedstaat gleichzeitig ein EuHb und ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaats für dieselbe Person eingehen, die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhält. Sie können dieselbe Handlung oder verschiedene Handlungen betreffen. In dem Mitgliedstaat sind möglicherweise unterschiedliche Behörden für die Entscheidung über die Vollstreckung des EuHb einerseits und des Auslieferungsersuchens andererseits zuständig. In solchen Fällen sollten die Behörden bei der Entscheidung anhand der unten aufgeführten Kriterien zusammenarbeiten. Eurojust und das EJN können die beteiligten Staaten auf Anfrage beraten und die bei der Koordinierung unterstützen.

Im EuHb-Rahmenbeschluss ist nicht geregelt, welches Ersuchen Vorrang haben sollte. Wie oben erläutert, sollte jedoch nach dem Urteil in der Rechtssache C-182/15, Petruhhin, in einigen Fällen einem EuHb Vorrang vor einem Auslieferungsantrag eingeräumt werden.

In allen anderen Fällen muss nach Artikel 16 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses der Mitgliedstaat alle Umstände gebührend berücksichtigen, insbesondere die in Artikel 16 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses genannten Kriterien für die Entscheidung, welches von mehreren dieselbe Person betreffenden Ersuchen vollstreckt wird.

Die zuständigen Behörden sollten daher folgende Faktoren berücksichtigen:

a)

die Schwere der Straftaten;

b)

den Ort der Begehung der Straftaten;

c)

den Zeitpunkt, zu dem der EuHb und das Auslieferungsersuchen erlassen wurden;

d)

ob der Haftbefehl zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt wurde.

Die vollstreckenden Justizbehörden können sich auch auf die Eurojust-Richtlinien für die Entscheidung über konkurrierende Ersuchen um Überstellung und Auslieferung (Fassung von 2019) beziehen, die abrufbar sind unter: https://www.eurojust.europa.eu/nl/guidelines-deciding-competing-requests-surrender-and-extradition.

Außerdem sind möglicherweise etwaige im einschlägigen Auslieferungsabkommen angegebenen Kriterien zu berücksichtigen. Diese könnten insbesondere die Vorschriften für den Fall des Vorliegens mehrerer Auslieferungsersuchen betreffen.

9.2.2.   Ersuchen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH)

Falls bei einem Mitgliedstaat gleichzeitig ein EuHb und ein Auslieferungsersuchen des IStGH für dieselbe Person eingehen, sollte(n) die zuständige(n) Behörde(n) alle oben in Abschnitt 9.2.1 genannten Umstände prüfen. Jedoch haben die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs Vorrang vor der Vollstreckung des EuHb (Artikel 16 Absatz 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

9.3.   Vorherige Auslieferung aus einem Drittstaat und Grundsatz der Spezialität

Falls die gesuchte Person von einem Drittstaat an den Vollstreckungsmitgliedstaat ausgeliefert wurde, könnte die Auslieferung je nach den Vorschriften des einschlägigen Auslieferungsabkommens zur Anwendung des Grundsatzes der Spezialität führen. Nach diesem Grundsatz kann die ausgelieferte Person nur wegen der Straftat(en), die der Auslieferung zugrunde lag(en), verfolgt oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden. Der EuHb-Rahmenbeschluss berührt nicht die Verpflichtung, in diesen Fällen den Grundsatz der Spezialität zu wahren (Artikel 21 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Der Vollstreckungsmitgliedstaat kann daher daran gehindert sein, die Person ohne Zustimmung des Staates zu übergeben, der sie ausgeliefert hat.

Für diese Fälle schreibt der EuHb-Rahmenbeschluss vor, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen unverzüglich trifft, um die Zustimmung des Drittstaats (der die gesuchte Person ausgeliefert hat) einzuholen, damit die Person dem Mitgliedstaat übergeben werden kann, der den EuHb ausgestellt hat (Artikel 21 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

Die Fristen nach Artikel 17 des EuHb-Rahmenbeschlusses (siehe Abschnitt 4.1) beginnen erst an dem Tag zu laufen, an dem der Grundsatz der Spezialität nicht mehr anzuwenden ist. Bis die Entscheidung des Drittstaats vorliegt, aus dem die gesuchte Person ausgeliefert wurde, muss sich der Vollstreckungsmitgliedstaat davon überzeugen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe weiterhin gegeben sind (Artikel 21 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Insbesondere muss er gegebenenfalls die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine Flucht der Person zu verhindern.

10.   DURCHLIEFERUNG

10.1.   Durchlieferung durch einen anderen Mitgliedstaat

Mit Durchlieferung (Artikel 25 des EuHb-Rahmenbeschlusses) ist der Fall gemeint, dass die mit EuHb gesuchte Person dem Ausstellungsmitgliedstaat vom Vollstreckungsmitgliedstaat auf dem Land- oder Wasserweg über das Hoheitsgebiet eines dritten Mitgliedstaats überstellt wird. Der dritte Mitgliedstaat hat die Durchlieferung zu genehmigen. Die zuständige Behörde des Ausstellungsmitgliedstaats muss dem dritten Mitgliedstaat jedoch folgende Angaben übermitteln:

a)

die Identität und die Staatsangehörigkeit der Person, gegen die der EuHb erlassen wurde;

b)

das Vorliegen eines EuHb;

c)

die Art und rechtliche Würdigung der Straftat;

d)

die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit und des Tatortes.

Zur Erleichterung der Durchlieferung sollten diese Angaben so früh wie möglich übermittelt werden, bevor die Durchlieferung organisiert wird. Die ausstellende Justizbehörde sollte daher schon vor Vereinbarung eines Übergabetermins mit der vollstreckenden Justizbehörde prüfen, ob eine Durchlieferung notwendig sein könnte. Dies ist auch wichtig, um die in Artikel 23 des EuHb-Rahmenbeschlusses festgelegte strenge Frist für die Übergabe der Person (in der Regel 10 Tage) einhalten zu können.

Die Angaben sollten der Behörde übermittelt werden, die in dem betreffenden Mitgliedstaat für die Entgegennahme von Durchlieferungsersuchen zuständig ist. Informationen zu diesen Behörden in den einzelnen Mitgliedstaaten finden sich auf der EJN-Website (Gerichtsatlas, Fiches Belges). Die Angaben können der zuständigen Behörde in jeder Form, die einen schriftlichen Nachweis ermöglicht, übermittelt werden, einschließlich per E-Mail. Der Durchlieferungsmitgliedstaat muss seine Entscheidung auf dem gleichen Weg mitteilen (Artikel 25 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses). In Fällen, in denen das SIRENE-Büro für die Ausführung der Übergabe zuständig ist, wurde ein spezifisches SIRENE-Formular (im Folgenden „Formular T“) erstellt, um den Informationsaustausch zwischen den SIRENE-Büros zu erleichtern, wenn eine Durchlieferung erforderlich ist (siehe Artikel 39 des SIRENE-Handbuchs – Polizei) (218).

Im EuHb-Rahmenbeschluss ist zwar keine Frist für Durchlieferungsersuchen festgelegt, der Durchlieferungsstaat sollte sie jedoch unverzüglich bearbeiten.

Die genannten Vorschriften finden keine Anwendung, wenn die Beförderung auf dem Luftweg und ohne planmäßige Zwischenlandung erfolgt. Falls es jedoch zu einer außerplanmäßigen Landung kommt, muss der Ausstellungsmitgliedstaat der benannten Behörde die oben erwähnten Informationen wie bei einer Durchlieferung auf dem Land- oder Wasserweg übermitteln (Artikel 25 Absatz 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses).

10.2.   Staatsangehörige und Gebietsansässige des Durchlieferungsmitgliedstaats

Ausnahmen von der Pflicht zur Genehmigung der Durchlieferung gelten, wenn es sich bei der Person, gegen die der EuHb ergangen ist, um einen Staatsangehörigen oder Gebietsansässigen des Durchlieferungsmitgliedstaats handelt. Falls der EuHb zum Zwecke der Strafverfolgung ausgestellt wurde, kann der Durchlieferungsmitgliedstaat zur Bedingung machen, dass die Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Durchlieferungsstaat rücküberstellt wird (Artikel 25 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Auf diese Bedingung sollte Artikel 5 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses entsprechend angewandt werden (siehe Abschnitt 5.9.2). Falls der EuHb zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt wurde, kann der Durchlieferungsmitgliedstaat die Durchlieferung ablehnen.

10.3.   Auslieferung aus einem Drittstaat an einen Mitgliedstaat

Der EuHb-Rahmenbeschluss betrifft zwar nicht unmittelbar die Auslieferung aus Drittstaaten, jedoch finden die Vorschriften des Artikels 25 über die Durchlieferung auf die Auslieferung aus einem Drittstaat an einen Mitgliedstaat entsprechende Anwendung (Abschnitte 9.1 und 9.2). In diesem Fall gilt der Ausdruck „Europäischer Haftbefehl“ in Artikel 25 des EuHb-Rahmenbeschlusses als durch „Auslieferungsersuchen“ ersetzt (Artikel 25 Absatz 5).

11.   NICHT VOLLSTRECKTE EUHB

11.1.   Verhinderung der erneuten Festnahme der Person im selben Mitgliedstaat

Wenn die vollstreckende Justizbehörde entscheidet, den EuHb nicht zu vollstrecken, muss die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats sicherstellen, dass der abgelehnte EuHb nicht mehr zur Festnahme der gesuchten Person in seinem Hoheitsgebiet führen kann. Zu diesem Zweck muss sie folgende Schritte unternehmen, damit

a)

die entsprechende Ausschreibung im SIS „gekennzeichnet“ wird und

b)

die entsprechenden Ausschreibungen in den innerstaatlichen Systemen des Vollstreckungsmitgliedstaats weiterhin sichtbar sein werden und als „Person zum Zwecke der Festnahme, Übergabe oder Auslieferung“ erscheinen. Die zu ergreifende Maßnahme setzt jedoch nicht voraus, dass die Person festgenommen wird, sondern werden stattdessen dem Zweck dienen, „den Wohnsitz oder Aufenthalt der Person zu bestimmen“ (219).

Der Grund für die Ausschreibung bezieht sich auf den Hintergrund des Falls, doch muss die zu ergreifende Maßnahme vor dem Tätigwerden gelesen werden, da in diesen wichtigen Fällen andernfalls die falsche Handlung vollzogen werden könnte.

Weitere Informationen zum Kennzeichnungsverfahren sind Artikel 24 der SIS-Polizeiverordnung (220), Artikel 31 des SIRENE-Handbuchs – Polizei (221) und Artikel 12 des Durchführungsbeschlusses der Kommission über die SIS-Dateneingabe (222) zu entnehmen.

11.2.   Mitteilung an den Ausstellungsmitgliedstaat

Die vollstreckende Justizbehörde muss ihre Entscheidung über die Vollstreckung des EuHb der ausstellenden Justizbehörde mitteilen (Artikel 22 des EuHb-Rahmenbeschlusses). Es ist ratsam, für diesen Zweck das Standardformular in Anhang VII zu verwenden. Wenn die vollstreckende Justizbehörde entscheidet, die Vollstreckung des EuHb abzulehnen, gibt diese Mitteilung der ausstellenden Justizbehörde die Möglichkeit zu prüfen, ob der EuHb aufrechtzuerhalten oder aufzuheben ist.

11.3.   Prüfung der Aufrechterhaltung oder Aufhebung des EuHb durch die ausstellende Justizbehörde

Der EuHb-Rahmenbeschluss bestimmt nicht, dass ein EuHb, dessen Vollstreckung von einem Mitgliedstaat abgelehnt wurde, aufzuheben ist. Dies liegt daran, dass andere Mitgliedstaaten den EuHb noch vollstrecken könnten. Der EuHb und die entsprechende Ausschreibung im SIS behalten daher unverändert ihre Gültigkeit, es sei denn, die ausstellende Justizbehörde beschließt, den EuHb aufzuheben.

Für jeden bestehenden EuHb sollten jedoch stets berechtigte Gründe vorliegen. Bei der Prüfung, ob der EuHb nach der Ablehnung seiner Vollstreckung durch einen Mitgliedstaat aufrechtzuerhalten ist oder nicht, sollte die ausstellende Justizbehörde die Umstände des Falles und das geltende nationale und Unionsrecht einschließlich der Grundrechte berücksichtigen. Dabei könnten insbesondere folgende Fragen geprüft werden:

a)

Ist es wahrscheinlich, dass der von der vollstreckenden Justizbehörde geltend gemachte zwingende Ablehnungsgrund auch von anderen Mitgliedstaaten geltend gemacht würde? Dies ist insbesondere im Zusammenhang mit dem Grundsatz „ne bis in idem“ (Artikel 3 Nummer 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses) von Belang.

b)

Ist die Aufrechterhaltung des EuHb noch verhältnismäßig (siehe Abschnitt 2.4)?

c)

Ist der EuHb die einzige wahrscheinlich wirksame Maßnahme (siehe Abschnitt 2.5)?

11.4.   Überprüfung von seit Langem bestehenden EuHb im SIS

Jede ausstellende Justizbehörde sollte ihre Ausschreibungen im SIS im Auge behalten. Sie muss möglicherweise die Verjährungsfristen für die betreffenden Straftaten und Änderungen der Strafprozess- und sonstigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften beachten, die sich auf die Stellung der gesuchten Person auswirken.

Nach der SIS-Polizeiverordnung (223) dürfen in das SIS eingegebene Ausschreibungen von Personen nur so lange gespeichert werden, bis der Zweck, für den sie eingegeben wurden, erfüllt ist (siehe Artikel 53 Absatz 1 der SIS-Polizeiverordnung). Sobald Gründe für einen EuHb nicht mehr bestehen, muss die zuständige Behörde des Ausstellungsmitgliedstaats ihn im SIS löschen (siehe Artikel 55 Absatz 1 der SIS-Polizeiverordnung).

EuHb, die in das SIS eingegeben werden, verbleiben dort bis zu fünf Jahre (es sei denn, sie wurden für einen kürzeren Zeitraum ausgestellt), und der ausstellende Mitgliedstaat muss innerhalb dieses Zeitraums von fünf Jahren prüfen, ob die SIS-Ausschreibung gespeichert bleiben muss. Dem ausstellenden Mitgliedstaat wird mitgeteilt, dass die Ausschreibung in Kürze ausläuft. Wenn die ausstellende Behörde die Ausschreibung nicht überprüft und ihre Gültigkeit verlängert, werden die Ausschreibungen automatisch gelöscht (Artikel 53 Absatz 7 SIS-Polizeiverordnung). Die ausstellende Justizbehörde sollte daher auf jeden Fall innerhalb von fünf Jahren nach Eingabe des EuHb in das SIS über seine Verlängerung entscheiden, sofern dies notwendig und verhältnismäßig ist. Die Mitgliedstaaten können auch einen kürzeren Überprüfungszeitraum festlegen (Artikel 53 Absatz 3 der SIS-Polizeiverordnung).

Ausschreibungen in Bezug auf EuHb sollten im SIS gelöscht werden, sobald die Person übergeben worden ist.

12.   VERFAHRENSRECHTE DER GESUCHTEN PERSON

Der EuHb-Rahmenbeschluss garantiert der gesuchten Person verschiedene Verfahrensrechte. Nach Artikel 11 des EuHb-Rahmenbeschlusses hat die gesuchte Person das Recht, von dem Europäischen Haftbefehl, seinem Inhalt und der Möglichkeit, der Übergabe zuzustimmen, unterrichtet zu werden, und sie hat Anspruch auf einen Rechtsbeistand und einen Dolmetscher. Diese Rechte müssen im Einklang mit dem nationalen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats gewährt werden. Auch andere Bestimmungen des EuHb-Rahmenbeschlusses enthalten Rechte der gesuchten Person, insbesondere Artikel 4a Absatz 2 (Recht auf Unterrichtung über ein Abwesenheitsurteil), Artikel 13 Absatz 2 (Rechtsbeistand bei der Entscheidung über die Zustimmung), die Artikel 14 und 19 (Anspruch auf rechtliches Gehör) sowie Artikel 23 Absatz 5 (Freilassung nach Ablauf der Frist für die Übergabe der Person).

Diese Rechte werden, wie in den Abschnitten 12.1 bis 12.9 erläutert, durch die besonderen Rechtsakte zu den Verfahrensrechten gestärkt.

12.1.   Recht auf Dolmetschleistung und Übersetzung

Das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzung nach der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren gilt auch für die Vollstreckung eines EuHb (224).

Nach Artikel 2 Absatz 7 der Richtlinie 2010/64/EU müssen die zuständigen Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats einer Person, die einem Verfahren zur Vollstreckung eines EuHb unterliegt und die Verfahrenssprache nicht spricht oder versteht, folgende Rechte einräumen:

a)

das Recht auf unverzügliche Bereitstellung von Dolmetschleistungen bei Ermittlungs- und Justizbehörden (einschließlich während polizeilicher Vernehmungen, sämtlicher Gerichtsverhandlungen sowie aller erforderlicher Zwischenverhandlungen);

b)

das Recht auf Dolmetschleistungen für die Verständigung zwischen verdächtigen oder beschuldigten Personen und ihrem Rechtsbeistand in unmittelbarem Zusammenhang mit jedweden Vernehmungen und Verhandlungen während des Verfahrens oder bei der Einlegung von Rechtsmitteln oder anderen verfahrensrechtlichen Anträgen;

c)

das Recht, eine Entscheidung, dass keine Dolmetschleistungen benötigt werden, anzufechten, sowie die Möglichkeit, zu beanstanden, dass die Qualität der bereitgestellten Dolmetschleistungen für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens unzureichend ist.

Nach Artikel 3 Absatz 6 der Richtlinie 2010/64/EU müssen die zuständigen Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats einer Person, die einem Verfahren zur Vollstreckung eines EuHb unterliegt und die Sprache des EuHb nicht versteht, eine schriftliche Übersetzung dieses Dokuments zur Verfügung stellen. Ausnahmsweise kann eine mündliche Übersetzung oder eine mündliche Zusammenfassung unter der Bedingung zur Verfügung gestellt werden, dass eine solche mündliche Übersetzung oder mündliche Zusammenfassung einem fairen Verfahren nicht entgegensteht.

Die Dolmetschleistungen und Übersetzungen müssen eine für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens ausreichende Qualität aufweisen, insbesondere indem sichergestellt wird, dass beschuldigte, angeschuldigte oder angeklagte Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird, und imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten unabhängig vom Verfahrensausgang für die Dolmetsch- und Übersetzungskosten aufkommen müssen.

12.2.   Recht auf Information

Nach Artikel 5 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (225) müssen Personen, die zum Zwecke der Vollstreckung eines EuHb festgenommen werden, unverzüglich eine angemessene Erklärung der Rechte erhalten, die Informationen über ihre Rechte gemäß dem jeweiligen Recht, mit dem der EuHb-Rahmenbeschluss im Vollstreckungsmitgliedstaat umgesetzt wird, enthalten. Ein Musterbeispiel einer Erklärung der Rechte in einfacher und verständlicher Sprache ist in Anhang II der Richtlinie 2012/13/EU enthalten (und in Anhang IX dieses Handbuchs wiedergegeben).

Jede Belehrung oder Unterrichtung ist nach dem Verfahren des betreffenden Mitgliedstaats für Aufzeichnungen schriftlich festzuhalten. Beschuldigte, angeschuldigte oder angeklagte Personen müssen das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten.

In der Rechtssache C-649/19, IR (226), hat der Gerichtshof festgestellt, dass andere Rechte nach der Richtlinie 2012/13/EU, die sich auf Unterrichtung bei der Festnahme beziehen (insbesondere die Artikel 4, 6 und 7), nicht für eine Person gelten, die vor ihrer Übergabe aufgrund eines zum Zwecke der Strafverfolgung erlassenen EuHb festgenommen wurde.

Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass eine Person, sobald sie den Behörden des Mitgliedstaats, der den EuHb ausgestellt hat, übergeben wird, als „beschuldigte Person“ im Sinne der Richtlinie 2012/13/EU gilt und sämtliche mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte genießt. Entsprechend den Zielen der Richtlinie 2012/13/EU kann sie somit ihre Verteidigung vorbereiten.

In Bezug auf den Zeitraum vor der Übergabe hat der Gerichtshof festgestellt, dass der EuHb nach Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe d und e des EuHb-Rahmenbeschlusses bereits Angaben enthalten muss, die im Wesentlichen den in Artikel 6 der Richtlinie 2012/13/EU genannten entsprechen. Darüber hinaus verlangt das Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz nicht, dass die Person, gegen die ein EuHb zum Zwecke der Strafverfolgung ausgestellt wurde, vor ihrer Übergabe über die im Ausstellungsmitgliedstaat verfügbaren Rechtsbehelfe gegen diese Entscheidung unterrichtet wird.

In der Rechtssache C-105/21, Strafverfahren gegen IR (227), hat der Gerichtshof nämlich klargestellt, dass die ausstellende Justizbehörde in Anbetracht der Artikel 6 und 47 der Charta, des Rechts auf Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts sowie der Grundsätze der Gleichheit und des gegenseitigen Vertrauens nicht verpflichtet ist, der gesuchten Person die nationale Entscheidung über die Festnahme dieser Person und Informationen über die gegen diese Entscheidung möglichen Rechtsbehelfe zu übermitteln, solange sich diese Person noch im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält. Das Ziel, das Übergabeverfahren zu beschleunigen und zu vereinfachen, würde nämlich gefährdet, wenn die ausstellende Justizbehörde verpflichtet wäre, der betroffenen Person vor ihrer Übergabe die nationale Entscheidung über ihre Festnahme und Informationen über die gegen diese Entscheidung möglichen Rechtsbehelfe zu übermitteln.

12.3.   Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand

Das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gilt für Personen, gegen die ein EuHb vorliegt, gemäß der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (228).

Personen, gegen die ein EuHb vorliegt, haben nach ihrer Festnahme aufgrund eines EuHb das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Vollstreckungsmitgliedstaat (Artikel 10 Absätze 1, 2 und 3 der Richtlinie 2013/48/EU). Verdächtige oder beschuldigte Personen erhalten ab dem zuerst eintretenden der folgenden Zeitpunkte Zugang zu einem Rechtsbeistand (229):

a)

vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden;

b)

ab der Durchführung von Ermittlungs- oder anderen Beweiserhebungshandlungen durch Ermittlungs- oder andere zuständige Behörden gemäß Absatz 3 Buchstabe c;

c)

unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit;

d)

wenn sie vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht geladen wurden, rechtzeitig bevor sie vor diesem Gericht erscheinen.

In der Rechtssache C-659/18, VW (230), hat der Gerichtshof entschieden, dass die Inanspruchnahme des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in der vorgerichtlichen Phase nicht allein wegen des Nichterscheinens des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person auf eine Ladung vor einen Untersuchungsrichter ausgesetzt werden kann, bis der nationale Haftbefehl gegen den Betroffenen vollzogen ist.

Das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Vollstreckungsmitgliedstaat beinhaltet folgende Rechte der gesuchten Person:

a)

das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, das in zeitlicher und verfahrensrechtlicher Hinsicht so zu gewähren ist, dass gesuchte Personen ihre Rechte wirksam und in jedem Fall unverzüglich ab dem Entzug der Freiheit ausüben können;

b)

das Recht, mit einem Rechtsbeistand, der sie vertritt, zusammenzutreffen und mit ihm zu kommunizieren;

c)

das Recht, dass ihr Rechtsbeistand bei der Vernehmung durch die vollstreckende Justizbehörde zugegen ist und gemäß den Verfahren des nationalen Rechts daran teilnimmt.

Zudem haben gesuchte Personen das Recht, einen Rechtsbeistand im Ausstellungsmitgliedstaat zu benennen (Artikel 10 Absätze 4, 5 und 6 der Richtlinie 2013/48/EU). Die Rolle dieses Rechtsbeistands besteht darin, den Rechtsbeistand im Vollstreckungsmitgliedstaat zu unterstützen, indem er ihn mit Informationen versorgt und berät, damit die gesuchte Person ihre Rechte nach dem EuHb-Rahmenbeschluss wirksam ausüben kann.

12.4.   Recht auf Benachrichtigung eines Dritten von dem Freiheitsentzug

Personen, gegen die ein EuHb vorliegt, haben ab dem Zeitpunkt ihrer Festnahme im Vollstreckungsmitgliedstaat das Recht, mindestens eine von ihnen benannte Person, beispielsweise einen Angehörigen oder einen Arbeitgeber, unverzüglich von dem Freiheitsentzug benachrichtigen zu lassen (231).

12.5.   Recht auf Kommunikation mit Dritten

Personen, gegen die ein EuHb vorliegt, haben ab dem Zeitpunkt ihrer Festnahme im Vollstreckungsmitgliedstaat das Recht, unverzüglich mit mindestens einem von ihnen benannten Dritten, beispielsweise einem Angehörigen, zu kommunizieren (232).

12.6.   Recht auf Kommunikation mit Konsularbehörden

Personen, gegen die ein EuHb vorliegt und die nicht Staatsangehörige des Vollstreckungsmitgliedstaats sind, haben ab dem Zeitpunkt ihrer Festnahme im Vollstreckungsmitgliedstaat das Recht, die Konsularbehörden des Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, unverzüglich von dem Freiheitsentzug informieren zu lassen und mit ihnen zu kommunizieren (233).

Sie haben zudem das Recht auf Besuch durch ihre Konsularbehörden, das Recht, sich mit ihnen zu unterhalten und mit ihnen zu korrespondieren, sowie das Recht, dass ihre Konsularbehörden für eine rechtliche Vertretung sorgen.

12.7.   Besondere Rechte von Kindern

Für Kinder, gegen die ein EuHb vorliegt, gelten ab dem Zeitpunkt ihrer Festnahme aufgrund eines EuHb im Vollstreckungsmitgliedstaat besondere Verfahrensgarantien (234). Sie betreffen insbesondere:

a)

das Auskunftsrecht;

b)

das Recht auf Information des Trägers der elterlichen Verantwortung;

c)

das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand;

d)

das Recht auf eine medizinische Untersuchung;

e)

das Recht auf besondere Behandlung bei Freiheitsentzug;

f)

das Recht auf Schutz der Privatsphäre;

g)

das Recht auf Begleitung durch den Träger der elterlichen Verantwortung während des Verfahrens.

12.8.   Anspruch auf Prozesskostenhilfe

Personen, gegen die ein EuHb vorliegt, haben nach der Richtlinie 2016/1919/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines EuHb (235) das Recht auf Prozesskostenhilfe.

Personen, gegen die ein EuHb vorliegt, haben im Vollstreckungsmitgliedstaat ab dem Zeitpunkt ihrer Festnahme aufgrund eines EuHb bis zu ihrer Übergabe oder bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung, sie nicht zu übergeben, rechtskräftig geworden ist, das Recht auf Prozesskostenhilfe (Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 2016/1919/EU).

Zudem haben gesuchte Personen, die nach Artikel 10 Absätze 4 und 5 der Richtlinie 2013/48/EU ihr Recht auf Benennung eines Rechtsbeistands im Ausstellungsmitgliedstaat zur Unterstützung des Rechtsbeistands im Vollstreckungsmitgliedstaat wahrnehmen, insoweit Anspruch auf Prozesskostenhilfe im Ausstellungsmitgliedstaat, als Prozesskostenhilfe erforderlich ist, um den wirksamen Zugang zu den Gerichten zu gewährleisten (Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie 2016/1919/EU).

In beiden Fällen können die Mitgliedstaaten die im sinngemäß für Prozesskostenhilfe in EuHb-Verfahren geltenden Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie 2016/1919/EU vorgesehenen Kriterien für die Bedürftigkeitsprüfung anwenden (Artikel 5 Absatz 3 derselben Richtlinie). Bei einer solchen Bedürftigkeitsprüfung ist demnach sämtlichen relevanten und objektiven Kriterien Rechnung zu tragen, zu denen beispielsweise Einkommen, Vermögen und familiäre Verhältnisse der betroffenen Person, die Kosten der Unterstützung durch einen Rechtsanwalt und der Lebensstandard in diesem Mitgliedstaat gehören, um festzustellen, ob eine gesuchte Person gemäß den in diesem Mitgliedstaat geltenden Kriterien nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung der Unterstützung durch einen Rechtsanwalt verfügt.

12.9.   Recht auf Unschuldsvermutung und Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung

In der Richtlinie 2016/343/EU über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (236) wird auf die in den Artikeln 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte hingewiesen und festgelegt, dass diese Rechte in allen Abschnitten des Strafverfahrens gelten, vom Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt wird, bis zur endgültigen Feststellung gelten. Artikel 4 verbietet öffentliche Bezugnahmen auf die Schuld von Verdächtigen oder beschuldigten Personen. Artikel 6 stellt sicher, dass die Beweislast bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Zu den Verteidigungsrechten gehört das Recht, die Aussage zu verweigern und sich nicht selbst belasten zu müssen (Artikel 7).

Das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung gilt nicht absolut. Unter bestimmten Voraussetzungen wie der rechtzeitigen Unterrichtung, der rechtlichen Vertretung durch einen bevollmächtigten Rechtsanwalt und der Möglichkeit, eine Entscheidung anzufechten, kann die Strafverfolgung ohne Anwesenheit des Verdächtigen erfolgen (Artikel 8). Im Falle einer Verletzung der in der Richtlinie niedergelegten Rechte muss jedoch das Recht auf eine neue Verhandlung oder einen alternativen Rechtsbehelf bestehen (Artikel 9 und 10).

In der Rechtssache C-416/20 PPU, TR (237), hat der Gerichtshof das Verhältnis zwischen der Richtlinie 2016/343/EU und dem EuHb-Rahmenbeschuss im Zusammenhang mit Abwesenheitsverfahren weiter präzisiert (siehe Abschnitt 5.6).


(1)  Ratsdokument 8216/2/08 REV 2 COPEN 70 EJN 26 EUROJUST 31.

(2)  Ratsdokument 17195/1/10 REV 1 COPEN 275 EJN 72 EUROJUST 139.

(3)  Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen.

(4)   ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1.

(5)  Bekanntmachung der Kommission vom 28. September 2017, Handbuch mit Hinweisen zur Ausstellung und Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, C(2017) 6389 final (ABl. C 335 vom 6.10.2017, S. 1).

(6)  https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-13684-2020-INIT/de/pdf

(7)  https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2020/642839/EPRS_STU(2020)642839_EN.pdf

(8)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=COM:2020:270:FIN

(9)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 20. Januar 2021 über die Umsetzung des Europäischen Haftbefehls und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0006_DE.pdf.

(10)   ABl. C 78 vom 30.3.1995, S. 2.

(11)   ABl. C 313 vom 23.10.1996, S. 12.

(12)   ABl. L 239 vom 22.9.2000, S. 19.

(13)  Urteil des Gerichtshofs vom 10. November 2016, Poltorak, C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858; Urteil des Gerichtshofs vom 10. November 2016 Kovalkovas, C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:861.

(14)  Als letzter Mitgliedstaat wurde im Juli 2023 Zypern angeschlossen.

(15)  Verordnung (EU) 2018/1862 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. November 2018 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems (SIS) im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, zur Änderung und Aufhebung des Beschlusses 2007/533/JI des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1986/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und des Beschlusses 2010/261/EU der Kommission (ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56).

(16)  Durchführungsbeschluss der Kommission vom 18. November 2021 zur Festlegung detaillierter Bestimmungen für die Aufgaben der SIRENE-Büros und den Austausch von Zusatzinformationen zu Ausschreibungen im Schengener Informationssystem im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen („SIRENE-Handbuch – Polizei“) (bekannt gegeben unter C(2021) 7901).

(17)  Durchführungsbeschluss der Kommission vom 15. Januar 2021 über die notwendigen technischen Vorschriften für die Eingabe, Aktualisierung, Löschung und Abfrage der Daten im Schengener Informationssystem (SIS) und andere Durchführungsmaßnahmen im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (bekannt gegeben unter C(2021) 92).

(18)  Empfehlung der Kommission vom 31. März 2023 zur Erstellung eines Leitfadens für die mit der Wahrnehmung von Aufgaben im Zusammenhang mit dem Schengener Informationssystem betrauten Behörden der Mitgliedstaaten und SIRENE-Büros („SIS-Handbuch“) (C(2023) 2152).

(19)  Urteil des Gerichtshofs vom 11. Januar 2017, Grundza, C-289/15, ECLI:EU:C:2017:4, Rn. 38.

(20)  Urteil des Gerichtshofs vom 14. Juli 2022, Procureur général près la cour d’appel d’Angers, C-168/21, ECLI:EU:C:2022:558.

(21)  Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist (ABl. L 81 vom 27.3.2009, S. 24).

(22)  Beschluss des Gerichtshofs vom 25. September 2015, A., C-463/15 PPU, ECLI:EU:C:2015:634.

(23)   ABl. L 283 vom 31.10.2017, S. 1.

(24)  Urteil des Gerichtshofs vom 10. November 2016, Poltorak, C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858.

(25)  Urteil des Gerichtshofs vom 10. November 2016, Kovalkovas, C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:861.

(26)  Eine Zusammenstellung der zuständigen ausstellenden Justizbehörden in den Mitgliedstaaten findet sich im Dokument mit dem aktualisierten Fragebogen und der Zusammenstellung über die Anforderungen an die ausstellenden und vollstreckenden Justizbehörden in EuHb-Verfahren nach der Rechtsprechung des EuGH, 24. November 2021, 5607/3/21 REV 3, https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-5607-2021-REV-3/en/pdf.

(27)  Urteil des Gerichtshofs vom 27. Mai 2019, PF, C-509/18, ECLI:EU:C:2019:457.

(28)  Urteil des Gerichtshofs vom 27. Mai 2019, OG und PI, C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456.

(29)  Urteil des Gerichtshofs vom 9. Oktober 2019, NJ, C-489/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:849.

(30)  Urteil des Gerichtshofs vom 12. Dezember 2019, JR und YC, C-556/198 und C-626/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1077.

(31)  Beschluss des Gerichtshofs vom 21. Januar 2020, MN, C-813/19 PPU, ECLI:EU:C:2020:31.

(32)  Urteil des Gerichtshofs vom 13. Januar 2021, MM, C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4.

(33)  Urteil des Gerichtshofs vom 10. März 2021, PI, C-648/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:187.

(34)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, L und P, C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033.

(35)  Urteil des Gerichtshofs vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57.

(36)  Urteil des Gerichtshofs vom 24. November 2020, AZ, C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953.

(37)  Urteil des Gerichtshofs vom 8. Dezember 2022, CJ, C-492/22 PPU, ECLI:EU:C:2022:964.

(38)  Urteil des Gerichtshofs vom 28. April 2022, C und CD, C-804/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:307.

(39)   ABl. L 327 vom 5.12.2008, S. 27.

(40)  Urteil des Gerichtshofs vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi, C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385.

(41)  Urteil des Gerichtshofs vom 10. November 2016, Özçelik, C-453/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:860.

(42)  Urteil des Gerichtshofs vom 13. Januar 2021, MM, C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4.

(43)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. März 2021, JR, C-488/19, ECLI:EU:C:2021:206.

(44)  Urteil des Gerichtshofs vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi, C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385.

(45)  Urteil des Gerichtshofs vom 27. Mai 2019, OG und PI, C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456.

(46)  Urteil des Gerichtshofs vom 27. Mai 2019, PF, C-509/18, ECLI:EU:C:2019:457.

(47)  Urteil des Gerichtshofs vom 12. Dezember 2019, JR und YC, C-556/198 und C-626/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1077.

(48)  Urteil des Gerichtshofs vom 12. Dezember 2019, XD, C-625/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1078.

(49)  Urteil des Gerichtshofs vom 12. Dezember 2019, XD, C-625/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1078.

(50)  Urteil des Gerichtshofs vom 13. Januar 2021, MM, C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4.

(51)  Urteil des Gerichtshofs vom 10. März 2021, PI, C-648/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:187. Dies wurde vom Gerichtshof bestätigt in seinem Beschluss des Gerichtshofs vom 22. Juni 2021, VA, C-206/20, ECLI:EU:C:2021:509.

(52)  Urteil des Gerichtshofs vom 12. Dezember 2019, ZB, C-627/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1079.

(53)  Urteil des Gerichtshofs vom 27. Mai 2019, OG und PI, C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456.

(54)  Urteil des Gerichtshofs vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld, C-303/05, ECLI:EU:C:2007:261.

(55)  Urteil des Gerichtshofs vom 27. Mai 2019, OG und PI, C-508/18 und C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456.

(56)  Urteil des Gerichtshofs vom 13. Januar 2021, MM, C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4.

(57)  Urteil des Gerichtshofs vom 12. Dezember 2019, ZB, C-627/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1079.

(58)   ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56.

(59)   ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56.

(60)   ABl. L 130 vom 1.5.2014, S. 1. Siehe auch den Bericht über die Fallarbeit von Eurojust im Bereich der Europäischen Ermittlungsanordnung, 10. November 2020, 2020/00282, https://www.eurojust.europa.eu/report-eurojusts-casework-field-european-investigation-order-0.

(61)  Übereinkommen gemäß Artikel 34 des EUV – vom Rat erstellt – über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. C 197 vom 12.7.2000, S. 3).

(62)  Urteil des Gerichtshofs vom 8. Dezember 2020, A u. a., C-584/19, ECLI:EU:C:2020:1002.

(63)   ABl. L 327 vom 5.12.2008, S. 27.

(64)   ABl. L 294 vom 11.11.2009, S. 20.

(65)  Aufgeführt auf der EJN-Website https://www.ejn-crimjust.europa.eu; bitte besuchen Sie die Justiz-Bibliothek → Legal Framework → EU Judicial Cooperation → Supervision Measures → 2009/829/JI: Rahmenbeschluss 2009/829/JI des Rates vom 23. Oktober 2009 über Überwachungsmaßnahmen → Supervision Measures-Notifications.

(66)   ABl. L 337 vom 16.12.2008, S. 102.

(67)  Dieser Rahmenbeschluss wurde ausgelegt im Urteil des Gerichtshofs vom 26. März 2020, A.P., C-2/19, ECLI:EU:C:2020:237.

(68)   ABl. L 76 vom 22.3.2005, S. 16.

(69)  Urteil des Gerichtshofs vom 14. November 2013, Baláž, C-60/12, ECLI:EU:2013:733.

(70)  2016_Jurisdiction-Guidelines_EN.pdf (europa.eu).

(71)  COM/2020/712 final.

(72)  Urteil des Gerichtshofs vom 1. Dezember 2008, Leymann und Pustovarov, C-388/08 PPU, ECLI:EU:C:2008:669.

(73)  Urteil des Gerichtshofs vom 30. Mai 2013, Jeremy F., C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358.

(74)  Urteil des Gerichtshofs vom 24. September 2020, XC, C-195/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:749.

(75)  Urteil des Gerichtshofs vom 24. November 2020, AZ, C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953.

(76)  Urteil des Gerichtshofs vom 26. Oktober 2021, HM und TZ, verbundene Rechtssachen C-428/21 PPU und C-429/21 PPU, ECLI:EU:C:2021:876.

(77)   ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56.

(78)  Urteil des Gerichtshofs vom 16. Dezember 2021, AB u. a., C-203/20, ECLI:EU:C:2021:1016.

(79)  Dies steht im Einklang mit dem Rahmenbeschluss 2009/948/JI des Rates vom 30. November 2009 zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren, in dem das Verfahren festgelegt ist, nach dem die zuständigen nationalen Behörden einander kontaktieren sollten, wenn sie hinreichende Gründe zu der Annahme haben, dass in einem anderen Mitgliedstaat parallele Verfahren geführt werden.

(80)  Durchführungsbeschluss C(2021) 7901 der Kommission.

(81)  Eine allgemeine Einführung in die Aufgaben von Eurojust und EJN bietet das Dokument „Internationale Zusammenarbeit in Strafsachen – Hilfestellung für die Praxis – Europäisches Justizielles Netz und Eurojust – Können wir Ihnen helfen?“. Dieses kann sowohl auf der Website des EJN (https://www.ejn-crimjust.europa.eu) als auch auf der Website von Eurojust (http://www.eurojust.europa.eu) abgerufen werden.

(82)  Urteil des Gerichtshofs vom 23. Januar 2018, Dawid Piotrowski, C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27.

(83)  Durchführungsbeschluss der Kommission vom 15. Januar 2021 über die notwendigen technischen Vorschriften für die Eingabe, Aktualisierung, Löschung und Abfrage der Daten im Schengener Informationssystem (SIS) und andere Durchführungsmaßnahmen im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, C(2021) 92.

(84)   ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56.

(85)   ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56.

(86)   ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56. Siehe auch Artikel 31 des Durchführungsbeschlusses C(2021) 7901 der Kommission (SIRENE-Handbuch – Polizei).

(87)  Durchführungsbeschluss C(2021) 92 der Kommission

(88)   ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56.

