ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 184

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

66. Jahrgang
25. Mai 2023


Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

ENTSCHLIEßUNGEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

577. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 22.3.2023-23.3.2023

2023/C 184/01

Entschließung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Vereint für die Demokratie

1

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

577. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 22.3.2023-23.3.2023

2023/C 184/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Jugendaktionsplan für das auswärtige Handeln der EU 2022-2027 (Initiativstellungnahme)

5

2023/C 184/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Rolle junger Menschen im ökologischen Wandel (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des schwedischen Ratsvorsitzes)

13

2023/C 184/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Holzbau zur Verringerung der CO2-Emissionen im Gebäudesektor (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des schwedischen Ratsvorsitzes)

18


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

577. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 22.3.2023-23.3.2023

2023/C 184/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Maßnahmen für ein hohes Maß an Interoperabilität des öffentlichen Sektors in der Union (Gesetz für ein interoperables Europa) (COM(2022) 720 final — 2022/0379 (COD)) und zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über eine gestärkte EU-Interoperabilitätspolitik im öffentlichen Sektor — Verknüpfung öffentlicher Dienste, Unterstützung der öffentlichen Politik und Schaffung öffentlichen Nutzens — Auf dem Weg zu einem interoperablen Europa(COM(2022) 710 final)

28

2023/C 184/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts(COM(2022) 702 final — 2022/0408 (COD))

34

2023/C 184/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2246/2002 der Kommission(COM(2022) 666 final — 2022/0391 (COD)) und Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den rechtlichen Schutz von Designs (Neufassung)(COM(2022) 667 final — 2022/0392 (COD))

39

2023/C 184/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Strategische Vorausschau 2022 — Verzahnung des grünen und des digitalen Wandels im neuen geopolitischen Kontext (COM(2022) 289 final)

45

2023/C 184/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss — Auf dem Weg zu einem stärkeren EU-Clearingsystem(COM(2022) 696 final) und Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 648/2012, (EU) Nr. 575/2013 und (EU) 2017/1131 im Hinblick auf Maßnahmen zur Minderung übermäßiger Risikopositionen gegenüber zentralen Gegenparteien aus Drittstaaten und zur Steigerung der Effizienz der Clearingmärkte der Union(COM(2022) 697 final — 2022/0403 (COD))

49

2023/C 184/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung(COM(2022) 707 final — 2022/0413(CNS))

55

2023/C 184/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Künftige Richtlinie über strafrechtliche Sanktionen für den Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union(COM(2022) 249 final), Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Aufnahme des Verstoßes gegen restriktive Maßnahmen der Union in die Kriminalitätsbereiche nach Artikel 83 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union(COM(2022) 247 final), Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Definition von Straftatbeständen und Sanktionen bei Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union(COM(2022) 684 final)

59

2023/C 184/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Empfehlung des Rates für ein angemessenes Mindesteinkommen zur Gewährleistung einer aktiven Inklusion(COM(2022) 490 final — 2022/0299 (NLE))

64

2023/C 184/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Standards für Gleichstellungsstellen im Bereich der Gleichbehandlung und Chancengleichheit von Frauen und Männern in Arbeits- und Beschäftigungsfragen(COM(2022) 688 final — 2022/0400 (COD)) und Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Standards für Gleichstellungsstellen im Bereich der Gleichbehandlung von Personen ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, der Gleichbehandlung von Personen in Beschäftigung und Beruf ungeachtet ihrer Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung und ihrer sexuellen Ausrichtung sowie von Frauen und Männern im Bereich der sozialen Sicherheit und im Bereich des Zugangs zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen und zur Streichung von Artikel 13 der Richtlinie 2000/43/EG und Artikel 12 der Richtlinie 2004/113/EG(COM(2022) 689 final — 2022/0401 (APP))

71

2023/C 184/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Überarbeitung des Aktionsplans der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels(COM(2022) 581 final)

78

2023/C 184/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Unionsrahmens für die Zertifizierung von CO2‐Entnahmen(COM(2022) 672 final — 2022/0394 (COD))

83

2023/C 184/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Lage der Energieunion 2022 (gemäß der Verordnung (EU) 2018/1999 über das Governance-System für die Energieunion und für den Klimaschutz)(COM(2022) 547 final)

88

2023/C 184/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Digitalisierung des Energiesystems — EU-Aktionsplan(COM(2022) 552 final)

93

2023/C 184/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 98/24/EG des Rates und der Richtlinie 2004/37/EG des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Grenzwerte für Blei und seine anorganischen Verbindungen und Diisocyanate(COM(2023) 71 final — 2023/0033 (COD))

101

2023/C 184/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2012/19/EU über Elektro- und Elektronik-Altgeräte(COM(2022) 63 final — 2022/025(COD))

102

2023/C 184/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2014/65/EU zur Steigerung der Attraktivität der öffentlichen Kapitalmärkte in der Union für Unternehmen und zur Erleichterung des Kapitalzugangs für kleine und mittlere Unternehmen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/34/EG(COM(2022) 760 final — 2022/0405 (COD)), Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Strukturen mit Mehrstimmrechtsaktien in Gesellschaften, die eine Zulassung ihrer Anteile zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt beantragen(COM(2022) 761 final — 2022/0406 (COD)), Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EU) 2017/1129, (EU) Nr. 596/2014 und (EU) Nr. 600/2014 zur Steigerung der Attraktivität der öffentlichen Kapitalmärkte in der Union für Unternehmen und zur Erleichterung des Kapitalzugangs für kleine und mittlere Unternehmen(COM(2022) 762 final — 2022/0411 (COD))

103

2023/C 184/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Sicherstellung der Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit von Düngemitteln(COM(2022) 590 final)

109


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

ENTSCHLIEßUNGEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

577. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 22.3.2023-23.3.2023

25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/1


Entschließung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Vereint für die Demokratie“

(2023/C 184/01)

Berichterstatter:

Stefano MALLIA (MT-I)

Oliver RÖPKE (AT-II)

Séamus BOLAND (IE-III)

Rechtsgrundlage

Artikel 50 der Geschäftsordnung

Verabschiedung im Plenum

23.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

181/0/5

Die Erholung nach der Pandemie, die demokratischen Werte, der zivilgesellschaftliche Raum, die Medienfreiheit sowie die Vielfalt und die liberale Demokratie sind sowohl außerhalb als auch innerhalb der EU zunehmend gefährdet. Dies gilt in verstärktem Maße seit dem Beginn des Kriegs auf europäischem Boden, zumal weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung in einem demokratischen System lebt.

Während die Welt weiterhin Zeuge des grausamen Kriegs in der Ukraine und seiner verheerenden humanitären, sozialen und wirtschaftlichen Folgen ist, ruft der EWSA zur Stärkung der Demokratie und der demokratischen Werte auf.

Das außerordentliche Engagement der zivilgesellschaftlichen Organisationen in der EU, die humanitäre, logistische und medizinische Hilfe für die ukrainische Bevölkerung leisten, hat auch vor Augen geführt, wie wichtig eine gut vernetzte, effiziente und lebendige Zivilgesellschaft ist. Über die Ukraine hinaus setzen sich auch im Iran, in Belarus und in Moldau Basisbewegungen für die Demokratie ein. Ihre Stärkung ist zugleich eine Stärkung der Demokratie.

Heute ist es wichtiger denn je, in die Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Demokratien zu investieren und sie besser in die Lage zu versetzen, unsere Grundrechte zu schützen sowie dauerhaften Frieden und Stabilität und letztlich Wohlstand für alle zu schaffen.

Es steht außer Zweifel, dass wir gemeinsam über neue Ansätze zur Stärkung der Strukturen der partizipativen Demokratie nachdenken sollten. Eine starke, unabhängige und vielfältige Zivilgesellschaft ist wichtiger denn je, denn sie ist eine grundlegende Voraussetzung für aktives bürgerschaftliches Engagement und eine widerstandsfähige Demokratie, die in der Lage ist, die Rechtsstaatlichkeit, die Grundrechte, die Meinungsfreiheit und die Integrität unserer demokratischen Lebensweise zu schützen. Die Demokratie in der EU ist untrennbar und unwiderruflich mit den in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) verankerten Konzepten der Gleichheit, Gerechtigkeit, Achtung der Menschenrechte und Nichtdiskriminierung verbunden.

In Zeiten komplexer Veränderungen und Herausforderungen kann die deliberative/partizipative Demokratie im Rahmen des erforderlichen systemischen Wandels ein Puzzleteil des großen Ganzen sein. Es gibt viele Möglichkeiten, wie die politischen Entscheidungsträger wirksam in die Lage versetzt werden können, schwere Entscheidungen zu brisanten politischen Fragen zu treffen, und wie das Vertrauen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der staatlichen Ebene gestärkt werden kann. Voraussetzung ist jedoch, dass die Meinungsvielfalt und das Recht auf freie Meinungsäußerung gewahrt werden. Doch braucht es mehr als nur die partizipative Demokratie allein. Die demokratischen Gesellschaften sind mit vielen verschiedenen Herausforderungen konfrontiert, die unterschiedliche Formen der Teilhabe erfordern. Im Zuge einer demokratischen Regierungs- und Verwaltungsführung sollten deshalb verschiedene Verfahren für unterschiedliche Zwecke zum Einsatz kommen, deren jeweilige Stärken und Schwächen genutzt werden.

Wir müssen gemeinsam auf ein neues Gleichgewicht zwischen repräsentativer Demokratie, partizipativer Demokratie und direkter Demokratie hinwirken.

In den am 9. Mai 2022 angenommenen Schlussfolgerungen der Konferenz zur Zukunft Europas betreffend die „Europäische Demokratie“ wurden insbesondere in den Vorschlägen 36 und 39 die Ziele festgelegt, für eine stärkere Bürgerbeteiligung zu sorgen und die Strukturen für die partizipative Demokratie und deliberative Maßnahmen zu stärken. Angesichts der Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft Europas und der wichtigen Rolle, die der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bereits heute wahrnimmt, möchte der EWSA verschiedene Optionen aufzeigen, mit denen ein Konzept für institutionelle Reformen abgesteckt werden könnte, das den Zielen des EWSA am besten gerecht wird.

Vor diesem Hintergrund und rückblickend auf die Tage der Zivilgesellschaft 2023

1.

fordert der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die wirksame Umsetzung von Artikel 11 EUV, einschließlich einer europäischen Strategie für die Zivilgesellschaft und eines europäischen Statuts für Vereine, um verschiedene Bausteine zu einem wirklich befähigenden und inklusiven Raum zu verbinden, um Einbeziehung neu zu denken und einen strukturierten Dialog mit der Zivilgesellschaft bei den EU-Organen zu etablieren, unter anderem indem die organisierte Zivilgesellschaft insbesondere zu Sozialgipfeln und hochrangigen Konferenzen eingeladen wird. Für eine substanziellere und umfassendere Einbeziehung der Zivilgesellschaft werden auch die entsprechenden Mittel gebraucht. Die Finanzierungsmöglichkeiten müssen verbessert und gerechte und transparente politische Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliche Organisationen geschaffen werden, u. a. ein grenzüberschreitender Schutz, um Kapazitäten und Resilienz für alle Organisationen der Zivilgesellschaft, einschließlich Jugendorganisationen, der Sozialwirtschaft und des Freiwilligensektors, ebenso wie den Zugang zu einer flexiblen und nachhaltigen Ausstattung mit privaten oder öffentlichen Mitteln auf- und auszubauen;

2.

betont, dass die Schlüsselrolle der organisierten Zivilgesellschaft und der Sozialpartner bei der Unterstützung der deliberativen Demokratie als Ergänzung der repräsentativen Demokratie gestärkt werden muss, um den zivilgesellschaftlichen Dialog in allen Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene weiter zu stärken. Die europäischen Demokratien beziehen ihre Stärke und Kraft aus einer soliden und breit angelegten Zusammenarbeit zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten, die zum Aufbau der Kapazitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen beitragen müssen, da unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen „Hüter des Gemeinwohls“ sind und eine entscheidende Rolle bei der Suche nach nachhaltigen Lösungen, der Förderung gesellschaftlicher Innovation und dem Aufbau gegenseitigen Vertrauens in den Gesellschaften spielen. Zivilgesellschaftliche Organisationen wirken ferner an der Entwicklung von Verfahren mit und stellen Fachwissen bereit, um der Debatte mehr Vielfalt zu geben und die partizipative Demokratie gemäß den Verträgen zu ermöglichen;

3.

fordert als Antwort auf die aktuellen Herausforderungen einen ganzheitlichen und kooperativen Ansatz für die allgemeine und berufliche Bildung. Eine europäische Kompetenzpolitik sollte gemeinsam mit Organisationen der Zivilgesellschaft und den Sozialpartnern gestaltet werden, die über politisches Kapital, konkretes Wissen und Kenntnis des aktuellen Bedarfs und möglicher Defizite verfügen; ruft in diesem Zusammenhang dazu auf, 2025 zum Europäischen Jahr der Freiwilligen auszurufen, da dieser Sektor eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung informeller Kompetenzen spielt;

4.

betont, dass Querschnittskompetenzen das eigentliche Rückgrat einer partizipativen und deliberativen Demokratie sind: Zusammenarbeit, kritisches Denken, Problemlösungsfähigkeiten, demokratisches und kollektives Management, Konfliktlösungskompetenzen, politische Bildung und Medienkompetenz. Diese Kompetenzen sind von zentraler Bedeutung für die Bekämpfung demokratiefeindlicher Tendenzen, die Förderung europäischer Werte und die Überwindung der derzeitigen sozioökonomischen und politischen Kluft, während gleichzeitig Organisationen der Zivilgesellschaft und den Sozialpartnern die Möglichkeit gegeben wird, politische Maßnahmen durch konsultative oder partizipative Instrumente zu gestalten, um Rechenschaftspflicht, Transparenz und aktive Bürgerschaft zu erreichen;

5.

verpflichtet sich, an der Weiterentwicklung von Instrumenten zur Stärkung der partizipativen und deliberativen Demokratie wie der Europäischen Bürgerinitiative und öffentlichen Online-Konsultationen in der EU mitzuwirken, die uneingeschränkt zugänglich sein und in der breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden müssen;

6.

unterstreicht die große Bedeutung der Europawahl 2024 und die entscheidende Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen für eine stärkere Wahlbeteiligung und eine proeuropäische Stimmung sowie für die Mobilisierung von Nichtwählerinnen und -wählern und die Bekämpfung von Desinformation; fordert die europäischen Parteienfamilien auf, in ihren Wahlprogrammen die Bedeutung der Organisationen der Zivilgesellschaft für die Förderung des demokratischen Lebens hervorzuheben;

7.

bekräftigt seine Bereitschaft, gemeinsam mit den Organisationen der Zivilgesellschaft und den EU-Organen Brücken zu bauen, um mit den Bürgerinnen und Bürgern über das europäische Projekt zu diskutieren, und zwar nicht nur mit denen, die bereits überzeugt sind, und sie in ihren Gemeinschaften, Regionen, Städten und Dörfern zu erreichen. Daher müssen unbedingt Möglichkeiten für die Teilnahme an öffentlichen Debatten geschaffen und eine Kultur der Partizipation auf allen Ebenen gefördert werden;

8.

ist der Auffassung, dass die Kommission in ihren Diensten Kontaktstellen für den zivilen Dialog einrichten und gemeinsam mit den Mitgliedstaaten die Strukturen des zivilen Dialogs stärken und ggf. deren Einrichtung mit europäischen Mitteln unterstützen sollte. Diese Initiative würde das Bewusstsein schärfen und die Qualität des zivilgesellschaftlichen Dialogs verbessern und damit der Kommission und den Mitgliedstaaten helfen, die Vorteile, die ein gut funktionierender zivilgesellschaftlicher Dialog für die Politikgestaltung bietet, besser zu begreifen. Darüber hinaus würde der zivilgesellschaftliche Dialog durch Forschungs- und Überwachungstätigkeiten gestärkt, mit deren Hilfe bewährte Verfahren festgestellt und ausgetauscht werden könnten;

9.

betont in diesem Zusammenhang, dass die Einbeziehung von jungen Menschen und Jugendorganisationen besonders wichtig ist, um Erstwählerinnen und -wähler und junge Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren. Damit wirklich alle vertreten sind, müssen Lösungen unterstützt werden, die eine breite Beteiligung ermöglichen und die Chancengleichheit in dieser Hinsicht fördern. Auch die Menschen, die am weitesten von den Entscheidungszentren entfernt leben, müssen erreicht und in den Dialog eingebunden werden. Eine stärkere Partizipation auf lokaler Ebene ist ein Muss;

10.

fordert darüber hinaus das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und die Mitgliedstaaten auf, den Akt zur Einführung von Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments von 1976 unverzüglich zu ändern und grundsätzlich festzustellen, dass diese Wahlen allgemein, unmittelbar und geheim sind. So könnten Standards EU-weit angewandt und somit das Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen gewährleistet werden;

Auf der Grundlage der vorstehenden Empfehlungen und der Konferenz zur Zukunft Europas

11.

betrachtet der EWSA das kürzlich unterzeichnete Protokoll über die Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission (27. Oktober 2022) als Bekräftigung der politischen Verpflichtung, einen Beitrag zur europäischen politischen Agenda und zu Europas Hauptzweck und wesentlichen Zielsetzungen (1) und Bestrebungen zu leisten, nämlich einer wettbewerbsfähigen, wirtschaftlich florierenden, sozial inklusiven und ökologisch nachhaltigen Europäischen Union. Gleichzeitig ist dafür zu sorgen, dass die Umstellung auf Klimaneutralität, die Digitalisierung und der demografische Wandel sozial fair und gerecht vonstattengehen und der europäische Grüne Deal und die digitale Dekade 2030 für alle Europäerinnen und Europäer zu einem Erfolg werden. Die Europäische Union muss sich auch von der Europäischen Säule sozialer Rechte und einer Wettbewerbsfähigkeitsagenda leiten lassen, den politischen Fahrplänen, mit denen sichergestellt wird, dass niemand zurückgelassen wird;

12.

ist bereit und besitzt heute mehr denn je die Legitimität, als zentrales Forum für die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger und der organisierten Zivilgesellschaft, einschließlich künftiger Bürgerforen, zu agieren. Ein solches Forum sollte zur Aufgabe haben, die Wirkung laufender Bürgerkonsultationen der Europäischen Kommission und anderer Institutionen zu verstärken und zudem systematisch zu allen wichtigen Prioritäten und Maßnahmen der europäischen politischen Agenda ein Feedback der europäischen organisierten Zivilgesellschaft einzuholen. Dies wird dazu beitragen, das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Projekt EU und die EU-Institutionen zu stärken, indem den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit eingeräumt wird, einen wirksamen Beitrag zur öffentlichen Entscheidungsfindung zu leisten. Der EWSA würde als Gastgeber mithilfe von externen Sachverständigen und Vertreterinnen und Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen deliberative Verfahren leiten, überwachen, gestalten, organisieren, abhalten und unterstützen. Dieses Angebot baut insbesondere auf dem Abschlussbericht der Konferenz zur Zukunft Europas vom 9. Mai 2022 auf, in dem ausdrücklich Folgendes gefordert wird: „die institutionelle Rolle des EWSA [sollte] gestärkt werden und er sollte als Vermittler und Garant für partizipative Demokratieaktivitäten wie den strukturierten Dialog mit den Organisationen der Zivilgesellschaft und die Bürgerforen fungieren“. In diesem Zusammenhang sollten ggf. im Rahmen einer Bewertung der EU-Maßnahmen die Empfehlungen, die in den Initiativstellungnahmen des EWSA und den von ihm auf Ersuchen der Kommission erarbeiteten Sondierungsstellungnahmen formuliert wurden, überprüft werden;

13.

ist der Ansicht, dass Bürgerforen und Konsultationen der Organisationen der Zivilgesellschaft sich auf die Festlegung der Agenda wie z. B. die Ausarbeitung des Arbeitsprogramms der Kommission konzentrieren oder in den Lebenszyklus der wichtigsten legislativen Prioritäten eingebunden werden könnten. Die Beiträge der Bürgerinnen und Bürger könnten in der Phase vor dem eigentlichen Rechtsetzungsprozess am nützlichsten sein, wenn es darum geht, im Vorfeld bestimmter wichtiger (legislativer) Vorschläge zu beraten und Empfehlungen abzugeben. Hierzu könnten die Bürgerforen und zivilgesellschaftliche Organisationen auf der Grundlage eines jährlichen Fahrplans und Zeitplans, die der EWSA in Zusammenarbeit mit den EU-Organen festlegt, konsultiert werden. Dies könnte gezielte Ersuchen seitens der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments oder des Rates der Europäischen Union, durch den EWSA selbst aus eigener Initiative oder auf Initiative seiner Partnerorganisation, des Europäischen Ausschusses der Regionen, umfassen;

14.

bekräftigt, dass der Tätigkeitszyklus mit der Rede zur Lage der Union und der Absichtserklärung zum jährlichen Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für das folgende Jahr beginnen könnte. Die Konsultationen sollten im ersten Halbjahr des Folgejahres abgehalten werden;

15.

wird als Ergänzung zu den Instrumenten zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit den EU-Organen auch weiterhin vorschlagen, ein jährliches EU-Forum für Grundrechte, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einzurichten. Mit diesem Forum wird dafür gesorgt, dass die Entscheidungsträger in der EU von der organisierten Zivilgesellschaft und den Basisorganisationen in sämtlichen Mitgliedstaaten frühzeitig vor etwaigen Problemen bei der vollständigen und transparenten Anwendung von Artikel 2 EUV gewarnt werden, und so die Überwachung verbessert. Darüber hinaus fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, in die künftige Überarbeitung des Aktionsplans für Demokratie in Europa ein Kapitel über die Zivilgesellschaft aufzunehmen. Der EWSA wird auch eine wichtige Rolle bei der Überwachung des Beitritts von Kandidatenländern spielen und substanzielle Gespräche mit den Beteiligten fördern, um dafür zu sorgen, dass die europäischen Werte, einschließlich der Rechte nationaler und ethnischer Minderheiten, geachtet werden;

16.

wird eine Europäische Woche der Zivilgesellschaft ins Leben rufen, um seine Bedeutung als Haus der europäischen Zivilgesellschaft zu stärken und die Reichweite seiner Leitinitiativen, wie der Tage der Zivilgesellschaft, des Tags der Europäischen Bürgerinitiative, der Jugendplenartagung „Your Europe Your Say!“ und des Preises der Zivilgesellschaft, zu erhöhen. Diese Initiative soll wichtige Akteure der europäischen und nationalen Organisationen der Zivilgesellschaft zusammenbringen und ein Forum für den Dialog über Fragen bieten, die für die Interessenträger der Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene von Belang sind. Der EWSA wird sich um eine Stärkung der Aktivitäten an der Basis bemühen, um möglichst auch diejenigen zu erreichen, die nur begrenzte Möglichkeiten zur Teilnahme an Debatten über europäische Themen haben, und um dafür zu sorgen, dass ihre Stimme bei Entscheidungsprozessen gehört wird.

Brüssel, den 23. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Artikel 2 und 3 des Vertrags über die Europäische Union.


STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

577. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 22.3.2023-23.3.2023

25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/5


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Jugendaktionsplan für das auswärtige Handeln der EU 2022-2027“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 184/02)

Berichterstatter:

Michael McLOUGHLIN

Ko-Berichterstatterin:

Tatjana BABRAUSKIENĖ

Beschluss des Plenums

22.9.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 GO

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

6.3.2023

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

157/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Jugendaktionsplan für das auswärtige Handeln der EU, weist jedoch darauf hin, dass bei der Lancierung und Umsetzung Schwierigkeiten auftreten könnten, weshalb diese beobachtet und überwacht werden müssen. Der EWSA bringt seinen Wunsch zum Ausdruck, aktiv an der Umsetzung des Jugendaktionsplans beteiligt zu werden.

1.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass das Fachwissen und die Erfahrung von Jugendorganisationen in der EU und weltweit eine wichtige Ressource für die Umsetzung des Plans sind, und zwar sowohl für die Europäische Kommission als auch für die EU-Delegationen. Er ist ferner der Ansicht, dass allen EU-Bediensteten, die mit jungen Menschen arbeiten, grundlegende Fähigkeiten in Bereichen wie jugendfreundliche Räume, Konsultationskompetenzen und Methoden der Jugendarbeit vermittelt werden sollten.

1.3.

Der EWSA spricht sich dafür aus, bei der Umsetzung das Augenmerk stets auf die am stärksten ausgegrenzten jungen Menschen — etwa junge Menschen mit Behinderungen — zu legen und bei allen führungsbezogenen Maßnahmen Basisinitiativen für junge Menschen in lokalen Gemeinschaften in gleichem Maße in den Mittelpunkt zu stellen. Führungs- und Beteiligungsprozesse sollten so gestaltet werden, dass sie die Einbeziehung der Basis und Bottom-up-Prozesse sicherstellen, um bodenständige Führungspersönlichkeiten heranzubilden.

1.4.

Der EWSA betont, dass die Erhebung und Überwachung von Daten eine zentrale Herausforderung für die Umsetzung des Jugendaktionsplans sind. Zudem sollte eine regelmäßige Berichterstattung durch die Europäische Kommission, den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) sowie die Einrichtungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die in diesem Bereich tätig sind und Fördergelder erhalten, im Einklang mit der kürzlich von der Europäischen Kommission durchgeführten Kartierung und Lückenanalyse internationaler Jugenddaten (1) erfolgen.

1.5.

Der EWSA begrüßt und unterstützt Verbindungen zur Arbeit der Vereinten Nationen und ihrer Agenturen in diesem Bereich, insbesondere im Hinblick auf die Agenda für Jugend, Frieden und Sicherheit und Synergien mit dem Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes.

1.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass zentrale EU-Jugendprogramme wie Erasmus+ und die Jugendgarantie bei der Arbeit in den Bereichen Jugendbeteiligung und Jugendpolitik hilfreich sein können. Bei der Nutzung dieser Strukturen sollte auf die Unabhängigkeit der Bewerbungsverfahren und Fragen wie Visa und Sprachen geachtet werden.

1.7.

Der EWSA empfiehlt dem Rat der EU, die EU-Mitgliedstaaten aufzufordern, eigene Pläne zu entwickeln, bei denen der Schwerpunkt auf ähnlichen Themen wie im Jugendaktionsplan liegt, und mit der Zivilgesellschaft, insbesondere Jugendorganisationen, partnerschaftlich zusammenzuarbeiten. Darüber hinaus sollten bestehende Kontakte und zivilgesellschaftliche Partnerschaften zwischen den EU-Mitgliedstaaten und den Zielländern, insbesondere zwischen Jugendorganisationen, ausgebaut und gestärkt werden.

1.8.

Der EWSA empfiehlt ferner, die Zielländer zu unterstützen und ihnen Instrumente für eigene konkrete jugendpolitische Maßnahmen sowie für nationale Jugendräte oder ähnliche Einrichtungen an die Hand zu geben. Gleichzeitig sollte sich die Kommission bei der Unterstützung der Zielländer von den Grundsätzen der Menschenrechte leiten lassen.

1.9.

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Jugendaktionsplan mit dem Europäischen Jahr der Kompetenzen verknüpft werden sollte, damit dieser Arbeit in den Partnerländern Vorrang eingeräumt wird.

1.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass Bildungsmaßnahmen auf die Gleichstellung und vor allem den Schutz junger Mädchen ausgerichtet sein sollten und dass Strategien zur Einbindung der am schwersten zu erreichenden jungen Menschen vorgesehen werden sollten. Alle Stipendienangebote sollten offen und transparent sein und auf spezifischen Methoden beruhen, um diejenigen zu motivieren, die am schwersten zu erreichen sind.

1.11.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass das bürgerschaftliche Engagement unter Beteiligung aller Organisationen der Zivilgesellschaft wie Jugendgruppen, Gewerkschaften und Jungunternehmerverbänden gefördert werden sollte.

1.12.

Seines Erachtens müssen die Auswirkungen der EU-Handelspolitik auf junge Menschen und die Verbindungen zwischen Handelspolitik und Jugend untersucht werden, insbesondere in den Handels- und Nachhaltigkeitskapiteln und den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA).

1.13.

Der EWSA empfiehlt, im Einklang mit der Studie der Europäischen Kommission spezifische wohnortnahe Dienstleistungen im Bereich der psychischen Gesundheit für junge Menschen sowie Zielvorgaben sowohl in quantitativer Hinsicht als auch für qualitative Verbesserungen der psychischen Gesundheit für die Arbeit mit jungen Menschen im Rahmen des auswärtigen Handelns zu entwickeln.

1.14.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Bekämpfung von Kinderarbeit ein wichtiger Bestandteil des Jugendaktionsplans sein sollte, damit diese im 21. Jahrhundert endlich vollständig beseitigt wird.

2.   Hintergrundinformationen: einschlägige Tätigkeiten des EWSA

2.1.

Im Oktober 2018 verabschiedete der EWSA seine Stellungnahme zur neuen EU-Jugendstrategie (2), in der er die Notwendigkeit eines sektorübergreifenden Ansatzes für die Jugend und einer stärkeren Berücksichtigung von Beschäftigung, psychischer Gesundheit, Gleichstellung und Bildung hervorhob. Er betonte auch die Bedeutung des auswärtigen Handelns der EU in dieser Hinsicht.

2.2.

Im September 2020 verabschiedete der EWSA die Stellungnahme „Für eine strukturierte Einbeziehung junger Menschen in den EU-Beschlussfassungsprozess in Klima- und Nachhaltigkeitsfragen“ (3). Er forderte auch die Einrichtung von Jugenddebatten über Klima und Nachhaltigkeit und die Aufnahme einer/eines Jugenddelegierten in die offizielle EU-Delegation für die Vertragsstaatenkonferenzen der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC COP) und die Berücksichtigung der Stimme junger Menschen in EWSA-Stellungnahmen zu Klima und Nachhaltigkeit.

2.3.

In seiner im Juli 2022 verabschiedeten Stellungnahme „Jugendpolitik auf dem Westbalkan im Rahmen der Innovationsagenda für den Westbalkan“ (4) forderte er die Regierungen der Westbalkanländer auf, die wichtigsten jugendpolitischen Dokumente der EU zu berücksichtigen, weiter in faktengestützte jugendpolitische Maßnahmen zur Bewältigung der Herausforderungen im Bereich der Jugendentwicklung zu investieren und dafür ausreichende und transparente Mittelzuweisungen sicherzustellen.

2.4.

Der EWSA ist in der idealen Position, um die Zusammenarbeit mit Jugendnetzwerken zu erleichtern. Er hat eine Koordinierungsgruppe für das Europäische Jahr der Jugend eingerichtet, die beauftragt wurde, die Zusammenarbeit mit Jugendorganisationen und jungen Menschen im und nach dem Europäischen Jahr zu vertiefen und mit den anderen EU-Institutionen und Organisationen der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten, um eine bessere bereichsübergreifende Integration junger Menschen in ihre regulären Tätigkeiten zu gewährleisten. Im September 2022 verabschiedete der EWSA die Stellungnahme „EU-Jugendtest“ (5), in der er eine strukturiertere, aussagekräftigere und gezieltere Beteiligung junger Menschen forderte.

3.   Allgemeine Bemerkungen zum Jugendaktionsplan

3.1.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich die Gemeinsame Mitteilung „Jugendaktionsplan für das auswärtige Handeln der EU 2022-2027“. Diese stellt insofern einen wichtigen Schritt im Bereich des auswärtigen Handelns und der Jugendpolitik dar, als darin die potenziellen Synergien zwischen beiden anerkannt werden, was seit Langem hätte geschehen müssen. Darüber hinaus zeigt diese Entwicklung im Rahmen des Europäischen Jahres der Jugend auch, dass der Lebensalltag junger Menschen alle Politikbereiche berührt und dass Überlegungen zu dieser Gruppe in die gesamte politische Arbeit und nicht nur in die mit jungen Menschen assoziierten „traditionellen“ Bereiche einbezogen werden müssen.

3.2.

Der Krieg in der Ukraine hat nach wie vor schwerwiegende Folgen für die Zivilbevölkerung, insbesondere für Kinder, Heranwachsende und junge Menschen. Der Schwerpunkt des Jugendaktionsplans in der Ukraine und in anderen von Konflikten betroffenen Gebieten der Welt sollte darauf liegen, die Resilienz junger Menschen zu stärken, das bürgerschaftliche Engagement junger Menschen zu unterstützen und sie in die Lage zu versetzen, Veränderungen in ihren Gemeinschaften zu bewirken, insbesondere im Hinblick auf die Erholung nach Konflikten.

3.3.

Die Mitteilung trägt auch der Zeit nach COVID-19 angemessen Rechnung. Zudem wird darin anerkannt, dass junge Menschen, ihre Bildung und ihre Bewegungsfreiheit am stärksten unter dieser Krise gelitten haben. Zwar herrscht diese Erkenntnis in Europa vor, doch weltweit wurde den Auswirkungen von COVID-19 auf junge Menschen weniger Aufmerksamkeit geschenkt, namentlich in Entwicklungsländern und fragilen Staaten.

3.4.

Im Wesentlichen unterstützt der EWSA das Konzept, dass alle internen Maßnahmen, die sich auf junge Menschen beziehen, auf die Außenbeziehungen übertragbar sein sollten, und zwar unter Berücksichtigung des spezifischen lokalen/regionalen Kontexts, in dem die externen Maßnahmen stattfinden. Vor diesem Hintergrund sollte der Jugendtest für die EU-Politik nach Auffassung des EWSA auch denjenigen empfohlen werden, die den Jugendaktionsplan umsetzen.

3.5.

Der EWSA begrüßt ferner, dass sich der Jugendaktionsplan auf die europäische Säule sozialer Rechte und den EU-Aktionsplan für Menschenrechte und Demokratie stützt, in denen betont wird, dass junge Menschen gleichberechtigt, umfassend und sinnvoll am öffentlichen und politischen Leben teilhaben müssen. Obwohl junge Menschen an der Spitze des Wandels stehen, sind sie weiterhin allzu oft unterrepräsentiert, was im Widerspruch zu ihren Grundrechten steht. Der EWSA begrüßt den großen Ehrgeiz des Jugendaktionsplans und seine klare Handlungsorientierung. Er begrüßt zudem, dass die generationenübergreifenden Dimensionen der heutigen globalen Herausforderungen anerkannt werden.

3.6.

In der Mitteilung werden alle wichtigen jugendpolitischen Hauptarbeitsbereiche angesprochen. Bei der Umsetzung des Plans wird eine übergeordnete Kontrolle wichtig sein, insbesondere angesichts der unterschiedlichen Durchführungsstellen und der Vielfalt der vorgesehenen politischen Maßnahmen. Dabei sollten auch diejenigen einbezogen werden, die für Jugend und Bildung, Jugendorganisationen und junge Menschen selbst zuständig sind, Hilfsagenturen und andere nationale Stellen der EU-Mitgliedstaaten sowie Einrichtungen und zivilgesellschaftliche Organisationen, die Fördergelder erhalten. Darüber hinaus müssen bei der Umsetzung verschiedene Finanzierungsquellen, Akteure und Indikatoren berücksichtigt werden. Insgesamt wird dies eine Herausforderung darstellen. Ein wirksames Kontrollsystem wird sich jedoch bezahlt machen und könnte ein Modell für die gemeinsame Umsetzung politischer Maßnahmen sein.

3.7.

Die Erhebung von Daten zu jungen Menschen muss in fast allen Bereichen des auswärtigen Handelns verbessert werden. Bei der Umsetzung des Jugendaktionsplans muss dieser schwierige Bereich in den Fokus genommen werden, wie in der kürzlich von der Europäischen Kommission durchgeführten Kartierung und Lückenanalyse internationaler Jugenddaten festgestellt wurde. Es ist möglicherweise nicht leicht, Leistungen und Ergebnisse aufzuschlüsseln und zu unterscheiden, welchen genauen Beitrag ein bestimmtes Programm oder eine bestimmte Initiative zu einem Ergebnis geleistet haben. Daher müssen alle Maßnahmen für junge Menschen Gegenstand einer Längsschnittuntersuchung sein.

3.8.

Die EU und alle ihre Institutionen sollten gemeinsam mit dem Vereinigten Königreich dafür sorgen, dass der Geist der Zusammenarbeit, das interkulturelle Lernen und der Erwerb von Erfahrung im Rahmen von Erasmus sowie alle anderen Formen der Zusammenarbeit für junge Menschen und Jugendorganisationen in diesem Land nicht verloren gehen. Es sollte jede Möglichkeit geprüft werden, das Potenzial für den Wiederaufbau der Beziehungen zu den Organisationen der Zivilgesellschaft im Vereinigten Königreich zu optimieren sowie neue zu knüpfen und zu fördern (6).

Führungsrolle und Beteiligung

3.9.

Der Schwerpunkt des Jugendaktionsplans liegt vor allem auf Führungs- und Beteiligungsfragen. Dies wird begrüßt und steht im Einklang mit bewährten Verfahren bei der Arbeit mit jungen Menschen. Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass die weitere Umsetzung dieses Konzepts im Rahmen des auswärtigen Handelns der EU einen sehr umfassenden und deliberativen Ansatz erfordern wird. Selbst innerhalb der EU und ihrer Mitgliedstaaten ist trotz großer Anstrengungen noch ein weiter Weg bis zur Teilhabe in der Praxis zurückzulegen. Eine Führungsrolle junger Menschen entsteht in der Regel durch gute Basisarbeit in einem förderlichen Umfeld. Diese bestärkt wiederum junge Menschen darin, ihre Meinung zu vertreten, aber auf der Grundlage von Verbindungen zu Gleichaltrigen und Erfahrungen mit lokalen Themen wie Umwelt, Verkehr, Bildung, psychische Gesundheit, Sozialhilfe. Diese Arbeit wird häufig durch OZG unterstützt. Der EWSA hofft, dass der Schwerpunkt thematischer Programme in den Bereichen Zivilgesellschaft, Menschenrechte und Demokratie auf diese Bedürfnisse gelegt wird.

3.10.

Für ein bewährtes Verfahren in diesem Bereich müssen daher bestimmte einschlägige Faktoren vorhanden sein. Ziel des Programms Erasmus+ ist es nach wie vor, jungen Menschen mit geringeren Chancen Vorrang einzuräumen, wobei anerkannt wird, dass ein maßgebliches einschlägiges Programm noch viel zu leisten hat. Bei zwischenmenschlichen Kontakten und der Mobilität spielen verwaltungstechnische Aspekte wie Visa eine entscheidende Rolle für einen reibungslosen Erfahrungsaustausch zwischen den Teilnehmern; hier bedarf es eines gemeinsamen Ansatzes. Im Hinblick auf Entwicklungsländer, fragile oder gar totalitäre Staaten stellen sich dabei deutlich größere Herausforderungen. Letzten Endes müssen alle geplanten Führungs- und Beteiligungsmaßnahmen auf basis- und gemeindenahen Erfahrungen aufbauen.

3.11.

Es muss vermieden werden, den Prozess umzukehren und in erster Linie mit „Führungspersönlichkeiten“ zu arbeiten, ohne dass ein echter Anstoß von unten kommt. Geldgeber und internationale nichtstaatliche Organisationen können diese Führungsrolle nicht erreichen, wobei gute Verbindungen zur Basis sichergestellt werden müssen. Daher muss es eine transparente Auswahl, offene und inklusive Methoden sowie insbesondere in fragilen Staaten auch Schutzmaßnahmen gegen die Vereinnahmung durch Staaten und andere Akteure geben. Engagement, Teilhabe und Führungsqualitäten sind von entscheidender Bedeutung, weshalb der Ansatz des EWSA mit einer entsprechenden Infrastruktur einhergehen muss. Der langfristigen Unterstützung von Jugendorganisationen und der Zivilgesellschaft muss Vorrang vor kurzfristigen projektbasierten Ansätzen eingeräumt werden. Die Interaktion mit jungen Führungspersönlichkeiten erfordert auch Strategien für den Umgang mit einer sich ständig wandelnden, volatilen Gruppe, die wächst und sich entwickelt und die irgendwann einen anderen Weg einschlagen muss oder will.

3.12.

Basisorganisationen, die vor Ort tätig sind, sollten sinnvoll unterstützt werden, damit sie sich intern entwickeln und zu maßgeblichen Akteuren in ihren lokalen Gemeinschaften werden können. Der EWSA hofft, dass sich das Youth Sounding Board (YSB) für internationale Partnerschaften und die Dialogplattform mit Jugendorganisationen im Rahmen des Politischen Forums für Entwicklung (PFD) mit diesem Thema befassen werden. Darüber hinaus kann eine Unterstützung von Gewerkschaften und deren Jugendorganisationen dazu beitragen, junge Menschen zur demokratischen Teilhabe an ihrem Arbeitsplatz zu ermutigen und diese zu fördern. Nationale Jugendräte können, sofern sie unabhängig sind, ebenso wie Initiativen wie etwa die „Global Youth Mobilisation“ (7) der sechs großen Jugendorganisationen eine gute Infrastruktur für die Entscheidung darüber bieten, mit wem in den Partnerländern zusammengearbeitet wird.

Umsetzungsverfahren

3.13.

Der Jugendaktionsplan enthält umfangreiche und begrüßenswerte Verweise auf Erasmus+. Mit der Mitteilung wird so vermieden, „das Rad neu zu erfinden“. Die Strukturen und Prozesse des Programms können und sollten gegebenenfalls bei den Außenbeziehungen der EU genutzt werden. Bei der Umsetzung kann es hilfreich sein, die Teilbereiche des Programms wie Jugend, Schulen, berufliche Aus- und Weiterbildung und Tertiärbildung aufzuschlüsseln. Hindernisse wie Visumpflicht, fehlende Finanzierung und Sprachbarrieren sollten beseitigt werden, und die Umsetzung sollte sich auf das Voneinander-Lernen, die Kompetenzentwicklung und Erfahrung konzentrieren. Werden nationale Agenturen eingesetzt, sollten sie sorgfältig geprüft werden, um die Achtung der eigentlichen zivilgesellschaftlichen Akteure und deren Unabhängigkeit zu gewährleisten.

3.14.

Durch die berufliche Erstausbildung werden die künftige Beschäftigungsfähigkeit junger Menschen und ihre Beteiligung am lebenslangen Lernen gefördert. Berufsbildungsstrategien und bewährte Verfahren unterstützen die soziale Inklusion und Integration Jugendlicher, die keine Schule besuchen, keiner Arbeit nachgehen und keine Berufsausbildung absolvieren (NEET), in den Arbeitsmarkt.

3.15.

In der Mitteilung wird eine sinnvolle Verbindung zwischen dem auswärtigen Handeln der EU und den Rechten des Kindes hergestellt, zu denen die EU kürzlich eine Strategie ausgearbeitet hat. Eine stärkere Verknüpfung mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes (KRK) von 1989 wäre bei der Umsetzung des Jugendaktionsplans ebenfalls hilfreich, z. B. durch die Verwendung der Berichte der Staaten des Genfer Ausschusses. Viele junge Menschen sind jünger als 18 Jahre. Die Grundsätze des Kinderrechtsübereinkommens können hier zwar als Richtschnur dienen; die Jugendarbeit der EU reicht jedoch über dieses Alter hinaus. 18 Jahre sollten nicht immer als automatisch als Altersgrenze gelten.

3.16.

Bei der Umsetzung des Jugendaktionsplans auf nationaler, regionaler und multilateraler Ebene muss ein Team-Europa-Ansatz verfolgt werden. Die EU sollte sich dabei an die besonderen Bedürfnisse und Gegebenheiten in den verschiedenen Regionen anpassen. Nach Ansicht des EWSA wäre es nützlich, wenn die Partnerschaften dazu beitragen würden, Wissens- und Datenlücken im Jugendbereich zu schließen, insbesondere im Hinblick auf die vorrangigen Bereiche Entwicklung digitaler Kompetenzen, Klimawandel und Grüner Deal. Der EWSA ist daran interessiert, wie in den kommenden Monaten die zahlreichen Maßnahmen umgesetzt werden, und ist bereit, dazu einen Beitrag zu leisten.

3.17.

Der EWSA hätte sich im Konsultationsprozess zum Jugendaktionsplan mehr und repräsentativere Antworten erhofft. Dies macht deutlich, dass junge Menschen alle einschlägigen Informationen zu wichtigen Themen erhalten müssen, damit sie fundierte Entscheidungen treffen und einen richtigen und sinnvollen Beitrag zur Politikgestaltung leisten können. Instrumente wie das Qualitätssiegel der Europäischen Jugendinformations- und -beratungsagentur (ERYICA) können diesbezüglich aufschlussreich sein.

4.   Spezifische Bemerkungen zu Teilen des Jugendaktionsplans

4.1.

Die Bestimmungen des Jugendaktionsplans enthalten eine Zusammenstellung zahlreicher laufender Tätigkeiten. Bei der Umsetzung werden sich enorme Herausforderungen ergeben, insbesondere nach der COVID-19-Pandemie. Der Zugang zu Bildung und die Gleichstellung der Geschlechter sind äußerst wichtige Themenbereiche, in denen bereits Fortschritte erreicht wurden.

Bildung

4.2.

Für die Umsetzung des Jugendaktionsplans ist eine enge Verknüpfung mit dem Europäischen Jahr der Kompetenzen erforderlich. Der EWSA verweist darauf, dass die Bedeutung der Entwicklung von Kompetenzen insbesondere für den Klimaschutz und die Anpassung an den Klimawandel sowie für die Kreislaufwirtschaft, die geistige und körperliche Gesundheit, die sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte berücksichtigt werden muss, u. a. bei der Umschulung und Weiterbildung junger Menschen (8). Der soziale und der zivilgesellschaftliche Dialog haben zentrale Bedeutung und müssen gestärkt werden.

4.3.

Auch hier werden zahlreiche Interessenträger im Bildungsbereich beteiligt sein, sodass klare Ziele und Bewertungen erforderlich sind. Kontinuierliche Anstrengungen für die am schwersten zu erreichenden Personen sind ein Muss, was vor allem in den ärmsten und fragilsten Staaten gilt. Die Verpflichtung, 10 % der Mittel aus dem Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit (NDICI) der Europäischen Kommission und aus dem Haushalt für humanitäre Hilfe bereitzustellen, ist zu begrüßen. Allerdings wären Zusagen anderer Agenturen und Staaten wünschenswert. Langfristige Lösungen im Bildungsbereich müssen von den Regierungen der Zielländer vorgelegt werden. Lokale OZG sollten hier eine wichtige Rolle spielen. Die internationale Gemeinschaft kann langfristig nicht der Hauptakteur sein. Der EWSA hofft, dass auf dem Gipfeltreffen zur Umgestaltung der Bildung Fortschritte erzielt werden können.

4.4.

Bestimmungen über Stipendien und Treuhandfonds sind zwar begrüßenswert, doch gilt es, Fragen der Auswahl zu beachten und die Einbeziehung von OZG sicherzustellen. Bei der Schaffung dieser Möglichkeiten müssen transparente, faire und inklusive Verfahren für die Auswahl von Teilnehmern an Hochschulprogrammen festgelegt werden, wobei der Zugang von Personen mit geringeren Chancen Vorrang haben sollte.

4.5.

Die maximale Aufwertung des Humankapitals ist entscheidend für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitiger Berücksichtigung der nachhaltigen Entwicklung. Dafür werden Arbeitskräfte benötigt, die über Querschnittskompetenzen und Anpassungsfähigkeit verfügen. Die Bildungs- und Ausbildungspolitik muss in enger Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern entwickelt und umgesetzt werden und stärker auf Kompetenzen als auf Qualifikationen ausgerichtet sein. Dies wird zur Verringerung des Missverhältnisses zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage beitragen.

Jugendorganisationen

4.6.

In der Mitteilung werden mehrere Foren und Einrichtungen zur Einbindung junger Menschen genannt. Die Plattform im Rahmen des Politischen Forums für Entwicklung ist begrüßenswert, solange sie Verbindungen zu Jugendorganisationen an der Basis sicherstellt, die unabhängig, selbstorganisiert und idealerweise von jungen Menschen geleitet werden.

4.7.

Der Verweis auf die Einbeziehung von Jugendorganisationen in der Mitteilung wird begrüßt. Für die Umsetzung des Jugendaktionsplans wäre es von Vorteil, die verschiedenen Modelle der Jugendarbeit in der EU zu berücksichtigen. Dieser Ansatz kann ebenso relevant sein wie die Stimme der jungen Menschen, denn so werden junge Menschen auf lokaler Ebene gestärkt und junge Führungspersönlichkeiten mit lokalem Wissen hervorgebracht. Im Rahmen der Partnerschaft zwischen der EU und dem Europarat sowie auf dem Gebiet der Freiwilligentätigkeit junger Menschen stehen umfangreiche Erkenntnisse und Modelle zur Verfügung.

4.8.

Jugendorganisationen können eine äußerst wichtige Ressource für die Umsetzung des Plans sein. Die EU-Mitgliedstaaten sollten aufgefordert werden, ihren Jugendsektor hier durch nationale Aktionspläne einzubeziehen. Bewährte Modelle und die Arbeit von EU-Jugendorganisationen in den Bereichen Entwicklung, Konflikte und Menschenrechte sollten Vorrang etwa vor US-amerikanischen Modellen für „Jugendentwicklung“ haben, die in Entwicklungsländern und anderen Regionen häufig als Standardlösung eingesetzt werden und oft nicht auf denselben Werten beruhen. Dies würde im Einklang zu den Bemühungen um maßgeschneiderte Lösungen für bestimmte Regionen stehen.

4.9.

Bei der Umsetzung von Verpflichtungen im Bildungsbereich sollten auch informelle und nichtformale Systeme in Gemeinschaften, OZG und Organisationen der Jugendarbeit berücksichtigt werden. Die Definitionen der Unesco und des Europarates können hier zusammen mit der Arbeit im Rahmen des Jugendkapitels von Erasmus+ als Richtschnur dienen. Die enormen Vorteile, die das lebenslange und alle Lebensbereiche umfassende Lernen außerhalb des schulischen Umfelds für alle bringt, müssen anerkannt werden.

4.10.

Der politische Dialog ist wichtig und die Ziele des Jugendaktionsplans sind ehrgeizig, doch dürfen die jugendpolitischen Maßnahmen in den einzelnen Ländern und die Zuständigkeiten der Regierungen ebenso wenig außer Acht gelassen werden wie die Notwendigkeit eines echten Freiwilligensektors und der Zivilgesellschaft. Im Zuge der Umsetzung des Jugendaktionsplans müssen auch die Entwicklung der Jugendarbeitspolitik und nationaler Jugendräte oder ähnlicher Gremien sowie Strategien für die Jugendarbeit und Ansätze wie beispielsweise der EU-Jugendtest unterstützt werden.

4.11.

Wie die Arbeit der sechs großen Jugendorganisationen der Welt beweist, verfügen Jugendorganisationen bereits über weltweite Kontakte und sollten in die Umsetzung des Plans einbezogen werden, der die bereits geleistete Arbeit berücksichtigen und als Modell für neue Initiativen dienen sollte. Es muss auch vermieden werden, bei Fragen der Beteiligung allzu restriktiv zu sein. Es ist nicht klar, ob bei der Auswahl der Themen für den Youth Empowerment Fund partizipative Prozesse genutzt wurden. Junge Menschen wählen nicht immer die Themen, die andere für wichtig halten, insbesondere in Entwicklungsländern oder fragilen Staaten, in denen eher praktische Erwägungen ausschlaggebend sein können.

4.12.

Bestimmungen über den Aufbau von Kapazitäten für Jugendorganisationen sind zu begrüßen und sollten mit einer wirksamen Unterstützung für den Aufbau von Basisbewegungen in Partnerländern einhergehen, in denen die EU-Delegationen weltweit eine entscheidende Rolle spielen können. Hier sollten gegebenenfalls Partnerschaften mit EU-Organisationen angeboten werden, wobei die Arbeit überwacht werden muss. Die Gründung und Stärkung von Netzwerken sowohl mit EU- als auch mit Nicht-EU-Organisationen muss gefördert werden.

Wirksame Umsetzung

4.13.

An der Umsetzung sind zahlreiche Akteure, Strategien und Finanzierungslinien beteiligt, wie die EU-Delegationen, verschiedene Generaldirektionen der Kommission, der EAD, der Rat der EU und die Mitgliedstaaten sowie eine Vielzahl von Hilfebudgets. Bei der Umsetzung des Jugendaktionsplans muss für Klarheit und eine angemessene sektorübergreifende Zusammenarbeit gesorgt werden, um letztlich eine starke Fokussierung auf die Zielgruppe zu gewährleisten, und es müssen ausreichende Mittel bereitgestellt werden.

4.14.

Bei der Kontaktaufnahme kann auf den bisherigen Arbeiten aufgebaut werden. Dabei können Partnerschaften und andere Erasmus+-Initiativen (Jugend) Berücksichtigung finden. Darüber hinaus könnten Jugendbeteiligungsprojekte im Rahmen von Erasmus+ (ohne transnationale Dimension) als Vorbilder für Jugendprojekte in den Zielländern dienen.

4.15.

Junge Menschen sind die künftigen Entscheidungsträger und Akteure des Wandels. Sie sind wichtige Partner, wenn es darum geht, zum Erfolg der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, des Pariser Klimaschutzübereinkommens und des digitalen Wandels beizutragen. Mit dem Jugendaktionsplan sollte dafür gesorgt werden, dass junge Menschen im Zuge des auswärtigen Handelns der EU auf politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene gestärkt werden. Der EWSA ist bereit, seinen Beitrag zur Umsetzung der Empfehlung der Konferenz zur Zukunft Europas zu leisten, wonach seine institutionelle Rolle gestärkt und er als Vermittler und Garant für Aktivitäten der partizipativen Demokratie wie den strukturierten Dialog mit OZG und Bürgerforen befähigt werden soll.

4.16.

Im Jugendaktionsplan wird umfassend auf den Übergang zum Erwachsenenalter Bezug genommen. Dies ist sehr zu begrüßen und steht im Einklang mit den Werten der Jugendarbeit in der EU. In diesem Zusammenhang wäre es wichtig, dass junge Menschen ihre Rechte und Pflichten als Bürger kennen, Finanzkompetenz erwerben, Fremdsprachen erlernen und etwas über die Nachhaltigkeit unseres Planeten und unternehmerische Initiative erfahren. Der EWSA begrüßt ebenfalls die Verknüpfung mit der Agenda der Vereinten Nationen für Jugend, Frieden und Sicherheit und die Forderung nach einer umfassenderen Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen. Bei der Umsetzung des Jugendaktionsplans darf nicht vergessen werden, dass zwischen jungen Menschen und den Entscheidungsprozessen in vielen Bereichen eine Kluft besteht.

4.17.

Die Resolution 2250 (2015) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu Frieden und Sicherheit junger Menschen ist ein entscheidendes Instrument für die Zusammenarbeit mit jungen Menschen weltweit. Darin werden fünf zentrale Handlungsschwerpunkte genannt: Partizipation, Schutz, Prävention, Partnerschaften sowie Abkopplung und Wiedereingliederung. In dieser wegweisenden Resolution werden die Unterzeichnerparteien aufgefordert, jungen Menschen bei Entscheidungsprozessen auf lokaler, nationaler, regionaler und internationaler Ebene mehr Gewicht zu verleihen und die Schaffung von Mechanismen in Erwägung zu ziehen, die jungen Menschen eine sinnvolle Mitwirkung an Friedensprozessen ermöglichen. Alle, die diese Agenda auf lokaler und nationaler Ebene umsetzen wollen, sollten unterstützt werden. Die Verknüpfung und Koordinierung mit dem Youth Empowerment Fund würden hier viele Synergien schaffen.

Gleichstellung der Geschlechter

4.18.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Ausschöpfung des Potenzials junger Menschen und die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter für eine nachhaltige Entwicklung äußerst wichtig sind. Das auswärtige Handeln der EU zielt darauf ab, junge Menschen auf politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene zu stärken und sie dabei zu unterstützen, sinnvoll und inklusiv an der Entscheidungsfindung und Politikgestaltung mitzuwirken. Der EWSA hält die Stärkung der Rolle von Mädchen und jungen Frauen für wesentlich, um eine nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten, und begrüßt die Verweise auf die Sicherstellung der Gleichstellung der Geschlechter und die Bekämpfung von Diskriminierung im Jugendaktionsplan. Der EWSA weist darauf hin, dass der Jugendaktionsplan in umfassende, strategische und langfristige Maßnahmen umgesetzt werden sollte, die jungen Männern und Frauen gleichermaßen zugutekommen. Dazu gehört auch die Entwicklung von Strategien zur Förderung der durchgängigen Berücksichtigung der Geschlechtergleichstellung in allen Bereichen des auswärtigen Handelns.

4.19.

Es ist wichtig, die Zahl junger Menschen, insbesondere junger Frauen, mit MINT-Kompetenzen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) und digitalen Kompetenzen zu erhöhen und Mädchen frühzeitig für MINT-Fächer zu begeistern, Unternehmerinnen und weibliche Vorbilder in diesen Bereichen zu unterstützen und in Programme zu investieren, die das Interesse von Mädchen an MINT-Fächern in weiterführenden Schulen wecken.

Psychische Gesundheit

4.20.

Der Verweis auf die psychische Gesundheit in der Mitteilung wird begrüßt. Der EWSA hofft, dass dieser Aspekt bei der Umsetzung des Jugendaktionsplans eine herausragende Rolle spielen wird. Da die Gesundheitssysteme in der ganzen Welt Schwachstellen aufweisen, müssen in diesem Bereich Verbesserungen vorgenommen werden, die jungen Menschen zugutekommen.

Menschen mit Behinderungen

4.21.

Darüber hinaus ist der EWSA der Auffassung, dass die Bezugnahme auf junge Menschen mit Behinderungen in der Mitteilung ebenso wichtig ist. Dies sollte auch bei der Umsetzung des Jugendaktionsplans eine wichtige Rolle spielen. Junge Menschen mit Behinderungen sind eine Gruppe, die häufig vergessen wird, wenn es darum geht, die Stellung junger Menschen zu stärken und ihre demokratische Teilhabe zu fördern. Sie sollten bei der Umsetzung des Jugendaktionsplans Berücksichtigung finden.

Wirtschaftliche Chancen

4.22.

Die richtigen Kompetenzen werden für die künftigen wirtschaftlichen Chancen junger Menschen maßgeblich sein. Unternehmer und Start-up-Unternehmen, u. a. im Finanz- und Kreditwesen, benötigen Unterstützung, da sich vor allem in den Entwicklungsländern zahlreiche Möglichkeiten — nicht zuletzt im digitalen Bereich — ergeben werden.

4.23.

Im Hinblick auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten ist das Modell der EU-Jugendgarantie ein gutes Vorbild, das entsprechend angepasst werden kann, um Jugendlichen, die keine Schule besuchen, keiner Arbeit nachgehen und keine Berufsausbildung absolvieren, Chancen zu bieten. Um die Agenda für menschenwürdige Arbeit zu verwirklichen, bedarf es der Bildung in den Bereichen Arbeitnehmerrechte und soziale Rechte.

4.24.

Themen wie Handel müssen im Rahmen des Jugendaktionsplans untersucht werden, z. B. in den Nachhaltigkeitskapiteln von Freihandelsabkommen, wobei die Einbeziehung OZG wie Jugendorganisationen gefördert werden sollte. Junge Menschen sind nach wie vor am stärksten von Kinderarbeit und anderen Formen der Misshandlung bedroht. Um dem entgegenzutreten, sollte die Bekämpfung der Kinderarbeit zu einem wichtigen Bestandteil des Jugendaktionsplans werden, damit diese im 21. Jahrhundert endlich vollständig beseitigt werden kann. Hierfür müssen finanzielle Mittel bereitgestellt werden, damit Kinderarbeiter nicht mehr auf ihr Einkommen angewiesen sind. Andererseits muss die Handlungsfähigkeit von Unternehmen, die in ihrer globalen Produktionskette auf Kinderarbeit zurückgreifen, beschränkt werden.

4.25.

Junge Menschen sind häufig die ersten, die gefährliche Reisen antreten, um nach Europa oder an einen anderen Ort auszuwandern. Um sicherzustellen, dass junge Menschen nicht gezwungen werden, gefährliche und oftmals illegale Wege über internationale Grenzen zu nehmen, sollte der Jugendaktionsplan eine aktive Zusammenarbeit mit Drittländern umfassen, um humanitäre Korridore und Neuansiedlungsprogramme für junge Menschen einzurichten, damit sie sicher und legal nach Europa gelangen können.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Kalantaryan, S., McMahon, S., und Ueffing, P., Youth in external action, JRC130554, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg, 2022.

(2)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 142.

(3)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 44.

(4)  ABl. C 443 vom 22.11.2022, S. 44.

(5)  ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 46.

(6)  Informationsbericht „Umsetzung des Austrittsabkommens zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, einschließlich des Protokolls zu Irland/Nordirland“.

(7)  https://globalyouthmobilization.org/.

(8)  ABl. C 100 vom 16.3.2023, S. 38.


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/13


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle junger Menschen im ökologischen Wandel“

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des schwedischen Ratsvorsitzes)

(2023/C 184/03)

Berichterstatterin:

Nicoletta MERLO

Ersuchen des schwedischen Ratsvorsitzes

Schreiben vom 14.11.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

8.3.2023

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

152/00/01

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Auffassung, dass junge Menschen im Zusammenhang mit dem ökologischen Wandel eine entscheidende Rolle spielen können und müssen. Ausschlaggebend hierfür ist seiner Ansicht nach ein neues und inklusiveres Governance-Modell, das die aktive Beteiligung junger Menschen an Entscheidungsprozessen und die Überwindung noch bestehender Hindernisse ermöglicht.

1.2.

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, dafür zu sorgen, dass Jugendorganisationen eine führende Rolle in Entscheidungsprozessen sowie bei der Entwicklung und Verbreitung von Projekten in den Bereichen Nachhaltigkeit und Umwelt spielen. Hierfür benötigen sie u. a. die erforderliche finanzielle Unterstützung.

1.3.

Nach Auffassung des EWSA muss kontinuierlich überwacht werden, wie sich öffentliche Investitionen — auch im Zusammenhang mit dem ökologischen Wandel — heute und in Zukunft auf junge Menschen auswirken. Hierbei wäre eine Abschätzung der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Folgen der umzusetzenden Maßnahmen vor, während und nach ihrer Annahme anhand von Indikatoren hilfreich.

1.4.

Der EWSA fordert die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen und Verfahren einzusetzen, die sicherstellen, dass die Sichtweise der jungen Menschen in allen Politikbereichen berücksichtigt wird. Zudem muss durch den umfassenden Einsatz des EU-Jugendtests ein Raum geschaffen werden, der eine aktive Beteiligung junger Menschen gewährleistet.

1.5.

Der EWSA hält es für entscheidend, die Initiativen und Maßnahmen, die im Rahmen des Europäischen Jahres der Kompetenzen angenommen werden, mit den Themen ökologischer Wandel und nachhaltige Entwicklung sowie mit den Herausforderungen zu verknüpfen, mit denen junge Menschen in einer sich rasch wandelnden Welt konfrontiert sind.

1.6.

Nach Auffassung des EWSA sollten Bildung und die Entwicklung der von jungen Menschen in diesem Bereich erwarteten Kompetenzen mithilfe eines bereichsübergreifenden Ansatzes angegangen werden, der u. a. durch die Schaffung von Übergängen von der Schule ins Berufsleben und von berufspraktischen Ausbildungen sowie von Verbesserungen in diesen Bereichen auch unter Einbeziehung der Sozialpartner theoretische und praktische Kompetenzen vermitteln kann. Ferner sollten Lerninhalte zu diesen Themen strukturiert und ausgehend von den Regionen und ihren spezifischen Bedürfnissen konzipiert und entwickelt sowie in einen breiteren Rahmen auf nationaler Ebene eingebettet werden.

1.7.

Nach Ansicht des EWSA sollte schon früh mit der Vermittlung von Wissen in den Bereichen Nachhaltigkeit und Umweltschutz begonnen werden. Dabei gilt es, innovative Lehr- und Lerninstrumente zu nutzen, in denen der Umweltschutz, die soziale und wirtschaftliche Entwicklung und die Verwirklichung damit verbundener Ziele thematisiert werden. Um dies zu gewährleisten, sind eine hochwertige Bildung für alle und gute Arbeitsbedingungen für Bildungsanbieter von entscheidender Bedeutung.

1.8.

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, dass sich Schulen des Themas ökologischer Wandel annehmen und sich dabei mit den lokalen Gebietskörperschaften und außerschulischen Aktivitäten, insbesondere mit Jugendorganisationen und der organisierten Zivilgesellschaft, abstimmen. So kann die breite Öffentlichkeit stärker sensibilisiert und zur Teilhabe motiviert werden. In diesem Zusammenhang bewertet der EWSA die bei dem Projekt „Grünes Erasmus“ gesammelten Erfahrungen positiv und erwartet seine Durchführung.

1.9.

Um sowohl jungen als auch älteren Arbeitnehmern die Kompetenzen zu vermitteln, die es ihnen ermöglichen, mit den durch den ökologischen Wandel ausgelösten Innovationen Schritt zu halten, hält der EWSA es für wichtig, in arbeitsbasiertes Lernen zu investieren und Schulungen am Arbeitsplatz, hochwertige Praktika und Lehrlingsausbildungen zu fördern, wodurch eine positive Dynamik zwischen den Erfordernissen des Marktes und den individuellen Kompetenzen junger Menschen erzeugt wird. Der soziale Dialog und Tarifverhandlungen können in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle spielen.

1.10.

Nach Auffassung des EWSA ist eine ganzheitliche Ausbildungspolitik, die in die Industriepolitik integriert, auf andere Entwicklungsstrategien abgestimmt und in enger Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern im Detail auf territorialer und lokaler Ebene geplant wird, unerlässlich, um sicherzustellen, dass der ökologische Wandel gerecht ist und dabei niemand zurückgelassen wird.

1.11.

Der EWSA sieht in der Gleichstellung der Geschlechter im Rahmen des ökologischen Wandels einen ausschlaggebenden Faktor für die Sicherstellung einer angemessenen Beteiligung von Frauen in mit dem ökologischen Wandel verbundenen Bereichen. Die Mitgliedstaaten sollten mehr in die Berufsberatung für Schülerinnen und Schüler und in ihre Unterstützung auf dem Weg ins Berufsleben investieren und dabei effiziente öffentliche Arbeitsverwaltungen hinzuziehen, die gut mit der Wirtschaft in der jeweiligen Region vernetzt sind.

1.12.

Jungunternehmer können bei der Entwicklung von Innovationen auch im Bereich des ökologischen Wandels eine wichtige Rolle spielen. Diese jungen Menschen müssen nach Ansicht des EWSA durch spezifische Schulungen, die Unterstützung innovativer Projekte und die Gewährleistung einer angemessenen finanziellen Unterstützung gefördert werden.

1.13.

Um sicherzustellen, dass der ökologische Wandel auch gerecht abläuft und Unternehmensschließungen mit anschließendem Verlust von Arbeitsplätzen vermieden werden, sollte es nach Auffassung des EWSA ein vorrangiges Anliegen der Mitgliedstaaten sein, erhebliche Mittel — in erster Linie jene, die im Rahmen der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne bereitgestellt werden- zu investieren, um zur Umstrukturierung gezwungene Unternehmen zu unterstützen, entlassenen Arbeitnehmern einen neuen Arbeitsplatz zu beschaffen und insbesondere junge Unternehmer zu unterstützen, die in grüne Unternehmen investieren wollen.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

Diese Sondierungsstellungnahme wird auf Ersuchen des schwedischen EU-Ratsvorsitzes erarbeitet und soll die Rolle junger Menschen beim ökologischen Wandel beleuchten.

2.2.

Der Begriff „ökologischer Wandel“ bezeichnet den Übergang der Wirtschaft und Gesellschaft in der EU hin zur Verwirklichung der Klima- und Umweltziele, vor allem durch politische Maßnahmen und Investitionen im Einklang mit dem Europäischen Klimagesetz, in dem die Verpflichtung zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2050 festgelegt ist, dem europäischen Grünen Deal und dem Übereinkommen von Paris. Dabei soll sichergestellt werden, dass der Wandel gerecht abläuft und alle einbezieht.

2.3.

Angesichts dieser enormen Herausforderungen muss darauf hingewiesen werden, dass es ja genau die junge Generation ist, die sich besonders der Notwendigkeit konkreter Schritte zur Verwirklichung der ökologischen Nachhaltigkeit bewusst und für diese Fragen sensibilisiert ist. Denn wenn es heutzutage Themen gibt, mit denen sich die Anliegen und Werte junger Menschen im positiven Sinne mit den offenen Fragen unserer Zeit verknüpfen lassen, woraus sich ein großes Innovationspotenzial in Bezug auf Produktions- und Konsummodelle ergeben würde, dann sind dies die Themen Umwelt, Gesundheitsförderung und Erhaltung der Artenvielfalt.

2.4.

In den letzten Jahren hat der Klimaschutz viele junge Menschen in ganz Europa zum Handeln angeregt, und auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene sind zahlreiche Umweltschutz- und Sozialbewegungen entstanden, die von jungen Menschen getragen werden, die auf die Straße gehen, um von den Regierungen und Entscheidungsträgern konkrete Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und zur Verwirklichung der Klimaneutralität zu verlangen.

2.5.

2022 wurde nicht nur zum Europäischen Jahr der Jugend ausgerufen, um die von der Pandemie am härtesten getroffene Generation, nämlich die jungen Menschen, zu würdigen und zu unterstützen, indem ihnen neue Hoffnung, neue Kraft und ein neuer Glaube an die Zukunft gegeben werden, sondern auch, weil durch dieses Europäische Jahr die mit dem digitalen und dem ökologischen Wandel verbundenen neuen Perspektiven und Chancen aufgezeigt werden können.

3.   Einbindung junger Menschen in den ökologischen Wandel

3.1.

Damit der ökologische Wandel gerecht verläuft, muss die UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mit ihren 17 Nachhaltigkeitszielen im Rahmen des europäischen Grünen Deals umgesetzt werden. Dabei bedarf es auch eines neuen und inklusiveren Governance-Modells, das für eine aktivere Beteiligung junger Menschen an Entscheidungsprozessen sorgt.

3.2.

Die heute von der Politik gefassten Beschlüsse zum Klimaschutz und zu anderen Umweltfragen werden sich auf die jungen Menschen von heute und ganz besonders auf künftige Generationen auswirken. Junge Menschen haben gemäß der Agenda 2030, in der sie als „Schlüsselakteure des Wandels“ in Bezug auf die Nachhaltigkeitsziele bezeichnet werden, ein Mitspracherecht bei sie betreffenden Angelegenheiten.

3.3.

Obwohl die Rolle junger Menschen beim Aufbau einer nachhaltigeren, inklusiveren und grüneren Welt immer stärker anerkannt wird und der Jugend ein eigenes Europäisches Jahr gewidmet wurde, gelingt jungen Menschen in Wirklichkeit die aktive Mitwirkung in Beschlussfassungsgremien immer noch nicht leicht.

3.4.

In den letzten Jahren war zwar engagierter Einsatz für den Klimaschutz bei jungen Menschen zu beobachten, aber gleichzeitig auch ein immer stärkeres Desinteresse und ein zunehmender Vertrauensverlust in die politischen Institutionen, was sich in einem geringeren parteipolitischen Engagement und einer sinkenden Ausübung sowohl des aktiven als auch des passiven Wahlrechts seitens der jungen Menschen niedergeschlagen hat. Dies stellt eine Bedrohung für das demokratische System dar und erschwert die Konzipierung zukunftsgerichteter Strategien, die insbesondere für die Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit der Klimawende notwendig sind und den unterschiedlichen Anliegen und Bedürfnissen Rechnung tragen. Diesbezüglich ist der EWSA der Auffassung, dass die Förderung der Beteiligung junger Menschen an den politischen und anderen Entscheidungsprozessen Priorität haben sollte und sämtliche Möglichkeiten geprüft werden sollten, dies auf allen Ebenen zu ermöglichen und zu gewährleisten.

3.5.

Eingangs wäre es wichtig, die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Hürden auszumachen, die einer umfassenden Beteiligung junger Menschen im Wege stehen, die auch auf einen Mangel an Bewusstsein für die Problematik oder Schwierigkeiten beim Zugang zu Informationen über Verfahren zur Einbindung und Vertretung junger Menschen zurückzuführen sein könnten. Zu beachten ist ferner, dass junge Menschen heutzutage häufig informelle Kanäle unter Nutzung von Technologien und sozialen Medien für ihr Engagement und den Dialog wählen, denn auf diese Art und Weise lassen sich ganze Generationen mobilisieren.

3.6.

Das Thema Nachhaltigkeit ist im Weltbild junger Menschen und deren Beschlussfassungsprozessen fest verankert, sie nähern sich ihm allerdings sehr pragmatisch. Jugendorganisationen, die die Interessen und Anliegen von Millionen jungen Menschen in Europa vertreten, können daher eine wichtige Rolle dabei spielen, dafür zu sorgen, dass die jüngeren Generationen nicht nur in den Institutionen und in der Zivilgesellschaft Gehör finden, sondern auch die Chance erhalten, einen sinn- und wertvollen Beitrag zum Beschlussfassungsprozess auf der lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Ebene zu leisten (1).

3.7.

Daher betont der EWSA, wie wichtig es ist, den Jugendorganisationen mit der größten Repräsentativität und zuvorderst jenen, die besonders vulnerable junge Menschen und solche in Gebieten in äußerster Randlage und ländlichen Regionen vertreten, Möglichkeiten zu eröffnen, sich in die Politikgestaltung und die Entwicklung von Lösungsansätzen für Fragen im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit einzubringen.

3.8.

Jugendorganisationen können viele Funktionen wahrnehmen und eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung und Umsetzung von Projekten in den Bereichen Umwelt und Nachhaltigkeit spielen. Aus diesem Grund fordert der EWSA die EU-Organe auf, diesen Organisationen strukturelle finanzielle Unterstützung in Form von adäquaten, spezifischen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, damit diese die notwendigen Voraussetzungen vorfinden, um das Engagement junger Menschen für den ökologischen Wandel sicherzustellen und zu fördern.

3.9.

Einbindung alleine ist jedoch nicht genug. Bei allen öffentlichen Maßnahmen ist eine Abschätzung ihrer Folgen für junge Menschen und deren Erwartungen sowie auf jene künftiger Generationen erforderlich. Daher muss im Vorfeld, während der Umsetzung und nach Abschluss aller Investitionen, einschließlich derer, die im Zusammenhang mit dem ökologischen Wandel getätigt werden, anhand von Indikatoren zweifelsfrei festgestellt werden, wie sich diese in wirtschaftlicher, politischer und sozialer Hinsicht auf die jungen Generationen auswirken werden.

3.10.

Der EWSA fordert die EU-Organe und die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen und Verfahren einzusetzen, die sicherstellen, dass die Sichtweise der jungen Menschen in allen Politikbereichen berücksichtigt wird. Zudem muss durch den umfassenden Einsatz des EU-Jugendtests ein Raum geschaffen werden, der einen kohärenten und kompetenzbasierten Beitrag junger Menschen zur Bewältigung der sie betreffenden Herausforderungen gewährleistet (2).

3.11.

Zum Wohle unseres Planeten wie auch für die weitere Entwicklung der EU-Mitgliedstaaten müssen junge Menschen in vier Bereichen gestärkt werden: Einbindung in den Transformationsprozess, Ermöglichung eines aktiven Beitrags durch Übernahme von Verantwortung sowohl für individuelle als auch kollektive Entscheidungen, bessere Aufklärung über die laufenden Veränderungen und die unausweichlichen Folgen aufgrund des ökologischen und des digitalen Wandels sowie Kompetenzentwicklung für qualifiziertes Handeln.

4.   Der ökologische Wandel in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt

4.1.

2023 wurde zum Europäischen Jahr der Kompetenzen erklärt. Der EWSA hält es für entscheidend, die Initiativen und Maßnahmen, die im Rahmen dieses Europäischen Jahres angenommen werden, mit den Themen ökologischer Wandel und nachhaltige Entwicklung sowie mit den Herausforderungen zu verknüpfen, mit denen junge Menschen in einer sich rasch wandelnden Welt konfrontiert sind.

4.2.

Angesichts des Klima- und Umweltnotstands sollte die Bildung für nachhaltige Entwicklung für die Schulen zur Priorität werden. Dem Bildungspersonal kommt eine entscheidende Rolle dabei zu, den Lernenden die erforderliche Klimakompetenz sowie die Informationen und Kompetenzen zu vermitteln, die diese für die Teilhabe an der ökologischen Wirtschaft benötigen. Lehrenden und Schulen stehen für die Vermittlung dieser Inhalte vielfältige Ansätze zur Verfügung, sie müssen jedoch auch angemessen geschult werden und unter guten Bedingungen arbeiten. Nach Auffassung des EWSA kommt es entscheidend darauf an, eine angemessene Finanzierung auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene sicherzustellen, damit Projekte und Initiativen unterstützt werden können, die das Lehren und Lernen in den Bereichen und Umwelt und Nachhaltigkeit fördern und umsetzen.

4.3.

Der ökologische Wandel und Strategien für nachhaltige Entwicklung sind absolute Querschnittsthemen. Bildung und die Entwicklung der von jungen Menschen in diesem Bereich erwarteten Kompetenzen müssen daher mithilfe eines bereichsübergreifenden Ansatzes angegangen werden, der u. a. durch die Schaffung von Übergängen von der Schule ins Berufsleben und von berufspraktischen Ausbildungen sowie von Verbesserungen in diesen Bereichen theoretische und praktische Kompetenzen vermitteln kann. Ferner sollten Lerninhalte zu diesen Themen strukturiert, ausgehend von den Regionen und ihren Bedürfnissen konzipiert und entwickelt, in einen breiteren Rahmen auf nationaler Ebene eingebettet sowie unter dem Aspekt des lebenslangen Lernens betrachtet werden.

4.4.

Die Themen Nachhaltigkeit und Umweltschutz sollten schon früh im Unterricht vermittelt werden. Dieser sollte in der vorschulischen Bildung ansetzen und während der gesamten Schulzeit in die Lehrpläne integriert werden. Daher müssen auch die Lehrenden gezielt geschult werden und ihre Kompetenzen durch Fortbildungen laufend aktualisieren können.

4.5.

Die Aufnahme des ökologischen und des kulturellen Wandels in die Bildung setzt voraus, dass die Schulen wieder pädagogisch tätig werden. Denn ihre Aufgabe besteht darin, den Lernenden Wege aufzuzeigen, wie die Welt auf eine neue und nachhaltige Weise bewohnt werden kann. So werden die Lernenden zu Protagonisten des Wandels, der sie in Richtung eines neuen Gesellschaftsmodells lenkt, in dem die Umwelt im Mittelpunkt steht. Außerdem können sie so neue Lebensstile, die im Einklang mit der Natur stehen, ausprobieren und verbreiten.

4.6.

In der aktuellen, sich laufend und rasch verändernden Situation muss ein innovatives Bildungsumfeld mit einem neuen ökologischen Alphabet geschaffen werden, das an den Zielen der Agenda 2030 ausgerichtet wird. Im Mittelpunkt stehen sollten dabei die Verfahren zur Umsetzung der Kreislaufwirtschaft sowie die Instrumente, die das Lebenszyklus-Konzept (3) bietet, das dem Umweltschutz, der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Verwirklichung der damit verbundenen Ziele Rechnung trägt.

4.7.

Der EWSA betont, dass alle über die erforderliche Klimakompetenz verfügen müssen. Dies gilt vor allem im Hinblick auf sämtliche Aspekte des nachhaltigen Verbrauchs und der nachhaltigen Produktion, die verantwortungsvolle Lebensmittelauswahl und die Verringerung von Lebensmittelverschwendung sowie die Nutzung nachhaltiger Energie. Der Unterricht junger Menschen in der Schule sollte durch lebenslanges Lernen der Eltern und politische Bildung unterstützt werden (4).

4.8.

Der Erfolg des ökologischen Wandels wird somit davon abhängen, ob und wie die Schulen mit den lokalen Gebietskörperschaften und außerschulischen Aktivitäten zusammenarbeiten, insbesondere mit Jugendorganisationen und der organisierten Zivilgesellschaft. Dadurch kann die breite Öffentlichkeit stärker sensibilisiert und zum Mitmachen motiviert werden. In diesem Zusammenhang bewertet der EWSA die bei dem Projekt „Grünes Erasmus“ gesammelten Erfahrungen positiv und erwartet seine Durchführung.

4.9.

In der jüngeren Generation, der so genannten Generation Z oder auch „GenZ“ (Unter-25-Jährige), sowie unter den auch kulturell besser gebildeten jungen Menschen sind das Bewusstsein, das Wissen und der Wille zum Einsatz für den Umweltschutz sogar noch stärker ausgeprägt. Dies bedeutet, dass das Bewusstsein und belastbare Informationen weiter zunehmen und sich konsolidieren werden, aber auch, dass die erforderlichen positiven Antworten gestärkt werden können, indem die Bildung junger Menschen verbessert und das Humankapital, das sie darstellen, in Gesellschaft und Wirtschaft stärker berücksichtigt wird. Im Gegenzug führen ein niedriges Bildungsniveau und Schwierigkeiten beim Eintritt in den Arbeitsmarkt nicht nur dazu, dass der Beitrag zum aktuellen Wachstum des Landes verlangsamt wird, sondern auch zu einer Schwächung der Rolle junger Menschen als aktive Akteure neuer Wachstumsprozesse, die stärker mit den für sie aktuellen Herausforderungen in Einklang stehen.

4.10.

Ohne die für den Wandel erforderlichen Kompetenzen wird er nicht stattfinden. Es kommt entscheidend darauf an, sowohl jüngeren als auch älteren Arbeitnehmern die Kompetenzen zu vermitteln, die es ihnen ermöglichen, mit den durch den ökologischen Wandel ausgelösten Innovationen Schritt zu halten, denn dieser wirkt sich schon jetzt unausweichlich und erheblich auf die Arbeitswelt aus und wird dies auch in Zukunft tun. Der EWSA hält es für wichtig, in arbeitsbasiertes Lernen zu investieren. Arbeitsbasiertes Lernen, d. h. verschiedene Schulungs- und Lernformen im Arbeitsumfeld, insbesondere Lehrlingsausbildungen, ist entscheidend wichtig, um fachliche Kompetenzen wie auch Querschnittskompetenzen zu erwerben bzw. wiederaufzufrischen. Schulungen am Arbeitsplatz, Praktika und Lehrlingsausbildungen sind drei Möglichkeiten, die auf unterschiedliche und vielfältige Weise eine positive Dynamik zwischen den Erfordernissen des Marktes und den individuellen Kompetenzen junger Menschen erzeugen können. Den Sozialpartnern kommt hierbei im Rahmen des sozialen Dialogs und der Tarifverhandlungen eine entscheidende Rolle zu.

4.11.

Der ökologische Wandel muss gerecht sein und eine Weiter- bzw. Neuqualifizierung der Arbeitnehmer gewährleisten und sicherstellen, dass es hochwertige Arbeitsplätze für alle gibt, damit niemand zurückgelassen wird. Der EWSA ist deshalb der Auffassung, dass Fortbildungsmaßnahmen unbedingt ganzheitlich und in die Industriepolitik integriert sein, mit anderen Entwicklungsstrategien abgestimmt und in enger Abstimmung mit den Sozialpartnern im Detail auf regionaler und lokaler Ebene konzipiert werden müssen.

4.12.

Ein derart ganzheitliches Konzept scheint es derzeit nicht zu geben. Grüne Kompetenzen sind insbesondere bei Arbeitnehmern mit geringeren Qualifikationen und Kompetenzen kaum vorhanden, weshalb sie auch kaum Arbeitsplätze in diesem Bereich arbeiten. Dadurch könnte es zu einer neuen Polarisierung zwischen jenen kommen, die über grüne Kompetenzen verfügen und sich daher mit Blick auf die neuen Möglichkeiten, die der ökologische Wandel eröffnet, einer ausgezeichneten Beschäftigungsfähigkeit erfreuen, und jenen, die keinen Zugang zu einschlägigen Weiterqualifizierungsmaßnahmen haben, über geringe Kompetenzen verfügen und häufig Tätigkeiten ausüben, die durch den kombinierten Effekt des ökologischen und des digitalen Wandels verschwinden könnten.

4.13.

Auch die Gleichstellung der Geschlechter muss in den Strategien für eine grüne Wirtschaft unbedingt berücksichtigt werden. Junge Frauen sind in den MINT-Berufen unterrepräsentiert, weil sie sich aufgrund von Geschlechterstereotypen, laut denen bestimmte Berufe ausschließlich Männern vorbehalten sind, mit geringerer Wahrscheinlichkeit einen solchen Beruf wählen. Um eine angemessene Beteiligung von Frauen in den Bereichen zu gewährleisten, in denen sich schon jetzt und in naher Zukunft aufgrund des ökologischen Wandels große Umwälzungen vollziehen, müssen diese Stereotype angegangen werden. Dabei kommt der Berufsberatung an Schulen eine entscheidende Rolle zu. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten mehr in die Berufsberatung für Schülerinnen und Schüler und in ihre Unterstützung auf dem Weg ins Berufsleben investieren und dabei effiziente öffentliche Arbeitsverwaltungen hinzuziehen sollten, die gut mit der Wirtschaft in der jeweiligen Region vernetzt sind.

4.14.

Innovationen voranzutreiben, ist ein Schlüsselfaktor für den Erfolg des ökologischen Wandels. Um die angestrebten Ziele zu erreichen, kommt es daher entscheidend darauf an, junge Menschen mit Unternehmergeist durch gezielte Schulungen und Unterstützung für innovative Projekte sowie die Bereitstellung angemessener finanzieller Förderungen zu Innovationen zu ermuntern.

4.15.

Durch den ökologischen Wandel könnten laut einer Folgenabschätzung der EU-Umweltagentur (5) in der EU bis 2030 eine Million neuer Arbeitsplätze entstehen, aber auch zwischen 500 000 und zwei Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren. Nach Auffassung des EWSA sollte es ein vorrangiges Anliegen der Mitgliedstaaten sein, erhebliche Mittel — in erster Linie jene, die im Rahmen der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne bereitgestellt werden — zu investieren, um zur Umstrukturierung gezwungene Unternehmen zu unterstützen, entlassenen Arbeitnehmern einen neuen Arbeitsplatz zu beschaffen und insbesondere junge Unternehmer zu unterstützen, die in grüne Unternehmen investieren möchten.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  EWSA-Stellungnahme „Für eine strukturierte Einbeziehung junger Menschen in den EU-Beschlussfassungsprozess in Klima- und Nachhaltigkeitsfragen“ (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 44).

(2)  EWSA-Stellungnahme zum EU-Jugendtest (ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 46).

(3)  https://www.lifecycleinitiative.org/starting-life-cycle-thinking/what-is-life-cycle-thinking/.

(4)  EWSA-Stellungnahme „Junge Menschen und nachhaltige Entwicklung — Stärkung ihrer Handlungskompetenz durch Bildung“ (ABl. C 100 vom 16.3.2023, S. 38).

(5)  https://www.eea.europa.eu/policy-documents/swd-2020-176-final-part.


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/18


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Holzbau zur Verringerung der CO2-Emissionen im Gebäudesektor“

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des schwedischen Ratsvorsitzes)

(2023/C 184/04)

Berichterstatter:

Rudolf KOLBE

Ko-Berichterstatter:

Sam HÄGGLUND

Befassung

Schwedischer Ratsvorsitz, 14.11.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Plenums

14.12.2022

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.3.2023

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

153/2/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) sieht biobasierte Baumaterialien als wichtigen Hebel für den grünen Wandel. Die Erhöhung des Anteils von Holz am Bau zur Senkung der Kohlenstoffemissionen muss durch eine aktive und nachhaltige Waldbewirtschaftung in der EU gefördert und nicht durch politische Einschränkungen verhindert werden.

1.2.

Aufgrund der Vorbildfunktion der öffentlichen Hand fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, den unter dem Gesamtdurchschnitt liegenden Einsatz von Holz bei öffentlichen Gebäuden zu erhöhen.

1.3.

Der EWSA erachtet auch für KMU gut zugängliche Fördermaßnahmen für Forschung, Entwicklung und Innovation zu alternativen Baustoffen als wichtiges Mittel zur Ausschöpfung des Potenzials des Holzbaus.

1.4.

Der EWSA regt an, Hemmnisse für den Holzbau, die sich aus formalen, rechtlichen und technischen Anforderungen ergeben, auf ihre Notwendigkeit für die Planungsqualität zu hinterfragen, und hält fest, dass Innovation die Möglichkeit erhalten muss, dem Stand der Technik nicht nur durch die Erfüllung von Normen, sondern auch durch den Einsatz „gleichwertiger Alternativlösungen“ zu entsprechen.

1.5.

Da auch unterschiedliche baurechtliche Vorschriften für nachwachsende Baustoffe Hemmnisse für deren Einsatz ergeben, regt der EWSA Maßnahmen zur Vereinheitlichung an und sieht dabei das Neue Europäische Bauhaus (NEB) als wichtigen Motor.

1.6.

Der EWSA empfiehlt die konsequente Nutzung der Ökobilanzierung für die qualifizierte Nachhaltigkeitsbewertung über den gesamten Lebenszyklus von Gebäuden und den Vergleich von Umwelteinwirkungen.

1.7.

Der EWSA unterstreicht die Wichtigkeit von Mindeststandards für den Kohlenstoffausstoß von Gebäuden über die gesamte Lebensdauer und eine entsprechende obligatorische Kohlenstoffberichterstattung im gesamten Bauwesen.

1.8.

Der EWSA sieht die Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden (EPBD) als wichtigstes politisches Instrument, um Anforderungen für die Verringerung der Kohlenstoffemissionen über die gesamte Lebensdauer von Gebäuden festzulegen. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, ein System der Kohlenstoffzertifizierung zu entwickeln, das der Rolle von Holzprodukten bei der Kompensation von Emissionen in vollem Umfang Rechnung trägt.

1.9.

Der EWSA hält einen Know-how-Transfer, wie er in der NEB-Akademie geplant ist, sowie entsprechende Aus- und Fortbildungsangebote auf nationaler Ebene für unabdingbar. Schulungen und Weiterbildungen zur Verwendung neuer nachhaltiger Baumethoden und -materialien sind für alle am Bauprozess Beteiligten erforderlich: Planer, Architekten, Ingenieure, Techniker, IT-Spezialisten und Bauarbeiter.

1.10.

Qualitätsbasierte Vergabeverfahren unter Einbeziehung von Nachhaltigkeits- und Lebenszykluskriterien sowie die Wahl von geeigneten Vergabeverfahren, die innovative Lösungen zulassen, sind aus Sicht des EWSA eine Voraussetzung für die Erreichung der Klimaziele und für die Förderung des Holzbaus. Der EWSA fordert daher sowohl eine stärkere rechtliche Verpflichtung zum Qualitätswettbewerb und zur klimagerechten öffentlichen Vergabe als auch Maßnahmen zur entsprechenden Schulung der öffentlichen Auftraggeber.

1.11.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, sich an der Initiative der österreichischen und finnischen Regierung Wood POP zu beteiligen, die darauf abzielt, öffentliche und private Akteure des Holzsektors auf nationaler und regionaler Ebene zu mobilisieren und die Neuausrichtung von Investitionen in nachhaltige biobasierte Lösungen und holzbasierte Wertschöpfungsketten zu unterstützen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Die Tradition des Holzbaus blickt auf eine jahrhundertealte Geschichte der Innovation zurück. Die Verwendung nachhaltiger Materialien wurde u. a. in den Ideen des Neuen Europäischen Bauhauses (1) aufgegriffen.

2.2.

Der EWSA schließt sich der Auffassung der Kommission an, dass innovativen, biobasierten sowie nachhaltig und in CO2-armen Verfahren hergestellten (Bau-)Materialien in Bezug auf den grünen Wandel größte Bedeutung zukommt. Laut dem Gebäudebericht der Internationalen Energieagentur (IEA) (2) sind Gebäude zurzeit für 33 % (2021) der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Der Großteil entfällt direkt und indirekt auf den Gebäudebetrieb, 6,4 % (2021) werden jedoch durch den Bau und die Herstellung von Baumaterial verursacht. Transport, Abbruch und Infrastrukturbauten sind hier nicht berücksichtigt. Die Emissionen, die durch den Transport anfallen, werden dem Transportsektor zugeordnet. Es kann davon ausgegangen werden, dass die tatsächlichen Emissionen aufgrund des Bauens höher sind. Innerhalb der EU sind nach Angaben der Kommission Gebäude für rund 40 % des Energieverbrauchs und rund ein Drittel der Treibhausgasemissionen in der EU verantwortlich. Reduktionen von Treibhausgasemissionen sind vor allem auf Maßnahmen im Bereich der thermischen Sanierung, steigende Anteile von erneuerbaren Energieträgern und die Erneuerung von Heizungsanlagen zurückzuführen. Demgegenüber stehen jedoch eine steigende Anzahl an Hauptwohnsitzen und die größere Wohnnutzfläche pro Wohnung.

2.3.

Der EWSA unterstreicht die enorme Bedeutung der Wälder für das Leben der Menschen weltweit. Europas 400 Mrd. Bäume absorbieren beispielsweise fast 9 % der europäischen Treibhausgasemissionen. Dem EWSA ist bewusst, dass die Abholzung von Wäldern ein enormes weltweites Problem darstellt, innerhalb der EU jedoch nehmen die Waldressourcen zu. Zwischen 1990 und 2020 hat die Waldfläche um 9 % und das Holzvolumen in den europäischen Wäldern um 50 % zugenommen (3). Der EWSA unterstützt uneingeschränkt alle Bemühungen der Europäischen Kommission zur Bewältigung des globalen Problems und betont, dass weiterhin gesunde und wachsende Wälder in der Union gefördert werden müssen. Die Erhöhung des Anteils von Holz am Bau zur Senkung der Kohlenstoffemissionen sollte durch eine aktive und nachhaltige Waldbewirtschaftung in der gesamten EU gefördert und nicht durch politische Einschränkungen verhindert werden.

2.4.

Der EWSA hält daher fest, dass die Nutzung des Potentials des Holzbaus (sowohl massive als auch nicht massive Holzbauweise) für den Klimaschutz untrennbar mit einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung verbunden sein muss. Im österreichischen Projekt CareforParis (4), an dem das Bundesforschungszentrum für Wald (BFW), die Universität für Bodenkultur (BOKU), Wood K plus und das Umweltbundesamt zusammenarbeiteten, wurden verschiedene Szenarien der Waldbewirtschaftung erstellt und untersucht. Die Szenarien gehen von unterschiedlichen Klimaveränderungen und Anpassungsstrategien für den österreichischen Wald aus und zeigen mögliche Entwicklungen bis ins Jahr 2150. Genauer analysiert wurden die CO2-Bilanz des Waldes und von Holzprodukten sowie die Vermeidung von CO2-Emissionen durch den Einsatz von Holzprodukten. Das Zusammenspiel von Waldwachstum, Holznutzung und vermiedenen Treibhausgasemissionen durch Holzprodukte führt zu einer positiven Treibhausgasbilanz. Die europäischen Wälder sind eine wichtige Kohlenstoffsenke. Zwischen 2010 und 2020 erreichte die durchschnittliche jährliche Bindung von Kohlenstoff in forstwirtschaftlicher Biomasse in der europäischen Region 155 Mio. Tonnen. In der EU-28 entspricht die Sequestrierung 10 % der Bruttotreibhausgasemissionen (5). Der größere Hebel für den Klimaschutz ist der Ersatz fossiler Rohstoffe und Energieträger durch Holz (stofflich und energetisch) und die damit vermiedenen Emissionen. Die Bereitstellung von Holz zur Substitution von Materialien mit höheren Lebenszyklusemissionen ist daher eine wichtige Maßnahme im Kampf für den Klimaschutz.

2.5.

Als graue Energie bezeichnet man jene Energie, die für die Herstellung, die Lagerung, den Transport, den Einbau und schließlich die Entsorgung von Materialien bzw. Bauteilen und Gebäuden aufgewendet werden muss. Im Vergleich zu anderen konventionellen Baustoffen bindet Holz noch vor seiner Verwendung als Baumaterial Kohlenstoff (ein Baum besteht zu ca. 50 % aus reinem Kohlenstoff). Wenn man die Emissionsbilanz des Holzes betrachtet, sind die Faktoren Herkunft, Transportdistanz und die Art der Verarbeitung sowie die Wiederverwendbarkeit von wesentlicher Bedeutung. Vergleiche von gleichwertigen Gebäuden — über den gesamten Lebenszyklus gesehen — zeigen, dass Holz im Gegensatz zu anderen Baustoffen bessere Werte hinsichtlich grauer Energie, Treibhausgasemissionen, Luft- und Wasserverschmutzung und anderer Wirkungsindikatoren erbringt. Die aktuell pro Jahr hergestellten Holzprodukte (= stofflich genutztes Holz) vermeiden nur durch den Substitutionseffekt ca. 10 % der gesamten jährlichen Treibhausgasemissionen.

2.6.

Konkret können durch Bauen mit Holz bis zu 40 % der CO2-Emissionen im Vergleich zu Beton eingespart werden. Wendet man die von Hagauer et al. (2009) (6) empfohlene Umrechnung von Volumen in Gewicht an, so beträgt das Trockengewicht von 1 Festmeter (fm) Holz (Nadel- und Laubholz gemischt) 417 kg. Unter der Annahme, dass der C-Anteil 50 % ist, errechnet sich ein CO2-Äquivalent von 0,765 t je fm. Daraus ergibt sich, dass aus 1 Mio. fm zusätzlich geerntetem gebrauchsfertigen Holz 0,765 Mio. t CO2 in dauerhaften Produkten gebunden wird.

2.7.

Der Anteil von Holzbauten ist in den letzten Jahren gestiegen. In Österreich zum Beispiel stieg der Holzbauanteil (7) innerhalb von 20 Jahren um über 70 % und lag im Jahr 2018 bezogen auf die realisierte Nutzfläche bei 24 %. Davon entfielen 53 % auf den Wohnungsbau, 11 % auf den Gewerbe- und Industriebau sowie 29 % auf landwirtschaftliche Zweckbauten. Im Vergleich dazu betrug der Anteil im Bereich der öffentlichen Bauten nur 7 %. In Schweden und Finnland bestehen 90 % aller neuen Einfamilienhäuser aus Holz, und ca. 20 % der neu gebauten Mehrfamilienhäuser haben eine Holzkonstruktion.

2.8.

Die Verdichtung der Städte ist ein wichtiges Mittel im Kampf gegen den Klimawandel, und sie geht unvermeidlich mit einer Zunahme der Gebäudehöhen einher. Aktuelle Projekte zeigen, dass große Höhen im Holzbau möglich sind. Beispiele sind das Sara Cultural Centre in Schweden mit 20 Stockwerken und einer Höhe von 75 m (8) oder der Ascent Tower in Milwaukee mit 18 Geschossen aus Holz (9).

2.9.

Heutige Holzbausysteme lassen sich leicht so anpassen, dass sie umfassende Lösungen für die Sanierung von Gebäuden bieten, wobei hochwertige Wohnungen entstehen und beträchtliche Energieeinsparungen erzielt werden können. Renovierungsprojekte machen sich nicht nur die leicht verfügbare städtische Infrastruktur zunutze, sondern nutzen auch die graue Energie, die im vorhandenen Gebäudebestand bereits enthalten ist.

2.10.

Die existierenden Reserven zu verwenden, statt neue Gebäude hinzuzufügen, bedeutet eine effizientere Nutzung der Ressourcen, die eine Stadt zu bieten hat, und muss daher grundsätzlich priorisiert werden. Vorteile sind die Schnelligkeit der Montage und des Zusammenbaus der Komponenten, das bessere Verhältnis zwischen Tragfähigkeit und Gewicht im Vergleich zu anderen Materialien und eine dadurch vergleichsweise geringe, auf die bestehende Konstruktion einwirkende Eigenlast.

2.11.

Holz eignet sich zudem gut für die Kaskadennutzung. Mehrere Nutzungsstufen steigern die Wertschöpfung, reduzieren den Ressourcenverbrauch und binden das CO2 während längerer Zeit.

2.12.

Die formalen, rechtlichen und technischen Anforderungen an die Planungsqualität im Holzbau sind vergleichsweise höher und umfangreicher als bei anderen Bauweisen. Dieser Komplexitätsgrad hemmt die Steigerung des Marktanteils der Holzbauweise. Die Standardisierung von Komponenten, Verbindungen und Baugruppen kann bei der Umsetzung unterstützen und die Wirtschaftlichkeit und Qualität sicherstellen. Eine bestehende Initiative ist die Datenbank dataholz.eu, die für Deutschland und Österreich geprüfte Bauteilaufbauten und -fügungen online zur Verfügung stellt. Grundsätzlich hält der EWSA fest, dass Innovation auch im Holzbau in allen Bereichen die Möglichkeit erhalten muss, dem Stand der Technik nicht nur durch bestehende Normen, sondern auch durch den Einsatz „gleichwertiger Alternativlösungen“ zu entsprechen.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Der EWSA stellt fest, dass Holzbausysteme dank der Standardisierung, Präzision und Qualität sowohl für den Neubau als auch für die Sanierung von Bestandsgebäuden und die Nachverdichtung von Städten gut geeignet sind. Zu ihren zahlreichen Vorteilen zählen ihre Anpassungsfähigkeit, der hohe Vorfertigungsgrad, verkürzte Bauzeiten sowie das verglichen mit anderen Baustoffen geringere Gewicht.

3.2.

Ein wesentliches Kriterium für die Gebäudebewertung sind die Umwelteinwirkungen während des gesamten Lebenszyklus. Umweltwirkungen entstehen bei der Errichtung (Herstellung und Transport der verwendeten Bauprodukte), der Nutzung und dem Rückbau (einschließlich der Wiederverwertung oder Entsorgung der Bauprodukte). Die Umweltwirkungen werden über Ökobilanzen erfasst (EN 15804:15.02.2022).

3.3.

Die Ökobilanzierung ist ein geeignetes Instrument für die Nachhaltigkeitsbewertung der Bauprodukte. Der EWSA empfiehlt, dass das Werkzeug der Ökobilanzierung für die qualifizierte Nachhaltigkeitsbewertung über den gesamten Lebenszyklus konsequent für Gebäude für die Darstellung und den Vergleich von Umwelteinwirkungen genutzt wird.

3.4.

Die baurechtlichen Vorgaben wurden in den vergangenen Jahren für die Verwendung von nachwachsenden Baustoffen geöffnet. Die Möglichkeiten für das Bauen mit Holz wurden vor allem in Bezug auf den Brandschutz erweitert. Auch aktuelle Projekte widmen sich dem Thema.

3.5.

Das Forschungsprojekt „TIMpuls“ (10) unter der Leitung der Technischen Universität München (TUM) erforscht aktuell Brände an mehrgeschossigen Holzgebäuden mit dem Ziel, valide Grundlagen für ein einheitliches Regelwerk zum Bau von Holzhochhäusern zu schaffen.

3.6.

Aktuelle Forschungsergebnisse und ausgeführte Projekte zeigen, dass Holzbau hinsichtlich Brandschutz keineswegs hinter anderen Konstruktionsweisen zurücksteht und weiters Vorteile in Hinblick auf Erdbebensicherheit (11) aufweist.

3.7.

Durch unterschiedliche gesetzliche Regelungen, sogar innerhalb der Mitgliedstaaten, bestehen oft unnötige Hürden. Der EWSA fordert daher eine weitere Vereinheitlichung der baurechtlichen Vorschriften in Hinblick auf eine Gleichrangigkeit mit anderen Baustoffen.

3.8.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten dazu auf, den unter dem Gesamtdurchschnitt liegenden Einsatz von Holz bei öffentlichen Gebäuden zu erhöhen. Der öffentlichen Hand kommt eine Vorbildfunktion dabei zu, die Potenziale des Holzbaus zum Erreichen der Klimaschutzziele auszuschöpfen. Vor allem herausragende innovative Einzelgebäude in Holzbauweise können identitätsstiftend und impulsgebend für den verstärkten Einsatz von Holz sein.

3.9.

In Vergabeverfahren werden zu Lasten von Holzbaulösungen oftmals Kriterien wie Bioökonomie, Nachhaltigkeit, Lebenszykluskosten, Klimabelastung u. a. nicht oder zu wenig für die Ermittlung des Bestbieters herangezogen. Der EWSA fordert daher eine stärkere Verpflichtung, Kriterien, die der Erreichung der Klimaziele dienen, in der öffentlichen Vergabe zu berücksichtigen.

3.10.

Im vorgefertigten Holzbau muss eine Planung dazu beinahe Ausführungsstand haben, um keinen Interpretationsspielraum zu riskieren und eine eindeutige Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Um Vorteile in Bezug auf die technisch-wirtschaftliche Optimierung und Realisierungszeitspanne (12) zu erlangen, müssen dabei die umfangreiche Produktpalette sowie der Einfluss aus Fertigungs-, Logistik- und Montageverfahren früher bedacht werden als beim Bauen mit niedrigen Vorfertigungsgraden. Dies kann durch das frühzeitige Einbeziehen von Bieterinformationen durch Wahl des passenden Vergabeverfahrens, wie z. B. Architekturwettbewerb oder wettbewerblicher Dialog, oder die Einbindung von spezialisierten Planern durch den Auslober ermöglicht werden.

3.11.

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung des Neuen Europäischen Bauhauses für die Förderung von hochwertigen klimafreundlichen Baumaterialien und somit die Verwendung von Holz im Bau. Derzeit beträgt der Anteil von Holz als Baumaterial in der EU lediglich 3 %, das Potential des Holzbaus für den Klimaschutz wird daher bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Der EWSA erachtet die Fördermaßnahmen für Forschung, Entwicklung und Innovation in Bezug auf alternative Baustoffe im Rahmen des Neuen Europäischen Bauhauses daher als wichtiges Element zur Ausschöpfung dieses Potentials.

3.12.