(89)  http://www.ejn-crimjust.europa.eu. Bitte wählen Sie dort den Europäischen Haftbefehl und den betreffenden Mitgliedstaat aus, um weitere Informationen aufzurufen.

(90)   ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56.

(91)   ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56.

(92)  http://www.ejn-crimjust.europa.eu. Bitte wählen Sie den Europäischen Haftbefehl und den betreffenden Mitgliedstaat aus.

(93)   ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56.

(94)  Bislang haben Estland, Österreich und Rumänien eine entsprechende Mitteilung gemäß Artikel 27 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses gemacht.

(95)  Urteil des Gerichtshofs vom 30. Mai 2013, Jeremy F., C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358.

(96)  Urteil des Gerichtshofs vom 16. Juli 2015, Lanigan, C-237/15 PPU, ECLI:EU:C:2015:474.

(97)  Siehe auch das von Eurojust entwickelte Muster für nationale Behörden in Bezug auf diese Mitteilungspflicht. Die Vorlage ist in 22 Sprachen verfügbar unter https://www.eurojust.europa.eu/electronic-forms-article-177-eaw-framework-decision.

(98)  Urteil des Gerichtshofs vom 25. Januar 2017, Vilkas, C-640/15, ECLI:EU:C:2017:39.

(99)  Urteil des Gerichtshofs vom 28. April 2022, C und CD, C-804/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:307.

(100)  Urteil des Gerichtshofs vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57.

(101)  Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juli 2018, ML, C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589.

(102)  https://www.ejn-crimjust.europa.eu; bitte besuchen Sie die Justiz-Bibliothek → Legal Framework → EU Judicial Cooperation → European Arrest Warrant → 2002/584/JI: Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten → EAW-Notifications. Zu den Mitgliedstaaten, die eine Mitteilung nach Artikel 7 gemacht haben, gehören: BE, BG, CZ, EE, IE, GR, ES, FR, IT, CY, LV, HU, MT, AT, PL, PT, RO, SI, SK, SE und FI.

(103)  COM(2021) 759 final.

(104)  COM(2021) 760 final.

(105)  Eine allgemeine Einführung in die Aufgaben von Eurojust und EJN bietet das Dokument „Internationale Zusammenarbeit in Strafsachen – Hilfestellung für die Praxis – Europäisches Justizielles Netz und Eurojust – Können wir Ihnen helfen?“ Zur Bewertung der Zuweisung von Fällen an das EJN und Eurojust siehe den gemeinsamen Bericht von Eurojust und dem EJN unter dem Titel „Assessment of allocation of cases to Eurojust and to the European Judicial Network“ (Bewertung der Zuweisung von Fällen an Eurojust und an das Europäische Justizielle Netz). Beide können sowohl auf der Website des EJN (https://www.ejn-crimjust.europa.eu) als auch auf der Website von Eurojust (http://www.eurojust.europa.eu) abgerufen werden.

(106)  Siehe Artikel 27, 28 und 55 der Verordnung (EU) 2018/1862 sowie Kapitel 7 des Durchführungsbeschlusses C(2021) 7901 der Kommission („SIRENE-Handbuch – Polizei“).

(107)  Durchführungsbeschluss C(2021) 7901 der Kommission.

(108)  Urteil des Gerichtshofs vom 28. Juli 2016, JZ, C-294/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:610.

(109)  Urteil des Gerichtshofs vom 12. Februar 2019, TC, C-492/18 PPU, ECLI:EU:C:2019:108.

(110)  Urteil des Gerichtshofs vom 16. Juli 2015, Lanigan, C-237/15 PPU, ECLI:EU:C:2015:474.

(111)  Urteil des Gerichtshofs vom 12. Februar 2019, TC, C-492/18 PPU, ECLI:EU:C:2019:108.

(112)  Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juli 2018, AY, C-268/17, ECLI:EU:C:2018:602.

(113)  Urteil des Gerichtshofs vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57.

(114)  Urteil des Gerichtshofs vom 24. November 2020, AZ, C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953.

(115)  Urteil des Gerichtshofs vom 6. Dezember 2018, IK, C-551/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:991.

(116)  Urteil des Gerichtshofs vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi, C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385.

(117)  Urteil des Gerichtshofs vom 3. März 2020, X, C-717/18, ECLI:EU:C:2020:142.

(118)  Urteil des Gerichtshofs vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg, C-123/08, ECLI:EU:C:2009:616; Urteil des Gerichtshofs vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198.

(119)  Urteil des Gerichtshofs vom 16. November 2010, Mantello, C-261/09, ECLI:EU:C:2010:683.

(120)  Urteil des Gerichtshofs vom 27. Mai 2014, Spasic, C-129/14 PPU, ECLI:EU:C:2014:586.

(121)  Urteil des Gerichtshofs vom 16. November 2010, Mantello, C-261/09, ECLI:EU:C:2010:683.

(122)  Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juli 2018, AY, C-268/17, ECLI:EU:C:2018:602.

(123)  Urteil des Gerichtshofs vom 12. Mai 2021, WS, C-505/19, ECLI:EU:C:2021:376.

(124)  Urteil des Gerichtshofs vom 16. Dezember 2021, AB u. a., C-203/20, ECLI:EU:C:2021:1016.

(125)  Urteil des Gerichtshofs vom 23. Januar 2018, Piotrowski, C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27.

(126)  Urteil des Gerichtshofs vom 29. April 2021, X, C-665/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:339.

(127)   ABl. L 283 vom 31.10.2017, S. 1.

(128)  Siehe Artikel 22 der Verordnung über die EUStA.

(129)  Urteil des Gerichtshofs vom 11. Januar 2017, Grundza, C-289/15, ECLI:EU:C:2017:4.

(130)  Urteil des Gerichtshofs vom 14. Juli 2022, Procureur général près la cour d’appel d’Angers, C-168/21, ECLI:EU:C:2022:558.

(131)  Urteil des Gerichtshofs vom 11. Januar 2017, Grundza, C-289/15, ECLI:EU:C:2017:4.

(132)  Urteil des Gerichtshofs vom 14. Juli 2022, Procureur général près la cour d’appel d’Angers, C-168/21, ECLI:EU:C:2022:558.

(133)  Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juli 2018, AY, C-268/17, ECLI:EU:C:2018:602.

(134)  Urteil des Gerichtshofs vom 29. April 2021, X, C-665/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:339.

(135)  Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 (SEV Nr. 112) und dazugehöriges Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 18. Dezember 1997 (SEV Nr. 167) sowie Protokoll zur Änderung des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 22. November 2017 (SEV Nr. 222).

(136)  Urteil des Gerichtshofs vom 13. Dezember 2018, Sut, C-514/17, ECLI:EU:C:2018:1016.

(137)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Juli 2008, Kozłowski, C-66/08, ECLI:EU:C:2008:437.

(138)  Urteil des Gerichtshofs vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg, C-123/08, ECLI:EU:C:2009:616.

(139)  Urteil des Gerichtshofs vom 5. September 2012, Lopes da Silva Jorge, C-42/11, ECLI:EU:C:2012:517.

(140)  Urteil des Gerichtshofs vom 6. Juni 2023, O.G., C-700/21, ECLI:EU:C:2023:444, Rn. 58 und 68.

(141)  Urteil des Gerichtshofs vom 29. Juni 2017, Popławski I, C-579/15, ECLI:EU:C:2017:503.

(142)  Urteil des Gerichtshofs vom 13. Dezember 2018, Sut, C-514/17, ECLI:EU:C:2018:1016.

(143)  Urteil des Gerichtshofs vom 29. Juni 2017, Popławski I, C-579/15, ECLI:EU:C:2017:503.

(144)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Juli 2008, Kozłowski, C-66/08, ECLI:EU:C:2008:437; Urteil des Gerichtshofs vom 13. Dezember 2018, Sut, C-514/17, ECLI:EU:C:2018:1016.

(145)  Urteil des Gerichtshofs vom 5. September 2012, Lopes da Silva Jorge, C-42/11, ECLI:EU:C:2012:517.

(146)  Urteil des Gerichtshofs vom 29. Juni 2017, Popławski I, C-579/15, ECLI:EU:C:2017:503.

(147)  Urteil des Gerichtshofs vom 24. Juni 2019, Popławski II, C-573/17, ECLI:EU:C:2019:530.

(148)  Urteil des Gerichtshofs vom 24. Juni 2019, Popławski II, C-573/17, ECLI:EU:C:2019:530.

(149)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. März 2021, JR, C-488/19, ECLI:EU:C:2021:206.

(150)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, TR, C-416/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1042.

(151)  Urteil des Gerichtshofs vom 10. August 2017, Zdziaszek, C-271/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:629.

(152)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, TR, C-416/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1042. Siehe auch Urteil des Gerichtshofs vom 24. Mai 2016, Dworzeck, C-108/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:346.

(153)  Urteil des Gerichtshofs vom 26. Februar 2013, Melloni, C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107.

(154)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, TR, C-416/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1042.

(155)  Richtlinie 2016/343/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. L 65 vom 11.3.2016, S. 1).

(156)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, TR, C-416/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1042.

(157)  Urteil des Gerichtshofs vom 10. August 2017, Tupikas, C-270/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:628, Urteil des Gerichtshofs vom 10. August 2017, Zdziaszek, C-271/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:629, und Urteil des Gerichtshofs vom 24. Mai 2016, Dworzecki, C-108/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:346, und Urteil des Gerichtshofs vom 22. Dezember 2017, Ardic, C-571/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:1026.

(158)  Urteil des Gerichtshofs vom 10. August 2017, Tupikas, C-270/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:628.

(159)  Urteil des Gerichtshofs vom 10. August 2017, Zdziaszek, C-271/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:629.

(160)  Urteil des Gerichtshofs vom 22. Dezember 2017, Ardic, C-571/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:1026.

(161)  Urteil des Gerichtshofs vom 23. März 2023, Minister for Justice and Equality, verbundene Rechtssachen C-514/21 und C-515/21, ECLI:EU:C:2023:235.

(162)  Urteil des Gerichtshofs vom 24. Mai 2016‚ Dworzecki, C-108/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:346.

(163)  Urteil des Gerichtshofs vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198.

(164)  Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juli 2018, LM, C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586.

(165)  Urteil des Gerichtshofs vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57.

(166)  Urteil des Gerichtshofs vom 19. September 2018, RO, C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733.

(167)  Urteil des Gerichtshofs vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198.

(168)  Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juli 2018, ML, C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589.

(169)  Urteil des Gerichtshofs vom 15. Oktober 2019, Dumitru-Tudor Dorobantu, C-128/18, ECLI:EU:C:2018:589.

(170)  Urteil des Gerichtshofs vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198.

(171)  Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juli 2018, ML, C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589.

(172)  Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juli 2018, ML, C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589.

(173)  Urteil des Gerichtshofs vom 15. Oktober 2019, Dumitru-Tudor Dorobantu, C-128/18, ECLI:EU:C:2018:589.

(174)  Urteil des Gerichtshofs vom 15. Oktober 2019, Dumitru-Tudor Dorobantu, C-128/18, ECLI:EU:C:2018:589.

(175)  Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juli 2018, ML, C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589.

(176)  Urteil des Gerichtshofs vom 15. Oktober 2019, Dumitru-Tudor Dorobantu, C-128/18, ECLI:EU:C:2018:589.

(177)  Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juli 2018, ML, C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589.

(178)  Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juli 2018, LM, C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586.

(179)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, L und P, C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033.

(180)  Urteil des Gerichtshofs vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie, verbundene Rechtssachen C-562/21 PPU und C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100.

(181)  Beschluss des Gerichtshofs vom 12. Juli 2022, W O und J L gegen Minister for Justice and Equality, C-480/21, ECLI:EU:C:2022:592.

(182)  Urteil des Gerichtshofs vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57.

(183)  Urteil des Gerichtshofs vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57.

(184)  Urteil des Gerichtshofs vom 22. Februar 2022, X und Y gegen Openbaar Ministerie, C-562/21 PPU und C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100.

(185)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, L und P, C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033.

(186)  Urteil des Gerichtshofs vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57.

(187)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, L und P, C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033.

(188)  Urteil des Gerichtshofs vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie, verbundene Rechtssachen C-562/21 PPU und C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100, und Beschluss des Gerichtshofs vom 12. Juli 2022, W O und J L gegen Minister for Justice and Equality, C-480/21, ECLI:EU:C:2022:592.

(189)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, L und P, C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033.

(190)  Urteil des Gerichtshofs vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie, verbundene Rechtssachen C-562/21 PPU und C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100, und Beschluss des Gerichtshofs vom 12. Juli 2022, W O und J L gegen Minister for Justice and Equality, C-480/21, ECLI:EU:C:2022:592.

(191)  Urteil des Gerichtshofs vom 21. Oktober 2010, I. B., C-306/09, ECLI:EU:C:2010:626.

(192)  Urteil des Gerichtshofs vom 11. März 2020, SF, C-314/18, ECLI:EU:C:2020:191.

(193)  Urteil des Gerichtshofs vom 11. März 2020, SF, C-314/18, ECLI:EU:C:2020:191.

(194)  Urteil des Gerichtshofs vom 11. März 2020, Openbaar Ministerie gegen SF, C-314/18, ECLI:EU:C:2020: 191.

(195)  Urteil des Gerichtshofs vom 29. Juni 2017, Popławski, C-579/15, ECLI:EU:2017:503.

(196)  Urteil des Gerichtshofs vom 29. Juni 2017, Popławski, C-579/15, ECLI:EU:C:2017:503.

(197)  Urteil des Gerichtshofs vom 13. Dezember 2018, Sut, C-514/17, ECLI:EU:C:2018:1016.

(198)  Urteil des Gerichtshofs vom 18. April 2023, E.D.L., C-699/21, ECLI:EU:C:2023:295.

(199)  Urteil des Gerichtshofs vom 8. Dezember 2022, CJ, C-492/22 PPU, ECLI:EU:C:2022:964.

(200)  Urteil des Gerichtshofs vom 18. April 2023, E.D.L., C-699/21, ECLI:EU:C:2023:295.

(201)  Durchführungsbeschluss C(2021) 7901 der Kommission.

(202)  Urteil des Gerichtshofs vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57.

(203)   ABl. L 328 vom 15.12.2009, S. 42.

(204)  Siehe Verordnung 2018/1727 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 betreffend die Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust) (ABl. L 295 vom 21.11.2018, S. 138).

(205)  Siehe Artikel 4 Absatz 4 und 6 der Verordnung 2018/1727 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 betreffend die Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust) (ABl. L 295 vom 21.11.2018, S. 138).

(206)  Richtlinien für die Entscheidung „Welcher Mitgliedstaat soll die Strafverfolgung durchführen?“, Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust), https://www.eurojust.europa.eu/sites/default/files/assets/2016-jurisdiction-guidelines-de.pdf.

(207)  Urteil des Gerichtshofs vom 28. Juli 2016, JZ, C-294/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:610.

(208)  Urteil des Gerichtshofs vom 30. Mai 2013, Jeremy F., C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358.

(209)  Urteil des Gerichtshofs vom 24. September 2020, XC, C-195/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:749.

(210)  Urteil des Gerichtshofs vom 24. November 2020, AZ, C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953.

(211)  Urteil des Gerichtshofs vom 26. Oktober 2021, HM und TZ, verbundene Rechtssachen C-428/21 PPU und C-429/21 PPU, ECLI:EU:C:2021:876.

(212)   ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31.

(213)  Urteil des Gerichtshofs vom 5. Juli 2018, X, C-213/17, ECLI:EU:C:2018:538.

(214)  Artikel 28 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit mitzuteilen, dass in ihren Beziehungen zu anderen Mitgliedstaaten, die die gleiche Mitteilung gemacht haben, ihre Zustimmung zur weiteren Übergabe oder Auslieferung als erteilt gilt. Den der Kommission vorliegenden Informationen zufolge hat nur Rumänien von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.

(215)  Urteil des Gerichtshofs vom 28. Juni 2012, West, C-192/12, ECLI:EU:C:2012:404.

(216)  Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, ECLI:EU:C:2016:630.

(217)   ABl. C 223 vom 8.6.2022, S. 1.

(218)  Durchführungsbeschluss C(2021) 7901 der Kommission.

(219)  Siehe Artikel 12 Absatz 2 und Anhang I des Durchführungsbeschlusses C(2021) 92 final der Kommission.

(220)   ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56.

(221)  Durchführungsbeschluss C(2021) 7901 der Kommission.

(222)  Durchführungsbeschluss C(2021) 92 der Kommission.

(223)   ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56.

(224)   ABl. L 280 vom 26.10.2010, S. 1. Diese Richtlinie ist für Dänemark nicht bindend.

(225)    

(226)  Urteil des Gerichtshofs vom 28. Januar 2021, IR, C-649/19, ECLI:EU:C:2021:75.

(227)  Urteil des Gerichtshofs vom 30. Juni 2022, Strafverfahren gegen IR, C-105/21, ECLI:EU:C:2022:511.

(228)   ABl. L 294 vom 6.11.2013, S. 1. Dänemark und Irland sind nicht an diese Richtlinie gebunden.

(229)  Richtlinie 2013/48/EU, Artikel 3 Absatz 2.

(230)  Urteil des Gerichtshofs vom 12. März 2020, VW, C-659/18, ECLI:EU:C:2020:201.

(231)  Artikel 5 der Richtlinie 2013/48/EU.

(232)  Artikel 6 der Richtlinie 2013/48/EU.

(233)  Artikel 7 der Richtlinie 2013/48/EU.

(234)  Richtlinie 2016/800/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind (ABl. L 132 vom 21.5.2016, S. 1). Dänemark und Irland sind nicht an diese Richtlinie gebunden.

(235)   ABl. L 297 vom 4.11.2016, S. 1. Dänemark und Irland sind nicht an diese Richtlinie gebunden.

(236)   ABl. L 65 vom 11.3.2016, S. 1.

(237)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, TR, C-416/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1042.


ANHANG I

EUHB-RAHMENBESCHLUSS, INOFFIZIELLE KONSOLIDIERTE FASSUNG (1)

Deutsche Fassung des EuHb-Rahmenbeschlusses

 

DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION —

gestützt auf den Vertrag über die Europäische Union, insbesondere auf Artikel 31 Buchstaben a und b und Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe b,

auf Vorschlag der Europäischen Kommission (2),

nach Stellungnahme des Europäischen Parlaments (3),

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)

Nach den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999, insbesondere in Nummer 35 dieser Schlussfolgerungen, sollten im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander die förmlichen Verfahren zur Auslieferung von Personen, die sich nach einer rechtskräftigen Verurteilung der Justiz zu entziehen suchen, abgeschafft und die Verfahren zur Auslieferung von Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtig sind, beschleunigt werden.

(2)

Im Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen, das in Nummer 37 der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere vorgesehen war und das der Rat am 30. November 2000 angenommen hat (4), wird die Frage der gegenseitigen Vollstreckung von Haftbefehlen behandelt.

(3)

Die Gesamtheit der Mitgliedstaaten oder einige von ihnen sind Vertragsparteien verschiedener Übereinkünfte im Bereich der Auslieferung, unter anderem des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 und des Europäischen Übereinkommens vom 27. Januar 1977 zur Bekämpfung des Terrorismus. Die nordischen Staaten verfügen über Auslieferungsgesetze gleichen Inhalts.

(4)

Darüber hinaus sind die folgenden drei Übereinkünfte, die ganz oder teilweise Auslieferungsfragen betreffen, von den Mitgliedstaaten gebilligt worden und sind Teil des Besitzstandes der Union, nämlich: das Übereinkommen vom 19. Juni 1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (5) (mit Geltung für die Mitgliedstaaten, die Vertragsparteien des genannten Übereinkommens sind), das Übereinkommen vom 10. März 1995 über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (6) und das Übereinkommen vom 27. September 1996 über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (7).

(5)

Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.

(6)

Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

(7)

Da das Ziel der Ersetzung des auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beruhenden multilateralen Auslieferungssystems von den Mitgliedstaaten durch einseitiges Vorgehen nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen seines Umfangs und seiner Wirkungen besser auf Unionsebene zu erreichen ist, kann der Rat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nach Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union und Artikel 5 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Maßnahmen erlassen. Entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nach dem letztgenannten Artikel geht der vorliegende Rahmenbeschluss nicht über das für die Erreichung des genannten Ziels erforderliche Maß hinaus.

(8)

Entscheidungen zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls müssen ausreichender Kontrolle unterliegen; dies bedeutet, dass eine Justizbehörde des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, die Entscheidung zur Übergabe dieser Person treffen muss.

(9)

Die Rolle der Zentralbehörden bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls muss sich auf praktische und administrative Unterstützung beschränken.

(10)

Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 des genannten Vertrags mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.

(11)

Der Europäische Haftbefehl soll in den Beziehungen zwischen Mitgliedstaaten alle früheren Instrumente bezüglich der Auslieferung ersetzen, einschließlich der Bestimmungen von Titel III des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen, die die Auslieferung betreffen.

(12)

Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (8), insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. Keine Bestimmung des vorliegenden Rahmenbeschlusses darf in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann.

Der vorliegende Rahmenbeschluss belässt jedem Mitgliedstaat die Freiheit zur Anwendung seiner verfassungsmäßigen Regelung des Anspruchs auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren, der Vereinigungsfreiheit, der Pressefreiheit und der Freiheit der Meinungsäußerung in anderen Medien.

(13)

Niemand sollte in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.

(14)

Da alle Mitgliedstaaten das Übereinkommen des Europarates vom 28. Januar 1981 zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten ratifiziert haben, sind die bei der Durchführung des vorliegenden Rahmenbeschlusses zu verarbeitenden personenbezogenen Daten gemäß den Grundsätzen dieses Übereinkommens zu schützen —

HAT FOLGENDEN RAHMENBESCHLUSS ANGENOMMEN:

KAPITEL 1

ALLGEMEINE GRUNDSÄTZE

Artikel 1

Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung

(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.

Artikel 2

Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls

(1)   Ein Europäischer Haftbefehl kann bei Handlungen erlassen werden, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt.

(2)   Bei den nachstehenden Straftaten erfolgt, wenn sie im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind, eine Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit:

Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung,

Terrorismus,

Menschenhandel,

sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornografie,

illegaler Handel mit Drogen und psychotropen Stoffen,

illegaler Handel mit Waffen, Munition und Sprengstoffen,

Korruption,

Betrugsdelikte, einschließlich Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften im Sinne des Übereinkommens vom 26. Juli 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften,

Wäsche von Erträgen aus Straftaten,

Geldfälschung, einschließlich der Euro-Fälschung,

Cyberkriminalität,

Umweltkriminalität, einschließlich des illegalen Handels mit bedrohten Tierarten oder mit bedrohten Pflanzen- und Baumarten,

Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt,

vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung,

illegaler Handel mit Organen und menschlichem Gewebe,

Entführung, Freiheitsberaubung und Geiselnahme,

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit,

Diebstahl in organisierter Form oder schwerer Raub,

illegaler Handel mit Kulturgütern, einschließlich Antiquitäten und Kunstgegenstände,

Betrug,

Erpressung und Schutzgelderpressung,

Nachahmung und Produktpiraterie,

Fälschung von amtlichen Dokumenten und Handel damit,

Fälschung von Zahlungsmitteln,

illegaler Handel mit Hormonen und anderen Wachstumsförderern,

illegaler Handel mit nuklearen und radioaktiven Substanzen,

Handel mit gestohlenen Kraftfahrzeugen,

Vergewaltigung,

Brandstiftung,

Verbrechen, die in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fallen,

Flugzeug- und Schiffsentführung,

Sabotage.

(3)   Der Rat kann einstimmig und nach Anhörung des Europäischen Parlaments nach Maßgabe von Artikel 39 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) jederzeit beschließen, weitere Arten von Straftaten in die in Absatz 2 enthaltene Liste aufzunehmen. Der Rat prüft im Licht des Berichts, den die Kommission ihm nach Artikel 34 Absatz 3 unterbreitet, ob es sich empfiehlt, diese Liste auszuweiten oder zu ändern.

(4)   Bei anderen Straftaten als denen des Absatzes 2 kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die Handlungen, derentwegen der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, eine Straftat nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats darstellen, unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat.

Artikel 3

Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist

Die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats (nachstehend „vollstreckende Justizbehörde“ genannt) lehnt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ab,

(1)

wenn die Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsstaat unter eine Amnestie fällt und dieser Staat nach seinem eigenen Strafrecht für die Verfolgung der Straftat zuständig war;

(2)

wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;

(3)

wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats aufgrund ihres Alters für die Handlung, die diesem Haftbefehl zugrunde liegt, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.

Artikel 4

Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann

Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

(1)

wenn in einem der in Artikel 2 Absatz 4 genannten Fälle die Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt; in Steuer-, Zoll- und Währungsangelegenheiten kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls jedoch nicht aus dem Grund abgelehnt werden, dass das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine gleichartigen Steuern vorschreibt oder keine gleichartigen Steuer-, Zoll- und Währungsbestimmungen enthält wie das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats;

(2)

wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsmitgliedstaat wegen derselben Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, strafrechtlich verfolgt wird;

(3)

wenn die Justizbehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats beschlossen haben, wegen der Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, kein Verfahren einzuleiten bzw. das Verfahren einzustellen, oder wenn gegen die gesuchte Person in einem Mitgliedstaat aufgrund derselben Handlung eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, die einer weiteren Strafverfolgung entgegensteht;

(4)

wenn die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats verjährt ist und hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit bestand;

(5)

wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Strafe bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;

(6)

wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken;

(7)

wenn der Europäische Haftbefehl sich auf Straftaten erstreckt, die

a)

nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ganz oder zum Teil in dessen Hoheitsgebiet oder an einem diesem gleichgestellten Ort begangen worden sind oder

b)

außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden, und die Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats die Verfolgung von außerhalb seines Hoheitsgebiets begangenen Straftaten gleicher Art nicht zulassen.

Artikel 4a

Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich erschienen ist

(1)   Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls auch verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die Person im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats

a)

rechtzeitig

i)

entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte,

und

ii)

davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

oder

b)

in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist;

oder

c)

nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann,

i)

ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht,

oder

ii)

innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat;

oder

d)

die Entscheidung nicht persönlich zugestellt erhalten hat, aber

i)

sie unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten wird und ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden wird, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann,

und

ii)

von der Frist in Kenntnis gesetzt werden wird, über die sie gemäß dem einschlägigen Europäischen Haftbefehl verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen.

(2)   Wird der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung nach Maßgabe des Absatzes 1 Buchstabe d ausgestellt und ist die betroffene Person zuvor nicht offiziell davon in Kenntnis gesetzt worden, dass gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet wurde, so kann die Person, wenn sie von dem Inhalt des Europäischen Haftbefehls in Kenntnis gesetzt wird, beantragen, dass sie vor ihrer Übergabe eine Abschrift des Urteils erhält. Die Ausstellungsbehörde leitet der gesuchten Person die Abschrift des Urteils unverzüglich über die Vollstreckungsbehörde zu, sobald sie Kenntnis von dem Antrag erhalten hat. Der Antrag der gesuchten Person darf weder das Übergabeverfahren noch die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verzögern. Das Urteil wird der betroffenen Person ausschließlich informationshalber zur Verfügung gestellt; die Zurverfügungstellung gilt weder als förmliche Zustellung des Urteils noch wirkt sie sich auf Fristen aus, die für einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder für ein Berufungsverfahren gelten.

(3)   Wird eine Person nach Maßgabe des Absatzes 1 Buchstabe d übergeben und hat diese Person eine Wiederaufnahme des Verfahrens oder ein Berufungsverfahren beantragt, so wird die Haft der auf das entsprechende Verfahren wartenden Person bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss im Einklang mit dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaates entweder regelmäßig oder auf Antrag der betroffenen Person einer Überprüfung unterzogen. Eine solche Überprüfung umfasst insbesondere die Prüfung der Frage, ob die Haft aufgehoben oder ausgesetzt werden kann. Das Wiederaufnahmeverfahren oder Berufungsverfahren beginnt ohne unnötige Verzögerung nach der Übergabe.

Artikel 5

Vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährende Garantien

Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde kann nach dem Recht dieses Staates an eine der folgenden Bedingungen geknüpft werden:

(1)

[gestrichen]

(2)

Ist die Straftat, die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder einer lebenslangen freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bedroht, so kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls an die Bedingung geknüpft werden, dass die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats eine Überprüfung der verhängten Strafe – auf Antrag oder spätestens nach 20 Jahren – oder Gnadenakte zulässt, die zur Aussetzung der Vollstreckung der Strafe oder der Maßregel führen können und auf die die betreffende Person nach dem innerstaatlichen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsmitgliedstaats Anspruch hat.

(3)

Ist die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft, so kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die betreffende Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.

Artikel 6

Bestimmung der zuständigen Justizbehörden

(1)   Ausstellende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist.

(2)   Vollstreckende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats zuständig für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ist.

(3)   Jeder Mitgliedstaat unterrichtet das Generalsekretariat des Rates über die nach seinem Recht zuständige Justizbehörde.

Artikel 7

Beteiligung der zentralen Behörde

(1)   Jeder Mitgliedstaat kann eine oder, sofern es seine Rechtsordnung vorsieht, mehrere zentrale Behörden zur Unterstützung der zuständigen Justizbehörden benennen.

(2)   Ein Mitgliedstaat kann, wenn sich dies aufgrund des Aufbaus seines Justizsystems als erforderlich erweist, seine zentrale(n) Behörde(n) mit der administrativen Übermittlung und Entgegennahme der Europäischen Haftbefehle sowie des gesamten übrigen sie betreffenden amtlichen Schriftverkehrs betrauen.

Ein Mitgliedstaat, der von den in diesem Artikel vorgesehenen Möglichkeiten Gebrauch machen möchte, übermittelt dem Generalsekretariat des Rates die Angaben über die von ihm benannte(n) zentrale(n) Behörde(n). Diese Angaben sind für alle Behörden des Anordnungsstaats verbindlich.

Artikel 8

Inhalt und Form des Europäischen Haftbefehls

(1)   Der Europäische Haftbefehl enthält entsprechend dem im Anhang beigefügten Formblatt folgende Informationen:

a)

die Identität und die Staatsangehörigkeit der gesuchten Person;

b)

Name, Adresse, Telefon- und Telefaxnummer sowie E-Mail-Adresse der ausstellenden Justizbehörde;

c)

die Angabe, ob ein vollstreckbares Urteil, ein Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung nach den Artikeln 1 und 2 vorliegt;

d)

die Art und rechtliche Würdigung der Straftat, insbesondere in Bezug auf Artikel 2;

e)

die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatortes und der Art der Tatbeteiligung der gesuchten Person;

f)

im Fall eines rechtskräftigen Urteils die verhängte Strafe oder der für die betreffende Straftat im Ausstellungsmitgliedstaat gesetzlich vorgeschriebene Strafrahmen;

g)

soweit möglich, die anderen Folgen der Straftat.

(2)   Der Europäische Haftbefehl ist in die Amtssprache oder eine der Amtssprachen des Vollstreckungsstaats zu übersetzen. Jeder Mitgliedstaat kann zum Zeitpunkt der Annahme dieses Rahmenbeschlusses oder später in einer beim Generalsekretariat des Rates hinterlegten Erklärung angeben, dass er eine Übersetzung in eine oder mehrere weitere Amtssprachen der Organe der Europäischen Gemeinschaften akzeptiert.

KAPITEL 2

ÜBERGABEVERFAHREN

Artikel 9

Übermittlung eines Europäischen Haftbefehls

(1)   Ist der Aufenthaltsort der gesuchten Person bekannt, so kann die ausstellende Justizbehörde den Europäischen Haftbefehl direkt der vollstreckenden Justizbehörde übermitteln.

(2)   Die ausstellende Justizbehörde kann in allen Fällen beschließen, die gesuchte Person im Schengener Informationssystem (SIS) ausschreiben zu lassen.

(3)   Eine derartige Ausschreibung erfolgt gemäß Artikel 95 des Übereinkommens vom 19. Juni 1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen. Eine Ausschreibung im SIS steht einem Europäischen Haftbefehl, dem die in Artikel 8 Absatz 1 angegebenen Informationen beigefügt sind, gleich.

Während eines Übergangszeitraums, der so lange währt, bis das SIS in der Lage ist, alle in Artikel 8 genannten Informationen zu übermitteln, steht die Ausschreibung dem Europäischen Haftbefehl gleich, bis das Original bei der vollstreckenden Justizbehörde in der gebührenden Form eingegangen ist.

Artikel 10

Modalitäten der Übermittlung eines Europäischen Haftbefehls

(1)   Ist der ausstellenden Justizbehörde die zuständige vollstreckende Justizbehörde nicht bekannt, so stellt sie insbesondere mithilfe der Kontaktstellen des Europäischen Justiziellen Netzes (9) die erforderlichen Nachforschungen an, um diese Information vom Vollstreckungsmitgliedstaat zu erlangen.

(2)   Wenn die ausstellende Justizbehörde dies wünscht, kann die Übermittlung über das gesicherte Telekommunikationssystem des Europäischen Justiziellen Netzes erfolgen.

(3)   Kann nicht auf das SIS zurückgegriffen werden, so kann die ausstellende Justizbehörde für die Übermittlung des Europäischen Haftbefehls die Dienste von Interpol in Anspruch nehmen.

(4)   Die ausstellende Justizbehörde kann den Europäischen Haftbefehl durch jedes sichere Mittel, das die Erstellung einer schriftlichen Fassung unter Bedingungen ermöglicht, die dem Vollstreckungsmitgliedsstaat die Feststellung der Echtheit gestatten, übermitteln.

(5)   Alle Schwierigkeiten in Verbindung mit der Übermittlung oder der Echtheit der zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erforderlichen Unterlagen werden direkt zwischen den betreffenden Justizbehörden oder gegebenenfalls unter Einschaltung der Zentralbehörden der Mitgliedstaaten behoben.

(6)   Ist die Behörde, bei der ein Europäischer Haftbefehl eingeht, für dessen Bearbeitung nicht zuständig, so übermittelt sie den Europäischen Haftbefehl von Amtes wegen der zuständigen Behörde in ihrem Mitgliedstaat und setzt die ausstellende Justizbehörde von diesem Umstand in Kenntnis.

Artikel 11

Rechte der gesuchten Person

(1)   Wird eine gesuchte Person festgenommen, so unterrichtet die zuständige Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats entsprechend dessen innerstaatlichem Recht die betreffende Person von dem Europäischen Haftbefehl, von dessen Inhalt sowie davon, dass sie ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde zustimmen kann.

(2)   Eine gesuchte Person, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen wird, hat nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats Anspruch darauf, einen Rechtsbeistand und einen Dolmetscher hinzuzuziehen.

Artikel 12

Inhafthaltung der gesuchten Person

Im Fall der Festnahme einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls entscheidet die vollstreckende Justizbehörde, ob die gesuchte Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist. Eine vorläufige Haftentlassung nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ist jederzeit möglich, sofern die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaates die ihres Erachtens erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht der gesuchten Person trifft.

Artikel 13

Zustimmung zur Übergabe

(1)   Gibt die festgenommene Person an, dass sie ihrer Übergabe zustimmt, so werden diese Zustimmung und gegebenenfalls der ausdrückliche Verzicht auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität nach Artikel 27 Absatz 2 vor der vollstreckenden Justizbehörde nach dem innerstaatlichen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats erklärt.

(2)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, damit die Zustimmung und gegebenenfalls der Verzicht nach Absatz 1 unter Bedingungen entgegengenommen werden, die erkennen lassen, dass die Person sie freiwillig und in vollem Bewusstsein der sich daraus ergebenden Folgen bekundet hat. Zu diesem Zweck hat die gesuchte Person das Recht, einen Rechtsbeistand beizuziehen.

(3)   Die Zustimmung und gegebenenfalls der Verzicht nach Absatz 1 werden nach dem im innerstaatlichen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats vorgesehenen Verfahren zu Protokoll genommen.

(4)   Die Zustimmung ist grundsätzlich unwiderruflich. Jeder Mitgliedstaat kann vorsehen, dass die Zustimmung und gegebenenfalls der Verzicht nach den anwendbaren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts widerruflich sein können. In diesem Fall wird der Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt, zu dem die Zustimmung erklärt wurde, und dem Zeitpunkt, zu dem sie widerrufen wurde, bei der Berechnung der in Artikel 17 vorgesehenen Fristen nicht berücksichtigt. Ein Mitgliedstaat, der von dieser Möglichkeit Gebrauch machen will, teilt dies dem Generalsekretariat des Rates bei der Annahme dieses Rahmenbeschlusses mit und gibt die Modalitäten, nach denen die Zustimmung widerrufen werden kann, sowie jede Änderung dieser Modalitäten an.

Artikel 14

Vernehmung der gesuchten Person

Stimmt die festgenommene Person ihrer Übergabe nach Maßgabe des Artikels 13 nicht zu, hat sie das Recht, von der vollstreckenden Justizbehörde nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats vernommen zu werden.

Artikel 15

Entscheidung über die Übergabe

(1)   Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen.

(2)   Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen, insbesondere hinsichtlich der Artikel 3 bis 5 und Artikel 8; sie kann eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 zu beachten ist.

(3)   Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.

Artikel 16

Entscheidung bei Mehrfachersuchen

(1)   Haben zwei oder mehr Mitgliedstaaten einen Europäischen Haftbefehl gegen dieselbe Person erlassen, so entscheidet die vollstreckende Justizbehörde unter gebührender Berücksichtigung aller Umstände, welcher dieser Europäischen Haftbefehle vollstreckt wird; zu diesen Umständen gehören insbesondere die Schwere und der Ort der Straftat, der Zeitpunkt, zu dem die Europäischen Haftbefehle erlassen wurden, sowie die Tatsache, dass der Haftbefehl zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt wurde.

(2)   Um die Entscheidung nach Absatz 1 zu treffen, kann die vollstreckende Justizbehörde Eurojust (10) um Stellungnahme ersuchen.

(3)   Bei Zusammentreffen eines Europäischen Haftbefehls mit einem Auslieferungsersuchen eines Drittstaats entscheidet die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats unter gebührender Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der in Absatz 1 genannten Umstände sowie der in dem anwendbaren Übereinkommen oder Abkommen beschriebenen Umstände, ob der Europäische Haftbefehl oder das Auslieferungsersuchen Vorrang hat.

(4)   Dieser Artikel lässt die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aufgrund des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs unberührt.

Artikel 17

Fristen und Modalitäten der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls

(1)   Ein Europäischer Haftbefehl wird als Eilsache erledigt und vollstreckt.

(2)   In den Fällen, in denen die gesuchte Person ihrer Übergabe zustimmt, sollte die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls innerhalb von zehn Tagen nach Erteilung der Zustimmung erfolgen.

(3)   In den anderen Fällen sollte die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls innerhalb von 60 Tagen nach der Festnahme der gesuchten Person erfolgen.

(4)   Kann in Sonderfällen der Haftbefehl nicht innerhalb der in den Absätzen 2 bzw. 3 vorgesehenen Fristen vollstreckt werden, so setzt die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde von diesem Umstand und von den jeweiligen Gründen unverzüglich in Kenntnis. In diesem Fall können die Fristen um weitere 30 Tage verlängert werden.

(5)   Solange noch keine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde ergangen ist, stellt diese sicher, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person weiterhin gegeben sind.

(6)   Eine Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ist zu begründen.

(7)   Kann ein Mitgliedstaat bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände die in diesem Artikel vorgesehenen Fristen nicht einhalten, so setzt er Eurojust von diesem Umstand und von den Gründen der Verzögerung in Kenntnis. Außerdem teilt ein Mitgliedstaat, der wiederholt Verzögerungen bei der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen durch einen anderen Mitgliedstaat ausgesetzt gewesen ist, diesen Umstand dem Rat mit, damit eine Beurteilung der Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses auf Ebene der Mitgliedstaaten erfolgen kann.

Artikel 18

Lage in Erwartung der Entscheidung

(1)   Wurde der Europäische Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung erlassen, so muss die vollstreckende Justizbehörde

a)

entweder akzeptieren, dass die gesuchte Person nach Artikel 19 vernommen wird;

b)

oder akzeptieren, dass die gesuchte Person vorübergehend überstellt wird.

(2)   Die Bedingungen und die Dauer der vorübergehenden Überstellung werden in gegenseitigem Einvernehmen zwischen der ausstellenden und der vollstreckenden Justizbehörde festgelegt.

(3)   Im Falle der vorübergehenden Überstellung muss die betreffende Person Gelegenheit haben, in den Vollstreckungsmitgliedstaat zurückzukehren, um dort den sie betreffenden Gerichtsverhandlungen, die im Rahmen des Übergabeverfahrens stattfinden, beizuwohnen.

Artikel 19

Vernehmung der Person in Erwartung der Entscheidung

(1)   Die Vernehmung der gesuchten Person erfolgt durch eine Justizbehörde mit Unterstützung einer Person, die nach dem Recht des Mitgliedstaats der ersuchenden Justizbehörde bestimmt wird.