Vielfach sind die Möglichkeiten des Einsatzes bei den Anwendern im Baubereich noch nicht überall ausreichend bekannt. Unvollständiges Wissen hat häufig zur Folge, dass Holz nur in beschränktem Maße verwendet wird. Der EWSA hält daher den Know-how-Transfer innerhalb von Europa — wie er in der NEB-Akademie geplant ist — für sehr wichtig und hält gleichzeitig fest, dass sichergestellt werden muss, dass entsprechende Aus- und Fortbildungsmodule auch auf nationaler Ebene in ausreichendem Maß angeboten werden. Schulungen und Weiterbildungen in der Verwendung neuer nachhaltiger Baumethoden und -materialien werden für alle am Bauprozess beteiligten Kategorien von Arbeitnehmern erforderlich sein: Planer, Architekten, Ingenieure, Techniker, IT-Spezialisten und Bauarbeiter. Nur mit entsprechend ausgebildeten Personen ist der grüne Wandel erreichbar.

3.13.

Der EWSA begrüßt das gemeinsame Europäische Sozialprojekt RESILIENTWOOD unter Federführung des Europäischen Verbands der holzverarbeitenden Industrie (CEI-Bois) und des Europäischen Verbands der Bau- und Holzarbeiter (EFBH), das darauf abzielt, Empfehlungen und Leitlinien für Unternehmen, Berufsbildung und Behörden zu entwickeln, um junge Menschen für die Holzindustrie der EU zu gewinnen, sich an den technologischen Wandel anzupassen und die Arbeitnehmer weiterzuqualifizieren.

3.14.

Der EWSA ist der Meinung, dass es wichtig ist, Fachinformationen zu publizieren, um den Stand der Technik im Holzbau für alle Akteure bereitzustellen und konstruktive und bauphysikalische Standards festzulegen, um das Bauen mit Holz zu vereinfachen.

3.15.

Die Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden (EPBD) ist die wichtigste EU-Rechtsvorschrift für den Gebäudesektor. Sie verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten, Leistungsniveaus für ihre Gebäude festzulegen, die Dekarbonisierung des Gebäudebestands durch langfristige Renovierungsstrategien strategisch zu planen und zusätzliche Maßnahmen umzusetzen. Die EPBD ist daher das offensichtliche politische Instrument, um Anforderungen und klare Auslöser für die Verringerung der Kohlenstoffemissionen über die gesamte Lebensdauer von Gebäuden festzulegen.

3.16.

Die Bestimmungen der EPBD müssen mit den Zielen der Klimaneutralität in Einklang gebracht werden und die wichtigsten und dringendsten Maßnahmen aufzeigen, die bis 2050 zu ergreifen sind. Es ist zwar wichtig, die Energieeffizienz von Gebäuden zu verbessern, aber ohne ein klares Verständnis des integrierten CO2-Fußabdrucks von Gebäuden besteht die Gefahr, dass die Maßnahmen nicht optimal sind.

3.17.

Der EWSA begrüßt die im Frühjahr 2022 vorgeschlagene Ökodesign-Verordnung für nachhaltige Produkte als wichtigen Schritt in Richtung umweltfreundlicherer und kreislauforientierter Produkte. Die Festlegung von Mindestkriterien, wie etwa die Verringerung des Umwelt- und Klimafußabdrucks von Produkten, kann auch bestens für den Holzbau umgelegt werden und wirtschaftliche Innovationsmöglichkeiten schaffen, obwohl dieser derzeit nicht in der Verordnung enthalten ist.

3.18.

Eine obligatorische Kohlenstoffberichterstattung für das Bauwesen über die gesamte Lebensdauer wird die Datenerhebung und das Benchmarking erleichtern und dem Bausektor die Möglichkeit geben, die erforderlichen Fähigkeiten und Kapazitäten zu entwickeln. Es müssen verbindliche Mindeststandards für den Kohlenstoffausstoß über die gesamte Lebensdauer eingeführt und im Laufe der Zeit verschärft werden. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, ein System der Kohlenstoffzertifizierung zu entwickeln, das der Rolle von Holzprodukten bei der Kompensation von Emissionen in vollem Umfang Rechnung trägt.

3.19.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, sich umfassend an der neuen Initiative der österreichischen und finnischen Regierung Wood POP zu beteiligen, bei der es sich um eine Plattform zur Forcierung des holzbasierten Politikdialogs handelt, die darauf abzielt, wichtige öffentliche und private Akteure des Holzsektors auf nationaler und regionaler Ebene zu mobilisieren und gleichzeitig die Neuausrichtung von Investitionen in nachhaltige biobasierte Lösungen und holzbasierte Wertschöpfungsketten zu unterstützen.

3.20.

Der EWSA hebt in seiner ergänzenden Stellungnahme CCMI/205 „Industrie 5.0 im Holzbau-Sektor“ hervor, dass Holz als Baumaterial eine große Chance bietet, da es eine nachhaltige und kosteneffektive Alternative zu traditionellen Materialien wie Beton und Stahl darstellt. Ein weiterer Nutzen ist die hohe Arbeitsproduktivität, die schnellere und effizientere Bauarbeiten ermöglicht. Zudem eröffnet der Holzbau in ländlichen Regionen Beschäftigungsmöglichkeiten. Holzbau bietet Umweltvorteile, da Holz eine erneuerbare Ressource ist und im Vergleich zu anderen Materialien in der Produktion und über den Lebenszyklus hinweg weniger Kohlenstoffemissionen verursacht. Holzbau fördert zudem die Erhaltung und Pflege von Wäldern und trägt somit zur Reduzierung von Treibhausgasen bei.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 73, ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 73.

(2)  IEA (2022) Gebäudebericht in: https://www.iea.org/reports/buildings.

(3)  https://foresteurope.org/wp-content/uploads/2016/08/SoEF_2020.pdf.

(4)  Weiss, P., Braun, M., Fritz, D., Gschwantner, T., Hesser, F., Jandl, R., Kindermann, G., Koller, T., Ledermann, T., Ludvig, A., Pölz, W., Schadauer, K., Schmid, B.F., Schmid, C., Schwarzbauer, P., Weiss, G., 2020, „Endbericht zum Projekt CareforParis“, Klima- und Energiefonds, Wien.

(5)  https://foresteurope.org/wp-content/uploads/2016/08/SoEF_2020.pdf.

(6)  Hagauer, D., Lang, B., Pasteiner, C., und Nemesthoty, K., 2009, „Empfohlene Umrechnungsfaktoren für Energieholzsortimente bei Holz- bzw. Energiebilanzberechnungen“, Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft, Abteilung V/10 — Energie und Umweltökonomie, Eigenverlag, Wien.

(7)  Holzbauanteil in Österreich. Eine statistische Erhebung aller Hochbauvorhaben in den Jahren 1998-2008-2018. Robert Stingl, Gabriel Oliver Praxmarer, Alfred Teischinger, Universität für Bodenkultur Wien im Auftrag von proHolz Austria.

(8)  Vgl. Sara Cultural Centre, Skelleftea, Schweden, White Arkitekter, 2021.

(9)  Vgl. Ascent Tower, Milwaukee, WIEHAG Österreich, 2021.

(10)  www.cee.ed.tum.de/hbb/forschung/laufende-forschungsprojekte/timpuls (abgerufen am 23.1.2023).

(11)  Vgl. Forschungsprojekt Erdbebensicherheit von Holzgebäuden, Fachhochschule Bern, 2020 www.bfh.ch/de/forschung/referenzprojekte/erdbebensicherheit-holzgebaeude (abgerufen am 23.1.2023).

(12)  Vgl. Forschungsprojekt leanWOOD — Neue Kooperations- und Prozessmodelle für das vorgefertigte Bauen mit Holz, HSLU Hochschule Luzern, 2017.


ANHANG

Die zusätzliche Stellungnahme der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel — Industrie 5.0 im Holzbau-Sektor — befindet sich auf den folgenden Seiten:

Stellungnahme der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel zum Thema „Industrie 5.0 im Holzbau-Sektor“

(zusätzliche Stellungnahme zu TEN/794)

Berichterstatter:

Martin BÖHME

Ko-Berichterstatter:

Rolf GEHRING

Beschluss des Plenums

15.11.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 56 Absatz 1 GO

 

Zusätzliche Stellungnahme

Zuständiges Arbeitsorgan

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

27.2.2023

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

29/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) betont, dass der Einsatz von Holz als Baustoff eine große Chance darstellt, da er eine nachhaltige und kosteneffiziente Alternative und Ergänzung zu traditionellen Baustoffen wie Beton und Stahl ist. Ein weiterer Vorteil ist die hohe Arbeitsproduktivität beim Holzbau, die eine schnellere und effizientere Errichtung von Gebäuden ermöglicht. Auch die Möglichkeit der Vorfertigung der Bauteile in der Fabrik senkt die Kosten und erhöht die Sicherheit am Bau.

1.2.

Allgemeine und berufliche Bildung und lebenslanges Lernen der Arbeitskräfte im Bereich des Holzbaus sind wichtiger denn je. Die allgemeine und berufliche Bildung muss das Ergebnis eines sozialen Dialogs unter Einbeziehung aller Sozialpartner sein.

1.3.

Der EWSA sieht im Erstarken des Holzbausektors große Chancen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, insbesondere im ländlichen Raum. Gute Arbeitsplätze in der Holzindustrie und im Holzbau können in ländlichen Gebieten, in denen die Holzwirtschaft eine wichtige Rolle spielt, zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Lage beitragen.

1.4.

Der EWSA unterstreicht die zahlreichen Vorteile des Holzbaus für die Umwelt. Einer der größten Vorteile ist die Tatsache, dass Holz ein nachwachsender Rohstoff ist, der bei der Herstellung von Bauteilen und Gebäuden und über deren Lebenszyklus einen geringeren CO2-Ausstoß verursacht als andere Baustoffe. Weiterhin fördert der Einsatz von Holz in der Bauwirtschaft den Erhalt und die Pflege von Wäldern, da er Anreize für die nachhaltige Waldbewirtschaftung schafft. Holz absorbiert während seiner Wachstumsphase CO2 aus der Atmosphäre und speichert es. Wenn es als Baustoff verwendet wird, wird es somit zu einem grünen Baustoff und trägt insgesamt zur Reduzierung von Treibhausgasen bei.

1.5.

Der EWSA verweist auf seine aktuellen Veröffentlichungen zum Thema Bauen und Bauprodukte, insbesondere auf die Stellungnahmen „Harmonisierte Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten“ (1) und „Holzbau zur Verringerung der CO2-Emissionen im Gebäudesektor“ (2).

1.6.

Die Verwendung von Holz im Baugewerbe bestätigt die Einstufung von Holz als erdbebensicherem Material, wie sich in einigen Fällen, etwa beim Erdbeben in Alaska im Jahr 1964, erwiesen hat. Nach Ansicht des EWSA sollten Menschen, die in erdbebengefährdeten Gebieten leben, ermutigt werden, Holz als Baumaterial zu verwenden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Diese Stellungnahme schließt sich den allgemeinen Bemerkungen der Stellungnahme TEN/794 „Holzbau zur Verringerung der CO2-Emissionen im Gebäudesektor“ an.

2.2.

Der Bausektor ist ein bedeutender Verursacher von Treibhausgasemissionen und damit ein wichtiger Faktor in Bezug auf die Klimaschädlichkeit. Die Emissionen entstehen hauptsächlich durch den Einsatz von fossilen Brennstoffen für die Erzeugung von Wärme und Strom in Gebäuden sowie durch die Produktion von Baumaterialien. Es besteht ein großer Bedarf an Maßnahmen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen im Bausektor, z. B. durch den Einsatz von erneuerbaren Energien, die Verbesserung der Gebäudeenergieeffizienz und die Verwendung von nachhaltigen Baumaterialien (3).

2.3.

Der EWSA unterstreicht: Um die Bedeutung von nachhaltig produziertem Holz als Baustoff in der Bauindustrie zu steigern, ist die Notwendigkeit einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung zur Produktion des Rohstoffs Holz hervorzuheben. Nachhaltige Waldbewirtschaftung bezieht sich auf die Verwaltung und Nutzung von Wäldern so, dass sie sowohl ökologisch als auch ökonomisch und sozial nachhaltig sind. Dies bedeutet, dass die Wälder sowohl für die aktuelle als auch für die zukünftigen Generationen erhalten bleiben und dass die natürlichen Ressourcen verantwortungsvoll genutzt werden. Ein wichtiger Bestandteil der nachhaltigen Waldbewirtschaftung ist die Erhaltung der biologischen Vielfalt und der Ökosystemleistungen der Wälder. Es ist auch wichtig, die Anfälligkeit der Wälder gegenüber natürlichen Störungen wie Waldbränden und Insektenbefall zu reduzieren.

2.4.

Unter technischen Gesichtspunkten ist festzustellen, dass der Holzbau im Vergleich zu anderen Baustoffen wie Beton deutlich weniger Einsatz so genannter grauer Energie erfordert. Graue Energie bezieht sich auf die Energie, die für die Herstellung, den Transport, die Lagerung und das Recycling von Produkten aufgewendet wird. Eine Reduktion der grauen Energie bedeutet, dass weniger Energie für diese Prozesse aufgewendet wird, was zu einer Senkung der CO2-Emissionen und zu einem nachhaltigeren Energieverbrauch führt. Eine Reduktion der grauen Energie kann auch dazu beitragen, die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen zu verbessern.

2.5.

Der EWSA stellt fest, dass gesetzliche Regulierungen mitunter die Entwicklung des Holzbaus hemmen, indem sie die Verwendung von Holz als Baustoff beschränken oder bestimmte Vorschriften und Standards vorgeben, die für den Holzbau schwer oder teuer umzusetzen sind. Ein Beispiel hierfür ist die Höhenbegrenzung für Holzgebäude, die in manchen Ländern festgelegt ist. Dies kann die Möglichkeiten des Holzbaus einschränken und die Entwicklung von innovativen Holzkonstruktionen behindern. Im Bereich des Brandschutzes von Gebäuden ist es nicht akzeptabel, dass für Holz andere Leistungsregeln gelten als für andere Materialien. Der EWSA plädiert für eine Homogenisierung der Vorschriften auf europäischer Ebene, unabhängig vom Material.

2.6.

Der Holzbau kann einen wichtigen Beitrag hin zu einer stärker zirkularen Wirtschaft und insbesondere hinsichtlich des Ziels einer stärker biobasierten Wirtschaftsweise leisten, wie sie in den entsprechenden EU-Politiken ausformuliert ist. Die Anwendungsbereiche und die Materialeigenschaften von Holz und holzbasierten Produkten sind diesbezüglich weiterzuentwickeln. Vor allem die Recyclingfähigkeit von Holzprodukten spielt dabei eine wesentliche Rolle. Daneben wird aber auch die Kombination von Holz mit anderen Werkstoffen eine weiter wachsende Bedeutung erlangen. Eine europäisch koordinierte und unterstützte Förderung der Forschungskooperation in den Gebieten Materialeigenschaften und Verbundwerkstoffe kann diesbezüglich eine wichtige und innovationsfördernde Rolle spielen.

2.7.

Die Transformation unserer Industrien hin zu dem auch sozial unterlegten Konzept der Industrie 5.0 hat eine stark technische Seite. Digitalisierung (Building-Information-Modelling), Robotisierung und der Einsatz lernender Programme (Künstliche Intelligenz) werden die gesamte Wertschöpfungskette, von der Forstwirtschaft bis zum Bau, seiner Erhaltung und des Recyclings verändern. Dies bedarf eines rechtlichen Rahmens bezüglich der generellen Produktanforderungen, der Anforderungen an Bauprodukte und der Normung. Sie müssen für den Bereich des Holzbaus koordiniert werden. Im Sinne der für die Industrie 5.0 skizzierten sozialen Zielsetzungen sollten technische Entwicklungen und arbeitsorganisatorische Konzepte einem menschenzentrierten Ansatz im Technikdesign folgen. Dabei wird es auch wichtig sein, die möglichen positiven oder negativen Effekte für eine gesunde Arbeits- und Wohnumwelt systematisch vom ersten Schritt der Technikentwicklung an mitzudenken.

2.8.

Der EWSA stellt fest, dass technologische und materialtechnische Änderungen im Holzbau auch die Arbeitsorganisation und die Qualifikationsanforderungen verändern werden. Hier entstehen Überlappungen zwischen dem Bau- und dem Holzsektor bzw. zwischen klassischen Berufen in diesen beiden Wirtschaftssektoren. Die Anpassung von bestehenden Curricula für einzelne Berufe oder auch das Neudesign von Berufen ist diesbezüglich eine Anforderung, die europäisch koordiniert werden sollte. Die Zielstellung attraktiver Berufe mit einem breiten Aufgabenzuschnitt und eine dementsprechende Arbeitsorganisation werden auch zu einer stärkeren Attraktivität des Bau- und des Holzsektors beitragen.

2.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass angesichts des raschen Wandels der Arbeitsmethoden (Digitalisierung, Robotik, künstliche Intelligenz, neue Maschinen) allgemeine und berufliche Bildung und lebenslanges Lernen der Arbeitskräfte im Holzbau wichtiger denn je sind. Die allgemeine und berufliche Bildung muss das Ergebnis eines sozialen Dialogs unter Einbeziehung aller Sozialpartner sein.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Es ist zu erwarten, dass die Steigerung der Holzbauquote wesentlich zur Stärkung regionaler Wertschöpfungsketten und zur Verringerung des ökologischen Fußabdrucks beitragen könnte. Holzbau ist materialtechnisch ein sehr effektiver Beitrag hin zu einer Bioökonomie, insbesondere, wenn im gesamten Lebenszyklus des Holzbaus, einschließlich des Designs, vermehrt Wert auf Pflege und Erhaltung gelegt wird. Zur Vermeidung von ökologischen Verlagerungseffekten sollte Holz darüber hinaus nur von Orten bezogen werden, die über zertifizierte Waldflächen (Waldzertifizierungssysteme FSC und PEFC) verfügen und deren Derbholzpotenzial den eigenen Bedarf übersteigt.

3.2.

Der EWSA sieht die Gestaltung des Flächenbedarfs für die Holzproduktion und die Art der Bewirtschaftung (intensiv, extensiv, Monokultur, ökologisch) und Beschaffung (konventionell oder nachhaltig) als von zentraler Bedeutung für die Nachhaltigkeit des Holzbaus insgesamt. Gerade im Hinblick auf eine gewünschte Steigerung des Holzbauanteils im Bausektor ist entscheidend, bei der Erhöhung von Flächenanteilen sowie der Umnutzung von Flächen zur Holzproduktion die Zielsetzungen der Nachhaltigkeit sowie der Biodiversität konsequent im Blick zu behalten.

3.3.

Praxistests zeigen, dass sich die Holzbauweise aus ökobilanzieller Sicht insgesamt als vorteilhafter erweist als andere Bauweisen wie zum Beispiel die Stahlbetonbauweise. Vor allem der Wirkungsindikator zur Ermittlung des Treibhauspotenzials schneidet deutlich besser ab und macht nur 57 % des Potenzials der Stahlbetonbauweise aus (4).

3.4.

Der EWSA betont, dass die Auswertung von Studien, die den Holzbau gegen den Massivbau abgrenzen, ergeben hat, dass der Holzbau bei den Ökobilanzindikatoren a) Primärenergiebedarf (gesamt und nicht erneuerbar) und b) Treibhauspotenzial in nahezu allen Fällen geringere Umweltauswirkungen vorweisen kann. Dies ist unabhängig von den gewählten Baustoffen für die Massivbauweise und der Konstruktionsart innerhalb der Holzbauweise (5).

3.5.

Der Vorfertigungsgrad im Holzbau ist wesentlich höher als im Massivbau. Somit sind die Baustellenarbeiten weniger witterungsabhängig, und ein größerer Anteil der Fabrikation erfolgt unter optimalen Arbeitsbedingungen in der Werkhalle. Die größere Fertigungstiefe benötigt jedoch einen höheren Planungsaufwand und somit einen längeren Planungsvorlauf.

3.6.

Der EWSA stellt fest, dass die kürzeren Bauzeiten im Holzbau zur Folge haben, dass sich Baustellengemeinkosten und Vorhaltezeiten reduzieren. Die Vorfertigung ermöglicht eine geringere Anzahl an Transporten zur Baustelle. Insbesondere auf urbanen Potenzialflächen kann durch Holzbau schnell neuer Wohnraum z. B. durch Aufstockung und Erweiterung geschaffen werden.

3.7.

Der Holzbau ermöglicht größere Wohnflächen bei gleichen Außenmaßen. Denn beim Holzbau wird oft die Dämmebene in die Tragstruktur integriert, beim Massivbau erfolgt ein getrennter Aufbau. Dies hat zur Folge, dass bei gleicher Dämmstärke eine schlankere Außenwand im Holzbau möglich ist.

3.8.

Der EWSA erwartet zusätzliche Potenziale des Holzbaus neben dem Wohnungsbau bei weiteren Gebäudenutzungstypen im Bereich der Nichtwohngebäude (z. B. Büro-, Lager- und Laborgebäude).

3.9.

Der EWSA stellt fest, dass genau wie bei allen Bauformen eine qualitativ hochwertige Bauplanung und Ausführung von großer Bedeutung für den Lebenszyklus des Bauwerks ist. Hierfür bedarf es insbesondere gut ausgebildeter Architekten und Ingenieure und einer europäischen Planungsrichtlinie, die mit geeigneten regulatorischen Rahmenbedingungen die Berufsstände unterstützt. Vor allem im Planungsbereich ist durch rechtliche Anpassungen und entsprechende Auftraggeberschulungen sicherzustellen, dass Leistungen verpflichtend im Qualitätswettbewerb zu vergeben sind (6).

3.10.

Angesichts der jüngsten Auswirkungen der Erdbeben in der Türkei, aber auch früherer Erdbeben sowie der Prognosen von Sachverständigen für bevorstehende Ereignisse ist der EWSA der Ansicht, dass Menschen, die in erdbebengefährdeten Gebieten leben, zum Bau von Holzgebäuden ermutigt werden sollten.

3.11.

In den produzierenden Unternehmen können Produktionsabläufe durch den Einsatz von Technologien aus der Industrie 5.0 optimiert und vereinfacht werden und zu einer Verringerung des Energieeinsatzes und damit Senkung der CO2-Emmissionen im Produktionsprozess führen. Darüber hinaus ermöglicht die Vorfertigung von Bauteilen im Werk, die Baustelle effizienter und mit weniger Abfall zu gestalten, da die Bauteile vor Ort nur noch zusammengesetzt werden müssen. Das führt zu einer Reduzierung des Energieverbrauchs für den Transport und zu einer Verringerung des Abfallaufkommens (7).

Brüssel, den 27. Februar 2023

Der Vorsitzende der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel

Pietro Francesco DE LOTTO


(1)  ABl. C 75 vom 28.2.2023, S. 159.

(2)  Stellungnahme des EWSA „Holzbau zur Verringerung der CO2-Emissionen im Gebäudesektor“ (siehe ABl. S. 18).

(3)  Vgl. „Kreislaufwirtschaft für die Dekarbonisierung des EU-Bausektors — Modellierung ausgewählter Stoffströme und Treibhausgasemissionen“. Meta Thurid Lotz, Andrea Herbst, Matthias Rehfeldt.

(4)  https://www.berlin.de/nachhaltige-beschaffung/studien/holz-versus-stahlbetonbauweise/.

(5)  Potenziale von Bauen mit Holz. Umweltbundesamt, S. 25.

(6)  Vgl. Holzbau vs. Massivbau — ein umfassender Vergleich zweier Bauweisen im Zusammenhang mit dem SNBS Standard, Daniel Müller.

(7)  Vgl. Koppelhuber, J., Bok, M. (2019), „Paradigmenwechsel im Hochbau“, In: Hofstadler, C. (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, Springer Vieweg, Wiesbaden, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_19.


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

577. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 22.3.2023-23.3.2023

25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/28


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Maßnahmen für ein hohes Maß an Interoperabilität des öffentlichen Sektors in der Union (Gesetz für ein interoperables Europa)

(COM(2022) 720 final — 2022/0379 (COD))

und zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über eine gestärkte EU-Interoperabilitätspolitik im öffentlichen Sektor — Verknüpfung öffentlicher Dienste, Unterstützung der öffentlichen Politik und Schaffung öffentlichen Nutzens — Auf dem Weg zu einem „interoperablen Europa“

(COM(2022) 710 final)

(2023/C 184/05)

Berichterstatter:

Vasco DE MELLO

Befassung

a)

Europäisches Parlament, 21.11.2022

b)

Rat der Europäischen Union, 25.11.2022

Rechtsgrundlagen

a)

Artikel 172 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

b)

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

10.3.2023

Verabschiedung auf der Plenartagung

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

200/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist ebenso wie die Kommission der Auffassung, dass die Interoperabilität zwischen öffentlichen Diensten eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung eines digitalen Binnenmarkts ist.

1.2.

Die Verwirklichung dieses Ziels darf jedoch nicht zu einer Politik der Mitgliedstaaten führen, die eine vollständige Digitalisierung öffentlicher Dienste zulasten der mit einer persönlichen Vorsprache verbundenen Behördendienste zur Folge hat, vor allem mit Blick auf die schutzbedürftigsten Bevölkerungsgruppen. Schulungen zu digitalen Kompetenzen sollten allen, aber insbesondere diesen Bevölkerungsgruppen zur Verfügung stehen.

1.3.

Die Entwicklung und Erbringung digitaler Dienste werden zunächst nicht zu einem Personalabbau, sondern zu zusätzlichem Personalbedarf führen. Für einen erfolgreichen digitalen Wandel bedarf es einer angemessenen Personalausstattung.

1.4.

Der EWSA nimmt mit Genugtuung zur Kenntnis, dass die Digitalisierung öffentlicher Dienste während der Pandemie deutlich fortgeschritten ist.

1.5.

Der EWSA unterstützt die Schaffung und Institutionalisierung eines Governance-Modells für diese Politik mit zwei Hauptgremien, dem Beirat für ein interoperables Europa und der Gemeinschaft für ein interoperables Europa.

1.6.

Der EWSA begrüßt, dass in der Mitteilung die Entwicklung experimenteller Lösungen vorgesehen wird, die Partnerschaften zwischen dem öffentlichen Sektor und innovativen Technologie- und Start-up-Unternehmen ermöglichen. Ziel sind innovative experimentelle Lösungen, die in öffentlichen Diensten umgesetzt und zwischen den Behörden ausgetauscht werden können.

1.7.

Der EWSA hält es für wichtig, dass bei künftigen Finanzierungsprogrammen für Projekte zur Interoperabilität öffentlicher Dienste die Mittelgewährung davon abhängig gemacht wird, dass die Projekte mit den Grundsätzen und Strukturen des Europäischen Interoperabilitätsrahmens im Einklang stehen.

1.8.

Der EWSA begrüßt zwar, dass dieser Prozess mit dem grünen und dem digitalen Wandel korreliert, gibt aber zu bedenken, dass einige technologische Digitalisierungslösungen sehr energieintensiv sein könnten.

1.8.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Datenschutz bei angemessener Sorgfalt kein Hindernis für die Schaffung neuer Interoperabilitätslösungen durch öffentliche Dienste oder Privatpersonen sein sollte.

1.8.2.

Andererseits ist der EWSA der Ansicht, dass der Zugang zu Daten sowohl für Bürger als auch für Unternehmen und andere öffentliche Dienste unterschiedlichen Genehmigungsebenen unterliegen sollte, um die Vertraulichkeit der Daten zu wahren und sicherzustellen, dass nur unbedingt notwendige Daten bereitgestellt werden.

2.   Einleitung

2.1.

Die Schaffung eines Binnenmarkts, d. h. eines Raums des freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs, erfordert die Beseitigung der bestehenden nationalen Hemmnisse.

2.2.

Die EU bemüht sich seit ihrer Gründung und insbesondere seit der Schaffung des einheitlichen Markts darum, jegliche potenziellen Hindernisse für das Entstehen eines echten Binnenmarkts abzubauen.

2.3.

Ein echter Binnenmarkt setzt voraus, dass Bürger und Unternehmen auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene einfache und schnelle Möglichkeiten des Zugangs zu und der Interaktion mit den öffentlichen Diensten der Mitgliedstaaten haben.

2.4.

Ein offener Raum wie der europäische erfordert außerdem die Datenweitergabe und Zusammenarbeit zwischen Behörden auf allen Ebenen.

2.5.

Die Kommission hat seit den 1990er-Jahren Anstrengungen unternommen, um die Grundlagen für die Interoperabilität (1) oder — besser noch — für die Vernetzung zwischen den verschiedenen öffentlichen Diensten der Mitgliedstaaten (2) zu schaffen.

2.6.

Im Zuge des Übergangs des Binnenmarkts zu einer neuen, digitalen Funktionsweise ist dies noch notwendiger geworden (3).

2.7.

Die Digitalisierung ist eine echte Revolution, die sowohl die Gewohnheiten der Bürger als auch die Funktionsweise der Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen betrifft.

2.8.

In den letzten Jahren wurde auch eine Reihe öffentlicher Dienstleistungen in den Mitgliedstaaten, für die bisher eine persönliche Vorsprache notwendig war, digitalisiert. Dieser Umstand hat für die Bürger und die Unternehmen wie auch für die öffentlichen Dienste selbst enorme Vorteile gebracht und dabei umfangreiche Arbeitszeit- und Kosteneinsparungen ermöglicht.

2.9.

Die COVID-19-Krise hat diesen Trend beschleunigt, indem sie vor Augen geführt hat, dass die Interoperabilität zwischen den verschiedenen europäischen öffentlichen Diensten zu einem nützlichen Instrument für den freien Personenverkehr werden könnte, wie es etwa bei der Verwendung des COVID-Zertifikats der Fall war.

2.10.

Die EU erkennt an, dass die Digitalisierung des öffentlichen Sektors angesichts seines Anteils am BIP (4) ein Schlüsselfaktor für den europäischen Digitalisierungsprozess sein könnte, und zwar nicht nur wegen ihrer Hebelwirkung auf andere Sektoren, sondern auch als treibende Kraft des gesamten Prozesses im Kontext der europäischen Wirtschaft.

2.11.

Deshalb sehen die Aufbau- und Resilienzpläne öffentliche Investitionen in die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltungen in Höhe von insgesamt 47 Mrd. EUR vor.

2.12.

Bei der EU — namentlich der Kommission — und bei den nationalen Regierungen ist im Laufe der Zeit die Erkenntnis gereift, dass die Interoperabilität und Vernetzung der nationalen öffentlichen Dienste untereinander und mit denen der EU verstärkt werden müssen (5), damit Bürger und Unternehmen überall in der Union Zugang zu diesen Diensten haben.

2.13.

Auch wenn die Interoperabilität zwischen öffentlichen Diensten kein neues Thema ist (6), zielt die Mitteilung darauf ab, einen formelleren, stabileren und sichereren Rahmen für die Zusammenarbeit zu schaffen, der zu einer noch stärkeren Vernetzung der digitalen Systeme der verschiedenen nationalen öffentlichen Dienste untereinander und mit den eigenen Diensten der EU führt (7). Damit soll die Verwirklichung des genannten Ziels vorangetrieben werden, sodass bis 2030 eine Digitalisierungsrate der öffentlichen Dienste in der EU von 100 % erreicht wird, so wie in der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen „Digitaler Kompass bis 2030“ vorgeschlagen (COM(2021) 118).

2.14.

Deshalb sieht die Mitteilung die folgenden grundlegenden Säulen für die Umsetzung eines kohärenten Ansatzes in diesem Bereich vor, der folgende Aspekte umfasst:

Einrichtung einer Interoperabilitäts-Governance-Struktur bestehend aus zwei Gremien (Beirat für ein interoperables Europa und Gemeinschaft für ein interoperables Europa) mit dem Ziel, die Zusammenarbeit öffentlicher Verwaltungen sowohl auf allgemeiner Ebene (europäisch, national, regional und lokal) als auch auf sektorspezifischer Ebene (Justiz, Verkehr, Inneres, Gesundheit, Umwelt usw.) sowie die Zusammenarbeit privater Interessenträger zu ermöglichen und so gemeinsame Interoperabilitätslösungen (z. B. Rahmen, offene Spezifikationen, offene Normen, Anwendungen oder Leitlinien) zu vereinbaren;

Einführung einer verpflichtenden grenzüberschreitenden Interoperabilitätsbewertung für jede Änderung oder Neueinführung eines Informationssystems eines öffentlichen Diensts;

gemeinsame Schaffung eines Ökosystems aus Interoperabilitätslösungen für den öffentlichen Sektor in der EU (Einführung anerkannter aktiver Interoperabilitätsressourcen, die von Verwaltungen und bei der Politikgestaltung genutzt werden können, z. B. digitale Werkzeuge, Spezifikationen oder Lösungen) mit dem Ziel, dass öffentliche Verwaltungen auf allen Ebenen in der EU und andere Interessenträger zu solchen Lösungen beitragen und diese verbessern und weiterverwenden sowie gemeinsam Innovationen hervorbringen und Wert zum Nutzen der Öffentlichkeit schaffen können;

Bindung der Bereitstellung bestimmter EU-Finanzmittel für den Auf- und Ausbau nationaler Informationssysteme an die Nutzung von Lösungen und Grundsätzen, die von der EU vorab festgelegt wurden (8).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA ist ebenso wie die Kommission der Auffassung, dass die Interoperabilität zwischen öffentlichen Diensten eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung eines digitalen Binnenmarkts und für die Beseitigung der verbleibenden Hindernisse auf dem physischen Markt ist (9).

3.2.

Die Festlegung des Ziels, 100 % der öffentlichen Dienste in der gesamten EU bis 2030 digital anzubieten, erfordert die Beschleunigung und Modernisierung eines transeuropäischen Netzes, das diese Dienste verbindet und gemeinsame Elemente — u. a. auf technischer, semantischer, rechtlicher und organisatorischer Ebene — nutzt.

3.3.

Die Verwirklichung dieses Ziels darf jedoch nicht zu einer einzelstaatlichen Politik führen, die eine vollständige Digitalisierung öffentlicher Dienste zulasten der mit einer persönlichen Vorsprache verbundenen Behördendienste zur Folge hat. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die schutzbedürftigsten Bevölkerungsgruppen, denn diese Dienste müssen auch in Zukunft allen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung stehen. Schulungen zu digitalen Kompetenzen sollten allen, aber insbesondere diesen Bevölkerungsgruppen zur Verfügung stehen.

3.4.

Die Entwicklung und Erbringung digitaler Dienste werden zunächst nicht zu einem Personalabbau, sondern zu zusätzlichem Personalbedarf führen. Für einen erfolgreichen digitalen Wandel bedarf es einer angemessenen Personalausstattung.

3.5.

Die Digitalisierung sollte auf die Erbringungen besserer öffentlicher Dienstleistungen abzielen.

3.6.

Wie der EWSA in seiner früheren Stellungnahme ausgeführt hat, „[…] kann es nicht darum gehen, Menschen durch Computertechnik zu ersetzen, sondern um die Freisetzung menschlicher Arbeitszeit, die für Aufgaben mit höherer Wertschöpfung verwendet werden kann […]“ (10).

3.7.

Die Digitalisierung und der Einsatz künstlicher Intelligenz stellen keine Rechtfertigung für Massenentlassungen dar. Der Wegfall von Routineaufgaben durch die Digitalisierung soll dazu führen, dass Mitarbeiter mehr Zeit für anspruchsvolle und beratende Aufgaben haben.

3.8.

Darüber hinaus wird es im Jahr 2030 sicherlich noch einige Bürgerinnen und Bürgern geben, die keinen Zugang zur digitalen Welt haben und nur durch persönliches Erscheinen öffentliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen können (11). Die Digitalisierung sollte die Nutzung öffentlicher Dienste auf analogem Wege nicht erschweren oder unmöglich machen.

3.9.

Der EWSA begrüßt daher, dass diese Mitteilung auf eine Vertiefung und Verbesserung der Interoperabilität des öffentlichen Sektors abzielt, indem ein auf EU-Ebene festgelegter Rechtsrahmen geschaffen wird (12).

3.10.

Der EWSA erkennt an, dass diese Verstärkung der Interoperabilität für Bürger — insbesondere Grenzpendler — und Unternehmen wie auch für die öffentliche Verwaltung in den Mitgliedstaaten selbst enorme Vorteile bringen wird.

3.11.

Damit diese Vorteile tatsächlich zum Tragen kommen, reicht es jedoch, wie die Kommission einräumt, nicht aus, technische Normen zu erlassen, die die Vernetzung von Diensten ermöglichen. Es sind angemessene öffentliche Investitionen der Mitgliedstaaten auf allen Ebenen vonnöten.

3.12.

Es bedarf einer Koordinierung sowohl auf legislativer Ebene als auch auf der Ebene der Netze sektoraler Dienst. Denn einerseits sollte die Wirksamkeit der Interoperabilität nicht durch unnötige Bürokratie beeinträchtigt werden und andererseits sollte vermieden werden, dass Bürger oder Unternehmen nicht wiederholt dieselben Daten für verschiedene öffentliche Dienste bereitstellen müssen, was mit Überschneidungen bei den Verfahren und mit unnötigen Kosten verbunden wäre.

3.13.

Außerdem darf es auf nationaler Ebene keine Hindernisse bei digitalen öffentlichen Diensten geben, die eine grenzüberschreitende Nutzung unmöglich machen, und zwar hinsichtlich ihrer Konnektivität und Interoperabilität für Bürger und Unternehmen sowie für andere öffentliche Dienste in anderen Mitgliedstaaten (13).

3.14.

Der EWSA nimmt mit Genugtuung zur Kenntnis, dass die Digitalisierung öffentlicher Dienste während der Pandemie und der Ausgangsbeschränkungen deutlich fortgeschritten ist.

3.15.

Deshalb begrüßt der EWSA, dass mit dieser Mitteilung eine Kohärenz zwischen allen Interoperabilitätsstrategien sowohl bei einzelstaatlichen Maßnahmen als bei sektorspezifischen europäischen Maßnahmen angestrebt wird, was durch die Förderung der Verwendung gemeinsamer Modelle, die gemeinsame Nutzung technischer Spezifikationen und andere gemeinsam zugängliche Lösungen erreicht werden soll.

3.16.

Aus denselben Gründen unterstützt der EWSA den Grundsatz der Weiterverwendung und Weitergabe von Elementen und Daten durch die verschiedenen öffentlichen Dienste sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene.

3.17.

Im Hinblick auf die Interoperabilität öffentlicher Dienste ist der EWSA auch besorgt über die Verwendung der Sprachen. Die Sprachenregelung darf keine bürokratische Hürde darstellen; vielmehr muss sichergestellt werden, dass der Austausch von Daten und Informationen in einer Sprache erfolgt, die von allen verstanden wird.

3.18.

Der EWSA unterstützt die Schaffung und Institutionalisierung eines Governance-Modells für diese Politik, das aus zwei Hauptgremien besteht: dem Beirat für ein interoperables Europa, der von der Kommission geleitet wird und sich aus Vertretern aller Mitgliedstaaten, einem Vertreter des Ausschusses der Regionen und einem Vertreter des EWSA zusammensetzt, und der Gemeinschaft für ein interoperables Europa, die sich aus Vertretern der Zivilgesellschaft und des Privatsektors zusammensetzt (14) (15).

3.19.

Der EWSA hält es für wichtig, die Zivilgesellschaft, insbesondere die Sozialpartner, in die Festlegung von Maßnahmen zur Förderung der Interoperabilität einzubeziehen, und zwar nicht nur, weil Bürger und Unternehmen die letztlichen Zielgruppen dieser Politik sind, sondern auch weil die Zivilgesellschaft mit neuen technologischen Lösungen zu dieser Politik beitragen kann, die durch den öffentlichen Sektor nicht erreicht werden können.

3.20.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Beteiligung der Zivilgesellschaft auf verschiedenen Ebenen erfolgen sollte und dass die Kommission die Mitgliedstaaten dazu ermutigen und anregen sollte, diese Beteiligung auf verschiedenen Ebenen — national, regional und lokal — zu fördern.

3.21.

Der EWSA begrüßt die Einrichtung einer zentralen Anlaufstelle durch die Kommission mit dem Ziel, alle Kenntnisse und Lösungen im Bereich der Interoperabilität zu bündeln und zu zentralisieren, die sowohl von öffentlichen als auch von privaten Stellen bereitgestellt werden können.

3.22.

Der EWSA ist ebenso wie die Kommission der Auffassung, dass die öffentlichen Dienste in der EU ihre Abhängigkeit von digitaler Infrastruktur verringern sollten, die von Drittländern bereitgestellt wird, weil dies eine Gefahr für die digitale Souveränität Europas birgt.

3.23.

Deshalb verweist er auf den Standpunkt der Kommission, dass offene, vorzugsweise quelloffene Systeme verwendet werden sollten, die die Weitergabe von Lösungen zwischen den Entwicklern ermöglichen.

3.24.

In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA, dass in der Mitteilung die Entwicklung experimenteller Lösungen vorgesehen und gefördert wird, die Partnerschaften zwischen dem öffentlichen Sektor und innovativen Technologie- und Start-up-Unternehmen ermöglichen. Ziel sind innovative experimentelle Lösungen, die nach einer erfolgreichen Testphase in öffentlichen Diensten umgesetzt und von diesen geteilt werden könnten.

3.25.

Der EWSA hält es für wichtig, dass bei künftigen Finanzierungsprogrammen für Projekte zur Interoperabilität öffentlicher Dienste die Mittelgewährung davon abhängig gemacht wird, dass die Projekte mit den Grundsätzen und Strukturen des Europäischen Interoperabilitätsrahmens im Einklang stehen.

3.26.

So lässt sich erreichen, dass sich öffentliche Dienste freiwillig dazu verpflichten, die gemeinsame Normen im Interesse der Interoperabilität zu übernehmen.

3.27.

Der EWSA stellt mit Verwunderung fest, dass im Gegensatz zu früheren Mitteilungen (16) zu diesem Thema in dieser Mitteilung nicht erwähnt wird, welche Vorteile die Interoperabilität der europäischen öffentlichen Systeme für die Betrugsbekämpfung — verbunden mit Effizienz- und Einnahmensteigerungen für die Mitgliedstaaten — mit sich bringen kann.

3.28.

In diesem Zusammenhang betont der EWSA, dass die Interoperabilität der Systeme mit dem Einsatz künstlicher Intelligenz einhergehen muss, um die öffentlichen Dienste bei der Datenanalyse zu unterstützen und die Erstellung von Hinweisen und Warnmeldungen für verschiedene Behörden in den Mitgliedstaaten zu ermöglichen.

3.29.

Abschließend zwei Anmerkungen zum ökologischen Wandel und zum Datenschutz:

3.29.1.

Eines der Ziele der Mitteilung besteht darin, die Strategie für die Interoperabilität öffentlicher Systeme nicht nur in die Strategie für den digitalen Wandel, sondern auch in die Strategie für den ökologischen Wandel einzubetten.

3.29.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass einige IT-Lösungen zwar hocheffizient, aber auch sehr energieintensiv sein können.

3.29.3.

Dies gilt für die Blockchain-Technologie, die unter dem Aspekt der Sicherheit (z. B. von sensiblen Daten) sehr wirksam, jedoch mit einem hohen Energieverbrauch verbunden ist.

3.29.4.

Der EWSA begrüßt in dieser Hinsicht die Art und Weise, wie in der Mitteilung die Regelungen zu Reallaboren getroffen wurden.

3.29.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Datenschutz bei angemessener Sorgfalt kein Hindernis für die Schaffung neuer Interoperabilitätslösungen durch öffentliche Dienste oder Privatpersonen sein sollte.

3.29.6.

Andererseits ist der EWSA der Ansicht, dass der Zugang zu Daten sowohl für Bürger als auch für Unternehmen und andere öffentliche Dienste unterschiedlichen Genehmigungsebenen unterliegen sollte, um die Vertraulichkeit der Daten zu wahren und sicherzustellen, dass nur unbedingt notwendige Daten bereitgestellt werden.

3.29.7.

Auf diese Weise könnte vermieden werden, dass — wie in jüngster Zeit geschehen — Fragen aufgeworfen werden, die die Zugänglichkeit der im Zentralregister wirtschaftlicher Eigentümer enthaltenen Daten betreffen und die bereits Gegenstand einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union waren.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Interoperabilität wird wie folgt definiert: „Die Interoperabilität des öffentlichen Sektors ermöglicht es, dass Verwaltungen zusammenarbeiten und dass öffentliche Dienste grenzüberschreitend, sektorübergreifend und über organisatorische Schranken hinweg funktionieren.“ Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über eine gestärkte EU-Interoperabilitätspolitik im öffentlichen Sektor — Verknüpfung öffentlicher Dienste, Unterstützung der öffentlichen Politik und Schaffung öffentlichen Nutzens — Auf dem Weg zu einem „interoperablen Europa“

(2)  Mit der Entscheidung Nr. 1719/1999/EG des Europäischen Parlaments und des Rates brachte die Kommission eine Initiative für die Interoperabilität öffentlicher Dienste auf den Weg, die eine Reihe von Leitlinien umfasste, einschließlich der Festlegung von Projekten von gemeinsamem Interesse für transeuropäische Netze zum elektronischen zwischen Verwaltungen.

(3)  Die Schaffung eines digitalen Binnenmarkts machte es dringend erforderlich, nicht nur die Hindernisse zu beseitigen, die seiner Existenz im Wege stehen, sondern auch die Mechanismen einzurichten, die das Entstehen neuer Hindernisse unterbinden.

(4)  Laut Eurostat-Daten für das Jahr 2022 macht der öffentliche Sektor 53,1 % des europäischen BIP aus: Government finance statistics — Statistics Explained (europa.eu).

(5)  Siehe beispielsweise die Abschlusserklärungen der interministeriellen Treffen in Tallinn 2017, Berlin 2020 und Straßburg 2022.

(6)  2010 legte die Kommission die Mitteilung „Interoperabilisierung europäischer öffentlicher Dienste“ (COM(2010) 744 final) vor, die Gegenstand einer einschlägigen Stellungnahme des EWSA [TEN/448-449] war. Ihre Umsetzung erfolgte durch das Programm für Interoperabilitätslösungen für europäische öffentliche Verwaltungen (ISA) — Beschluss Nr. 922/2009/EG des Europäischen Parlaments und des Rates —, auf das 2015 das Programm ISA2 — Beschluss (EU) 2015/2240 des Europäischen Parlaments und des Rates — und das Programm „Digitales Europa“ — Verordnung (EU) 2021/694 des Europäischen Parlaments und des Rates — folgten.

(7)  Die Kommission stellt in ihrem Vorschlag fest, dass der freiwillige Ansatz bisher nicht ausgereicht hat, um die vorgeschlagenen Interoperabilitätsziele zu erreichen.

(8)  Siehe die Begründung in der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über eine gestärkte EU-Interoperabilitätspolitik im öffentlichen Sektor — Verknüpfung öffentlicher Dienste, Unterstützung der öffentlichen Politik und Schaffung öffentlichen Nutzens — Auf dem Weg zu einem „interoperablen Europa“.

(9)  Bereits in seiner Stellungnahme „Europäischer Interoperabilitätsrahmen — Umsetzungsstrategie“ (TEN/635) hat der EWSA auf die Bedeutung der Interoperabilität für die Vollendung des digitalen Binnenmarkts hingewiesen (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 176).

(10)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Europäischer eGovernment-Aktionsplan 2011-2015 — Einsatz der IKT zur Förderung intelligent, nachhaltig und innovativ handelnder Behörden“ und zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Interoperabilisierung europäischer öffentlicher Dienste“ (ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 92).

(11)  Dieser Sorge hat der EWSA bereits in mehreren Stellungnahmen Ausdruck verliehen, so etwa in der Stellungnahme: (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 176).

(12)  Der EWSA hat bereits in früheren Stellungnahmen alle EU-Projekte befürwortet, mit denen die Digitalisierungsziele in der Union erreicht werden sollen, so etwa in der Stellungnahme: (ABl. C 365 vom 23.9.2022, S. 13).

(13)  Die Frage der personenbezogenen Daten könnte zu einem Problem für die grenzüberschreitende Interoperabilität öffentlicher Dienste werden.

(14)  Der Beirat für ein interoperables Europa erfüllt Aufgaben in den Bereichen Konzeption von Maßnahmen, Unterstützung, Beratung und Überwachung der europäischen Interoperabilitätsmaßnahmen, während die Gemeinschaft für ein interoperables Europa Vertreter der Zivilgesellschaft umfasst, die den Beirat für ein interoperables Europa bei der Suche nach neuen Lösungen und der Erarbeitung entsprechender Vorschläge unterstützt.

(15)  Die von der Kommission gewählte Option steht im Einklang mit den Empfehlungen in früheren Stellungnahmen des EWSA, wie etwa in der Stellungnahme: (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 176).

(16)  Siehe den Anhang der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Europäischer Interoperabilitätsrahmen — Umsetzungsstrategie.


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/34


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts“

(COM(2022) 702 final — 2022/0408 (COD))

(2023/C 184/06)

Berichterstatterin:

Sandra PARTHIE

Ko-Berichterstatter:

Philip VON BROCKDORFF

Befassung

Europäisches Parlament, 26.1.2023

Rat der Europäischen Union, 30.1.2023

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

10.3.2023

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

207/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) betont, dass eine gut konzipierte Insolvenzregelung rentablen Unternehmen helfen sollte, ihre Geschäftstätigkeit aufrechtzuerhalten und eine vorzeitige Liquidation abzuwenden. Das Ziel sollte darin bestehen, ein Gleichgewicht zwischen vorzeitigen Insolvenzen und zu spät eingeleiteten Verfahren zu finden. Die Transparenz der Verfahren sowie der einfache Zugang zu Informationen über die Leistung eines Unternehmens sind dabei Schlüsselfaktoren. Außerdem sollte eine gut konzipierte Insolvenzregelung Kreditgeber von der Vergabe mit hohem Risiko behafteter Kredite sowie Führungskräfte und Anteilseigner von der Inanspruchnahme solcher Kredite und von anderen leichtfertigen Finanzentscheidungen abhalten (1).

1.2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass Reformen des Insolvenzrechts, die eine Umschuldung und interne Umstrukturierung fördern, dazu beitragen, Arbeitsplätze zu erhalten und zugleich die Zahl der Insolvenzen kleiner und mittlerer Unternehmen sowie der Liquidationen rentabler Unternehmen zu verringern. Allerdings würde er es begrüßen, wenn auch Vorschläge zur Lösung der noch offenen Frage der Insolvenz natürlicher Personen vorgelegt würden.

1.3.

Der EWSA hegt Zweifel, dass der Vorschlag, der als wichtiger Schritt zur Schließung relevanter Lücken bei der Verbesserung der Kapitalmarktunion der EU präsentiert wird, dieser Erwartung tatsächlich gerecht werden kann. Der Vorschlag liefert keine harmonisierte Definition der Insolvenzgründe und der Rangfolge der Forderungen — beides maßgebliche Faktoren bei den Bemühungen um mehr Effizienz und um Eindämmung der Fragmentierung der nationalen Insolvenzvorschriften.

1.4.

Der EWSA fordert daher die Kommission, das Europäische Parlament und den Rat nachdrücklich auf, die in Artikel 27 vorgeschlagene Bestimmung zu überprüfen, wonach Gegenparteien, z. B. Lieferanten eines Unternehmens, das sich in einem Insolvenzverfahren befindet, noch zu erfüllende Verträge unterzeichnen müssen, die dann ohne Zustimmung der Gegenpartei dem Käufer des Unternehmens abgetreten werden. Dies bindet sie nämlich künstlich an einen Vertragspartner, den sie nie gewählt oder geprüft haben, und schränkt ihre unternehmerische Freiheit ein. Die Einschränkung vertraglicher Kündigungsrechte bei Insolvenz verringert die Bereitschaft wichtiger Lieferanten, Kredit zu gewähren, insbesondere im Falle von KKMU in finanziellen Schwierigkeiten.

1.5.

Der EWSA begrüßt jedoch, dass ein besonderes Verfahren eingeführt wird, um die Abwicklung von Kleinstunternehmen zu erleichtern und zu beschleunigen, wodurch ein kostenwirksameres Insolvenzverfahren für diese Unternehmen ermöglicht wird. Diese Regelungen unterstützen auch die geordnete Abwicklung von „vermögenslosen“ Kleinstunternehmen und gehen das Problem an, dass einige Mitgliedstaaten den Zugang zu einem Insolvenzverfahren verweigern, wenn der prognostizierte Verwertungswert unter den Gerichtskosten liegt. Der EWSA betont, dass dies etwa 90 % der Insolvenzen in der EU betrifft, weshalb er dieses Verfahren für äußerst wichtig hält.

1.6.

Er befürwortet dieses besondere Verfahren durchaus, warnt jedoch, dass es die nationalen Justizsysteme überlasten könnte, wenn es Aufgabe der nationalen Gerichte ist, zu beurteilen, ob ein Kleinstunternehmen tatsächlich zahlungsunfähig ist, und die erforderlichen langwierigen Verfahren, einschließlich der Verwertung der Vermögenswerte und der Verteilung des Erlöses, durchzuführen. Daher empfiehlt der EWSA, auf andere kompetente Akteure wie Insolvenzverwalter zurückzugreifen, um die Belastung der Justiz zu verringern (2).

1.7.

Schließlich weist der EWSA darauf hin, dass ineffiziente Insolvenzverfahren zu einem höheren Niveau notleidender Kredite führen können, was die Finanzstabilität gefährdet und sich zudem auf die Kreditvergabe, die Inflation und das reale BIP auswirkt. Nach Ansicht des EWSA gehören Insolvenz- und Gläubiger-/Schuldnerrechteregelungen zu den ergänzenden Instrumenten im Arsenal der Maßnahmen, mit denen die Politik den Anstieg notleidender Kredite eindämmen kann, indem die Wahrscheinlichkeit ihrer Rückzahlung erhöht und das Niveau notleidender Kredite schneller korrigiert wird.

2.   Wesentlicher Inhalt des Vorschlags der Kommission

2.1.

Ziel des Vorschlags ist es, die Unterschiede zwischen den nationalen Insolvenzvorschriften zu verringern und somit das Problem potenziell ineffizienter Insolvenzvorschriften in einigen Mitgliedstaaten anzugehen, die Transparenz von Insolvenzverfahren im Allgemeinen zu erhöhen und Hindernisse für den freien Kapitalverkehr abzubauen. Mit diesem Vorschlag sollen insbesondere durch die Harmonisierung bestimmter Aspekte der Insolvenzvorschriften die mit der Informationsbeschaffung und dem Lernprozess verbundenen Kosten für grenzübergreifende Anleger gesenkt werden. Von einheitlicheren Insolvenzvorschriften erwartet man sich, dass die Unternehmen in der Union künftig aus einer größeren Palette von Finanzierungsmöglichkeiten wählen können.

2.2.

Mit dem Vorschlag sollen bestimmte Lücken in früheren EU-Rechtsvorschriften (Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates (3) und Verordnung (EU) 2015/848) des Europäischen Parlaments und des Rates (4) geschlossen werden, die insbesondere die Verwertung der Vermögenswerte bei Liquidierung der Insolvenzmasse, die Effizienz der Verfahren und die Berechenbarkeit und gerechte Verteilung des zurückerlangten Werts unter den Gläubigern betreffen. Die Regelung betrifft insbesondere Fragen im Zusammenhang mit Anfechtungsmaßnahmen, dem Aufspüren von Vermögenswerten, den Pflichten und der Haftung der Unternehmensleitung, dem Verkauf eines Unternehmens als fortgeführtes Unternehmen im Wege eines Pre-pack-Verfahrens, dem Insolvenzauslöser, einer besonderen Insolvenzregelung für Kleinst- und Kleinunternehmen, der Rangfolge der Forderungen sowie Gläubigerausschüssen.

2.3.

Es wurden erhebliche Unterschiede zwischen den Insolvenzvorschriften der Mitgliedstaaten in Bezug auf die zur Liquidation eines Unternehmens erforderliche Zeit und den Wert, der schließlich zurückerlangt werden kann, festgestellt. Im Ergebnis sind die Insolvenzverfahren in einigen Mitgliedstaaten langwierig und die durchschnittlichen Verwertungswerte im Falle einer Liquidation niedrig. Nach Auffassung der Europäischen Kommission bildet dies ein Hindernis für die Kapitalmarktunion und für grenzübergreifende Investitionen innerhalb der EU.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, der auf mehr Transparenz und eine bessere Verfügbarkeit von Informationen über grenzüberschreitende Insolvenzvorschriften und -verfahren abzielt. Nach Ansicht des EWSA ist dieser Vorschlag jedoch nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Annäherung der Insolvenzregelungen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Zudem würde er es begrüßen, wenn auch Vorschläge zur Lösung der noch offenen Frage der Insolvenz natürlicher Personen vorgelegt würden.

3.2.

Der EWSA betont, dass eine gut konzipierte Insolvenzregelung rentablen Unternehmen helfen sollte, ihre Geschäftstätigkeit aufrechtzuerhalten und eine vorzeitige Liquidation abzuwenden. Außerdem sollte die Regelung Kreditgeber von der Vergabe mit hohem Risiko behafteter Kredite und Führungskräfte und Anteilseigner von der Inanspruchnahme solcher Kredite und von anderen leichtfertigen Finanzentscheidungen abhalten (5). Ein Unternehmen, das durch einen vorübergehenden Konjunkturabschwung oder eine falsche Entscheidung in Schwierigkeiten gerät, kann noch rechtzeitig auf Kurs gebracht werden, wenn sich die wirtschaftliche Lage verbessert oder das Unternehmen Korrekturmaßnahmen ergreift. Wenn dies gelingt, profitieren alle Interessenträger. In einem solchen Fall können die Gläubiger einen größeren Teil ihrer Investitionen zurückerlangen, behalten mehr Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz und bleibt der Lieferanten- und Kundenstamm erhalten.

3.3.

In diesem Zusammenhang verweist der EWSA auf Studien, aus denen hervorgeht, dass wirksame Reformen der Gläubigerrechte mit geringeren Kreditkosten, einem verbesserten Kreditzugang, einer besseren Beitreibung für die Gläubiger und einem wirksameren Erhalt von Arbeitsplätzen einhergehen (6). Auch die Mitwirkungsrechte eines Gläubigerausschusses mit möglicher Beteiligung eines Arbeitnehmervertreters sollten gestärkt werden. Wenn Gläubiger nach Abschluss des Insolvenzverfahrens den Großteil ihrer Investitionen zurückerlangen, können sie die Mittel weiter in Unternehmen reinvestieren und deren Zugang zu Krediten verbessern. Ebenso können abgesicherte Gläubiger bei einem Insolvenzsystem, das den absoluten Vorrang der Forderungen wahrt, weiterhin Kredite vergeben, wobei das Vertrauen in das Insolvenzsystem erhalten bleibt (7).

3.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass Reformen des Insolvenzrechts, die eine Umschuldung und interne Umstrukturierung fördern, dazu beitragen, Arbeitsplätze zu erhalten und die Zahl der Insolvenzen kleiner und mittlerer Unternehmen sowie der Liquidationen rentabler Unternehmen zu verringern.

3.5.

Als Hindernisse für grenzüberschreitende Investitionen werden neben Steuervorschriften häufig die großen Unterschiede zwischen den nationalen Insolvenzvorschriften genannt. Nach Auffassung des EWSA würde ein höheres Maß an Konvergenz der Insolvenzvorschriften zu besser funktionierenden Kapitalmärkten beitragen und so Investitionen EU-weit erleichtern. Allerdings fehlt in dem Vorschlag die Harmonisierung zentraler Aspekte des Insolvenzrechts wie eine harmonisierte Definition der Insolvenzgründe und der Rangfolge der Forderungen — beides maßgebliche Faktoren bei den Bemühungen um mehr Effizienz und weniger Fragmentierung der nationalen Insolvenzvorschriften. Das sind keine guten Voraussetzungen für die ebenso dringliche wie ambitionierte Kapitalmarktunion.

3.6.

Der EWSA bekräftigt dennoch seine rückhaltlose Unterstützung für einen offeneren EU-weiten Kapitalmarkt, der Unternehmen einen breiteren Zugang zu Investitionskapital bietet, und nimmt die Feststellungen der Kommission und der Weltbank (8) zur Kenntnis, wonach höhere Erlösquoten im Zusammenhang mit wirksameren Insolvenz- und Gläubigerrechten (ICR) den Zugang europäischer Unternehmen zu Kreditmöglichkeiten erweitern.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA stellt fest, dass sich die Insolvenzverfahren von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat erheblich unterscheiden, wobei die nationalen Rechtsvorschriften entweder vom Konzept „Schuldner in Eigenverwaltung“ oder von den „Rechten des Gläubigers“ oder von den Faktoren Beschäftigung und Arbeitsrecht maßgeblich bestimmt sind. Dies führt zu unterschiedlichen Präferenzen in Bezug auf die Liquidation von Unternehmen, die Rangfolge der Gläubigerforderungen und die Rollen von Unternehmensleitung, Insolvenzverwaltern und Gerichten. Bei der Konzipierung der Maßnahmen müssen überdies die Unterschiede zwischen Anteilseignern und Gläubigern berücksichtigt werden. Erstere reagieren meist auf Instrumente zur Prävention und Straffung, während für Gläubiger vor allem die Verfügbarkeit von Restrukturierungsinstrumenten relevant ist. Nach Ansicht des EWSA bilden die Vorschläge der Kommission einen ersten Schritt hin zu einer EU-weiten Annäherung der Vorschriften, bleiben aber hinter einer wirksamen Harmonisierung zurück und lassen die noch offene Frage der Insolvenz natürlicher Personen unbeantwortet.

4.2.

Der EWSA unterstützt die Auffassung der Kommission, dass die nationalen Insolvenzvorschriften für ausländische Investoren von zentraler Bedeutung sind. Der EWSA weist jedoch darauf hin, dass nur 20 % aller Insolvenzen Fälle mit grenzüberschreitender Kreditgewährung sind und dass ein wirksames Rechtsschutzsystem lediglich einen Anstieg der ausländischen Direktinvestitionen (ADI) von 2 % auf 3 % des BIP bewirkt, wie Daten für die G20-Länder belegen. Darüber hinaus ist ein erheblicher Teil der ausländischen Direktinvestitionen auf Unternehmensfusionen und Übernahmen bestehender Kapitalgesellschaften und nicht auf Investitionen in neue Unternehmen zurückzuführen.

4.3.

Der EWSA warnt daher vor zu hohen Erwartungen in Bezug auf die Auswirkungen einer Annäherung der Insolvenzvorschriften auf die Investitionstätigkeit. Der EWSA erkennt jedoch an, dass sich die Schaffung eines wirksamen Rechtsrahmens für Gläubiger und mehr Transparenz für alle potenziellen Investoren in Bezug auf die Insolvenzvorschriften sowie gleiche Informationen über die Rechtslage positiv auf ausländische Investitionen auswirken könnten. Die Rechtssicherheit in Bezug auf die Gläubiger- und Schuldnerrechte und eine stärkere Harmonisierung der Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Entfernung von Sicherheiten könnten auch Risiken verringern und weitere Impulse für grenzüberschreitende Investitionen und den Binnenhandel geben.

4.4.

Darüber hinaus hält es der EWSA für sehr wichtig, dass Investoren über Informationen und Transparenz in Bezug auf folgende Fragen verfügen: Anfechtungsmaßnahmen, Aufspüren von Vermögenswerten, Pflichten und der Haftung der Unternehmensleitung, Verkauf eines Unternehmens als fortgeführtes Unternehmen im Wege eines Pre-pack-Verfahrens, Insolvenzauslöser, besonderen Insolvenzregelung für Kleinst- und Kleinunternehmen, Rangfolge der Forderungen sowie Gläubigerausschüsse.

4.5.

Der EWSA begrüßt zudem die Tatsache, dass mit dem Vorschlag ein besonderes Verfahren eingeführt wird, um die Abwicklung von Kleinstunternehmen zu erleichtern und zu beschleunigen, wodurch ein kostenwirksameres Insolvenzverfahren für diese Unternehmen ermöglicht wird. Diese Regelungen unterstützen auch die geordnete Abwicklung von „vermögenslosen“ Kleinstunternehmen und gehen das Problem an, dass einige Mitgliedstaaten den Zugang zu einem Insolvenzverfahren verweigern, wenn der prognostizierte Verwertungswert unter den Gerichtskosten liegt. Der EWSA betont, dass dies etwa 90 % der Insolvenzen in der EU betrifft, weshalb er dieses Verfahren für äußerst wichtig hält.

4.6.

Der EWSA befürwortet zwar dieses besondere Verfahren, warnt jedoch, dass es die nationalen Justizsysteme überlasten könnte, wenn es Aufgabe der nationalen Gerichte ist, gemäß Artikel 12 ff. zu beurteilen, ob ein Kleinstunternehmen tatsächlich zahlungsunfähig ist, und die erforderlichen langwierigen Verfahren durchzuführen. Nach Ansicht des Ausschusses würde dies dem Zweck der vorgeschlagenen Rechtsvorschriften teilweise zuwiderlaufen. Der EWSA hat in früheren Stellungnahmen (9) darauf hingewiesen, dass die systematische Anrufung der Gerichte nicht der beste Lösungsweg ist, und empfohlen, über die Schaffung neuer Gremien für diese Aufgabe nachzudenken. Die wirksame Einbeziehung unabhängiger Insolvenzverwalter hat sich insbesondere für schlecht organisierte Kleinstunternehmer in vereinfachten Liquidationsverfahren als vorteilhaft erwiesen, und der EWSA ist der Ansicht, dass die Hinzuziehung von Insolvenzverwaltern ernsthaft in Erwägung gezogen werden sollte (10).

4.7.

Zudem empfiehlt der EWSA, dass Insolvenzverwalter unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat sie bestellt wurden, bei berechtigtem Interesse rasch direkten Zugang zu den nationalen Vermögensregistern erhalten. Der EWSA weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass solche Register noch nicht in allen Mitgliedstaaten eingerichtet wurden, und fordert die zuständigen Behörden auf, dies rasch zu beheben.

4.8.

Im Interesse der Effizienz begrüßt der EWSA den Vorschlag für Pre-pack-Verfahren, bei denen der Verkauf des Unternehmens (oder eines Teils davon) des Schuldners vor der förmlichen Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorbereitet und ausgehandelt wird. So besteht die Möglichkeit, kurze Zeit nach Eröffnung des förmlichen Insolvenzverfahrens zur Liquidation eines Unternehmens den Verkauf durchzuführen und den Erlös zu erzielen. Der EWSA warnt jedoch davor, dass (wie in Artikel 27 vorgeschlagen) Gegenparteien, z. B. Lieferanten eines Unternehmens, das sich in einem Insolvenzverfahren befindet, noch zu erfüllende Verträge unterzeichnen müssen, die dann ohne ihre Zustimmung dem Käufer des Unternehmens abgetreten werden. Dies bindet sie nämlich künstlich an einen Vertragspartner, den sie nie gewählt oder geprüft haben, und schränkt ihre unternehmerische Freiheit ein. Das gilt erst recht für Arbeitnehmer, deren Berufsfreiheit nicht durch einen erzwungenen Arbeitgeberwechsel verletzt werden darf. Der EWSA fordert daher die Kommission, das Europäische Parlament und den Rat auf, diesen Vorschlag zu überprüfen. Außerdem sollte auch im Pre-Packverfahren die mögliche Mitwirkung und Kontrolle durch einen Gläubigerausschuss gestärkt werden.

4.9.

Der EWSA weist ferner darauf hin, dass in der Richtlinie weder die Frage der Annäherung der Bestimmungen über die Rangfolge der Forderungen angegangen noch eine Definition der Insolvenzgründe geliefert wird. Dies ist aber eine zentrale Voraussetzung für harmonisierte Insolvenzverfahren, die die Kommission zum Bedauern des EWSA nicht weiter vertieft hat.

4.10.

Ebenso werden Insolvenzauslöser in dem Vorschlag nicht ausreichend behandelt — trotz gegenteiliger Behauptungen in der Mitteilung über die Richtlinie. In dem Vorschlag heißt es, dass der Solvenztest und der Bilanztest die beiden üblichen Auslöser für die Eröffnung eines regulären Insolvenzverfahrens in den Mitgliedstaaten sind.

4.11.

Im Hinblick auf eine Vereinfachung der Insolvenzverfahren, die der EWSA grundsätzlich unterstützt, wird in der Richtlinie vorgeschlagen, dass die Unfähigkeit, Schulden bei Fälligkeit zu begleichen, das Kriterium für die Eröffnung eines vereinfachten Liquidationsverfahrens sein sollte. Anstatt aber Orientierungshilfen für die Festlegung der spezifischen Bedingungen zu geben, unter denen dieses Kriterium erfüllt ist, werden die Mitgliedstaaten in dem Vorschlag aufgefordert, diese spezifischen Bedingungen selbst festzulegen, womit hier von vornherein darauf verzichtet wird, EU-weit Kohärenz herzustellen.

4.12.

Der EWSA stellt ferner fest, dass Banken als wichtigste Finanzintermediäre für ein stabiles Finanzsystem von grundlegender Bedeutung sind. Notleidende Kredite schwächen ihre Rentabilität und können ihre Zahlungsfähigkeit gefährden. Insolvenz- und Gläubiger-/Schuldnerrechteregelungen gehören zu den ergänzenden Instrumenten im Arsenal der Maßnahmen, mit denen die Politik das Wachstum notleidender Kredite eindämmen und ihre Abwicklung bei Erreichen eines problematischen Niveaus unterstützen kann. Eine Analyse auf Unternehmensebene zeigt, dass Reformen der Insolvenzregelungen zum Abbau der Hindernisse für Unternehmensumstrukturierungen und zur Reduzierung der persönlichen Kosten bei einem unternehmerischen Scheitern den verlorenen Kapitalanteil bei Investitionen in sogenannte Zombie-Unternehmen verringern können. Diese Gewinne werden zum Teil durch Umstrukturierung schwacher Unternehmen erzielt, was wiederum die Umlenkung von Kapital in produktivere Unternehmen anregt.

4.13.

Abschließend empfiehlt der EWSA, dass die Kommission regelmäßig Statistiken über Insolvenzfälle im Rahmen der einschlägigen Insolvenzverordnung veröffentlicht, damit die Wirksamkeit des eingerichteten Systems von Zeit zu Zeit bewertet werden kann.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Weltbank, Resolving Insolvency, abgerufen am 3. Januar 2023.

(2)  Weltbank, Principles for effective Insolvency and Creditor/Debtor Regimes, überarbeitete Ausgabe 2021, Grundsätze C6.1 und C19.6.

(3)  Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) (ABl. L 172 vom 26.6.2019, S. 18).

(4)  Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (ABl. L 141 vom 5.6.2015, S. 19).

(5)  Weltbank, Resolving Insolvency, abgerufen am 3. Januar 2023.

(6)  Weltbank, Resolving Insolvency, abgerufen am 3. Januar 2023.

(7)  Weltbank, Resolving Insolvency, abgerufen am 3. Januar 2023.

(8)  Weltbankgruppe, How Insolvency and Creditor/Debtor Regimes Can Help Address Nonperforming Loans — EFI Note-Finance, Washington DC.

(9)  Siehe u. a. die Stellungnahme des EWSA „Unternehmensinsolvenzen“ (ABl. C 209 vom 30.6.2017, S. 21).

(10)  Weltbank, Principles for effective Insolvency and Creditor/Debtor Regimes, überarbeitete Ausgabe 2021, Grundsätze C6.1 und C19.6.


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/39


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2246/2002 der Kommission“

(COM(2022) 666 final — 2022/0391 (COD))

und „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den rechtlichen Schutz von Designs (Neufassung)“

(COM(2022) 667 final — 2022/0392 (COD))

(2023/C 184/07)

Berichterstatter:

Ferre WYCKMANS

Befassung

a)

Rat, 21.12.2022

b)

Europäisches Parlament, 12.12.2022

Rat, 21.12.2022

Rechtsgrundlage

a)

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

b)

Artikel 114 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

148/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Nach Auffassung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) kommt ein wirksames Designschutzsystem den Verbrauchern und der breiten Öffentlichkeit zugute, da es einen fairen Wettbewerb und faire Geschäftspraktiken fördert. Durch Anregung der Kreativität in der Industrie, bei Erzeugnissen, im Handel und im Export trägt es auch zur wirtschaftlichen Entwicklung bei.

1.2.

Geschmacksmuster müssen in den meisten Mitgliedstaaten bei einer nationalen Behörde für die gewerblichen Schutzrechte eingetragen werden, um gesetzlich geschützt zu sein. Je nach nationalem Recht und Art des Geschmacksmusters kann es sich dabei auch um urheberrechtlichen Schutz als nicht eingetragenes Geschmacksmuster oder als Kunstwerk handeln. In einigen Mitgliedstaaten kommt es zu einem kombinierten Schutz als Geschmacksmuster und durch das Urheberrecht, in anderen Mitgliedstaaten schließen sich die Schutzarten gegenseitig aus. Unter bestimmten Umständen kann ein Geschmacksmuster auch durch Gesetze gegen unlauteren Wettbewerb geschützt werden, aber die Voraussetzungen für den Schutz und der Umfang der bestehenden Rechte und Rechtsmittel können erheblich variieren.

1.3.

Der EWSA hält es für unabdingbar, den Rechtsrahmen für Geschmacksmuster an das digitale Zeitalter anzupassen, um die Erholung und die Resilienz der EU sowie Innovation und Wettbewerbsfähigkeit zu fördern. Er befürwortet die in dem Richtlinienvorschlag enthaltene neue Definition des Geschmacksmusters. Diese wird vor dem Hintergrund des technologischen Fortschritts immer wichtiger, zumal sie den Begriff „Erzeugnis“ auf technologische Geschmacksmuster ausdehnt, die nicht in physischen Erzeugnissen enthalten sind.

1.4.

Der EWSA befürwortet auch die Beschränkung des Schutzes auf die Erscheinungsmerkmale, wie sie in der Anmeldung zur Eintragung sichtbar dargestellt sind, da dies die Rechtssicherheit des Schutzes erhöht.

1.5.

Der EWSA begrüßt, dass in dem Verordnungsvorschlag die Lösung aufgegriffen wird, die der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 20. Dezember 2017 in der Rechtssache „Acacia“ (1) dargelegt hat, in der er die Auslegung des Begriffs „Reparaturklausel“ präzisierte, zumal diese Lösung den Verbraucherschutz verbessert.

1.6.

Der EWSA ist jedoch nicht der Ansicht, dass die Zusammenlegung der Bekanntmachungs- und der Eintragungsgebühr zu einer Verringerung des Gesamtbetrags der zu entrichtenden Gebühren führen wird, da die Kosten für Verlängerungen, wie vorgeschlagen, drastisch steigen werden. Diese Maßnahme ist daher für KMU und einzelne Entwerfer nicht so vorteilhaft wie behauptet. Der EWSA spricht sich dafür aus, für KMU und einzelne Entwerfer niedrigere Beträge vorzusehen, ggf. im Verhältnis zu ihrem Umsatz.

1.7.

Nach Auffassung des EWSA ist die Vereinfachung durch die Streichung der Anforderung der Zugehörigkeit zu einer einheitlichen Klasse notwendig, aber unzureichend, denn die Systeme für die Anmeldung von Geschmacksmustern über die Websites der nationalen Ämter für den gewerblichen Rechtsschutz und das Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO, im Folgenden „das Amt“) müssen noch verbessert werden. Um diese Herausforderung zu bewältigen, könnten sich die Ämter an Patentanwälten wenden und den KMU und einzelnen Entwerfern dadurch zu erleichtern, ihre Geschmacksmuster zu schützen.

1.8.

Der EWSA hält es für nicht angebracht, sich auf Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zu berufen, um Vorschriften für Rechtsstreitigkeiten und Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen des Amtes auszuarbeiten. Denn ein delegierter Rechtsakt zielt nur darauf ab, den Basisrechtsakt zu ergänzen und darf sich nur auf nicht wesentliche Vorschriften beziehen. Die Bestimmungen, die mit dem Vorschlag für eine Verordnung im Wege eines delegierten Rechtsakts erlassen werden sollen, betreffen die in Titel VI der Charta der Grundrechte über die Justiz vorgesehenen Rechte, insbesondere Artikel 47 über das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht. Sie können daher nicht als unwesentliche Elemente gelten.

1.9.

Der EWSA empfiehlt, solche Bestimmungen in der Verordnung selbst festzulegen.

2.   Hintergrund

2.1.

Materiellrechtlich wurden mit der Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (2) (im Folgenden „die Richtlinie“) die nationalen Rechtsvorschriften über den rechtlichen Schutz von Geschmacksmustern teilweise angeglichen und mit der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates (3) (im Folgenden „die Verordnung“) ein eigenständiges System zum Schutz einheitlicher Rechte in der gesamten EU in Form der eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster und der nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster eingeführt. Letztgenannte müssen den Schutzbedingungen entsprechen, d. h., sie müssen neu sein und Eigenart haben. Ohne Eintragung könnte der Inhaber ein bestehendes Geschmacksmusterrecht möglicherweise nur schwer nachweisen. Darüber hinaus ist dann die Schutzdauer auf drei Jahre begrenzt und der Umfang der gewährten Rechte ist geringer.

2.2.

Die Verordnung wurde 2006 geändert, um den Beitritt der EU zum internationalen Eintragungssystem nach dem Haager Abkommen in Kraft zu setzen. Damit sollte ein einheitliches, einfaches, kostengünstiges und zentralisiertes Verfahren für die Eintragung von Geschmacksmustern bei der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) eingeführt werden.

2.3.

Die Verordnung befreit Ersatzteile vom Schutz durch das Gemeinschaftsgeschmacksmuster, da in dieser Frage bei der Ausarbeitung der Richtlinie keine Einigung erzielt werden konnte. Aufgrund mangelnder Unterstützung im Rat hatte die Kommission ihren Vorschlag zur Überarbeitung der Richtlinie 2014 zurückgezogen.

2.4.

Der vorliegende Vorschlag geht zurück auf diesen Fehlschlag sowie auf die Mitteilung der Kommission vom 25. November 2020„Das Innovationspotenzial der Europäischen Union optimal nutzen — Aktionsplan für geistiges Eigentum zur Förderung der Erholung und Resilienz der EU“ im Rahmen des Pakets zur Reform des Markenrechts. Ziel ist es, besser für das digitale Zeitalter gerüstet zu sein, eine bessere Zugänglichkeit und Effizienz für einzelne Entwerfer, KMU und die Industrie zu gewährleisten, die Kosten und Komplexität zu verringern und die Rechtssicherheit des Schutzsystems zu erhöhen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Ein gewerbliches Geschmacksmuster basiert auf den dekorativen Aspekten eines Gegenstands. Es kann drei- oder zweidimensional sein. Ein erfolgreiches Geschmacksmuster zeichnet sich durch eine harmonische Verbindung von Funktion und Form aus. Ganz gleich ob Tisch oder Telefon, das Geschmacksmuster macht den Gegenstand attraktiv oder führt zu seiner Bevorzugung gegenüber anderen.

3.2.

Ein gewerbliches Geschmacksmuster gilt für verschiedene Erzeugnisse der Industrie und des Handwerks wie technische oder medizinische Instrumente, Uhren, Schmuck, Luxusartikel, Haushaltsgegenstände, Elektrogeräte, Fahrzeuge, architektonische Strukturen, Textilwaren, Freizeitartikel usw.

3.3.

Das gewerbliche Geschmacksmuster erhöht die Attraktivität und den Marktwert eines Erzeugnisses. Der Schutz eines Geschmacksmusters trägt somit zur Gewährleistung einer Rendite bei.

3.3.1.

Nach Auffassung des EWSA kommt ein wirksames Schutzsystem den Verbrauchern und der breiten Öffentlichkeit zugute, da es einen fairen Wettbewerb und faire Geschäftspraktiken fördert.

3.3.2.

Es fördert auch die wirtschaftliche Entwicklung, da die Kreativität in der Industrie und in der industriellen Produktion sowie die Entwicklung des Handels und die Ausfuhren stimuliert werden.

3.4.

Geschmacksmuster müssen in den meisten Mitgliedstaaten bei einer nationalen Behörde für die gewerblichen Schutzrechte eingetragen werden, um gesetzlich geschützt zu sein. Je nach nationalem Recht und Art des Geschmacksmusters kann es sich dabei auch um urheberrechtlichen Schutz als nicht eingetragenes Geschmacksmuster oder als Kunstwerk handeln.

3.5.

In einigen Mitgliedstaaten kommt es zu einem kombinierten Schutz als Geschmacksmuster und durch das Urheberrecht. In anderen Mitgliedstaaten schließen sich die Schutzarten gegenseitig aus. Ein Geschmacksmuster kann auch durch Gesetze gegen unlauteren Wettbewerb geschützt werden, aber die Voraussetzungen für den Schutz und der Umfang der bestehenden Rechte und Rechtsmittel können unterschiedlich ausfallen.

3.6.

Der EWSA hält es angesichts der Ziele der Union, die Erholung und Resilienz sowie Innovation und Wettbewerbsfähigkeit zu fördern, für unabdingbar, den Rechtsrahmen für Geschmacksmuster an das digitale Zeitalter anzupassen. Er befürwortet die vorgeschlagene neue Begriffsbestimmung, da sie dem technologischen Fortschritt Rechnung trägt, zumal der Begriff „Erzeugnis“ auf technologische Entwürfe ausgedehnt wird, die nicht in physischen Erzeugnissen enthalten sind.

3.7.

Der EWSA begrüßt auch die Stärkung der Rechtssicherheit im Zusammenhang mit der Beschränkung des Schutzes auf die Erscheinungsmerkmale, wie sie in der Anmeldung sichtbar dargestellt sind.

3.8.

Der EWSA befürwortet ferner die Anpassung des Umfangs der Rechte aus der Eintragung eines Geschmacksmusters, um die Probleme im Zusammenhang mit dem Einsatz von 3D-Drucktechnologien zu bewältigen. Er befürwortet, dass es nach Maßgabe des Markenrechts Inhabern von Geschmacksmustern ermöglicht wird, die Durchfuhr gefälschter Erzeugnisse durch das Hoheitsgebiet der Union oder deren Verbringung in eine andere zollrechtliche Situation, ohne dort in den freien Verkehr zu gelangen, zu verhindern.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.    Reparaturklausel und Verbraucherschutz

4.1.1.

Der Schutz von Ersatzteilen („Bauelemente eines komplexen Erzeugnisses“) durch das Geschmacksmusterrecht war Gegenstand langer Kontroversen. Er wurde mit der Verordnung eingeführt und ist mit einer Ausnahme, der sog. „Reparaturklausel“ verbunden, um das Monopol der Hersteller oder Zulieferer (insbesondere in der Automobilindustrie) auf dem Ersatzteilmarkt zu beschränken (Artikel 110). Diese „Reparaturklausel“ sieht vor, dass der Inhaber eines Geschmacksmusters weder ein Monopol für ein Ersatzteil haben darf noch einen Dritten daran hindern kann, Ersatzteile für die Reparatur eines Erzeugnisses in Verkehr zu bringen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen.

4.1.2.

Denn der Hersteller eines komplexen Endprodukts (Pkw, Uhr, Mobiltelefon usw.) kontrolliert häufig die gesamte Produktionskette. Er kann daher einen doppelten Vorteil erzielen, und zwar zunächst auf dem Markt für den Verkauf des Endprodukts, aber auch auf dem Markt für den Verkauf von Ersatzteilen.

4.1.3.

Der Verhaltensökonomie zufolge treffen die meisten Verbraucher ihre Wahl auf der Grundlage des Verkaufspreises des Primärprodukts, ohne sich um den Preis der sekundären Wartungsdienste zu kümmern. Ihnen werden folglich durch ihre Erstinvestition die Hände gebunden und sie sind gezwungen, einen Preis zu zahlen, den sie unter anderen Umständen nicht unbedingt akzeptiert hätten.

4.1.4.

Nach Auffassung des EWSA kann dies daher zu wettbewerbsrechtlichen Problemen führen. Der ursprüngliche Hersteller/Montagebetrieb, der Inhaber eines Geschmacksmusterrechts ist, verfügt nämlich über einen erheblichen — letztlich für den Verbraucher potenziell schädlichen — Wettbewerbsvorteil

gegenüber seinen Kunden, indem er hohe Preise verlangen oder Kopplungsgeschäfte tätigen kann;

gegenüber den Werkstätten, um den Markt zu beherrschen oder den Werkstätten, die er zu beliefern bereit ist, seine Bedingungen aufzuerlegen;

gegenüber seinen Lieferanten, da er es ihnen verbieten könnte, unabhängige Werkstätten zu beliefern, oder es unabhängigen Lieferanten untersagen könnte, seine Teile nachzubauen, um den Reparaturmarkt zu beliefern.

4.1.5.

Um die Entstehung von Monopolen auf den Sekundärmärkten zu vermeiden, hat der europäische Gesetzgeber beschlossen, die Rechte an Ersatzteilen zu beschränken.

Die erste Einschränkung wird manchmal als die „Must-match“-Ausnahme (Artikel 8 Absatz 2) bezeichnet. Das äußere Erscheinungsbild eines Erzeugnisses, das für die Verbindung mit einem anderen Produkt erforderlich ist, kann nicht geschützt werden.

Die zweite Einschränkung betrifft den Schutz von Bauteilen, die nicht sichtbar sind.

4.1.6.

Ein Bauelement, das bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung nicht sichtbar ist, kann nicht durch Hinterlegung eines Geschmacksmusters geschützt werden (Artikel 4 Absatz 2).

Dabei handelt es sich beispielsweise um

den Mechanismus im Inneren einer Uhr;

das Innere der meisten Motoren von Elektrohaushaltsgeräten;

den Motor eines Fahrzeugs (der bei normaler Nutzung des Fahrzeugs nicht sichtbar ist, wenngleich er durch Öffnen der Motorhaube leicht sichtbar wird).

4.1.7.

Bei den Ersatzteilen, die geschützt werden können, handelt es sich somit um Bauteile, die keinen Verbindungsmechanismus aufweisen und die sichtbar sind. Nach Maßgabe der Verordnung kann daher eine große Anzahl von Bauteilen geschützt werden. Bei einem Fahrzeug sind dies beispielsweise

die Scheinwerfer;

die Kotflügel;

die Motorhaube und die Türen (aber nicht die Scharniere);

das Lenkrad.

4.1.8.

Ein Erzeugnis, das nicht durch die Hinterlegung eines Geschmacksmusters geschützt ist, kann daher von jedem konkurrierenden Ersatzteilhersteller nachgebaut und auf den Reparaturmarkt gebracht werden.

4.1.9.

Bei der Anwendung dieser Vorschriften haben sich jedoch Fragen ergeben. Der EWSA begrüßt daher, dass der Verordnungsvorschlag die Lösung berücksichtigt, die der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 20. Dezember 2017 in der Rechtssache Acacia dargelegt hat. Darin wird die Auslegung des Begriffs „Reparaturklausel“ präzisiert.

4.1.10.

Der EWSA weist darauf hin, dass das Berufungsgericht Paris diese Lösung in seinem Urteil vom 11. September 2018 in der Rechtssache Nr. 2017/01589 konkret angewendet hat. Dabei ging es um Felgen, die auf einer Online-Verkaufswebsite vertrieben wurden. Der Verkäufer konnte sich nicht mit Erfolg auf die „Reparaturklausel“ berufen, da die zum Verkauf angebotenen Felgen „zur ästhetischen Individualisierung der Fahrzeuge“ und zu „Tuningzwecken“ angeboten wurden. Die streitigen Felgen wurden daher als Fälschungen angesehen und der Verkäufer wegen Verletzung von Geschmacksmustern verurteilt.

4.1.11.

Einige Mitgliedstaaten haben den Ersatzteilmarkt liberalisiert. Mit dem französischen Gesetz „Climat et Résilience“ Nr. 2021-1104 vom 22. August 2021 wird der Markt für den Verkauf bestimmter Kfz-Ersatzteile ab dem 1. Januar 2023 geöffnet.

4.1.12.

Mit diesem Gesetz sollen die Preise auf diesem Markt gesenkt werden. Sie stiegen zwischen 2019 und 2020 um durchschnittlich 8 %, insbesondere aufgrund der zunehmenden technischen Komplexität der einzelnen Bauteile, z. B. der Motoren elektrisch verstellbarer Außenspiegel, der in die Windschutzscheiben eingebauten Sensoren usw. Die in diesem Sektor liberalsten Staaten verfügen über keine hochentwickelte Industrie, mit der nennenswerten Ausnahme Deutschlands, das über mächtige Automobilhersteller verfügt, dessen Markt aber bereits offener ist.

In Frankreich können Hersteller von Ausrüstungen, ganz gleich ob sie Erstausrüster, d. h. an der Montage des neuen Fahrzeugs beteiligt, oder unabhängige Hersteller sind, ab dem 1. Januar 2023 Glasteile vermarkten. Die Erstausrüster anderer sichtbarer Ersatzteile (optische Komponenten, Rückspiegel usw.) können diese genauso wie Hersteller vermarkten.

4.2.    Kosten des Geschmacksmusterschutzes

4.2.1.

Das EUIPO verfügt über ein System zur Online-Anmeldung eines Geschmacksmusters, wobei derzeit Gebühren ab 350 EUR anfallen. Der EWSA erinnert daran, dass ein eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster zunächst fünf Jahre ab dem Anmeldetag gilt. Es kann einmal oder mehrmals um jeweils fünf Jahre bis zu einer Gesamtlaufzeit von 25 Jahren verlängert werden.

4.2.2.

Zu den Anmeldekosten kommen drei Arten von Gebühren hinzu:

die Eintragungsgebühr von 230 EUR zuzüglich einer zusätzlichen Eintragungsgebühr von 115 EUR für zwei bis zehn weitere Eintragungen und 50 EUR ab der elften Eintragung;

die Gebühr für die Bekanntmachung von 120 EUR, zuzüglich 60 EUR für zwei bis zehn weitere Veröffentlichungen und 30 EUR ab der elften Veröffentlichung;

die Gebühr für die Aufschiebung der Bekanntmachung von 40 EUR, zuzüglich 20 EUR für zwei bis zehn weitere Aufschiebungen und 10 EUR ab der elften Aufschiebung.

4.2.3.

Die fälligen Gebühren hängen von zwei Faktoren ab:

von der Zahl der angemeldeten Geschmacksmuster;

davon, ob die Bekanntmachung des Geschmacksmusters aufgeschoben wird oder nicht.

4.2.4.

Die Gebühren haben folgende Struktur:

eine Grundgebühr für ein einzelnes Geschmacksmuster oder für das erste Geschmacksmuster einer Sammelanmeldung;

eine ermäßigte Gebühr je Geschmacksmuster für das zweite bis zehnte Geschmacksmuster;

eine noch weiter ermäßigte Gebühr ab dem elften Geschmacksmuster.

4.2.5.

Im Verordnungsvorschlag ist vorgesehen, die Kosten für die erste Verlängerung (nach fünf Jahren) auf 70 EUR zu senken und die zweite Verlängerung (nach zehn Jahren) auf 140 EUR, die dritte Verlängerung (nach 15 Jahren) auf 280 EUR und die vierte Verlängerung (nach 20 Jahren) auf 560 EUR zu erhöhen. Die Gesamtgebühren für die beiden ersten Verlängerungen entsprechen zwar mit insgesamt 210 EUR den derzeitigen Aufwendungen. Die Gebühren für die folgenden Verlängerungen steigen indes drastisch.

4.2.6.

Dieser Vorschlag scheint für KMU und einzelne Entwerfer nicht so vorteilhaft zu sein wie behauptet. Der EWSA plädiert daher für niedrigere Gebühren für KMU und einzelne Entwerfer, ggf. im Verhältnis zu ihrem Umsatz.

4.2.7.

Zudem ist der EWSA nicht der Ansicht, dass eine Änderung der Gebührenstruktur, bei der die Bekanntmachungs- und Eintragungsgebühren zusammengelegt werden, die Gesamtkosten der Gebühren senken wird.

4.3.    Streichung der Anforderung der Zugehörigkeit zu einer einheitlichen Klasse

4.3.1.

Selbst wenn sich eine Anmeldung auf mehrere Geschmacksmuster beziehen kann, müssen diese aufgrund der Anforderung der Zugehörigkeit zu einer einheitlichen Klasse notwendigerweise in Erzeugnisse derselben Klasse eingebaut oder für sie angewendet werden. Diese Klassen werden in der sogenannten „Locarno-Klassifikation“ gelistet.

4.3.2.

Laut Artikel 2 Absatz 1 des Abkommens von Locarno hat die Klassifikation „nur verwaltungsmäßige Bedeutung“ und umfasst:

eine Einteilung der Klassen und Unterklassen;

eine alphabetische Liste der Waren, die Gegenstand von gewerblichen Geschmacksmustern sein können, mit Angabe der Klassen und Unterklassen, in die sie eingeordnet sind;

erläuternde Anmerkungen.

4.3.3.

Die in diesem Verordnungsvorschlag vorgesehene Streichung der Anforderung der Zugehörigkeit zu einer einheitlichen Klasse würde es den Unternehmen ermöglichen, mehrere Geschmacksmuster in einer einzigen Sammelanmeldungen zusammenzufassen, ohne auf Erzeugnisse derselben Klasse nach der Locarno-Klassifikation beschränkt zu sein. Dies zielt darauf ab, KMU und einzelne Entwerfer zum Schutz ihrer Geschmacksmuster zu bewegen.

4.3.4.

Nach Ansicht des EWSA reicht die Vereinfachung durch die Streichung der Anforderung der Zugehörigkeit zu einer einheitlichen Klasse nicht aus. Denn die Systeme für die Anmeldung von Geschmacksmustern über die Websites der nationalen Ämter für den gewerblichen Rechtsschutz und des EUIPO müssen noch verbessert werden.

4.3.5.

Die Ämter könnten das Fachwissen der Patentanwälte nutzen, um diese Herausforderung zu bewältigen und es KMU und einzelnen Entwerfern zu erleichtern, ihre Geschmacksmuster zu schützen.

4.3.6.

Die Patentanwälte werden selbstverständlich die Rechtsinhaber weiterhin bei der Verwertung ihrer Geschmacksmuster begleiten und sie in Rechtsstreitigkeiten vertreten.

4.4.    Befugnisübertragung und Erlass delegierter Rechtsakte

4.4.1.

Der Verordnungsvorschlag sieht vor, dass die Bestimmungen über Rechtsstreitigkeiten in Bezug auf das Geschmacksmusterrecht in delegierten Rechtsakten festgelegt werden.

Dabei handelt es sich um

die Rücknahme und Änderung eines Geschmacksmusters (Artikel 47a und 47b);

Nichtigkeitsklagen (Artikel 53a);

Beschwerdeverfahren gegen Entscheidungen des Amts (Artikel 55a);

die mündliche Verhandlung vor den Beschwerdekammern des Amtes (Artikel 64a);

die Beweisaufnahme (Artikel 65a);

die Zustellung von Entscheidungen und Ladungen (Artikel 66a);

das Verfahren für Mitteilungen an das Amt (Artikel 66d);

die Berechnung der Fristen und deren Dauer (Artikel 66f);

die Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Amt (Artikel 67c);

die Vertretung vor dem Amt in Streitfällen (Artikel 78a);

die Zahlung der Gebühren und Entgelte (Artikel 106aa).

4.4.2.

Nach Auffassung des EWSA ist es nicht angebracht, auf Artikel 290 AEUV für die Ausarbeitung von Rechtsvorschriften über Rechtsstreitigkeiten und Klagen gegen Entscheidungen des Amtes zurückzugreifen. Denn ein delegierter Rechtsakt kann einen Basisrechtsakt nur ergänzen und darf sich nur auf Vorschriften beziehen, die nicht wesentlich sind. Die genannten Bestimmungen betreffen jedoch die in Titel VI der Charta der Grundrechte verankerten justiziellen Rechte, insbesondere das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht gemäß Artikel 47. Daher ist es ausgeschlossen, sie als nicht wesentliche Bestimmungen des Basisrechtsakts anzusehen.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Verbundene Rechtssachen C-397/16 und C-435/16.

(2)  Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen (ABl. L 289 vom 28.10.1998, S. 28).

(3)  Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. L 3 vom 5.1.2002, S. 1).


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/45


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Strategische Vorausschau 2022 — Verzahnung des grünen und des digitalen Wandels im neuen geopolitischen Kontext

(COM(2022) 289 final)

(2023/C 184/08)

Berichterstatter:

Angelo PAGLIARA

Befassung

Europäische Kommission, 27.10.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

10.3.2023

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

204/0/3

Einleitung

Die Strategische Vorausschau der Europäischen Kommission und die vorliegende Stellungnahme sind zu einer Zeit entstanden, die von sozialen, geopolitischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der anhaltenden militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine geprägt ist. Die strategischen Entscheidungen der Europäischen Union in diesen Monaten werden nicht nur für die Verwirklichung der Ziele des grünen und des digitalen Wandels, sondern auch für die Resilienz und die strategische Autonomie der Union von entscheidender Bedeutung sein.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist sich der Schlüsselrolle der organisierten Zivilgesellschaft bei der Ermittlung und Einordnung von Megatrends bewusst und betont, dass sie bereits zu einem frühen Zeitpunkt in die Ausarbeitung der strategischen Vorausschau der EU einbezogen werden muss. Die vorliegende Stellungnahme enthält auch seinen Beitrag zur Strategischen Vorausschau 2023, in der die strategischen Leitlinien zur Stärkung der EU auf der internationalen Bühne im Mittelpunkt stehen.

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Agenda für die strategische Vorausschau weiterzuentwickeln und ihn von Anfang an stärker in diesen Prozess einzubeziehen. Eine stärkere Einbindung des EWSA als Sprachrohr der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft würde die Analyse- und Vorausschaukapazitäten der EU verbessern und dazu beitragen, Trends und mögliche Lösungen zu ermitteln.

1.2

Der EWSA hofft, dass die Agenda für die strategische Vorausschau sowie die Maßnahmen der Europäischen Kommission auf die Schaffung eines neuen Entwicklungsmodells abstellen, das auf wirtschaftliche, ökologische und soziale Nachhaltigkeit ausgerichtet ist.

1.3

Die Verwirklichung des grünen und des digitalen Wandels hängt auch von der Bereitschaft und dem Verhalten der Menschen ab. Deshalb empfiehlt der EWSA der Kommission, auch die Vorbehalte der Gesellschaft und die mögliche Zurückhaltung der Menschen gegenüber den vorgeschlagenen Änderungen zu berücksichtigen.

1.4

In ihrer Mitteilung beschreibt die Kommission, wie die Zukunft aussehen soll und welche Ressourcen dafür erforderlich sind. Auf die Risiken und Bedrohungen wird dabei allerdings nicht in ausreichendem Maße eingegangen. Der EWSA fordert die Kommission auf, auch die Risiken klarer zu beschreiben und die Möglichkeiten und Szenarien für den Fall zu analysieren, dass die angestrebten Ziele nicht erreicht werden. Das gilt insbesondere für die Verfügbarkeit von Rohstoffen, Seltenerdmetallen und Wasserressourcen sowie mögliche damit zusammenhängende Probleme.

1.5

Die anhaltenden geopolitischen Spannungen werden Folgen für die Versorgungssysteme und die Resilienz des europäischen Agrar- und Lebensmittelsektors haben. Die jüngsten Ereignisse im Zusammenhang mit COVID-19 und der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine haben das Verteilungssystem in der EU gestört, und dies könnte auch in Kürze erneut der Fall sein. Der EWSA begrüßt die Empfehlung, die Abhängigkeit von der Einfuhr von Futtermitteln, Düngemitteln und anderen Betriebsmitteln zu verringern, und schlägt eine Definition der offenen strategischen Autonomie für Lebensmittelsysteme vor, die auf den Aspekten Lebensmittelerzeugung, Arbeitskräfte und Handel beruht. Das übergeordnete Ziel ist eine sichere, nachhaltige Ernährung der EU-Bevölkerung im Rahmen einer gesunden, nachhaltigen, widerstandsfähigen und fairen Lebensmittelversorgung.

1.6

Die grundlegende Bedeutung eines starken, kohärenten und innovativen europäischen Industriesystems, das hochwertige Arbeitsplätze schaffen kann, bleibt in der strategischen Vorausschau unberücksichtigt. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, konkrete Prognosen für die Zukunft der europäischen Industriepolitik zu erstellen, und empfiehlt, geeignete wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Förderung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität sowie zur Steigerung der öffentlichen und privaten Investitionen in diesem Bereich zu ergreifen.

1.7

Die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine, die Energiekrise und die neuen wirtschaftlichen und geopolitischen Gegebenheiten werden sich auf das Voranbringen des grünen und des digitalen Wandels auswirken. Der EWSA begrüßt die Entschlossenheit der EU, ihre Ziele zu erreichen. Gleichzeitig fordert er die Kommission und den Rat auf, spezielle Instrumente zum Ausbau der strategischen Energieautonomie, zur Stärkung des europäischen Industriesystems sowie zur Unterstützung von Unternehmen und Beschäftigten zu entwickeln, so wie sie es während der Pandemie durch die Annahme eines Instruments nach dem Vorbild des SURE-Programms getan hat.

1.8

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission in ihrer Vorausschau stärker auf die soziale Dimension eingeht. Er fordert sie wie bereits in seiner Stellungnahme aus dem Jahre 2021 auf, im Rahmen der strategischen Analyse spezifische Instrumente für die Vorausschau zu entwickeln, um die Auswirkungen der Veränderungen auf die Systeme der sozialen Sicherheit absehen zu können, und dementsprechend spezifische Maßnahmen zur Abmilderung der sozialen Auswirkungen des grünen und des digitalen Wandels vorzuschlagen.

1.9

Nach Ansicht des EWSA muss die EU zur Stärkung ihrer Rolle als globaler Akteur zu ihren Werten stehen und weiterhin mit Drittländern zusammenarbeiten, die gemeinsame Außenpolitik stärken, nach gemeinsamen Lösungen suchen und dafür sorgen, dass ihre Zusammenarbeit und ihr Handel den wirtschaftlichen und sozialen Rechten der Menschen in diesen Ländern zugutekommen, insbesondere im Hinblick auf langfristige Nachhaltigkeit.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Angesichts der militärischen Aggression Russlands auf dem Gebiet der Ukraine und ihrer Folgen für das Wirtschafts-, Sozial- und Industriesystem — im Hinblick auf Technologie, Handel, Investitionsstandards und Veränderungen der Industriestruktur — ist es umso wichtiger, in den grünen und digitalen Wandel zu investieren, auch im Hinblick auf die angestrebte strategische Autonomie Europas. Deshalb begrüßt der EWSA die strategischen Überlegungen über die Wechselwirkung zwischen dem grünen und dem digitalen Wandel und deren Fähigkeit, sich gegenseitig zu verstärken.

2.2

Die aufeinanderfolgenden Krisen, zuerst die Pandemie und dann der Krieg, haben dazu geführt, dass das Schutzbedürfnis der Bevölkerung. d. h. das Bedürfnis nach Sicherheit, in den verschiedenen Lebensbereichen zugenommen hat. Daher müssen bei der Verwirklichung der Ziele des grünen und des digitalen Wandels die möglichen negativen Folgen für Wirtschaft, Soziales und alle anderen Bereiche sorgfältig berücksichtigt werden, nicht zuletzt durch die Bereitstellung geeigneter Interventionsinstrumente. In diesem Zusammenhang weist der EWSA darauf hin, dass die europäischen Bürgerinnen und Bürger, insbesondere die schwächsten Bevölkerungsgruppen, gegenüber den mit dem grünen und dem digitalen Wandel verbundenen Veränderungen eher ablehnend gegenüberstehen könnten, wenn sie der Ansicht sind, dass sie durch deren Folgen benachteiligt werden.

2.3

Eine stärkere Einbeziehung des EWSA als Sprachrohr der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft im Rahmen der Agenda für die strategische Vorausschau würde die Analyse- und Vorausschaukapazitäten stärken und eine bessere Ermittlung der Trends ermöglichen.

2.4

Mit Hilfe seiner Kontaktgruppe, in der die wichtigsten Netze und Organisationen der europäischen Zivilgesellschaft vertreten sind, entwickelt der EWSA die Kapazitäten der organisierten Zivilgesellschaft zur strategischen Vorausschau. Dies geschieht durch Maßnahmen, an denen entweder seine Mitglieder und damit die von ihnen vertretenen nationalen Organisationen oder die Zivilgesellschaft auf EU-Ebene beteiligt sind. Der EWSA erleichtert insbesondere den Dialog mit der organisierten Zivilgesellschaft und ihre Konsultation, sensibilisiert für die Bedeutung der strategischen Vorausschau und stellt zudem konkrete Instrumente dafür bereit. Dank einer strukturierten Einbeziehung der von ihm vertretenen organisierten Zivilgesellschaft lassen sich die verschiedenen Dimensionen (Industrie, Soziales, Wirtschaft, Umwelt usw.) in ihrer Gesamtheit in der strategischen Agenda besser erfassen.

2.5

Aus all diesen Gründen legt der EWSA großen Wert darauf, im Zyklus der strategischen Vorausschau von Anfang an mit der Europäischen Kommission zusammenzuarbeiten, um die gesellschaftliche Teilhabe zu stärken. Ein Beispiel hierfür ist die Anhörung, in deren Rahmen der EWSA die Meinungen von Organisationen der Zivilgesellschaft sowie Sachverständigen zu den Herausforderungen und Chancen eingeholt hat, mit denen die EU beim Übergang zu einem sozial und wirtschaftlich nachhaltigen Europa konfrontiert sein wird. Der EWSA unterbreitet in dieser Stellungnahme Beiträge und Vorschläge zu diesen zentralen Aspekten, auf die sich die Europäische Kommission in ihrer nächsten Vorausschau konzentrieren sollte.

2.6

Angesichts der Herausforderungen und Chancen, mit denen Europa in den kommenden Jahrzehnten konfrontiert sein wird, dürfte die strategische Vorausschau weiter an Bedeutung gewinnen. Daher fordert der EWSA die Kommission auf, die Agenda für die strategische Vorausschau weiterzuentwickeln und den EWSA stärker in die zugehörige Analyse- und Entwicklungsphase einzubeziehen.