(2)   Die Vernehmung der gesuchten Person erfolgt nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats und nach den im gegenseitigen Einvernehmen zwischen der ausstellenden und der vollstreckenden Justizbehörde festgelegten Bedingungen.

(3)   Die zuständige vollstreckende Justizbehörde kann eine andere Justizbehörde ihres Mitgliedstaats anweisen, an der Vernehmung der gesuchten Person teilzunehmen, um die ordnungsgemäße Anwendung dieses Artikels und der festgelegten Bedingungen zu gewährleisten.

Artikel 20

Vorrechte und Immunitäten

(1)   Genießt die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat ein Vorrecht oder eine Strafverfolgungs- oder -vollstreckungsimmunität, so beginnen die Fristen nach Artikel 17 nur zu laufen, wenn die vollstreckende Justizbehörde davon unterrichtet worden ist, dass das Vorrecht oder die Immunität aufgehoben wurde; in diesem Fall beginnt die Frist am Tag der Unterrichtung.

Der Vollstreckungsmitgliedstaat trägt dafür Sorge, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe weiterhin gegeben sind, wenn die Person kein solches Vorrecht oder keine solche Immunität mehr genießt.

(2)   Ist eine Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats für die Aufhebung des Vorrechts oder der Immunität zuständig, befasst die vollstreckende Justizbehörde sie unverzüglich mit einem entsprechenden Ersuchen. Ist eine Behörde eines anderen Staates oder eine internationale Organisation für die Aufhebung des Vorrechts oder der Immunität zuständig, ist sie von der ausstellenden Justizbehörde mit einem entsprechenden Ersuchen zu befassen.

Artikel 21

Konkurrierende internationale Verpflichtungen

Von diesem Rahmenbeschluss unberührt bleiben die Verpflichtungen des Vollstreckungsmitgliedstaats in den Fällen, in denen die gesuchte Person an diesen Mitgliedstaat durch einen Drittstaat ausgeliefert worden ist, und wenn auf diese Person aufgrund der ihrer Auslieferung zugrunde liegenden Vereinbarung der Grundsatz der Spezialität anzuwenden ist. Der Vollstreckungsmitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um unverzüglich die Zustimmung des Drittstaates einzuholen, der die gesuchte Person ausgeliefert hat, damit sie dem Ausstellungsstaat übergeben werden kann. Die Fristen nach Artikel 17 beginnen erst an dem Tage zu laufen, an dem der Grundsatz der Spezialität nicht mehr anzuwenden ist. Bis die Entscheidung des Staates vorliegt, aus dem die gesuchte Person ausgeliefert wurde, überzeugt sich der Vollstreckungsmitgliedstaat davon, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe weiterhin gegeben sind.

Artikel 22

Mitteilung der Entscheidung

Die vollstreckende Justizbehörde teilt der ausstellenden Justizbehörde unverzüglich ihre Entscheidung über die Vollstreckung oder Nichtvollstreckung des Europäischen Haftbefehls mit.

Artikel 23

Frist für die Übergabe der Person

(1)   Die Übergabe der gesuchten Person erfolgt so bald wie möglich zu einem zwischen den betreffenden Behörden vereinbarten Zeitpunkt.

(2)   Die Übergabe erfolgt spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls.

(3)   Ist die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der in Absatz 2 genannten Frist aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Staaten entziehen, unmöglich, setzen sich die vollstreckende und die ausstellende Justizbehörde unverzüglich miteinander in Verbindung und vereinbaren ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin.

(4)   Die Übergabe kann aus schwerwiegenden humanitären Gründen, z. B. wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung offensichtlich eine Gefährdung für Leib oder Leben der gesuchten Person darstellt, ausnahmsweise ausgesetzt werden. Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erfolgt, sobald diese Gründe nicht mehr gegeben sind. Die vollstreckende Justizbehörde setzt die ausstellende Justizbehörde unverzüglich davon in Kenntnis und vereinbart ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin.

(5)   Befindet sich die betreffende Person nach Ablauf der in den Absätzen 2 bis 4 genannten Fristen noch immer in Haft, wird sie freigelassen.

Artikel 24

Aufgeschobene oder bedingte Übergabe

(1)   Die vollstreckende Justizbehörde kann nach der Entscheidung zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls die Übergabe der gesuchten Person aufschieben, damit diese im Vollstreckungsstaat gerichtlich verfolgt werden oder, falls sie bereits verurteilt worden ist, im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats eine Strafe verbüßen kann, die wegen einer anderen als der im Europäischen Haftbefehl genannten Handlung gegen sie verhängt wurde.

(2)   Statt die Übergabe aufzuschieben, kann die vollstreckende Justizbehörde die gesuchte Person dem Ausstellungsstaat vorübergehend unter Bedingungen übergeben, die von der vollstreckenden und der ausstellenden Justizbehörde vereinbart werden. Die Vereinbarung muss in Schriftform erfolgen, und die Bedingungen sind für alle Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats verbindlich.

Artikel 25

Durchlieferung

(1)   Jeder Mitgliedstaat bewilligt die Durchlieferung einer gesuchten Person zu Zwecken der Übergabe durch sein Hoheitsgebiet, es sei denn, er macht von der Möglichkeit der Ablehnung Gebrauch, wenn die Durchlieferung eines seiner Staats- oder Gebietsangehörigen zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung beantragt wird; die Genehmigung hängt von der Übermittlung folgender Angaben ab:

a)

die Identität und die Staatsangehörigkeit der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde,

b)

das Vorliegen eines Europäischen Haftbefehls,

c)

die Art und rechtliche Würdigung der Straftat,

d)

die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit und des Tatortes.

Ist die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, Staatsangehöriger des Durchlieferungsstaats oder in diesem wohnhaft, so kann die Durchlieferung davon abhängig gemacht werden, dass die Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Durchlieferungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.

(2)   Jeder Mitgliedstaat bezeichnet eine zuständige Behörde für die Entgegennahme der Durchlieferungsersuchen und der erforderlichen Unterlagen sowie des sonstigen amtlichen Schriftverkehrs im Zusammenhang mit Durchlieferungsersuchen. Die Mitgliedstaaten teilen die bezeichneten Behörden dem Generalsekretariat des Rates mit.

(3)   Das Durchlieferungsersuchen und die Informationen nach Absatz 1 können der nach Absatz 2 bezeichneten Behörde in jeder Form, die einen schriftlichen Nachweis ermöglicht, übermittelt werden. Der Durchlieferungsmitgliedstaat teilt seine Entscheidung auf dem gleichen Wege mit.

(4)   Dieser Rahmenbeschluss findet keine Anwendung auf die Durchlieferung auf dem Luftweg ohne eingeplante Zwischenlandung. Wenn es jedoch zu einer außerplanmäßigen Landung kommt, übermittelt der Ausstellungsmitgliedstaat der nach Absatz 2 bezeichneten Behörde die Informationen nach Absatz 1.

(5)   Betrifft die Durchlieferung eine Person, die aus einem Drittstaat an einen Mitgliedstaat ausgeliefert werden soll, so findet dieser Artikel entsprechende Anwendung. Insbesondere gilt in diesem Fall der Ausdruck „Europäischer Haftbefehl“ als ersetzt durch „Auslieferungsersuchen“.

KAPITEL 3

Wirkung der Übergabe

Artikel 26

Anrechnung der im Vollstreckungsmitgliedstaat verbüßten Haft

(1)   Der Ausstellungsmitgliedstaat rechnet die Dauer der Haft aus der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf die Gesamtdauer des Freiheitsentzugs an, die im Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung zu verbüßen wäre.

(2)   Dazu sind der ausstellenden Justizbehörde zum Zeitpunkt der Übergabe von der vollstreckenden Justizbehörde oder der nach Artikel 7 bezeichneten Zentralbehörde alle Angaben zur Dauer der Haft der aufgrund des Europäischen Haftbefehls gesuchten Person zu übermitteln.

Artikel 27

Etwaige Strafverfolgung wegen anderer Straftaten

(1)   Jeder Mitgliedstaat kann dem Generalsekretariat des Rates mitteilen, dass in seinen Beziehungen zu anderen Mitgliedstaaten, die die gleiche Mitteilung gemacht haben, die Zustimmung dazu, dass eine Person wegen einer anderen vor der Übergabe begangenen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, verfolgt, verurteilt oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in Haft gehalten wird, als erteilt gilt, sofern die vollstreckende Justizbehörde im Einzelfall in ihrer Übergabeentscheidung keine anders lautende Erklärung abgibt.

(2)   Außer in den in den Absätzen 1 und 3 vorgesehenen Fällen dürfen Personen, die übergeben wurden, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden.

(3)   Absatz 2 findet in folgenden Fällen keine Anwendung:

a)

wenn die Person das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates, dem sie übergeben worden ist, innerhalb von 45 Tagen nach ihrer endgültigen Freilassung nicht verlassen hat, obwohl sie dazu die Möglichkeit hatte, oder wenn sie nach Verlassen dieses Gebiets dorthin zurückgekehrt ist;

b)

wenn die Straftat nicht mit einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bedroht ist;

c)

wenn die Strafverfolgung nicht zur Anwendung einer die persönliche Freiheit beschränkenden Maßnahme führt;

d)

wenn die Person der Vollstreckung einer Strafe oder Maßregel der Sicherung ohne Freiheitsentzug, insbesondere einer Geldstrafe bzw. einer vermögensrechtlichen Maßnahme oder der an deren Stelle tretenden Maßnahme unterzogen wird, selbst wenn diese Strafe oder Maßnahme die persönliche Freiheit einschränken kann;

e)

wenn die Person ihre Zustimmung zur Übergabe und gegebenenfalls den Verzicht auf die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität gemäß Artikel 13 erklärt hat;

f)

wenn die Person nach ihrer Übergabe ausdrücklich auf die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität in Bezug auf bestimmte vor der Übergabe begangene Handlungen verzichtet hat. Die Verzichterklärung wird vor den zuständigen Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats abgegeben und nach dessen innerstaatlichem Recht zu Protokoll genommen. Die Verzichterklärung ist so abzufassen, dass aus ihr hervorgeht, dass die betreffende Person sie freiwillig und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Folgen abgegeben hat. Zu diesem Zweck hat die Person das Recht, einen Rechtsbeistand hinzuzuziehen;

g)

wenn die vollstreckende Justizbehörde, die die Person übergeben hat, ihre Zustimmung nach Absatz 4 gibt.

(4)   Das Ersuchen um Zustimmung ist unter Beifügung der in Artikel 8 Absatz 1 erwähnten Angaben und einer Übersetzung gemäß Artikel 8 Absatz 2 an die vollstreckende Justizbehörde zu richten. Die Zustimmung wird erteilt, wenn die Straftat, derentwegen um Zustimmung ersucht wird, nach diesem Rahmenbeschluss der Verpflichtung zur Übergabe unterliegt. Die Zustimmung wird verweigert, wenn die in Artikel 3 genannten Gründe vorliegen; ansonsten kann sie nur aus den in Artikel 4 genannten Gründen verweigert werden. Die Entscheidung ist spätestens 30 Tage nach Eingang des Ersuchens zu treffen.

In den Fällen des Artikels 5 sind die dort vorgesehenen Garantien vom Ausstellungsmitgliedstaat zu geben.

Artikel 28

Weitere Übergabe oder Auslieferung

(1)   Jeder Mitgliedstaat kann dem Generalsekretariat des Rates mitteilen, dass in seinen Beziehungen zu anderen Mitgliedstaaten, die die gleiche Mitteilung gemacht haben, die Zustimmung dazu, dass eine Person einem anderen Mitgliedstaat als dem Vollstreckungsmitgliedstaat aufgrund eines Europäischen Haftbefehls, dem eine vor ihrer Übergabe begangene Handlung zugrunde liegt, übergeben wird, als erteilt gilt, sofern die vollstreckende Justizbehörde im Einzelfall in ihrer Übergabeentscheidung keine anders lautende Erklärung abgibt.

(2)   In jedem Fall können Personen, die dem Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund eines Europäischen Haftbefehls übergeben wurden, ohne die Zustimmung des Vollstreckungsmitgliedstaats einem anderen Mitgliedstaat als dem Vollstreckungsmitgliedstaat aufgrund eines Europäischen Haftbefehls, dem eine vor der Übergabe begangene Handlung zugrunde liegt, in den folgenden Fällen übergeben werden:

a)

wenn die gesuchte Person das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dem sie übergeben worden ist, innerhalb von 45 Tagen nach ihrer endgültigen Freilassung nicht verlassen hat, obwohl sie dazu die Möglichkeit hatte, oder wenn sie nach Verlassen dieses Gebiets dorthin zurückgekehrt ist;

b)

wenn die gesuchte Person ihrer Übergabe an einen anderen Mitgliedstaat als den Vollstreckungsmitgliedstaat aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zustimmt. Die Zustimmung wird vor den zuständigen Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats erklärt und nach dessen innerstaatlichem Recht zu Protokoll genommen. Die Zustimmungserklärung ist so abzufassen, dass aus ihr hervorgeht, dass die betreffende Person sie freiwillig und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Folgen gegeben hat. Zu diesem Zweck hat die gesuchte Person das Recht, einen Rechtsbeistand hinzuzuziehen;

c)

wenn der Grundsatz der Spezialität auf die gesuchte Person gemäß Artikel 27 Absatz 3 Buchstaben a, e, f und g nicht anzuwenden ist.

(3)   Die vollstreckende Justizbehörde stimmt der Übergabe an einen anderen Mitgliedstaat gemäß den folgenden Bestimmungen zu:

a)

Das Ersuchen um Zustimmung ist gemäß Artikel 9 unter Beifügung der in Artikel 8 Absatz 1 erwähnten Informationen und der in Artikel 8 Absatz 2 vorgesehenen Übersetzung zu stellen.

b)

Die Zustimmung wird erteilt, wenn die Straftat, derentwegen um Zustimmung ersucht wird, nach diesem Rahmenbeschluss der Verpflichtung zur Übergabe unterliegt.

c)

Die Entscheidung ist spätestens 30 Tage nach Eingang des Ersuchens zu treffen.

d)

Die Zustimmung wird verweigert, wenn die in Artikel 3 genannten Gründe vorliegen; ansonsten kann sie nur aus den in Artikel 4 genannten Gründen verweigert werden.

In den in Artikel 5 genannten Fällen sind die dort vorgesehenen Garantien vom Ausstellungsstaat zu geben.

(4)   Ungeachtet des Absatzes 1 darf eine Person, die aufgrund eines Europäischen Haftbefehls übergeben wurde, nicht ohne die Zustimmung der zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, der die Person übergeben hat, an einen Drittstaat ausgeliefert werden. Die Zustimmung ist gemäß den Übereinkommen, die diesen Mitgliedstaat binden, sowie gemäß seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu geben.

Artikel 29

Übergabe von Gegenständen

(1)   Auf Verlangen der ausstellenden Justizbehörde oder von Amts wegen beschlagnahmt und übergibt die vollstreckende Justizbehörde nach Maßgabe ihres nationalen Rechts die Gegenstände,

a)

die als Beweisstücke dienen können oder

b)

die die gesuchte Person aus der Straftat erlangt hat.

(2)   Die in Absatz 1 erwähnten Gegenstände sind selbst dann zu übergeben, wenn der Europäische Haftbefehl infolge des Todes oder der Flucht der gesuchten Person nicht vollstreckt werden kann.

(3)   Unterliegen die in Absatz 1 genannten Gegenstände im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats der Beschlagnahme oder Einziehung, so kann er sie, wenn sie für ein anhängiges Strafverfahren benötigt werden, vorübergehend zurückbehalten oder unter der Bedingung der Rückgabe an den Ausstellungsmitgliedstaat herausgeben.

(4)   Rechte des Vollstreckungsmitgliedstaats oder Dritter an den in Absatz 1 genannten Gegenständen bleiben vorbehalten. Bestehen solche Rechte, so sind die Gegenstände vom Ausstellungsmitgliedstaat nach Abschluss des Strafverfahrens unverzüglich und kostenlos dem Vollstreckungsmitgliedstaat zurückzugeben.

Artikel 30

Kosten

(1)   Kosten, die durch die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats entstehen, gehen zu dessen Lasten.

(2)   Alle sonstigen Kosten gehen zulasten des Ausstellungsmitgliedstaats.

KAPITEL 4

ALLGEMEINE UND SCHLUSSBESTIMMUNGEN

Artikel 31

Verhältnis zu anderen Übereinkommen

(1)   Dieser Rahmenbeschluss ersetzt am 1. Januar 2004 die entsprechenden Bestimmungen der folgenden in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich der Auslieferung geltenden Übereinkommen, unbeschadet von deren Anwendbarkeit in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten:

a)

das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, das dazugehörige Zusatzprotokoll vom 15. Oktober 1975, das dazugehörige Zweite Zusatzprotokoll vom 17. März 1978 und das Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Januar 1977, soweit es sich auf die Auslieferung bezieht;

b)

das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vereinfachung und Modernisierung der Verfahren zur Übermittlung von Auslieferungsersuchen vom 26. Mai 1989;

c)

das Übereinkommen vom 10. März 1995 über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union;

d)

das Übereinkommen vom 27. September 1996 über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union;

e)

den Titel III Kapitel 4 des Übereinkommens vom 19. Juni 1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen.

(2)   Es steht den Mitgliedstaaten frei, auch weiterhin die zum Zeitpunkt der Annahme dieses Rahmenbeschlusses geltenden bilateralen oder multilateralen Abkommen oder Übereinkünfte anzuwenden, sofern diese die Möglichkeit bieten, über die Ziele dieses Beschlusses hinauszugehen, und zu einer weiteren Vereinfachung oder Erleichterung der Verfahren zur Übergabe von Personen beitragen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl vorliegt.

Es steht den Mitgliedstaaten frei, nach Inkrafttreten dieses Rahmenbeschlusses bilaterale oder multilaterale Abkommen oder Übereinkünfte zu schließen, sofern diese die Möglichkeit bieten, über die Vorschriften dieses Beschlusses hinauszugehen, und zu einer Vereinfachung oder Erleichterung der Verfahren zur Übergabe von Personen beitragen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl vorliegt, insbesondere indem kürzere Fristen als nach Artikel 17 festgelegt werden, die Liste der in Artikel 2 Absatz 2 angeführten Straftaten ausgeweitet wird, die Ablehnungsgründe nach den Artikeln 3 und 4 zusätzlich eingeschränkt werden oder der Schwellenwert nach Artikel 2 Absatz 1 oder Absatz 2 gesenkt wird.

Die Abkommen und Übereinkünfte nach Unterabsatz 2 dürfen auf keinen Fall die Beziehungen zu den Mitgliedstaaten beeinträchtigen, die nicht Vertragspartei dieser Übereinkünfte sind.

Die Mitgliedstaaten unterrichten den Rat und die Kommission binnen drei Monaten nach Inkrafttreten dieses Rahmenbeschlusses von den bestehenden Abkommen oder Übereinkünften nach Unterabsatz 1, die sie auch weiterhin anwenden wollen.

Die Mitgliedstaaten unterrichten den Rat und die Kommission ferner über alle neuen Abkommen oder Übereinkünfte im Sinne von Unterabsatz 2 binnen drei Monaten nach deren Unterzeichnung.

(3)   Soweit die in Absatz 1 genannten Abkommen oder Übereinkünfte für Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten oder für Hoheitsgebiete, deren auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat wahrnimmt, gelten, auf die dieser Rahmenbeschluss keine Anwendung findet, sind diese Instrumente weiterhin für die Beziehungen zwischen diesen Hoheitsgebieten und den übrigen Mitgliedstaaten maßgebend.

Artikel 32

Übergangsbestimmung

(1)   Für die vor dem 1. Januar 2004 eingegangenen Auslieferungsersuchen gelten weiterhin die im Bereich der Auslieferung bestehenden Instrumente. Für die nach diesem Zeitpunkt eingegangenen Ersuchen gelten die von den Mitgliedstaaten gemäß diesem Rahmenbeschluss erlassenen Bestimmungen. Jeder Mitgliedstaat kann jedoch zum Zeitpunkt der Annahme dieses Rahmenbeschlusses eine Erklärung abgegeben, dass er als Vollstreckungsmitgliedstaat auch weiterhin Ersuchen im Zusammenhang mit Handlungen, die vor einem von ihm festzulegenden Zeitpunkt begangen wurden, nach der vor dem 1. Januar 2004 geltenden Auslieferungsregelung behandeln wird. Der betreffende Zeitpunkt darf nicht nach dem 7. August 2002 liegen. Diese Erklärung wird im Amtsblatt veröffentlicht. Sie kann jederzeit zurückgezogen werden.

Artikel 33

Bestimmung betreffend Österreich und Gibraltar

(1)   Solange Österreich Artikel 12 Absatz 1 seines Auslieferungs- und Rechtshilfegesetzes nicht geändert hat, spätestens jedoch bis zum 31. Dezember 2008, darf Österreich seinen vollstreckenden Justizbehörden gestatten, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, wenn es sich bei der gesuchten Person um einen österreichischen Staatsbürger handelt und wenn die Handlung, derentwegen der Europäische Haftbefehl erlassen worden ist, nach österreichischem Recht nicht strafbar ist.

(2)   Dieser Rahmenbeschluss findet auch auf Gibraltar Anwendung.

Artikel 34

Umsetzung

(1)   Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um diesem Rahmenbeschluss bis zum 31. Dezember 2003 nachzukommen.

(2)   Die Mitgliedstaaten teilen dem Generalsekretariat des Rates und der Kommission den Wortlaut der Bestimmungen mit, die sie zur Umsetzung der sich aus diesem Rahmenbeschluss ergebenden Verpflichtungen in ihr innerstaatliches Recht erlassen haben. Dabei kann jeder Mitgliedstaat angeben, dass er diesen Rahmenbeschluss in seinen Beziehungen zu den Mitgliedstaaten, die die gleiche Mitteilung gemacht haben, unverzüglich anwendet.

Das Generalsekretariat des Rates übermittelt den Mitgliedstaaten und der Kommission die nach Artikel 7 Absatz 2, Artikel 8 Absatz 2, Artikel 13 Absatz 4 und Artikel 25 Absatz 2 eingegangenen Informationen. Es trägt auch für die Veröffentlichung im Amtsblatt Sorge.

(3)   Auf der Grundlage von Informationen, die das Generalsekretariat des Rates vorlegt, übermittelt die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat bis zum 31. Dezember 2004 einen Bericht über die Anwendung dieses Rahmenbeschlusses, dem sie gegebenenfalls Gesetzgebungsvorschläge beifügt.

(4)   Der Rat überprüft in der zweiten Hälfte des Jahres 2003 insbesondere die praktische Umsetzung der Bestimmungen des vorliegenden Rahmenbeschlusses in den Mitgliedstaaten sowie die Funktionsweise des SIS.

Artikel 35

Inkrafttreten

Dieser Rahmenbeschluss tritt am zwanzigsten Tag nach seiner Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft.

Geschehen zu Luxemburg am 13. Juni 2002.

Im Namen des Rates

Der Präsident

M. RAJOY BREY


(1)  Die in dieser inoffiziellen konsolidierten Fassung enthaltenen Erwägungsgründe sind nur jene des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI. Die Erwägungsgründe des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI, durch den der Rahmenbeschluss 2002/584/JI geändert wurde, wurden nicht eingearbeitet.

(2)   ABl. C 332 E vom 27.11.2001, S. 305.

(3)  Stellungnahme vom 9. Januar 2002 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(4)   ABl. C 12 E vom 15.1.2001, S. 10.

(5)   ABl. L 239 vom 22.9.2000, S. 19.

(6)   ABl. C 78 vom 30.3.1995, S. 2.

(7)   ABl. C 313 vom 13.10.1996, S. 12.

(8)   ABl. C 364 vom 18.12.2000, S. 1.

(9)  Gemeinsame Maßnahme 98/428/JI vom 29. Juni 1998 zur Einrichtung eines Europäischen Justiziellen Netzes (ABl. L 191 vom 7.7.1998, S. 4).

(10)  Beschluss 2002/187/JI des Rates vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität (ABl. L 63 vom 6.3.2002, S. 1).


ANHANG II

EUHB-FORMBLATT (1)

EUROPÄISCHER HAFTBEFEHL (2)

Dieser Haftbefehl ist von einer zuständigen Justizbehörde ausgestellt worden. Ich beantrage, dass die unten genannte Person zum Zwecke der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung festgenommen und übergeben wird.

a)

Angaben zur Identität der gesuchten Person:

Name: …

Vorname(n): …

ggf. Geburtsname: …

ggf. Aliasname: …

Geschlecht: …

Staatsangehörigkeit: …

Geburtsdatum: …

Geburtsort: …

Wohnort und/oder bekannte Anschrift: …

Falls bekannt: Sprache oder Sprachen, die die gesuchte Person versteht:

Besondere Kennzeichen/Beschreibung der gesuchten Person: …

Foto und Fingerabdrücke der gesuchten Person, sofern diese vorhanden sind und übermittelt werden können, oder Kontaktadresse der Person, die diese oder ein DNS-Profil übermitteln kann (sofern diese Daten zur Übermittlung verfügbar sind und nicht beigefügt waren).


b)

Entscheidung, die dem Haftbefehl zugrunde liegt:

1.

Haftbefehl oder justizielle Entscheidung mit gleicher Wirkung: .. ….

Art: …..

2.

Vollstreckbares Urteil: . …

Aktenzeichen: ...... …


c)

Angaben zur Dauer der Strafe:

1.

Höchstdauer der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die für die Straftat(en) verhängt werden kann:

2.

Dauer der verhängten Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung:

Noch zu verbüßende Strafe:


d)

Geben Sie an, ob die Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, persönlich erschienen ist:

1.

☐ Ja, die Person ist zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, persönlich erschienen.

2.

☐ Nein, die Person ist zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen.

3.

Bitte geben Sie zu der unter Nummer 2 angekreuzten Möglichkeit an, dass eine der folgenden Möglichkeiten zutrifft:

3.1a. ☐

Die Person wurde am … (Tag.Monat.Jahr) persönlich vorgeladen und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt, die zu der Entscheidung geführt hat, sowie davon in Kenntnis gesetzt, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

ODER

3.1b. ☐

die Person wurde nicht persönlich vorgeladen, aber auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, in Kenntnis gesetzt, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte, sowie davon in Kenntnis gesetzt, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

ODER

3.2. ☐

die Person hat in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und ist bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden;

ODER

3.3. ☐

der Person wurde die Entscheidung am … (Tag.Monat.Jahr) zugestellt, und sie wurde ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann, und

die Person hat ausdrücklich erklärt, dass sie diese Entscheidung nicht anficht;

ODER

die Person hat innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt;

ODER

3.4. ☐

der Person wurde die Entscheidung nicht persönlich zugestellt, aber

sie wird die Entscheidung unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten; und

sie wird bei Zustellung der Entscheidung ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann, und

sie wird von der Frist in Kenntnis gesetzt werden, über die sie verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen, die … Tage beträgt.

4.

Bitte geben Sie zu der unter Nummer 3.1b, 3.2 oder 3.3 angekreuzten Möglichkeit an, wie die entsprechende Voraussetzung erfüllt wurde:

.. …


e)

Straftaten:

Dieser Haftbefehl bezieht sich auf insgesamt … Straftaten.

Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat(en) begangen wurde(n), einschließlich Tatzeit (Datum und Uhrzeit), Tatort und Art der Beteiligung der gesuchten Person an der(n) Straftat(en)

….

….

….

Art und rechtliche Würdigung der Straftat(en) und anwendbare gesetzliche Bestimmungen:

. ….

….

….

….

….

I.

Bitte kreuzen Sie gegebenenfalls an, ob es sich um eine oder mehrere der folgenden – nach dem Recht des Ausstellungsstaats definierten – Straftaten handelt, die im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind:

Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung;

Terrorismus;

Menschenhandel;

sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornografie;

illegaler Handel mit Drogen und psychotropen Stoffen;

illegaler Handel mit Waffen; Munition und Sprengstoffen;

Korruption;

Betrugsdelikte, einschließlich Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften im Sinne des Übereinkommens vom 26. Juli 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften;

Wäsche von Erträgen aus Straftaten;

Geldfälschung einschließlich der Euro-Fälschung;

Cyberkriminalität;

Umweltkriminalität, einschließlich illegalen Handels mit bedrohten Tierarten oder mit bedrohten Pflanzen- und Baumarten;

Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt;

vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung;

illegaler Handel mit Organen und menschlichem Gewebe;

Entführung, Freiheitsberaubung und Geiselnahme;

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit;

Diebstahl in organisierter Form oder schwerer Raub;

illegaler Handel mit Kulturgütern, einschließlich Antiquitäten und Kunstgegenständen;

Betrug;

Erpressung und Schutzgelderpressung;

Nachahmung und Produktpiraterie;

Fälschung von amtlichen Dokumenten und Handel damit;

Fälschung von Zahlungsmitteln;

illegaler Handel mit Hormonen und anderen Wachstumsförderern;

illegaler Handel mit nuklearen und radioaktiven Substanzen;

Handel mit gestohlenen Kraftfahrzeugen;

Vergewaltigung;

Brandstiftung;

Verbrechen, die in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fallen;

Flugzeug-/Schiffsentführung;

Sabotage.

II.

Vollständige Beschreibung der Straftat oder der Straftaten, die nicht unter die Fälle nach Abschnitt I fallen:

….

….


f)

Sonstige für den Fall relevante Umstände (fakultative Angaben):

(Hinweis: Hierunter könnten Bemerkungen zur Extraterritorialität, zur Unterbrechung der Verjährungsfristen und zu sonstigen Folgen der Straftat fallen)

. ….

….


g)

Dieser Haftbefehl betrifft auch die Beschlagnahme und Übergabe von Gegenständen, die als Beweisstücke dienen können.

Dieser Haftbefehl betrifft auch die Beschlagnahme und Übergabe von Gegenständen, die die gesuchte Person aus der Straftat erlangt hat.

Beschreibung (und Lokalisierung) der Gegenstände (falls bekannt):

….

….

….


h)

Die Straftat/Straftaten, aufgrund deren dieser Haftbefehl ausgestellt wurde, ist/sind mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe oder einer lebenslangen Maßregel der Sicherung bedroht oder hat/haben zur Verhängung einer solchen Strafe bzw. Maßregel geführt:

Nach der Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats kann die verhängte Strafe – auf Antrag oder nach mindestens 20 Jahren – daraufhin überprüft werden, ob die Vollstreckung dieser Strafe oder Maßregel auszusetzen ist,

und/oder

nach der Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats können Gnadenakte, auf die die Person nach dem innerstaatlichen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsmitgliedstaats Anspruch hat, mit dem Ziel der Nichtvollstreckung dieser Strafe oder Maßregel angewandt werden.


i)

Justizbehörde, die den Haftbefehl ausgestellt hat:

Offizielle Bezeichnung:…

Name ihres Vertreters: (3)

Funktion (Titel/Dienstrang): …

Aktenzeichen: …

Anschrift: …

Telefonnummer: (Ländervorwahl) (Ortsnetzkennzahl) (...)…

Fax-Nummer: (Ländervorwahl) (Ortsnetzkennzahl) (...)…

E-Mail-Adresse: …

Kontaktadresse der Person, die die erforderlichen praktischen Vorkehrungen für die Übergabe treffen kann: …


Im Fall der Benennung einer zentralen Behörde für die Übermittlung und administrative Entgegennahme von Europäischen Haftbefehlen:

Bezeichnung der zentralen Behörde: …

Ggf. zu kontaktierende Person (Titel/Dienstrang und Name): …

Anschrift: …

.... …

Telefonnummer: (Ländervorwahl) (Ortsnetzkennzahl) (...)…

Fax-Nr.: (Ländervorwahl) (Ortsnetzkennzahl) (...)…

E-Mail-Adresse: …


Unterschrift der ausstellenden Justizbehörde und/oder ihres Vertreters:

……

Name: …....

Funktion (Titel/Dienstrang): …

Datum: …

(ggf.) amtlicher Stempel


(1)  enthalten im Anhang des EuHb-Rahmenbeschlusses.

(2)  Dieser Haftbefehl ist in einer der Amtssprachen des Vollstreckungsstaats oder in einer von diesem Staat akzeptierten Sprache auszufertigen bzw. in eine solche Sprache zu übersetzen, wenn dieser Staat bekannt ist.

(3)  In die jeweiligen Sprachfassungen ist eine Bezugnahme auf den „Inhaber“ der richterlichen Gewalt aufzunehmen.


ANHANG III

LEITLINIEN FÜR DAS AUSFÜLLEN EINES EuHB-FORMBLATTS

Dieser Haftbefehl ist von einer zuständigen Justizbehörde ausgestellt worden. Ich beantrage, dass die unten genannte Person zum Zwecke der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung festgenommen und übergeben wird.

Kommentar

Es wird dazu geraten, zum Abfassen eines EuHb den Kompendium-Assistenten auf der Website des Europäischen Justiziellen Netzes (EJN) zu verwenden. Mit diesem Online-Tool ist das Ausfüllen genauso einfach wie im Word-Format, aber darüber hinaus bietet es eine Reihe moderner, benutzerfreundlicher Funktionen wie etwa die Möglichkeit, die zuständigen vollstreckenden Justizbehörden direkt aus dem EJN-Gerichtsatlas zu übernehmen, den Text des Vordrucks sofort in der oder den vom Vollstreckungsmitgliedstaat akzeptierten Sprache(n) aufzurufen, die Abspeicherung und Versendung des Formblatts per E-Mail.

Es wird empfohlen, das Formblatt im Word-Format in der Sprache der ausstellenden Justizbehörde (also in Ihrer Sprache) von der EJN-Website (Rubrik Justiz-Bibliothek) herunterzuladen und es lokal auf Ihrem Computer abzuspeichern für den Fall, dass die Website bei dringendem Bedarf gerade nicht zugänglich ist.

Des Weiteren ist es ratsam, das Formblatt in allen oder zumindest den von anderen Mitgliedstaaten häufiger akzeptierten Sprachen von der EJN-Website (Rubrik Justiz-Bibliothek) herunterzuladen und auf Ihrem Computer zu speichern.

Wenn Sie das Formblatt im Word-Format verwenden, füllen Sie es bitte elektronisch (nicht handschriftlich) in Ihrer Muttersprache aus. Wenn Sie den Kompendium-Assistenten benutzen, erfolgt das Ausfüllen immer elektronisch.

Ist ein Feld nicht relevant, tragen Sie „entfällt“ ein oder verdeutlichen Sie durch ein Symbol (z. B. einen Gedankenstrich), dass Sie hierzu keine Angaben machen können. Bitte nie ein Feld löschen oder das EuHb-Formblatt anderweitig verändern.

Bezieht sich der EuHb auf mehrere Straftaten, nummerieren Sie diese bitte fortlaufend durch (1, 2, 3 usw.) und behalten Sie die Nummerierung im gesamten Formblatt bei, insbesondere in Kasten b).

Kasten a)

Angaben zur Identifizierung der gesuchten Person

Kommentar:

Bitte füllen Sie nach Möglichkeit alle Felder aus.

a)

Angaben zur Identität der gesuchten Person:

Name: Kommentar: obligatorisches Feld. Geben Sie auch etwaige frühere offizielle Namen an, sofern bekannt, und schreiben Sie Namen in der Schreibweise der Landessprache; der Name sollte nicht übersetzt werden. Achten Sie auf die richtige Reihenfolge der Namen, d. h. vergewissern Sie sich, dass Sie beim Familiennamen nicht den Vornamen angeben, und prüfen Sie zur Sicherheit nochmals nach, wenn in der Akte zwei oder mehrere Personen mit ähnlichen Namen (vielleicht in unterschiedlicher Reihenfolge oder mit kleinen Abweichungen) auftauchen.

Vorname(n): Kommentar: obligatorisches Feld.

ggf. Geburtsname:

ggf. Aliasname: Kommentar: Dazu gehören auch Falschnamen. Spitznamen bitte in Klammern setzen. Bedient sich die Person einer falschen Identität, so sollte diese in allen Feldern angegeben werden, so z. B. falsches Geburtsdatum und falsche Anschrift.

Geschlecht: Kommentar: obligatorisches Feld.

Staatsangehörigkeit: Kommentar: obligatorisches Feld. Bei mehreren Staatsangehörigkeiten bitte alle angeben.

Geburtsdatum: Kommentar: obligatorisches Feld.

Geburtsort: Kommentar: obligatorisches Feld, sofern bekannt.

Wohnort und/oder bekannte Anschrift: Kommentar: obligatorisches Feld, sofern bekannt.

Andernfalls bitte „unbekannt“ eintragen.

Falls bekannt: Sprache oder Sprachen, die die gesuchte Person versteht:

Besondere Kennzeichen/Beschreibung der gesuchten Person: Kommentar: obligatorisches Feld, sofern dazu Angaben gemacht werden können. Bitte geben Sie auch an, ob die Person gefährlich und/oder möglicherweise bewaffnet ist.

Foto und Fingerabdrücke der gesuchten Person, sofern diese vorhanden sind und übermittelt werden können, oder Kontaktadresse der Person, die diese oder ein DNS-Profil übermitteln kann (sofern diese Daten zur Übermittlung verfügbar sind und nicht beigefügt waren). Kommentar: Falls Daten vorhanden sind, besteht die Pflicht zur Übermittlung der Daten über Interpol oder das SIS (nur bei Lichtbildern, Fingerabdrücken oder anderen personenbezogenen Daten gemäß Artikel 20 SIS-II-Beschluss). Dies ist unerlässlich, um sicherzugehen, dass die richtige Person festgenommen wird.

Überprüfen sie die Angaben ein zweites Mal, sollte es in derselben Akte zwei oder mehrere Personen mit ähnlichem Namen (vielleicht in umgekehrter Reihenfolge oder mit geringfügigen Abweichungen) geben.

Kasten b)

Angaben zu der Entscheidung, die dem EuHb zugrunde liegt

Kommentar:

Dieses Formblatt ist dem Zweck des EuHb entsprechend – Strafverfolgung und/oder Verurteilung – auszufüllen. Der in Kasten b) verwendete Ausdruck „Entscheidung, die dem Haftbefehl zugrunde liegt“ bezieht sich auf eine vom EuHb zu trennende „justizielle Entscheidung“. Als „justizielle Entscheidungen“ gelten Entscheidungen von Behörden eines Mitgliedstaats, deren Aufgabe die Strafrechtspflege ist. Polizeibehörden gehören nicht dazu. Ist die Entscheidung, die zu der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung geführt hat, beispielsweise in ein Abwesenheitsurteil umgewandelt worden, sollte ein neuer EuHb (mit dem neuen Titel) ausgestellt werden.

Vorgerichtliches Stadium (Ausstellung des EuHb zum Zwecke der Strafverfolgung)

b) 1. Angabe der Entscheidung, auf die sich der EuHb stützt (beispielsweise richterliche Anordnung oder Haftbefehl vom tt/mm/jjjj zur Verhängung einer Zwangsmaßnahme in Form der Untersuchungshaft). Hinweis: Wenn Feld b) 1. ausgefüllt wurde, ist auch Feld c) 1. auszufüllen.

Nachgerichtliches Stadium (Ausstellung des EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe/eines Abwesenheitsurteils)

b) 1. Bei Ausstellung eines EuHb nach Aburteilung in Abwesenheit ist die entsprechende gerichtliche Entscheidung anzuführen.

b) 2. Urteil bzw. Entscheidung, die am tt/mm/jjjj rechtskräftig wurde, unter Angabe des Aktenzeichens und des erkennenden Gerichts. Verhängte Strafen, die – wie es in einigen Mitgliedstaaten der Fall ist – noch nicht vollstreckbar sind, solange noch Rechtsmittel eingelegt werden können und sie noch nicht rechtskräftig sind, sind unter b) 1. und NICHT unter b) 2. anzugeben.

Hinweis: Wenn Feld b) 2. ausgefüllt wurde, ist auch Feld c) 2. auszufüllen.

b)

Entscheidung, die dem Haftbefehl zugrunde liegt:

1.

Haftbefehl oder justizielle Entscheidung mit gleicher Wirkung:

Art: Kommentar: Geben Sie die entsprechende richterliche Anordnung oder andere justizielle Anordnung sowie das Ausstellungsdatum und das Aktenzeichen an.

2.

Vollstreckbares Urteil: Kommentar: Ist das Urteil vollstreckbar, geben Sie bitte auch das Datum an, an dem es rechtskräftig wurde.

Aktenzeichen: Kommentar: Geben Sie das Datum, das Aktenzeichen und die Art der Entscheidung an. Belassen Sie die Aktenzeichen in der Originalsprache.