2.7

In der Vorausschau wird nicht angemessen berücksichtigt, dass die digitale Kluft zwischen den einzelnen Regionen in Europa die Verwirklichung der Ziele des grünen und des digitalen Wandels behindert. Im nächsten Strategiebericht muss dieser Kluft und den möglichen Folgen aus sozialer Sicht und in Bezug auf die verfügbaren Möglichkeiten Rechnung getragen werden.

2.8

Der EWSA ist sich darüber im Klaren, dass digitale Technologien nicht zuletzt durch die Erhöhung der Energieversorgungssicherheit zur Verwirklichung der Klimaziele beitragen können und der grüne Wandel auch den digitalen Sektor und die Wirtschaft verändern kann. In diesem Zusammenhang begrüßt er die zahlreichen Hinweise darauf, dass es zur Erreichung der Ziele dringend technologischer Investitionen und angemessener politischer Maßnahmen bedarf und unterstützt auch die Feststellung, dass im Bereich der Cybersicherheit Maßnahmen zum Schutz strategischer Technologien ergriffen werden müssen.

2.9

In der Strategischen Vorausschau 2022 wird mehrfach auf den Energiebedarf hingewiesen, der sich aus der Digitalisierung und dem Betrieb von Netzen, Systemen und Geräten ergibt und der durch die erhöhte Effizienz und Nachhaltigkeit der Prozesse, in denen sie eingesetzt werden (Landwirtschaft, Logistik, Cloud-Computing usw.), wieder ausgeglichen wird. Zeitgemäß erscheinen die Forderungen, die Energieeffizienz zu verbessern und Europa wieder stärker auf die Kreislaufwirtschaft des Sektors auszurichten (vom Zugang zu kritischen Rohstoffen über den Umgang mit Elektronikabfällen bis hin zur Entwicklung fortschrittlicher digitaler Technologien).

2.10

Die mit dem digitalen Wandel (Dematerialisierung und „Substitution“) verbundenen Vorteile in Bezug auf Nachhaltigkeit und Energieeinsparungen sollten jedoch deutlicher herausgestellt werden, um das Bewusstsein der Bürger und der politischen Entscheidungsträger für den Wert und die Auswirkungen dieser tiefgreifenden Transformationsprozesse zu schärfen.

2.11

Im Zusammenhang mit den Veränderungen infolge der Digitalisierung wird das Thema Kryptowährungen nicht erwähnt. Dabei hängt deren zunehmende Beliebtheit gerade mit der allgegenwärtigen Verbreitung der Digitalisierungsprozesse und der Entwicklung der Blockchain-Technologie zusammen. Ihre Zahlungsströme entziehen sich der Regulierung durch die Staaten und lassen der Wirtschaftskriminalität große Freiräume. Der EWSA hält es daher für notwendig, die Nutzung von Kryptowährungen und digitalen Währungen in der strategischen Vorausschau in einem gesonderten Abschnitt zu erläutern und zu analysieren. Er fordert die Kommission auf, im Einklang mit den Schlussfolgerungen des G20-Gipfels einen einheitlichen Regulierungsrahmen anzunehmen und umzusetzen.

2.12

Der EWSA begrüßt die in der Vorausschau dem Thema Landwirtschaft gewidmeten Überlegungen. Im Gegensatz zu vielen anderen Politikbereichen wird der europäischen Agrarpolitik und ihrer großen Bedeutung für die Festlegung der künftigen Entwicklungen in dieser Vorausschau ein hoher Stellenwert eingeräumt. In dem Bericht werden auch die Maßnahmen genannt, die die EU ergreifen muss, um riskante Rückschritte zu verhindern; für die anderen Bereiche, die Gegenstand der Analyse sind, geschieht das nicht.

2.13

Die Lebensmittelsysteme in der EU müssen weiter diversifiziert werden; die landwirtschaftliche Erwerbsbevölkerung muss gestärkt werden, insbesondere indem mehr junge Leute für diesen Wirtschaftszweig gewonnen sowie die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung verbessert werden; außerdem muss die Handelspolitik auf die EU-Standards für nachhaltige Lebensmittel und Wettbewerbsfähigkeit abgestimmt werden. Die starke Konzentration der Lebensmittelketten und der finanziellen Besitzverhältnisse sollte ebenso thematisiert werden wie die Markttransparenz, um sicherzustellen, dass künftige Krisen nicht durch übermäßige Rohstoffspekulationen verschärft werden.

2.14

Der EWSA betont, dass der Zugang zu kritischen Rohstoffen im derzeitigen geopolitischen Kontext nicht nur für die Verwirklichung der Ziele des grünen und des digitalen Wandels, sondern vor allem auch für die Aufrechterhaltung und Stärkung des europäischen Industriesystems sowie für die soziale, wirtschaftliche und beschäftigungspolitische Resilienz von entscheidender Bedeutung ist. In diesem Zusammenhang schlägt der EWSA der Kommission vor, mit Hilfe geeigneter Analyse- (auch aus geopolitischer Sicht) und Prognoseinstrumente detailliertere Analysen durchzuführen.

2.15

Der EWSA weist darauf hin, dass Gewässer und Wasserressourcen, auf die in der Vorausschau mehrfach Bezug genommen wird, nicht nur ein Problem, sondern auch ein Potenzial darstellen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Verbesserung der Wassereffizienz, die Bewirtschaftung der Ressourcen und Sensibilisierungskampagnen für einen verantwortungsvollen Verbrauch. Vor allem die blaue Wirtschaft spielt eine wichtige Rolle und entfaltet ein stetig wachsendes Potenzial als Teil der EU- und der Weltwirtschaft sowie bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Verbesserung des Wohlergehens und der Gesundheit der Menschen. Der EWSA ist der Ansicht, dass diese Chancen — die ein breites Spektrum sowohl traditioneller als auch neu entstehender Branchen und Vorhaben betreffen — bestmöglich genutzt und zugleich die negativen Auswirkungen auf Klima, Artenvielfalt und Umwelt so gering wie möglich gehalten werden sollten.

2.16

Der EWSA fordert die Kommission auf, mit Blick auf den grünen und den digitalen Wandel mögliche Veränderungen, die sich aus dem Krieg in der Ukraine ergeben, insbesondere in Bezug auf die Energieversorgung und die Versorgung mit kritischen Rohstoffen, stärker zu berücksichtigen.

2.17

Der EWSA schließt sich der Forderung an, dass die EU ihre Strategie an ein neues Wirtschaftsmodell anpassen muss, um die Investitionen zur Steigerung des Wohlergehens zu erhöhen, und dass die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Industrie- und Wirtschaftssystems verbessert werden muss. In diesem Zusammenhang fordert er die Ausarbeitung spezifischer Prognosen über die Zukunft der europäischen Industriepolitik, die für die Erreichung einer vollständigen strategischen Autonomie entscheidend ist.

2.18

Der EWSA empfiehlt wie die Kommission eine Erhöhung der öffentlichen und privaten Investitionen, um die Ziele des Wandels zu erreichen. Er weist jedoch darauf hin, dass die wirtschaftlichen Entscheidungen in Europa und insbesondere die Aussicht auf einen weiteren Zinsanstieg die Investitionstätigkeit beeinträchtigen können.

2.19

Der EWSA begrüßt die Forderung nach einem gerechten Übergang und die Tatsache, dass der soziale Zusammenhalt und die Rolle des sozialen Dialogs jetzt stärker im Vordergrund stehen als im vorherigen Bericht. Nach Auffassung des EWSA werden die soziale Dimension und die Qualität der Arbeit zu vorrangigen Faktoren auf der europäischen Agenda werden, wodurch sich die Prioritätenskala, auf der sie nach wie vor eine komplementäre Rolle spielen, ändern wird.

2.20

Der EWSA begrüßt, dass in der strategischen Vorausschau 2022 den durch den grünen und den digitalen Wandel verursachten Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und in der wirtschaftlichen Lage der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft (Familien, Gemeinschaften) Rechnung getragen wird und gleichzeitig angemessene Mittel für soziale Maßnahmen eingefordert werden. Außerdem fordert er, Armut und sozialer Ausgrenzung mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

2.21

Der EWSA fordert die EU auf, der Bevölkerungsalterung und dem demografischen Wandel Rechnung zu tragen, die einerseits zu einem absehbaren Anstieg des Pflege- und Betreuungsbedarfs und andererseits zu einem Mangel an Fachkräften im Gesundheitswesen führen werden. Die EU muss sicherstellen, dass Pflege und Betreuung zugänglich und erschwinglich bleiben und nicht zu Luxusgütern werden.

2.22

Der EWSA weist darauf hin, dass in der strategischen Vorausschau 2022 die Frage des beschleunigten Aufkommens hybrider Arbeitsformen durch die Digitalisierung nur ganz am Rande angesprochen wird (u. a. im Abschnitt über Digitalisierung und Transportnachfrage). Dieses Phänomen wird als Ergebnis eines rein technologischen Transformationsprozesses dargestellt, wobei seine Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsbeziehungen sowie die damit verbundenen Regulierungsanforderungen vernachlässigt werden.

2.23

Der EWSA stellt fest, dass der in der strategischen Vorausschau verwendete Ansatz Gefahr läuft, die Wirtschaft zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen und den Wettbewerb und den Markt als den eigentlichen Kitt darzustellen, der die europäischen Maßnahmen, Interessen und Strategien zusammenhält. Der Rolle der Zivilgesellschaft und der Arbeitnehmer wird lediglich eine ergänzende Rolle beigemessen. Die Fähigkeit des grünen und des digitalen Wandels, neuen und größeren Wohlstand zu schaffen und den Aufbau neuer Modelle zu erleichtern, durch die Schwachstellen verringert und die entstandenen Vorteile verstärkt der Gesellschaft zugutekommen können, wird dabei nicht ausreichend berücksichtigt.

2.24

Der EWSA fordert die Kommission auf, eine spezifische Eurobarometer-Umfrage zu den Themen durchzuführen, die Gegenstand der nächsten strategischen Vorausschau sein sollen, um die Erwartungen und Ansichten der Bürgerinnen und Bürger besser zu erfassen. Dies ist auch entscheidend, um die künftige Akzeptanz der in der Vorausschau vorgeschlagenen Maßnahmen abzuschätzen.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/49


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss — Auf dem Weg zu einem stärkeren EU-Clearingsystem“

(COM(2022) 696 final)

und „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 648/2012, (EU) Nr. 575/2013 und (EU) 2017/1131 im Hinblick auf Maßnahmen zur Minderung übermäßiger Risikopositionen gegenüber zentralen Gegenparteien aus Drittstaaten und zur Steigerung der Effizienz der Clearingmärkte der Union“

(COM(2022) 697 final — 2022/0403 (COD))

(2023/C 184/09)

Berichterstatter:

Florian MARIN

Befassung

Rat, 31.1.2023

Europäisches Parlament, 1.2.2023

Europäische Kommission, 8.2.2023

Rechtsgrundlagen

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

2.3.2023

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

201/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Verordnungsvorschlag (1) und die Bemühungen der Kommission, die strategische Autonomie der EU-Kapitalmärkte zu gewährleisten, die internen Clearingkapazitäten auszubauen und das EU-Clearingsystem sicherer und robuster zu machen. Er hält ein wettbewerbsfähiges und effizientes Clearingsystem für die Finanzstabilität der EU-Kapitalmärkte für unerlässlich.

1.2.

Der EWSA schlägt vor, dass die in der EU ansässigen Clearingstellen ihren Kapazitätsrahmen ausbauen, ausgestalten und durch Investitionen weiter verbessern sollten, um die Marktteilnehmer zu ermutigen, ihre Geschäfte in der EU zu clearen.

1.3.

Nach Auffassung des EWSA hätte ein umfassender Plan umgesetzt werden müssen, um unmittelbar nach dem Brexit den Wechsel zu Clearingstellen in der EU zu fördern. Er ist enttäuscht über den schleppenden Entscheidungsprozess in Bezug auf einen 81 Billionen EUR schweren Derivatemarkt. Der EWSA hätte eine größere Entschlossenheit zur Verringerung der Risikopositionen gegenüber zentralen Gegenparteien (CCP) im Vereinigten Königreich sowie spezifischere Vorschriften und Anreize erwartet, um den Übergang zu CCPs mit Sitz in der EU zu fördern.

1.4.

Nach Ansicht des EWSA sind spezifische Daten über das EU-Clearingsystem, die alle Anlageklassen und Anlagevolumina abdecken, von entscheidender Bedeutung. In dieser Hinsicht sind größere Anstrengungen erforderlich. Das Verhältnis zwischen den erhobenen Daten und der Risikodynamik sollte regelmäßig überprüft werden, um ein genaues Bild von den Risiken für die Finanzstabilität zu erhalten. Der EWSA begrüßt, dass die Risikomodelle neben den finanziellen Risiken auch den Sozial-, Governance- und Umweltrisiken von CCPs Rechnung tragen müssen, die in den verschiedenen Risikoszenarien und -analysen den gleichen Stellenwert haben sollten.

1.5.

Der EWSA fordert eine umfassende Bewertung der potenziellen zusätzlichen Kosten für die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) und andere EU-Einrichtungen in Bezug auf Arbeitskräfte, IT-Systeme, gemeinsame Aufsichtsteams und den vorgeschlagenen gemeinsamen Überwachungsmechanismus.

1.6.

Angesichts der zusätzlichen Befugnisse, die der ESMA durch die Änderung der EMIR-Verordnung im Jahr 2019 und den vorliegenden Verordnungsvorschlag übertragen werden, spricht sich der EWSA dafür aus, die Tätigkeiten dieser Behörde einem Kontrollsystem zu unterwerfen. Die ESMA sollte nach Ansicht des EWSA stärker dafür Sorge tragen, dass ein erheblicher Teil der für ihre EU-Kunden erbrachten Dienstleistungen von CCPs mit Sitz in der EU gecleart werden muss.

1.7.

In Bezug auf gruppeninterne Geschäfte begrüßt der EWSA die Entscheidung, Einrichtungen aus Ländern, die als nicht kooperative Länder und Gebiete für Steuerzwecke gelistet sind oder die mit Blick auf die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung als Länder mit hohem Risiko gelten, nicht von Clearingplichten und Einschussforderungen auszunehmen.

1.8.

Der EWSA bedauert, dass die Kommission den bestehenden Rahmen und die Frage, wie sich die Attraktivität des EU-Marktes in den letzten Jahren verändert hat, keiner umfassenden Bewertung unterzogen hat, zumal die letzte Änderung der Verordnung mehr als drei Jahre zurückliegt. Er begrüßt die Einführung von Artikel 7b und fordert die ESMA auf, ein Jahr nach Inkrafttreten der Verordnung einen Bericht über die Hauptgründe für die Inanspruchnahme von Nicht-EU-CCPs vorzulegen.

1.9.

Der Ausschuss schlägt vor, dass die EU-CCPs über ihre Gebühren, Nachschussforderungen und Maßnahmen in Zeiten angespannter Märkte transparent informieren müssen, um die Vorhersehbarkeit für alle Marktteilnehmer zu verbessern.

1.10.

Der EWSA fordert die Kommission auf, genau zu erläutern, wie der Begriff „dringend“ in den vorgeschlagenen Änderungen von Artikel 20 zu verstehen ist. Des Weiteren sollten die Mitgesetzgeber festlegen, welche Ausnahmen als „dringend gebotene Entscheidungen“ gelten.

1.11.

Der EWSA befürwortet die vorgeschlagenen Änderungen an Artikel 23 bezüglich der Einrichtung gemeinsamer Aufsichtsteams und des gemeinsamen Überwachungsmechanismus. Er schlägt vor, die Zivilgesellschaft in den gemeinsamen Überwachungsmechanismus gemäß Artikel 23c einzubeziehen und zu diesem Zweck dem EWSA einen Beobachterstatus einzuräumen.

1.12.

Nach Ansicht des EWSA ist die Frist von fünf Jahren, innerhalb derer die Kommission die Anwendung dieser Verordnung überprüfen muss, zu lang. Er ist ferner der Auffassung, dass mehr getan werden sollte, um Fristen für die Erteilung von Genehmigungen oder die Ausweitung von Tätigkeiten und Dienstleistungen sowie für den Aufbau einer zentralen Datenbank zu verkürzen. Der EWSA fordert mehr Interoperabilität innerhalb des europäischen Clearingsystems sowie eine Verringerung des Verwaltungsaufwands und vereinfachte Zugangslösungen.

1.13.

Der EWSA begrüßt die größere Transparenz, die durch die Änderung von Artikel 38 geschaffen wird. Nunmehr müssen Clearingmitglieder und Kunden, die Clearingdienste erbringen, ihre Kunden und potenziellen Kunden über die Einschussmodelle und die möglichen Verluste und sonstigen Kosten informieren.

2.   Hintergrund

2.1.

Die im Jahr 2015 von der Europäischen Kommission ins Leben gerufene Kapitalmarktunion ist ein auf lange Sicht angelegtes ehrgeiziges Projekt, das den freien Kapitalverkehr in der Union — eine der vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts — gewährleisten soll. Der Brexit hat zu einem drastischen Rückgang der globalen Rolle Europas auf den Kapitalmärkten geführt: Sein Anteil an den weltweiten Aktivitäten ging von 22 % auf nur noch 14 % zurück (2). Dreißig Jahre nach der Einführung des Binnenmarkts, zwanzig Jahre nach der Einführung des Euro und sieben Jahre nach Start der Initiative für die Kapitalmarktunion bleibt der EU immer noch viel zu tun, um einen Kapitalbinnenmarkt zu schaffen.

2.2.

Die Verordnungen EMIR-Refit (3) und EMIR 2.2 (4) haben für mehr Transparenz in Bezug auf Drittstaaten-CCP gesorgt. Mit ihnen wurden Änderungen am Clearingmandat durchgeführt und der EU-Aufsichtsbehörde ESMA zusätzliche Befugnisse übertragen. Durch den vorliegenden Verordnungsvorschlag erhält die ESMA noch mehr Befugnisse. Da die Clearingkapazitäten ein wichtiger Bestandteil der Kapitalmarktunion sind, stellt die übermäßige Abhängigkeit von Drittstaaten-CCP, insbesondere von CCP mit Sitz im Vereinigten Königreich, eine Gefahr für die europäischen Finanzmärkte dar. Im Rahmen des Brexit-Abkommens hat die EU es dem Vereinigten Königreich ermöglicht, bis Ende Juni 2022 weiterhin Clearingdienste für EU-Marktteilnehmer zu erbringen. Diese Frist wurde wegen der Gefahr für die Finanzmarktstabilität um drei Jahre verlängert, um genügend Zeit für die sukzessive Verlagerung der Clearingtätigkeiten in die EU zu haben.

2.3.

Der Verordnungsvorschlag zielt darauf ab, für mehr Stabilität, Vorhersehbarkeit und Verhältnismäßigkeit für alle Akteure mit Clearingpflichten zu sorgen. Marktteilnehmer müssen angeben, inwieweit sie bei der Verarbeitung ihrer Derivategeschäfte auf Drittländer angewiesen sind. Die vorgeschlagenen Änderungen betreffen auch Maßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, EU-CCPs attraktiver zu machen, den Verwaltungsaufwand zu verringern, das zentrale Clearing in der EU durch die Verpflichtung der Clearingbetreiber, ein aktives Konto bei EU-CCPs zu führen, zu fördern und die lokalen Behörden mit den erforderlichen Befugnissen auszustatten, um die Risiken im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Transaktionen überwachen zu können.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA fordert bereits seit Langem Rechtsvorschriften, die die EU-Kapitalmärkte stärken und sie stabiler und attraktiver machen (5). Angesichts der jüngsten geopolitischen Entwicklungen (Invasion Russlands in die Ukraine, gestiegene Energiepreise, geopolitische Spannungen in vielen Teilen der Welt und COVID-19-Pandemie) und ihrer unmittelbaren Auswirkungen auf die Wirtschaft weist der EWSA darauf hin, dass rasches Handeln erforderlich ist, um die Stabilität der EU-Finanzmärkte zu sichern und weiter auszubauen. Der EWSA hält ein wettbewerbsfähiges und effizientes Clearingsystem für die Finanzstabilität der EU-Kapitalmärkte für unerlässlich.

3.2.

Der EWSA begrüßt den Verordnungsvorschlag und die Absicht der Kommission, die strategische Autonomie der EU-Kapitalmärkte zu gewährleisten, die internen Clearingkapazitäten auszubauen und das EU-Clearingsystem sicherer und resilienter zu machen. Bei der Stärkung des EU-Clearingmarkts sollten die Kosten, die durch die Abwanderung von Kapital aus Nicht-EU-Clearingmärkten entstehen, die Notwendigkeit, den risikobasierten Ansatz zu schützen, und die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Nicht-EU- und EU-Finanzmärkten berücksichtigt werden.

3.3.

Der Vorschlag zur Änderung der EMIR-Verordnung geht auf den dramatischen Anstieg der Energiepreise in Europa zurück, der hauptsächlich durch den ungerechtfertigten Angriff Russlands auf die Ukraine verursacht wurde. Dies hat zu Instabilität auf den Clearingmärkten geführt, wobei bestimmte Unternehmen nicht mehr in der Lage waren, die Sicherheiten für ihre Derivatekontrakte zu stellen. Der EWSA fordert nachdrücklich, der Konsolidierung des Clearing-Sektors in der EU weiterhin Priorität einzuräumen. Um das EU-Clearingsystem wettbewerbsfähiger zu machen, sollten Preis, Liquidität, Risiko, Einschusszahlungen, Regulierung und Effizienz berücksichtigt werden. Der EWSA hält es für notwendig, die Fristen für die Erteilung von Genehmigungen oder die Ausweitung von Tätigkeiten und Dienstleistungen sowie für den Aufbau einer zentralen Datenbank zu verkürzen.

3.4.

Nach Auffassung des EWSA sollten die in der EU ansässigen CCPs ihren Kapazitätsrahmen ausbauen, ausgestalten und durch Investitionen weiter verbessern, um die Marktteilnehmer davon zu überzeugen, ihre Geschäfte in der EU zu clearen. Dazu sollten sie insbesondere ihre technologischen und operativen Kapazitäten ausbauen, eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Marktteilnehmern sicherstellen und die Verfahren für das Risikomanagement verbessern. Um die Vorhersehbarkeit zu verbessern, müssen CCPs in Zeiten angespannter Märkte ihre Gebühren, Nachschussforderungen und Maßnahmen offenlegen.

3.5.

Stabile Kapitalmärkte erfordern einen ausgewogenen und stabilen Arbeitsmarkt. Der EWSA begrüßt, dass die Risikomodelle neben den finanziellen Risiken auch den Sozial-, Governance- und Umweltrisiken von CCPs Rechnung tragen müssen, und ist der Auffassung, dass diese in den verschiedenen Risikoszenarien und -analysen den gleichen Stellenwert haben sollten.

3.6.

Der EWSA begrüßt die von der Kommission Anfang 2022 durchgeführte Konsultation, die Treffen mit den Vertretern der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments, des Finanzdienstleistungssektors und des Wirtschafts- und Finanzausschusses sowie die bilateralen Treffen mit den einschlägigen Interessenträgern.

3.7.

Der EWSA ist enttäuscht darüber, dass die Frist für die im Vereinigten Königreich ansässigen Clearingstellen, die uneingeschränkten Zugang zu Interessenträgern in der EU haben, um drei Jahre, d. h. bis zum 30. Juni 2025, verlängert wurde. Er ist der Auffassung, dass mit Hilfe eines umfassenden Plans Anreize hätten geschaffen werden müssen, um unmittelbar nach dem Brexit zu marktbasierten Clearingstellen in der EU zu wechseln. Der EWSA kritisiert, dass trotz eines 81 Billionen EUR schweren Derivatemarkts in der Vergangenheit nicht reagiert wurde, nur eingeschränkt Konsultationen stattfanden und Entscheidungen verschleppt wurden.

3.8.

Die europäischen Banken profitieren von einem Mehrwährungspool auf dem britischen Markt, und die Verlagerung auf europäische Clearingstellen würde zu einem auf dem Euro basierenden Clearingverfahren führen, das mit erheblichen Kosten für das Bankensystem verbunden wäre. Der EWSA befürwortet diese Verlagerung zwar, ist jedoch der Auffassung, dass sie so bald wie möglich erfolgen muss. Seiner Ansicht nach müssen allerdings die richtigen Anreize geschaffen werden, um die Banken von einer Abwanderung auf andere Märkte abzuhalten. Zur Konsolidierung des Clearingsektors in der EU sollten gezieltere und angepasste Anreize ins Auge gefasst werden.

3.9.

Da viele EU-Marktteilnehmer ihre Derivategeschäfte in anderen Ländern abwickeln, hatte der EWSA eine klarere Haltung gegenüber diesem Trend sowie spezifischere Vorschriften und Anreize erwartet, um den Übergang zu CCPs mit Sitz in der EU zu fördern. Nach Auffassung des EWSA hätten zumindest öffentliche Einrichtungen zum Clearing in der EU verpflichtet werden müssen. Er fordert eine klare Perspektive, um diese Abhängigkeit so bald wie möglich zu beenden.

3.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass bei der Entwicklung von Clearingtätigkeiten in der EU zum Nutzen der Marktteilnehmer die gesamte Lieferkette berücksichtigt werden sollte. Bei der Verringerung von Risikopositionen gegenüber britischen CPPs sollte die Marktliquidität sorgfältig gesteuert werden. Gleichzeitig ist eine längerfristige Perspektive und die Standardisierung der Zugangsanforderungen für den EU-Clearingmarkt erforderlich. Die Kunden müssen auf das Clearing vorbereitet werden, und zum Nutzen dieser Kunden sind verschiedene Simulationen durchzuführen. Der EWSA ist ferner der Auffassung, dass die ESMA die Maßnahmen sorgfältig auch auf kleine und mittlere Marktteilnehmer abstimmen sollte.

3.11.

Der EWSA betont, wie wichtig Drittstaaten-CCPs für die Finanzstabilität der EU sind. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Konzentrationsrisiken zu verringern und sicherzustellen, dass die Beziehungen zu diesen CCPs auf einem transparenten, vorhersehbaren, verhältnismäßigen und risikobasierten Ansatz beruhen. Mit diesem Verordnungsvorschlag werden der ESMA noch mehr Befugnisse übertragen, und der EWSA spricht sich dafür aus, die Tätigkeiten der ESMA einem Kontrollsystem zu unterwerfen.

3.12.

Der EWSA weist darauf hin, dass spezifische Daten über das EU-Clearingsystem vorliegen müssen, um ein klares Bild für die Zwecke der Überwachung zu erhalten. Diese Daten müssen vergleichbar sein und alle Anlageklassen und Anlagevolumina abdecken. Es ist wichtig, die richtigen Daten zu erheben, um ein genaues Bild der Risiken für die Finanzstabilität zu erhalten. Außerdem sollte die Synergie zwischen den erhobenen Daten und der Risikodynamik systematisch berücksichtigt werden. Der EWSA ist der Auffassung, dass in dieser Hinsicht mehr getan werden sollte.

3.13.

Die Synergien zwischen Clearingtätigkeiten und dem zentralen europäischen Zugangsportal (ESAP) sollten stärker genutzt werden. Das ESAP fördert ein datengesteuertes Finanzwesen und verbessert den Zugang von Unternehmen und Finanzinstituten zu Daten und Informationen über Unternehmen erheblich. Außerdem werden die Wirtschaft für die digitale Zukunft gerüstet, die digitale Souveränität gestärkt, der Informationsfluss beschleunigt und gemeinsame Standards festgelegt, wobei der Schwerpunkt auf Daten, Technologie und Infrastruktur liegt (6).

3.14.

Der EWSA befürwortet den Vorschlag, die EMIR-Vorschriften für Derivate zu lockern und Bankgarantien und Akkreditive als hochliquide Sicherheiten zuzulassen, da diese bargeldlosen Alternativen die Marktliquidität gewährleisten und auf fortgeschritteneren Kapitalmärkten wie dem US-amerikanischen Markt bereits in großem Umfang eingesetzt werden. Der EWSA befürwortet eine stärkere Rolle der Zentralbanken beim Schutz der Verbraucher in der EU.

3.15.

Der EWSA unterstützt die vorgeschlagenen Änderungen der Artikel 11, 14, 15 und 17 in Bezug auf die viermonatige Umsetzungsfrist für nichtfinanzielle Gegenparteien, die erstmals der Verpflichtung zum Austausch von Sicherheiten unterliegen, und die kürzeren und weniger komplexen Verfahren für CCPs zur Erweiterung ihres Produktangebots. Durch die vorgeschlagenen Änderungen werden die Verfahren zur Ausweitung der Tätigkeiten und Dienstleistungen sowie zur Erteilung und Verweigerung von Genehmigungen gestrafft. Das europäische Clearingsystem braucht mehr Interoperabilität sowie einen geringeren Verwaltungsaufwand und einfachere Zugangslösungen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA kann der Behauptung der Europäischen Kommission, dass „diese Gesetzgebungsinitiative […] keine Auswirkungen auf die Ausgaben der ESMA oder anderer Einrichtungen der Europäischen Union haben [wird]“, nicht beipflichten. Er ist vielmehr der Ansicht, dass die Kosten für Arbeitskräfte, IT-Systeme, die gemeinsamen Aufsichtsteams und den vorgeschlagenen gemeinsamen Überwachungsmechanismus steigen werden. Der EWSA stellt fest, dass die Kommission die ESMA in der vorgeschlagenen Änderung zu Artikel 90 auffordert, über ihren „Personal- und Ressourcenbedarf“ Bericht zu erstatten. Daher fordert der EWSA, die zusätzlichen Kosten eingehend zu bewerten und die voraussichtlichen Auswirkungen auf den Haushalt zu berechnen und bekanntzugeben.

4.2.

Der EWSA begrüßt und unterstützt den Vorschlag der Kommission, demzufolge alle Marktteilnehmer, die einer Clearingpflicht unterliegen, ein Konto bei einer EU-CCP führen müssen. Er ersucht die ESMA, nach Konsultation der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde, der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung, des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken und des Europäischen Systems der Zentralbanken festzulegen, dass ein erheblicher Teil der Dienstleistungen, die für ihre Kunden in der EU erbracht werden und deren Systemrelevanz als wesentlich eingestuft wurde, über EU-CCPs gecleart werden müssen.

4.3.

Der EWSA begrüßt die Absicht, die Marktteilnehmer aufzufordern, die genauen Zahlen und die Abhängigkeit von ausländischen Clearingstellen zu melden. Der EWSA geht davon aus, dass die ESMA die technischen Standards, in denen diese Informationen präzisiert werden, zügig ausarbeitet. Er sieht dem ein Jahr nach Inkrafttreten vorzulegenden ausführlichen Bericht erwartungsvoll entgegen und erwartet, dass die EMIR-Verordnung entsprechend geändert wird.

4.4.

In Bezug auf gruppeninterne Geschäfte begrüßt der EWSA, dass Unternehmen aus Ländern, die als nicht kooperative Länder und Gebiete für Steuerzwecke gelistet sind oder die mit Blick auf die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung als Länder mit hohem Risiko gelten, nicht von Clearingplichten und Einschussforderungen ausgenommen werden. Er unterstützt uneingeschränkt die Verwaltungsmaßnahmen in Bezug auf diese Länder und Gebiete und ist der Auffassung, dass sie eine erhebliche Bedrohung für das Finanzsystem der EU darstellen.

4.5.

Digitalisierung macht zusätzliche Mittel erforderlich. Der EWSA hält es für unerlässlich, in die digitale Entwicklung zu investieren, um die vorgeschlagenen Aktualisierungen der EMIR-Verordnung zu flankieren. Er begrüßt den Vorschlag, ein modernes, allen zuständigen Behörden zugängliches IT-Tool für die Online-Übermittlung aufsichtlicher Dokumente einzurichten.

4.6.

Der EWSA bedauert, dass die Kommission den bestehenden Rahmen nicht umfassend bewertet hat, zumal die letzte Änderung der Verordnung mehr als drei Jahre zurückliegt. Damit die derzeitigen Änderungen ihren Zweck erfüllen, hätte zudem gezielt untersucht werden müssen, wie sich die Attraktivität des EU-Marktes in den letzten Jahren verändert hat, insbesondere vor dem Hintergrund der tiefgreifenden geopolitischen Veränderungen der letzten Zeit.

4.7.

Der EWSA schlägt vor, dass die gemäß Artikel 7 ausgearbeiteten technischen Standards transparent und inklusiv sein sollten. Die Möglichkeit, Änderungen vorzunehmen, um diese Standards nötigenfalls rasch anpassen zu können, sollte ebenfalls erwogen werden. Die Bereitstellung von Instrumenten für den Preisvergleich in Bezug auf Ausführungskosten, Clearingkosten und die Kosten der Clearingmitglieder ist für Vermögensverwalter wichtig.

4.8.

Der EWSA begrüßt die Einführung von Artikel 7b, demzufolge Clearingdienstleister den Umfang des bei Nicht-EU-CCPs durchgeführten Clearings melden und ihre Kunden über die Möglichkeit, entsprechende Kontrakte bei einer EU-CCP zu clearen, informieren müssen. Er fordert die ESMA auf, zu diesem Zweck ein standardisiertes, in allen Mitgliedstaaten anzuwendendes Meldeverfahren zu entwickeln. Er empfiehlt darüber hinaus, ein Jahr nach Inkrafttreten der Verordnung einen Bericht über die Hauptgründe für die Inanspruchnahme von Nicht-EU-CCPs vorzulegen. Schließlich ist auch eine sorgfältige Anwendung eines gemeinsamen Ansatzes für die den Marktteilnehmern auferlegte Geldbußen erforderlich, um die Verhältnismäßigkeit im Binnenmarkt zu gewährleisten.

4.9.

Der EWSA fordert die Kommission auf, genau zu erläutern, wie der Begriff „dringend“ in den vorgeschlagenen Änderungen zu Artikel 20 zu verstehen ist. Des Weiteren sollten die Mitgesetzgeber sich darauf verständigen und festlegen, welche Ausnahmen als „dringend gebotene Entscheidungen“ gelten.

4.10.

Der EWSA befürwortet die vorgeschlagenen Änderungen zu Artikel 23 bezüglich der Einrichtung gemeinsamer Aufsichtsteams und des gemeinsamen Überwachungsmechanismus. Er weist jedoch darauf hin, dass dies Auswirkungen auf den Haushalt haben wird, da die Behörden, auch die ESMA, mehr Personal einstellen müssen. Der EWSA schlägt vor, die Zivilgesellschaft in den Überwachungsmechanismus gemäß Artikel 23c einzubinden, insbesondere im Hinblick auf künftige politische Entscheidungen.

4.11.

Eine ordnungsgemäße Bewertung der Verknüpfungen, Verflechtungen und Konzentrationsrisiken im Rahmen des CCP-Aufsichtsausschusses (Artikel 24a) erfordert ebenfalls die Einbeziehung der Zivilgesellschaft, und der EWSA sollte als Beobachter in den gemeinsamen Überwachungsmechanismus eingebunden werden. Dabei sollte der Notwendigkeit Rechnung getragen werden, die Überschneidung von Zuständigkeiten zwischen den zahlreichen am Clearingsystem beteiligten Behörden zu verringern. Die Zusammenarbeit zwischen europäischen und nationalen Behörden sollte effizient und an die Dynamik der Marktrisiken angepasst sein.

4.12.

Die Frist von fünf Jahren, innerhalb derer die Kommission die Anwendung der Verordnung nach ihrem Inkrafttreten eingehend überprüfen muss, erscheint angesichts des Zeitraums zwischen den Änderungen der EMIR-Verordnung sehr lang. Darüber hinaus hätte der EWSA eigentlich, wie vereinbart, zum 2. Januar 2023 den Bericht der Kommission über die Anwendung der EMIR-REFIT- und der EMIR-2.2-Verordnung erwartet, doch nun schlägt die Kommission vor, ihn zu annullieren. Der EWSA lehnt diesen Vorschlag ab, weil dies dazu führen könnte, dass die Änderungen an EMIR angesichts der bereits erfolgten Änderungen an der EMIR-Verordnung überhaupt nicht bewertet werden.

4.13.

Der EWSA begrüßt die größere Transparenz aufgrund der vorgeschlagenen Änderung von Artikel 38. Nunmehr müssen Clearingmitglieder und Kunden, die Clearingdienste erbringen, ihre Kunden und potenziellen Kunden über die Einschussmodelle und die möglichen Verluste und sonstigen Kosten informieren, die im Falle von Sanierungsmaßnahmen seitens der CCP entstehen. Der EWSA ist der Auffassung, dass auch die Clearingmitglieder zur Verbesserung der Transparenz innerhalb des EU-Clearingsystems beitragen sollten.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  COM(2022) 697 final.

(2)  Report — A new vision for EU capital markets.

(3)  ABl. L 141 vom 28.5.2019, S. 42.

(4)  ABl. L 322 vom 12.12.2019, S. 1.

(5)  ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 20.

(6)  ABl. C 290 vom 29.7.2022, S. 58.


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/55


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung“

(COM(2022) 707 final — 2022/0413(CNS))

(2023/C 184/10)

Berichterstatter: Petru Sorin DANDEA

Ko-Berichterstatter: Benjamin RIZZO

Befassung

Rat, 7.2.2023

Rechtsgrundlage

Artikel 113, Artikel 115 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

2.3.2023

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

208/0/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Kommission zur Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung (DAC 8) als wesentlichen Fortschritt bei der Verbesserung und Ergänzung der geltenden DAC-Richtlinie.

1.2.

Der EWSA hält die vorgeschlagenen Verbesserungen der DAC-Richtlinie für zielführend, um Verstöße gegen die Steuervorschriften durch Inhaber von Kryptowerten zu verhindern und so die Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuerhinterziehung und Steuervermeidung im Einklang mit mehreren früheren Initiativen der Kommission zu intensivieren.

1.3.

Nach Auffassung des EWSA steht die Initiative der Kommission voll und ganz im Einklang mit dem Grundsatz der fairen und wirksamen Besteuerung. Diese ist ein Eckpfeiler der sozialen Marktwirtschaft in Europa, mit dem sichergestellt werden soll, dass jeder einen angemessenen Beitrag leistet und unabhängig von der Art der gehaltenen Vermögenswerte gleich und verhältnismäßig behandelt wird.

1.4.

Der EWSA stellt fest, dass globale Anstrengungen zur Regulierung von Kryptowerten und ihrer Verwendung von entscheidender Bedeutung sind, um die zunehmenden weltweiten Probleme und Auswirkungen im Zusammenhang mit diesen Vermögenswerten wirksam anzugehen. Die auf der Ebene der OECD und der G20 laufenden Arbeiten für die Erzielung eines globalen Übereinkommens über die Transparenz von Kryptowährungen sind in dieser Hinsicht ausschlaggebend. Der EWSA fordert die Kommission auf, auf internationaler Ebene eine aktive Rolle zu übernehmen.

1.5.

Der EWSA stellt fest, dass eine bessere und wirksamere Besteuerung von Kryptowerten dazu beitragen wird, die Besteuerung auszuweiten und die nationalen Haushalte aufzustocken, wodurch zusätzliche Mittel für das Gemeinwohl und die Investitionsprioritäten der Kommission (grüner Wandel und Digitalisierung) bereitgestellt werden können.

1.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass ein Meldesystem mit Angabe der Steueridentifikationsnummer die wirksamste Methode zur Einhaltung der Vorschriften und zur Gewährleistung ihrer Wirksamkeit ist. Aus diesem Grund unterstützt der EWSA nachdrücklich den Vorschlag der Kommission zur Steueridentifikationsnummer, da er zur Vermeidung möglicher Fehler und somit zur Rechtssicherheit und zur Berechenbarkeit des Systems beiträgt.

1.7.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Meldepflichten nicht nur auf Wechselgeschäfte und Übertragungen von Kryptowerten beschränkt sein sollten. Aus Gründen der Transparenz und Sicherheit sollten sie zumindest in der Anfangsphase auch auf die gesamten gehaltenen Kryptowertbestände ausgeweitet werden, wobei selbstverständlich nur tatsächliche Gewinne zu besteuern sind.

1.8.

Der EWSA unterstreicht, dass es wirkungsvolle und verhältnismäßige Sanktionen geben muss. Es sollte aber den Mitgliedstaaten überlassen bleiben, die genaue Höhe der jeweils zu verhängenden Sanktionen zu bestimmen. Der EWSA empfiehlt ferner, dass die Kommission nach der Umsetzung der Richtlinie über die von den Mitgliedstaaten eingeführten Sanktionsstrukturen Bericht erstattet und erforderlichenfalls die notwendigen Änderungen des Sanktionssystems benennt.

1.9.

Der EWSA hofft, dass die Sanktionen und Maßnahmen zur Durchsetzung der Vorschriften ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Wirksamkeit der Vorschriften und einer angemessenen Abschreckung einerseits und der Verhältnismäßigkeit andererseits ermöglichen werden. Die Verhältnismäßigkeit könnte z. B. durch eine angemessene Berücksichtigung der Zahl der von einem Unternehmen durchgeführten Transaktionen, die mit einem Verstoß im Zusammenhang stehen, gewährleistet werden.

1.10.

Der EWSA betont, dass die im Richtlinienvorschlag enthaltenen spezifischen Datenschutzbestimmungen und -garantien im Einklang mit den Vorschriften der DSGVO stehen und ordnungsgemäß und unter Einhaltung hoher Standards angewandt werden sollten, um die Grundrechte der Personen, deren Daten erhoben, ausgetauscht und gespeichert werden, umfassend zu schützen.

1.11.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, in ihren Vorschlag Bestimmungen aufzunehmen, die darauf abzielen, die Zusammenarbeit zwischen den unter den vorliegenden Vorschlag fallenden Steuerbehörden und jenen zu verbessern, die für die Bekämpfung der Geldwäsche, der Finanzierung von illegalen Aktivitäten und Terrorismus zuständig sind. In diesem Zusammenhang weist der EWSA erneut darauf hin, dass die Behörden, in diesem Fall die Steuerbehörden, angemessene Ressourcen in Bezug auf Fachpersonal und hochwertige digitale Technologien und Standards benötigen.

2.   Vorschlag der Kommission

2.1.

Mit dem Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU (1) über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung (DAC 8) (2) soll die geltende Richtlinie (DAC) aktualisiert werden, um die Meldung und den Informationsaustausch zwischen Steuerbehörden auf Einkünfte bzw. Einnahmen auszuweiten, die in der Europäischen Union ansässige Nutzer durch Kryptowerte erzielen. Derzeit verfügen die Steuerbehörden nicht über die erforderlichen Informationen, um die durch Kryptowerte erzielten Erträge, die grenzüberschreitend problemlos gehandelt werden können, zu überwachen.

2.2.

Die Legislativinitiative zielt darauf ab, durch spezifische Bestimmungen für die Meldung und den Austausch von Informationen für direkte Steuerzwecke für mehr Steuertransparenz bei Kryptowerten zu sorgen. Außerdem werden mit dem Vorschlag die geltenden Bestimmungen präzisiert, um Schlupflöcher zu vermeiden und den Rechtsrahmen zu stärken.

2.3.

Die DAC 8 wurde an die Begriffsbestimmungen der Verordnung über Märkte für Kryptowerte („MiCA“) (3) angeglichen, welche für sich genommen den Steuerbehörden keine Grundlage für die Erhebung und den Austausch von Informationen bietet, die für die Besteuerung von Erträgen aus Kryptowerten erforderlich sind. Die DAC 8 basiert allerdings auf den mit der MiCA gemachten Erfahrungen und stützt sich auf die mit dieser Verordnung bereits eingeführte Zulassungspflicht, wodurch zusätzlicher Verwaltungsaufwand für Anbieter von Krypto-Dienstleistungen vermieden wird.

2.4.

Der Vorschlag steht im Einklang mit dem kürzlich von der OECD angenommenen Rahmen für die Meldung von Kryptowerten (CARF) (4) sowie mit den Änderungen ihres gemeinsamen Meldestandards. Dieser Standard wurde auch von der G20 befürwortet. Während der von der Kommission durchgeführten Konsultation sprachen sich die meisten Mitgliedstaaten dafür aus, den Anwendungsbereich des EU-Rechtsrahmens an die Arbeit der OECD anzugleichen.

2.5.

Um die Fähigkeit der Mitgliedstaaten zur Aufdeckung und Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuerhinterziehung und Steuervermeidung zu verbessern, müssen alle meldenden Anbieter von Krypto-Dienstleistungen unabhängig von ihrer Größe oder ihrem Standort die Transaktionen ihrer in der EU ansässigen Kunden melden. In den Anwendungsbereich fallen sowohl inländische als auch grenzüberschreitende Transaktionen. In einigen Fällen erstrecken sich die Meldepflichten auch auf nicht austauschbare Token (Non-Fungible Token, „NFT“). Detaillierte Vorschriften über die Pflichten, die vom meldenden Anbieter von Krypto-Dienstleistungen zu erfüllen sind, sind in Anhang VI festgelegt.

2.6.

Meldepflichtige Transaktionen umfassen Wechselgeschäfte und Übertragungen meldepflichtiger Kryptowerte. Sowohl inländische als auch grenzüberschreitende Transaktionen fallen in den Anwendungsbereich des Vorschlags und werden nach Art der meldepflichtigen Kryptowerte aggregiert.

2.7.

Finanzinstitute sind verpflichtet, E-Geld und digitale Zentralbankwährungen zu melden, und zugleich wird der Anwendungsbereich des automatischen Austauschs grenzüberschreitender Steuervorbescheide für vermögende Einzelpersonen ausgeweitet. Vermögende Einzelpersonen sind Personen, die einen Mindestbetrag von 1 000 000 EUR an finanziellem oder investitionsfähigem Vermögen oder verwaltetem Vermögen besitzen. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, mit anderen Mitgliedstaaten Informationen über grenzüberschreitende Vorbescheide auszutauschen, die zwischen dem 1. Januar 2020 und dem 31. Dezember 2025 erteilt, geändert oder erneuert wurden.

2.8.

Der Vorschlag schränkt die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten zur Festlegung ihres eigenen Vollzugssystems nicht ein. Für die schwerwiegendsten Verstöße, beispielsweise bei unterlassener Meldung trotz amtlicher Mahnungen, werden gemeinsame Mindestsanktionen festgelegt und durchgesetzt.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt und unterstützt den Vorschlag der Kommission zur DAC 8 als wesentlichen Schritt zur Verbesserung und Ergänzung der DAC-Richtlinie auf der Grundlage der Empfehlungen des Europäischen Rechnungshofs, der Folgendes festgestellt hat: „Wenn ein Steuerpflichtiger Geld in elektronischen Kryptowährungen hält, ist die Plattform oder ein anderer elektronischer Anbieter, der Portfoliodienstleistungen für solche Kunden erbringt, nicht verpflichtet, entsprechende Beträge oder erzielte Gewinne den Steuerbehörden zu melden. Daher wird das in derartigen elektronischen Instrumenten gehaltene Geld weitestgehend nicht besteuert“ (5).

3.2.

Der EWSA hält die vorgeschlagenen Verbesserungen der DAC-Richtlinie für zielführend, um Verstöße gegen die Steuervorschriften durch Inhaber von Kryptowerten zu verhindern und so die Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuerhinterziehung und Steuervermeidung im Einklang mit mehreren Initiativen, die die Kommission in den letzten Jahren ergriffen hat, zu intensivieren.

3.3.

Der EWSA begrüßt die breit angelegte und weitreichende Konsultation, die die Kommission zu dem vorliegenden Vorschlag durchgeführt hat und an der alle Interessenträger sowie spezifische Zielgruppen aus der Branche beteiligt waren, die von der Kommission gesondert konsultiert wurden. Auch die Mitgliedstaaten konnten ihren Standpunkt äußern und riefen die Kommission auf, ihre Arbeiten eng mit denen der OECD abzustimmen. Trotz des hochtechnischen Charakters des Vorschlags wurde das Legislativverfahren durch die Konsultationen transparenter und aussagekräftiger.

3.4.

Der EWSA betont, dass globale Anstrengungen zur Regulierung von Kryptowerten und ihrer Verwendung von entscheidender Bedeutung sind, um die wachsenden weltweiten Probleme und Auswirkungen im Zusammenhang mit diesen Vermögenswerten wirksam anzugehen. In diesem Kontext sind die laufenden Arbeiten und die Verhandlungen auf der Ebene der OECD und der G20 zum Abschluss eines globalen Übereinkommens über die Transparenz von Kryptowährungen überaus wichtig. Der EWSA fordert die Kommission auf, auf internationaler Ebene eine führende Rolle zu übernehmen.

3.5.

Nach Auffassung des EWSA steht die Initiative der Kommission voll und ganz im Einklang mit dem Grundsatz der fairen und wirksamen Besteuerung. Diese ist ein Eckpfeiler der sozialen Marktwirtschaft in Europa, mit dem sichergestellt werden soll, dass jeder einen angemessenen Beitrag leistet und unabhängig von der Art der gehaltenen Vermögenswerte oder der Art der akzeptierten Zahlungen gleich und verhältnismäßig behandelt wird.

3.6.

Der EWSA stellt fest, dass eine bessere und wirksamere Besteuerung von Kryptowerten dazu beitragen wird, die Besteuerung auszuweiten und die nationalen Haushalte aufzustocken, wodurch zusätzliche Mittel für das Gemeinwohl und die Investitionsprioritäten der Kommission (grüner Wandel und Digitalisierung) bereitgestellt werden können.

3.7.

Der EWSA pflichtet der Kommission uneingeschränkt bei, dass mehr Transparenz die Diskrepanzen und die derzeitige ungerechtfertigte Differenzierung im Rechtsrahmen und in der Behandlung verringern wird, die „den Nutzern von Kryptowerten […] einen Vorteil gegenüber denjenigen [verschafft], die nicht in Kryptowerte investieren“, wodurch nicht nur die „angestrebte faire Besteuerung“ sondern auch die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts und gleiche Wettbewerbsbedingungen beeinträchtigt werden.

3.8.

Der EWSA befürwortet, dass sowohl Artikel 113 AEUV (auf dessen Grundlage die ausgetauschten Informationen auch für Mehrwertsteuerzwecke verwendet werden können) als auch Artikel 115 AEUV als gemeinsame Rechtsgrundlage für den Vorschlag dienen. Die in Artikel 115 verankerte Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich auf das Funktionieren des Binnenmarkts auswirken, ist für den vorliegenden Fall tatsächlich relevant, da Kryptowerte für mehrere Zwecke verwendet werden können. Daher sollten Unterschiede sowohl im allgemeinen Rechtsrahmen als auch in den Durchsetzungsinstrumenten im gesamten Binnenmarkt vermieden werden, da sie seine Konsolidierung beeinträchtigen könnten.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA ermutigt die Kommission und die Mitgliedstaaten, in den vorliegenden Vorschlag Meldepflichten für natürliche Personen aufzunehmen, die Kryptowerte halten. Dies würde die Wirksamkeit des Vorschlags erhöhen und seinen Anwendungsbereich ausweiten.

4.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass ein Meldesystem mit Angabe der Steueridentifikationsnummer die wirksamste Methode zur Einhaltung der Vorschriften und zur Gewährleistung ihrer Wirksamkeit ist. Aus diesem Grund unterstützt der EWSA nachdrücklich den Vorschlag der Kommission zur Steueridentifikationsnummer, da er die Wirksamkeit des Vorschlags erhöht. Dank dieses einzigartigen Identifikationscodes lassen sich Fehler vermeiden. Dies trägt zur Rechtssicherheit und zur Berechenbarkeit des Systems bei.

4.3.

Der EWSA stellt fest, dass die meisten Mitgliedstaaten bereits über Rechtsvorschriften oder zumindest administrative Leitlinien für die Besteuerung von Einkünften aus Kryptoanlagen verfügen, den zuständigen Behörden jedoch häufig die erforderlichen Informationen fehlen, um diese in der Praxis anzuwenden. Deshalb können Rechtssicherheit und Klarheit nur dadurch gewährleistet werden, dass einzelstaatliche Unzulänglichkeiten durch eine EU-Rechtsetzungsinitiative angegangen werden, mit der eine wirksame und effiziente Zusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden gefördert werden soll.

4.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Meldepflichten nicht nur auf Wechselgeschäfte und Übertragungen von Kryptowerten beschränkt sein sollten, sondern aus Gründen der Transparenz und Sicherheit zumindest in dieser Anfangsphase auch auf die gesamten gehaltenen Kryptowertbestände ausgeweitet werden sollten, wobei selbstverständlich nur tatsächliche Gewinne zu besteuern sind.

4.5.

Der EWSA unterstreicht, dass es wirkungsvolle und verhältnismäßige Sanktionen geben muss. Es sollte aber den Mitgliedstaaten überlassen bleiben, die genaue Höhe der jeweils zu verhängenden Sanktionen zu bestimmen. Mindestschwellen könnten die neuen Vorschriften über die Besteuerung von Kryptowährungen wirksamer machen. Der EWSA hofft, dass die Sanktionen und Maßnahmen zur Durchsetzung der Vorschriften ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Wirksamkeit der Vorschriften und einer angemessenen Abschreckung einerseits und der Verhältnismäßigkeit andererseits ermöglichen werden. Die Verhältnismäßigkeit könnte z. B. durch eine angemessene Berücksichtigung der Zahl der von einem Unternehmen durchgeführten Transaktionen, die mit einem Verstoß im Zusammenhang stehen, gewährleistet werden.

4.6.

Darüber hinaus sollte die Kommission nach der Umsetzung der Richtlinie über die von den Mitgliedstaaten eingeführten Sanktionsstrukturen Bericht erstatten und die notwendigen Änderungen des Sanktionssystems und der Maßnahmen zur Durchsetzung der Vorschriften benennen.

4.7.

Der EWSA betont, dass die im Richtlinienvorschlag enthaltenen spezifischen Datenschutzbestimmungen und -garantien im Einklang mit den Vorschriften und Grundsätzen der DSGVO stehen und sorgfältig und unter Einhaltung hoher Standards angewandt werden sollten, um die Grundrechte der Personen, deren Daten erhoben, ausgetauscht und gespeichert werden, umfassend zu schützen.

4.8.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten erneut auf, angemessen in ihre Steuerbehörden und anderen beteiligten Verwaltungen zu investieren, um sie so zu einer besseren Zusammenarbeit im Steuerbereich zu befähigen.

4.9.

Schließlich empfiehlt der EWSA der Kommission, in ihren Vorschlag die Verpflichtung zur Zusammenarbeit zwischen den in der jetzigen Fassung bereits genannten Steuerbehörden und jenen aufzunehmen, die für die Bekämpfung der Geldwäsche, der Finanzierung von illegalen Aktivitäten und Terrorismus zuständig sind. In den letzten Jahren gab es nämlich möglicherweise mehrere Fälle von Kryptoanlagen, die für illegale Zwecke und Geldwäsche verwendet wurden. In diesem Zusammenhang weist der EWSA erneut darauf hin, dass die Behörden, in diesem Fall die Steuerbehörden, angemessene Ressourcen in Bezug auf qualifiziertes Personal und hochwertige digitale Technologien und Standards benötigen.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Richtlinie 2011/16/EU vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. L 64 vom 11.3.2011, S. 1).

(2)  COM(2022) 707 final.

(3)  COM(2020) 593 final.

(4)  Crypto-Asset Reporting Framework and Amendments to the Common Reporting Standard, OECD, 8. Oktober 2022.

(5)  Europäischer Rechnungshof (2021), Austausch von Steuerinformationen in der EU: solide Grundlage, bei der Umsetzung hapert es jedoch. Der Informationsaustausch hat zwar zugenommen, doch einige Informationen werden noch immer nicht gemeldet.


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/59


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Künftige Richtlinie über strafrechtliche Sanktionen für den Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union“

(COM(2022) 249 final)

„Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Aufnahme des Verstoßes gegen restriktive Maßnahmen der Union in die Kriminalitätsbereiche nach Artikel 83 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“

(COM(2022) 247 final)

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Definition von Straftatbeständen und Sanktionen bei Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union“

(COM(2022) 684 final)

(2023/C 184/11)

Berichterstatter:

José Antonio MORENO DÍAZ

Befassung

Europäische Kommission, 26.7.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

8.3.2023

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

141/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Beschluss über die Aufnahme von Verstößen gegen Sanktionen in die Liste von Kriminalitätsbereichen nach Artikel 83 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union sowie den Richtlinienvorschlag zur Angleichung der Definitionen und Mindeststrafen in den nationalen Rechtsvorschriften für Verstöße gegen Sanktionen.

1.2.

Der EWSA bedauert jedoch, dass der oben genannte Beschluss angesichts des eingeleiteten Dringlichkeitsverfahrens nicht Gegenstand umfassender demokratischer Beratungen im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments war. Außerdem hegt der EWSA Bedenken, weil dem Richtlinienvorschlag der Kommission keine Folgenabschätzung vorausging. Überdies bedauert er, dass der EWSA im Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie zur Definition von Straftatbeständen und Sanktionen bei Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union nicht als konsultierter Interessenträger erwähnt wird.

1.3.

Der EWSA ersucht die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union, bei der Ausarbeitung der Richtlinie umfassendere Ausnahmeregelungen für humanitäre Hilfe vorzusehen und humanitäre Organisationen und humanitäres Personal von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auszunehmen, die einschlägigen Bestimmungen an die gängige internationale Praxis anzupassen und zugleich sicherzustellen, dass der Missbrauch für kriminelle oder politische Zwecke durch geeignete Mechanismen verhindert wird.

1.4.

Der EWSA unterstützt die Aufnahme angemessener Garantien und Schutzmechanismen für Hinweisgeber und Journalisten, die Versuche einer Umgehung von Sanktionen öffentlich bekannt machen. Diese Akteure sollten unter die genannten Ausnahmeregelungen fallen.

1.5.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union nachdrücklich auf, dafür zu sorgen, dass der Privatsektor und die Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Anpassung an die neuen Rechtsvorschriften und bei der Einhaltung der neuen Anforderungen angemessen informiert und proaktiv unterstützt werden.

1.6.

Der EWSA ersucht die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union zu gewährleisten, dass nicht nur eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften gefördert wird, sondern die Mitgliedstaaten auch mit angemessenen Verwaltungskapazitäten, Finanzmitteln und geschultem Personal ausgestattet werden, um Verstöße gegen Sanktionen aufdecken, strafrechtlich verfolgen und ahnden zu können. Dies könnte durch die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten mittels Austausch bewährter Verfahren bei der Aufdeckung und Strafverfolgung unterstützt werden.

1.7.

Der EWSA begrüßt, dass in dem Richtlinienvorschlag nachdrücklich die Einhaltung des Rückwirkungsverbots verlangt wird, und betont, dass die Rechte von Beschuldigten auf ein ordnungsgemäßes Verfahren und andere Menschenrechtsgarantien gewährleistet sein müssen.

1.8.

Schließlich ist der EWSA besorgt, dass häufige und so gravierende Straftaten wie geschlechtsspezifische Gewalt und Hassdelikte nicht als „EU-Straftaten“ eingestuft werden und nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 83 Absatz 1 AEUV fallen, und betont, dass geopolitische Erfordernisse nicht Vorrang vor dem Schutz und dem Wohlergehen unserer Bürgerinnen und Bürger haben sollten.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

Außenpolitische Sanktionen (bzw. im EU-Jargon „restriktive Maßnahmen“) werden vom Rat der Europäischen Union im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) beschlossen und in Form verbindlicher Rechtsvorschriften mit unmittelbarer Wirkung in allen EU-Mitgliedstaaten erlassen.

2.2.

Während solche Rechtsvorschriften auf zentraler Ebene erlassen werden und in der gesamten EU gelten, erfolgt die Um- und Durchsetzung von Sanktionen dezentral. Für die Überwachung der Einhaltung von Verboten durch Unternehmen und Bürger, die Gewährung von Ausnahmen, die Festlegung von Sanktionen aufgrund von Verstößen sowie die Ermittlung und Verfolgung solcher Verstöße sind somit die Behörden der Mitgliedstaaten zuständig. Dies gilt für alle Sanktionen mit Ausnahme von Einreiseverboten, die unmittelbar in den direkten Zuständigkeitsbereich der einzelstaatlichen Behörden fallen.

2.3.

Der dezentrale Ansatz bei der Umsetzung von EU-Sanktionen führt zu einer Fragmentierung (1), da sich die Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Begriffsbestimmungen und den Geltungsbereich von Verstößen gegen Sanktionen und deren möglicher Ahndung unterscheiden. Auch bei den Verwaltungskapazitäten für Ermittlungen bestehen Unterschiede. Darüber hinaus verfügen die einzelnen nationalen Behörden über einen großen Ermessensspielraum, wenn es darum geht, über die Gewährung einer Ausnahme aus humanitären Gründen zu befinden.

2.4.

Studien haben bestätigt, dass bei der Umsetzung und Durchsetzung von Sanktionen in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede bestehen (2). Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Europäischen Netzes von Anlaufstellen betreffend Personen, die für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verantwortlich sind, („Genozid-Netz“) zeigte ferner auf, dass es im Hinblick auf die Ahndung von Verstößen gegen Sanktionen beträchtliche Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten gibt (3).

2.5.

Die Kommission verfügt in dieser Hinsicht über gewisse Aufsichtsbefugnisse. So stellt sie sicher, dass alle Mitgliedstaaten ihren sich aus EU-Sanktionsregelungen ergebenden Verpflichtungen nachkommen und beispielsweise über angemessene Sanktionen verfügen. Wie auch in anderen EU-Politikbereichen ist die Kommission hierbei befugt, Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten einzuleiten, die diesen Verpflichtungen nicht nachkommen. Bis dato wurden derartige Maßnahmen allerdings noch nicht ergriffen. Die Kommission unterstützt die Umsetzung von Sanktionen ferner durch die Herausgabe von Leitlinien, z. B. für die Gewährung von Ausnahmen.

2.6.

Zwar liegen die inhärenten Fragmentierungsrisiken des Systems auf der Hand, doch hat die Kommission erst vor Kurzem erste Maßnahmen (4) zur Verbesserung der Umsetzung und Durchsetzung von EU-Sanktionen eingeleitet. Zwar gehen die neuen Maßnahmen der Kommission in diesem Bereich auf den Zeitraum vor der Invasion Russlands in der Ukraine im Februar 2022 zurück, doch hat die Stärkung der Umsetzung und Durchsetzung von Sanktionen angesichts der Sanktionswelle infolge dieser Invasion zusätzlich an Bedeutung gewonnen.

2.7.

In dem Beschluss (EU) 2022/2332 des Rates (5) wird der Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union als ein die Kriterien nach Artikel 83 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union erfüllender Kriminalitätsbereich (gemeinhin auch als „EU-Straftaten“ bezeichnet) definiert. Dies ermöglicht es der Kommission, Rechtsvorschriften zur Angleichung der in den Mitgliedstaaten geltenden Definitionen von Straftaten und Sanktionen vorzuschlagen (6).

2.8.

Dieser Vorschlag ist gerechtfertigt, da solche Verstöße zu einer Bedrohung von Frieden, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten in Drittländern führen können und häufig eine grenzüberschreitende Dimension aufweisen. Konkret stellt der Verstoß gegen Sanktionen einen „Bereich besonders schwerer Kriminalität [dar], der den Weltfrieden und die internationale Sicherheit dauerhaft bedrohen, die Festigung und Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten untergraben und erheblichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Schaden verursachen kann“ (7). Die derzeitigen Umstände ermöglichen es Privatpersonen und Unternehmen, die Sanktionen umgehen wollen, die für sie günstigste Option auszuwählen, und sie behindern die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen für die EU-Wirtschaftsteilnehmer.

2.9.

Der Rat der Europäischen Union hat am 30. Juni 2022 ein Einvernehmen über den Text erzielt und das Europäische Parlament um Zustimmung zu dem Entwurf eines Beschlusses des Rates über die Feststellung des Verstoßes gegen restriktive Maßnahmen der Union als einen die Kriterien nach Artikel 83 Absatz 1 AEUV erfüllenden Kriminalitätsbereich (8) ersucht. Das Europäische Parlament stimmte diesem Entwurf am 7. Juli 2022 im Wege eines Dringlichkeitsverfahrens zu (9). Die Annahme des Beschlusses erfolgte am 28. November 2022 (10).

2.10.

Die Kommission hat am 2. Dezember 2022 den Entwurf einer Richtlinie vorgelegt, in dem die Festlegung von Mindestvorschriften für die Definition von Straftaten und von Strafen für Verstöße gegen Sanktionen vorgeschlagen wird (11).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die Anerkennung von Verstößen gegen Sanktionen als Kriminalitätsbereich nach Artikel 83 Absatz 1 AEUV trägt zu einer EU-weiten Harmonisierung der Einstufung von Sanktionsverstößen als Straftatbestand und der damit verbundenen Strafen sowie zu einer besseren Umsetzung und Durchsetzung von Sanktionen bei und stellt daher eine positive Entwicklung dar.

3.2.

Der EWSA ersucht die Europäischen Kommission, das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union, den im Folgenden dargelegten Bedenken bei der Ausarbeitung und dem Erlass der vorgeschlagenen Richtlinie sowie anderer materieller Sekundärrechtsakte zur Festlegung von Mindestvorschriften für die Definition von Straftaten und die Strafen für Verstöße gegen Sanktionen Rechnung zu tragen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Das Europäische Parlament hat dem Entwurf eines Ratsbeschlusses im Wege eines Dringlichkeitsverfahrens zugestimmt. Es hat seine Zustimmung folglich ohne vorherige Beratung durch den Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) erteilt. Die Annahme des Vorschlags ist angesichts der geopolitischen Entwicklungen äußerst dringlich, dieser Umstand entbindet jedoch nicht von der Notwendigkeit, Legislativvorschläge einer angemessenen demokratischen Kontrolle zu unterziehen. Die Standards der demokratischen Rechenschaftspflicht müssen aufrechterhalten werden. Der EWSA weist erneut darauf hin, wie wichtig es ist, dass das Europäische Parlament den aktuell zur Diskussion vorliegenden Vorschlag für eine Richtlinie zur Festlegung von Mindestvorschriften für die Definition von Straftaten und die Strafen für Verstöße gegen Sanktionen angemessen prüft.

4.2.

In dem Richtlinienvorschlag wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Kommission von der Durchführung einer Folgenabschätzung abgesehen hat, wobei auf die „dringende[…] Notwendigkeit, die an Verstößen gegen restriktive Maßnahmen der Union beteiligten natürlichen und juristischen Personen zur Rechenschaft zu ziehen“, verwiesen wird (12). Zwar hält der EWSA eine zügige Annahme der Richtlinie über strafrechtliche Sanktionen für den Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union für sinnvoll, doch rechtfertigt die relative Dringlichkeit einer Harmonisierung von Definitionen und Strafen nicht den Verzicht auf die im Zuge der Ausarbeitung einer Richtlinie üblicherweise vorgesehene Folgenabschätzung. Dies gilt umso mehr, als die an Verstößen gegen restriktive Maßnahmen der Union beteiligten natürlichen und juristischen Personen bereits nach den geltenden nationalen Rechtsvorschriften zur Rechenschaft gezogen werden können. Verzögerungen bei der Annahme der Richtlinie würden folglich nicht dazu führen, dass Verstöße unbestraft bleiben. Der EWSA spricht sich daher für die Durchführung einer ordnungsgemäßen Folgenabschätzung aus und plädiert für eine zügige Umsetzung der Richtlinie nach ihrer Annahme.

4.3.

Zwar begrüßt der EWSA die umfassenden Konsultationen, die die Kommission mit einem breiten Spektrum von Interessenträgern durchgeführt hat. Er bedauert jedoch, dass der EWSA im Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie zur Definition von Straftatbeständen und Sanktionen bei Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union nicht als konsultierter Interessenträger erwähnt wird.

4.4.

Die Bemühungen zur Aufdeckung, Verfolgung und Ahndung von Verstößen gegen Sanktionen müssen mit entsprechenden Anstrengungen zur Information der Wirtschaftsteilnehmer und zivilgesellschaftlichen Akteure über die Umsetzung von Sanktionen einhergehen. Mängel bei der Umsetzung von Sanktionen sind häufig darauf zurückzuführen, dass Interessenträger im Privatsektor trotz einschlägiger Bemühungen nationaler Agenturen nicht hinreichend sensibilisiert sind (13). Es sollte berücksichtigt werden, dass es sich bei den meisten Wirtschaftsteilnehmern in der EU um kleine und mittlere Unternehmen (KMU) handelt, die mit ihren sich aus Sanktionsregelungen ergebenden Pflichten häufig nicht vertraut sind, da Sanktionen in der Vergangenheit nur selten in Form wirtschaftlicher Maßnahmen erlassen wurden (14). Der EWSA begrüßt die aktuellen Bemühungen der Kommission, die Wirtschaftsteilnehmer besser zu unterstützen (15), und spricht sich dafür aus, diese fortzusetzen.

4.5.

Es sollten angemessene Vorkehrungen getroffen werden, um in Ländern, gegen die Sanktionen verhängt wurden, die Fortführung humanitärer Maßnahmen zu gewährleisten. Die rechtlichen Folgen etwaiger Verstöße gegen Sanktionen sind für humanitäre Akteure, die in mit drastischen Sanktionen belegten Gebieten Hilfsleistungen erbringen, weiter ein großes Problem (16). Diese Akteure weisen immer wieder darauf hin, dass sie nur schwer gewährleisten können, dass sie im Zuge ihrer Hilfstätigkeiten nicht gegen geltende Sanktionsregelungen verstoßen. Ferner machen sie regelmäßig darauf aufmerksam, dass sie von den Kriegsparteien mit den westlichen Sanktionen in Verbindung gebracht werden, worunter ihre Arbeit leidet (17). Nach der kürzlich angenommenen Resolution 2664 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom Dezember 2022 (18), die eine allgemeine Ausnahmeregelung für die Bereitstellung von Finanzmitteln und Dienstleistungen für humanitäre Organisationen (19) vorsieht und von den US-Behörden rasch umgesetzt wurde (20), wird das Festhalten an zu eng gefassten humanitären Klauseln in den EU-Rechtsvorschriften zu einem auffälligen Ausnahmefall. Um sicherzustellen, dass künftige Sanktionsregelungen humanitäre Maßnahmen nicht behindern, sollte der Richtlinienvorschlag deutlicher ausformuliert werden. Aktuell ist lediglich „die Bereitstellung humanitärer Hilfe an Bedürftige“ (21) von der Kriminalisierung ausgenommen. Der EWSA spricht sich für die Einführung einer umfassenderen Ausnahmeregelung für humanitäre Hilfe aus, mit der sämtliche Mitarbeiter unparteiischer humanitärer Organisationen von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit Sanktionsregelungen der EU ausgenommen werden. Mit einer solchen Klausel würde der Rechtsrahmen der EU für Sanktionen mit dem humanitären Völkerrecht in Einklang gebracht. Zugleich muss ein Missbrauch für kriminelle oder politische Zwecke durch geeignete Mechanismen verhindert werden. Der Schutz humanitärer Akteure sollte sich auch auf investigative Journalisten erstrecken.

4.6.

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Umsetzung der Richtlinie nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Erlasses von Rechtsvorschriften zu überwachen, sondern auch darauf zu achten, dass ausreichende administrative, finanzielle, technische und personelle Kapazitäten sowie angemessene Schulungen zur Verfügung stehen, damit die nationalen Verwaltungs-, Justiz- und Strafverfolgungsbehörden die neuen Rechtsvorschriften inhaltlich umsetzen können. Stehen Ausrüstung, Personal und finanzielle Mittel nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung, kann das Ziel, Verstöße aufzudecken, strafrechtlich zu verfolgen und zu ahnden, allein durch eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften wahrscheinlich nicht erreicht werden. Darüber hinaus fordert der EWSA die Kommission auf, Kriterien für die Überwachung festzulegen, um den Interessenträgern eine Orientierungshilfe zu geben.

4.7.

Ist aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung die Sicherstellung von Vermögenswerten möglich, so sollte ein beträchtlicher Teil der daraus erzielten Erlöse für Maßnahmen der Opferentschädigung bzw. — im Falle der aufgrund des Krieges Russlands gegen die Ukraine aktuell gegen russische Akteure verhängten Sanktionen — für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg aufgewandt werden. Der EWSA hat diese Forderung bereits in seiner Stellungnahme (22) zum Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie über die Abschöpfung und Einziehung von Vermögenswerten unterstützt. Der EWSA fordert die Kommission ferner auf, gemeinsam mit einschlägigen Organisationen der Zivilgesellschaft eine Definition von Opfern zu erarbeiten und Mechanismen zu konzipieren, über die Erträge aus der Umgehung von Sanktionen an Opfer fließen oder in soziale Maßnahmen investiert werden können, die solchen unmittelbar zugutekommen. Im Interesse der Rechenschaftspflicht spricht sich der EWSA für die Veröffentlichung der Daten zu sichergestellten Vermögenswerten und zu deren anschließender Verwendung und somit letztlich für mehr Transparenz aus.

4.8.

Die vorgeschlagene Richtlinie sollte ferner angemessene Bestimmungen zum Schutz von Hinweisgebern und investigativen Journalisten enthalten, die Praktiken zur Umgehung von Sanktionen aufdecken, da diese als „Frühwarnmechanismus“ eine wichtige Funktion erfüllen und daher geschützt werden müssen. In diesem Zusammenhang unterstützt der EWSA den Vorschlag der Kommission, den durch die Richtlinie (EU) 2019/1937 (23) gebotenen Schutz auch auf die Meldung von Verstößen gegen restriktive Maßnahmen der Union sowie auf die Personen auszuweiten, die solche Verstöße melden.

4.9.

Wie aus dem derzeitigen Wortlaut der Richtlinie hervorgeht, sollten gemäß dem Grundsatz „nulla poena sine lege“ Vorkehrungen zur Wahrung des Verbots der Rückwirkung strafrechtlicher Sanktionen getroffen werden. Der EWSA betont, dass die Rechte von Beschuldigten auf ein ordnungsgemäßes Verfahren sowie andere Menschenrechtsgarantien gewährleistet sein müssen.

4.10.

Schließlich bedauert der EWSA, dass einerseits Verstöße gegen Sanktionen im Wege eines zügigen Verfahrens als „EU-Straftaten“ anerkannt wurden, andererseits jedoch schwere und häufige Straftaten wie Hassdelikte und geschlechtsspezifische Gewalt nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 83 Absatz 1 AEUV fallen. Geopolitische Erfordernisse sollten nicht dazu führen, dass andere Straftaten, die für die Bürgerinnen und Bürger von unmittelbarer Bedeutung sind, vernachlässigt werden.

4.11.

Abschließend sei daran erinnert, dass mit der Harmonisierung von Sanktionen eine höhere Glaubwürdigkeit von im Rahmen der GASP verhängten Sanktionen erreicht werden soll. Vor diesem Hintergrund sollten die Mitgliedstaaten Visaverbote mit der von den Bürgerinnen und Bürgern und Wirtschaftsteilnehmern in der EU erwarteten Sorgfalt einhalten (24).

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Portela, C., „Implementation and Enforcement“, in Helwig, N. et al., Sharpening EU Sanctions Policy, FIIA Report 63, Finnisches Institut für Internationale Angelegenheiten. Vom Amt des finnischen Ministerpräsidenten in Auftrag gegebene Studie 2020, S. 107.

(2)  Druláková, R. und Přikryl, P., „The Implementation of Sanctions Imposed by the European Union“, in Central European Journal of International and Security Studies, 10(1), 2016, S. 134.

(3)  Genozid-Netz, Prosecution of sanctions (restrictive measures) violations in national jurisdictions: a comparative analysis, 2021.

(4)  Mitteilung der Europäischen Kommission: „Das europäische Wirtschafts- und Finanzsystem: Mehr Offenheit, Stärke und Resilienz“ (COM(2021) 32 final).

(5)  Beschluss (EU) 2022/2332 des Rates vom 28. November 2022 über die Feststellung des Verstoßes gegen restriktive Maßnahmen der Union als einen die Kriterien nach Artikel 83 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union erfüllenden Kriminalitätsbereich (ABl. L 308 vom 29.11.2022, S. 18).

(6)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Künftige Richtlinie über strafrechtliche Sanktionen für den Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union“ (COM(2022) 249 final).

(7)  Diese Formulierung aus der Kommissionsmitteilung COM(2022) 249 final, S. 4, findet sich wird auch in Erwägungsgrund 10 des Beschlusses des Rates (EU) 2022/2332 wieder (ABl. L 308 vom 29.11.2022, S. 18).

(8)  Rat der Europäischen Union, Pressemitteilung vom 30. Juni 2022.

(9)  Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments. TA/2022/0295.

(10)  ABl. L 308 vom 29.11.2022, S. 18.

(11)  Europäische Kommission: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Definition von Straftatbeständen und Sanktionen bei Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union (COM(2022) 684 final).

(12)  COM(2022) 684 final.

(13)  Druláková, R. und Zemanová, Š., „Why the implementation of multilateral sanctions does (not) work: lessons learned from the Czech Republic“, European Security, 29(4), 2020, S. 524.

(14)  Portela, C., „Sanctions in EU Foreign Policy“, in Helwig, N. et al., Sharpening EU Sanctions Policy, FIIA Report 63, Finnisches Institut für Internationale Angelegenheiten. Vom Amt des finnischen Ministerpräsidenten in Auftrag gegebene Studie, 2020, S. 23.

(15)  Beschluss (GASP) 2022/1506 des Rates vom 9. September 2022 über eine Maßnahme der Europäischen Union zur Unterstützung der Entwicklung von Instrumenten der Informationstechnologie, um die Verbreitung von Informationen über restriktive Maßnahmen der Union zu verbessern (ABl. L 235 vom 12.9.2022, S. 30).

(16)  Portela, C., „What if … the EU made sanctions compatible with humanitarian aid?“, in Gaub, F. (Hg.), What if …? Fourteen Scenarios for 2021, EUISS, Paris, 2020.

(17)  Debarre, A., „Safeguarding Humanitarian Action in Sanctions Regimes“, International Peace Institute, New York, 2019.

(18)  Resolution 2664 der Vereinten Nationen, S/RES/2664(2022).

(19)  In Ziffer 1 von S/RES/2664(2022) heißt es, dass Bereitstellungen von Finanzmitteln, Gütern und Dienstleistungen, die für das rasche Leisten humanitärer Hilfe durch die Vereinten Nationen, durch Nichtregierungsorganisationen oder durch andere Akteure, die von den einzelnen vom Sicherheitsrat eingerichteten Ausschüssen hinzugefügt werden, notwendig sind, „erlaubt sind und keinen Verstoß gegen das vom Rat oder seinen Sanktionsausschüssen verhängte Einfrieren der Vermögenswerte darstellen“.

(20)  US-Finanzministerium, Pressemitteilung, Treasury Implements Historic Humanitarian Sanctions Exceptions, 20. Dezember 2022.

(21)  COM(2022) 684 final.

(22)  ABl. C 100 vom 16.3.2023, S. 105.

(23)  Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (ABl. L 305 vom 26.11.2019, S. 17).

(24)  Mangas Martin, A., „Sobre la vinculatoriedad de la PESC y el espacio aéreo como territorio de un estado (Comentario al auto del TS español de 26 de noviembre de 2020, sala de lo penal“ (Zur Verbindlichkeit der GASP und des Luftraums als Hoheitsgebiet, Kommentar zum Beschluss des Obersten Gerichtshofs Spaniens (TS) vom 26. November 2020, Strafkammer), Revista General de Derecho Europeo, 53, 2021.


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/64


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Rates für ein angemessenes Mindesteinkommen zur Gewährleistung einer aktiven Inklusion“

(COM(2022) 490 final — 2022/0299 (NLE))

(2023/C 184/12)

Berichterstatter:

Jason DEGUARA und Paul SOETE

Befassung

Europäische Kommission, 25.11.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

8.3.2023

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

143/00/08

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Inhalt der Empfehlung, insbesondere die Anwendung realistischer und ausreichender Kriterien für die Angemessenheit des Mindesteinkommens und den Zugang zu Leistungen, seine gesetzliche Garantie und die Berichterstattungsmodalitäten, die weitere Anerkennung der Notwendigkeit einer aktiven Sozialpolitik auf EU-Ebene durch die Europäische Kommission sowie weitere Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut in der gesamten EU.

1.2.

Es bedarf eines rechtebasierten Ansatzes für alle für ein angemessenes Mindesteinkommen, bei dem niemand zurückgelassen wird und keine übermäßig restriktiven Kriterien aufgestellt werden. Zudem muss das Mindesteinkommen genau bemessen werden, wenn es Wirkung entfalten soll.

1.3.

Die Bekämpfung von Armut und Einkommensungleichheit ist nicht nur aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch für die Förderung des Wirtschaftswachstums wichtig. Diesbezüglich ist auch auf die insgesamt stabilisierende Wirkung von Mindesteinkommenssystemen für die Wirtschaft hinzuweisen.

1.4.

Das Recht der Mitgliedstaaten, die Grundsätze ihrer Sozialsysteme festzulegen, die einander ergänzenden Zuständigkeiten der EU und der Mitgliedstaaten sowie die uneingeschränkte Nutzung der Instrumente des EU-Vertrags sollten die Leitprinzipien für alles Handeln der EU im Bereich des Sozialschutzes sein.

1.5.

Hochwertige und nachhaltige Beschäftigung ist der beste Weg aus der Armut und der sozialen Ausgrenzung. Gleichzeitig trägt eine höhere Erwerbsquote auf einem inklusiven Arbeitsmarkt, der hochwertige Arbeitsplätze bietet, zur Finanzierung und Nachhaltigkeit der Sozialsysteme bei.

1.6.

Derzeit beruhen die Festsetzung und die Höhe der Mindesteinkommensleistungen in vielen Mitgliedstaaten weder auf einer soliden Methode noch auf statistisch untermauerten Indikatoren, die für ein Leben in Würde stehen. Als erstes gilt es, eine solche Methode einzuführen und dabei die unterschiedlichen Einkommensquellen und die Situation der einzelnen Haushalte zu berücksichtigen.

1.7.

Der EWSA betont, dass die Mindesteinkommen an die Entwicklung der Inflation angepasst werden müssen, insbesondere angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten in Bezug auf Nahrungsmittel und Energie, und dass diese Anpassung regelmäßig erfolgen sollte. Organisationen der Zivilgesellschaft, die Sozialpartner und Wohlfahrtsorganisationen sollten hierfür hinzugezogen werden.

1.8.

Um die Ziele dieser Empfehlung zu erreichen, muss die Umsetzung der Maßnahmen zur Einkommensstützung und anderer Sozialschutzmaßnahmen, die eine aktive Inklusion sicherstellen, kontinuierlich überwacht werden. Die Fortschrittsberichte der Mitgliedstaaten sollten unter Beteiligung einschlägiger zivilgesellschaftlicher und Wohlfahrtsorganisationen und der Sozialpartner erstellt werden, bzw. ihre Berichte sollten im Sinne der Empfehlung des Rates regelmäßig im Rahmen des Überwachungsmechanismus der Kommission behandelt werden.

2.   Einleitung

2.1.

Trotz einiger Fortschritte, die seit Beginn des Jahrhunderts bei der Verringerung von Armut und sozialer Ausgrenzung in der EU erzielt wurden, waren 2021 immer noch über 95,4 Millionen Menschen von Armut bedroht.

2.2.

Das Armutsrisiko für Menschen, die in Haushalten (quasi) ohne Erwerbseinkommen leben, und das Ausmaß sowie die Dauer der Armut haben in vielen Mitgliedstaaten zugenommen, wobei das Risiko für Frauen höher liegt als für Männer. Ziel der EU ist es, bis 2030 die Zahl der von Armut bedrohten Menschen um mindestens 15 Millionen zu verringern.

2.3.

Langfristig wird sich die demografische Entwicklung erheblich auf die Wirtschaft auswirken, da die Erwerbsbevölkerung schrumpfen und eine rasch alternde Bevölkerung zusätzlichen Druck auf die öffentlichen Finanzen und die Finanzierung von Mindesteinkommensregelungen ausüben wird.

2.4.

Der aktuelle Kontext der politischen Einigung im Rat (der Krieg in der Ukraine, der Anstieg der Energiepreise und der Anstieg der Inflation) ist mit noch größeren Herausforderungen verbunden. Der IWF geht davon aus, dass die Inflation in diesem Jahr weltweit 8,8 % und 2023 6,5 % betragen wird.

2.5.

Alleinerziehende machen weniger als 15 % der Familien in der EU aus, haben aber ein wesentlich höheres Armuts- und Erwerbslosigkeitsrisiko. Selbst eine Vollzeitbeschäftigung schützt Alleinerziehende nicht vor dem Armutsrisiko. Bei Doppelverdienerhaushalten in Vollzeitbeschäftigung, die normalerweise nicht von Armut bedroht sind, besteht dennoch ein Armutsrisiko, wenn sie mehr als zwei Kinder haben (1).

2.6.

Mindesteinkommensleistungen sind bedarfsabhängige Leistungen, die als letztes Auffangnetz fungieren und erwerbsfähigen Arbeitslosen gewährt werden und mit ausreichenden Anreizen für den (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt verbunden sind. In der Regel fordert das jeweilige nationale System eine Prüfung des verfügbaren Einkommens in Verbindung mit einer Bedürftigkeitsprüfung. Die Mindesteinkommensregelungen sind vor dem Hintergrund der nationalen Kontexte und Traditionen sowie generell der Sozialschutzsysteme der einzelnen Mitgliedstaaten zu sehen.

2.7.

In Bezug auf die Höhe und Zusammensetzung des Mindesteinkommens bestehen zwischen den Sozialstaaten generell und auch in der EU große Unterschiede. Wie aus den Studien der Kommission hervorgeht, unterscheidet sich die Arbeitsmarktsituation der Bezieher von Mindesteinkommen in den einzelnen Mitgliedstaaten erheblich.

2.8.

In keinem Land gibt es derzeit eine angemessene Einkommensunterstützung für arbeitslose Familien zur Vermeidung von Armutsrisiken. 20 % der Arbeitslosen haben keinerlei Anspruch auf Einkommensunterstützung. Ein anderes Problem ist, dass das Mindesteinkommen nicht in Anspruch genommen wird. Schätzungen zufolge betrifft dies 30 % bis 50 % der Anspruchsberechtigten.

2.9.

Die Einkommenskomponenten, die bei der Analyse des Mindesteinkommensniveaus zu berücksichtigen sind, sind Löhne, Sozialhilfeleistungen, Kindergeld (das häufigste Zusatzeinkommen), Wohngeld, Energiezulagen und Gesundheitsbeihilfen sowie andere Leistungen wie Sachleistungen, die alle nach Steuern und Sozialabgaben gemessen werden.

2.10.

Zum Mindesteinkommen gibt es auf europäischer Ebene folgende Maßnahmen und Instrumente:

Empfehlung 92/441/EG des Rates und Empfehlung 2008/867/EG zur aktiven Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen,

Grundsatz 14 (2) der europäischen Säule sozialer Rechte und andere Grundsätze der Säule, wie die Grundsätze der „aktiven Unterstützung für Beschäftigung“, des „Sozialschutzes“, des „Zugangs zu essenziellen Dienstleistungen“, der „allgemeinen und beruflichen Bildung und des lebenslangen Lernens“ und der „Chancengleichheit“,

das Europäische Semester, das einen Rahmen für einschlägige Überwachungs- und Koordinierungsmaßnahmen auf der Grundlage des EU-Benchmarking-Rahmens des Ausschusses für Sozialschutz des Rates bietet,

die Schlussfolgerungen des Rates aus dem Jahr 2020 zur Stärkung der Mindestsicherung zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung in der COVID-19-Pandemie und darüber hinaus, in denen die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, ihre nationalen Mindesteinkommensregelungen zu überprüfen (3),

Beschäftigungspolitische Leitlinien 2022.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Armut hat viele unterschiedliche Facetten und zeigt sich in allen Lebensbereichen. Armut spiegelt das Versagen der Systeme für eine ausgewogene und gerechte Umverteilung von Ressourcen und Chancen wider. Eine Mindesteinkommensregelung ist deshalb eine notwendige, wenn auch nicht ausreichende Voraussetzung, um ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und einen gangbaren Weg aus der Armut zu eröffnen. Armut überschneidet sich mit anderen Formen sozialer Ungerechtigkeit. Geschlechtsspezifische und rassistisch bedingte Ungleichheiten verschärfen das Armutsrisiko, während Armut das Risiko von Ausgrenzung und Diskriminierung erhöht, was insbesondere in den Bereichen Gesundheit, allgemeine und berufliche Bildung, finanzielle Abhängigkeit und Gewalt zum Ausdruck kommt.

3.2.

Der EWSA begrüßt den Inhalt der Empfehlung, insbesondere die Anwendung realistischer und ausreichender Kriterien für die Höhe des Mindesteinkommens und den Zugang zu Leistungen, seine gesetzliche Garantie und die Berichterstattungsmodalitäten, die weitere Anerkennung der Notwendigkeit einer aktiven Sozialpolitik auf EU-Ebene durch die Europäische Kommission und weitere Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut in der gesamten EU. Die Empfehlung ist ein Schritt zur Umsetzung von Grundsatz 14 der europäischen Säule sozialer Rechte, der besagt: „Jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, hat in jedem Lebensabschnitt das Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen […]“.

3.3.

Infolge des rechtswidrigen und grausamen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine gestaltet sich der derzeitige Kontext für die politische Einigung im Rat vor dem Hintergrund des drastischen Anstiegs der Energiepreise und der hohen Inflationsrate, von der Haushalte, insbesondere einkommensschwache Familien, betroffen sind, noch schwieriger. Angesichts von Megatrends wie Globalisierung sowie digitalem, ökologischem und demografischem Wandel vollziehen sich auch auf den europäischen Arbeitsmärkten tiefgreifende Veränderungen. Mindesteinkommenssysteme spielen eine Schlüsselrolle, indem sie Unterstützung bieten und Anreize für die (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt schaffen.

3.4.

Es bedarf eines rechtebasierten Ansatzes für alle für ein angemessenes Mindesteinkommen, bei dem niemand zurückgelassen wird, keine übermäßig restriktiven Kriterien aufgestellt werden und das auf transparenten und nichtdiskriminierenden Anforderungen beruht. Zudem muss das Mindesteinkommen genau bemessen werden, wenn es Wirkung entfalten soll. Eine inklusive Gesellschaft sollte sich auf alle Bereiche erstrecken, und die Mitgliedstaaten sollten stabile Überwachungsmechanismen einführen, um das Mindesteinkommen und seine Inanspruchnahme ohne weitere Verzögerungen umzusetzen.

3.5.

Wirksame Mindesteinkommensregelungen können dazu beitragen, dass die Menschenrechte geachtet werden, Menschen in Würde leben können und ihnen dabei geholfen wird, aktiv und gesellschaftlich integriert zu bleiben und eine dauerhafte und gute Beschäftigung zu finden. Der EWSA betont ferner die Bedeutung von Mindesteinkommensregelungen für Selbstständige in Europa, die in vollem Umfang Anspruch auf die gleiche Unterstützung und Leistungen haben sollten wie andere Gruppen.

3.6.

Die Bekämpfung von Armut und Einkommensungleichheit ist nicht nur aus Gründen der Fairness, sondern auch für die Förderung des Wirtschaftswachstums wichtig. Wie im OECD-Bericht von 2021 (4) dargelegt, kann eine gut konzipierte Steuerpolitik ein inklusives und nachhaltiges Wachstum fördern und die Einkommens- und Vermögensverteilung beeinflussen. Integratives Wachstum sollte in diesem Zusammenhang darauf abzielen, dass die Gewinne des Wachstums gerecht geteilt werden und die Inklusivität der Arbeitsmärkte gefördert wird. Diesbezüglich ist auch auf die insgesamt stabilisierende Wirkung von Mindesteinkommenssystemen für die Wirtschaft hinzuweisen.

3.7.

Mindesteinkommensregelungen sollten Teil nationaler Strategien zur Armutsbekämpfung sein, die Maßnahmen zur Erreichung gerechter Löhne und guter Arbeit, Zugang zu erschwinglichen und hochwertigen essenziellen Dienstleistungen, Zugang zu einem sozialen Basisschutz und einer angemessenen Einkommensstützung, personenzentrierte Sozialdienste und aktive Eingliederungsmaßnahmen wirksam integrieren.

3.8.

Nach Auffassung des EWSA sollte das Ziel sein, auf der Grundlage einer europäischen Analyse eine EU-weit anwendbare Methode zu entwickeln, die den Mitgliedstaaten dabei hilft, die Angemessenheit des Mindesteinkommens anhand eines geeigneten Verfahrens wie des in der EU vereinbarten Indikators für Armutsgefährdung in Höhe von 60 % des verfügbaren Äquivalenzeinkommens zu bestimmen, und/oder anhand eines Referenzbudgets (bei dem etwa Kosten für Nahrungsmittel, Wohnraum, Wasser, Strom, Heizung, Telekommunikation, Gesundheit, Verkehr, Freizeit und Kultur berücksichtigt werden).

3.9.

Wie in den Erwägungsgründen der politischen Einigung des Rates dargelegt, ist eine hochwertige und nachhaltige Beschäftigung der beste Weg aus der Armut und der sozialen Ausgrenzung. Je mehr Menschen auf dem Arbeitsmarkt sind, desto besser ist die Finanzierung der Sozialschutzsysteme gewährleistet, da sie größtenteils beitragsfinanziert sind.

3.10.

Während die Mitgliedstaaten ihre Netze der sozialen Sicherheit im Laufe der Jahre unter Berücksichtigung der Leitlinien der Empfehlung 92/441/EWG des Rates aus- und umgebaut haben, bringen die Entwicklungen in der Wirtschaft, auf den Arbeitsmärkten und in der Gesellschaft in Europa neue Herausforderungen mit sich und machen eine Aktualisierung des europäischen Rahmens zur Bekämpfung von Einkommensungleichheiten und Armut erforderlich.

3.11.

Das Recht der Mitgliedstaaten, die Grundsätze ihrer Sozialsysteme festzulegen, die einander ergänzenden Zuständigkeiten der EU und der Mitgliedstaaten sowie die uneingeschränkte Nutzung der Instrumente des EU-Vertrags sollten die Leitprinzipien für alles Handeln der EU im Bereich des Sozialschutzes sein. Ferner müssen die bestehenden Mindesteinkommensregelungen im Hinblick auf die gesamten Sozialschutzregelungen der Mitgliedstaaten geprüft werden. Auf EU-Ebene besteht allerdings durchaus Handlungsspielraum für eine Unterstützung der Bemühungen der Mitgliedstaaten.

3.12.

Die Bekämpfung von Einkommensungleichheiten erfordert entschlossene Reformen, koordinierte Strategien und gezielte Maßnahmen der Mitgliedstaaten in einer Vielzahl von Politikbereichen, etwa bei Besteuerung und Sozialleistungssystemen, Lohnfestsetzungsmechanismen, Arbeitsanreizen, der allgemeinen und beruflichen Bildung, Chancengleichheit sowie dem Zugang für alle zu hochwertigen und erschwinglichen Dienstleistungen. Darüber hinaus ist ein nachhaltiges Wachstum auf der Grundlage gut funktionierender Märkte und wettbewerbsfähiger Unternehmen eine wesentliche Voraussetzung für alle Umverteilungssysteme.

3.13.

Der EWSA stimmt der Schlussfolgerung der Kommissionsdienststellen zu, dass sich Berufsberatung, individuelle Aktionspläne und die Einbeziehung von Aktivierungsmaßnahmen in das Mindesteinkommen positiv auf die Wahrscheinlichkeit der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auswirken.

3.14.

Der EWSA unterstreicht die Feststellung der Kommissionsdienststellen, dass ein Großteil der Bezieher von Mindesteinkommen nicht an aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnimmt, auch wenn sie in der Lage wären zu arbeiten. Während das Verhältnis zwischen den Anreizen insgesamt ausgewogen und der Bezug von Einkommensstützung stärker an Aktivierungsmaßnahmen geknüpft sein sollte, sollte besonderen Gruppen wie arbeitsmarktfernen oder von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten jungen Erwachsenen Aufmerksamkeit geschenkt werden.

3.15.

Das Europäische Netz gegen Armut (EAPN) hat Angemessenheit, Zugänglichkeit und einen unterstützenden Charakter als drei zentrale Kriterien für die Gestaltung von Mindesteinkommensregelungen herausgestellt:

Angemessenheit bedeutet ausreichend für ein Leben in Würde,

Zugänglichkeit konzentriert sich auf die Gewährleistung des Zugangs und einer umfassenden Absicherung für alle Menschen, die Mindesteinkommensregelungen benötigen,

der unterstützende Charakter bezieht sich auf die Verwendung von Parametern, die mit einem integrierten, personenzentrierten Paradigma der „aktiven Inklusion“ im Einklang stehen.

3.16.

In der politischen Einigung des Rates wird zu Recht hervorgehoben, dass ein unverhältnismäßiger Verwaltungsaufwand, mangelndes Wissen oder Angst vor Stigmatisierung oder Diskriminierung dazu führen können, dass Anspruchsberechtigte keinen Antrag auf ein Mindesteinkommen stellen.

3.17.

Sozialwirtschaftliche Unternehmen sowie kleine und mittlere Unternehmen im Allgemeinen sind wichtig, insbesondere für den Einstieg in den Arbeitsmarkt. Der EWSA begrüßt den Aktionsplan für die Sozialwirtschaft und fordert die Kommission auf, die besten Projekte auf geeigneter Ebene zu bewerten.

3.18.

Besondere Aufmerksamkeit sollte bestimmten Gruppen wie Alleinerziehenden, Migrantenfamilien, jungen Menschen, Menschen mit Behinderungen und Roma gewidmet werden.

3.19.

Viele Rentnerinnen und Rentner sind heute auf ein Mindesteinkommen angewiesen, da ihre Rente zu gering ist. Wenn sie nicht arbeiten können, haben sie keine Möglichkeit, wieder in den Arbeitsmarkt zurückkehren, um ihr Einkommen aufzustocken. Sie benötigen ein Rentensystem, das ihnen eine angemessene Rente bietet, damit sie nicht auf Mindesteinkommensleistungen angewiesen sind. Da die demografische Entwicklung in den Mitgliedstaaten darauf hindeutet, dass die Zahl der Rentnerinnen und Rentner in Zukunft steigen wird, ist es wichtig, dass die nationalen Rentensysteme angemessene Renten sicherstellen.

3.20.

Der EWSA schlägt vor, dass die Mitgliedstaaten die Höhe des Mindesteinkommens mindestens einmal jährlich prüfen und an die Inflation anpassen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.    Angemessenheit des Mindesteinkommens

4.1.1.

Derzeit beruhen die Festsetzung und die Höhe der Mindesteinkommensleistungen in vielen Mitgliedstaaten weder auf einer soliden Methode noch auf statistisch untermauerten Indikatoren. Als erstes gilt es, eine solche Methode einzuführen und dabei die unterschiedlichen Einkommensquellen und die Situation der einzelnen Haushalte zu berücksichtigen.

4.1.2.

Der EWSA stellt fest, dass in der Empfehlung verschiedene Methoden zur Festsetzung der Höhe des Mindesteinkommens vorgeschlagen werden: durch Bezugnahme auf die nationale Armutsgefährdungsschwelle, durch die Berechnung des Geldwerts der erforderlichen Güter und Dienstleistungen gemäß nationalen Definitionen oder durch Bezugnahme auf andere nationale Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten. Es können also auch Systeme in Betracht kommen, die mit Referenzbudgets arbeiten. Solche Systeme stützen sich auf einen national festgelegten Waren- und Dienstleistungskorb, der die Lebenshaltungskosten in einem bestimmten Mitgliedstaat bzw. sogar in einer Region widerspiegelt, und können als Orientierungshilfe für die Einschätzung der Angemessenheit dienen.

4.1.3.

Der EWSA betont, dass die Mindesteinkommen an die Entwicklung der Inflation angepasst werden müssen, insbesondere angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten in Bezug auf Nahrungsmittel und Energie, und dass diese Anpassung regelmäßig erfolgen sollte. In diesem Sinne ist die jährliche Überprüfung auf Ebene der Mitgliedstaaten eine klare Empfehlung.

4.1.4.

Referenzbudgets für Waren- und Dienstleistungskörbe müssen auf der Ebene der Mitgliedstaaten aufgestellt und auf europäischer Ebene koordiniert werden. Dies würde den Mitgliedstaaten dabei helfen, die Angemessenheit der Mindesteinkommensregelungen sicherzustellen. Der Waren- und Dienstleistungskorb muss unter anderem die Kosten für Wohnraum, Wasser, Energie, Telekommunikation, Nahrungsmittel, Gesundheit, Verkehr, Kultur und Freizeit umfassen. Regelungen, die eine genaue und rasche Anpassung an die realen Preise ermöglichen, sind von entscheidender Bedeutung, um die Angemessenheit zu gewährleisten, insbesondere in Krisenzeiten, die sich auf die Lebenshaltungskosten auswirken.

4.1.5.

Mindesteinkommensleistungen sollten nicht als Mittel zur Subventionierung von Niedriglöhnen missbraucht werden. Wenn eine Aufstockung für von Armut trotz Erwerbstätigkeit betroffene Personen geplant ist, sollte es sich um befristete und ergänzende Maßnahmen handeln. Unter Berücksichtigung der Vielfalt der Arbeitsformen sollten eine aktive Arbeitsmarktpolitik und eine angemessene Lohnpolitik zusammen mit unterstützenden Sozialversicherungs- und Steuersystemen gefördert und unterstützt werden, um hochwertige Arbeitsplätze und einen angemessenen Lebensstandard zu sichern. Für Menschen, die dauerhaft oder vollständig nicht in angemessener Weise beschäftigungsfähig sind, sollten so lange robuste Sicherheitsnetze vorgesehen werden, wie sie diese für ein Leben in Würde benötigen.

4.1.6.

Der EWSA begrüßt die Entscheidung, dass Beihilfen wie Leistungen bei Behinderungen nicht unter die Bedürftigkeitsprüfung fallen, nach der entschieden wird, ob Anspruch auf Mindesteinkommensleistungen besteht, da diese Beihilfen für zusätzliche Kosten aufgrund besonderer Bedürfnisse gedacht sind. Dies beweist unsere Sensibilität gegenüber denjenigen, die in unserer Gesellschaft wirklich Hilfe benötigen.

4.1.7.

Schutzbedürftige Familien und Alleinerziehende (vor allem Frauen) bedürfen besonderer Aufmerksamkeit, da für sie das Kindergeld sowie zugängliche Kinderbetreuungs- und sonstige Betreuungsangebote eine wesentliche ergänzende Rolle spielen.

4.1.8.

Angemessene, entweder gesetzlich oder tarifvertraglich festgelegte Mindestlöhne sind ein wertvolles Instrument zur Armutsbekämpfung. Die Umsetzung der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne wird sich positiv auf das Armutsrisiko für einen erheblichen Teil der Erwerbsbevölkerung auswirken, mit Sicherheit für alleinstehende Vollzeitbeschäftigte und für Doppelverdienerhaushalte. Die Sozialpartner sollten ermutigt werden, die Richtlinie durch Tarifverträge umzusetzen. Sobald die Richtlinie umgesetzt ist, könnte der Mindestlohn gegebenenfalls auch als Referenzgrundlage für das Mindesteinkommen herangezogen werden, solange das Mindesteinkommen auf dem Armutsniveau liegt.

4.1.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass Mindesteinkommensregelungen sowohl Geld- als auch Sachleistungen für Personen umfassen sollten, die nicht oder kaum arbeitsfähig sind.

4.1.10.

Lohnergänzungsleistungen können auch erheblich zur Integration von Nichterwerbstätigen in den Arbeitsmarkt beitragen (5).

4.1.11.

Das Ziel des Europäischen Rates, die Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen bis 2030 um 15 Millionen zu verringern, mag nicht nach einem allzu hohen Anspruch klingen. Dies muss jedoch als Mindestziel angesehen werden, wenn man berücksichtigt, dass einige Länder in Bezug auf die Angemessenheit derzeit noch bei unter 20 % liegen und lange Zeit benötigen werden, um die Ziele zu erreichen. Die Kommission weist darauf hin, dass in der Empfehlung ein Zeitraum für die schrittweise Umsetzung der für die Angemessenheit der Einkommensstützung relevanten Bestimmungen festgelegt wird. Bei den anderen Herausforderungen, wie Reichweite und Inanspruchnahme, sollten kürzere Fristen vorgesehen werden.

4.2.    Reichweite, Anspruchsberechtigung und Inanspruchnahme

4.2.1.

Derzeit haben durchschnittlich 20 % der Arbeitslosen keinen Anspruch auf Mindesteinkommensleistungen. Dies ist auf die Anspruchskriterien in Bezug auf das Mindestalter, die Dauer des Aufenthalts im Land, einen fehlenden festen Wohnsitz von Obdachlosen, die Familienzusammensetzung usw. zurückzuführen. Diese Lücken bei der Reichweite sollten von den Mitgliedstaaten angegangen werden. Problematisch ist auch die Kontinuität der Anspruchsberechtigung über verschiedene Lebensabschnitte und Tätigkeitsphasen hinweg. In jedem Fall sollten transparente und diskriminierungsfreie Zugangskriterien in den Mitgliedstaaten festgelegt werden.

4.2.2.

Die Gründe, warum Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, scheinen weitgehend bei der Verwaltung zu liegen, was ungerecht ist und angegangen werden sollte. Offenbar nehmen schätzungsweise 30 bis 50 % der Berechtigten in den Mitgliedstaaten die Mindesteinkommensregelungen nicht in Anspruch. Dieser Anteil erscheint sehr hoch und recht grob geschätzt. Die Mitgliedstaaten sollten aufgefordert werden, Informationen über die Nichtinanspruchnahme und die Gründe dafür zusammenzutragen, warum dieser Anteil so hoch ist. Der EWSA begrüßt nachdrücklich, dass in der politischen Einigung des Rates der Schwerpunkt auf die Förderung der umfassenden Inanspruchnahme des Mindesteinkommens durch eine Reihe von Maßnahmen gelegt wird, etwa die Verringerung des Verwaltungsaufwands, die Gewährleistung benutzerfreundlicher Informationen und Maßnahmen zur Bekämpfung der Stigmatisierung sowie proaktive Maßnahmen für Personen ohne ausreichende Mittel.