Kasten c)

Angaben zur Dauer der Freiheitsstrafe/freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung

Kommentar:

Dieser Abschnitt dient dem Nachweis, dass der EuHb die Voraussetzungen gemäß Artikel 2 Absatz 1 des EuHb-Rahmenbeschlusses erfüllt. Im vorgerichtlichen Stadium ist dabei das grundsätzlich mögliche Strafmaß und nach Verhängung der Strafe die Länge der tatsächlich verhängten Strafe zugrunde zu legen. Füllen Sie wie schon in Kasten b) die maßgeblichen Felder entsprechend dem Stadium des Strafverfahrens aus.

Vorgerichtliches Stadium (Ausstellung des EuHb zum Zwecke der Strafverfolgung)

c) 1. Geben Sie die mögliche Höchststrafe an. Bitte beachten Sie, dass gemäß Artikel 2 Absatz 1 ein EuHb bei Straftaten erlassen werden kann, die mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind. Wenn Feld b) 1. ausgefüllt wurde, ist auch Feld c) 1. auszufüllen.

Nachgerichtliches Stadium (Ausstellung des EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe/eines Abwesenheitsurteils)

c) 2. Geben Sie die Dauer der verhängten Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung an. Bitte beachten Sie, dass gemäß Artikel 2 Absatz 1 ein EuHb bei einer Verurteilung zu einer Strafe oder Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt, erlassen werden kann. Wenn Feld b) 2. ausgefüllt wurde, ist auch das Feld c) 2. auszufüllen.

c) 2. Angabe in Jahren, Monaten und Tagen. Zu beachten ist, dass im EuHb-Rahmenbeschluss in Bezug auf die noch zu verbüßende Reststrafe keine Mindestdauer festgelegt ist. Es empfiehlt sich, die Verhältnismäßigkeit der Ausstellung eines EuHb sorgfältig abzuwägen, wenn die noch zu verbüßende Reststrafe weniger als vier Monate beträgt, auch wenn ursprünglich eine Strafe von vier oder mehr Monaten verhängt wurde.

c)

Angaben zur Dauer der Strafe:

1.

Höchstdauer der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die für die Straftat(en) verhängt werden kann:

2.

Dauer der verhängten Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung: Kommentar: Bei Verhängung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung kann diese von unbestimmter Dauer sein, z. B. lebenslange Freiheitsstrafe oder Strafe in Verbindung mit psychiatrischer Behandlung.

Noch zu verbüßende Strafe: Kommentar: Bei einer Strafe von unbestimmter, aber mindestens viermonatiger Dauer ist anzugeben, dass noch mindestens vier Monate zu verbüßen sind.

Kasten d)

Abwesenheitsurteile

d)

Geben Sie an, ob die Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, persönlich erschienen ist:

1.

☐ Ja, die Person ist zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, persönlich erschienen.

2.

☐ Nein, die Person ist zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen.

3.

Bitte geben Sie zu der unter Nummer 2 angekreuzten Möglichkeit an, dass eine der folgenden Möglichkeiten zutrifft:

3.1a.

☐ Die Person wurde am … (Tag.Monat.Jahr) persönlich vorgeladen und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt, die zu der Entscheidung geführt hat, sowie davon in Kenntnis gesetzt, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

ODER

3.1b.

☐ die Person wurde nicht persönlich vorgeladen, aber auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, in Kenntnis gesetzt, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte, sowie davon in Kenntnis gesetzt, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

ODER

3.2.

☐die Person hat in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und ist bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden;

ODER

3.3.

☐ der Person wurde die Entscheidung am … (Tag.Monat.Jahr) zugestellt, und sie wurde ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann, und

die Person hat ausdrücklich erklärt, dass sie diese Entscheidung nicht anficht;

ODER

die Person hat innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt;

ODER

3.4.

☐ der Person wurde die Entscheidung nicht persönlich zugestellt, aber

sie wird die Entscheidung unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten und

sie wird bei Zustellung der Entscheidung ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann, und

sie wird von der Frist in Kenntnis gesetzt werden, über die sie verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen, die …… Tage beträgt.

4.

Bitte geben Sie zu der unter Nummer 3.1b, 3.2 oder 3.3 angekreuzten Möglichkeit an, wie die entsprechende Voraussetzung erfüllt wurde:

Kasten e)

Straftaten

Kommentar:

Ob die Straftat zu den 32 Straftaten gehört, bei denen sich die Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit erübrigt, entscheidet die ausstellende Justizbehörde anhand der Definition der Straftat im Strafgesetzbuch des Ausstellungsmitgliedstaats. Der Wortlaut des einschlägigen Gesetzestextes braucht nicht in den EuHb aufgenommen oder ihm beigefügt werden. So lassen sich auch unnötige Übersetzungen von Gesetzestexten vermeiden.

Erforderlich ist hingegen eine ausführliche Beschreibung des Sachverhalts mit allen sachdienlichen Informationen, damit die Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats prüfen können, ob der Grundsatz der Spezialität Anwendung findet oder ob es Gründe gibt, die Vollstreckung zu versagen, wie etwa den Grundsatz „ne bis in idem“ oder die Verjährung der Tat.

Vorgerichtliches und nachgerichtliches Stadium

Geben Sie die Zahl der zutreffenden Straftaten an.

Beschreibung und Anzahl der Straftaten sollten übereinstimmen.

Beachten Sie die Ausführungen im Handbuch zu akzessorischen Straftaten, bevor Sie entscheiden, ob Sie sie aufnehmen oder nicht (Abschnitt 2.3).

Erläutern Sie den genauen Sachverhalt, der Anlass für die Ausstellung des EuHb gibt:

Beschränken Sie sich auf die Fakten, die in Zusammenhang mit der Person stehen, die übergeben werden soll.

Machen Sie alle hierfür nötigen Angaben (verantwortliche Person, Art der Tatbeteiligung oder Tatausführung, Tatort und Tatzeit, Anzahl der Delikte, Tatmittel, verursachter Schaden oder zugefügte Verletzungen, Vorsatz oder Tatzweck, durch die Tat erlangter Vorteil usw.)

Die Sachverhaltsdarstellung sollte aus einer kurzen Zusammenfassung und nicht aus einer Komplettabschrift ganzer Seiten der Akte bestehen. In komplexeren Fällen, vor allem wenn das Prinzip der beiderseitigen Strafbarkeit greift (nicht aufgelistete Straftaten), kann allerdings eine längere Beschreibung notwendig werden, um die wichtigsten Tatbestandsmerkmale herauszuarbeiten. Führen Sie in diesem Fall alle wesentlichen Umstände an, die der vollstreckenden Justizbehörde eine Entscheidung über den EuHb ermöglichen und anhand deren sie feststellen kann, ob es etwa Gründe für eine Ablehnung oder die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität gibt.

Liegen mehrere Straftaten vor, beschreiben Sie die Tatbestände so, dass Beschreibung und rechtliche Würdigung der Straftat zueinander passen.

Verwenden Sie kurze und einfache Sätze, die sich leicht übersetzen lassen.

Kurze Beschreibungen sind auch sinnvoll für den Fall einer Ausschreibung im SIS durch das nationale SIRENE-Büro.

Nehmen Sie eine rechtliche Würdigung der Straftat vor (gegen welche Rechtsnorm im Strafgesetzbuch wurde verstoßen). Der Wortlaut der einschlägigen Rechtsnormen braucht jedoch nicht in den EuHb aufgenommen zu werden. Dies verursacht nur unnötigen Übersetzungsaufwand.

Ordnet die ausstellende Justizbehörde die Tat einer der in der Liste der 32 unten aufgeführten Straftaten zu und ist die Tat mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht, ist das entsprechende Kästchen in der Liste anzukreuzen.

Es empfiehlt sich, nach Möglichkeit ein Formblatt pro Haftbefehl und Person zu verwenden. Betrifft dieser mehrere Straftaten, sollte klar gekennzeichnet werden (z. B. durch Zusatz von „Straftat 1“, „Straftat 2“, „Straftat 3“ usw.), welches Kreuz sich auf welche Straftat bezieht (siehe insbesondere Kasten b)). Beachten Sie, dass in das SIS nur eine Ausschreibung zur Festnahme eingegeben werden kann. Der Ausschreibung zur Festnahme kann allerdings auch mehr als ein EuHb beigefügt werden.

Hat ein Mitgliedstaat mehrere EuHb für ein und dieselbe Person ausgestellt, so stehen diese nicht in Konkurrenz zueinander.

e)

Straftaten:

Dieser Haftbefehl bezieht sich auf insgesamt … Straftaten.

Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat(en) begangen wurde(n), einschließlich Tatzeit (Datum und Uhrzeit), Tatort und Art der Beteiligung der gesuchten Person an der(n) Straftat(en): Kommentar: Wenn es beispielsweise um drei Straftaten geht, sollten zum besseren Verständnis die Beschreibungen mit 1, 2 und 3 durchnummeriert werden. Verwenden Sie kurze Sätze, aber seien Sie in der Darstellung des Sachverhalts vollständig und präzise.

Art und rechtliche Würdigung der Straftat(en) und anwendbare gesetzliche Bestimmungen:

Kommentar: Ordnen Sie die Straftat rechtlich ein und geben Sie an, gegen welche Rechtsnorm damit verstoßen wird.

I.

Bitte kreuzen Sie gegebenenfalls an, ob es sich um eine oder mehrere der folgenden – nach dem Recht des Ausstellungsstaats definierten – Straftaten handelt, die im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind:

Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung;

Terrorismus;

Menschenhandel;

sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornografie;

illegaler Handel mit Drogen und psychotropen Stoffen;

illegaler Handel mit Waffen; Munition und Sprengstoffen;

Korruption;

Betrugsdelikte, einschließlich Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften im Sinne des Übereinkommens vom 26. Juli 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften;

Wäsche von Erträgen aus Straftaten;

Geldfälschung einschließlich der Euro-Fälschung;

Cyberkriminalität;

Umweltkriminalität, einschließlich illegalen Handels mit bedrohten Tierarten oder mit bedrohten Pflanzen- und Baumarten;

Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt;

vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung;

illegaler Handel mit Organen und menschlichem Gewebe;

Entführung, Freiheitsberaubung und Geiselnahme;

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit;

Diebstahl in organisierter Form oder schwerer Raub;

illegaler Handel mit Kulturgütern, einschließlich Antiquitäten und Kunstgegenständen;

Betrug;

Erpressung und Schutzgelderpressung;

Nachahmung und Produktpiraterie;

Fälschung von amtlichen Dokumenten und Handel damit;

Fälschung von Zahlungsmitteln;

illegaler Handel mit Hormonen und anderen Wachstumsförderern;

illegaler Handel mit nuklearen und radioaktiven Substanzen;

Handel mit gestohlenen Kraftfahrzeugen;

Vergewaltigung;

Brandstiftung;

Verbrechen, die in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fallen;

Flugzeug-/Schiffsentführung;

Sabotage.

II.

Vollständige Beschreibung der Straftat oder der Straftaten, die nicht unter die Fälle nach Abschnitt I fallen: Kommentar: Alles bereits oben unter e) Vermerkte sollte nicht mehr in Abschnitt II wiederholt werden. Außer einer vollständigen Beschreibung sind keine weiteren Informationen zum innerstaatlichen Recht nötig.

Wurden die Tatumstände bereits oben erläutert, erübrigt sich eine erneute Schilderung. Sind die Tatumstände eindeutig beschrieben, bitte keine Rechtsnormen beifügen. Diese Rubrik ist nur auszufüllen, wenn die beiderseitige Strafbarkeit gegeben sein muss und Sie weitere Details zu den Tatumständen vermerken müssen, die vorstehend noch nicht aufgeführt sind. Ein Richter kann die beiderseitige Strafbarkeit auch prüfen, ohne den genauen Wortlaut der Rechtsnorm vor sich zu haben, vorausgesetzt, er kennt die genauen Umstände des Falls. Die Gerichte einiger Mitgliedstaaten verlangen allerdings Abschriften der Rechtsnorm.

.…

Kasten f)

Sonstige für den Fall relevante Umstände (fakultative Angaben)

Kommentar:

Dieser Abschnitt muss nicht ausgefüllt werden.

Er kann für Bemerkungen zur Extraterritorialität, zur Unterbrechung von Verjährungsfristen und zu sonstigen Folgen der Straftat verwendet werden. Normalerweise ist es nicht nötig, auf Unterbrechungen von Verjährungsfristen hinzuweisen; wenn allerdings die Straftat schon sehr weit zurückliegt, kann ein solcher Hinweis nützlich sein.

An dieser Stelle können auch Angaben gemacht werden, wenn besondere Vorkehrungen bezüglich der Vollstreckung des EuHb zu treffen sind und zusätzliche Informationen – neben der Möglichkeit der direkten Kontaktaufnahme – die Vollstreckung des EuHb erleichtern können, zum Beispiel:

Hinweis auf etwaige Beschränkungen der Kontakte zu Dritten nach der Festnahme oder auf die Gefahr der Vernichtung von Beweismitteln oder das Risiko einer erneuten Straffälligkeit.

Aufzählung von Umständen, die es gemäß Rahmenbeschluss 2008/909/JI wahrscheinlich machen, dass die gesuchte Person die Voraussetzungen erfüllt, um gemäß Artikel 5 Absatz 3 des EuHb-Rahmenbeschlusses zur Verbüßung der Freiheitsstrafe in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt zu werden (z. B. weil sie im Vollstreckungsmitgliedstaat wohnhaft ist, dort arbeitet oder familiäre Bindungen hat usw.).

Ersuchen um Zustimmung nach Artikel 27 Absatz 4 des EuHb-Rahmenbeschlusses.

Andere Ersuchen um justizielle Zusammenarbeit, etwa zur gleichzeitigen Ausführung einer Europäischen Ermittlungsanordnung.

Bezug zu anderen EuHb.

Etwaige Vereinbarungen zwischen den ausstellenden Justizbehörden im Falle konkurrierender EuHb (vor allem solche, die bei Eurojust-Koordinierungssitzungen getroffen wurden), damit die vollstreckende Justizbehörde sofort im Bilde ist und sie berücksichtigen kann.

Angaben gemäß Richtlinie 2013/48/EU zum Rechtsbeistand im Ausstellungsmitgliedstaat, der den Rechtsbeistand im Vollstreckungsmitgliedstaat unterstützen kann (Wahl- oder Pflichtverteidiger).

Informationen über etwaige vorausgegangene Überwachungsmaßnahmen gemäß Artikel 22 des Rahmenbeschlusses 2009/829/JI (Verstoß gegen die Überwachungsmaßnahmen).

f)

Sonstige für den Fall relevante Umstände (fakultative Angaben):

(Hinweis: Hierunter könnten Bemerkungen zur Extraterritorialität, zur Unterbrechung der Verjährungsfristen und zu sonstigen Folgen der Straftat fallen).

Kasten g)

Beschlagnahme

Kommentar:

Vorgerichtliches Stadium (Ausstellung des EuHb zum Zwecke der Strafverfolgung)

Kurze Beschreibung des gesuchten Gegenstands (z. B. Mobiltelefon, Laptop, Computer, Tablet, Waffe, Identitäts-/Reisedokument usw.). Falls Sie hiervon keinen Gebrauch machen möchten, tragen Sie bitte „entfällt“ ein.

Beschreiben Sie beispielsweise die Waffe, deren Beschlagnahme erbeten wird.

Machen Sie gegebenenfalls Angaben zu einer gesondert ausgefertigten Europäischen Ermittlungsanordnung oder einer Sicherstellungsentscheidung.

Kasten g) betrifft nicht die „persönliche Habe“. Geben Sie alles an, was als Beweismittel herangezogen werden kann, z. B. Laptop, persönliche Unterlagen oder Mobiltelefone, damit die Beschlagnahme der Gegenstände erfolgen kann.

g)

Dieser Haftbefehl betrifft auch die Beschlagnahme und Übergabe von Gegenständen, die als Beweisstücke dienen können.

Dieser Haftbefehl betrifft auch die Beschlagnahme und Übergabe von Gegenständen, die die gesuchte Person aus der Straftat erlangt hat.

Beschreibung (und Lokalisierung) der Gegenstände (falls bekannt):

Kasten h)

Kommentar:

Die Gedankenstriche wurden in Kästchen umgewandelt – bitte Zutreffendes ankreuzen. Falls das Gesetz keine lebenslange Freiheitsstrafe kennt, bitte „entfällt“ eintragen.

Vorgerichtliches Stadium (Ausstellung des EuHb zum Zwecke der Strafverfolgung)

Bitte ankreuzen, falls zutreffend.

Nachgerichtliches Stadium (Ausstellung des EuHb zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe/eines Abwesenheitsurteils)

Bitte ankreuzen, falls zutreffend.

h)

Die Straftat/Straftaten, aufgrund deren dieser Haftbefehl ausgestellt wurde, ist/sind mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe oder einer lebenslangen Maßregel der Sicherung bedroht oder hat/haben zur Verhängung einer solchen Strafe bzw. Maßregel geführt:

Nach der Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats kann die verhängte Strafe – auf Antrag oder nach mindestens 20 Jahren – daraufhin überprüft werden, ob die Vollstreckung dieser Strafe oder Maßregel auszusetzen ist,

und/oder

nach der Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats können Gnadenakte, auf die die Person nach dem innerstaatlichen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsmitgliedstaats Anspruch hat, mit dem Ziel der Nichtvollstreckung dieser Strafe oder Maßregel angewandt werden.

Kasten i)

Angaben zur ausstellenden Justizbehörde

Kommentar:

Name ihres Vertreters: Bezugnahme auf den „Inhaber“ der richterlichen Gewalt in den jeweiligen Sprachfassungen.

Geben Sie die Anschrift der ausstellenden Justizbehörde an.

Geben Sie Telefonnummer, Fax-Nummer und E-Mail-Adresse der ausstellenden Justizbehörde an, vorzugsweise solche, unter denen die Behörde rund um die Uhr erreichbar ist.

Kontaktangaben für die praktische Abwicklung: Geben Sie nach Möglichkeit Namen und Kontaktdaten eines Justizbeamten an, der eine einschlägige Fremdsprache beherrscht.

i)

Justizbehörde, die den Haftbefehl ausgestellt hat:

Offizielle Bezeichnung: …

Name ihres Vertreters: …

Funktion (Titel/Dienstrang): …

Aktenzeichen: …

Anschrift: …

Telefonnummer: (Ländervorwahl) (Ortsnetzkennzahl) (...) …

Fax-Nr.: (Ländervorwahl) (Ortsnetzkennzahl) (...) …

E-Mail-Adresse: Kommentar: Geben Sie eine offizielle E-Mail-Adresse an, deren Mailbox häufig abgefragt wird …

Kontaktadresse der Person, die die erforderlichen praktischen Vorkehrungen für die Übergabe treffen kann: …

Kontaktadresse der zentralen Behörde

Im Fall der Benennung einer zentralen Behörde für die Übermittlung und administrative Entgegennahme von Europäischen Haftbefehlen:

Bezeichnung der zentralen Behörde:…

Ggf. zu kontaktierende Person (Titel/Dienstrang und Name):…

Anschrift: …

Telefonnummer: (Ländervorwahl) (Ortsnetzkennzahl) (...)…

Fax-Nr.: (Ländervorwahl) (Ortsnetzkennzahl) (...)…

E-Mail-Adresse: …

Unterschrift der ausstellenden Justizbehörde und nähere Angaben zu der Behörde

Kommentar:

Dies kann die Justizbehörde sein oder beispielsweise ein Urkundsbeamter, der im Namen des Gerichts unterschreibt.

Unterschrift der ausstellenden Justizbehörde und/oder ihres Vertreters:

Name:

Funktion (Titel/Dienstrang):…

Datum:…

(ggf.) amtlicher Stempel Kommentar: Gemeint ist das Dienstsiegel, das die ausstellende Justizbehörde kraft Gesetzes führen darf. Bitte stets anbringen, falls vorhanden.


ANHANG IV

Sprachen, in denen ein euhb von den mitgliedstaaten akzeptiert wird

Gemäß Artikel 8 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses haben die Mitgliedstaaten die folgenden Angaben bezüglich der Sprachen, in denen ein EuHb akzeptiert wird, gemacht:

Österreich:

Deutsch sowie jede andere Sprache nach dem Gegenseitigkeitsprinzip (d. h. ein EuHb wird in der Amtssprache eines Mitgliedstaats entgegengenommen, wenn dieser umgekehrt einen von einer österreichischen Justizbehörde in deutscher Sprache ausgestellten EuHb akzeptiert).

Belgien:

Französisch/Niederländisch/Deutsch

Bulgarien:

Bulgarisch

Kroatien:

Kroatisch, in dringenden Fällen wird auch Englisch unter der Bedingung der Gegenseitigkeit akzeptiert.

Zypern:

Griechisch/Türkisch/Englisch

Tschechische Republik:

Tschechisch; von der Slowakischen Republik akzeptiert die Tschechische Republik einen EuHb auf Slowakisch oder mit beigefügter slowakischer Übersetzung und von Österreich einen EuHb in deutscher Sprache.

Dänemark:

Dänisch/Englisch/Schwedisch

Estland:

Estnisch/Englisch

Finnland:

Finnisch/Schwedisch/Englisch

Frankreich:

Französisch

Deutschland:

Deutschland verfährt nach dem Gegenseitigkeitsprinzip (d. h. ein EuHb wird in der Amtssprache eines Mitgliedstaats entgegengenommen, wenn dieser umgekehrt einen von einer deutschen Justizbehörde in deutscher Sprache ausgestellten EuHb akzeptiert).

Griechenland:

Griechisch

Ungarn:

Ungarisch oder eine ungarische Übersetzung des EuHb. Gegenüber Mitgliedstaaten, die einen EuHb nicht nur in ihrer oder einer ihrer Amtssprachen akzeptieren, nimmt Ungarn auch einen in englischer, französischer oder deutscher Sprache ausgestellten oder in eine dieser Sprachen übersetzten EuHb an.

Irland:

Irisch oder Englisch oder ggf. eine vom Justizministerium vorgegebene Sprache oder einen EuHb mit einer Übersetzung ins Irische oder Englische.

Italien:

Italienisch

Lettland:

Lettisch/Englisch

Litauen:

Litauisch/Englisch

Luxemburg:

Französisch/Deutsch/Englisch

Malta:

Maltesisch/Englisch

Niederlande:

Niederländisch, Englisch oder jede andere Amtssprache der Union bei gleichzeitiger Vorlage einer englischen Übersetzung.

Polen:

Polnisch

Portugal:

Portugiesisch

Rumänien:

Rumänisch/Französisch/Englisch

Slowakei:

Slowakisch oder aufgrund bestehender bilateraler Abkommen Deutsch im Verhältnis zu Österreich, Tschechisch im Verhältnis zur Tschechischen Republik und Polnisch im Verhältnis zu Polen.

Slowenien:

Slowenisch/Englisch

Spanien:

Spanisch. Wird ein EuHb im Wege einer SIS-Ausschreibung ausgestellt, so veranlasst die vollstreckende Justizbehörde ggf. eine Übersetzung ins Spanische.

Schweden:

Schwedisch/Dänisch/Norwegisch/Englisch oder eine Übersetzung in eine dieser Sprachen.


ANHANG V

Liste von urteilen des gerichtshofs zum euhb-rahmenbeschluss

 

C-303/05, Advocaten voor de Wereld (Urteil vom 3. Mai 2007)

 

C-66/08, Kozłowski (Urteil vom 17. Juli 2008)

 

C-296/08 PPU, Santesteban Goicoechea (Urteil vom 12. August 2008)

 

C-388/08 PPU, Leymann und Pustovarov (Urteil vom 1. Dezember 2008)

 

C-123/08, Wolzenburg (Urteil vom 6. Oktober 2009)

 

C-306/09, I.B. (Urteil vom 21. Oktober 2010)

 

C-261/09, Mantello (Urteil vom 16. November 2010)

 

C-192/12 PPU, West (Urteil vom 28. Juni 2012)

 

C-42/11, Lopes da Silva Jorge (Urteil vom 5. September 2012)

 

C-396/11, Radu (Urteil vom 29. Januar 2013)

 

C-399/11, Melloni (Urteil vom 26. Februar 2013)

 

C-168/13 PPU, Jeremy F. (Urteil vom 30. Mai 2013)

 

C-237/15 PPU, Lanigan (Urteil vom 16. Juli 2015)

 

C-463/15 PPU, A. (Beschluss vom 25. September 2015)

 

C-404/15 und C-659/15 PPU, verbundene Rechtssachen Aranyosi und Căldăraru (Urteil vom 5. April 2016)

 

C-108/16 PPU, Dworzecki (Urteil vom 24. Mai 2016)

 

C-241/15, Bob-Dogi (Urteil vom 1. Juni 2016)

 

C-294/16 PPU, JZ (Urteil vom 28. Juli 2016)

 

C-182/15, Petruhhin (Urteil vom 6. September 2016)

 

C-452/16 PPU, Poltorak (Urteil vom 10. November 2016)

 

C-477/16 PPU, Kovalkovas (Urteil vom 10. November 2016)

 

C-453/16 PPU, Özçelik (Urteil vom 10. November 2016)

 

C-640/15, Vilkas (Urteil vom 25. Januar 2017)

 

C-579/15, Popławski I (Urteil vom 29. Juni 2017)

 

C-270/17 PPU, Tupikas (Urteil vom 10. August 2017)

 

C-271/17 PPU, Zdziaszek (Urteil vom 10. August 2017)

 

C-473/15, Schotthöfer und Steiner (Beschluss vom 6. September 2017)

 

C-571/17 PPU, Ardic (Urteil vom 22. Dezember 2017)

 

C-367/16, Piotrowski (Urteil vom 23. Januar 2018)

 

C-191/16, Pisciotti (Urteil vom 10. April 2018)

 

C-213/17, X (Urteil vom 5. Juli 2018)

 

C-268/17, AY (Urteil vom 25. Juli 2018)

 

C-216/18 PPU, LM (Urteil vom 25. Juli 2018)

 

C-220/18 PPU, ML (Urteil vom 25. Juli 2018)

 

C-327/18 PPU, RO (Urteil vom 19. September 2018)

 

C-247/17, Raugevicius (Urteil vom 13. November 2018)

 

C-551/18 PPU, IK (Urteil vom 6. Dezember 2018)

 

C-514/17, Sut (Urteil vom 13. Dezember 2018)

 

C-492/18 PPU, TC (Urteil vom 12. Februar 2019)

 

C-508/18 und C-89/19 PPU, OG und PI (Urteil vom 27. Mai 2019)

 

C-509/18, PF (Urteil vom 27. Mai 2019)

 

C-573/17, Popławski II (Urteil vom 24. Juni 2019)

 

C-489/19 PPU, NJ (Urteil vom 9. Oktober 2019)

 

C-128/18, Dumitru-Tudor Dorobantu (Urteil vom 15. Oktober 2019)

 

C-566/19 PPU und C-626/19 PPU, JR und YC, verbundene Rechtssachen (Urteil vom 12. Dezember 2019)

 

C-625/19 PPU, XD (Urteil vom 12. Dezember 2019)

 

C-627/19 PPU, ZB (Urteil vom 12. Dezember 2019)

 

C-813/19 PPU, MN (Beschluss vom 21. Januar 2020)

 

C-717/18, X (Urteil vom 3. März 2020)

 

C-314/18, SF (Urteil vom 11. März 2020)

 

C-659/18, VW (Urteil vom 12. März 2020)

 

C-897/19 PPU, IN (Urteil vom 2. April 2020)

 

C-195/20 PPU, XC (Urteil vom 24. September 2020)

 

C-510/19, AZ (Urteil vom 24. November 2020)

 

C-398/19, BY (Urteil vom 17. Dezember 2020)

 

C-354/20 PPU und C-412/20 PPU, L und P, verbundene Rechtssachen (Urteil vom 17. Dezember 2020)

 

C-416/20 PPU, TR (Urteil vom 17. Dezember 2020)

 

C-414/20 PPU, MM (Urteil vom 13. Januar 2021)

 

C-649/19, IR (Urteil vom 28. Januar 2021)

 

C-488/19, JR (Urteil vom 17. März 2021)

 

C-648/20 PPU, PI (Urteil vom 10. März 2021)

 

C-665/20 PPU, X (Urteil vom 29. April 2021)

 

C-206/20, Staatsanwalt der Regionalstaatsanwaltschaft Ruse, Bulgarien (Beschluss vom 22. Juni 2021)

 

C-428/21 und C-429/21 PPU, HM und TZ (Urteil vom 26. Oktober 2021)

 

C-479/21 PPU, Governor of Cloverhill Prison u. a. (Urteil vom 16. November 2021)

 

C-562/21 PPU und C-563/21 PPU, Openbaar Ministerie (Tribunal établi par la loi dans l’État membre d’émission) (Urteil vom 22. Februar 2022)

 

C-804/21 PPU, C und CD (Urteil vom 28. April 2022)

 

C-105/21, Strafverfahren gegen IR (Urteil vom 30. Juni 2022)

 

C-480/21, W O und J L gegen Minister for Justice and Equality (Beschluss vom 12. Juli 2022)

 

C-168/21, Procureur général près la cour d’appel d’Angers (Urteil vom 14. Juli 2022)

 

C-492/22 PPU, CJ (Urteil vom 8. Dezember 2022)

 

C-237/21, Generalstaatsanwaltschaft München (Demande d’extradition vers la Bosnie-Herzégovine) (Urteil vom 22. Dezember 2022)

 

C-158/21, Gasparini u. a. (Urteil vom 31. Januar 2023)

 

C-514/21 und C-515/21, Minister for Justice and Equality (Levée du sursis) (Urteil vom 23. März 2023)

 

C-699/21, E. D. L. (Motif de refus fondé sur la maladie) (Urteil vom 18. April 2023)

 

C-700/21, O. G. (Mandat d’arrêt européen à l’encontre d’un ressortissant d‘un État tiers) (Urteil vom 6. Juni 2023)

Anhängig:

 

C-71/21, KT, Sofiyski gradski sad (Bulgarien)

 

C-105/21, Spetsializiran nakazatelen sad (Bulgarien)

 

C-168/21, Procureur général près la cour d’appel d’Angers

 

C-142/22, Minister for Justice and Equality (Demande de consentement – Effets du mandat d’arrêt européen initial)

 

C-261/22, GN (Motif de refus fondé sur l’intérêt supérieur de l’enfant)

 

C-305/22, C.J. Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel București

 

C-396/22, C-397/22 und C-398/22, Generalstaatsanwaltschaft Berlin

 

C-763/22, Procureur de la République

 

C-208/23 (PPU), Martiesta


ANHANG VI

Urteile des gerichtshofs zum grundsatz „ne bis in idem“ in strafsachen

 

C-187/01 und C-385/01, Gözütok und Brügge (Urteil vom 11. Februar 2003)

 

C-469/03, Miraglia (Urteil vom 10. März 2005)

 

C-436/04, Van Esbroeck (Urteil vom 9. März 2006)

 

C-150/05, Van Straaten (Urteil vom 28. September 2006)

 

C-467/04, Gasparini u. a. (Urteil vom 28. September 2006)

 

C-288/05, Kretzinger (Urteil vom 18. Juli 2007)

 

C-367/05, Kraaijenbrink (Urteil vom 18. Juli 2007)

 

C-297/07, Bourquain (Urteil vom 11. Dezember 2008)

 

C-491/07, Turanský (Urteil vom 22. Dezember 2008)

 

C-261/09, Mantello (Urteil vom 16. November 2010)

 

C-617/10, Åkerberg Fransson (Urteil vom 26. Februar 2013)

 

C-129/14 PPU, Spasic (Urteil vom 27. Mai 2014)

 

C-398/12, M. (Urteil vom 5. Juni 2014)

 

C-486/14, Kossowski (Urteil vom 29. Juni 2016)

 

C-217/15 und C-350/15 PPU, verbundene Rechtssachen Orsi und Baldetti (Urteil vom 5. April 2017)

 

C-524/15, Menci (Urteil vom 20. März 2018)

 

C-537/16, Garlsson Real Estate u. a. (Urteil vom 20. März 2018)

 

C-596/16 und C-597/16 PPU, verbundene Rechtssachen Di Puma und Zecca (Urteil vom 20. März 2018)

 

C-268/17, AY (Urteil vom 25. Juli 2018)

 

C-234/17, XC u. a. (Urteil vom 24. Oktober 2018)

 

C-505/19, Bundesrepublik Deutschland (Notice rouge d’Interpol) (Urteil vom 12. Mai 2021)

 

C-665/20 PPU, X (Urteil vom 29. April 2021)

 

C-203/20, AB u. a. (Urteil vom 16. Dezember 2021)

 

C-435/22 PPU, Generalstaatsanwaltschaft München (Urteil vom 28. Oktober 2022)

Anhängig:

 

C-726/21, Inter Consulting.

 

C-27/22, Volkswagen Group Italia und Volkswagen Aktiengesellschaft.

 

C-55/22, Bezirkshauptmannschaft Feldkirch.

 

C-58/22, Parchetul de pe lângă Curtea de Apel Craiova.

 

C-147/22, Központi Nyomozó Főügyészség.

 

C-164/22, Juan.

Zusammenfassungen dieser Fälle finden sich in der Zusammenstellung von Eurojust mit dem Titel „ Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Grundsatz ne bis in idem in Strafsachen “ (abrufbar unter www.eurojust.europa.eu).


ANHANG VII

Standardformular zu einer euhb-entscheidung

Dieses Formblatt ersetzt nicht die gemäß Artikel 22 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI zu übermittelnde Übergabeentscheidung und auch nicht – soweit zutreffend und von der Ausstellungsbehörde gefordert – den vollen Wortlaut der justiziellen Entscheidung über den Europäischen Haftbefehl.

I.

FESTSTELLUNG DES EuHB

Az. AUSSTELLUNG:

 

Az. VOLLSTRECKUNG:

 

Az. SIS:

 

AUSSTELLENDE BEHÖRDE:

 

DATUM DER AUSSTELLUNG:

 

VOLLSTRECKENDE BEHÖRDE:

 

GESUCHTE PERSON

 

STAATSANGEHÖRIGKEIT DER GESUCHTEN PERSON

 

 

 

II.

RECHTSKRÄFTIGE ENTSCHEIDUNG ÜBER DEN EuHB

Az. DER BEHÖRDE BZW. URTEIL ODER GERICHTSBESCHLUSS NR. VOM

-A-☐

VOLLSTRECKT:

ZUSTIMMUNG DER GESUCHTEN PERSON (Art. 13 EuHB-RB)

☐JA

VERICHT AUF DEN GRUNDSATZ DER SPEZIALITÄT (Art. 13 Abs. 2 EuHB-RB)

JA

NEIN

BEI TEILWEISER BEWILLIGUNG DER ÜBERGABE GEBEN SIE BITTE AN, FÜR WELCHE STRAFTATEN DER EUBH NICHT BEWILLIGT WIRD:

NEIN

IM VOLLSTRECKUNGSSTAAT VERBÜSSTE HAFT BIS ZUR ÜBERGABE (Art. 26 EuHB-RB)

HAFT

BEGINN (TAG/UHRZEIT DER FESTNAHME):

VERFAHREN IN ABWESENHEIT (Art. 4a EuHB-RB)

JA

ERNEUTE VORLADUNG

NEUVERHANDLUNG

KEINES VON BEIDEM ERFORDERLICH (Voraussetzungen des Art. 4a sind erfüllt)

ENDE (TAG/UHRZEIT DER ÜBERGABE):  (1)

KEINE

NEIN

GARANTIEN

(Art. 5 EuHB-RB)

ÜBERPRÜFUNG EINER LEBENSLANGEN FREIHEITSSTRAFE

(Art. 5 Abs. 2 EuHB-RB)

VERSCHIEBUNG

(Art. 24 Abs. 1 EuHB-RB)

JA

WEGEN STRAFVERFOLGUNG IM VOLLSTRECKUNGSMITGLIEDSTAAT

RÜCKÜBERSTELLUNG VON PERSONEN, DIE STAATSANGEHÖRIGE DES VOLLSTRECKUNGSMITGLIEDSTAATS ODER DORT WOHNHAFT SIND

(Art. 5 Abs. 3 EuHB-RB)

 

ZUR VERBÜSSUNG EINER STRAFE IM VOLLSTRECKUNGSMITGLIEDSTAAT

GESAMTDAUER DER VERHÄNGTEN STRAFE

 

☐NEIN

VORÜBERGEHENDE ÜBERGABE

☐NEIN ☐ JA

BIS (DATUM) (Art. 24 Abs. 2 EuHB-RB)

1.1.1.

ZWINGENDE ABLEHUNGSGRÜNDE:

1.1.2.

GRÜNDE NACH NATIONALEM RECHT:

GRUNDSATZ NE BIS IN IDEM (Art. 3 Abs. 2 EuHB-RB)

STRAFUNMÜNDIGKEIT (Art. 3 Abs. 3 EuHB-RB)

AMNESTIE (Art. 3 Abs. 1 EuHB-RB)

BITTE ANGEBEN:

III.

BEMERKUNGEN:

 

Ort, Datum und Unterschrift der zuständigen Behörde im Vollstreckungsmitgliedstaat

AN DIE ZUSTÄNDIGE BEHÖRDE IM VOLLSTRECKUNGSMITGLIEDSTAAT


(1)  Hier ist folgende Fußnote einzufügen: „Das Datum ist, sofern bekannt, von der Behörde auszufüllen, die die Person überstellt. Es kann auch von der Behörde ausgefüllt werden, an die die Person überstellt wird.“


ANHANG VIII

Liste der Mitgliedstaaten, deren Rechtsordnung die Übergabe wegen Straftaten erlaubt, die mit einem niedrigeren Strafmass bedroht sind als in Artikel 2 Absatz 1 des euhb-Rahmenbeschlusses angegeben, wenn diese taten das merkmal der akzessorietät zu der (den) Haupttat(en) erfüllen (1)

 

Tschechische Republik

 

Dänemark

 

Deutschland

 

Frankreich

 

Lettland

 

Litauen

 

Ungarn

 

Österreich

 

Slowenien

 

Slowakei

 

Finnland

 

Schweden


(1)  Die Liste basiert auf den Antworten von 20 Mitgliedstaaten auf einen Fragebogen der Kommission – sie spiegelt daher nicht unbedingt die Situation in allen Mitgliedstaaten wider. Der Liste ist zu entnehmen, in welchen Mitgliedstaaten eine Übergabe bei Teilnahme an einer Straftat prinzipiell möglich ist. Dies kann allerdings von verschiedenen Faktoren abhängig gemacht werden, etwa dem Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit oder auch dem Ermessen der vollstreckenden Justizbehörde im Einzelfall.


ANHANG IX

MUSTERBEISPIEL EINER RECHTSBELEHRUNG FÜR PERSONEN, DIE AUF DER GRUNDLAGE EINES EuHB FESTGENOMMENEN WERDEN

ANHANG II der Richtlinie 2012/13/EU über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren  (1)

Image 3

Musterbeispiel der Erklärung der Rechte für Personen, die auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls festgenommen wurden

Mit diesem Muster soll den nationalen Behörden lediglich eine Hilfestellung für die Abfassung ihrer Erklärung der Rechte auf nationaler Ebene gegeben werden. Die Mitgliedstaaten sind nicht an die Nutzung dieses Musters gebunden. Bei der Erstellung ihrer Erklärung der Rechte können die Mitgliedstaaten dieses Muster ändern, um es an ihre nationalen Bestimmungen anzupassen und weitere zweckdienliche Informationen hinzuzufügen.

A.   INFORMATIONEN ÜBER DEN EUROPÄISCHEN HAFTBEFEHL

Sie haben das Recht, über den Inhalt des Europäischen Haftbefehls, auf dessen Grundlage Sie festgenommen wurden, informiert zu werden.

B.   HINZUZIEHUNG EINES RECHTSANWALTS

Sie haben das Recht, vertraulich mit einem Rechtsanwalt zu sprechen. Ein Rechtsanwalt ist von der Polizei unabhängig. Wenn Sie Hilfe benötigen, um Kontakt mit einem Rechtsanwalt aufzunehmen, bitten Sie die Polizei um Unterstützung; die Polizei muss Ihnen behilflich sein. In manchen Fällen kann die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts unentgeltlich sein. Bitten Sie die Polizei um weitere Auskünfte.

C.   DOLMETSCHLEISTUNGEN UND ÜBERSETZUNGEN

Wenn Sie die Sprache, die von der Polizei oder anderen zuständigen Behörden verwendet wird, nicht sprechen oder nicht verstehen, haben Sie das Recht, kostenlos von einem Dolmetscher unterstützt zu werden. Der Dolmetscher kann Sie beim Gespräch mit Ihrem Rechtsanwalt unterstützen und muss den Inhalt dieses Gesprächs vertraulich behandeln. Sie haben das Recht auf eine Übersetzung des Europäischen Haftbefehls in eine Sprache, die Sie verstehen. Unter gewissen Umständen können Sie eine mündliche Übersetzung oder Zusammenfassung erhalten.

D.   MÖGLICHKEIT DER ZUSTIMMUNG

Sie können Ihrer Übergabe an den Staat, in dem Sie gesucht werden, zustimmen oder nicht. Ihre Zustimmung würde das Verfahren beschleunigen. [Möglicher Zusatz einiger Mitgliedstaaten: Es kann schwierig oder sogar unmöglich sein, diese Entscheidung zu einem späteren Zeitpunkt zu ändern.] Bitten Sie die Behörden oder Ihren Rechtsanwalt um weitere Informationen.

E.   ANHÖRUNG

Wenn Sie Ihrer Übergabe nicht zustimmen, haben Sie das Recht, von einer Justizbehörde gehört zu werden.


(1)   ABl. L 142 vom 1.6.2012, S. 1.


ANHANG X

MUSTER FÜR AUSKUNFTSERSUCHEN ZU DEN HAFTBEDINGUNGEN

Auskunftsersuchen zu Haftbedingungen gemäß Artikel 15 Absatz 2 des EuHb-Rahmenbeschlusses

Bitte machen Sie ergänzende Angaben zu den Haftbedingungen in den Gefängnissen, in denen die gesuchte Person voraussichtlich inhaftiert wird, auch wenn es sich um eine vorübergehende oder Übergangsmaßnahme handelt:

1.   Gefängniszellen

Mindestraum für Zellen mit Einzel- und Mehrfachbelegung (in m2)

Abmessungen der Zelle (Höhe und Breite)

Ausstattung (Heizung, Lüftung) und Einrichtungen (Beleuchtung, Fenster, Waschbecken, Toiletten, Dusche, Möbel) in der Zelle

Sauberkeit und hygienische Bedingungen in der Zelle

Videoüberwachung der Zellen

2.   Sanitäre Bedingungen

Zugang zu sanitären Einrichtungen (Häufigkeit)

Anforderungen an die bauliche Abtrennung von sanitären Einrichtungen innerhalb der Zelle

Hygienische Bedingungen (Desinfektion und Reinigung, Bereitstellung von Hygienemitteln für Häftlinge)

Zugang zu Dusch-/Badeanlagen und Warmwasser

3.   Zeit außerhalb der Zelle

Zeit pro Tag/Woche, die Häftlinge im Freien verbringen

Sportanlagen im Freien und in Innenräumen

Zeit pro Tag/Woche, die Häftlinge in Gemeinschaftsräumen verbringen

Aktivitäten/Programme, die Häftlingen außerhalb ihrer Zellen zur Verfügung stehen (Bildungs- und Freizeitaktivitäten)

4.   Einzelhaft

Standards für die Anwendung der Einzelhaft

Überwachung von Häftlingen in Einzelhaft

5.   Zugang zur Gesundheitsversorgung

Zugang zu medizinischer Versorgung und Notfallversorgung im Gefängnis

Zeitplan für medizinische Eingriffe

Verfügbarkeit von qualifiziertem medizinischem Personal und Pflegepersonal in Haftanstalten

Verfügbarkeit fachärztlicher Versorgung (z. B. bei Langzeiterkrankungen, kranken und älteren Häftlingen, psychischen Erkrankungen, Drogenabhängigkeiten)

Ärztliche Untersuchung bei der Ankunft in Hafteinrichtungen

Medizinische Behandlung nach eigener Wahl

6.   Schutzbedürftige Häftlinge

Besondere Maßnahmen für junge Häftlinge

Besondere Maßnahmen für Frauen in Haft

Besondere Maßnahmen für Schwangere

Besondere Maßnahmen für LGBTIQ±-Häftlinge

7.   Besondere Maßnahmen zum Schutz der Häftlinge vor Gewalt

Beaufsichtigung des Personals

Vorkehrungen zur Verhütung von Gewalt zwischen Häftlingen (Notrufknopf in Zellen, Videoüberwachung usw.)

Schulung des Wachpersonals

8.   Ernährung

Häufigkeit der Mahlzeiten

Allgemeine Ernährungsstandards

9.   Rechtsbehelfe

Rechtsbehelfe, die dem Häftling im Falle eines Verstoßes gegen nationale Standards in Bezug auf Haftbedingungen zur Verfügung stehen

Bitte machen Sie zusätzliche Angaben zu den Themen, für die die Kästchen angekreuzt wurden:

 


ANHANG XI

EMPFEHLUNG DER KOMMISSION

vom 8. Dezember 2022

zu den Verfahrensrechten von Verdächtigen oder Beschuldigten in Untersuchungshaft und zu den materiellen Haftbedingungen

DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 292,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)

Gemäß Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union sind die Werte, auf die sich die Union gründet, die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte von Personen, die Minderheiten angehören. Artikel 1, 4 und 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden die „Charta“) begründen die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die zu achten und zu schützen ist, das Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung und das Recht jedes Menschen auf Freiheit und Sicherheit. In den Artikeln 7 und 24 der Charta sind das Recht auf Familienleben und die Rechte des Kindes verankert. Nach Artikel 21 der Charta darf niemand diskriminiert werden. In den Artikeln 47 und 48 der Charta werden das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht sowie die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte anerkannt. Nach Artikel 52 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten sowie die Grundsätze der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit achten.

(2)

Die Mitgliedstaaten sind bereits durch die bestehenden Instrumente des Europarates zum Schutz der Menschenrechte und zum Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung rechtlich gebunden, insbesondere durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), die Protokolle zu dieser Konvention, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987. Alle Mitgliedstaaten sind ferner Vertragsparteien des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (UN-Antifolterkonvention).

(3)

Eine Reihe von nicht rechtsverbindlichen Instrumenten, die sich speziell mit den Rechten von Personen befassen, denen die Freiheit entzogen wurde, sind ebenfalls zu berücksichtigen, und zwar: Auf der Ebene der Vereinten Nationen, die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Häftlinge (Nelson-Mandela-Regeln), die Rahmenbestimmungen der Vereinten Nationen für nicht freiheitsentziehende Maßnahmen (Tokio-Regeln) sowie auf der Ebene des Europarates, die Empfehlung Rec(2006)2 über die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze, die Empfehlung Rec(2006)13 betreffend die Anwendung von Untersuchungshaft, die Bedingungen, unter denen sie vollzogen wird, und Schutzmaßnahmen gegen Missbrauch, die Empfehlung CM/Rec(2017)3 zu den Europäischen Grundsätzen für Sanktionen und Maßnahmen in der Gemeinschaft, die Empfehlung CM/Rec(2014)4 zur elektronischen Überwachung, die Empfehlung CM/Rec(2010)1 über die Europäischen Grundsätze der Bewährungshilfe und das Weißbuch zur Überbelegung von Gefängnissen.

(4)

Daneben bestehen Instrumente für spezifische Gruppen von Personen, denen die Freiheit entzogen wurde, und zwar: Auf der Ebene der Vereinten Nationen die Regeln der Vereinten Nationen für den Schutz von Jugendlichen, denen ihre Freiheit entzogen ist, und die Regeln der Vereinten Nationen für die Behandlung weiblicher Häftlinge und für nicht freiheitsentziehende Maßnahmen für weibliche Straffällige (Bangkok-Regeln), das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes (UNCRC); auf Ebene des Europarats die Empfehlung CM/Rec(2008)11 zu den europäischen Grundsätzen für die von Sanktionen und Maßnahmen betroffenen jugendlichen Straftäter und Straftäterinnen und die Empfehlung CM/Rec(2018)5 zu Kindern inhaftierter Eltern; die Empfehlung CM/Rec (2012)12 über ausländische Häftlinge sowie auf internationaler nichtstaatlicher Ebene die Prinzipien zur Anwendung internationaler Menschenrechtsnormen in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität (Yogyakarta-Prinzipien), die von der Internationalen Juristenkommission und dem International Service for Human Rights entwickelt wurden.

(5)

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seinem Urteil Aranyosi/Căldăraru und seiner Folgerechtsprechung zu diesem Urteil (1) die Bedeutung der Haftbedingungen im Kontext der gegenseitigen Anerkennung und der Durchführung des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl (2) anerkannt. Die Auswirkungen schlechter Haftbedingungen auf die Anwendung des Europäischen Haftbefehls wurden auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte behandelt (3).

(6)

In den Schlussfolgerungen des Rates vom Dezember 2018 über die Förderung der gegenseitigen Anerkennung durch Stärkung des gegenseitigen Vertrauens wurden die Mitgliedstaaten ermutigt, alternative Maßnahmen zur Haft zu nutzen, um die Population in ihren Hafteinrichtungen zu verringern, und auf diese Weise das Ziel der sozialen Wiedereingliederung zu fördern und auch die Tatsache zu thematisieren, dass gegenseitiges Vertrauen oft durch schlechte Haftbedingungen und das Problem überfüllter Gefängnisse erschwert wird (4).

(7)

In den Schlussfolgerungen des Rates vom Dezember 2019 zu Alternativen zum Freiheitsentzug haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, mehrere Maßnahmen im Bereich des Freiheitsentzugs auf nationaler Ebene zu ergreifen, wie beispielsweise alternative Maßnahmen zum Freiheitsentzug (5).

(8)

In den Schlussfolgerungen des Rates vom Juni 2019 zur Prävention und Bekämpfung der Radikalisierung in Haftanstalten und zum Umgang mit terroristischen und Gewaltbereiten extremistischen Straftätern nach der Haftentlassung wurden die Mitgliedstaaten dringend ersucht, wirksame Maßnahmen in diesem Bereich zu treffen (6).

(9)

Seit mehreren Jahren fordert das Europäische Parlament die Kommission auf, Maßnahmen zu ergreifen, um das Problem der materiellen Haftbedingungen anzugehen und sicherzustellen, dass die Untersuchungshaft eine unter Berücksichtigung der Unschuldsvermutung anzuwendende Ausnahme darstellt. Diese Forderung wurde im Bericht des Europäischen Parlaments über den Europäischen Haftbefehl wiederholt (7).

(10)

Auf Ersuchen der Kommission hat die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte eine von der Kommission finanzierte Datenbank zu Haftbedingungen entwickelt, die im Dezember 2019 in Betrieb genommen wurde und öffentlich zugänglich ist (8). Die Datenbank zu Haftbedingungen im Strafvollzug beinhaltet Informationen zu den Haftbedingungen in allen Mitgliedstaaten. Auf der Grundlage nationaler, internationaler und EU-Standards, der Rechtsprechung und von Beobachtungsberichten informiert sie über ausgewählte Kernaspekte der Haftbedingungen, darunter Größe der Zellen, Hygienebedingungen, Zugang zu medizinischer Versorgung und Schutz vor Gewalt.

(11)

Die verfügbaren Statistiken zum Europäischen Haftbefehl zeigen, dass die Mitgliedstaaten seit 2016 die Vollstreckung aus Gründen, die mit einer tatsächlichen Gefahr der Verletzung der Grundrechte zusammenhängen, wozu auch unzulängliche Haftbedingungen zählen, in 300 Fällen abgelehnt oder verzögert haben (9).

(12)

Die nationalen Justizbehörden ersuchten um nähere Leitlinien für den Umgang mit solchen Fällen. Die von den Rechtspraktikern aufgezeigten Probleme betreffen die fehlende Harmonisierung, die große Bandbreite und die mangelnde Klarheit der Standards für Haftbedingungen in der gesamten Union als eine Herausforderung für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (10).

(13)

Die Hälfte der Mitgliedstaaten, die der Kommission Statistiken über die Zahl der inhaftierten Personen vorgelegt haben, gaben an, dass sie ein Problem mit der Überlastung ihrer Hafteinrichtungen mit einer Belegungsrate von mehr als 100 Prozent haben. Die übermäßige oder unnötige Anwendung und Dauer der Untersuchungshaft trägt überdies zur Überlastung der Hafteinrichtungen bei, ein Phänomen, das eine Verbesserung der Haftbedingungen ernsthaft untergräbt.

(14)

Zwischen den Mitgliedstaaten bestehen erhebliche Unterschiede bei wichtigen Aspekten der Untersuchungshaft, beispielsweise der Anwendung der Untersuchungshaft als letztes Mittel und der Überprüfung von Entscheidungen, die im Ermittlungsverfahren ergehen (11). Auch die Höchstdauer der Untersuchungshaft ist von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden und reicht von weniger als einem Jahr bis zu mehr als fünf Jahren (12). Im Jahr 2020 lag die durchschnittliche Dauer der Untersuchungshaft in den verschiedenen Mitgliedstaaten zwischen zwei und dreizehn Monaten (13). Auch der Anteil der Untersuchungshäftlinge an der Gesamtpopulation der Gefängnisse ist von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat sehr verschieden und reicht von weniger als 10 % bis zu mehr als 40 % (14). Derart große Unterschiede sind in einem gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nicht zu rechtfertigen.

(15)

In den jüngsten Berichten des Ausschusses des Europarats zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe wird darauf hingewiesen, dass in einigen Mitgliedstaaten nach wie vor bestimmte schwerwiegende Probleme bestehen, wie Misshandlung, ungeeignete Hafteinrichtungen sowie das Fehlen sinnvoller Aktivitäten und einer angemessenen Gesundheitsversorgung.

(16)

Darüber hinaus stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weiterhin Verstöße einzelner Mitgliedstaaten gegen Artikel 3 oder 5 EMRK im Zusammenhang mit der Inhaftierung fest.

(17)

Angesichts der großen Zahl von Empfehlungen, die von internationalen Organisationen im Bereich der Inhaftierung entwickelt wurden, sind diese für einzelne Richter und Staatsanwälte in den Mitgliedstaaten, die die Haftbedingungen beurteilen müssen, bevor sie ihre Entscheidungen im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls oder auf nationaler Ebene treffen, möglicherweise nicht immer leicht zugänglich.

(18)

In der Union und insbesondere im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sind unionsspezifische Mindeststandards für die Inhaftierung erforderlich, die in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen gelten, um das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu stärken und die gegenseitige Anerkennung von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen zu erleichtern.

(19)

Um das Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Strafjustiz der jeweils anderen Mitgliedstaaten zu stärken und damit die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen zu verbessern wurden bereits sechs Maßnahmen zu Verfahrensrechten in Strafverfahren, und zwar die Richtlinien 2010/64/EU (15), 2012/13/EU (16), 2013/48/EU (17), (EU) 2016/343 (18), (EU) 2016/800 (19) und (EU) 2016/1919 (20) des Europäischen Parlaments und des Rates, sowie die Empfehlung der Kommission vom 27. November 2013 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte schutzbedürftige Personen (21) angenommen. Mit diesen Maßnahmen soll sichergestellt werden, dass die Verfahrensrechte verdächtiger oder beschuldigter Personen in Strafverfahren gewahrt werden, einschließlich in Fällen, in denen eine Untersuchungshaft angeordnet wird. Zu diesem Zweck enthalten diese Richtlinien besondere Verfahrensgarantien für Verdächtige und Beschuldigte, denen die Freiheit entzogen wird. Die Richtlinie (EU) 2016/800 enthält besondere Bestimmungen zu den Untersuchungshaftbedingungen für Kinder. Diese zielen darauf ab, das Wohlbefinden von Kindern zu schützen, die derartigen Zwangsmaßnahmen unterworfen werden. Es ist notwendig, die in diesen Richtlinien und der Empfehlung von 2013 festgelegten Standards für die Verfahrensrechte sowie – hinsichtlich der Richtlinie (EU) 2016/800 – die einschlägigen Standards für die materiellen Haftbedingungen für Kinder, die in Untersuchungshaft genommen werden, zu ergänzen.

(20)

Die Kommission ist bestrebt, die im Rahmen des Europarats festgelegten Mindeststandards sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu konsolidieren und darauf aufzubauen. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, einen Überblick über ausgewählte Mindeststandards für die Verfahrensrechte von Verdächtigen und Beschuldigten, die sich in Untersuchungshaft befinden, und für die materiellen Haftbedingungen in den wichtigsten Schwerpunktbereichen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten zu geben.

(21)

In Bezug auf die Verfahrensrechte von verdächtigen und beschuldigten Personen, die sich in Untersuchungshaft befinden, sollte diese Empfehlung Orientierungshilfen zu den wichtigsten Standards für die Anwendung der Untersuchungshaft als letztes Mittel und für Alternativen zum Freiheitsentzug, die Gründe für die Untersuchungshaft, die Anforderungen an die Entscheidungsfindung der Justizbehörden, die regelmäßige Überprüfung der Untersuchungshaft, die Anhörung von Verdächtigen oder Beschuldigten bei Entscheidungen über die Untersuchungshaft, den wirksamen Rechtsschutz und das Recht auf einen Rechtsbehelf, die Dauer der Untersuchungshaft und die Anerkennung der in der Untersuchungshaft verbrachten Zeit in Form der Anrechnung auf die rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe liefern.

(22)

In Bezug auf die materiellen Haftbedingungen sollten Orientierungshilfen zu den wichtigsten Standards in den Bereichen Unterbringung, Zuweisung der Häftlinge, Hygiene und sanitäre Einrichtungen, Ernährung, Haftbedingungen in Bezug auf Bewegung und Aktivitäten außerhalb der Zellen, Arbeit und Bildung, medizinische Versorgung, Verhütung von Gewalt und Misshandlung, Kontakt zur Außenwelt, Zugang zu einem Rechtsbeistand, Antrags- und Beschwerdeverfahren sowie Inspektionen und Überwachung gegeben werden. Darüber hinaus sollten Orientierungshilfen für den Schutz der Rechte von Personen bereitgestellt werden, für die der Freiheitsentzug eine besonders schutzbedürftige Situation darstellt, wie beispielsweise Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderungen oder schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen, LGBTIQ und ausländische Staatsangehörige, sowie für die Prävention von Radikalisierung in Gefängnissen.

(23)

Untersuchungshaft sollte lediglich als letztes Mittel unter Würdigung der Umstände des Einzelfalles eingesetzt werden. Es sollte ein möglichst breites Spektrum an weniger einschneidenden Maßnahmen als Alternative zum Freiheitsentzug (alternative Maßnahmen) verfügbar sein und angewendet werden, wo immer dies möglich ist. Die Mitgliedstaaten sollten ferner sicherstellen, dass Entscheidungen über die Untersuchungshaft nicht diskriminierend sind und nicht automatisch aufgrund bestimmter Merkmale der Verdächtigen und Beschuldigten, wie etwa der ausländischen Staatsangehörigkeit, getroffen werden.

(24)

Angemessene materielle Haftbedingungen sind von grundlegender Bedeutung für die Wahrung der Rechte und der Würde von Personen, denen die Freiheit entzogen ist, und zur Verhinderung von Verstößen gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Misshandlung).

(25)

Um angemessene Haftstandards zu gewährleisten, sollten die Mitgliedstaaten jedem Inhaftierten im Einklang mit den Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter (CPT) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein Mindestmaß an persönlichem Wohnraum zur Verfügung stellen.

(26)

Personen, denen die Freiheit entzogen ist, sind besonders der Gewalt und Misshandlung sowie der sozialen Isolation ausgesetzt. Um ihre Sicherheit zu gewährleisten und ihre soziale Wiedereingliederung zu unterstützen, sollten bei der Zuweisung und Trennung von Häftlingen die unterschiedlichen Haftbedingungen sowie die Notwendigkeit berücksichtigt werden, Häftlinge in besonders gefährdeten Situationen vor Missbrauch zu schützen.

(27)

Die Bewegungsfreiheit der Häftlinge innerhalb der Hafteinrichtung und ihr Zugang zu Bewegung, Außenbereichen, sinnvollen Aktivitäten und sozialen Kontakten sollten nicht unangemessen eingeschränkt werden, um ihre körperliche und psychische Gesundheit zu schützen und ihre soziale Wiedereingliederung zu fördern.

(28)

Opfer von Straftaten, die in der Haft begangen werden, haben oft nur begrenzten Zugang zur Justiz, obwohl die Staaten verpflichtet sind, wirksame Rechtsbehelfe für Fälle vorzusehen, in denen ihre Rechte verletzt wurden. Im Hinblick auf die Ziele der EU-Strategie für die Rechte von Opfern (2020–2025) wird den Mitgliedstaaten empfohlen, wirksame Rechtsbehelfe für Verletzungen der Rechte von Häftlingen sowie Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen zu gewährleisten. Rechtliche Unterstützung und Mechanismen zur Einreichung von Anträgen und Beschwerden sollten leicht zugänglich, vertraulich und effizient sein.

(29)

Die Mitgliedstaaten sollten die besonderen Bedürfnisse bestimmter Kategorien von Inhaftierten, einschließlich Frauen, Kindern, älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen oder schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen, LGBTIQ, Angehörigen einer ethnischen Minderheit und ausländischen Staatsangehörigen, bei allen Entscheidungen im Zusammenhang mit ihrer Inhaftierung berücksichtigen. Insbesondere bei der Inhaftierung von Kindern muss das Wohl des Kindes immer im Vordergrund stehen.

(30)

In Anbetracht des Risikos, das von terroristischen und gewalttätigen extremistischen Straftätern oder von solchen, die sich während ihrer Haft radikalisiert haben, ausgeht, und der Tatsache, dass eine Reihe dieser Straftäter innerhalb kurzer Zeit entlassen werden, sollten die Mitgliedstaaten wirksame Maßnahmen für terroristische und gewalttätige extremistische Straftäter ergreifen, um eine Radikalisierung in Gefängnissen zu verhindern und Rehabilitations- und Wiedereingliederungsstrategien umzusetzen.

(31)

Die vorliegende Empfehlung gibt nur einen Überblick über ausgewählte Standards und sollte unter dem Blickwinkel und unbeschadet der detaillierteren Leitlinien betrachtet werden, die in den Standards des Europarats und der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte enthalten sind. Sie lässt das bestehende Unionsrecht unberührt und stellt keinen Vorgriff auf seine künftige Entwicklung dar. Ferner ergeht sie vorbehaltlich der verbindlichen Auslegung des Unionsrechts, die dem Gerichtshof der Europäischen Union obliegt.

(32)

Diese Empfehlung sollte auch die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl (22) sowie die Anerkennung von Urteilen und die Vollstreckung von Sanktionen gemäß dem Rahmenbeschluss 2008/909/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird (23), erleichtern.

(33)

Diese Empfehlung achtet und fördert die Grundrechte, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Diese Empfehlung zielt insbesondere darauf ab, die Achtung der Menschenwürde, das Recht auf Freiheit, das Recht auf Familienleben, die Rechte des Kindes, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht sowie die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte zu fördern.

(34)

Die in dieser Empfehlung enthaltenen Bezugnahmen auf geeignete Maßnahmen zur Gewährleistung eines wirksamen Zugangs zur Justiz für Menschen mit Behinderungen sind im Lichte der Rechte und Pflichten aus dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu verstehen, das die Europäische Union und alle ihre Mitgliedstaaten unterzeichnet haben. Darüber hinaus sollte sichergestellt werden, dass Menschen mit Behinderungen, denen im Rahmen eines Strafverfahrens die Freiheit entzogen wird, gleichberechtigt mit anderen Anspruch auf Garantien im Einklang mit den völkerrechtlich verankerten Menschenrechtsnormen haben und im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen behandelt werden, unter anderem durch angemessene Vorkehrungen für besondere Bedürfnisse und Gewährleistung der Barrierefreiheit —

HAT FOLGENDE EMPFEHLUNG ABGEGEBEN:

ZWECK DER EMPFEHLUNG

(1)

Mit dieser Empfehlung werden den Mitgliedstaaten Orientierungshilfen für wirksame, geeignete und verhältnismäßige Maßnahmen zur Stärkung der Rechte aller Verdächtigen und Beschuldigten, denen im Rahmen eines Strafverfahrens die Freiheit entzogen ist, gegeben, und zwar sowohl in Bezug auf die Verfahrensrechte von Personen, die in Untersuchungshaft genommen werden, als auch in Bezug auf die materiellen Haftbedingungen, um sicherzustellen, dass Personen, denen die Freiheit entzogen wird, mit Würde behandelt werden, dass ihre Grundrechte gewahrt werden und dass ihnen die Freiheit nur als letztes Mittel entzogen wird.

(2)

Diese Empfehlung konsolidiert die im Rahmen bestehender politischer Maßnahmen auf nationaler, unionsweiter und internationaler Ebene festgelegten Standards für die Rechte von Personen, denen aufgrund eines Strafverfahrens die Freiheit entzogen wurde, die im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten von entscheidender Bedeutung sind.

(3)

Die Mitgliedstaaten können die in dieser Empfehlung enthaltenen Leitlinien ausweiten, um ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten. Ein höheres Schutzniveau sollte der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, die mit diesen Orientierungshilfen erleichtert werden soll, nicht entgegenstehen. Das Schutzniveau sollte nie unter den Standards der Charta und der EMRK in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegen.

BEGRIFFSBESTIMMUNGEN

(4)

Im Sinne dieser Empfehlung bezeichnet der Ausdruck „Untersuchungshaft“ jeden Zeitraum, den ein Verdächtiger oder Beschuldigter in einem Strafverfahren auf Anordnung einer Justizbehörde vor der Verurteilung in Haft verbringt. Nicht eingeschlossen ist die vorläufige Freiheitsentziehung durch die Polizei oder Strafverfolgungsbehörden (oder jede andere befugte Person) zum Zweck von Vernehmungen oder der Verwahrung der verdächtigten oder beschuldigten Person bis zur Entscheidung über die Untersuchungshaft.

(5)

Im Sinne dieser Empfehlung bezeichnet der Ausdruck „alternative Maßnahmen“ weniger einschneidende Maßnahmen als Alternative zur Haft.

(6)

Im Sinne dieser Empfehlung bezeichnet der Ausdruck „Häftling“ Personen, die in Untersuchungshaft genommen wurden, sowie verurteilte Personen, die eine Freiheitsstrafe verbüßen. Als „Hafteinrichtung“ werden Gefängnisse oder andere Einrichtungen zur Unterbringung von Häftlingen im Sinne dieser Empfehlung bezeichnet.

(7)

Im Sinne dieser Empfehlung bezeichnet der Ausdruck „Kind“ eine Person im Alter von unter 18 Jahren.

(8)

Im Sinne dieser Empfehlung bezeichnet der Ausdruck „junger Erwachsener“ eine Person im Alter von 18 bis 21 Jahren.

(9)

Im Sinne dieser Empfehlung sollte der Ausdruck „Menschen mit Behinderungen“ im Einklang mit Artikel 1 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen so verstanden werden, dass er Personen umfasst, die langfristige körperliche, psychische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.

GRUNDPRINZIPIEN

(10)

Die Mitgliedstaaten sollten Untersuchungshaft nur als letztes Mittel einsetzen. Alternative Maßnahmen zur Untersuchungshaft sollten vorgezogen werden, insbesondere wenn die Straftat nur mit einer kurzen Freiheitsstrafe geahndet wird oder wenn es sich bei dem Straftäter um ein Kind handelt.

(11)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Häftlinge mit Respekt und Würde und im Einklang mit den jeweiligen Verpflichtungen in Bezug auf die Menschenrechte behandelt werden, einschließlich des Verbots von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe gemäß Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

(12)

Den Mitgliedstaaten wird nahegelegt, den Freiheitsentzug so zu gestalten, dass die soziale Wiedereingliederung der Häftlinge erleichtert wird, um Rückfälle zu vermeiden.

(13)

Die Mitgliedstaaten sollten diese Empfehlung ohne Unterscheidung jeglicher Art, wie Rasse oder ethnische Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Behinderung, sexuelle Ausrichtung, Sprache, Religion, politische oder sonstige Anschauung, nationale oder soziale Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Status anwenden.

MINDESTSTANDARDS FÜR DIE VERFAHRENSRECHTE VON VERDÄCHTIGEN UND BESCHULDIGTEN, DIE SICH IN UNTERSUCHUNGSHAFT BEFINDEN

Untersuchungshaft als letztes Mittel und Alternativen zum Freiheitsentzug

(14)

Die Mitgliedstaaten sollten Untersuchungshaft nur dann anordnen, wenn dies unter Berücksichtigung der besonderen Umstände in jedem Einzelfall zwingend erforderlich ist und als letztes Mittel infrage kommt. Daher sollten die Mitgliedstaaten nach Möglichkeit alternative Maßnahmen anwenden.

(15)

Die Mitgliedstaaten sollten eine Vermutung zugunsten der Freilassung festlegen. Die Mitgliedstaaten sollten vorschreiben, dass die zuständigen nationalen Behörden die Beweislast für die Notwendigkeit der Verhängung der Untersuchungshaft tragen.

(16)

Um eine unangemessene Anordnung der Untersuchungshaft zu vermeiden, sollten die Mitgliedstaaten ein möglichst großes Spektrum an alternativen Maßnahmen zur Verfügung stellen, wie etwa die im Rahmenbeschluss 2009/829/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft genannten alternativen Maßnahmen (24).

(17)

Solche Maßnahmen können beispielsweise umfassen: a) Verpflichtungen, nach Bedarf vor einer Justizbehörde zu erscheinen, den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf nicht zu behindern und bestimmte Tätigkeiten zu unterlassen, auch wenn diese mit einem Beruf oder einem bestimmten Arbeitsverhältnis verbunden sind; b) Auflagen, sich täglich oder regelmäßig bei einer Justizbehörde, der Polizei oder einer anderen Behörde zu melden; c) Auflagen, die Überwachung durch eine von einer Justizbehörde bestimmten Stelle zu akzeptieren; d) Auflagen, sich einer elektronischen Überwachung zu unterziehen; e) Auflagen, sich an einer bestimmten Adresse aufzuhalten, sei es mit oder ohne Bestimmung der Zeiten, die dort zu verbringen sind; f) Auflagen, bestimmte Orte oder Regionen nicht ohne Erlaubnis zu verlassen oder aufzusuchen; g) Auflagen, bestimmte Personen nicht ohne Erlaubnis zu treffen; h) Auflagen, Pässe oder Ausweispapiere zu hinterlegen und i) Auflagen, finanzielle oder andere Sicherheiten durch Hinterlegung oder Bürgschaft zu leisten, um den Verlauf des Verfahrens zu garantieren.

(18)

Die Mitgliedstaaten sollten darüber hinaus vorschreiben, dass die Höhe der Sicherheitsleistung, die als Bedingung für die Freilassung festgelegt wird, in einem angemessenen Verhältnis zu den Mitteln des Verdächtigen oder Beschuldigten steht.

Begründeter Verdacht und Gründe für die Anordnung der Untersuchungshaft

(19)

Die Mitgliedstaaten sollten die Untersuchungshaft nur auf der Grundlage eines begründeten, durch eine sorgfältige Einzelfallprüfung ermittelten Verdachts verhängen, dass der Verdächtige die betreffende Straftat begangen hat, und die rechtlichen Gründe für die Untersuchungshaft auf Folgendes beschränken: a) Fluchtgefahr; b) Wiederholungsgefahr; c) Gefahr, dass die verdächtige oder beschuldigte Person die Tätigkeit der Justiz hindert; oder d) Gefahr der Bedrohung der öffentlichen Ordnung.

(20)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Feststellung einer Gefahr auf den jeweiligen Umständen des Einzelfalls beruht, insbesondere jedoch Folgendes berücksichtigt: a) die Art und Schwere der zur Last gelegten Straftat; b) die im Fall der Verurteilung drohende Strafe; c) das Alter, die Gesundheit, die Persönlichkeit, die Vorstrafen und die persönlichen und sozialen Verhältnisse der verdächtigen Person, insbesondere ihre sozialen Bindungen; und d) das Verhalten der verdächtigen Person, insbesondere die Art und Weise, in der sie die im Zusammenhang mit früheren Strafverfahren verhängten Auflagen erfüllt hat. Die Tatsache, dass die verdächtige Person nicht dem Staat angehört, in dem die Straftat mutmaßlich begangen wurde, oder keine weiteren Bindungen zu diesem Staat hat, darf als solche nicht ausreichen, um auf Fluchtgefahr zu schließen.

(21)

Den Mitgliedstaaten wird nahegelegt, die Untersuchungshaft nur bei Straftaten zu verhängen, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht sind.

Begründung von Entscheidungen über die Untersuchungshaft

(22)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass jede Entscheidung einer Justizbehörde über die Verhängung von Untersuchungshaft, die Verlängerung der Untersuchungshaft oder die Anordnung alternativer Maßnahmen hinreichend begründet und gerechtfertigt ist und auf die besonderen Umstände der verdächtigen oder beschuldigten Person Bezug nimmt, die ihre Inhaftierung rechtfertigen. Die betroffene Person sollte eine Kopie der Entscheidung erhalten, in der auch die Gründe genannt werden sollten, aus denen Alternativen zur Untersuchungshaft nicht als angemessen angesehen werden.

Überprüfung der Untersuchungshaft in regelmäßigen Abständen

(23)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Gründe für die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft eines Verdächtigen oder Beschuldigten in regelmäßigen Abständen von einer Justizbehörde überprüft werden. Sobald die Gründe für die Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen, muss gewährleistet sein, dass die verdächtige oder beschuldigte Person unverzüglich freigelassen wird.

(24)

Die Mitgliedstaaten sollten vorsehen, dass die regelmäßige Überprüfung von Entscheidungen über die Untersuchungshaft auf Antrag des Beschuldigten oder von Amts wegen durch eine Justizbehörde eingeleitet wird.

(25)

Die Mitgliedstaaten sollten den Abstand zwischen den Überprüfungen grundsätzlich auf höchstens einen Monat begrenzen, es sei denn, die verdächtige oder beschuldigte Person hat das Recht, jederzeit einen Antrag auf Freilassung zu stellen und eine Entscheidung über diesen Antrag ohne unangemessene Verzögerung zu erhalten.

Anhörung des Verdächtigen oder Beschuldigten

(26)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass ein Verdächtiger oder Beschuldigter persönlich oder durch einen Prozessvertreter im Rahmen einer kontradiktorischen mündlichen Verhandlung gehört wird, bevor die zuständige Justizbehörde eine Entscheidung über die Untersuchungshaft trifft. Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Entscheidungen über die Untersuchungshaft unverzüglich getroffen werden.

(27)

Die Mitgliedstaaten sollten das Recht des Verdächtigen oder Beschuldigten auf ein Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist wahren. Die Mitgliedstaaten sollten insbesondere dafür sorgen, dass Fälle, in denen Untersuchungshaft verhängt wurde, so schnell wie möglich und mit der gebotenen Sorgfalt bearbeitet werden.

Wirksamer Rechtsschutz und Recht auf einen Rechtsbehelf

(28)

Die Mitgliedstaaten sollten gewährleisten, dass Verdächtige oder Beschuldigte, denen die Freiheit entzogen ist, ein Gericht anrufen können, das für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung und gegebenenfalls für die Anordnung ihrer Freilassung zuständig ist.

(29)

Die Mitgliedstaaten sollten Verdächtigen oder Beschuldigten, gegen die eine Entscheidung über die Untersuchungshaft ergangen ist, das Recht einräumen, einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung einzulegen, und sie bei Erlass der Entscheidung über dieses Recht unterrichten.

Dauer der Untersuchungshaft

(30)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Dauer der Untersuchungshaft die für die betreffende Straftat zu verhängende Strafe nicht überschreitet und zu dieser in einem angemessenen Verhältnis steht.

(31)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Untersuchungshaft das Recht der betroffenen Person auf gerichtliche Beurteilung innerhalb angemessener Frist nicht verletzt.

(32)

Die Mitgliedstaaten sollten Fälle, in denen eine Person in Untersuchungshaft genommen worden ist, vorrangig bearbeiten.

Anrechnung der Untersuchungshaft auf die rechtskräftig verhängte Strafe

(33)

Die Mitgliedstaaten sollten die Zeit des Freiheitsentzugs vor der Verurteilung, auch wenn er in Form alternativer Maßnahmen vollzogen wurde, auf die Dauer der anschließend verhängten Freiheitsstrafe anrechnen.

MINDESTSTANDARDS FÜR DIE MATERIELLEN HAFTBEDINGUNGEN

Unterbringung

(34)

Die Mitgliedstaaten sollten jedem Häftling eine Mindestfläche von mindestens 6 m2 in Einzelzellen und 4 m2 in Mehrbettzellen zur Verfügung stellen. Die Mitgliedstaaten sollten jedenfalls gewährleisten, dass der jedem Häftling zur Verfügung stehende persönliche Bereich, auch in einer Mehrbettzelle, mindestens 3 m2 Fläche pro Person beträgt. Wenn die Fläche, die einem Häftling persönlich zur Verfügung steht, weniger als 3 m2 beträgt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ein Verstoß gegen Artikel 3 EMRK vorliegt. Bei der Berechnung der verfügbaren Fläche sollte die von Möbeln, nicht aber die von sanitären Anlagen belegte Fläche berücksichtigt werden.

(35)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass jede ausnahmsweise Unterschreitung der absoluten Mindestfläche von 3 m2 pro Häftling nur kurz anhält, gelegentlich und geringfügig ist und mit ausreichender Bewegungsfreiheit und angemessenen Aktivitäten außerhalb der Zelle einhergeht. Darüber hinaus sollten die Mitgliedstaaten in solchen Fällen sicherstellen, dass die allgemeinen Haftbedingungen in der Einrichtung angemessen sind und dass es keine anderen erschwerenden Faktoren für die Haftbedingungen der betreffenden Person gibt, beispielsweise andere Defizite bei den räumlichen Mindestanforderungen für Zellen oder sanitäre Einrichtungen.

(36)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Häftlinge in ihren Zellen Zugang zu natürlichem Licht und frischer Luft haben.

Zuweisung

(37)

Die Mitgliedstaaten sollten dafür Sorge tragen und im Fall von Kindern gewährleisten, dass die Häftlinge so weit wie möglich in Hafteinrichtungen in der Nähe ihres Wohnorts oder anderer für ihre soziale Wiedereingliederung geeigneter Orte eingewiesen werden.

(38)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Untersuchungshäftlinge getrennt von verurteilten Häftlingen untergebracht werden. Frauen sollten getrennt von Männern untergebracht werden. Kinder sollten von Erwachsenen getrennt untergebracht werden, es sei denn, dies dient dem Kindeswohl.

(39)

Die Mitgliedstaaten sollten die Möglichkeit vorsehen, dass inhaftierte Kinder, wenn sie das 18. Lebensjahr erreichen, und gegebenenfalls junge Erwachsene unter 21 Jahren, weiterhin getrennt von anderen inhaftierten Erwachsenen untergebracht werden, sofern dies unter Berücksichtigung der Umstände der betroffenen Person gerechtfertigt ist und mit dem Wohl der Kinder vereinbar ist, die mit dieser Person inhaftiert sind.

Hygienische und sanitäre Bedingungen

(40)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die sanitären Einrichtungen jederzeit zugänglich sind und die Intimsphäre der Häftlinge ausreichend schützen, u. a. durch räumliche Trennung von den Wohnbereichen in Mehrbettzellen.

(41)

Die Mitgliedstaaten sollten wirksame Maßnahmen zur Aufrechterhaltung guter Hygienestandards durch Desinfektion und Begasung festlegen. Die Mitgliedstaaten sollten darüber hinaus sicherstellen, dass den Häftlingen grundlegende Hygieneartikel, einschließlich hygienischer Handtücher, zur Verfügung gestellt werden und dass in den Zellen warmes und fließendes Wasser vorhanden ist.

(42)

Die Mitgliedstaaten sollten den Häftlingen angemessene saubere Kleidung und Bettzeug bereitstellen sowie die Mittel, um diese sauber zu halten.

Ernährung

(43)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass den Häftlingen Essen zur Verfügung steht, welches ihre Ernährungsbedürfnisse in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht deckt, und dass das Essen unter hygienischen Bedingungen zubereitet und ausgegeben wird. Ferner sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass den Häftlingen jederzeit sauberes Trinkwasser zur Verfügung steht.

(44)

Die Mitgliedstaaten sollten Häftlingen eine nährstoffreiche Nahrung zur Verfügung stellen, die ihrem Alter, ihrer Gesundheit, ihrem körperlichen Zustand, ihrer Religion und Kultur sowie der Art ihrer Arbeit Rechnung trägt.

Aufenthalt außerhalb der Zelle und im Freien

(45)

Die Mitgliedstaaten sollten Häftlingen die Möglichkeit geben, sich täglich mindestens eine Stunde im Freien zu bewegen, und zu diesem Zweck geräumige und geeignete Einrichtungen und entsprechende Geräte bereitstellen.

(46)

Die Mitgliedstaaten sollten es den Häftlingen gestatten, einen angemessenen Teil ihrer Zeit mit Arbeit, Ausbildung oder Freizeitbeschäftigung außerhalb ihrer Zelle zu verbringen, um ein ausreichendes Maß an menschlichen und sozialen Kontakten zu ermöglichen. Um einen Verstoß gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe zu verhindern, sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass alle Ausnahmen von dieser Regel im Zusammenhang mit besonderen Sicherheitsregelungen und -maßnahmen, einschließlich Einzelhaft, notwendig und verhältnismäßig sind.