4.2.3.

Das Mindesteinkommen sollte ausdrücklich auch jungen Erwachsenen ab 18 Jahren und Migranten offenstehen. Da es sich beim Mindesteinkommen um eine beitragsunabhängige Leistung handelt, sollten mehrdeutige Formulierungen vermieden werden, was unter einer „angemessenen“ Dauer des Aufenthalts zu verstehen ist.

4.2.4.

Um die derzeitige Reichweite der Mindesteinkommensregelungen zu erfassen, sind auf EU-Ebene aufgeschlüsselte quantitative und qualitative Indikatoren nötig. Besondere Aufmerksamkeit sollte der Inanspruchnahme und der Wirksamkeit der Regelungen gewidmet werden, insbesondere in Bezug auf ausgegrenzte Gruppen, darunter Roma, Flüchtlinge und Obdachlose.

4.3.    Zugang zum Arbeitsmarkt

4.3.1.

Mindesteinkommenssysteme sollten mit starken Aktivierungsmaßnahmen für arbeitsfähige Menschen einhergehen, wobei Fälle zu berücksichtigen sind, in denen die Betroffenen für einen gewissen Zeitraum Pflege- und Betreuungsaufgaben wahrnehmen wollen. In jedem Fall sollte das Einkommen aus Arbeit nicht zur unverhältnismäßigen Reduzierung von Sozialleistungen führen, um die Motivation zur Erwerbstätigkeit nicht zu untergraben.

4.3.2.

Die Teilnahme an öffentlichen Beschäftigungsprogrammen und die Möglichkeiten im Bereich der Sozialwirtschaft sollten umfassend ausgebaut werden, insbesondere für die sozial schwächeren Gruppen.

4.3.3.

Für Langzeitarbeitslose und arbeitsfähige Nichterwerbstätige ist eine gezielte Unterstützung besonders wichtig. Lohnergänzungsleistungen können zusammen mit strukturellen Maßnahmen zur Erleichterung der Inklusion schwächerer Gruppen ihren Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtern, sollten aber befristet sein.

4.3.4.

Die Teilnahme an Aktivierungsprogrammen setzt voraus, dass geeignete Maßnahmen wie Programme für die schulische und berufliche Bildung und lebenslanges Lernen sowie Unterstützungsdienste wie Beratung, Coaching oder Hilfe bei der Arbeitssuche angeboten werden. Für die Entwicklung wirksamer Maßnahmen ist ein umfassendes Engagement der Mitgliedstaaten für eine aktive Arbeitsmarktpolitik in Zusammenarbeit mit einschlägigen Interessenträgern wie den Sozialpartnern erforderlich. Die Verwaltung und ihr Personal sollten für ihre schwierige Aufgabe qualifiziert sein und Fachwissen und wissenschaftliche Erkenntnisse heranziehen. Die individuellen Qualifikationen, das Potenzial, die Kompetenzen und die beruflichen Pläne der Arbeitslosen sollten systematisch berücksichtigt werden.

4.4.    Zugang zu essenziellen Dienstleistungen

4.4.1.

In der Empfehlung wird bekräftigt, dass ein effektiver Zugang zu qualitativ hochwertigen und erschwinglichen essenziellen Dienstleistungen (Wasser-, Sanitär- und Energieversorgung, Verkehrsdienste, Finanzdienstleistungen und digitale Kommunikation) im Sinne von Grundsatz 20 der europäischen Säule sozialer Rechte sichergestellt werden muss. Die Digitalisierung sollte als neue soziale Determinante für den Zugang zu essenziellen Dienstleistungen betrachtet werden, und es sollten Maßnahmen zur Überwindung der digitalen Kluft ergriffen werden.

4.5.    Governance

4.5.1.

Der EWSA betont, dass die Verwaltung der Netze der sozialen Sicherheit auf allen Ebenen wirksamer gestaltet werden muss. Besondere Aufmerksamkeit sollte einer sowohl horizontal als auch vertikal engen Koordinierung zwischen den verschiedenen Interessenträgern gelten. Die Rollen und Zuständigkeiten der Interessenträger sollten klar definiert werden, zu starre und undurchlässige Strukturen sind jedoch zu vermeiden.

4.5.2.

In die Umsetzung von Mindesteinkommensregelungen sollten in allen Mitgliedstaaten alle einschlägigen Interessenträger einbezogen werden, einschließlich Organisationen der Zivilgesellschaft (insbesondere Organisationen, die mit von Armut betroffenen Menschen arbeiten), Sozialdienstleister und die Sozialpartner. Im Rahmen der Entwicklung laufender Überwachungs- und Bewertungssysteme sollten die Interessenträger konsultiert werden.

4.6.    Überwachung

4.6.1.

Wie in der politischen Einigung des Rates dargelegt, ist eine kontinuierliche Überwachung der Umsetzung der Strategien zur Einkommensstützung und der damit verbundenen Maßnahmen zur aktiven Integration in den Arbeitsmarkt sowie des Zugangs zu Dienstleistungen, unterstützt durch regelmäßige Bewertungen, erforderlich, um die Ziele dieser Empfehlung möglichst effektiv zu erreichen. Die Fortschrittsberichte der Mitgliedstaaten sollten unter echter Beteiligung einschlägiger zivilgesellschaftlicher und Wohlfahrtsorganisationen und der Sozialpartner erstellt werden, bzw. ihre Berichte sollten regelmäßig im Rahmen des Überwachungsmechanismus der Kommission behandelt werden. Der EWSA ist nicht, wie in dem Vorschlag für eine Empfehlung formuliert, einer von vielen Interessenträgern auf EU-Ebene, sondern eine zentrale im Vertrag verankerte Institution im Rahmen der Überwachung.

4.6.2.

Mindesteinkommensregelungen sollten Garantien umfassen, mit denen sichergestellt wird, dass Leistungsempfänger oder Anspruchsberechtigte nicht diskriminiert werden, sowie Mechanismen zur Gewährleistung der Zugänglichkeit für schwächere Gruppen. Alle Mitgliedstaaten sollten Stellen einrichten, die auf die Einhaltung des Datenschutzes und den Schutz der Grundrechte aller Beteiligten achten.

4.6.3.

Damit Fortschritte erzielt werden können, ist es wichtig, auf den vorhandenen Informationen auf EU-Ebene aufzubauen und die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, so dass jeder Mitgliedstaat verstärkt in der Lage ist, die Funktionsweise der nationalen Einkommenssysteme zu verbessern. Dazu sollten auch ein Austausch über nationale Praktiken, thematische Seminare und Veranstaltungen organisiert werden. In diesem Zusammenhang und im Hinblick auf die Überprüfung der Fortschritte begrüßt der EWSA die vorgeschlagenen institutionellen Maßnahmen wie die Stärkung der bestehenden Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten im Ausschuss für Sozialschutz, im Beschäftigungsausschuss und im Netz der öffentlichen Arbeitsverwaltungen. Es müssen jedoch Wege gefunden werden, um die durch Datenschutzvorschriften verursachten Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden, die eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen den Stellen unnötig behindern könnten.

4.6.4.

Die verschiedenen Phasen der Überwachung der Mitgliedstaaten sind vor allem für diejenigen, die noch weit hinter den Zielvorgaben zurückbleiben, ein Muss. Der EWSA betont, wie wichtig es ist, mithilfe des Europäischen Semesters und anderer Instrumente einen klaren Weg für das weitere Vorgehen zu finden, um die Fortschritte aller Mitgliedstaaten weiter zu verfolgen.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Quelle: Minimum income support for families with children in Europe and the US: Where do we stand? von Ive Marx, Elize Aerts, Zachary Parolin, Mai 2022 SocArXiv; Children at risk of poverty or social exclusion.

(2)  Jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, hat in jedem Lebensabschnitt Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen, und einen wirksamen Zugang zu dafür erforderlichen Gütern und Dienstleistungen. Für diejenigen, die in der Lage sind zu arbeiten, sollten Grundsicherungsleistungen mit Anreizen zur (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt kombiniert werden.

(3)  Der EWSA hat das Mindesteinkommen in folgenden Stellungnahmen erörtert: „Für eine europäische Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen“ (Initiativstellungnahme) (ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 1); „Angemessene Mindestlöhne in Europa“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des Europäischen Parlaments/des Rates) (europa.eu) — Ziffer 1.6, 3.3.7 (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 159); „Europäisches Mindesteinkommen und Armutsindikatoren“ (Initiativstellungnahme) (europa.eu) (ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 23).

(4)  OECD (2021): Tax and fiscal policies after the COVID-19 crisis.

(5)  Die Rolle von Lohnergänzungsleistungen auf dem Arbeitsmarkt wird in Ziffer 3.4.3 der Stellungnahme SOC/737 „Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten“ hervorgehoben (ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 161).


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/71


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Standards für Gleichstellungsstellen im Bereich der Gleichbehandlung und Chancengleichheit von Frauen und Männern in Arbeits- und Beschäftigungsfragen“

(COM(2022) 688 final — 2022/0400 (COD))

und „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Standards für Gleichstellungsstellen im Bereich der Gleichbehandlung von Personen ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, der Gleichbehandlung von Personen in Beschäftigung und Beruf ungeachtet ihrer Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung und ihrer sexuellen Ausrichtung sowie von Frauen und Männern im Bereich der sozialen Sicherheit und im Bereich des Zugangs zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen und zur Streichung von Artikel 13 der Richtlinie 2000/43/EG und Artikel 12 der Richtlinie 2004/113/EG“

(COM(2022) 689 final — 2022/0401 (APP))

(2023/C 184/13)

Berichterstatterinnen:

Sif HOLST und Nicoletta MERLO

Befassung

Europäisches Parlament, 15.12.2022 (COM(2022) 688 final)

Rat der Europäischen Union, 21.12.2022 (COM(2022) 688 final)

Europäische Kommission, 8.2.2023 (COM(2022) 689 final)

Rechtsgrundlagen

Artikel 19 Absatz 1 und Artikel 157 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

8.3.2023

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

164/01/02

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Initiative, Gleichstellungsstellen mit der Verteidigung der Rechte von Diskriminierungsopfern zu betrauen, sowie insbesondere, dass der Schwerpunkt ausdrücklich auf Förderung und Prävention sowie auf der Bereitstellung adäquater Ressourcen liegt, damit die Gleichstellungsstellen ihre Rolle unabhängig und wirksam wahrnehmen können.

1.2.

Der EWSA hält es für wichtig, dass in den vorgeschlagenen Richtlinien ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Festlegung von Standards für Gleichstellungsstellen und Subsidiarität angestrebt und dabei gleichzeitig sichergestellt wird, dass deren allgemeines Ziel, die Stärkung der Gleichstellungsstellen und die Verbesserung ihrer Wirksamkeit, weiterhin Vorrang hat.

1.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Chance, intersektionelle und Mehrfachdiskriminierung angemessen zu berücksichtigen, nicht ungenutzt bleiben darf, und fordert, dem Aspekt der Intersektionalität in den nationalen und EU-Maßnahmen Rechnung zu tragen, damit alle Opfer Schutzgarantien erhalten.

1.4.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, rechtsverbindlich sicherzustellen, dass die Gleichstellungsstellen keinen äußeren Einflüssen unterliegen und ausreichende sowie nachhaltige personelle, fachliche, technische und finanzielle Ressourcen erhalten.

1.5.

Der EWSA unterstützt die Verpflichtung öffentlicher Einrichtungen, Gleichstellungsstellen zeitnah zu konsultieren und deren Empfehlungen zu berücksichtigen, empfiehlt jedoch, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet werden sollten, über Maßnahmen, die sie im Rahmen ihres Austauschs mit Gleichstellungsstellen ergriffen haben, und über die Ergebnisse dieser Maßnahmen Bericht zu erstatten.

1.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass durch die Übertragung der Kontrolle an die Europäische Kommission ein hohes Maß an Aufmerksamkeit für die Überwachung gewährleistet wird. Im Hinblick auf die Wirksamkeit dieser Kontrolle fordert er jedoch, eine Verkürzung des in den Richtlinien vorgeschlagenen Berichtszeitraums von fünf Jahren auf drei Jahre in Erwägung zu ziehen.

1.7.

Der EWSA begrüßt die Klarstellung, dass beim barrierefreien Zugang für alle auch die Anforderungen an die Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen berücksichtigt werden müssen, und betont, dass Barrierefreiheit auch eine Frage des Zugangs zu Beratung sein kann.

1.8.

Der EWSA hält es für sehr wichtig, die Vielfalt der nationalen Rechtsrahmen und die nationale Rechtspraxis im Bereich Nichtdiskriminierung zu achten und dabei zu berücksichtigen, dass viele Mitgliedstaaten ihren Gleichstellungsstellen Befugnisse übertragen haben, die über die Mindestanforderungen der geltenden Gleichstellungsrichtlinien hinausgehen. In gleicher Weise gilt es den unterschiedlichen Formen der Einbeziehung von Organisationen der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft in den Prozess Rechnung zu tragen. Die Vorschläge sollten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit wahren und zugleich sicherstellen, dass bestehende Schutzstandards für Diskriminierungsopfer nicht gesenkt werden. Der EWSA betont zudem nachdrücklich, dass den Sozialpartnern und den Organisationen der Zivilgesellschaft in den Vorschlägen eine führende Rolle bei der Umsetzung der nationalen Nichtdiskriminierungsrahmen eingeräumt und bestehende Verfahren zur Unterstützung der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft durch Gleichstellungsstellen gestärkt werden müssen.

1.9.

Der EWSA weist darauf hin, dass bei der Ausübung von Untersuchungsbefugnissen im Zusammenhang mit Verfahren im Namen von Diskriminierungsopfern oder zu ihrer Unterstützung die diesbezüglichen Befugnisse und die Unabhängigkeit der Gerichte und anderen öffentlichen Aufsichtsstellen wie Arbeitsaufsichtsbehörden unberührt bleiben müssen.

1.10.

Der EWSA fordert einen geeigneten Schutz der Beschwerdeführer, die Gewährleistung einer angemessenen Entschädigung für die Opfer und die Bestrafung der Täter, wobei ein auf den Einzelnen ausgerichteter Ansatz in Bezug auf Opfer von Gewalt oder Diskriminierung im Mittelpunkt stehen muss. Die Sanktionen, die auch Schadenersatzleistungen an die Opfer umfassen können, müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein und auf nationaler Ebene im Einklang mit den nationalen Rechtsrahmen und Gepflogenheiten festgelegt werden (1).

1.11.

Der EWSA schlägt vor, dass Informationskampagnen zu EU-Rechten und zur Achtung der Vielfalt von der Europäischen Kommission entwickelt und finanziert, auf lokaler Ebene von nationalen Gleichstellungsstellen gemeinsam mit den Organisationen der Zivilgesellschaft und den Sozialpartnern durchgeführt und an die Bedürfnisse vor Ort angepasst werden. Besondere Aufmerksamkeit sollte den schutzbedürftigsten Gruppen gelten, und es sollten spezielle Kampagnen geplant werden, die sich an Kinder und Jugendliche in der Schule richten und bereits im frühen Alter ansetzen.

1.12.

Der EWSA fordert die regelmäßige Erhebung und Analyse aufgeschlüsselter Daten zur Überwachung von Ungleichheiten und Diskriminierung, einschließlich Mehrfachdiskriminierung. Zudem betont er, dass systematische Untersuchungen zu Ungleichheiten und Diskriminierungen im Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz, auch in Zusammenarbeit mit der organisierten Zivilgesellschaft und den Sozialpartnern, durchgeführt werden müssen.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

Gleichstellungsstellen sind nationale öffentliche Einrichtungen, die in ganz Europa geschaffen wurden, um die Gleichstellung aller zu fördern und Diskriminierung zu bekämpfen. Es handelt sich dabei um unabhängige Organisationen, die Diskriminierungsopfer schützen und unterstützen sowie Diskriminierungsfragen beobachten und darüber berichten. Sie sind eine tragende Säule der Antidiskriminierungsarchitektur der EU (2).

2.2.

Gleichstellungsstellen wurden erstmals durch die Richtlinie zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (2000/43/EG) (3) eingerichtet. Mit den drei nachfolgenden Gleichstellungsrichtlinien wurden die Gleichstellungsstellen mit denselben Aufgaben in ihren jeweiligen Bereichen betraut: die Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (2004/113/EG) (4), die Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (2006/54/EG) (5) und die Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben (2010/41/EU) (6).

2.3.

Diese Richtlinien enthalten keine Verweise auf die Struktur und die Arbeitsweise der Gleichstellungsstellen, sondern sehen lediglich einige Mindestzuständigkeiten vor; somit ist nicht ausgeschlossen, dass zwischen den Mitgliedstaaten auch wesentliche Unterschiede bestehen können. Die Europäische Kommission hat 2018 eine Empfehlung zu Standards für Gleichstellungsstellen (7) angenommen, um damit die Herausforderungen anzugehen, die sich aus den weit gefassten und unvollständigen Bestimmungen über Gleichstellungsstellen in den EU-Richtlinien ergeben. Mit dieser Empfehlung konnte diese Lücke jedoch ebenfalls nicht geschlossen werden (8).

2.4.

Am 7. Dezember 2022 nahm die Europäische Kommission zwei Vorschläge (9) an, mit denen die Gleichstellungsstellen und insbesondere ihre Unabhängigkeit, Ressourcen und Befugnisse gestärkt werden sollen, damit sie im Rahmen der bereits geltenden EU-Richtlinien im Bereich der Gleichbehandlung Diskriminierungen wirksamer bekämpfen können.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die Gleichstellung gehört zu den Grundwerten der EU und ist auch eine der Prioritäten des EWSA. In seinen früheren Stellungnahmen (10) erkannte der EWSA die Bemühungen der EU in den Bereichen Gleichstellung von Frauen und Männern, Schutz gegen Diskriminierung aus Gründen der ethnischen Herkunft, der Rasse, des Alters, der Religion, der Anschauung oder des Glaubens Schutz der Rechte von LGBTQIA+-Personen und Menschen mit Behinderungen sowie Integration von Roma und Schutz der Rechte von Migrantinnen und Migranten an. Der EWSA betonte ferner die Notwendigkeit wirkungsvoller politischer Maßnahmen, konkreter Mittel, einer dauerhaften Mobilisierung und einer stärkeren Unterstützung der nationalen Gleichstellungs- und Menschenrechtsgremien, insbesondere im Hinblick auf die Verbesserung ihrer Unabhängigkeit und Wirksamkeit sowie die Aufstockung ihrer personellen und finanziellen Ressourcen (11).

3.2.

Der EWSA begrüßt die vorliegende Initiative zur Stärkung von Gleichstellungsstellen als Verteidiger der Rechte von Diskriminierungsopfern und hält sie für einen unverzichtbaren Beitrag zu den umfassenderen Bemühungen der Europäischen Kommission im Hinblick auf eine Union der Gleichheit, in deren Mittelpunkt die Förderung der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung als allgemeiner Grundsatz des EU-Rechts steht.

3.3.

Der EWSA begrüßt insbesondere, dass die beiden Vorschläge ausdrücklich auf Förderung und Prävention ausgerichtet sind und damit rechtzeitig anerkannt wird, dass Strategien, Maßnahmen und Mindeststandards zur Bekämpfung struktureller Diskriminierungen und Stereotypen, die in unserer Gesellschaft weiterhin häufig vorkommen, vorgesehen werden müssen, um unter Berücksichtigung auf nationaler Ebene bestehender funktionierender Strukturen und Ansätze eine größere Einheitlichkeit zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern.

3.4.

Der EWSA hält es für wichtig, dass in den vorgeschlagenen Richtlinien ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Festlegung von Standards für Gleichstellungsstellen und Subsidiarität angestrebt und dabei gleichzeitig sichergestellt wird, dass deren allgemeines Ziel, die Stärkung der Gleichstellungsstellen und die Verbesserung ihrer Wirksamkeit, weiterhin Vorrang hat.

3.5.

Der EWSA teilt die Ansicht der Europäischen Kommission, dass, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass alle Menschen ungeachtet ihrer Unterschiede unbehelligt leben, sich entfalten und Führungspositionen übernehmen können, die bestehenden Gleichstellungsstellen gestärkt werden müssen, damit sie ihr volles Potenzial ausschöpfen können und besser darauf vorbereitet sind, Diskriminierungen vorzubeugen und Opfer von Diskriminierung zu unterstützen.

3.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Förderung von Gleichstellungsstellen wichtig ist, um die Grundrechte aller EU-Bürger zu gewährleisten. Durch die aktive Förderung von Gleichstellungsstellen sorgt die EU für die Unterstützung aller Bürgerinnen und Bürger der EU, die diskriminiert werden, und stellt ihr Recht auf Unterstützung und Vertretung sicher.

3.7.

Der EWSA verweist auf Ziffer 2.10 seiner Stellungnahme „Förderung der Gleichstellung in der EU“ (12), in der es heißt: „Der EWSA ist der Auffassung, dass die Förderung der Gleichstellung und der Schutz der Grundrechte in ein umfassenderes soziales Konzept eingebettet werden müssen, das zahlreichere und stärkere Instrumente zur Unterstützung von Einzelpersonen sowie öffentlichen und privaten Akteuren durch die Mitgliedstaaten und die EU-Organe vorsieht.“

3.8.

In diesem Bereich sind Maßnahmen auf EU-Ebene notwendig, die mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit in Einklang stehen und mit der Politik der Union in anderen Bereichen übereinstimmen. Die Europäische Kommission erklärt, dass mit der vorliegenden Initiative bereits bestehende Rechtsvorschriften überarbeitet werden, um deren Wirksamkeit zu erhöhen. Dabei werden Mindeststandards festgelegt und die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft einbezogen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.    Stärkung der Zuständigkeiten der Gleichstellungsstellen

4.1.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass angesichts des anhaltenden Stillstands bei der Annahme der so genannten horizontalen Richtlinie und ausgehend von einem opferzentrierten Ansatz, bei dem aufgeschobene Gerechtigkeit verweigerte Gerechtigkeit bedeutet, die Chance, intersektionelle und Mehrfachdiskriminierung angemessen zu berücksichtigen, nicht ungenutzt bleiben darf. Einige Formen von Diskriminierung können nicht durch die getrennte Behandlung einzelner Diskriminierungsgründe bekämpft werden und erfordern einen intersektionellen Ansatz.

4.1.2.

Die Mitgliedstaaten sind aufgrund bestehender Richtlinien verpflichtet, nationale Gleichstellungsstellen einzurichten. Die geltenden EU-Vorschriften lassen bei deren Einrichtung und Arbeitsweise jedoch einen großen Ermessensspielraum. Zudem bestehen zwischen den Gleichstellungsstellen erhebliche Unterschiede im Hinblick auf Befugnisse, Unabhängigkeit, Mittel, Zugänglichkeit und Wirksamkeit. Die neue Initiative zur Einführung von Mindeststandards für Gleichstellungsstellen soll die Europäische Kommission in ihren Bemühungen unterstützen, die „Union der Gleichheit“ voranzubringen, und die Wirksamkeit des EU-Antidiskriminierungsrechts stärken.

4.1.3.

Die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Ausweitung des Mandats der Gleichstellungsstellen auf die Richtlinie 79/7/EWG des Rates, aufgrund der Gleichstellungsstellen Schutz vor geschlechtsspezifischer Diskriminierung in staatlichen Systemen der sozialen Sicherheit bieten können, muss die Rolle und die Befugnisse der Sozialpartner unberührt lassen und sollte dazu dienen, deren Arbeit zu stärken und zu unterstützen.

4.1.4.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, rechtsverbindlich sicherzustellen, dass die Gleichstellungsstellen keinen äußeren Einflüssen unterliegen und über ausreichende und nachhaltige personelle, fachliche, technische und finanzielle Ressourcen verfügen, und erkennt die zentrale Bedeutung dieses Vorschlags an.

4.1.5.

Er begrüßt ebenfalls die vorgeschlagenen strengen Garantien für die Unabhängigkeit der Gleichstellungsstellen. Dies ist äußerst wichtig, damit sie die Bürgerinnen und Bürger ausreichend unterstützen können.

4.1.6.

Der EWSA unterstreicht die besondere Bedeutung von Garantien für die Verfügbarkeit und Angemessenheit der den Gleichstellungsstellen bereitgestellten personellen, technischen und finanziellen Ressourcen. Ressourcen sind eine Voraussetzung sowohl für die Unabhängigkeit der Gleichstellungsstellen als auch für ihre Fähigkeit, Opfer wirksam zu schützen und Diskriminierung zu verhindern.

4.1.7.

Im Vorschlag der Europäischen Kommission ist zudem vorgesehen, dass öffentliche Institutionen die Gleichstellungsstellen rechtzeitig konsultieren und ihre Empfehlungen berücksichtigen müssen. Der EWSA empfiehlt, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, darüber Bericht zu erstatten, welche Maßnahmen sie im Hinblick auf die Empfehlungen der Gleichstellungsstellen ergriffen haben und welche Ergebnisse mit diesen Maßnahmen erzielt wurden.

4.1.8.

Der Vorschlag sieht ferner vor, dass die Europäische Kommission gemeinsame Indikatoren zur Messung der auf nationaler Ebene erhobenen Daten und zur Gewährleistung ihrer Vergleichbarkeit festlegt und alle fünf Jahre einen Bericht über Gleichstellungsstellen in der gesamten EU veröffentlicht. Der EWSA würde einen kürzeren Zeitrahmen für diese Maßnahme begrüßen und schlägt der Europäischen Kommission daher vor, den Berichtszeitraum auf drei Jahre zu verkürzen.

4.1.9.

Die Bedeutung der Überwachung kann gar nicht stark genug betont werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Gleichstellungsstellen wirklich effektiv sind und Diskriminierungsopfern die erforderliche Unterstützung bieten können. Der EWSA ist der Auffassung, dass durch die Übertragung der Kontrolle an die Europäische Kommission ein hohes Maß an Aufmerksamkeit für die Überwachung gewährleistet wird.

4.1.10.

Er ist ferner der Ansicht, dass die Europäische Kommission den allgemeinen Zugang aller Opfer zu den Ressourcen und der Unterstützung der Gleichstellungsstellen aktiv fördern muss. Dies kann durch eine wirksame Kontrolle, eine angemessene Förderung der auf lokaler Ebene tätigen Gleichstellungsstellen und den Dialog mit den Mitgliedstaaten erreicht werden. Die Einbeziehung von Organisationen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner in den Dialog kann einen erheblichen Mehrwert bringen und eine zusätzliche wirksame Kontrolle ermöglichen.

4.1.11.

Der EWSA fordert, wie er bereits in einer früheren Stellungnahme (13) dargelegt hat, die Zusammenarbeit mit Organisationen der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidigern, die sich unmittelbar für marginalisierte und schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen einsetzen, weiter zu verstärken und diese zu unterstützen.

4.1.12.

Der EWSA weist darauf hin, dass „[d]ie Überschneidung von Rasse, ethnischer oder sozialer Herkunft, Alter, sexueller Ausrichtung, Staatsangehörigkeit, Religion, Geschlecht, Behinderung, Flüchtlings- oder Migrantenstatus usw. […] eine Multiplikatorwirkung [hat, die zu] […] einer verstärkten Diskriminierung [führt]“ (14). Er hält es daher für wichtig, auf allen Ebenen weiterhin Programme für den Wissensaustausch und die Förderung des Lernens durchzuführen, u. a. durch einen intersektionalen Ansatz für die Arbeit.

4.1.13.

Der EWSA begrüßt, dass die Richtlinien Bestimmungen für Stellen mit mehreren Mandaten enthalten, um die für das Gleichstellungsmandat erforderlichen Ressourcen und Sichtbarkeit zu gewährleisten. Die Bedeutung des Begriffs „autonome Ausübung des Gleichstellungsmandats“ muss jedoch genauer definiert und ausgelegt werden. Dabei ist auch sicherzustellen, dass die verschiedenen Mandate in Fällen, in denen sie zur gegenseitigen Stärkung und Ergänzung genutzt werden können, nicht hermetisch voneinander getrennt werden müssen. Die Einführung einer strukturellen „Firewall“ in Gleichstellungsstellen mit verschiedenen Fachabteilungen könnte bei der Schaffung starker Gleichstellungsstellen kontraproduktiv wirken.

4.2.    Wirksamer Zugang zur Justiz für Diskriminierungsopfer

4.2.1.

Mit dem Vorschlag soll auch sichergestellt werden, dass Gleichstellungsstellen für die Behandlung von Diskriminierungsfällen gestärkt werden und die Dienste der Gleichstellungsstellen für alle Opfer frei und gleichberechtigt zugänglich sind.

4.2.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Unterstützung durch Gleichstellungsstellen wichtig ist, damit Diskriminierungsopfer ihre Rechte nicht lediglich auf individueller Basis einklagen können. Diese Zuständigkeiten müssen jedoch die Befugnisse der Sozialpartner zur kollektiven Vertretung, auch in Gerichtsverfahren, unberührt lassen und sollten diese ergänzen. Der EWSA begrüßt auch die Klarstellung, dass beim barrierefreien Zugang für alle auch die Anforderungen an die Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen berücksichtigt werden müssen, und betont, dass Barrierefreiheit auch eine Frage des Zugangs zu Beratung sein kann, z. B. wenn Personen an einem abgelegenen Ort leben oder Schwierigkeiten beim Zugang zu Online-Ressourcen haben. Die Unterstützung von Gleichstellungsstellen ist eine Voraussetzung für die Bewältigung der strukturellen, intersektionalen und systemischen Dimension von Ungleichheiten.

4.2.3.

Der EWSA betont, dass Gleichstellungsstellen in der Lage sein müssen, sowohl Beschwerden von Opfern zu bearbeiten als auch allgemeinere Fragen aus eigener Initiative oder nach einem Austausch mit einschlägigen Organisationen der Zivilgesellschaft oder Sozialpartnern zu behandeln. Opfern fällt es aus Angst vor den Folgen, darunter dem Verlust der Existenzgrundlage, möglicherweise schwer, sich zu melden. Ein fehlendes Bewusstsein für die Rechte und ihre Durchsetzung könnte ebenfalls ein Hindernis darstellen.

4.2.4.

Es ist äußerst wichtig, der beträchtlichen Vielfalt von Gleichstellungsstellen in den Mitgliedstaaten im Hinblick auf Anzahl, Struktur und Arbeitsweise Rechnung zu tragen und gleichzeitig sicherzustellen, dass bestehende Standards für den Schutz vor Diskriminierung nicht etwa dadurch gesenkt werden, dass die derzeitigen Befugnisse der Gleichstellungsstellen durch unterschiedliche nationale Rechtsvorschriften geschwächt werden. Darüber hinaus gibt es auch Unterschiede in der Art und Weise, wie die Organisationen der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft in den Prozess einbezogen werden, und dies muss berücksichtigt werden (15).

4.2.5.

Nach Ansicht des EWSA ist das in einigen Mitgliedstaaten bereits anerkannte Recht von Gleichstellungsstellen auf Teilnahme an Gerichtsverfahren äußerst wichtig, um einen besseren Schutz der Grundsätze der Gleichbehandlung zu gewährleisten. Dies gilt dann, wenn Opfer aufgrund verfahrensrechtlicher oder finanzieller Hindernisse keinen Zugang zur Justiz haben und von den Sozialpartnern nicht erreicht werden. Der EWSA betont ferner, dass die Klagebefugnis der Gleichstellungsstellen im Einklang mit den geltenden Gleichstellungsrichtlinien und nach Maßgabe der im jeweiligen nationalen Recht verankerten Kriterien die einschlägigen Zuständigkeiten und die rechtliche Stellung der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft unberührt lassen und diese ergänzen sollte (16). In diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig, dass die Gleichstellungsstellen auf nationaler Ebene mit den Gerichten im Allgemeinen und mit spezialisierten Verwaltungsgerichten wie Arbeitsgerichten im Besonderen sowie mit den Sozialpartnern zusammenarbeiten.

4.2.6.

Der EWSA erkennt an, dass es für die Erfüllung der Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Beweislast gemäß den geltenden Gleichbehandlungsrichtlinien erforderlich ist, dass alle Parteien, die ein berechtigtes Interesse an der Anstrengung von Verfahren im Namen oder zur Unterstützung von Diskriminierungsopfern haben, wie Sozialpartner, Gleichstellungsstellen und Organisationen der Zivilgesellschaft, Zugang zu den Beweismitteln haben. Bei der Ausübung von Untersuchungsbefugnissen im Zusammenhang mit Verfahren im Namen oder zur Unterstützung von Diskriminierungsopfern müssen die diesbezüglichen Befugnisse und die Unabhängigkeit der Gerichte und anderen öffentlichen Aufsichtsstellen wie Arbeitsaufsichtsbehörden unberührt bleiben.

4.2.7.

Der EWSA ist der Auffassung, dass bei beiden Vorschlägen ein auf den Einzelnen ausgerichteter Ansatz in Bezug auf Opfer von Gewalt oder Diskriminierung stärker im Mittelpunkt stehen sollte. In dieser Hinsicht sollte den Beschwerdeführern ein angemessener Schutz gewährt werden, um zu verhindern, dass sie aus Angst vor den Folgen schweigen. Die Opfer sollten eine ausreichende und angemessene Entschädigung erhalten und die Täter bestraft werden. Die Sanktionen, die auch Schadenersatzleistungen an die Opfer umfassen können, müssen im Einklang mit Artikel 17 der Richtlinie 2000/78/EG (17) wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.

4.3.    Sensibilisierung

4.3.1.

Der EWSA begrüßt, dass der Schwerpunkt auf der Sensibilisierung liegt, und betont, dass die Mitgliedstaaten und Gleichstellungsstellen ihre Sensibilisierungsmaßnahmen verstärken müssen, u. a. durch die Unterstützung der organisierten Zivilgesellschaft bei der Verhinderung von Diskriminierung und der Schaffung von Gleichheit. Der EWSA schlägt vor, dass Informationskampagnen zu EU-Rechten und zur Achtung der Vielfalt von der Europäischen Kommission entwickelt und finanziert, von nationalen Gleichstellungsstellen gemeinsam mit Organisationen der Zivilgesellschaft und den Sozialpartnern durchgeführt und an die Bedürfnisse vor Ort angepasst werden. Besondere Aufmerksamkeit sollte den schutzbedürftigsten Gruppen gelten; es müssen spezielle Kampagnen geplant werden, die sich an Kinder und Jugendliche in der Schule richten und bereits im frühen Alter ansetzen.

4.3.2.

Der EWSA fordert, dass die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft in die Vorbereitung, Durchführung und Verbreitung dieser Informationskampagnen einbezogen werden. Durch das Wissen der einschlägigen Organisationen wird die Reichweite und Wirksamkeit der Kampagnen verbessert und kann den schutzbedürftigsten Gruppen Gehör verschafft werden.

4.4.    Datenerhebung

4.4.1.

Gleichstellungsstellen spielen bei der Datenerhebung eine wichtige Rolle, die über die Erhebung von Daten zu ihrer eigenen Arbeit hinausgeht. In den Richtlinien wird dies anerkannt und den Gleichstellungsstellen u. a. die Befugnis übertragen, von öffentlichen und privaten Einrichtungen, einschließlich Behörden, Gewerkschaften, Unternehmen und Organisationen der Zivilgesellschaft, erhobene Statistiken einzusehen. Diese statistischen Informationen sollten keine personenbezogenen Daten enthalten, und der bei ihrer Erhebung entstehende zusätzliche administrative oder finanzielle Aufwand für die zuständigen Stellen muss möglichst gering gehalten werden. Außerdem müssen die Gleichstellungsstellen jährliche Tätigkeitsberichte und regelmäßige Berichte über den Stand von Gleichbehandlung und Diskriminierung in ihrem Land erstellen. Hierbei handelt es sich um wichtige und weitreichende Befugnisse, die sehr gut genutzt werden können, jedoch auch ressourcenintensiv sind. Daher betont der EWSA, dass den Gleichstellungsstellen angemessene zusätzliche Mittel für die Wahrnehmung dieser Befugnisse zur Verfügung gestellt werden müssen.

4.4.2.

Um sicherzustellen, dass bestehende Ungleichheiten und Diskriminierungen regelmäßig thematisiert werden, fordert der EWSA die regelmäßige Erhebung und Analyse aufgeschlüsselter Daten zur Überwachung von Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung.

4.4.3.

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung regelmäßiger Untersuchungen zu Ungleichheit und Diskriminierung sowie die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission, den Mitgliedstaaten, Menschenrechtsgremien und Organisationen der Zivilgesellschaft sowie den Sozialpartnern bei arbeitsplatzbezogenen Fragen im Hinblick auf die Überwachung und Bewertung und die Entwicklung der politischen Agenda.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Artikel 17 — Sanktionen) (ABl. L 303 vom 2.12.2000, S. 16).

(2)  Equinet.

(3)  Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. L 180 vom 19.7.2000, S. 22).

(4)  Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (ABl. L 373 vom 21.12.2004, S. 37).

(5)  ABl. L 204 vom 26.7.2006, S. 23.

(6)  ABl. L 180 vom 15.7.2010, S. 1.

(7)  Empfehlung (EU) 2018/951 der Kommission vom 22. Juni 2018 zu Standards für Gleichstellungsstellen (ABl. L 167 vom 4.7.2018, S. 28).

(8)  Empfehlung (EU) 2018/951 der Kommission vom 22. Juni 2018 zu Standards für Gleichstellungsstellen (ABl. L 167 vom 4.7.2018, S. 28).

(9)  COM(2022) 688 final und COM(2022) 689 final.

(10)  Siehe insbesondere die Stellungnahmen „Die Situation von Frauen mit Behinderungen“ (SOC/579) (ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 20); „Die Lage der Romnija (Roma-Frauen)“ (SOC/585) (ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 20); „Gestaltung der EU-Agenda für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2020-2030“ (SOC/616) (ABl. C 97 vom 24.3.2020, S. 41); „Diversity Management in den EU-Mitgliedstaaten“ (SOC/642) (ABl. C 10 vom 11.1.2021, S. 7); „Eine Union der Gleichheit: Strategie für die Gleichstellung von LGBTIQ-Personen 2020-2025“ (SOC/667) (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 128); „Aktionsplan für Integration und Inklusion 2021–2027“ (SOC/668) (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 134); „Eine Union der Gleichheit: Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (SOC/680) (ABl C 374 vom 16.9.2021, S. 50); und Der neue Strategische Rahmen der EU zur Gleichstellung, Inklusion und Teilhabe der Roma.

(11)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Förderung der Gleichstellung in der EU“ (ABl. C 75 vom 28.2.2023, S. 56).

(12)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Förderung der Gleichstellung in der EU“ (ABl. C 75 vom 28.2.2023, S. 56).

(13)  ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 50.

(14)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 20.

(15)  Die Fragen im Zusammenhang mit der Klagebefugnis aller Parteien, die ein berechtigtes Interesse an einer Beteiligung an Nichtdiskriminierungsverfahren gemäß den EU-Gleichbehandlungsrichtlinien haben, wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Gleichstellungsstellen und Organisationen der Zivilgesellschaft, sind in den geltenden EU-Gleichbehandlungsrichtlinien und insbesondere in Artikel 9 Absatz 2 der Rahmenrichtlinie für Beschäftigung (Richtlinie 2000/78/EG) und Artikel 17 Absatz 2 der Neufassung der Gleichstellungsrichtlinie (Richtlinie 2006/54/EG) geregelt.

(16)  Erwägungsgrund 34 des Richtlinienvorschlags COM(2022) 688 final und Erwägungsgrund 35 des Richtlinienvorschlags COM(2022) 689 final, wonach die Bestimmungen über das Recht der Gleichstellungsstellen, in Gerichtsverfahren tätig zu werden, die Rolle, die Befugnisse und die Aufgaben der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft bei der Beteiligung an Verfahren zur Durchsetzung von Verpflichtungen des Antidiskriminierungsrechts nicht berühren.

(17)  ABl. L 303 vom 2.12.2000, S. 16.


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/78


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Überarbeitung des Aktionsplans der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels“

(COM(2022) 581 final)

(2023/C 184/14)

Berichterstatterin:

Özlem YILDIRIM

Ko-Berichterstatter:

Cillian LOHAN

Befassung

Europäische Kommission, 25.11.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

9.3.2023

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

152/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Viele Elemente des überarbeiteten Aktionsplans der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels sind gut und tragen potenziell zu seinem Erfolg bei. Die vier Schwerpunkte und ihre Ziele sind gut durchdacht und stellen eine Verbesserung im Vergleich zum bisherigen Aktionsplan dar. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hegt jedoch Bedenken angesichts der Mittel, die für die Umsetzung des Plans auf nationaler Ebene bereitgestellt werden, sowie angesichts seiner Mittelausstattung, da der Aktionsplan aufgrund unzureichender Mittel wie sein Vorläufer scheitern könnte.

1.2.

Der EWSA begrüßt, dass sich die Europäische Kommission verpflichtet hat, ausreichende finanzielle und personelle Ressourcen zur Eindämmung des illegalen Artenhandels bereitzustellen, indem der Handel mit Wildtieren und Wildpflanzen in die EU-Fonds integriert wird, die Folgendes zum Gegenstand haben: i) Sicherheit und organisierte Kriminalität, ii) Umwelt und iii) internationale Zusammenarbeit/Partnerschaften. Insbesondere sollte er eine Priorität darstellen im Rahmen von EMPACT, des Fonds für die innere Sicherheit, des LIFE-Programms, des Interreg-Programms und des Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit.

1.3.

Allerdings muss ein Teil dieser Mittel vollständig für die Eindämmung des illegalen Artenhandels vorgesehen werden, um die Rechenschaftspflicht für den Aktionsplan sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten sollten sich verpflichten, ausreichende finanzielle Mittel für die Ausbildung von Fachpersonal zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels im eigenen Land bereitzustellen. Die zugewiesenen Mittel sollten im Rahmen der Umsetzung des Aktionsplans auf nationaler Ebene mitgeteilt, überwacht und bewertet werden. Mit den Mitteln sollten sowohl Ausrüstung als auch Personal finanziert werden. Darüber hinaus sollten gute Arbeitsbedingungen mit uneingeschränktem Recht auf Tarifverhandlungen sowie berufliche Aufstiegsmöglichkeiten geboten werden. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um die besten Kräfte zu gewinnen und deren Motivation aufrechtzuerhalten. Besondere Aufmerksamkeit sollte der Gesundheit, dem Wohlergehen und der persönlichen Sicherheit gelten.

1.4.

Die Bekämpfung des illegalen Artenhandels sollte in allen Politikbereichen auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten durchgängig berücksichtigt werden. Es sollten einheitliche Schulungen für alle Akteure, die an der Verhinderung des illegalen Artenhandels beteiligt sind, durchgeführt und Mindestanforderungen für ihre Ausbildung festgelegt werden. Außerdem ist ein angepasster Kapazitätsaufbau entsprechend den Kompetenzen erforderlich, die in den verschiedenen Bereichen, in denen illegaler Artenhandel vorkommt, gebraucht werden. In der Staatsanwaltschaft und der Richterschaft, beim Zoll und in nationalen CITES-Behörden und Polizeibehörden sollten Spezialeinheiten eingerichtet und Mitarbeiter entsprechend geschult werden. Sie sollten dafür ausgebildet sein, Artenschutzkriminalität aufzudecken, die Verantwortlichen zu verhaften und die Straftaten strafrechtlich zu verfolgen und zu ahnden.

1.5.

In allen Mitgliedstaaten sollten ferner einheitliche Strukturen geschaffen werden. Der EWSA empfiehlt, dazu behördenübergreifende Ausschüsse und Spezialeinheiten oder besonders geschultes Personal für die Bekämpfung des illegalen Artenhandels einzusetzen. Diesen behördenübergreifenden Ausschüssen würden Vertreter von Spezialeinheiten zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels angehören. Behördenübergreifende Ausschüsse wären bei der Konsultation und der Durchführung gemeinsamer Ermittlungen in den Mitgliedstaaten mit anderen Behörden, die sich mit anderen illegalen Tätigkeiten wie Finanz- und Cyberkriminalität befassen, besonders nützlich. Zwischen diesen Formen von Kriminalität und dem illegalen Artenhandel besteht meist eine Verbindung, da die organisierte Kriminalität ihre für andere Arten von Verbrechen (z. B. Drogenhandel und Geldwäsche) bestehenden Kanäle auch für den illegalen Handel mit Wildtier- und Wildpflanzenprodukten nutzen kann und dies auch tut. Für die Kommunikation und die Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft sollten spezielle Kanäle eingerichtet werden.

1.6.

Die Einführung von Sorgfaltspflichten für in der EU Handel treibende Unternehmen im Wege einer ehrgeizigen Richtlinie über Nachhaltigkeitspflichten von Unternehmen könnte die Unternehmen dazu anregen, in erster Linie mit nachhaltig gewonnenen Wildtier- und Wildpflanzenarten zu handeln, sie von illegalen Tätigkeiten abhalten und die Strafverfolgungsbehörden bei der Aufspürung von Straftätern unterstützen.

1.7.

Der EWSA hält eine Zusammenarbeit mit den am Handel mit Wildtieren und Wildpflanzen beteiligten Wirtschaftssektoren für wichtig, um die Nachfrage nach Wildtier- und Wildpflanzenprodukten in der EU zu verringern und die illegale Einfuhr dieser Produkte zu unterbinden. In dem Aktionsplan sind bestimmten Themen gewidmete Schulungssitzungen mit der EU Wildlife Trade Enforcement Group für einschlägige Wirtschaftsvertreter vorgesehen, um spezifische Fragen zu erörtern (z. B. traditionelle Medizin, exotische Haustiere, Luxusindustrie, Jagdtourismus, Holz, Fischerei und Fischproduktehandel, Verkehr, Kurierunternehmen und Online-Handel). Jedoch sollten koordinierte Informationskampagnen für die breite Öffentlichkeit (insbesondere um die Nachfrage zu verringern) ein zentrales Merkmal der Strategie sein. Auch zivilgesellschaftliche Organisationen könnten daran mitwirken, die Nachfrage zu verringern, indem sie sensibilisieren und Kampagnen zur Verringerung der Nachfrage durchführen, die sich an die Konsumenten von Produkten aus dem illegalen Artenhandel richten.

1.8.

Der EWSA fordert die Kommission auf, die nationalen und supranationalen Strafverfolgungsbehörden in die Bemühungen um eine bessere Sichtbarmachung der Prävention und Verfolgung des Handels mit gefährdeten Arten im Zuge ihrer Kommunikationsarbeit zur organisierten Kriminalität einzubeziehen, und zwar sowohl im Rahmen ihrer ständigen Kommunikationsinstrumente als auch bei gezielten zeitlich begrenzten Kampagnen.

1.9.

Schließlich muss die Europäische Kommission unbedingt ein eindeutiges und ambitioniertes Überwachungs- und Evaluierungsverfahren einrichten, um die Umsetzung des Aktionsplans zu verfolgen und seinen Fortschritt und Erfolg zu beurteilen. Dabei ist das auswärtige Handeln der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels (im Einklang mit Schwerpunkt 4) zu berücksichtigen.

2.   Hintergrund

2.1.

Der illegale Artenhandel ist zu einer der weltweit profitabelsten Aktivitäten des organisierten Verbrechens geworden. Die Europäische Kommission geht von einem weltweiten jährlichen Umsatz von bis zu 20 Milliarden Euro aus (1). Der illegale Handel mit Wildtieren und Wildpflanzen hat in den letzten Jahren weltweit exponentiell zugenommen, da das Risiko für gering gehalten wird und er als sehr einträglich gilt.

2.2.

Die Europäische Union ist trotz ihres umfassenden Rechtsrahmens für den Schutz wildlebender Tier- und Pflanzenarten ein wichtiger Absatzmarkt und eine Transitplattform für illegal gehandelte Wildtiere und Wildpflanzen. Wie groß die Bedeutung der EU als Markt für illegale Wildtier- und Wildpflanzenprodukte ist, zeigen die Jahresberichte über große Beschlagnahmen, die die Europäische Kommission seit 2011 jährlich anfordert.

2.3.

Da die EU ein wichtiger Markt für Wildtier- und Wildpflanzenprodukte ist, hat die Europäische Kommission beispiellose Anstrengungen unternommen, um Unternehmen, Verbraucher und die breite Öffentlichkeit für die Ausprägungen und das Ausmaß des illegalen Artenhandels in Europa zu sensibilisieren. In der Folge hat die Europäische Kommission im Februar 2016 den Aktionsplan der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels (2) angenommen, mit dem ein umfassendes Konzept zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels innerhalb der EU festgelegt und die Rolle der EU bei der weltweiten Bekämpfung dieser illegalen Tätigkeiten gestärkt wird. Der Aktionsplan war jedoch nicht sonderlich erfolgreich bei der Verringerung der Nachfrage, obgleich es gelungen ist, ein Schlaglicht auf den illegalen Artenhandel zu werfen. TRAFFIC (3) hat in einem Bericht (4) die Daten aller Beschlagnahmen im Jahr 2018 zusammengetragen, die unter das Übereinkommen über den Handel mit gefährdeten Arten (CITES) fielen. Daraus geht hervor, dass sich die Nachfrage nach wild lebenden Arten in der EU seit der ersten Erhebung der Daten im Jahr 2011 nicht verändert hat.

2.4.

Aus dem jüngsten Bericht von TRAFFIC über Beschlagnahmen im Jahr 2020 (5) gehen die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf den illegalen Artenhandel hervor. Der Rückgang des Handels, der durch COVID-19-bedingte Unterbrechungen des Luftverkehrs, des Handels und anderer Schnittstellen für den Transport oder den Verkauf von Waren verursacht wurde, hat wahrscheinlich zur Verringerung der gemeldeten Beschlagnahmen beigetragen. Im Jahr 2020 war eine deutliche Abnahme der Beschlagnahmen in der EU festzustellen, auch wenn dies nicht unbedingt auf eine veränderte Nachfrage oder Dynamik des illegalen Handels mit Wildtieren und Wildpflanzen hindeutet.

2.5.

Die EU ist nicht nur ein Einfuhrmarkt, sondern auch die Ursprungsregion einiger gefährdeter Arten, darunter der Europäische Aal (Anguilla anguilla). 2016 und 2017 wurden 48 Personen festgenommen und 4 000 kg lebende Glasaale im Wert von rund 4 Millionen Euro beschlagnahmt. Zudem sind nicht alle illegalen Arten, die nach Europa gelangen, für den europäischen Markt bestimmt, die EU dient hierbei oft als Zwischenstation. Die Strafverfolgungsbehörden beschlagnahmen häufig Schuppentiere, Seepferdchen, Elfenbein und Haifischflossen, die aus Afrika stammen und nach Asien gehen sollen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die EU muss wachsam bleiben und ihre Anstrengungen verstärken, um den illegalen Artenhandel zu stoppen und die Entwicklung umzukehren. Der lukrative Handel stellt nicht nur eine Gefahr für die menschliche Gesundheit dar (aufgrund der Gefahr der Übertragung von Zoonosen), sondern untergräbt auch unmittelbar die EU-Politik zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung weltweit, insbesondere die Nachhaltigkeitsziele im Zusammenhang mit dem Schutz der biologischen Vielfalt und der Ökosysteme der Welt (6), sowie die Bemühungen um eine Stärkung der guten Regierungsführung und den Abbau von Ungleichheiten.

3.2.

Der illegale Artenhandel führt heute nicht nur dazu, dass viele Arten (einschließlich einiger Arten mit Symbolcharakter) vom Aussterben bedroht sind, sondern beeinträchtigt auch eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung (7). Zusammengefasst gesagt ist eine wirksame Umsetzung des EU-Aktionsplans zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels erforderlich, um die internationalen Umweltübereinkommen der EU, insbesondere das CITES und das Übereinkommen über die biologische Vielfalt (CBD), einzuhalten. Der EWSA fordert die Europäische Kommission jedoch auf, über diese internationalen Übereinkommen hinauszugehen, um den Schutz von Wildtieren und Wildpflanzen in der EU zu verbessern und den illegalen Artenhandel einzudämmen, was nicht nur der EU, sondern der ganzen Welt zugutekäme. Der illegale Artenhandel ist eine der Hauptursachen für den Verlust der biologischen Vielfalt. Er führt dazu, dass viele Arten vom Aussterben bedroht sind, und trägt zum Klimawandel bei, da der illegale Holzeinschlag vorangetrieben wird und die gefällten Bäume so kein CO2 mehr speichern können.

3.3.

Ebenso wichtig ist es, der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität und ihren tödlichen Folgen Einhalt zu gebieten. Einem Bericht von UNEP und Interpol zufolge ist der Anteil der Umweltkriminalität um 26 % gestiegen (8). Hierzu gehört auch der illegale Artenhandel, was den Frieden, die Sicherheit und die Rechtsstaatlichkeit bedroht und häufig mit anderen schweren Straftaten wie Korruption, Cyber- und Finanzkriminalität einhergeht. So stellt der illegale Artenhandel bspw. in einigen afrikanischen Regionen eine Bedrohung für die nationale Sicherheit dar. Auch Mord und Totschlag sind zu erwähnen, da sich Menschen, die sich für den Schutz gefährdeter Arten einsetzen, selbst in Lebensgefahr bringen und einen hohen Preis für ihr Engagement zahlen. Die Thin Green Line Foundation fand heraus, dass zwischen 2009 und 2016 595 Ranger von Wilderern getötet wurden. Hunderte weitere Ranger wurden zudem in Entwicklungsländern getötet. Da diese Fälle nicht gemeldet wurden, bleiben sie unbekannt. 2017 wurden mehr als 100 getötete Ranger gemeldet, für 2018 zeichnet sich mit etwa zwei Todesfällen pro Woche die gleiche Zahl ab (9).