Arbeit und Ausbildung von Häftlingen zur Förderung ihrer sozialen Wiedereingliederung

(47)

Die Mitgliedstaaten sollten in die soziale Wiedereingliederung von Häftlingen investieren und dabei deren individuelle Bedürfnisse berücksichtigen. Zu diesem Zweck sollten die Mitgliedstaaten bestrebt sein, vergütete und nützliche Arbeit anzubieten. Um die erfolgreiche Wiedereingliederung der Häftlinge in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt zu fördern, sollten die Mitgliedstaaten einer Arbeit den Vorzug geben, die mit einer beruflichen Ausbildung einhergeht.

(48)

Um die Häftlinge bei der Vorbereitung auf ihre Entlassung zu unterstützen und ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern, sollten die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass alle Häftlinge Zugang zu sicheren, integrativen und zugänglichen Bildungsprogrammen (einschließlich Fernunterricht) haben, die ihren individuellen Bedürfnissen entsprechen und gleichzeitig ihren Ambitionen Rechnung tragen.

Gesundheitsversorgung

(49)

Die Mitgliedstaaten sollten gewährleisten, dass Häftlinge rechtzeitig Zugang zu der medizinischen Unterstützung und psychologischen Betreuung haben, die sie zur Erhaltung ihrer körperlichen und psychischen Gesundheit benötigen. Zu diesem Zweck sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Gesundheitsversorgung in Hafteinrichtungen, einschließlich in Bezug auf die psychiatrische Behandlung, den gleichen Standards entspricht, die für das nationale öffentliche Gesundheitssystem gelten.

(50)

Die Mitgliedstaaten sollten für eine regelmäßige ärztliche Kontrolle sorgen und Impf- und Vorsorgeprogramme sowohl für übertragbare (HIV, Virushepatitis B und C, Tuberkulose und sexuell übertragbare Krankheiten) als auch für nicht übertragbare Krankheiten (insbesondere Krebsvorsorgeuntersuchungen) fördern, die bei Bedarf eine Diagnose und die Einleitung einer Behandlung nach sich ziehen. Programme zur Gesundheitserziehung können zur Verbesserung der Früherkennungsraten und der Gesundheitskompetenz beitragen. Insbesondere sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass der Behandlung von drogenabhängigen Häftlingen, der Vorbeugung und Behandlung von Infektionskrankheiten, der psychischen Gesundheit und der Suizidprävention besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.

(51)

Die Mitgliedstaaten sollten vorschreiben, dass zu Beginn eines Freiheitsentzugs und nach einer Überstellung unverzüglich eine ärztliche Untersuchung durchgeführt wird.

Verhütung von Gewalt und Misshandlung

(52)

Die Mitgliedstaaten sollten alle angemessenen Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit der Häftlinge zu gewährleisten und jede Form von Folter oder Misshandlung zu verhindern. Insbesondere sollten die Mitgliedstaaten alle angemessenen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Häftlinge nicht Opfer von Gewalt oder Misshandlung durch das Personal der Hafteinrichtung werden und dass sie unter Achtung ihrer Würde behandelt werden. Die Mitgliedstaaten sollten auch das Personal in der Hafteinrichtung und alle zuständigen Behörden dazu verpflichten, Häftlinge vor Gewalt oder Misshandlung durch andere Häftlinge zu schützen.

(53)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Erfüllung dieser Sorgfaltspflicht und jegliche Anwendung von Gewalt durch das Personal in der Hafteinrichtung kontrolliert werden.

Kontakt zur Außenwelt

(54)

Die Mitgliedstaaten sollten es Häftlingen gestatten, Besuche von ihren Familien und anderen Personen wie Rechtsbeiständen, Sozialarbeitern und Ärzten zu empfangen. Die Mitgliedstaaten sollten es den Häftlingen auch ermöglichen, mit diesen Personen uneingeschränkt brieflich und so oft wie möglich telefonisch oder in anderen Formen zu kommunizieren, einschließlich mit alternativen Kommunikationsmitteln für Menschen mit Behinderungen.

(55)

Die Mitgliedstaaten sollten geeignete Räumlichkeiten zur Verfügung stellen, um Familienbesuche unter kinderfreundlichen Bedingungen zu ermöglichen, die den Sicherheitsanforderungen genügen aber für Kinder weniger traumatisierend sind. Diese Besuche sollten so gestaltet sein, dass ein regulärer und effektiver Kontakt zwischen Familienmitgliedern gepflegt werden kann.

(56)

Die Mitgliedstaaten sollten in Erwägung ziehen, die Kommunikation auf digitalem Wege, beispielsweise Videoanrufe, zu ermöglichen, sodass die Häftlinge die Möglichkeit haben, den Kontakt zu ihren Familien aufrechtzuerhalten, sich um einen Arbeitsplatz zu bewerben, eine Ausbildung zu absolvieren oder eine Wohnung zur Vorbereitung auf die Entlassung zu suchen.

(57)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass in Fällen, in denen Häftlingen der Außenkontakt untersagt wird, eine derartig einschneidende Maßnahme unbedingt erforderlich und verhältnismäßig ist und nicht über einen längeren Zeitraum hinweg angewendet wird.

Rechtsbeistand

(58)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Häftlinge wirksamen Zugang zu einem Rechtsanwalt haben.

(59)

Die Mitgliedstaaten sollten die Vertraulichkeit von Treffen und anderen Formen des Kontakts der Häftlinge zu ihren Rechtsbeiständen wahren; dazu gehört auch der Schriftverkehr mit dem Anwalt.

(60)

Die Mitgliedstaaten sollten den Häftlingen Zugang zu Unterlagen über ihre Gerichtsverfahren gewähren oder ihnen gestatten, diese bei sich zu behalten.

Anträge und Beschwerden

(61)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass alle Häftlinge in klarer Weise über die in ihrer jeweiligen Hafteinrichtung geltenden Regeln unterrichtet werden.

(62)

Die Mitgliedstaaten sollten den effektiven Zugang zu einem Verfahren erleichtern, das es den Häftlingen ermöglicht, eine offizielle Beschwerde in Bezug auf Aspekte ihres Lebens in Haft einzulegen. Insbesondere sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Häftlinge vertrauliche Anträge und Beschwerden über ihre Behandlung sowohl über interne als auch externe Beschwerdemechanismen einlegen können.

(63)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Beschwerden von Häftlingen unverzüglich und sorgfältig von einer unabhängigen Behörde oder einem Gericht bearbeitet werden, die befugt sind, Abhilfemaßnahmen anzuordnen, insbesondere Maßnahmen zur Beendigung von Verstößen gegen das Verbot von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung.

Besondere Maßnahmen für Frauen und Mädchen

(64)

Die Mitgliedstaaten sollten bei Entscheidungen, die die Belange inhaftierter Frauen und Mädchen betreffen, ihre speziellen Bedürfnisse in körperlicher, beruflicher, sozialer und psychologischer Hinsicht sowie in Hinsicht auf Hygiene und Gesundheitsfürsorge berücksichtigen.

(65)

Die Mitgliedstaaten sollten es den Häftlingen gestatten, in einem Krankenhaus außerhalb der Hafteinrichtung zu entbinden. Wird ein Kind gleichwohl in einer Hafteinrichtung geboren, sollten die Mitgliedstaaten für die erforderliche Unterstützung und Ausstattung sorgen, um die Bindung zwischen Mutter und Kind zu schützen und ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden zu gewährleisten; dazu gehört eine angemessene Gesundheitsversorgung vor und nach der Geburt.

(66)

Die Mitgliedstaaten sollten es inhaftierten Eltern von Kleinkindern gestatten, diese in der Hafteinrichtung bei sich zu behalten, wenn dies dem Wohl des Kindes entspricht. Die Mitgliedstaaten sollten besondere Unterbringungsmöglichkeiten bereitstellen und alle angemessenen kinderfreundlichen Maßnahmen ergreifen, um die Gesundheit und das Wohlergehen der betroffenen Kinder während des gesamten Vollzugs sicherzustellen.

Besondere Maßnahmen für ausländische Staatsangehörige

(67)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass ausländische Staatsangehörige und andere Personen mit besonderen sprachlichen Bedürfnissen, denen die Freiheit entzogen ist, angemessenen Zugang zu professionellen Dolmetschdiensten und Übersetzungen von Unterlagen in einer Sprache haben, die sie verstehen.

(68)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass ausländische Staatsangehörige unverzüglich über ihr Recht informiert werden, den Kontakt mit der diplomatischen oder konsularischen Vertretung ihres Herkunftslandes zu verlangen, und dass ihnen hierzu angemessene Kommunikationsmöglichkeiten eingeräumt werden.

(69)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Informationen über rechtliche Unterstützung erteilt werden.

(70)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass ausländische Staatsangehörige über die Möglichkeit informiert werden, die Übertragung der Vollstreckung ihrer Strafe oder einer Überwachungsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren auf das Land ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres ständigen Aufenthalts zu beantragen, beispielsweise nach den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird (25), oder des Rahmenbeschlusses 2009/829/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft (26).

Besondere Maßnahmen für Kinder und junge Erwachsene

(71)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass bei allen Fragen im Zusammenhang mit der Inhaftierung eines Kindes vorrangig auf das Wohl des Kindes abgestellt wird und dass seine besonderen Rechte und Bedürfnisse bei Entscheidungen, die Aspekte seiner Inhaftierung betreffen, berücksichtigt werden.

(72)

Die Mitgliedstaaten sollten ein angemessenes und multidisziplinäres Haftregime für Kinder vorsehen, das ihre Gesundheit und ihre körperliche, geistige und emotionale Entwicklung, ihr Recht auf Bildung und Ausbildung, die effektive und regelmäßige Ausübung ihres Rechts auf Familienleben und ihren Zugang zu Programmen, die ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft fördern, sicherstellt und achtet.

(73)

Disziplinarmaßnahmen jeder Art, einschließlich Einzelhaft, Zwangsmaßnahmen oder Anwendung von Gewalt, sollten unter strengen Gesichtspunkten der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit getroffen werden.

(74)

Den Mitgliedstaaten wird nahegelegt, den Jugendarrest gegebenenfalls auf junge Straftäter unter 21 Jahren anzuwenden.

Besondere Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen oder schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen

(75)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen oder andere Personen mit schweren gesundheitlichen Problemen eine angemessene Versorgung erhalten, die mit derjenigen des nationalen öffentlichen Gesundheitssystems vergleichbar ist und ihren besonderen Bedürfnissen entspricht. Insbesondere sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Personen, bei denen psychische Erkrankungen diagnostiziert werden, gegebenenfalls in spezialisierten Einrichtungen oder speziellen Abteilungen der Hafteinrichtung unter ärztlicher Aufsicht fachlich betreut werden, und dass bei Bedarf die Behandlung bei Häftlingen, die auf die Entlassung vorbereitet werden, fortgesetzt wird.

(76)

Die Mitgliedstaaten sollten besonders darauf achten, dass die materiellen Haftbedingungen und die Haftbedingungen für Häftlinge mit Behinderungen oder schweren gesundheitlichen Problemen den Bedürfnissen dieser Personen entsprechen und barrierefrei sind. Dies sollte auch die Bereitstellung geeigneter Aktivitäten für diese Häftlinge beinhalten.

Besondere Maßnahmen zum Schutz von sonstigen Häftlingen mit besonderen Bedürfnissen oder besonderer Schutzbedürftigkeit

(77)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Inhaftierung die Ausgrenzung von Personen aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung, ihrer ethnischen Herkunft, ihrer religiösen Überzeugungen oder aus anderen Gründen nicht weiter verschärft.

(78)

Die Mitgliedstaaten sollten alle angemessenen Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass Personen aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung, ihrer ethnischen Herkunft, ihrer religiösen Überzeugungen oder aus anderen Gründen vom Personal der Hafteinrichtung oder von anderen Häftlingen Gewalt angetan wird oder sie andere Formen des Missbrauchs erfahren, beispielsweise physischen, psychischen oder sexuellen Missbrauch. Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass besondere Schutzmaßnahmen ergriffen werden, wenn die Gefahr einer solchen Gewalttätigkeit oder Misshandlung besteht.

Kontrollen und Überwachung

(79)

Die Mitgliedstaaten sollten regelmäßige Inspektionen durch eine unabhängige Behörde erleichtern, um zu bewerten, ob die Hafteinrichtungen im Einklang mit den Anforderungen des nationalen und internationalen Rechts verwaltet werden. Insbesondere sollten die Mitgliedstaaten den ungehinderten Zugang zum Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe sowie zum Netz der nationalen Präventionsmechanismen gewährleisten.

(80)

Die Mitgliedstaaten sollten den nationalen Parlamentsmitgliedern Zugang zu den Hafteinrichtungen gewähren und werden aufgefordert, den Mitgliedern des Europäischen Parlaments ebenfalls Zugang zu gewähren.

(81)

Die Mitgliedstaaten sollten auch in Erwägung ziehen, für Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger im Rahmen ihrer juristischen Ausbildung regelmäßige Besuche in Hafteinrichtungen und anderen Gewahrsamszentren zu organisieren.

Besondere Maßnahmen zur Bekämpfung von Radikalisierung in Gefängnissen

(82)

Den Mitgliedstaaten wird nahegelegt, eine erste Risikobewertung vorzunehmen, um die geeigneten Haftregelungen für Personen festzulegen, die terroristischer und gewalttätiger extremistischer Straftaten verdächtigt oder für schuldig befunden werden.

(83)

Auf der Grundlage dieser Risikobewertung können diese Häftlinge zusammen in einem separaten Terroristentrakt untergebracht oder auf die allgemeine Gefängnispopulation verteilt werden. Im letzteren Fall sollten die Mitgliedstaaten verhindern, dass diese Personen direkten Kontakt zu Häftlingen haben, die sich in einer besonders schutzbedürftigen Situation befinden.

(84)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Gefängnisverwaltung regelmäßig weitere Risikobewertungen vornimmt (zu Beginn der Haft, während der Haft und vor der Entlassung von Häftlingen, die terroristischer und gewalttätiger extremistischer Straftaten verdächtigt oder für schuldig befunden werden).

(85)

Den Mitgliedstaaten wird nahegelegt, allen Mitarbeitern Schulungsprogramme zur allgemeinen Sensibilisierung und dem Fachpersonal eine Schulung anzubieten, um Anzeichen von Radikalisierung frühzeitig zu erkennen. Die Mitgliedstaaten sollten auch in Erwägung ziehen, eine angemessene Anzahl gut ausgebildeter Gefängnisseelsorger bereitzustellen, die verschiedene Religionskreise vertreten.

(86)

Die Mitgliedstaaten sollten Maßnahmen ergreifen, die Wiedereingliederungs-, Deradikalisierungs- und Ausstiegsprogramme in der Hafteinrichtung zur Vorbereitung der Entlassung sowie Programme nach der Entlassung vorsehen, um die Wiedereingliederung von Häftlingen zu fördern, die wegen terroristischer und gewalttätiger extremistischer Straftaten verurteilt wurden.

ÜBERWACHUNG

(87)

Die Mitgliedstaaten sollten die Kommission innerhalb von 18 Monaten nach Verabschiedung dieser Empfehlung über ihre Folgemaßnahmen informieren. Auf der Grundlage dieser Informationen sollte die Kommission die von den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen überwachen und bewerten und dem Europäischen Parlament und dem Rat innerhalb von 24 Monaten nach ihrer Annahme einen Bericht vorlegen.

Brüssel, den 8. Dezember 2022.

Für die Kommission

Didier REYNDERS

Mitglied der Kommission


(1)  Urteil des Gerichtshofs vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198. Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft, C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589; und Urteil des Gerichtshofs vom 15. Oktober 2019, Dimitru-Tudor Dorobantu, C-128/18, ECLI:EU:C:2018:589.

(2)  Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1).

(3)  Bivolaru und Moldovan/Frankreich, Urteil vom 25. März 2021, 40324/16 und 12623/17.

(4)  https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-14540-2018-INIT/de/pdf

(5)  https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-14075-2019-INIT/en/pdf

(6)  https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-9727-2019-INIT/de/pdf

(7)  (2019/2207(INI)) angenommen am 20. Januar 2021.

(8)  Abrufbar unter https://fra.europa.eu/en/databases/criminal-detention.

(9)  Zeitraum 2016–2019. Siehe dazu: https://ec.europa.eu/info/publications/replies questionnaire-quantitative-information-practical-operation-european-arrest-warrant_en

(10)  Neunte Runde der gegenseitigen Begutachtungen und Schlussfolgerungen der hochrangigen Konferenz zum Europäischen Haftbefehl, die von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im September 2020 veranstaltet wurde.

(11)  Siehe Generaldirektion Justiz und Verbraucher, Rights of suspects and accused persons who are in pre-trial detention - exploratory study: final report, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, 2022, https://data.europa.eu/doi/10.2838/293366; Generaldirektion Justiz und Verbraucher, Rights of suspects and accused persons who are in pre-trial detention - exploratory study: Annex 2, Country fiches, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, 2022, https://data.europa.eu/doi/10.2838/184080

(12)  Weniger als ein Jahr in Österreich, Deutschland, Dänemark, Estland, Lettland, Schweden und der Slowakei; zwischen einem Jahr und zwei Jahren in Bulgarien, Griechenland, Litauen, Malta, Polen und Portugal; zwischen zwei und fünf Jahren in der Tschechischen Republik, Frankreich, Spanien, Kroatien und Ungarn; mehr als fünf Jahre in Italien und Rumänien; keine zeitliche Begrenzung in Belgien, Zypern, Finnland, Irland, Luxemburg und den Niederlanden.

(13)  Im Jahr 2020 von knapp zweieinhalb Monaten in Malta bis zu fast 13 Monaten in Slowenien. Durchschnitt je Mitgliedstaat: Österreich – 2,9 Monate, Bulgarien – 6,5 Monate, Tschechische Republik – 5,1 Monate, Estland – 4,7 Monate, Finnland – 3,7 Monate, Griechenland – 11,5 Monate, Ungarn – 12,3 Monate, Irland – 2,5 Monate, Italien – 6,5 Monate, Litauen – 2,8 Monate, Luxemburg – 5,2 Monate, Malta – 2,4 Monate, Niederlande – 3,7 Monate, Portugal – 11 Monate, Rumänien – 5,3 Monate, Slowakei – 3,9 Monate, Slowenien – 12,9 Monate, Spanien – 5,9 Monate. Für das Jahr 2020 lagen für Belgien, Dänemark, Frankreich, Lettland, Polen, Deutschland, Kroatien, Zypern und Schweden keine Daten vor.

(14)  Im Jahr 2019 unter 10 % in Bulgarien, der Tschechischen Republik und Rumänien und mehr als 45 % in Luxemburg.

(15)  Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. L 280 vom 26.10.2010, S. 1).

(16)  Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. L 142 vom 1.6.2012, S. 1).

(17)  Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. L 294 vom 6.11.2013, S. 1).

(18)  Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. L 65 vom 11.3.2016, S. 1).

(19)  Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind (ABl. L 132 vom 21.5.2016, S. 1).

(20)  Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (ABl. L 297 vom 4.11.2016, S. 1.).

(21)   ABl. C 378 vom 24.12.2013, S. 8.

(22)  Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1).

(23)  Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 (ABl. L 327 vom 5.12.2008, S. 27).

(24)  Rahmenbeschluss 2009/829/JI des Rates vom 23. Oktober 2009 (ABl. L 294 vom 11.11.2009, S. 20).

(25)  Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 (ABl. L 327 vom 5.12.2008, S. 27).

(26)  Rahmenbeschluss 2009/829/JI des Rates vom 23. Oktober 2009 (ABl. L 294 vom 11.11.2009, S. 20).


ANHANG XII

Bekanntmachung der Kommission – Leitlinien für die Auslieferung an Drittstaaten

II

(Mitteilungen)

MITTEILUNGEN DER ORGANE, EINRICHTUNGEN UND SONSTIGEN STELLEN DER EUROPÄISCHEN UNION

EUROPÄISCHE KOMMISSION

Bekanntmachung der Kommission – Leitlinien für die Auslieferung an Drittstaaten

(2022/C 223/01)

[Inhaltsverzeichnis]

Abkürzungsverzeichnis

Charta

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

SDÜ

Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen

ER

Europarat

Gerichtshof

Gerichtshof der Europäischen Union

EuHb

Europäischer Haftbefehl

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EWR

Europäischer Wirtschaftsraum

EEA

Europäische Ermittlungsanordnung

EJN

Europäisches Justizielles Netz

Eurojust

Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

Europol

Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung

EU-IS/NO-Haftbefehl

Haftbefehl, der nach Maßgabe des Übereinkommens zwischen der Europäischen Union und der Republik Island (IS) und dem Königreich Norwegen (NO) über das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Island und Norwegen erlassen wurde

Rahmenbeschuss über den EuHb

Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten

Interpol

Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation

MLA

Rechtshilfe

Staat

Die 27 EU-Mitgliedstaaten, Island und Norwegen

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Vereinigtes Königreich

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland

USA

Vereinigte Staaten von Amerika

Haftungsausschluss

Diese Leitlinien sind weder rechtsverbindlich noch erschöpfend. Sie haben keine Auswirkung auf das bestehende EU-Recht und seine künftige Entwicklung. Sie haben auch keine Auswirkung auf die verbindliche Auslegung des EU-Rechts durch den Gerichtshof der Europäischen Union.

EINLEITUNG

Auslieferungsverfahren zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten werden in erster Linie durch eine mehrschichtige Kombination verschiedener Rechtsgrundlagen geregelt: multilaterale Abkommen (z. B. Übereinkommen des Europarats (1)), bilaterale Abkommen (von der EU oder von Mitgliedstaaten geschlossen) und nationale Rechtsvorschriften.

Im Allgemeinen sehen Auslieferungsabkommen die Möglichkeit einer „Ausnahme eigener Staatsangehöriger“ vor, d. h. die Vertragsparteien können die Auslieferung ihrer eigenen Staatsangehörigen ablehnen.

Darüber hinaus beinhalten einige Abkommen, die eine Ausnahme eigener Staatsangehöriger vorsehen, dass die Vertragsparteien dem Grundsatz „aut dedere aut judicare“  (2) Rechnung tragen sollten, um der Straflosigkeit der eigenen Staatsangehörigen (3) entgegenzuwirken. Allgemein kann die Strafverfolgung eigener Staatsangehöriger eines Staates auf dem aktiven Täterprinzip beruhen und auf Straftaten angewendet werden, die von Staatsangehörigen außerhalb des Hoheitsgebiets einer Vertragspartei begangen werden.

Im Jahr 2016 führte der Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden „Gerichtshof“) im Urteil in der Rechtssache Petruhhin (4) spezifische Verpflichtungen für Inländer nicht ausliefernde Mitgliedstaaten ein, die diese bei einem Auslieferungsersuchen eines Drittstaats zur Strafverfolgung eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und von seinem Recht auf Freizügigkeit nach Artikel 21 Absatz 1 (5) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Gebrauch gemacht hat, beachten müssen. Das Urteil in der Rechtssache Petruhhin ist der erste Fall, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass ein EU-Mitgliedstaat, der mit einem Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betreffend einen Staatsangehörigen eines anderen EU-Mitgliedstaats befasst ist, verpflichtet ist, ein Konsultationsverfahren mit dem Mitgliedstaat einzuleiten, dessen Staatsangehörigkeit der betroffene Unionsbürger besitzt (den sogenannten „Petruhhin-Mechanismus“), mit dem diesem Staat die Möglichkeit eingeräumt wird, seine Staatsbürger mittels eines Europäischen Haftbefehls strafrechtlich zu verfolgen. Die den Mitgliedstaaten, die ihre eigenen Staatsangehörigen nicht ausliefern, auferlegten spezifischen Verpflichtungen, zielen darauf ab, die diskriminierungsfreie Behandlung von eigenen Staatsangehörigen und anderen EU-Bürgern zu gewährleisten (6). Die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten wurden in der späteren Rechtsprechung weiter präzisiert (7). Darüber hinaus weitete der Gerichtshof den Petruhhin-Mechanismus auf Island und Norwegen aus (8).

Am 4. Juni 2020 bat der Rat den Vorsitz, Eurojust und das Europäische Justizielle Netz (EJN) um die Analyse der Bearbeitung von Anträgen auf Auslieferung von Unionsbürgern durch Drittstaaten in der Praxis zu ersuchen. Auch sollten Vorschläge dazu im Hinblick auf die Ausarbeitung möglicher EU-Leitlinien durch die Kommission gemacht werden (9).

Eurojust und das EJN haben daraufhin im November 2020 einen gemeinsamen Bericht veröffentlicht (10). Zu den wichtigsten Herausforderungen, die in diesem Bericht ermittelt wurden, zählten:

Unsicherheit in Bezug darauf, welche Behörde im Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit zu kontaktieren ist, welcher Mitgliedstaat die Übersetzung veranlassen und die Kosten für diese tragen sollte, und/oder welches Instrument der justiziellen Zusammenarbeit sich am besten anwenden lässt, um die Strafverfolgung im Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit zu gewährleisten

Unterschiedliche Vorgehensweisen im Hinblick auf den Umfang der bereitgestellten Informationen, die für Antworten und Entscheidungen eingeräumten Fristen sowie die Arten von Bewertungen, die im Rahmen des Petruhhin-Mechanismus durchgeführt werden

Spannungen, die sich aufgrund der Pflichten aus dem EU-Recht einerseits und bilateralen und multilateralen Auslieferungsabkommen andererseits ergeben

Mehrere parallele Kanäle, die zur Unterrichtung und Übermittlung von Informationen genutzt werden, was häufig zu Doppelarbeit, Unsicherheit und Verwirrung führt

In der Folge verabschiedete der Rat im Dezember 2020 seine Schlussfolgerungen „Der Europäische Haftbefehl und Auslieferungsverfahren – aktuelle Herausforderungen und weiteres Vorgehen“  (11). In diesen Schlussfolgerungen wurde bekräftigt, dass „[n]ach den Urteilen des EuGH in der Rechtssache Petruhhin und mehreren späteren Entscheidungen (12) … die Mitgliedstaaten beim Umgang mit derartigen Ersuchen zwei Pflichten [haben]: zum einen die Pflicht, die nach internationalem Recht bestehenden Verpflichtungen zu erfüllen und die Gefahr zu vermeiden, dass die Straftat nicht geahndet wird, und zum anderen für die Mitgliedstaaten, die ihre eigenen Staatsangehörigen nicht ausliefern, die Pflicht gemäß den Grundsätzen der Freizügigkeit und dem Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten so wirksam wie möglich vor Maßnahmen zu schützen, mit denen ihnen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt in der EU vorenthalten wird.“

In dem Bericht von Eurojust und dem EJN werden weitere Probleme im Hinblick auf die Auslieferung angeführt. Der Rat betonte in seinen Schlussfolgerungen 2020: „Die praktischen Erfahrungen in verschiedenen Mitgliedstaaten zeigen, dass es Fälle gibt, in denen Drittländer unbegründete und missbräuchliche Auslieferungsersuchen stellen. Der Rat ersucht die Kommission, unter Berücksichtigung der Ergebnisse der von Eurojust und dem EJN erstellten Analyse zu prüfen, ob weitere Maßnahmen, wie etwa ein Vorschlag für ein gemeinsames Konzept für den Umgang mit potenziell missbräuchlichen – auch politisch motivierten – Fahndungs- und Auslieferungsersuchen von Drittstaaten, erforderlich sind. In diesem Zusammenhang sollten die bewährten Vorgehensweisen der Mitgliedstaaten berücksichtigt werden.“

Für den Zweck der Ausarbeitung der vorliegenden Leitlinien konsultierte die Kommission die Mitgliedstaaten über einen Fragebogen zu Auslieferungsersuchen von Drittstaaten. Die Kommission stellte ferner eine Tabelle der Auslieferungs- und Rechtshilfeabkommen zusammen, die die Mitgliedstaaten mit Drittstaaten geschlossen haben (abrufbar auf der Website des EJN). Im Juni und Oktober 2021 wurden die Ergebnisse des ausgewerteten Fragebogens in speziellen Sitzungen von Sachverständigen der Mitgliedstaaten erörtert. Die Kommission konsultierte auch verschiedene Interessenträger und Sachverständige, darunter Eurojust und das EJN.

In diesen Leitlinien wird die Rechtsprechung des Gerichtshofs zusammengefasst. Auch werden darin die Erfahrungen berücksichtigt, die in den letzten fünf Jahren bei der Anwendung des Petruhhin-Mechanismus innerhalb der EU, in Island und in Norwegen gesammelt wurden.

1.   ZUSAMMENFASSUNG DER RECHTSPRECHUNG DES GERICHTSHOFS

Auslieferungsersuchen können zum Zwecke der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung gestellt werden.

In Bezug auf die erste Kategorie – Auslieferungsersuchen, die zum Zwecke der Strafverfolgung gestellt werden – hat der Gerichtshof die sogenannte „Petruhhin-Doktrin“ entwickelt (13).

In Bezug auf die zweite Kategorie – Auslieferungsersuchen, die zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung gestellt werden – ist der einzige Referenzfall bisher das Urteil in der Rechtssache Raugevicius (14). Derzeit ist ein weiterer Fall vor dem Gerichtshof anhängig, in dem es um ein Auslieferungsersuchen zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe geht (15).

1.1.   Auslieferungsersuchen zum Zwecke der Strafverfolgung

Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15  (16)

Das Urteil in der Rechtssache Petruhhin ist der erste Fall, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass ein EU-Mitgliedstaat, der mit einem Auslieferungsersuchen eines Drittstaats in Bezug auf einen Staatsangehörigen eines anderen EU-Mitgliedstaats befasst ist, verpflichtet ist, ein Konsultationsverfahren mit dem Mitgliedstaat einzuleiten, dessen Staatsangehörigkeit der betroffene Unionsbürger besitzt, wodurch dieser Mitgliedstaat die Möglichkeit erhält, seinen Bürger mittels eines Europäischen Haftbefehls strafrechtlich zu verfolgen.

Sachverhalt

Der Fall betraf ein Ersuchen der russischen Behörden an Lettland, mit dem sie die Auslieferung eines estnischen Staatsangehörigen, Herrn Petruhhin, beantragten, der des versuchten bandenmäßigen Handels mit einer großen Menge von Betäubungsmitteln beschuldigt wurde. Die Generalstaatsanwaltschaft der Republik Lettland genehmigte die Auslieferung von Herrn Petruhhin an Russland. Herr Petruhhin beantragte jedoch die Aufhebung der Auslieferungsentscheidung mit der Begründung, dass er nach dem Übereinkommen über Rechtshilfe und die Rechtsbeziehungen zwischen der Republik Lettland, der Republik Estland und der Republik Litauen in Lettland die gleichen Rechte wie ein lettischer Staatsbürger habe, einschließlich des Schutzes vor einer ungerechtfertigten Auslieferung.

Die Vorlagefragen

Der Oberste Gerichtshof Lettlands fragte den Gerichtshof, ob für die Zwecke der Anwendung eines Auslieferungsabkommens zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat (Lettland und Russland) Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats im Hinblick auf den Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Artikel 18 AUEV und das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit und Aufenthalt nach Artikel 21 Absatz 1 AEUV in den Genuss der Vorschrift kommen müssen, die eine Auslieferung der eigenen Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedstaats verbietet. Ferner legte der Oberste Gerichtshof Lettlands dem Gerichtshof die Frage vor, ob der ersuchte Mitgliedstaat (d. h. der Mitgliedstaat, den ein Drittstaat um die Auslieferung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, in diesem Fall Lettland, ersucht) prüfen muss (und welche Kriterien gegebenenfalls bei dieser Prüfung heranzuziehen sind), dass die Auslieferung die durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (17) (im Folgenden „Charta“) verbürgten Rechte nicht beeinträchtigt.

Argumentation und Antwort des Gerichtshofs

In seiner Vorabentscheidung stellte der Gerichtshof klar, dass eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zwar grundsätzlich mangels eines internationalen Abkommens zwischen der Europäischen Union und dem betreffenden Drittland in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, dass aber eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende weiterhin in den Anwendungsbereich der Verträge im Sinne des Artikels 18 AEUV fällt, da sie die Ausübung des durch Artikel 21 AEUV verliehenen Rechts betrifft, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

Ein Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, jedem Unionsbürger, der sich in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats begeben hat, den gleichen Schutz vor Auslieferung zu gewähren, den er seinen eigenen Staatsangehörigen gewährt.

Mangels Unionsrechtsvorschriften über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten und einem Drittstaat ist es jedoch wichtig, alle Mechanismen der Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe, die es im Bereich des Strafrechts nach dem Unionsrecht gibt, anzuwenden, um der Gefahr der Straflosigkeit entgegenzuwirken und gleichzeitig die Unionsbürger vor Maßnahmen zu schützen, die ihnen das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht verwehren können. Somit muss dem Informationsaustausch mit dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene hat, der Vorzug gegeben werden, um den Behörden dieses Mitgliedstaats, sofern sie nach ihrem nationalen Recht für die Verfolgung dieser Person wegen im Ausland begangener Straftaten zuständig sind, Gelegenheit zu geben, einen Europäischen Haftbefehl zu Strafverfolgungszwecken zu erlassen. Arbeitet der Aufnahmemitgliedstaat auf diese Weise mit dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene hat, zusammen und räumt diesem etwaigen Europäischen Haftbefehl Vorrang vor dem Auslieferungsantrag ein, greift er weniger stark in die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit ein, wirkt aber zugleich im Rahmen des Möglichen der Gefahr der Straflosigkeit entgegen. Der Europäische Haftbefehl ist als ebenso wirksam wie die Auslieferung zu betrachten, wenn es darum geht, der Gefahr entgegenzuwirken, dass eine Person, die eine Straftat begangen haben soll, straflos bleibt.

Der Gerichtshof stellte auch fest, dass ein um eine Auslieferung ersuchter Mitgliedstaat dann, wenn dieser einen Antrag eines Drittstaats auf Auslieferung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats erhält, prüfen muss, dass die Auslieferung die in Artikel 19 der Charta verbürgten Rechte nicht beeinträchtigt (18). Sofern die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Personen im ersuchenden Drittstaat besteht, ist sie verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen, wenn sie über das Auslieferungsersuchen entscheidet. Dabei muss sich die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützen. Diese Angaben können sich u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, aus Entscheidungen von Gerichten des ersuchenden Drittstaats sowie aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder unter Federführung der Vereinten Nationen ergeben.

Beschluss des Gerichtshofs vom 6. September 2017, Schotthöfer & Steiner/Adelsmayr, C-473/15  (19)

Im Beschluss in der Rechtssache Schotthöfer & Steiner/Adelsmayr hat der Gerichtshof die Begründung des Urteils in der Rechtssache Petruhhin übernommen, wonach die Charta anwendbar ist, wenn ein Unionsbürger von seinem Recht auf Freizügigkeit in der Union Gebrauch gemacht hat, indem er sich vom Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit in einen anderen Mitgliedstaat begeben hat. Darüber hinaus hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaats von dem ersuchten Mitgliedstaat abzulehnen ist, wenn für diesen Unionsbürger im Fall der Auslieferung das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht.

Sachverhalt

Herr Adelsmayr hatte ab dem Jahr 2004 mehrere Jahre lang als Anästhesist und Intensivmediziner gearbeitet. Im Februar 2009 verstarb ein von Herrn Adelsmayr in den Vereinigten Arabischen Emiraten behandelter, schwer kranker Patient, der mehrere Herzstillstände erlitten hatte, nach einer Operation an einem weiteren Herzstillstand. Herrn Adelsmayr wurde dieser Todesfall vorgeworfen. Nach einer Beschwerde eines Arztes des Krankenhauses, in dem Herr Adelsmayr tätig war, wurde eine Untersuchung eingeleitet. Im Endbericht der Untersuchung wurden Mord und Totschlag festgestellt. Im Jahr 2011 begann ein Prozess in den Vereinigten Arabischen Emiraten, in dem die Staatsanwaltschaft die Todesstrafe für Herrn Adelsmayr forderte. Im Jahr 2012 reiste Herr Adelsmayr jedoch aus den Vereinigten Arabischen Emiraten aus. In seiner Abwesenheit wurde er in einem Provisorialverfahren zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das ursprüngliche Verfahren kann jederzeit wieder aufgenommen werden und zu einer Verurteilung des Betroffenen zur Todesstrafe führen.

Ein Strafverfahren gegen Herrn Adelsmayr wurde auch in Österreich – dem Land seiner Staatsangehörigkeit – eingeleitet, das dieselbe Anklage wie im Verfahren in den Vereinigten Arabischen Emiraten betraf. Dieses Verfahren wurde jedoch im Jahr 2014 von der österreichischen Staatsanwaltschaft eingestellt, und es wurde ausgeführt, dass „der Beklagte glaubhaft den Eindruck vermitteln konnte, dass es sich bei dem in Dubai angestrengten Verfahren mutmaßlich um eine Hetzkampagne gegen ihn gehandelt habe“.

Die Vorlagefragen

Das vorlegende Gericht hat den Gerichtshof um die Beantwortung einer Reihe von Fragen ersucht; der Gerichtshof beantwortete jedoch nur die Frage betreffend Artikel 19 Absatz 2 sowie Artikel 47 der Charta (20). Mit dieser Frage wollte das vorlegende Gericht wissen, ob diese zwei Artikel dahin gehend auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat der Europäischen Union ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betreffend einen Unionsbürger, der sich im Hoheitsgebiet jenes Mitgliedstaats aufhält, abzulehnen hat, sofern das dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegende Strafverfahren mitsamt Abwesenheitsurteil im Drittstaat nicht mit dem völkerrechtlichen Mindeststandard und den unabdingbaren Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der Union („ordre public“) sowie dem Grundsatz eines fairen Verfahrens vereinbar war.

Argumentation und Antwort des Gerichtshofs

Der Gerichtshof erinnerte daran, dass die Bestimmungen der Charta, insbesondere ihres Artikels 19, auf eine Entscheidung eines Mitgliedstaats über die Auslieferung eines Unionsbürgers anwendbar sind, wenn dieser von seinem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union Gebrauch gemacht hat. Artikel 19 Absatz 2 der Charta ist gemäß dem Gerichtshof dahin gehend auszulegen, dass ein Auslieferungsersuchen eines nicht der Europäischen Union angehörenden Staates betreffend einen Unionsbürger, der von seiner Freizügigkeit Gebrauch macht und seinen Ursprungsmitgliedstaat verlässt, um sich in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, von diesem Mitgliedstaat abzulehnen ist, wenn für diesen Unionsbürger im Fall der Auslieferung das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht. Daher war es gemäß dem Gerichtshof nicht erforderlich, die Frage, soweit sie Artikel 47 der Charta betrifft, zu prüfen.

Urteil des Gerichtshofs vom 10. April 2018, Pisciotti, C-191/16  (21)

In seinem Urteil in der Rechtssache Pisciotti wendete der Gerichtshof die Argumentation des Urteils in der Rechtssache Petruhhin auf eine Situation an, in der ein Auslieferungsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem um Auslieferung ersuchenden Drittstaat bestand. Der Gerichtshof befand, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, ein Verbot der Auslieferung seiner eigenen Staatsangehörigen in die USA auf jeden Unionsbürger auszudehnen, der in sein Hoheitsgebiet einreist. Vor der Auslieferung eines Unionsbürgers muss der ersuchte Mitgliedstaat jedoch dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger dieser Bürger ist, die Möglichkeit einräumen, ihn im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls für sich zu beanspruchen.

Sachverhalt

Im Jahr 2010 erging ein Haftbefehl eines US-amerikanischen Gerichts gegen Herrn Pisciotti, der die italienische Staatsangehörigkeit besitzt. Herr Pisciotti wurde in Deutschland bei einer Zwischenlandung seines Fluges von Nigeria nach Italien auf einem deutschen Flughafen festgenommen. Er wurde in vorläufige Übergabehaft genommen, und 2014 wurde seine Auslieferung von einem deutschen Gericht genehmigt. Die konsularischen Behörden Italiens wurden vor dem Vollzug des Auslieferungsersuchens über die Situation von Herrn Pisciotti informiert, ohne dass die italienischen Justizbehörden einen Europäischen Haftbefehl gegen ihn erlassen hätten. Vor seiner Auslieferung machte Herr Pisciotti geltend, dass seine Auslieferung dem Unionsrecht zuwiderlaufe, da eine auf deutsche Staatsangehörige beschränkte Anwendung des Artikels 16 Absatz 2 des deutschen Grundgesetzes gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit verstoße.

Die Vorlagefragen

Das vorlegende Gericht fragte, ob Artikel 18 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einem ersuchten Mitgliedstaat verwehrt, auf der Grundlage einer verfassungsrechtlichen Norm eigene Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten unterschiedlich zu behandeln und die Auslieferung Letzterer zu gestatten, obwohl er die Auslieferung eigener Staatsangehöriger nicht erlaubt.

Argumentation und Antwort des Gerichtshofs

Der Gerichtshof hat entschieden, dass das Unionsrecht dem ersuchten Mitgliedstaat (Deutschland) nicht verwehrt, auf der Grundlage einer verfassungsrechtlichen Norm eigene Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten unterschiedlich zu behandeln und die Auslieferung eines Unionsbürgers zu gestatten, obwohl er die Auslieferung eigener Staatsangehöriger nicht erlaubt, sofern er schon vorher den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehöriger dieser Betroffene ist (Italien), die Möglichkeit eingeräumt hat, ihn im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls für sich zu beanspruchen, und dieser letztgenannte Mitgliedstaat keine entsprechende Maßnahme ergriffen hat.

Der Gerichtshof folgte derselben Argumentation wie im Urteil in der Rechtssache Petruhhin und wies darauf hin, dass dies auch auf eine Situation anwendbar ist, in der ein internationales Abkommen zwischen der EU und einem Drittstaat (das Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung (22)) besteht, das es einem Mitgliedstaat entweder auf der Grundlage eines bilateralen Abkommens oder auf der Grundlage seines Verfassungsrechts (wie dem deutschen Grundgesetz) erlaubt, eine Ausnahme eigener Staatsangehöriger vorzusehen.

Der Gerichtshof hat ferner klargestellt, dass im Einklang mit dem Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass eine Person wegen der ihr im Auslieferungsersuchen angelasteten Taten straflos bleibt, der von einem anderen als dem ersuchten Mitgliedstaat gegebenenfalls erlassene Europäische Haftbefehl zumindest denselben Sachverhalt betreffen muss und der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene hat, nach seinem Recht für die Verfolgung dieser Person wegen dieser Taten, selbst wenn sie außerhalb seines Hoheitsgebiets begangen worden sind, zuständig sein muss.

Urteil des Gerichtshofs vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU  (23)

In seinem Urteil in der Rechtssache Ruska Federacija stellte der Gerichtshof klar, dass der Petruhhin-Mechanismus sinngemäß auch für Auslieferungsersuchen gilt, die Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) betreffen, mit denen die EU ein Übergabeabkommen geschlossen hat, nämlich das Übereinkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Island und Norwegen (24).

Sachverhalt

Im Jahr 2015 wurde I.N., der die russische Staatsangehörigkeit besaß, vom Moskauer Büro der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) international zur Fahndung ausgeschrieben. Auf der Grundlage dieser Fahndungsausschreibung wurde I.N., der inzwischen die isländische Staatsangehörigkeit erworben hatte, 2019 in Kroatien festgenommen, wo er Urlaub machte. Die kroatischen Behörden erhielten ein von Russland gestelltes Auslieferungsersuchen, das von einem kroatischen Gericht für zulässig erklärt worden war. Das kroatische Recht sieht eine Ausnahme eigener Staatsangehöriger in Bezug auf Auslieferungsersuchen vor. I.N. legte beim Obersten Gerichtshof der Republik Kroatien Beschwerde gegen den Beschluss über die Genehmigung der Auslieferung ein.

Vorlagefrage

Der Oberste Gerichtshof der Republik Kroatien wollte vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob der Petruhhin-Mechanismus auch auf eine Situation anwendbar ist, die eine Person betrifft, die nicht Unionsbürger, jedoch Staatsangehörige eines EFTA-Staates wie Island ist, der Vertragspartei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (im Folgenden „EWR-Abkommen“) ist.

Argumentation und Antwort des Gerichtshofs

In seiner Vorabentscheidung ging der Gerichtshof auf die Frage ein, ob die Situation eines Staatsangehörigen eines dem EWR-Abkommen angehörenden EFTA-Staates in den Anwendungsbereich der Unionsrechts fällt. Der Gerichtshof erinnerte daran, dass die Artikel 18 und 21 AEUV nicht auf Drittstaatsangehörige anwendbar sind. Der Gerichtshof vertrat jedoch die Auffassung, dass Artikel 36 des EWR-Abkommens, das ein fester Bestandteil des Unionsrechts ist, den freien Dienstleistungsverkehr in einer im Wesentlichen mit Artikel 56 AEUV identischen Weise gewährleistet, einschließlich des Rechts, sich in einen anderen Staat zu begeben, um dort Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Auf dieser Grundlage musste die Situation von I.N., der nach Kroatien reiste, um dort Urlaub zu machen und damit Dienstleistungen im Zusammenhang mit dem Tourismus in Anspruch zu nehmen, als in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallend betrachtet werden.

Der Gerichtshof stellte ferner fest, dass Island privilegierte Beziehungen zur Union unterhält, die über den Rahmen einer wirtschaftlichen und handelspolitischen Zusammenarbeit hinausgehen. Island setzt den Schengen-Besitzstand um und wendet ihn an, beteiligt sich am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem und hat mit der Union ein Übereinkommen über das Übergabeverfahren geschlossen.

Was das Auslieferungsersuchen betrifft, so muss der ersuchte Mitgliedstaat, wie bereits im Urteil in der Rechtssache Petruhhin dargelegt, zunächst gemäß Artikel 19 Absatz 2 der Charta prüfen, dass für die gesuchte Person im Falle einer Auslieferung nicht das Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Für die Zwecke dieser Prüfung muss sich der ersuchte Staat auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützen. Im Zusammenhang mit dieser Prüfung hat der Gerichtshof ergänzt, dass der Umstand, dass der EFTA-Staat der betreffenden Person, bevor sie die Staatsangehörigkeit dieses Staates erwarb, gerade wegen der Verfolgung, die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegt, Asyl gewährte, einen besonders gewichtigen Gesichtspunkt darstellt.

Der ersuchte Mitgliedstaat ist in jedem Fall verpflichtet, vor einer Entscheidung über das Auslieferungsersuchen diesen EFTA-Staat zu unterrichten und ihm gegebenenfalls auf sein Ersuchen diesen Staatsangehörigen im Einklang mit den Bestimmungen des Übergabeübereinkommens zu übergeben, sofern der EFTA-Staat nach seinem nationalen Recht für die Verfolgung des Staatsangehörigen wegen im Ausland begangener Straftaten zuständig ist.

Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin, C-398/19  (25)

In seinem Urteil in der Rechtssache Generalstaatsanwaltschaft Berlin (C-398/19) hat der Gerichtshof die Anforderungen an den Kooperationsmechanismus, wie er im Urteil in der Rechtssache Petruhhin entwickelt wurde, weiter präzisiert. Der Gerichtshof stellte fest, dass ein Unionsbürger nur nach Konsultation des Mitgliedstaats ausgeliefert werden darf, dessen Staatsangehörigkeit dieser besitzt. Im Rahmen dieser Konsultation muss der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, von dem Mitgliedstaat, der um die Auslieferung ersucht wird, über sämtliche rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte informiert werden, die im Rahmen des Auslieferungsersuchens übermittelt wurden, und ihm muss eine angemessene Frist für die Ausstellung eines EuHb in Bezug auf diesen Bürger eingeräumt werden. Darüber hinaus ist der ersuchte Mitgliedstaat in dem Fall, dass der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, nicht formell über die Ausstellung eines EuHb entschieden hat, nicht verpflichtet, die Auslieferung eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, abzulehnen und selbst die Strafverfolgung dieser Person wegen in einem Drittstaat begangener Taten zu übernehmen.

Sachverhalt

Die Ukraine ersuchte um Auslieferung eines ukrainischen Staatsangehörigen, der im Jahr 2012 nach Deutschland umgezogen war. Der Betroffene, BY, erhielt im Jahr 2014 als Nachfahre rumänischer Staatsangehöriger die rumänische Staatsangehörigkeit. Er hatte allerdings nie einen Lebensmittelpunkt in Rumänien. Im Jahr 2016 wurde von einem ukrainischen Strafgericht ein Haftbefehl gegen ihn wegen der Veruntreuung von Geldern in den Jahren 2010 und 2011 erlassen. Auf das Auslieferungsersuchen hin wurde BY in Deutschland festgenommen. Im Hinblick auf die Anwendung des Petruhhin-Mechanismus wandten sich die deutschen Behörden an das rumänische Justizministerium und fragten an, ob diese selbst eine Übernahme der Strafverfolgung im Fall von BY beabsichtigten. Die rumänischen Behörden teilten den deutschen Behörden mit, dass für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls hinreichende Beweise für die Begehung der Straftaten im Ausland erforderlich seien. Darüber hinaus ersuchten die rumänischen Behörden die Generalstaatsanwaltschaft Berlin, Unterlagen und Kopien der von der Ukraine übermittelten Beweismittel beizubringen. Da die rumänischen Justizbehörden keine formelle Entscheidung über die mögliche Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls machten, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof drei Fragen zur Auslegung der Artikel 18 und 21 AEUV und zur Anwendung des Petruhhin-Mechanismus zur Vorabentscheidung gestellt.

Vorlagefragen

Das vorlegende Gericht wollte wissen, ob

die sich aus der Unionsbürgerschaft ergebenden Rechte (Artikel 18 und 21 AEUV) in einer Situation, in der die gesuchte Person ihren Lebensmittelpunkt in den ersuchten Mitgliedstaat zu einem Zeitpunkt verlegt hat, in dem sie noch nicht Unionsbürger war, Anwendung finden;

entweder der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, oder der ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet ist, den ersuchenden Drittstaat um Übermittlung der Akten zu bitten, um zu prüfen, ob er selbst die Strafverfolgung übernehmen soll;

der ersuchte Mitgliedstaat auf der Grundlage des Urteils in der Rechtssache Petruhhin verpflichtet ist, die Auslieferung abzulehnen und die Strafverfolgung selbst zu übernehmen, wenn ihm dies nach seinem nationalen Recht unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist.

Argumentation und Antwort des Gerichtshofs

Zur ersten Frage nach der Anwendbarkeit der Artikel 18 und 21 AEUV hat der Gerichtshof entschieden, dass der Umstand, dass eine Person die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaats und damit den Status als Unionsbürger zu einem Zeitpunkt erworben hat, als sie sich bereits in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit sie erworben hat, aufgehalten hat, nicht geeignet ist, die Erwägung zu entkräften, dass sich diese Person aufgrund der erworbenen Unionsbürgerschaft auf Artikel 21 Absatz 1 AEUV berufen kann und in den Anwendungsbereich der Verträge im Sinne des Artikels 18 AEUV fällt, der den Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit enthält. Der Gerichtshof stellte ferner klar, dass dieselbe Argumentation auch für den Umstand gilt, dass der Unionsbürger, um dessen Auslieferung ersucht wird, auch die Staatsangehörigkeit des ersuchenden Drittstaats besitzt: Der Umstand, dass der Betroffene eine doppelte Staatsangehörigkeit besitzt, kann ihm nicht die Freiheiten nehmen, die er als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats aus dem Unionsrecht herleitet.

In Bezug auf die zweite Frage bekräftigte der Gerichtshof die Auslegung seiner bisherigen Rechtsprechung und betonte, dass der ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet ist, den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, zu informieren, damit dessen Justizbehörden in der Lage sind, die Übergabe der betreffenden Person mittels eines Europäischen Haftbefehls zu verlangen. Zu den Einzelheiten des erforderlichen Informationsaustauschs hat der Gerichtshof Folgendes festgestellt:

Der ersuchte Mitgliedstaat muss die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, nicht nur über das Vorliegen des Auslieferungsersuchens informieren, sondern auch über sämtliche rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte, die der ersuchende Drittstaat im Rahmen des Auslieferungsersuchens übermittelt hat.

Die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, sind verpflichtet, diese Angaben vertraulich zu behandeln, wenn der Drittstaat dies verlangt.

Der ersuchte Mitgliedstaat muss die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, über jede Änderung der Situation, in der sich die gesuchte Person befindet, informieren, die für die etwaige Ausstellung eines EuHb gegen sie relevant ist.

Weder der ersuchte Mitgliedstaat noch der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, sind verpflichtet, den ersuchenden Drittstaat um Übermittlung der Strafakte zu bitten.

Der ersuchte Mitgliedstaat hat eine angemessene Frist festzulegen, nach deren Ablauf die Auslieferung durchgeführt werden kann, wenn von dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, kein Europäischer Haftbefehl erlassen wird.

Der ersuchte Mitgliedstaat kann die Auslieferung durchführen, ohne über eine angemessene Frist hinaus abwarten zu müssen, dass der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, mit dem Erlass einer förmlichen Entscheidung auf die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls gegen den Betroffenen verzichtet.

Schließlich hat der Gerichtshof in Beantwortung der dritten Frage klargestellt, dass der ersuchte Mitgliedstaat nach dem Unionsrecht nicht verpflichtet ist, die Auslieferung abzulehnen und die Verfolgung der von dem Betroffenen in dem Drittstaat begangenen Straftaten selbst zu übernehmen, wenn dies dem ersuchten Mitgliedstaat nach seinem nationalen Recht möglich ist. Eine solche Verpflichtung ginge über die Grenzen hinaus, die das Unionsrecht der Ausübung des Ermessens setzen kann, über das dieser Mitgliedstaat hinsichtlich der Zweckmäßigkeit einer strafrechtlichen Verfolgung verfügt.

Urteil des Gerichtshofs vom 12. Mai 2021, WS, C-505/19  (26)

Das Verbot der Doppelbestrafung kann der Festnahme einer Person, die Gegenstand einer Interpol-Fahndungsausschreibung ist, innerhalb des Schengen-Raums und der Europäischen Union entgegenstehen. Das ist der Fall, wenn die zuständigen Behörden davon Kenntnis erlangen, dass in einem Staat, der Vertragspartei des Schengener Übereinkommens oder ein Mitgliedstaat ist, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung ergangen ist, mit der festgestellt wird, dass dieses Verbot der Doppelbestrafung greift.

Sachverhalt

2012 gab Interpol auf Antrag der USA und auf der Grundlage eines von den Behörden dieses Landes erlassenen Haftbefehls eine den deutschen Staatsangehörigen WS betreffende Fahndungsausschreibung („Red Notice“, im Folgenden „Rotecke“ oder „rote Fahndungsausschreibung“) mit Blick auf seine mögliche Auslieferung heraus. Befindet sich eine Person, die Gegenstand einer solchen Rotecke ist, in einem Mitgliedstaat von Interpol, könnte dieser Staat diese Person grundsätzlich vorläufig festnehmen oder ihre Bewegungen überwachen oder einschränken.

Gegen WS war jedoch noch vor der Herausgabe der roten Fahndungsausschreibung in Deutschland ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, das zumindest teilweise dieselben Taten betraf, die Grundlage dieser Ausschreibung waren. Dieses Verfahren war im Jahr 2010 gegen Erfüllung einer Geldauflage durch WS rechtskräftig eingestellt worden. Dabei wurde von einer im deutschen Strafrecht vorgesehenen besonderen Möglichkeit der einvernehmlichen Verfahrensbeendigung Gebrauch gemacht. In der Folge teilte das deutsche Bundeskriminalamt Interpol mit, dass es davon ausgehe, dass wegen dieses vorausgegangenen Verfahrens im vorliegenden Fall das Verbot der Doppelbestrafung, der Grundsatz „ne bis in idem“, greife. Nach diesem sowohl in Artikel 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen (SDÜ) (27) als auch in Artikel 50 der Charta verankerten Grundsatz darf unter anderem eine Person, die bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist, nicht noch einmal wegen derselben Tat verfolgt werden.

Im Jahr 2017 erhob WS beim Verwaltungsgericht Wiesbaden Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland und beantragte, Deutschland dazu zu verurteilen, alle geeigneten Maßnahmen zur Löschung dieser Rotecke zu ergreifen. WS machte diesbezüglich neben einem Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot eine Verletzung seines in Artikel 21 AEUV garantierten Rechts auf Freizügigkeit geltend, da er sich nicht in einen Vertragsstaat des Übereinkommens von Schengen oder einen Mitgliedstaat begeben könne, ohne Gefahr zu laufen, festgenommen zu werden.

Vorlagefrage

Das vorlegende Gericht hat den Gerichtshof um die Beantwortung einer Reihe von Fragen ersucht. Die Hauptfrage, die im Zusammenhang mit der Auslieferung nach einer Rotecke relevant ist, war jedoch, ob Artikel 54 (28) SDÜ und Artikel 21 Absatz 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Artikel 50 (29) der Charta, dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die Behörden eines Vertragsstaats des Schengener Übereinkommens oder eines Mitgliedstaats eine Person vorläufig festnehmen, die Gegenstand einer von Interpol auf Antrag eines Drittstaats herausgegebenen Rotecke ist, wenn erstens die gesuchte Person in einem Mitgliedstaat bereits Gegenstand einer Strafverfolgung gewesen ist, die von der Staatsanwaltschaft, nachdem die gesuchte Person bestimmte Auflagen erfüllt hatte, eingestellt wurde, und zweitens die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats Interpol mitgeteilt haben, dass dieses Verfahren ihrer Auffassung nach dieselben Taten betrifft wie die Rotecke.

Argumentation und Antwort des Gerichtshofs

Der Gerichtshof befand, dass das Verbot der Doppelbestrafung Anwendung findet, wenn eine Entscheidung ergangen ist, mit der das Strafverfahren rechtskräftig eingestellt wird, sofern die gesuchte Person bestimmte Voraussetzungen erfüllt, wie die Zahlung eines von der Staatsanwaltschaft festgesetzten Geldbetrags.

Artikel 54 SDÜ, Artikel 50 der Charta und Artikel 21 Absatz 1 AEUV stehen der vorläufigen Festnahme einer Person, die Gegenstand einer von Interpol herausgegebenen Rotecke ist, jedoch nicht entgegen, solange nicht festgestellt ist, dass die gesuchte Person von einem Vertragsstaat des Schengener Übereinkommens oder einem Mitgliedstaat wegen derselben Taten, auf die sich die Rotecke bezieht, bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist, und folglich das Verbot der Doppelbestrafung greift.

Wenn fraglich ist, ob das Verbot der Doppelbestrafung greift, kann die vorläufige Festnahme einen unerlässlichen Zwischenschritt darstellen, um die erforderlichen Überprüfungen vorzunehmen und zugleich der Gefahr zu begegnen, dass die betroffene Person flüchtet. Diese Maßnahme kann daher durch das legitime Ziel der Vermeidung der Straflosigkeit der betroffenen Person gerechtfertigt sein, „soweit diese unerlässlich ist, um die erforderlichen Überprüfungen vorzunehmen“  (30). Sobald jedoch durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung festgestellt worden ist, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift, stehen sowohl das gegenseitige Vertrauen zwischen den Vertragsstaaten des SDÜ als auch das Recht auf Freizügigkeit einer vorläufigen Festnahme oder Inhaftierung der betroffenen Person entgegen. Die Mitgliedstaaten und die Vertragsstaaten des SDÜ müssen sicherzustellen, dass Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, die es den betroffenen Personen ermöglichen, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu erwirken, mit der festgestellt wird, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift.

1.2.   Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung einer Strafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung

Urteil des Gerichtshofs vom 13. November 2018, Raugevicius, C-247/17  (31)

In der Rechtssache Raugevicius befasste sich der Gerichtshof mit einem Auslieferungsersuchen zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe. Der Gerichtshof folgte in gewissem Umfang der in der Petruhhin-Rechtsprechung eingeführten Argumentation, kam jedoch zu einem anderen Ergebnis. Dies war notwendig, da Rechtssachen, die die Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung betreffen, zu Problemen mit dem Verbot der Doppelbestrafung führen könnten, wenn der Petruhhin-Mechanismus Anwendung finden würde (32). Der Gerichtshof berücksichtigte jedoch, dass es im nationalen Recht und/oder im Völkerrecht Mechanismen gibt, die es ermöglichen, dass gesuchte Personen ihre Strafe insbesondere in dem Staat verbüßen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. So liefert beispielsweise das Übereinkommen des Europarats von 1983 über die Überstellung verurteilter Personen (33) einen rechtlichen Rahmen für diese Möglichkeit.

Sachverhalt

Herr Raugevicius, der die litauische und die russische Staatsangehörigkeit besitzt, war nach einem Umzug seit mehreren Jahren in Finnland wohnhaft. Er ist auch Vater zweier Kinder, die ebenfalls in diesem Mitgliedstaat lebten und finnische Staatsangehörige sind. Im Jahr 2011 stellten die russischen Behörden nach einer Verurteilung in Russland einen internationalen Haftbefehl zum Zwecke der Vollstreckung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe aus. Um über das Auslieferungsersuchen entscheiden zu können, beantragte das finnische Justizministerium beim Obersten Gerichtshof Finnlands ein Gutachten zu dieser Frage. Der Oberste Gerichtshof hatte Zweifel, ob das Urteil in der Rechtssache Petruhhin auf diesen Fall anwendbar wäre und beschloss daher, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen.

Das einschlägige finnische Recht (die finnische Verfassung) sieht vor, dass eine Freiheitsstrafe in Finnland vollstreckt werden kann, wenn es sich bei dem Verurteilten um einen finnischen Staatsangehörigen oder einen Ausländer, der seinen ständigen Wohnsitz in Finnland hat, handelt und der Verurteilte dem zugestimmt hat.

Vorlagefragen

Mit seiner ersten Frage wollte der Oberste Gerichtshof Finnlands im Wesentlichen wissen, ob innerstaatliche Vorschriften über die Auslieferung im Hinblick auf die Freizügigkeit von Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats unabhängig davon, ob das Auslieferungsersuchen eines Drittstaats zum Zwecke der Strafvollstreckung oder – wie im Urteil in der Rechtssache Petruhhin – zum Zwecke der Strafverfolgung gestellt wird, in gleicher Weise zu bewerten sind. Bei der zweiten Frage ging es darum, wie ein Auslieferungsersuchen zu beantworten ist, wenn es dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, mitgeteilt wurde, dieser Mitgliedstaat jedoch wegen rechtlicher Hindernisse keine Maßnahmen in Bezug auf seine Staatsangehörigen einleitet.

Argumentation und Antwort des Gerichtshofs

Der Gerichtshof wandte die Argumentation des Urteils in der Rechtssache Petruhhin analog an, indem er feststellte, dass ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, sein Recht, sich innerhalb der Union frei zu bewegen, wahrnimmt, sodass seine Situation in den Anwendungsbereich von Artikel 18 AEUV fällt. Die doppelte Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und eines Drittstaats kann dem Betroffenen nämlich nicht die Freiheiten nehmen, die er als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats aus dem Unionsrecht herleitet.

Durch eine nationale Regelung, die nur die Auslieferung eigener Staatsangehöriger verbietet, wird eine Ungleichbehandlung zwischen diesen und den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten eingeführt, was zu einer Beschränkung der Freizügigkeit im Sinne des Artikels 21 AEUV führt: Eine solche Beschränkung muss notwendig und verhältnismäßig zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Ziel sein, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Staatangehörige aus anderen Mitgliedstaaten als dem ersuchten Mitgliedstaat der Strafe entgehen; zudem sollte es keine weniger einschneidenden Maßnahmen geben, mit denen dieses Ziel unter Berücksichtigung aller tatsächlichen und rechtlichen Umstände der Rechtssache erreicht werden kann.

Der Gerichtshof hat jedoch anerkannt, dass in Fällen von Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung einer Strafe der Verstoß gegen den Grundsatz des Diskriminierungsverbots nicht dadurch gelöst werden kann, dass dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, die Möglichkeit eingeräumt wird, seine Zuständigkeit für die Strafverfolgung des Betroffenen erneut auszuüben, da eine solche erneute Strafverfolgung einer bereits angeklagten und verurteilten Person gegen das Verbot der Doppelbestrafung verstoßen kann. Um der Gefahr entgegenzuwirken, dass Personen in solchen Situationen einer Strafe entgehen, verwies der Gerichtshof auf andere im nationalen Recht und/oder im Völkerrecht bestehende Mechanismen, die es ermöglichen, dass diese Personen ihre Strafe etwa in dem Staat verbüßen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, wodurch ihre Chancen auf eine soziale Wiedereingliederung nach dem Strafvollzug steigen.

In diesem Zusammenhang merkte der Gerichtshof an, dass Artikel 3 des finnischen Gesetzes über die internationale Zusammenarbeit die Möglichkeit vorsieht, dass Ausländer mit ständigem Wohnsitz in Finnland eine von einem Drittstaat verhängte Strafe in Finnland verbüßen, sofern sowohl der Betroffene als auch der Drittstaat dem zustimmen. Daher stellte der Gerichtshof auch fest, dass Herr Raugevicius die Strafe, die in Russland gegen ihn verhängt wurde, in Finnland verbüßen könnte, wenn sowohl Russland als auch Herr Raugevicius selbst dem zustimmten.

Der Gerichtshof befand, dass die Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedstaats einerseits und die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die ihren ständigen Wohnsitz in Finnland haben und ein bestimmtes Maß an Integration in der Gesellschaft dieses Mitgliedstaats aufweisen, andererseits in einer vergleichbaren Situation sind. Es obliegt den Behörden des ersuchten Staates festzustellen, ob eine solche Verbindung zwischen den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten und dem ersuchten Mitgliedstaat besteht. Wenn dies der Fall ist, verlangen die Artikel 18 und 21 AEUV, dass Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten ihre Strafe unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaats verbüßen können.

Der Gerichtshof gelangte daher zu dem Ergebnis, dass die Artikel 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass im Fall eines von einem Drittstaat zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und nicht zum Zwecke der Strafverfolgung gestellten Ersuchens um Auslieferung eines Unionsbürgers, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, der ersuchte Mitgliedstaat, nach dessen nationalem Recht die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Union zum Zwecke der Vollstreckung einer Strafe verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, eine solche im Ausland verhängte Strafe im Inland zu vollziehen, sicherstellen muss, dass jener Unionsbürger, wenn er seinen ständigen Wohnsitz im Inland hat, bei Auslieferungsfragen auf gleiche Weise wie seine eigenen Staatsangehörigen behandelt wird.

Rechtssache C-237/21 Generalstaatsanwaltschaft München [anhängig]

Sachverhalt

Grundlage der Rechtssache ist ein Auslieferungsersuchen, das Bosnien-Herzegowina an Deutschland in Bezug auf S.M. zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gestellt hat. Die Person, um deren Übergabe ersucht wird, hat die Staatsangehörigkeit Serbiens, Bosnien-Herzegowinas und Kroatiens, lebt seit Mitte 2017 mit seiner Ehefrau in Deutschland und arbeitet seit Mai 2020 in Deutschland. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat unter Bezugnahme auf das Urteil in der Rechtssache Raugevicius beantragt, die Auslieferung der Person, um deren Übergabe ersucht wird, für unzulässig zu erklären.

Vorlagefrage

Hinsichtlich des Ersuchens der Generalstaatsanwaltschaft hat das vorlegende deutsche Gericht entschieden, den Gerichtshof zu fragen, ob es die Grundsätze zur Anwendung der Artikel 18 und 21 AEUV, die der Gerichtshof im Urteil in der Rechtssache Raugevicius aufgestellt hat, gebieten, ein auf das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957  (34) gestütztes Ersuchen eines Drittstaats um Auslieferung eines Unionsbürgers zur Strafvollstreckung auch dann abzulehnen, wenn der ersuchte Mitgliedstaat nach diesem Übereinkommen völkervertraglich zur Auslieferung des Unionsbürgers verpflichtet ist, weil er den Begriff „Staatsangehörige“ gemäß Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe b des Übereinkommens dahin bestimmt hat, dass nur seine eigenen Staatsangehörigen und nicht auch andere Unionsbürger davon erfasst werden (35).

2.   LEITLINIEN FÜR FÄLLE, IN DENEN STAATEN EINE AUSNAHME HINSICHTLICH IHRER EIGENEN STAATSANGEHÖRIGEN ANWENDEN

2.1.   Auslieferungsersuchen zum Zwecke der Strafverfolgung

2.1.1.    Anwendungsbereich des Petruhhin-Mechanismus

a.   Sachlicher Anwendungsbereich: Wann findet der Petruhhin-Mechanismus Anwendung?

Der Petruhhin-Mechanismus (Mitteilung) ist in folgenden Fällen auszulösen:

ein Auslieferungsersuchen wird zum Zwecke der Strafverfolgung gestellt

und

der ersuchte Staat wendet eine Ausnahme eigener Staatsangehöriger an, was zu einer möglichen Diskriminierung zwischen seinen eigenen Staatsangehörigen und den Staatsangehörigen anderer Staaten führt, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben (vgl. Anhang 2 – Übersicht über die nationalen Systeme):

Der Petruhhin-Mechanismus gilt für alle Auslieferungsersuchen auf einer der folgenden Grundlagen:

Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung (36);

Abkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits (37), das Bestimmungen enthält, die dem Petruhhin-Mechanismus Rechnung tragen (38);

von Staaten geschlossene multilaterale Abkommen;

von Staaten geschlossene bilaterale Abkommen; oder

dem nationalen Recht.

b.   Persönlicher Anwendungsbereich: Auf wen findet der Petruhhin-Mechanismus Anwendung?

Der Petruhhin-Mechanismus findet Anwendung auf Staatsangehörige der 27 EU-Mitgliedstaaten, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten und von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben. Staatsangehörige, die auch die Staatsangehörigkeit des um Auslieferung ersuchenden Drittstaats besitzen, fallen ebenfalls darunter. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass der Umstand, dass die gesuchte Person eine doppelte Staatsangehörigkeit besitzt, ihr nicht die Freiheiten nehmen kann, die sie als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats aus dem Unionsrecht hat (39). Auch der Zeitpunkt, zu dem eine Person die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats erlangt hat, ist unerheblich (40).

Der Gerichtshof stellte klar, dass der Petruhhin-Mechanismus auch für Staatsangehörige eines EFTA-Mitgliedstaats gilt, der Vertragspartei des EWR-Abkommens ist und mit dem die Europäische Union ein Übergabeabkommen geschlossen hat (Island und Norwegen) (41). Die Artikel 18 und 21 AEUV sind nicht auf Drittstaatsangehörige anwendbar. Der Gerichtshof vertrat jedoch die Auffassung, dass Artikel 4 des EWR-Abkommens (42) in Verbindung mit Artikel 36 des EWR-Abkommens (43), das ein fester Bestandteil des Unionsrechts ist, den freien Dienstleistungsverkehr in einer im Wesentlichen mit Artikel 56 AEUV identischen Weise gewährleistet, einschließlich des Rechts, sich in einen anderen Staat zu begeben, um dort Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen (44).

Darüber hinaus hat der Gerichtshof bestätigt, dass das Recht auf Freizügigkeit nach Artikel 21 Absatz 1 AEUV/Artikel 36 EWR-Abkommen auch für Personen gilt, die sich lediglich auf der Durchreise auf einem Flughafen aufhalten (45) oder Dienstleistungen als Touristen (46) in einem anderen Staat in Anspruch nehmen.

c.   Räumlicher Anwendungsbereich: Welche Behörden sind an den Petruhhin-Mechanismus gebunden?

Die nationalen Behörden der 27 EU-Mitgliedstaaten sowie Islands und Norwegens sind bei der Anwendung der Ausnahme eigener Staatsangehöriger an den Petruhhin-Mechanismus gebunden.

2.1.2.    Von den zuständigen Behörden zu ergreifende Maßnahmen, wenn die Ausnahme eigener Staatsangehöriger Anwendung findet

a.   Pflichten des ersuchten Staates

Die Artikel 18 und 21 AEUV/Artikel 4 EWR-Abkommen in Verbindung mit Artikel 36 EWR-Abkommen begründen keine Verpflichtung der Feststellung einer absoluten Gleichwertigkeit von eigenen Staatsangehörigen und Staatsangehörigen anderer Staaten in Bezug auf den Schutz vor Auslieferung an Drittstaaten. Sie verpflichten jedoch Staaten, die vorsehen, dass ihre eigenen Staatsangehörigen im Vergleich mit Staatsangehörigen anderer Staaten in Bezug auf eine Auslieferung unterschiedlich behandelt werden, vor der Genehmigung der Auslieferung zu prüfen, ob das legitime Ziel der Vermeidung der Straflosigkeit, das mit der Auslieferung verfolgt wird, durch eine andere Maßnahme, die die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit weniger einschränken würde, ebenso wirksam erreicht werden könnte (47).

Im Fall eines Auslieferungsersuchens zum Zwecke der Strafverfolgung ist der ersuchte Staat verpflichtet, den Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene hat, zu konsultieren, um diesem Staat die Möglichkeit zu geben, einen EuHb/EU-IS/NO-Haftbefehl auszustellen, der als ebenso wirksame, aber weniger beeinträchtigende Maßnahme betrachtet würde.

Der ersuchte Staat ist jedoch nicht verpflichtet, die Auslieferung eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats oder von Island oder Norwegen ist, zu verweigern und die Strafverfolgung dieses Unionsbürgers bzw. dieses isländischen oder norwegischen Staatsangehörigen wegen der in einem Drittstaat begangenen Straftaten selbst zu übernehmen, wenn ihm dies nach seinem nationalen Recht möglich ist (48). Eine solche Verpflichtung ginge über die Grenzen hinaus, die das Unionsrecht der Ausübung des Ermessens setzen kann, über das dieser Staat hinsichtlich der Zweckmäßigkeit einer strafrechtlichen Verfolgung verfügt.

b.   Einleitung des Konsultationsverfahrens

Der ersuchte Staat ist verpflichtet, den Staat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, mitzuteilen, dass ein Auslieferungsersuchen anhängig ist.

Was den Zeitpunkt für diese Mitteilung betrifft, so wird vorgeschlagen, dass der ersuchte Staat den Staat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, von einem eingehenden oder anhängigen Auslieferungsersuchen so bald wie möglich in Kenntnis setzt. Dies kann bereits geschehen, wenn eine Person vorläufig festgenommen wird, sofern ausreichende Informationen aus einer Interpol-Rotecke vorliegen, und/oder in einem späteren Stadium, wenn das Auslieferungsersuchen bei dem ersuchten Staat eingeht.

c.   Art der Informationen, die dem/den Staat(en) der Staatsangehörigkeit zur Verfügung zu stellen sind

Die Behörden) des ersuchten Staates sollten der Kontaktstelle (49) eines Staates, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, mindestens Folgendes mitteilen:

das Vorliegen eines Auslieferungsersuchens in Bezug auf diese Person und

alle rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte, die der ersuchende Drittstaat im Rahmen dieses Auslieferungsersuchens übermittelt hat (50) (siehe Anhang 3 – Muster).

Darüber hinaus sollten die Behörden des ersuchten Staates die Behörden des Staates, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, über jede Änderung der Situation, in der sich die gesuchte Person befindet, unterrichten, die für die etwaige Ausstellung eines EuHb/EU-IS/NO-Haftbefehls gegen sie relevant ist (51) (siehe Anhang 4 – Muster).

d.   Beziehungen zum ersuchenden Drittstaat und Vertraulichkeit

Weder der ersuchte Staat noch der Staat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, sind nach dem Unionsrecht verpflichtet, den ersuchenden Drittstaat um Übermittlung der Strafakte zu ersuchen (52). Wären der ersuchte Mitgliedstaat oder der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, verpflichtet, den ersuchenden Drittstaat um Übermittlung der Strafakte zu ersuchen, bestünde die Gefahr, dass das Auslieferungsverfahren erheblich verkompliziert und wesentlich in die Länge gezogen würde, sodass letztlich das Ziel der Bekämpfung der Straflosigkeit von Straftaten beeinträchtigt werden könnte (53). Darüber hinaus kann sich ein langwieriges Verfahren auch nachteilig auf die gesuchte Person auswirken, insbesondere wenn die Person in Haft gehalten wird.

Die Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, sind verpflichtet, solche Angelegenheiten vertraulich zu behandeln, wenn der ersuchende Drittstaat dies verlangt. Darüber hinaus sollte der ersuchende Drittstaat ordnungsgemäß über diesen Punkt unterrichtet werden (54).

Der Staat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, kann jedoch jeden Mechanismus der Zusammenarbeit und/oder der Amtshilfe anwenden, um Beweismittel von dem ersuchten Staat zu erhalten (z. B. Ausstellung einer Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) (55)).

e.   Pflichten des Staates, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt

Nach der Mitteilung, dass ein Auslieferungsersuchen vorliegt, sollten die zuständigen Behörden des Staates, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, prüfen, ob es angemessen ist, einen EuHb/EU-IS/NO-Haftbefehl zu erlassen, der sich auf dieselben Straftaten erstreckt, die der betroffenen Person in dem Auslieferungsersuchen zur Last gelegt werden, sofern sie nach ihrem nationalen Recht für die Verfolgung dieser Person wegen im Ausland begangener Straftaten zuständig sind.

2.1.3.    Frist für die Beantwortung einer Mitteilung

Der ersuchte Staat sollte dem Staat oder den Staaten, dessen bzw. deren Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, eine angemessene Frist für die Übermittlung einer Antwort setzen. Der ersuchte Staat verfügt über einen Ermessensspielraum bei der Festsetzung einer angemessenen Frist, unter Berücksichtigung insbesondere einer etwaigen Auslieferungshaft der gesuchten Person und der Schwierigkeiten der Rechtssache (56).

Die gewährte Frist sollte in der Mitteilung angegeben werden (siehe Anhang 3 – Muster).

Erforderlichenfalls kann die Kontaktstelle oder die ausstellende Justizbehörde (57) des bzw. der Staaten, dessen bzw. deren Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, eine Fristverlängerung beantragen (siehe Anhang 5 – Muster). Die Kontaktstelle oder die Behörde, die das Auslieferungsersuchen im ersuchten Staat bearbeitet, sollte über die Verlängerung entscheiden (siehe Anhang 6 – Muster).

2.1.4.    Ablehnung eines Auslieferungsersuchens

Nur in Fällen, in denen eine Justizbehörde eines Staates, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, einen EuHb/EU-IS/NO-Haftbefehl erlässt, der sich auf dieselben Straftaten (58) oder Handlungen erstreckt, und den ersuchten Staat entsprechend unterrichtet, sollte der ersuchte Staat die Auslieferung ablehnen und die Person an den Staat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, übergeben (siehe Anhang 7 – Muster).

2.1.5.    Wiederaufnahme des Auslieferungsverfahrens

Geht innerhalb der gewährten Frist keine Antwort oder eine ablehnende Antwort der Behörden des Staates bzw. der Staaten, dessen bzw. deren Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, ein, so können die Behörden des ersuchten Staates die gesuchte Person gegebenenfalls ausliefern, ohne abwarten zu müssen, dass der Staat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, antwortet und/oder eine förmliche Entscheidung erlässt, mit der er auf die Ausstellung eines EuHb/EU-IS/NO-Haftbefehls gegen diese Person verzichtet (59) (siehe Anhang 7 – Muster).

2.2.   Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung

2.2.1.    Anwendungsbereich

a.   Sachlicher Anwendungsbereich

Das Urteil in der Rechtssache Raugevicius ist auf Fälle anwendbar, auf die Folgendes zutrifft:

das Ersuchen ist ein Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung

und

der ersuchte Staat wendet eine Ausnahme eigener Staatsangehöriger an, was eine mögliche Diskriminierung zwischen seinen eigenen Staatsangehörigen und Staatsangehörigen anderer Staaten zur Folge hat, die ihr Recht auf Freizügigkeit wahrgenommen haben (siehe Anhang 2 – Übersicht über die nationalen Systeme).

b.   Persönlicher Anwendungsbereich in Bezug auf Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung einer Strafe: Auf wen findet das Urteil in der Rechtssache Raugevicius Anwendung?

Die Verpflichtung zur Gleichbehandlung gilt nur, insoweit sich die eigenen Staatsangehörigen und die Staatsangehörigen anderer Staaten in einer vergleichbaren Situation in Bezug auf das Ziel, die Gefahr der Straflosigkeit zu vermeiden, befinden. Da die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe im Herkunftsstaat der betreffenden Person die soziale Wiedereingliederung dieser Person nach der Verbüßung ihrer Strafe fördert, liegt eine vergleichbare Situation nur bei Staatsangehörigen anderer Staaten vor, die ihren ständigen Wohnsitz im ersuchten Staat haben und ein bestimmtes Maß an Integration in der Gesellschaft dieses Mitgliedstaats aufweisen.

Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass der persönliche Anwendungsbereich auf Staatsangehörige anderer Staaten beschränkt ist, die ihren ständigen Wohnsitz in einem ersuchten Staat haben und ein bestimmtes Maß an Integration in der Gesellschaft dieses Staates aufweisen (60), da sie sich in einer mit Staatsangehörigen des ersuchten Staates vergleichbaren Situation befinden. Dagegen würde ein Staatsangehöriger eines Staates, der auf der Durchreise auf einem Flughafen eines ersuchten Staates verhaftet wird, nicht das Kriterium einer vergleichbaren Situation erfüllen.

Kann nicht davon ausgegangen werden, dass die gesuchte Person ihren ständigen Wohnsitz im ersuchten Staat hat, so bestimmt sich die Frage ihrer Auslieferung nach dem anwendbaren nationalen oder internationalen Recht (61).

2.2.2.    Von den zuständigen Behörden zu ergreifende Maßnahmen, wenn die Ausnahme eigener Staatsangehöriger Anwendung findet

Im Fall eines Auslieferungsersuchens zur Vollstreckung einer Strafe besteht die für die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit weniger beeinträchtigende Maßnahme darin, dass der ersuchte Staat die Verantwortung für die Vollstreckung der Strafe in seinem Hoheitsgebiet übernimmt, anstatt den Staatsangehörigen eines anderen Staates an den Drittstaat auszuliefern, sofern eine solche Möglichkeit auch für seine eigenen Staatsangehörigen vorgesehen ist. Es wird erwartet, dass der Gerichtshof in der anhängigen Rechtssache C-237/21 die im Einzelnen zu ergreifenden Maßnahmen (insbesondere das Ausmaß der Verpflichtungen der Staaten und die Frage, ob die Zustimmung eines Drittstaats erforderlich ist) präzisieren wird (62).

2.2.3.    Informationsaustausch zwischen dem ersuchten Staat und dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt

Artikel 18 und 21 AEUV begründen keine Verpflichtung für den ersuchten Staat, den Staat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, über ein anhängiges Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung einer Strafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung zu unterrichten. Dem ersuchten Staat wird es jedoch nicht verwehrt, sich an den Staat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, zu wenden, um sachdienliche Informationen einzuholen.

3.   LEITLINIEN, DIE FÜR ALLE STAATEN GELTEN, UNABHÄNGIG VON DER AUSNAHME EIGENER STAATSANGEHÖRIGER

3.1.   Bewertung der Wahrung der Grundrechte vor einer Auslieferung

3.1.1.    Anwendung der Charta

Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Entscheidung, einen Unionsbürger bzw. einen isländischen oder norwegischen Staatsangehörigen in einer Situation, die in den Anwendungsbereich der Artikel 18 AEUV und 21 AEUV bzw. des Artikels 4 EWR-Abkommen in Verbindung mit Artikel 36 EWR-Abkommen fällt, auszuliefern, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts im Sinne des Artikels 51 Absatz 1 der Charta fällt (63). Folglich finden die Bestimmungen der Charta und insbesondere ihres Artikels 19 auf eine solche Entscheidung Anwendung.

Darüber hinaus reicht das Bestehen eines internationalen Auslieferungsabkommens der Union aus, um die Anwendung der Charta auszulösen. Daher gilt die Charta auch für Auslieferungsersuchen, die von den USA im Rahmen des Auslieferungsabkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika (64) bzw. vom Vereinigten Königreich im Rahmen des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits (65) gestellt werden, auch dann, wenn kein Freizügigkeitsrecht im EWR ausgeübt wird. Die Charta gilt darüber hinaus in solchen Fällen auch für Drittstaatsangehörige und Staatenlose.

Findet die Charta Anwendung, so muss der ersuchte Staat zunächst prüfen, dass durch die Auslieferung die in Artikel 19 der Charta genannten Rechte nicht beeinträchtigt werden (66).

Nach Artikel 19 Absatz 2 der Charta darf niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.

Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt, dass die bloße „Existenz von Erklärungen und der Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die grundsätzlich die Beachtung der Grundrechte gewährleisten, […] für sich genommen nicht aus[reichen], um einen angemessenen Schutz vor der Gefahr von Misshandlungen sicherzustellen, wenn es vertrauenswürdige Quellen für Praktiken der Behörden – oder von diesen tolerierte Praktiken – gibt, die den Grundsätzen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten offensichtlich zuwiderlaufen.

Folglich ist die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats, sofern sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Personen im ersuchenden Drittstaat besteht, verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen, wenn sie über die Auslieferung einer Person in den Drittstaat zu entscheiden hat (vgl. in diesem Sinne, in Bezug auf Artikel 4 der Charta, Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C-404/15 und C-659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 88).

Dabei muss sich die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützen. Diese Angaben können sich u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des EGMR, aus Entscheidungen von Gerichten des ersuchenden Drittstaats sowie aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C-404/15 und C-659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89“  (67)).

3.1.2.    Anwendung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten

Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden „EMRK“) ist auf die Auslieferung von Staaten an Drittstaaten in Situationen anwendbar, auf die die Charta keine Anwendung findet (68), wie etwa die Auslieferung eines Unionsbürgers, der von seinem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, oder eines Drittstaatsangehörigen an einen Drittstaat, mit dem die Union kein Auslieferungsabkommen geschlossen hat.

Von Bedeutung sind insbesondere die Artikel 3 und 6 EMRK. Artikel 3 EMRK bestimmt:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“

Artikel 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren, Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte) bestimmt:

1.

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder – soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält – wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.

2.

Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.

3.

Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte: (a) innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden; (b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben; (c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist; (d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten; (e) unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.“

3.2.   Unbegründete oder missbräuchliche, auch politisch motivierte Rotecken, Haftbefehle und Auslieferungsersuchen

An Staaten gerichtete Auslieferungsersuchen können unbegründet oder missbräuchlich und auch politisch motiviert sein, und dies kann auch in entsprechender Weise auf Interpol-Rotecken zutreffen. Dieser Abschnitt könnte daher bereits in einem Stadium anwendbar sein, in dem noch kein Auslieferungsersuchen gestellt wurde oder die Person noch nicht auf der Grundlage einer Rotecke festgenommen wurde (z. B. kann ein Staat, wenn er Kenntnis von missbräuchlichen Interpol-Rotecken hat, andere Kontaktstellen proaktiv davon in Kenntnis setzen, noch bevor sich die gesuchte Person in einen anderen Staat begibt).

3.2.1.    Der bestehende Interpol-Mechanismus für den Missbrauch von Rotecken

Interpol verfügt über ein automatisiertes Prüfungs- und Erkennungssystem für Rotecken (69). Damit lassen sich Fälle des Missbrauchs herausfiltern. Jedes eingehende Ersuchen wird mit einer Beobachtungsliste abgeglichen, auf der in der Vergangenheit abgelehnte Ersuchen aufgeführt sind, die automatisch abgelehnt werden. Interpol arbeitet an der Entwicklung neuer automatisierter IT-Kontrollsysteme, mit denen die Bewertung eingehender Ersuchen um Veröffentlichung von Ausschreibungen und Durchgaben verbessert werden soll.

Darüber hinaus wurde im Generalsekretariat von Interpol eine spezielle Taskforce eingerichtet, die sich aus Rechtsanwälten und Polizeibeamten aus verschiedenen Interpol-Mitgliedstaaten zusammensetzt. Diese Taskforce prüft alle eingehenden Ersuchen um Veröffentlichung von Ausschreibungen und Durchgaben aus Interpol-Mitgliedstaaten im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit dem jeweiligen Rechtsrahmen und den jeweiligen Anforderungen.

Interpol-Rotecken können aus einer Reihe von Gründen gelöscht werden, indem bei der unabhängigen Kommission zur Kontrolle von Interpol-Akten (im Folgenden „CCF“) ein Verstoß gegen die Interpol-Statuten und die Regeln von Interpol für die Verarbeitung von Daten geltend gemacht wird. Die Mitgliedstaaten können die von einer missbräuchlichen, insbesondere einer politisch motivierten Rotecke betroffene Person dazu beraten, wie sie ihre Rechte bei der CCF wahrnehmen kann, und sie vorab warnen, oder die Löschung der Ausschreibungen und Durchgaben beantragen.

Diese Aktivitäten werden von einem ständigen Beratungsgremium unterstützt, das für Ausschreibungen zuständig ist.

3.2.2.    Informationsaustausch der Kontaktstellen über unbegründete oder missbräuchliche, insbesondere politisch motivierte Auslieferungsersuchen

Der Staat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, verfügt häufig über Informationen, die für die Entscheidung, ob ein Auslieferungsersuchen unbegründet oder missbräuchlich, insbesondere politisch motiviert, ist, von wesentlicher Bedeutung sind. Daher können eine enge Zusammenarbeit und ein Informationsaustausch mit dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, von wesentlicher Bedeutung sein, wenn ein ersuchter Staat ein Auslieferungsersuchen betreffend einen Staatsangehörigen eines anderen Staates prüft.

Wenn ein begründeter Verdacht besteht, dass ein Auslieferungsersuchen missbräuchlich, insbesondere politisch motiviert, oder anderweitig unbegründet (rechtswidrig) ist, sollte die Kontaktstelle eines Staates, bei dem ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaats in Bezug auf einen Staatsangehörigen eines anderen Staates eingegangen ist, stets die Kontaktstelle des Staates, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, informieren. Dies ermöglicht den Austausch einschlägiger Informationen, die als Grundlage für eine fundierte Entscheidung darüber herangezogen werden können, ob das Auslieferungsersuchen politisch motiviert oder anderweitig unbegründet (rechtswidrig) ist (siehe Anhang 3 – Muster und Anhang 8 – Muster).

Darüber hinaus sollte jede Kontaktstelle bei begründetem Verdacht, dass ein Auslieferungsersuchen unbegründet oder missbräuchlich, insbesondere politisch motiviert, ist, andere Kontaktstellen sowie Eurojust, Europol und Interpol unverzüglich und proaktiv informieren und konsultieren (siehe Anhang 8 – Muster).

Dieser Mechanismus der Mitteilung zwischen den Kontaktstellen bei unbegründeten oder missbräuchlichen, insbesondere politisch motivierten Auslieferungsersuchen, gilt für Staatsangehörige der Staaten sowie für Drittstaatsangehörige und Staatenlose.

4.   PRAKTISCHE ASPEKTE DES PETRUHHIN-MECHANISMUS UND POLITISCH MOTIVIERTER AUSLIEFERUNGSERSUCHEN

4.1.   Kontaktstellen

Für die Zwecke des Petruhhin-Mechanismus und für unbegründete oder rechtswidrige, insbesondere politisch motivierte Auslieferungsersuchen haben die Staaten Kontaktstellen (d. h. zentrale Behörden) benannt.

Die aktualisierte Liste der Kontaktstellen ist abrufbar unter:

https://www.ejn-crimjust.europa.eu/ejn/AtlasChooseCountry/DE

Ein Staat sollte das EJN unverzüglich über jede Änderung seiner Kontaktstellen unterrichten. Die Kontaktstellen können sich bei Fragen an Eurojust und das EJN wenden.

4.2.   Sprachenregelung und Kosten

Im Hinblick auf die Sprachenregelung für Dokumente, die zwischen dem ersuchten Staat und dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, übermittelt werden, wird eine Amtssprache des Staates vorgeschlagen, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt.

Die Staaten können der Kommission auch mitteilen, dass sie Übersetzungen in eine oder mehrere andere Amtssprachen der EU, in Isländisch oder Norwegisch akzeptieren.

Der ersuchte Staat und der Staat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, sollten ihre eigenen Kosten (hauptsächlich Übersetzungskosten) jeweils selbst tragen.

4.3.   Datenschutzregelung

Es gilt die Richtlinie (EU) 2016/680 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr (70).


(1)  Europäisches Auslieferungsübereinkommen (SEV Nr. 024) und zugehöriges Zusatzprotokoll (SEV Nr. 086), Zweites Zusatzprotokoll (SEV Nr. 098), Drittes Zusatzprotokoll (SEV Nr. 209) und Viertes Zusatzprotokoll (SEV Nr. 212) zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen.

(2)  Verpflichtung zur Auslieferung oder Strafverfolgung.

(3)  Beispielsweise sieht das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits (ABl. L 149 vom 30.4.2021, S. 10) in Artikel 603 eine ausdrückliche Verpflichtung hinsichtlich des Grundsatzes „aut dedere aut judicare“ vor.

(4)  Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, ECLI:EU:C:2016:630.

(5)  In Artikel 21 Absatz 1 AEUV heißt es: „Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.“

(6)  Begründet in dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Artikel 18 AEUV, der lautet: „Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“

(7)  Urteil des Gerichtshofs vom 10. April 2018, Pisciotti, C-191/16, ECLI:EU:C:2018:222; Urteil des Gerichtshofs vom 13. November 2018, Raugevicius, C-247/17, ECLI: EU:C:2018:898; Urteil des Gerichtshofs vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU, ECLI:EU:C:2020:262; Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin, C-398/19, ECLI:EU:C:2020:1032.

(8)  Urteil des Gerichtshofs vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU, ECLI:EU:C:2020:262.

(9)  Arbeitsdokument des Rates der Europäischen Union, Informelle Videokonferenz auf Ministerebene „Justiz“, 4. Juni 2020: Preparation - Extradition of EU citizens to third countries - Presidency discussion paper (Vorbereitung – Auslieferung von EU-Bürgern an Drittländer – Diskussionspapier des Vorsitzes), Dokument WK 5231/2020 INIT.

(10)  Joint report of Eurojust and the European Judicial Network on the extradition of EU citizens to third countries (Gemeinsamer Bericht von Eurojust und dem Europäischen Justiziellen Netz über die Auslieferung von EU-Bürgern an Drittländer): https://www.eurojust. europa.eu/joint-report-eurojust-and-ejn-extradition-eu-citizens-third-countries.

(11)   ABl. C 419 vom 4.12.2020, S. 23.

(12)  Beschluss des Gerichtshofs vom 6. September 2017, Schotthöfer & Steiner/Adelsmayr, C-473/15, ECLI:EU:C:2017:633; Urteil des Gerichtshofs vom 10. April 2018, Pisciotti, C-191/16, ECLI:EU:C:2018:222; Urteil des Gerichtshofs vom 13. November 2018, Raugevicius, C-247/17, ECLI:EU:C:2018:898; Urteil des Gerichtshofs vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU, ECLI:EU:C:2020:262 und Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin, C-398/19, ECLI:EU: C:2020:1032.

(13)  Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, ECLI:EU:C:2016:630.

(14)  Urteil vom 13. November 2018, Raugevicius, C-247/17, ECLI:EU:C:2018:898.

(15)  Rechtssache C-237/21, Generalstaatsanwaltschaft München.

(16)  Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, ECLI:EU:C:2016:630.

(17)   ABl. C 202 vom 7.6.2016, S. 389.

(18)  Artikel 19 Absatz 2 der Charta lautet: „Niemand darf in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.“

(19)  Beschluss des Gerichtshofs vom 6. September 2017, Schotthöfer & Steiner/Adelsmayr, C-473/15, ECLI:EU:C:2017:633.

(20)  Artikel 47 der Charta lautet: „Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen. Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, wird Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.“

(21)  Urteil des Gerichtshofs vom 10. April 2018, Pisciotti, C-191/16, ECLI:EU:C:2018:222.

(22)  Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung (ABl. L 181 vom 19.7.2003, S. 27).

(23)  Urteil des Gerichtshofs vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU, ECLI:EU:C:2020:262.

(24)   ABl. L 292 vom 21.10.2006, S. 2.

(25)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Auslieferung an die Ukraine), C-398/19, ECLI: EU:C:2020:1032.

(26)  Urteil des Gerichtshofs vom 12. Mai 2021, WS, C-505/19, ECLI:EU:C:2021:376.

(27)  Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. L 239 vom 22.9.2000, S. 19).

(28)  Artikel 54 SDÜ lautet: „Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“

(29)  Artikel 50 der Charta lautet: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“

(30)  Urteil des Gerichtshofs vom 12. Mai 2021, WS, C-505/19, ECLI:EU:C:2021:376, Rn. 84.

(31)  Urteil des Gerichtshofs vom 13. November 2018, Raugevicius, C-247/17, ECLI:EU:C:2018:898.

(32)  Da die gesuchte Person bereits im Drittstaat verurteilt worden war.

(33)  Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen (SEV Nr. 112).

(34)  Europäisches Auslieferungsübereinkommen (SEV Nr. 24).

(35)  Vgl.: Finnland hat gemäß Artikel 6 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens folgende Erklärung abgegeben: „Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck ‚Staatsangehörige‘ Staatsangehörige von Finnland, Dänemark, Island, Norwegen und Schweden sowie Ausländer, die in diesen Staaten ihren Wohnsitz haben.“

(36)   ABl. L 181 vom 19.7.2003, S. 27.

(37)   ABl. L 149 vom 30.4.2021, S. 10.

(38)  Artikel 614 Absätze 1 und 3 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit lauten wie folgt: „1. Falls zwei oder mehr Staaten einen Europäischen Haftbefehl oder einen Haftbefehl für dieselbe Person erlassen haben, wird die Entscheidung, welcher dieser Haftbefehle vollstreckt wird, von der vollstreckenden Justizbehörde getroffen, wobei alle Umstände angemessen berücksichtigt werden, insbesondere die relative Schwere der Straftaten und der Ort des Begehens der Straftat, die jeweiligen Daten der Haftbefehle oder Europäischen Haftbefehle und ob sie zum Zweck der Strafverfolgung oder zu dem der Vollstreckung einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung oder aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung eines Mitgliedsstaats, die aus dem Unionsrecht entspringt, insbesondere aus den Prinzipien der Freizügigkeit und des Diskriminierungsverbots aufgrund der Staatsangehörigkeit, ausgestellt wurden. 3. Bei Zusammentreffen eines Haftbefehls mit einem Auslieferungsersuchen eines Drittstaats entscheidet die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats unter gebührender Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der in Absatz 1 genannten Umstände sowie der in dem anwendbaren Übereinkommen oder Abkommen beschriebenen Umstände, ob der Haftbefehl oder das Auslieferungsersuchen Vorrang hat.“

(39)  Urteil des Gerichtshofs vom 13. November 2018, Raugevicius, C-247/17, ECLI:EU:C:2018:898, Rn 29, und Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Auslieferung an die Ukraine), C-398/19, ECLI:EU: C:2020:1032, Rn. 32.

(40)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Auslieferung an die Ukraine), C-398/19, ECLI: EU:C:2020:1032, Rn. 31.

(41)  Urteil des Gerichtshofs vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU, ECLI:EU:C:2020:262.

(42)  Artikel 4 des EWR-Abkommens lautet wie folgt: „Unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Abkommens ist in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“

(43)  Artikel 36 Absatz 1 des EWR-Abkommens lautet wie folgt: „Im Rahmen dieses Abkommens unterliegt der freie Dienstleistungsverkehr im Gebiet der Vertragsparteien für Angehörige der EG-Mitgliedstaaten und der EFTA-Staaten, die in einem anderen EG-Mitgliedstaat beziehungsweise einem anderen EFTA-Staat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, keinen Beschränkungen.“

(44)  Urteil des Gerichtshofs vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU, ECLI:EU:C:2020:262, Rn. 52–55.

(45)  Urteil des Gerichtshofs vom 10. April 2018, Pisciotti, C-191/16, ECLI:EU:C:2018:222, Rn. 34.

(46)  Urteil des Gerichtshofs vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU, ECLI:EU:C:2020:262, Rn. 54.

(47)  Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, ECLI:EU:C:2016:630, Rn. 41.

(48)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Auslieferung an die Ukraine), C-398/19, ECLI: EU:C:2020:1032, Rn. 49 und 50.

(49)  Eine Liste der von den 27 EU-Mitgliedstaaten sowie von Norwegen und Island benannten nationalen Kontaktstellen ist auf der EJN-Website veröffentlicht (siehe Abschnitt 4.1).

(50)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Auslieferung an die Ukraine), C-398/19, ECLI: EU:C:2020:1032, Rn. 48.

(51)   Ebda.

(52)   Ebda., Rn. 49.

(53)   Ebda., Rn. 51.

(54)   Ebda., Rn. 48.

(55)  Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. L 130 vom 1.5.2014, S. 1).

(56)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Auslieferung an die Ukraine), C-398/19, ECLI: EU:C:2020:1032, Rn. 55.

(57)  Gemäß Artikel 6 Absatz 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl bzw. gemäß Artikel 9 Absatz 1 des Übereinkommens zwischen der Europäischen Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Island und Norwegen.

(58)  Urteil des Gerichtshofs vom 10. April 2018, Pisciotti, C-191/16, ECLI:EU:C:2018:222, Rn. 54.

(59)  Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Auslieferung an die Ukraine), C-398/19, ECLI: EU:C:2020:1032, Rn. 53 und 54.

(60)  Urteil des Gerichtshofs vom 13. November 2018, Raugevicius, C-247/17, ECLI:EU:C:2018:898, Rn. 46.

(61)   Ebda., Rn. 48.

(62)  Rechtssache C-237/21, Generalstaatsanwaltschaft München.

(63)  Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, ECLI:EU:C:2016:630, Rn. 52 und 53, und Urteil des Gerichtshofs vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU, ECLI:EU:C:2020:262, Rn. 63. Artikel 51 Absatz 1 der Charta lautet: „(1) Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.“

(64)   ABl. L 181 vom 19.7.2003, S. 27.

(65)   ABl. L 149 vom 30.4.2021, S. 10.

(66)  Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, ECLI:EU:C:2016:630, Rn. 60; Beschluss des Gerichtshofs vom 6. September 2017, Schotthöfer & Steiner/Adelsmayr, C-473/15, ECLI:EU:C:2017:633; Urteil des Gerichtshofs vom 13. November 2018, Raugevicius, C-247/17, ECLI:EU:C:2018:898, Rn. 49; Urteil des Gerichtshofs vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU, ECLI:EU:C:2020:262, Rn. 63 bis 68.

(67)  Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, ECLI:EU:C:2016:630, Rn. 57, 58 und 59.

(68)  Vgl. Absatz 3.1.1. oben.

(69)  Eine Rotecke („Red Notice“ oder „rote Fahndungsausschreibung“) ist weder ein Auslieferungsersuchen noch ein internationaler Haftbefehl. Es handelt sich um ein an Strafverfolgungsbehörden weltweit gerichtetes Ersuchen, eine Person ausfindig zu machen und vorläufig festzunehmen, für die eine Auslieferung, Übergabe oder ähnliche rechtliche Maßnahmen anhängig sind. Eine Rotecke stützt sich jedoch auf einen internationalen Haftbefehl oder eine Gerichtsentscheidung, unterstützt das Auslieferungsverfahren und enthält nationale Kriminalitätsdaten (es sei denn, die Rotecke wird von einem internationalen Gerichtshof herausgegeben). Gemäß Artikel 82 der Interpol-Regeln für die Verarbeitung von Daten [IRPD, III/IRPD/GA/2011 (2019)] werden Rotecken „auf Antrag eines Nationalen Zentralbüros oder einer internationalen Einrichtung mit Ermittlungs- und Strafverfolgungsbefugnissen herausgegeben, wenn der Aufenthaltsort einer gesuchten Person ermittelt werden soll oder diese Person inhaftiert bzw. festgenommen werden soll oder ihre Bewegungsfreiheit in Hinblick auf ihre Auslieferung, Übergabe oder eine ähnliche gesetzlich vorgesehene Maßnahme eingeschränkt werden soll“.

(70)  Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates (ABl. L 119 vom 4.5.2016, S. 89).


ANHANG 1

Darstellung der in Bezug auf Auslieferungsersuchen zum Zwecke der Strafverfolgung zu unternehmenden Schritte – Hauptschritte des Petruhhin-Mechanismus

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ANHANG 2

Übersicht über Ausnahmen eigener Staatsangehöriger (Informationen laut Angaben der Staaten)

AT:

Bundesgesetz vom 4. Dezember 1979 über die Auslieferung und die Rechtshilfe in Strafsachen (Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz – ARHG), § 12.

BE:

Auslieferungsgesetz vom 15. März 1874, Artikel 1 und 2.

BG:

Verfassung, Artikel 25 Absatz 4.

CY:

Verfassung, Artikel 11 Buchstabe f (die Auslieferung eines Staatsangehörigen ist nur gemäß einem für die Republik bindenden internationalen Vertrag zulässig, sofern dieser Vertrag von der Gegenpartei entsprechend angewandt wird, und in Bezug auf Handlungen, die nach dem Inkrafttreten der fünften Verfassungsänderung im Jahr 2006 eingetreten sind).

CZ:

Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten als Teil der Verfassungsordnung der Tschechischen Republik, Artikel 14 Absatz 4. Die Auslieferung eines tschechischen Staatsangehörigen an einen Drittstaat ist möglich, wenn der Staatsangehörige seiner Auslieferung an diesen Staat zustimmt (Abschnitt 91 Absatz 1 Buchstabe a des Gesetzes über die internationale justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen).

DE:

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 16 Absatz 2.

EE:

Verfassung, Artikel 36 (es sei denn, die Auslieferung ist auf der Grundlage eines internationalen Vertrags zugelassen).

EL:

Strafprozessordnung, Artikel 438.

ES:

Auslieferungsgesetz von 1985, Artikel 3 (es sei denn, dies ist in einem Vertrag vorgesehen, gemäß dem Grundsatz der Gegenseitigkeit).

FI:

Verfassung, Abschnitt 9 Absatz 3 (in einem Gesetz kann festgelegt werden, dass ein finnischer Staatsangehöriger aufgrund einer strafbaren Handlung zum Zwecke eines Gerichtsverfahrens an ein Land ausgeliefert werden kann, in dem seine Menschenrechte und sein Rechtsschutz gewährleistet sind). Auslieferungsgesetz (456/1970) Abschnitt 2 (über die Zusammenarbeit mit anderen Ländern als den EU-Mitgliedstaaten; finnische Staatsangehörige dürfen nicht ausgeliefert werden. Gleiches gilt für das Vereinigte Königreich).

FR:

Strafprozessordnung, Artikel 696-4.

HR:

Verfassung, Artikel 9 (es sei denn, die Auslieferung ist auf der Grundlage eines Vertrags zugelassen).

HU:

Gesetz XXXVIII von 1996 über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Abschnitt 13.

IC:

Gesetz Nr. 13 von 1984, Gesetz über die Auslieferung von Straftätern und sonstige Unterstützung in Strafverfahren (gilt nicht für Ersuchen Dänemarks, Finnlands, Norwegens und Schwedens).

IE:

Gemäß dem irischen Auslieferungsgesetz von 1965 kann Irland seine eigenen Staatsangehörigen ausliefern, wenn ein Auslieferungsabkommen mit einem Drittstaat besteht, und dieses Land kann seine eigenen Staatsangehörigen an Irland ausliefern.

IT:

Verfassung, Artikel 26 Absatz 1 (es sei denn, die Auslieferung ist auf der Grundlage eines Vertrags zugelassen).

LT:

Verfassung, Artikel 13 (es sei denn, die Auslieferung ist auf der Grundlage eines Vertrags zugelassen).

LU:

Geändertes Gesetz vom 20. Juni 2001, Artikel 7.

LV:

Verfassung, Artikel 98 (es sei denn, die Auslieferung ist auf der Grundlage eines Vertrags zugelassen).

MT:

Verfassung, Artikel 43 (es sei denn, die Auslieferung ist auf der Grundlage eines Vertrags zugelassen).

NL:

Uitleveringswet, Artikel 4 (eine Auslieferung für Strafverfolgungszwecke ist zugelassen, wenn Garantien gegeben werden).

NO:

Gesetz Nr. 39 vom 13. Juni 1975 betreffend die Auslieferung von Straftätern (gilt nicht für Ersuchen von Staaten in der Europäischen Union und von Island).

PL:

Verfassung, Artikel 55.

PT:

Verfassung, Artikel 33 Absatz 1 (es sei denn, die Auslieferung ist auf der Grundlage eines Vertrags oder im Rahmen von Garantien zugelassen, und nur für Strafverfolgungszwecke).

RO:

Verfassung, Artikel 19 Absatz 2 (es sei denn, die Auslieferung ist auf der Grundlage internationaler Abkommen zugelassen, denen Rumänien beigetreten ist, nach dem Gesetz und auf Grundlage der Gegenseitigkeit).

SE:

Gesetz (1957:668) über Auslieferung, Abschnitt 2.

SI:

Verfassung, Artikel 47.

SK:

Strafprozessordnung, Abschnitt 501 (außer in Fällen, in denen eine Auslieferungspflicht durch Gesetz, einen völkerrechtlichen Vertrag oder den Beschluss einer internationalen Organisation, an den die Slowakische Republik gebunden ist, vorgesehen ist).

 

Staat, der nicht ausdrücklich eine Ausnahme eigener Staatsangehöriger vorsieht:

DK:

Dänisches Auslieferungsgesetz, Artikel 18 (allerdings sind strengere Vorschriften für die Auslieferung eigener Staatsangehöriger als für die von Staatsangehörigen anderer Staaten vorgesehen).


ANHANG 3

Muster für die Unterrichtung des Staates, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person hat

An die zuständige Behörde von:…[Staat(en)]

Mit diesem Schreiben werden Sie darüber unterrichtet, dass ein Haftbefehl/ein Auslieferungsersuchen für die Zwecke der [Zutreffendes ankreuzen]:

Strafverfolgung

Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung

von einem Drittstaat in Bezug auf eine Person (aus)gestellt wurde, die die Staatsangehörigkeit Ihres Staates besitzt.

Angaben zur Identität der gesuchten Person

Name:

Vorname(n):

ggf. Geburtsname:

ggf. Aliasname:

Geschlecht:

Staatsangehörigkeit:

Geburtsdatum:

Geburtsort:

Wohnort und/oder bekannte Anschrift:

Falls bekannt: Sprache oder Sprachen, die die gesuchte Person versteht:

Besondere Kennzeichen/Beschreibung der gesuchten Person:

Angaben zur Behörde des ersuchenden Drittstaats

Ausstellender Drittstaat:

(Justiz-)Behörde, die den Haftbefehl/das Auslieferungsersuchen (aus)gestellt hat:

Name ihres Vertreters:

Funktion (Titel/Dienstrang):

Aktenzeichen:

Anschrift:

Kontaktdaten:

Angaben zu den Straftaten, die der betreffenden Person zur Last gelegt werden

Das Auslieferungsersuchen betrifft insgesamt …[Anzahl] Straftaten.

Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat(en) begangen wurde(n), einschließlich Tatzeit (Datum und Uhrzeit), Tatort und Art der Beteiligung der gesuchten Person an der(n) Straftat(en):

 

Art und rechtliche Würdigung der Straftat(en), einschließlich der anwendbaren Gesetzes-/Rechtsnorm:

 

Weitere vom Drittstaat bereitgestellte Angaben (die vom Drittstaat bereitgestellten Unterlagen sind diesem Formblatt als Anhang beigefügt, wenn möglich):

 

Die zuständigen Behörden des Staates, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person hat, werden ersucht, auf der Grundlage der vorstehenden Angaben über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls/EU-IS/NO-Haftbefehls gegen die gesuchte Person zu entscheiden, um die Strafverfolgung bezüglich derselben Straftat(en)/Handlung(en) durchzuführen, die Gegenstand des Auslieferungsersuchens ist/sind, zu übernehmen.

Diese unterrichtende Behörde betrachtet …[Zeitraum] als angemessene Frist, um bis zum …[maßgebliches Datum] von der Entscheidung in Kenntnis gesetzt zu werden.

Nach Ablauf dieser Frist wird der ersuchte Staat das Auslieferungsverfahren fortführen, wenn beim ersuchten Staat bis dahin keine Antwort des Staates, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person hat, eingegangen ist.

Machen Sie bitte sachdienliche Angaben zum Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung:

 

Alternativ dazu geben Sie bitte an, dass ein begründeter Verdacht besteht, dass das Auslieferungsersuchen politisch motiviert ist, und belegen Sie dies:

 

Kontaktangaben der zuständigen Behörde, die Informationen über das Auslieferungsersuchen übermittelt

Staat:

Zuständige Behörde:

Kontaktperson:

Funktion:

Aktenzeichen:

Kontaktdaten (E-Mail-Adresse/Telefonnummer):

Datum und Unterschrift


ANHANG 4

Muster für die Übermittlung zusätzlicher Angaben an den Staat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person hat

An die zuständige Behörde von:.…

Im Anschluss an die Mitteilung vom … [Datum] übermittelt der unterrichtende Staat gemäß der im Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache Petruhhin (1) festgelegten Verpflichtung zur Einleitung eines Konsultationsverfahrens zusätzliche Angaben, die für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls/EU-IS/NO-Haftbefehls von Nutzen sein können.

Angaben zur Identität der gesuchten Person

Name:

Vorname(n):

ggf. Geburtsname:

ggf. Aliasname:

Geschlecht:

Staatsangehörigkeit:

Geburtsdatum:

Geburtsort:

Wohnort und/oder bekannte Anschrift:

Falls bekannt: Sprache oder Sprachen, die die gesuchte Person versteht:

Besondere Kennzeichen/Beschreibung der gesuchten Person:

Angaben zur Behörde des ersuchenden Drittstaats

Ausstellender Drittstaat:

(Justiz-)Behörde, die den Haftbefehl/das Auslieferungsersuchen (aus)gestellt hat:

Name ihres Vertreters:

Funktion (Titel/Dienstrang):

Aktenzeichen:

Anschrift:

Kontaktdaten:

Weitere sachdienliche Angaben:

 

Kontaktdaten des Staates, der die Angaben zum Auslieferungsersuchen übermittelt

Staat:

Zuständige Behörde:

Kontaktperson:

Funktion:

Aktenzeichen:

Kontaktdaten (E-Mail-Adresse/Telefonnummer):

Zentrale Behörde:

Datum und Unterschrift


(1)  Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, ECLI:EU:C:2016:630.


ANHANG 5

Muster für die Beantragung einer Verlängerung der Frist für die Unterrichtung der ersuchten Behörde gemäß dem Petruhhin-Mechanismus

Im Anschluss an die von … am …[Datum] eingegangene Mitteilung über das Auslieferungsersuchen zum Zwecke der Strafverfolgung in Bezug auf den Staatsangehörigen des betroffenen Staates, …[Name der betreffenden Person], ausgestellt von …[Drittstaat], ersucht der betroffene Staat um eine Verlängerung der vom ersuchten Staat eingeräumten Frist für die Unterrichtung über eine Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls/EU-IS/NO-Haftbefehls gemäß der Anwendung des Petruhhin-Mechanismus.

Es wird im Einzelnen darum ersucht, die Frist um … [Zeitraum/Tage] zu verlängern, sodass der ersuchte Staat bis zum… [Datum] über diese Entscheidung unterrichtet wird.

Nähere Angaben dazu, warum die Verlängerung notwendig ist.

 

Einschlägige Kontaktangaben

Staat:

Zuständige Behörde:

Kontaktperson:

Funktion:

Aktenzeichen:

Kontaktdaten (E-Mail-Adresse/Telefonnummer):

Datum und Unterschrift


ANHANG 6

Muster für die Beantwortung eines Antrags auf Fristverlängerung

Im Anschluss an den Antrag Ihres Staates auf Verlängerung der Frist für die Unterrichtung über eine Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls/EU-IS/NO-Haftbefehls gemäß dem Petruhhin-Mechanismus in Bezug auf die Mitteilung des ersuchten Staates vom …[Datum] über das Auslieferungsersuchen zum Zwecke der Strafverfolgung in Bezug auf …[Name der betreffenden Person], ausgestellt von …[Drittstaat],

teilt der ersuchte Staat mit, dass er …[Zutreffendes ankreuzen]:

– a)

die Fristverlängerung akzeptiert, wie sie vom Staat, dessen Staatsangehörigkeit die betroffene Person hat, vorgeschlagen wurde,

– b)

die Fristverlängerung um …[Zeitraum/Tage] akzeptiert: die Unterrichtung über die Entscheidung sollte bis zum …[Datum] übermittelt werden;

– c)

die Frist nicht wie vom Staat, dessen Staatsangehörigkeit die betroffene Person hat, vorgeschlagen verlängern kann.

Im Fall von c) bitte die Gründe für die Nichtgewährung der Verlängerung angeben:

 

Einschlägige Kontaktangaben

Staat:

Zuständige Behörde:

Kontaktperson:

Funktion:

Aktenzeichen:

Kontaktdaten (E-Mail-Adresse/Telefonnummer):

Datum und Unterschrift


ANHANG 7

Muster für die Übermittlung einer Antwort des Staates, dessen Staatsangehörigkeit die betroffene Person hat, an den ersuchten Staat

Im Anschluss an die von … am …[Datum] eingegangene Mitteilung über das Auslieferungsersuchen zum Zwecke der Strafverfolgung, das von …[Drittstaat] in Bezug auf einen Staatsangehörigen dieses Staates gestellt wurde, sowie den in dieser Mitteilung enthaltenen Angaben, teilt der diese Antwort übermittelnde Staat mit, dass er …[Zutreffendes ankreuzen]:

– a)

einen Europäischen Haftbefehl/EU-IS/NO-Haftbefehl gegen die gesuchte Person bezüglich derselben(n) Straftat(en)/Handlung(en) wie das Auslieferungsersuchen ausgestellt hat,

– b)

keinen Europäischen Haftbefehl/EU-IS/NO-Haftbefehl gegen die gesuchte Person ausstellen wird,

– c)

Informationen übermittelt, da das Auslieferungsersuchen unbegründet/missbräuchlich/politisch motiviert ist:

 

Angaben der betreffenden Person

Name:

Vorname(n):

ggf. Geburtsname:

ggf. Aliasname:

Geschlecht:

Staatsangehörigkeit:

Geburtsdatum:

Geburtsort:

Wohnort und/oder bekannte Anschrift:

Angaben der zuständigen Behörden

Ausstellender Staat:

Zuständige Behörde:

Name ihres Vertreters:

Funktion (Titel/Dienstrang):

Aktenzeichen:

Anschrift:

Kontaktdaten:

Falls zutreffend: Zuständige ausstellende Justizbehörde

Name ihres Vertreters:

Funktion (Titel/Dienstrang):

Aktenzeichen:

Anschrift:

Kontaktdaten:

Formelle Entscheidung über die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls/EU-IS/NO-Haftbefehls (als Anlage beigefügt, wenn bereits ausgestellt):

 

Weitere Informationen:

 

Einschlägige Kontaktangaben

Staat:

Zuständige Behörde:

Kontaktperson:

Funktion:

Aktenzeichen:

Kontaktdaten (E-Mail-Adresse/Telefonnummer):

Datum und Unterschrift


ANHANG 8

Muster für die Übermittlung oder Anforderung von Informationen über unbegründete, missbräuchliche, insbesondere politisch motivierte Auslieferungsersuchen und/oder Ersuchen, die Bedenken in Bezug auf die Charta/die EMRK auslösen

Gerichtet an [Zutreffendes ankreuzen]:

die benannte Kontaktstelle von …[Staat(en)];

alle 29 Kontaktstellen;

Eurojust;

Europol;

Interpol.

Dieses Dokument dient dazu, Informationen anzufordern oder mitzuteilen, dass ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaats vorliegt, das als unbegründet, missbräuchlich, insbesondere politisch motiviert, betrachtet wird.

Angaben zur Identität der gesuchten Person

Name:

Vorname(n):

ggf. Geburtsname:

ggf. Aliasname:

Geschlecht:

Staatsangehörigkeit:

Geburtsdatum:

Geburtsort:

Wohnort und/oder bekannte Anschrift:

Falls bekannt: Sprache oder Sprachen, die die gesuchte Person versteht:

Besondere Kennzeichen/Beschreibung der gesuchten Person:

Angaben zur ersuchenden Behörde des Drittstaats und zum Auslieferungsersuchen

1.   Ausstellender Drittstaat:

(Justiz-)Behörde, die den Haftbefehl/das Auslieferungsersuchen (aus)gestellt hat:

Name ihres Vertreters:

Funktion (Titel/Dienstrang):

Aktenzeichen:

Anschrift:

Kontaktdaten:

2.   Auslieferungsersuchen [Zutreffendes ankreuzen]:

zum Zwecke der Strafverfolgung;

zum Zwecke der Vollstreckung einer Strafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung.

Referenznummer des Auslieferungsersuchens:

3.   Angaben zu den Straftaten, die der betreffenden Person zur Last gelegt werden:

Das Auslieferungsersuchen betrifft insgesamt …[Anzahl] Straftaten.

Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat(en) begangen wurde(n), einschließlich Tatzeit (Datum und Uhrzeit), Tatort und Art der Beteiligung der gesuchten Person an der(n) Straftat(en):

 

Art und rechtliche Würdigung der Straftat(en), einschließlich der anwendbaren Gesetzes-/Rechtsnorm:

 

Gründe für die Annahme, dass das Auslieferungsersuchen als unbegründet, missbräuchlich, insbesondere politisch motiviert betrachtet wird, und/oder dass das Ersuchen Bedenken in Bezug auf die Charta/die EMRK auslöst:

(bitte näher ausführen):

 

Kontaktdaten des Staates, der die Angaben zum Auslieferungsersuchen übermittelt

Staat:

Zuständige Behörde:

Kontaktperson:

Funktion:

Aktenzeichen:

Kontaktdaten (E-Mail-Adresse/Telefonnummer):

Datum und Unterschrift


ELI: http://data.europa.eu/eli/C/2023/1270/oj

ISSN 1977-088X (electronic edition)