3.4.

Der EWSA begrüßt die Überarbeitung des EU-Aktionsplans zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels und den Beschluss der Europäischen Kommission, die Bekämpfung des illegalen Artenhandels zu einem Handlungsschwerpunkt zu machen. Er schließt sich der Einschätzung der Europäischen Kommission in Bezug auf den vorherigen EU-Aktionsplan zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels an, dass nämlich der Mangel an Fachpersonal, Ressourcen und Ausbildung in vielen Mitgliedstaaten und Nicht-EU-Ländern nach wie vor ein großes Problem darstellt. Darüber hinaus muss die Zusammenarbeit i) innerhalb der EU-Mitgliedstaaten, ii) zwischen den EU-Mitgliedstaaten, iii) zwischen der EU und Nicht-EU-Ländern sowie iv) mit Interessenträgern und der Zivilgesellschaft verbessert werden. Ferner sollte mehr getan werden, um die digitale Rückverfolgbarkeit und die digitale Zusammenarbeit zwischen den Behörden sicherzustellen.

3.5.

Der EWSA begrüßt, dass die Europäische Kommission die Überarbeitung der Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt mit dem Aktionsplan der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels verknüpft hat. Der EWSA befürchtet allerdings, dass die Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt nicht ausreichen wird, um wirksame und abschreckende Sanktionen für den illegalen Artenhandel vorzusehen. Am 9. Dezember 2022 hat der Rat seinen Standpunkt zu diesem Dossier festgelegt und die Strafen für natürliche Personen erheblich gesenkt und gleichzeitig die Harmonisierungsziele für Sanktionen gegen juristische Personen herabgesetzt. Das vom Rat vorgeschlagene Höchstmaß ist zu niedrig, um abschreckend und wirksam zu sein. Das Höchstmaß für Geldbußen sollte nicht weniger als 15 % des weltweiten Gesamtumsatzes der juristischen Person betragen und damit deutlich über den vom Rat angenommenen Prozentsatz von 5 % bzw. 3 % liegen. Nach Ansicht des Ausschusses ist eine ehrgeizige Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt ausschlaggebend für den Erfolg des EU-Aktionsplans zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Im Aktionsplan sollte ausdrücklich auf Hinweisgeber und andere Verteidiger umweltbezogener Menschenrechte als wichtige Akteure bei der Entwicklung und Umsetzung des Aktionsplans auf europäischer und nationaler Ebene Bezug genommen werden, da sie eine Schlüsselrolle bei der Aufdeckung und Verhütung von Verstößen gegen das Umweltrecht spielen. Sie sollten ferner vor Einschüchterung und Rechtsstreitigkeiten geschützt werden, wenn sie illegalen Artenhandel melden oder Ermittlungen unterstützen, wie es derzeit in der Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vorgesehen ist.

4.2.

Der EWSA hält eine Zusammenarbeit mit den am Handel mit Wildtieren und Wildpflanzen beteiligten Wirtschaftssektoren für wichtig, um die Nachfrage nach Wildtier- und Wildpflanzenprodukten in der EU zu verringern, den illegalen Artenhandel zu unterbinden und um sicherzustellen, dass der Handel mit Wildtieren und Wildpflanzen legal und nachhaltig ist. In dem Aktionsplan sind bestimmten Themen gewidmete Schulungssitzungen mit der EU Wildlife Trade Enforcement Group für einschlägige Wirtschaftsvertreter vorgesehen, um spezifische Fragen zu erörtern (z. B. traditionelle Medizin, exotische Haustiere, Luxusindustrie, Jagdtourismus, Holz, Fischerei und Fischproduktehandel, Verkehr, Kurierunternehmen und Online-Handel). Die Rolle, die zivilgesellschaftliche Organisationen bei der Unterstützung der Bemühungen zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels spielen können, sollte jedoch im Aktionsplan und bei seiner Umsetzung (z. B. Sensibilisierung und Durchführung von Kampagnen zur Verhaltensänderung) stärker anerkannt und berücksichtigt werden. Die Informationen, die die EU ihren Bürgern über die Vorschriften, Risiken und Folgen des Handels mit und der Verwendung von Wildtier- und Wildpflanzenprodukten zur Verfügung stellt, sind im Gegensatz zu Informationen über Praktiken und den Einsatz der traditionellen Medizin, für die viele Teile und Folgeprodukte aus Wildtieren und Wildpflanzen für Heilmittel benötigt werden, in der EU nicht weit verbreitet. Dies birgt Risiken für die Nutzer (da einige Heilmittel keinen wissenschaftlich nachgewiesenen Nutzen haben) und endet für die gefangenen und gehandelten Wildtierarten tödlich (und beschleunigt somit ihr Aussterben). Durch mehr Präventionsarbeit in diesem speziellen Bereich könnte die EU die Menge der jährlich illegal gehandelten Wildtier- und Wildpflanzenprodukte um bis zu 30 % verringern — was dem Anteil der beschlagnahmten Wildtier- und Wildpflanzenprodukte entspricht, die für medizinische Zwecke in der EU bestimmt sind (10). In diesem Sinne könnten der EWSA und die Strafverfolgungsbehörden auch an der Konzipierung öffentlicher Kampagnen zur Sensibilisierung für dieses Problem beteiligt werden.

4.3.

Mit Blick auf die Zuweisung klarer Zuständigkeiten für die Durchführung von Maßnahmen auf nationaler Ebene und die Abstimmung zwischen den beteiligten Akteuren empfiehlt der EWSA ein einheitliches Vorgehen in allen Mitgliedstaaten. Die im Plan zur Gewährleistung der Koordinierung vorgesehenen Möglichkeiten (z. B. durch i) die Einsetzung von behördenübergreifenden Ausschüssen oder durch Absichtserklärungen, ii) die Annahme nationaler Aktionspläne oder iii) die Benennung einer nationalen Kontaktstelle) führen zu Unsicherheit, da sich die Mitgliedstaaten für unterschiedliche Optionen entscheiden werden. Die Einrichtung behördenübergreifender Ausschüsse auf nationaler Ebene, für die jeweils eine Kontaktstelle benannt wird, wird bei der Umsetzung des Aktionsplans helfen.

4.4.

Die Ausbildung dieser behördenübergreifenden Ausschüsse sowie von Fachpersonal oder Spezialeinheiten muss in allen 27 Mitgliedstaaten einheitlich sein. Dies würde die Zusammenarbeit innerhalb der und zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern, da so eine einheitliche Reaktion, Ermittlungsarbeit und strafrechtliche Verfolgung durch das jeweilige Personal ermöglicht würde. Die Benennung einer Kontaktstelle bei jedem behördenübergreifenden Ausschuss würde ferner die Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten und mit Drittländern fördern. Durch eine Kontaktstelle würde die Zusammenarbeit verbessert, da behördenübergreifende Ausschüsse und Fachpersonal in den Mitgliedstaaten einfacher und rascher miteinander in Kontakt treten könnten, insbesondere wenn grenzüberschreitender illegaler Handel dringenden Handlungsbedarf gebietet. Die Kontaktstellen ermöglichen eine flexiblere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, ohne dass bei auf zwei Länder begrenzten Fällen internationale Einrichtungen wie Europol eingeschaltet werden müssen. Diese Stellen könnten jedoch gefährdet sein und zu Zielscheiben der organisierten Kriminalität werden. Genauere Informationen über die Kontaktstellen sollten nur den Strafverfolgungs- und Justizbehörden zugänglich sein, um die Identität der Mitarbeiter zu schützen.

4.5.

Die EU-Mitgliedstaaten haben im Zusammenhang mit der Umsetzung des Aktionsplans der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels berichtet, dass der Mangel an Mitteln und Personal die Durchsetzung von Maßnahmen erschwert hat. Daher muss sichergestellt werden, dass sich die Mitgliedstaaten verpflichten, ausreichende Mittel für die Umsetzung des neuen EU-Aktionsplans auf nationaler Ebene bereitzustellen. Darüber hinaus müssen Mittel vorgesehen werden, um gute Arbeitsbedingungen für das Personal zu gewährleisten.

4.6.

Im Aktionsplan sollte ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass sich die Mitgliedstaaten verpflichten, ausreichende finanzielle Mittel für die Ausbildung von Fachpersonal zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels im eigenen Land bereitzustellen. Die zugewiesenen Mittel sollten im Rahmen der Umsetzung des Aktionsplans auf nationaler Ebene mitgeteilt, überwacht und bewertet werden. Die Mittel sollten nicht nur für Personal, sondern auch für Ausrüstung verwendet werden. Darüber hinaus sollten gute Arbeitsbedingungen mit uneingeschränktem Recht auf Tarifverhandlungen sowie berufliche Aufstiegsmöglichkeiten geboten werden. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um die besten Kräfte zu gewinnen und deren Motivation aufrechtzuerhalten. Besondere Aufmerksamkeit sollte der Gesundheit, dem Wohlergehen und der persönlichen Sicherheit gelten. Es sollten einheitliche Schulungen für alle an der Verhinderung des illegalen Artenhandels beteiligten Akteure durchgeführt und einheitliche Strukturen in allen Mitgliedstaaten geschaffen werden. Der EWSA empfiehlt, dazu behördenübergreifende Ausschüsse und Spezialeinheiten oder besonders geschultes Personal für die Bekämpfung des illegalen Artenhandels einzusetzen.

4.7.

Im Aktionsplan wird die Rolle verschiedener internationaler Agenturen, Behörden und Initiativen wie EMPACT hervorgehoben, dem Vorzeigeinstrument für die multidisziplinäre und behördenübergreifende operative Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität auf EU-Ebene. EMPACT könnte ein wichtiges Instrument für die Umsetzung des Aktionsplans der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels sein. So könnten im Rahmen dieser Initiative beispielsweise einheitliche Schulungen für die behördenübergreifenden Ausschüsse und das Fachpersonal in allen Mitgliedstaaten organisiert werden.

4.8.

Im Aktionsplan der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels sollte darauf eingegangen werden, wie die illegale Jagd, insbesondere die Trophäenjagd, verhindert werden kann. In den Karpaten beispielsweise werden Bären illegal bejagt und die Wilderer nur mit geringen Strafen belegt, deren Höhe nicht abschreckend genug ist.

4.9.

Der EWSA stimmt dem Vorschlag zu, dass EMPACT regelmäßige gemeinsame Aktionen mit grenzüberschreitender Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission (OLAF) und einschlägigen EU-Agenturen wie Eurojust, Frontex, Europol und der Europäischen Fischereiaufsichtsagentur koordiniert. Für eine wirksame Zusammenarbeit ist auch hier eine angemessene Mittelzuweisung auf nationaler Ebene unerlässlich.

4.10.

Mit Blick auf handelspolitische Maßnahmen und Instrumente zur Unterstützung der Bekämpfung des illegalen Artenhandels begrüßt der EWSA den Vorschlag, ehrgeizige Verpflichtungen zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels in künftige Freihandelsabkommen aufzunehmen. Dies wird jedoch nicht ausreichen, um den illegalen Artenhandel einzudämmen. Die Bemühungen der EU, mehr Möglichkeiten für internationalen Handel und internationale Investitionen zu schaffen, werden vergeblich und kontraproduktiv sein, wenn die EU die Lücken bei der Strafverfolgung nicht umgehend schließt. Auch digitale Produktpässe könnten zu diesem Zweck eingesetzt werden. Sie könnten dazu beitragen, die Rückverfolgbarkeit und Transparenz im Hinblick auf die Risiken in globalen Lieferketten zu verbessern, gemeinsame internationale Kontrollmechanismen und Durchsetzungsbemühungen unterstützen und sicherstellen, dass den Bürgern und Verbrauchern in gleichem Umfang Informationen über die von ihnen erworbenen Produkte zur Verfügung stehen, unabhängig davon, woher diese Produkte stammen.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  https://ec.europa.eu/environment/cites/infographics_en.htm

(2)  https://ec.europa.eu/environment/cites/trafficking_en.htm

(3)  https://www.traffic.org/

(4)  https://www.traffic.org/site/assets/files/12745/eu-seizures-report-2020-final-web.pdf

(5)  https://www.traffic.org/site/assets/files/17391/2020_eu_seizures_report_final.pdf

(6)  https://sustainabledevelopment.un.org/topics/biodiversityandecosystems

(7)  Auszüge aus den Schlussfolgerungen einer Analyse der Kommission: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52016SC0038&from=DE.

(8)  UNEP-INTERPOL Report: Value of Environmental Crime up 26 %.

(9)  https://globalconservation.org/news/over-one-thousand-park-rangers-die-10-years-protecting-our-parks/

(10)  Rat legt Verhandlungsmandat für die Richtlinie über Umweltkriminalität fest — Consilium (europa.eu).


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/83


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Unionsrahmens für die Zertifizierung von CO2‐Entnahmen“

(COM(2022) 672 final — 2022/0394 (COD))

(2023/C 184/15)

Berichterstatter: Stoyan TCHOUKANOV

Befassung

Europäisches Parlament, 1.2.2023

Europäischer Rat, 6.2.2023

Rechtsgrundlage

Artikel 192 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

9.3.2023

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

159/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Kommission für einen EU-Rahmen zur Zertifizierung von CO2-Entnahmen, in dem festgestellt wird, dass die CO2-Entnahme ausgebaut und regenerative Verfahren gefördert werden müssen, ohne dabei aus dem Auge zu verlieren, dass der Schwerpunkt weiter auf einer erheblichen Verringerung der Treibhausgasemissionen zur Begrenzung der Erderwärmung liegen muss. Der EWSA stellt jedoch fest, dass dem Vorschlag zufolge zu viele entscheidende Punkte später durch delegierte Rechtsakte geregelt werden sollen.

1.2.

Der EWSA verweist darauf, dass es derzeit EU-weit unterschiedliche Systeme zur Anerkennung und Belohnung der CO2-Entnahme gibt und dass ein gemeinsamer Zertifizierungsrahmen Klarheit und verlässliche Verhältnisse schaffen kann, indem übergreifende EU-Vorschriften für die Messung, Anerkennung und Überprüfung des Klimanutzens der CO2-Entnahme festgelegt werden. Der freiwillige Charakter des Rahmens setzt Anreize für neue Einnahmemöglichkeiten für diejenigen, die möglicherweise Maßnahmen zur CO2-Entnahme durchführen wollen. Der EWSA fordert mehr Klarheit in Bezug auf den erwarteten Zeitplan für die vollständige Umsetzung unter Berücksichtigung der zu schaffenden Einrichtungen und Zertifizierungsstellen.

1.3.

Nach Auffassung des EWSA stellen sich berechtigte Fragen in Bezug auf die Bedeutung der CO2-Entnahme für die EU-Klimapolitik, etwa inwieweit die Aussicht auf eine künftige CO2-Entnahme dazu führt, dass Emissionssenkungen möglicherweise verringert oder verzögert werden, oder mit Blick auf die Gefahr von betrügerischen umweltbezogenen Aussagen und Grünfärberei durch den Erwerb von CO2-Gutschriften. Um Grünfärberei zu verhindern, fordert der EWSA, dass bei der Verwendung der verschiedenen CO2-Entnahmezertifikate (für „dauerhafte Speicherung“, „klimaeffiziente Landwirtschaft“ und „CO2-Speicherung in langlebigen Produkten“) die erwartete Dauer der CO2-Speicherung und die Risiken einer Umkehrung klar zum Ausdruck kommen.

1.4.

Der EWSA begrüßt das Ziel der Kommission, der Öffentlichkeit sowie den Anbietern und Käufern von CO2-Entnahmen Transparenz und Klarheit in Bezug auf den Wert zertifizierter Maßnahmen zur CO2-Entnahme zu bieten. Er fordert jedoch weitere Schutzvorkehrungen hinsichtlich Wert und Verwendung von Zertifikaten. Er legt der Kommission nahe, Leitlinien zur Festlegung geeigneter Angaben vorzulegen, die auf der Grundlage verschiedener Fälle einer zertifizierten CO2-Entnahme gemacht werden können, und fordert, weiterhin zwischen Zertifikaten infolge der dauerhaften CO2-Speicherung, der klimaeffizienten Landwirtschaft und der CO2-Speicherung in Produkten zu unterscheiden.

1.5.

Der EWSA fordert, in den künftigen Verfahren, die in diesem Rahmen entwickelt werden, Aspekte der Rechenschaftspflicht klar festzulegen und die Transparenz zu wahren. Das Risiko einer Umkehrung muss kontinuierlich überwacht und eingedämmt werden. Die Haftung sowie die Übertragung der Haftung für entnommenen und gespeicherten Kohlenstoff müssen für das gesamte Spektrum der Tätigkeiten zur CO2-Entnahme klar definiert werden.

1.6.

Der EWSA fordert die Kommission auf, dafür zu sorgen, dass die Verfahren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und von der Wissenschaft geleitet werden. Er weist darauf hin, dass das Zertifizierungssystem viel zu komplex und aufwendig ist, um eine umfassende Anwendung dieser Verfahren zu fördern. Die Verfahren sind offenbar sehr zeitaufwendig und technisch und können die Betreiber von deren Nutzung abhalten, da es sich bei diesen häufig um kleine Unternehmen mit bestenfalls geringen Margen handelt.

1.7.

Der EWSA stellt fest, dass für die Überwachung, Berichterstattung und Prüfung ein breites Spektrum an Messungen im Zusammenhang mit der CO2-Entnahme erforderlich ist, einschließlich der Nutzung von Fernerkundung und Satellitendiensten. Der EWSA hebt hervor, dass die Kosten der Messungen, die für die Überwachung, Berichterstattung und Prüfung der CO2-Entnahme erforderlich sind, so gering wie möglich gehalten werden müssen, damit der Zertifizierungsrahmen möglichst breit genutzt wird.

1.8.

Der EWSA betont, dass die mit dem Vorschlag verbundenen möglichen Risiken und Nebenwirkungen für die wichtigsten Beteiligten (Landwirte, Forstwirtschaft, Bau- und Holzindustrie), einschließlich ökologischer oder sozioökonomischer Risiken, sorgfältig geprüft und angegangen werden müssen, bevor der Zertifizierungsrahmen in andere Politikbereiche wie die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) integriert wird.

1.9.

Nach Ansicht des EWSA sollten die aktuelle Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) nicht zur Finanzierung einer klimaeffizienten Landwirtschaft oder der CO2-Entnahme genutzt werden. (1) Die GAP kann zwar in geringem Maße zur CO2-Entnahme beitragen, dient jedoch in erster Linie der Erzeugung von Lebens- und Futtermitteln sowie Biomasse, dem vorrangigen Ziel der Land- und Forstwirtschaft. In diesem konkreten Kontext ist die CO2-Entnahme ein Nebeneffekt, was bedeutet, dass zusätzliche Finanzierungsquellen zur Verfügung gestellt werden sollten.

1.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die äußerst unklaren Aussagen der Kommission zum Thema Finanzierung mögliche Interessenten in erheblichem Maße abschrecken werden. Er betont deshalb, dass in Bezug auf die Finanzierung ein gewisses Maß an Sicherheit erforderlich ist. Angesichts der künftigen Möglichkeiten der CO2-Entnahme empfiehlt der EWSA die Ausarbeitung eines Fahrplans für ein gemeinsames Instrument, aus dem diese Maßnahmen finanziert werden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

Ausbau der CO2-Entnahme zur Verwirklichung der Klimaneutralität

2.1.

Im Übereinkommen von Paris hat sich die Europäische Union verpflichtet, bis 2050 Treibhausgasneutralität und danach negative Nettoemissionen zu erreichen. Dem jüngsten Bericht des Weltklimarates zufolge ist die Umsetzung dieses Ziels allein durch die Reduzierung der Emissionen nicht möglich, sondern es müssen auch Verfahren für die CO2-Entnahme eingesetzt werden, um schwer zu verringernde Restemissionen auszugleichen, damit wir wirklich zu Netto-Null-CO2- bzw. Netto-Null-Treibhausgasemissionen gelangen (2).

2.2.

Die CO2-Entnahme ist zwar kein Ersatz für die nötige drastische Verringerung der Treibhausgasemissionen, ergänzt jedoch die Anstrengungen zur Emissionsreduktion, deren Ziel Netto-Null-Emissionen und negative Nettoemissionen sind. Die CO2-Entnahme muss deshalb weltweit erheblich ausgebaut werden, um die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre zu kontrollieren und die Erderwärmung zu begrenzen. Die EU geht davon aus, dass sie zur Umsetzung ihrer Klimaziele ihre Emissionen im Vergleich zu 1990 um 85 bis 95 % senken muss, wobei die CO2-Entnahme die Differenz ausgleichen soll. Es müssen also jährlich mehrere hundert Millionen Tonnen CO2 aus der Atmosphäre entfernt werden.

2.3.

Zu diesem Zweck hat die EU bislang mehrere Initiativen eingeleitet:

das Klimagesetz, in dem festgelegt ist, dass die EU bis 2050 klimaneutral werden soll;

die Verordnung über Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft (LULUCF), in deren letzter vorgeschlagener Änderung vorgesehen ist, dass die Bindung von CO2 in Böden, Wäldern und Holzerzeugnissen bis 2030 auf 310 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent netto zu erhöhen ist, und

die Mitteilung über nachhaltige Kohlenstoffkreisläufe mit einem Fahrplan für eine klimaeffiziente Landwirtschaft, die zur Verwirklichung des für 2030 vorgeschlagenen LULUCF-Ziels beiträgt, und industriellen Lösungen für den Abbau von mindestens 5 Millionen Tonnen bis 2030. In der Mitteilung wurden auch Pläne zur Ausarbeitung eines Vorschlags für einen Rechtsrahmen für die Zertifizierung der CO2-Entnahme angekündigt.

Steuerung der CO2-Entnahme

2.4.

Mit ihrem Vorschlag zur Schaffung eines freiwilligen EU-Rahmens für die Zertifizierung der CO2-Entnahme will die Europäische Kommission die hochwertige und nachhaltige CO2-Entnahme durch Anreize für die Finanzierung, die Bekämpfung von Grünfärberei, Vertrauensbildung sowie die Harmonisierung der Marktbedingungen fördern.

2.5.

Die Kommission weist drei Hauptkategorien von Verfahren für die CO2-Entnahme aus:

dauerhafte Speicherung. Dies umfasst Verfahren wie die CO2-Abscheidung und -Speicherung mit Hilfe von Bioenergie (bioenergy-based CCS, BECCS) und die direkte CO2-Abscheidung und -Speicherung aus der Luft (DACCS). Durch derartige Methoden sollen bis 2030 mindestens 5 Millionen und bis 2050 bis zu 200 Millionen Tonnen CO2 entnommen werden;

klimaeffiziente Landwirtschaft mit Verfahren wie Aufforstung und Wiederaufforstung, einer besseren Waldbewirtschaftung, Agroforstwirtschaft, Kohlenstoffbindung im Boden und Wiederherstellung von Torfflächen. Zusammen mit Produkten zur Kohlenstoffspeicherung trägt die klimaeffiziente Landwirtschaft zum in der LULUCF-Verordnung vorgeschlagenen Ziel der Entnahme von jährlich 310 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent netto bis 2030 und zu einer klimapositiven Wirtschaft im Jahr 2050 bei;

Produkte zur Kohlenstoffspeicherung, also die Verwendung von Holzwerkstoffen im Bauwesen, sowie die langfristige CO2-Abscheidung und -Nutzung (CCU), die zusammen mit einer klimaeffizienten Landwirtschaft zu den genannten vorgeschlagenen LULUCF-Zielen und einer klimapositiven Gesellschaft beitragen.

2.6.

Um sicherzustellen, dass nur eine hochwertige CO2-Entnahme entsprechend der Verordnung zertifiziert wird, hat die Kommission bestimmte Basiskriterien festgelegt:

die CO2-Entnahme muss präzise gemessen werden und eindeutige Vorteile für das Klima mit sich bringen (Quantifizierung);

die Maßnahmen zur CO2-Entnahme müssen über marktübliche Verfahren und über das gesetzlich vorgeschriebene Maß hinausgehen (Zusätzlichkeit);

die Zertifikate müssen die Dauer der Kohlenstoffspeicherung klar abbilden und zwischen dauerhafter und zeitlich begrenzter (langfristiger Speicherung) unterscheiden;

schließlich sollte die CO2-Entnahme auch anderen Umweltzielen wie der biologischen Vielfalt zugutekommen oder darf zumindest die Umwelt nicht schädigen (Nachhaltigkeit).

2.7.

Um die für die einzelnen Verfahren der CO2-Entnahme geltenden Vorschriften klarer zu fassen und im Interesse handhabbarer Qualitätskriterien wird die Kommission mit Unterstützung einer Expertengruppe maßgeschneiderte Zertifizierungsverfahren entwickeln und in delegierten Rechtsakten verankern. Die EU wird zunächst Verfahren entwickeln und Zertifizierungssysteme anerkennen. Danach können sich die Betreiber an den von der EU anerkannten Zertifizierungssystemen beteiligen, und von Dritten wird geprüft, welche Tätigkeiten für die Zertifizierung infrage kommen. Die zertifizierte CO2-Entnahme wird in interoperablen Registern erfasst.

2.8.

Es gibt diverse Synergien zwischen bestehenden und künftigen Initiativen in dem für die CO2-Entnahme relevanten Bereich. Die CO2-Entnahme im Rahmen der vorgeschlagenen Verordnung könnte

öffentliche Unterstützung im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik, staatlicher Beihilfen oder des Innovationsfonds erhalten;

in die Berichterstattung der Unternehmen einbezogen werden. Dies sollte in der Initiative zur Belegung von Umweltaussagen oder in der Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen genauer definiert werden;

unter Nutzung von Synergien mit anderen Gütesiegeln und Zertifizierungen erfolgen, etwa der Zertifizierung der ökologischen Landwirtschaft und der nachhaltigen Biomasse;

in Lieferkettenverträge eingebunden werden, wodurch industrielle Wertschöpfungsketten und Synergien mit nachhaltigen Lebensmittelsystemen geschaffen werden;

zur Integrität freiwilliger CO2-Märkte beitragen.

3.   Besondere Bemerkungen

Eine robuste Zertifizierung als dringend benötigte Grundlage für den raschen Ausbau der Kapazitäten für die CO2-Entnahme in Europa

3.1.

Die Festlegung übergreifender EU-Vorschriften für die Messung, Validierung und Überprüfung des klimapolitischen Nutzens der CO2-Entnahme kann entscheidend zur Entwicklung umfassender Kapazitäten für die CO2-Entnahme in Europa beitragen. Dazu gehört eine breite Palette innovativer Verfahren für Land- und Forstwirtschaft, Industrie und weitere Bereiche zur Abscheidung und Speicherung von nichtfossilem CO2.

3.2.

Die Zertifizierung ist ein notwendiger und wichtiger Schritt zur Einbindung der CO2-Entnahme in die Klimapolitik der EU. Dazu gehören beispielsweise die Schaffung von Anreizen für die Speicherung von Kohlenstoff im Boden für Landbewirtschafter (z. B. über die GAP), die Belohnung der Beschaffung von Baustoffen, die nichtfossilen Kohlenstoff speichern, (z. B. durch Bauvorschriften) oder die Berichterstattung über Klimaziele (z. B. im Rahmen der Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen).

3.3.

Der EWSA unterstützt deshalb voll und ganz den Zertifizierungsrahmen für die CO2-Entnahme, und zwar grundsätzlich und als Schritt hin zu einer robusten Zertifizierung.

Verfolgung der CO2-Entnahme zur Sicherstellung positiver Nebeneffekte für Klima, Wirtschaft und Gesellschaft

3.4.

Die Entnahme großer Mengen von CO2 ist unerlässlich, doch ebenso wichtig ist es, dass diese Bemühungen überwacht werden. Nach Auffassung des EWSA stellen sich möglicherweise berechtigte Fragen in Bezug auf die Bedeutung der CO2-Entnahme für die EU-Klimapolitik, etwa inwieweit sie von Klimaschutzmaßnahmen abhalten könnte, bis hin zur Gefahr von betrügerischen Umweltaussagen und Grünfärberei durch den Erwerb von CO2-Gutschriften.

3.5.

Der EWSA ist deshalb der Auffassung, dass die EU einen wirksamen und robusten rechtlichen Rahmen benötigt, um sicherzustellen, dass nur eine hochwertige und zuverlässige CO2-Entnahme zertifiziert wird. Dies wird es der EU ermöglichen, die CO2-Entnahme anzuerkennen und zu belohnen, ohne die Dekarbonisierung zu behindern.

3.6.

Die Festlegung einer Qualitätsschwelle für jeden Fall einer zertifizierten CO2-Entnahme ist von entscheidender Bedeutung, damit die Hauptakteure darauf vertrauen können, dass die von der EU zertifizierte CO2-Entnahme tatsächlich positive Effekte für das Klima bringt. Darüber hinaus muss ein ausreichend starkes Signal dafür gesetzt werden, dass die zertifizierte CO2-Entnahme sicher in umfassendere klimabezogene Maßnahmen der EU integriert werden kann.

3.7.

In diesem Zusammenhang müssen die Maßnahmen zur CO2-Entnahme dem Kriterium der Zusätzlichkeit entsprechen, dass also eine Entnahme ohne das Tätigwerden nicht erfolgt wäre. Dies ist eine strikte Anforderung für den Fall, dass die Zertifikate für Kompensationsansprüche verwendet werden, kann aber möglicherweise gelockert werden, wenn keine Ansprüche geltend gemacht werden (z. B. im Falle von staatlichen Direktzahlungen an Landwirte als Anreiz für die Umstellung auf regenerative Verfahren). Aus diesem Grund sollten Maßnahmen zur CO2-Entnahme positive Nebeneffekte im Hinblick auf die Nachhaltigkeit bewirken und nicht nur eine „neutrale“ Wirkung haben, wie dies derzeit von der Kommission vorgesehen ist.

3.8.

Der EWSA betont ferner, dass das Risiko der Umkehrung (Freisetzung von gespeichertem CO2) kontinuierlich überwacht und eingedämmt werden muss. Die Haftung sowie die Übertragung der Haftung für entnommenen und gespeicherten Kohlenstoff müssen für jede Form der CO2-Entnahme klar definiert und spezifiziert werden.

Beibehaltung der Unterscheidung zwischen dauerhafter Kohlenstoffspeicherung, klimaeffizienter Landwirtschaft und Kohlenstoffspeicherung in Produkten

3.9.

Die Verfahren für die CO2-Entnahme unterscheiden sich erheblich in Bezug darauf, wie das CO2 aus der Atmosphäre extrahiert wird sowie wo und für welchen Zeitraum der Kohlenstoff gespeichert wird.

3.10.

Im Allgemeinen ist Kohlenstoff, der terrestrisch und in lebender Biomasse (kurzfristige Entnahme) gespeichert ist, anfälliger und weist eine kürzere Speicherdauer auf als Kohlenstoff, der in geologischen Lagerstätten gespeichert wird (langfristige Entnahme).

3.11.

Die verschiedenen Verfahren der CO2-Entnahme und -Speicherung sollten deshalb entsprechend der Art der Speicherung auf unterschiedliche Weise zahlenmäßig erfasst, behandelt und zertifiziert werden. Die EU unterscheidet bereits zwischen den Emissionen im Rahmen von LULUCF und den Emissionen der Industrie. In der Mitteilung über nachhaltige Kohlenstoffkreisläufe wird zwischen fossilem, biogenem und atmosphärischem Kohlenstoff unterschieden, der in der EU bis spätestens 2028 getrennt ausgewiesen, verfolgt und verbucht werden soll.

3.12.

Darüber hinaus sollte betont werden, dass die drei Arten von Verfahren zur CO2-Entnahme (dauerhafte Kohlenstoffspeicherung, klimaeffiziente Landwirtschaft und CO2-Speicherung in Produkten) eine unterschiedliche Rolle auf unserem Weg zur Klimaneutralität spielen und Unterschiede bei den Klimaergebnissen, den Kosten, den Umsetzungsproblemen, dem Reifegrad und der öffentlichen Wahrnehmung aufweisen. Sie sollten deshalb auch auf unterschiedliche Weise gefördert und verwaltet werden, mit maßgeschneiderten Strategien und finanzieller Unterstützung, die den Besonderheiten der einzelnen Verfahren der CO2-Entnahme gerecht werden.

3.13.

Der EWSA unterstützt deshalb das Ziel der Kommission, der Öffentlichkeit sowie den Anbietern und Käufern von Verfahren für die CO2-Entnahme Transparenz und Klarheit in Bezug auf den Wert zertifizierter Maßnahmen zur CO2-Entfernung zu bieten.

3.14.

Der EWSA fordert die Kommission jedoch nachdrücklich auf, weiter zu gehen und Leitlinien einzuführen, in denen die Angaben festgelegt werden, die in den verschiedenen Fällen einer zertifizierten CO2-Entnahme (d. h. dauerhafte Speicherung, klimaeffiziente Landwirtschaft, CO2-Speicherung in Produkten) gemacht werden können. Dies wird von entscheidender Bedeutung sein, um das gesamte Spektrum möglicher Fälle der Zertifizierung der CO2-Entnahme zu fördern und gleichzeitig die Integrität des geltend gemachten Klimanutzens zu gewährleisten und Grünfärberei zu verhindern.

Gewährleistung von Transparenz und wissenschaftlichem Input bei der Entwicklung von Verfahren

3.15.

Da die Kommission mit Unterstützung einer Expertengruppe separat Verfahren für die verschiedenen Formen der CO2-Entnahme entwickeln und weitere Einzelheiten zu Zertifikaten in delegierten Rechtsakten festlegen muss, fordert der EWSA, die Zivilgesellschaft einzubeziehen und zu konsultieren.

3.16.

Der EWSA fordert die Kommission auf, dafür zu sorgen, dass die zu entwickelnden Verfahren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und von der Wissenschaft geleitet werden.

3.17.

Der EWSA stellt fest, dass für die Überwachung, Berichterstattung und Prüfung ein breites Spektrum an Messungen im Zusammenhang mit der CO2-Entnahme erforderlich ist, einschließlich der Nutzung von Fernerkundung und Satellitendiensten. Der EWSA hebt hervor, dass die Kosten der Messungen, die für die Überwachung, Berichterstattung und Prüfung der CO2-Entnahme erforderlich sind, so gering wie möglich gehalten werden müssen, damit der Zertifizierungsrahmen möglichst breit genutzt wird.

3.18.

Die EU sollte in Erwägung ziehen, zweckgebundene Mittel für Forschung, die Entwicklung von Verfahren und die Durchführung von Pilotprojekten bereitzustellen. Damit die Zertifizierung wirklich allen Akteuren offensteht, wird die Unterstützung beim Kapazitätsaufbau und bei der Deckung der Verwaltungskosten gerade für kleine Akteure von entscheidender Bedeutung sein.

3.19.

Schließlich betont der EWSA, dass die mit dem Vorschlag verbundenen möglichen Risiken und Nebenwirkungen für die wichtigsten Beteiligten (Landwirte, Forstwirtschaft, Bau- und Holzindustrie), einschließlich ökologischer oder sozioökonomischer Risiken, sorgfältig geprüft und angegangen werden müssen, bevor der Zertifizierungsrahmen in andere Politikbereiche wie die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) integriert wird.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 323 vom 26.8.2022, S. 95.

(2)  IPCC WGIII SPM, 2022.


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/88


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Lage der Energieunion 2022 (gemäß der Verordnung (EU) 2018/1999 über das Governance-System für die Energieunion und für den Klimaschutz)“

(COM(2022) 547 final)

(2023/C 184/16)

Berichterstatter: Marcin NOWACKI, Angelo PAGLIARA, Lutz RIBBE

Befassung

Europäische Kommission, 25.11.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.3.2023

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

208/4/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Mit ihrem Bericht zur Lage der Energieunion 2022 legt die Europäische Kommission eine recht optimistische Reflexion über die Maßnahmen und Ziele der letzten Monate vor.

1.2.

Bei der Lektüre des Berichts zeigt sich, dass viele Ziele, die vor dem Krieg gegen die Ukraine noch als zu ehrgeizig galten, nun als realistische Antworten auf die Energiekrise dargestellt werden. Es stellt sich die Frage, was die EU insgesamt daran gehindert hat, bereits vor dem 24. Februar 2022 bei Klimaschutz, Versorgungssicherheit, Energieautonomie und Resilienz des europäischen Energiesystems entschlossener zu handeln.

1.3.

Zwar enthält die Mitteilung aufschlussreiche Fakten und Zahlen, doch geht es bei der Energieunion um viel mehr als mathematisch oder statistisch festzulegende Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien, Energieeinsparungen oder die Senkung der Emissionen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) weist darauf hin, dass die Energieunion vor allem ein politisches Projekt mit folgenden genau festgelegten politischen Zielen ist, die in Form von Visionen formuliert werden (1):

(1)

eine Energieunion, in der Solidarität und Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten herrschen, die in der globalen Politik mit einer Stimme sprechen;

(2)

ein integriertes Energiesystem, in dem die Energieströme ungehindert über die Grenzen hinweg fließen, das auf Wettbewerb, einer wirksamen Regulierung und der bestmöglichen Nutzung der Ressourcen basiert;

(3)

eine nachhaltige, CO2-arme und klimafreundliche Wirtschaft, die auf Dauer angelegt ist;

(4)

starke, innovative und wettbewerbsfähige europäische Unternehmen, die die notwendigen Produkte und Technologien zur Erreichung von Energieeffizienz und zur Verringerung von CO2-Emissionen entwickeln, um die Energiekosten zu senken, aktiv am Markt teilzunehmen und für den Schutz besonders schutzbedürftiger Verbraucher zu sorgen;

(5)

die Qualifizierung der europäischen Arbeitskräfte zur Vermittlung der für den Aufbau und das Management der europäischen Energiewirtschaft erforderlichen Kompetenzen;

(6)

die Schaffung von Vertrauen bei den Investoren aufgrund von Preissignalen, die auf langfristigen Bedürfnissen und politischen Zielen beruhen, was u. a. voraussetzt, dass die Subventionen für fossile Brennstoffe nach und nach abgeschafft werden, und

(7)

eine Energieunion, in deren Mittelpunkt die Bürgerinnen und Bürger stehen, die Verantwortung für die Umstellung des Energiesystems übernehmen, sich neue Technologien zunutze machen, um ihre Energiekosten zu senken, und aktiv am Markt teilnehmen, und in der für den Schutz besonders schutzbedürftiger Verbraucher gesorgt wird.

In dem Bericht werden die bisher ergriffenen oder geplanten Maßnahmen zur Umsetzung dieser Visionen beschrieben. Der EWSA bedauert jedoch, dass sich die Beschreibung in dem Bericht nicht auf die Visionen, sondern auf die fünf sich gegenseitig verstärkenden und eng miteinander verknüpften Dimensionen bezieht, mit denen größere Energieversorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit angestrebt werden. Die Tatsache, dass auf der einen Seite Zielsetzungen oder Visionen und auf der anderen Seite Dimensionen nebeneinander bestehen, macht es äußerst schwierig, die Umsetzung der Visionen zu verfolgen, auch weil beispielsweise das Anliegen, die Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt der Energieunion zu stellen, oder die Notwendigkeit der Weiterbildung und Umschulung von Arbeitnehmern in mehreren Dimensionen genannt werden. Der EWSA bedauert, dass es dadurch sehr schwierig ist, die Fortschritte bei der Umsetzung der Ziele der Strategie für die Energieunion zu verfolgen.

1.4.

In der Mitteilung wird zu Recht auf den REPowerEU-Plan verwiesen, den der EWSA unterstützt und der dem Grünen Deal und den Instrumenten des Pakets „Fit für 55“ neue Impulse verleiht und sie stärkt. Zentrale Aspekte sind dabei Diversifizierung, Einsparungen, Versorgungssicherheit und die Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Die derzeitige Klima- und Energiekrise und der Mangel an Sicherheit, Stabilität und Verlässlichkeit der Versorgung und der Preise stellen eine enorme Belastung für die Europäische Union dar. Die Krise wäre weniger schwerwiegend, wenn bereits früher gezieltere Maßnahmen ergriffen worden wären, z. B. wenn die eigenen Ziele der EU (wie die der Europäischen Energieunion) ernster genommen worden wären.

1.5.

Laut dem Bericht zur Lage der Energieunion 2022 müssen öffentliche Mittel in Höhe von schätzungsweise 300 Milliarden Euro in die verschiedenen Maßnahmenbereiche investiert werden, die darauf abzielen, dass die EU bis 2030 vollkommen unabhängig von fossilen Brennstoffen aus Russland wird, was erhebliche Auswirkungen auf den Gesamthaushalt der EU haben wird. Darüber hinaus werden weitere private Investitionen erforderlich sein, einschließlich Investitionen der europäischen Bürgerinnen und Bürger. Nach Auffassung des EWSA sollten diese Mittel so ausgegeben werden, dass sie zur Verwirklichung der oben genannten Ziele der Energieunion beitragen. Zudem sollten die Ausgaben nicht zu einer Verringerung der Mittel für den gerechten Übergang, für Forschung und Innovation oder für die unter den steigenden Energiepreisen leidenden Unternehmen und Verbraucher führen.

1.6.

Der beispiellose Anstieg der Energiepreise infolge der russischen Invasion in die Ukraine hat enorme soziale und wirtschaftliche Folgen sowie Auswirkungen auf die Industrie- und Produktionsstruktur der Länder. Der EWSA betont, dass es an einer klaren europäischen Koordinierung während der Energiekrise gefehlt hat, und fordert als Teil der Lösung die Schaffung eines Instruments auf der Grundlage des SURE-Modells, mit dem Arbeitnehmer und Unternehmen in Schwierigkeiten unterstützt werden.

1.7.

Durch die jüngsten Ereignisse wurde das potenzielle Risiko von Cyberangriffen und Sabotageakten gegen kritische Infrastrukturen wie das Energienetz und Kraftwerke erhöht. Der EWSA empfiehlt daher die Konzipierung und Annahme einer umfassenden Strategie zum Schutz der EU vor diesen Bedrohungen.

1.8.

Das wichtigste mittelfristige strategische Ziel der EU-Mitgliedstaaten muss — insbesondere vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und angesichts einer möglichen weiteren Verkomplizierung der internationalen Lage — auch weiterhin Energieautonomie lauten. Unter strategischer Energieautonomie ist ein politisches Konzept zu verstehen, das zur Gestaltung eines künftigen EU-Energiemarkts beiträgt, in dem autonome Entscheidungen der EU die Energieunabhängigkeit von unzuverlässigen Lieferanten gewährleisten. Der EWSA bedauert, dass dieses Thema in dem Bericht unzureichend berücksichtigt und weiterhin hintangestellt wird, wobei der Schwerpunkt ausschließlich auf der Unabhängigkeit von Energieeinfuhren aus Russland liegt.

1.9.

Damit die Ziele der strategischen Autonomie der EU umgesetzt werden können, fordert der EWSA den Rat und die Kommission auf, geeignete Instrumente zu entwickeln, auch durch die Schaffung eines Europäischen Souveränitätsfonds, um Investitionen in saubere in Europa verfügbare Energietechnologien und Energieinfrastrukturen zu fördern. Zugleich müssen die Mitgliedstaaten dazu angehalten werden, die Mittel optimal und effizient für den Ausbau sauberer Energien einzusetzen. Eine solche Strategie muss auch Leitlinien dazu umfassen, wie Unternehmen, öffentliche Einrichtungen, die Öffentlichkeit und Energiegemeinschaften zu mehr Investitionen motiviert werden können. Die derzeit zur Verfügung gestellten Instrumente und Ressourcen scheinen nicht auszureichen, um die großen Herausforderungen meistern zu können. Der EWSA fordert die Kommission auf, besonders auf die Auswirkungen neuer Ressourcen und Lieferungen auf die Umwelt sowie auf neue Abhängigkeiten von Drittländern zu achten.

1.10.

Der EWSA schlägt vor, bei der Stärkung der Energieautonomie einen Bottom-up-Ansatz zu verfolgen, da sich so die in Ziffer 1.3 genannten Ziele leichter erreichen lassen.

1.11.

Der europäische Grüne Deal geht noch nicht mit den für einen gerechten Übergang erforderlichen sozialpolitischen Maßnahmen einher. Angesichts der großen Auswirkungen, die der Übergangsprozess auf die Beschäftigung und das industrielle Gefüge haben wird, bedauert der EWSA, dass in dem Bericht nicht angemessen berücksichtigt wird, wie wichtig eine umfassende Beschäftigungs-, Qualifikations- und Sozialpolitik ist. Investitionen in die Bildung sowie Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen müssen als sozioökonomische Verantwortung betrachtet werden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Die beste und am meisten mit den strategischen Zielen der Energieunion in Einklang stehende Antwort auf die durch Russlands Aggression gegen die Ukraine verursachten extremen Lieferengpässe wäre ein Energiesystem, das zu 100 % auf in Europa erzeugter sauberer Energie beruht. Der EWSA ist sich bewusst, dass die Ansichten darüber, ob dieses Ziel erreicht werden kann, auseinandergehen. In dem erwarteten Szenario hätte ein solches Energiesystem jedoch den wesentlichen Vorteil absoluter Autonomie und hoher Resilienz. Sobald die Ausgaben für Investitionen in Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien, intelligente Technologien, saubere Verkehrsmittel und Energieeffizienz refinanziert sind, würde es den Endverbraucherinnen und -verbrauchern die erschwinglichste Energie bieten und gleichzeitig die lokale und regionale Wirtschaft stärken und die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen ermöglichen als das alte System. All diese Vorteile sind in den jeweiligen Erwägungsgründen des Pakets „Saubere Energie“ klar beschrieben. Während Energieautonomie theoretisch und rein technisch gesehen auf der Grundlage der erneuerbaren Energien erreicht werden kann, muss immer noch sichergestellt werden, dass das gesamte Ökosystem, einschließlich des Materials für die Anlagen für erneuerbare Energien, eine lokale Erzeugung ermöglichen. Aus dem Bericht zur Lage der Energieunion geht jedoch hervor, dass das europäische Energiesystem noch weit davon entfernt ist, diesem Ziel zu entsprechen.

2.2.

Daher ist eine Differenzierung erforderlich: Wenn absolute Autonomie nicht erreichbar ist, wird die EU strategische Autonomie benötigen. Hinsichtlich der strategischen Autonomie müsste ermittelt werden, in welchem Umfang Energieimporte auch in Zukunft unvermeidbar bleiben und was dies für die Anfälligkeit/Resilienz des europäischen Energiesystems bedeutet. Der Bericht über die Lage der Energieunion gibt hierauf jedoch keinerlei Antwort, noch enthält irgendein anderes Strategiepapier der Kommission dahingehende Hinweise.

2.3.

Um die unter Ziffer 2.2 angesprochene Frage zu beantworten, muss der Beitrag erneuerbarer Energien, einschließlich Stromspeicherung und Nachfragesteuerung sowie anderer Flexibilitätsoptionen, zur Deckung der Nachfrage in den Bereichen Strom, Heizung und Verkehr berechnet werden (Kapazitätseffekt). Der Kapazitätseffekt ist der Teil der installierten Kapazität eines Kraftwerks, auf den zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückgegriffen werden kann. Da es sich bei erneuerbaren Energien um dezentral erzeugte Energien handelt, ist es sinnvoll, mit dieser Bewertung am Erzeugungsort zu beginnen. Gemäß diesem Ansatz müsste der Kapazitätseffekt zunächst auf lokaler Ebene (z. B. auf Bezirksebene) ermittelt werden. Er drückt den Beitrag aus, den Prosumenten, Erneuerbare-Energie-Gemeinschaften und andere Erzeuger leisten können. Eine der Zielsetzungen oder Visionen der Energieunion, nämlich die Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt des Energiesystems zu stellen, muss auf lokaler Ebene umgesetzt werden. Die nächste Stufe wäre die regionale Ebene, auf der Defizite (Kapazitätseffekt von unter 100 %) und Überschüsse (Kapazitätseffekt von über 100 %) so weit wie möglich ausgeglichen werden könnten. Dann würde die interregionale, die nationale und schließlich die europäische Ebene folgen. Da die erneuerbaren Energien erhebliche systemische Ausgaben für die Energieinfrastruktur erfordern, besteht das Hauptziel darin, Energie aus erneuerbaren Quellen lokal zu nutzen. Andernfalls müssen die Kosten von den Energieerzeugern getragen werden.

2.4.

Dieser in Ziffer 2.3 beschriebene Bottom-up-Ansatz entspricht am besten dem Wesen der erneuerbaren Energien und Flexibilitätsoptionen in Bezug auf Erzeuger jeglicher Größe, einschließlich großer Energiekraftwerke sowie kleiner Erzeuger, darunter auch sogenannter Prosumenten.

2.5.

Im Hinblick auf die Energieunion hat der in Ziffer 2.3 beschriebene Ansatz drei grundlegende Vorteile.

2.5.1.

Erstens muss unter dem Blickwinkel der Investitionsplanung das heute und künftig benötigte Volumen der Energieimporte in die EU vorhergesehen werden. Nur dann lassen sich Fehlinvestitionen und insbesondere Lock-in-Effekte vermeiden. Um es ganz konkret zu sagen: Ohne die beschriebene Analyse ist es nicht möglich, die tatsächliche Nachfrage nach LNG für 2025, 2030 und 2035 korrekt vorherzubestimmen. Kaufentscheidungen, insbesondere solche, die sich auf langfristige Verträge stützen, drohen, sich als falsch zu erweisen, wenn die Kapazitätseffekte nicht auf lokaler, regionaler, interregionaler und europäischer Ebene geprüft werden. Dies ist von besonderer Bedeutung, da für LNG-Lieferungen jetzt langfristige Verträge geschlossen werden müssen. Hiervon hängt der Erfolg der Energieunion ab, diese Analyse fehlt aber.

2.5.2.

Der zweite Vorteil einer auf lokaler, regionaler, interregionaler und europäischer Ebene durchgeführten Analyse der Kapazitätseffekte erneuerbarer Energien, einschließlich der Flexibilitätsoptionen, besteht darin, dass sie zu einer zukunftsorientierten Energieinfrastrukturplanung beitragen würde, die das Stromnetz, das Verteilungsnetz für CO2-armes Gas und die Fernwärmenetze umfasst. Hier ist unbedingt darauf hinzuweisen, dass die Gasinfrastruktur in Europa für Wasserstoff geeignet sein muss. Derzeit gibt es jedoch kein zuverlässiges Kriterium für die Wasserstofftauglichkeit. Der EWSA fordert die Kommission auf, mit der Entwicklung entsprechender Standards zu beginnen, um so bald wie möglich einen Vorschlag vorzulegen.

2.5.3.

Ein dritter Vorteil steht in engem Zusammenhang mit dem in Ziffer 1.10 genannten Vorteil: Es ist ein Überdenken der Systemstabilität erforderlich. Die künftigen Übertragungs- und Verteilernetze in Europa und den einzelnen EU-Mitgliedstaaten sollten aus einem Grundgerüst standardisierter Verbindungsleitungen bestehen, die einen Verbund bilden und sowohl zentral verwaltete Hochspannungsleitungen als auch Energiegenossenschaften auf der Grundlage kommerziell genutzter Mittel- und Niederspannungsleitungen umfassen. Auf lokaler Ebene muss der Ausbau und die vereinfachte Weiterentwicklung dezentraler Energiequellen durch rechtliche und organisatorische Mechanismen beschleunigt werden, die die Nutzung so genannter Direktleitungen, eine Kabelbündelung und eine Zusammenarbeit mit Erzeugern erneuerbarer Energien auf der Grundlage gemeinsamer, festgelegter Grundsätze im Rahmen von Strombezugsverträgen ermöglichen.

2.6.

Heutzutage sind die Betreiber der Übertragungsnetze auf nationaler Ebene nicht ausreichend am Ausbau lokaler Netze interessiert, der die Flexibilität des Stromsektors erhöhen würde, da dies aus ihrer Sicht das Stromnetz destabilisieren könnte. Die Betreiber der Verteilungsnetze werden nicht ermutigt, in lokale Netze zu investieren, da es unter den derzeitigen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen an klaren Leitlinien fehlt. Die Regelung für die Netzentgelte schafft lediglich Anreize für die Übertragung und Verteilung von Strom. Es mangelt jedoch an Anreizen für intelligente Strommanagementkonzepte. Der EWSA ist überzeugt, dass sich die Energieversorgungssicherheit auf lokaler Ebene mit der Entwicklung von Energiegenossenschaften und des Prosumentenmodells für die Energieerzeugung verbessern und die Netzlast verringern lassen. Der lokale Verbrauch volatiler erneuerbarer Energien verringert den Druck auf das Netz, weshalb der lokale Verbrauch die bevorzugte Option sein sollte, wenn dies ressourcen- und kosteneffizient ist. Prosumenten und Energiegemeinschaften (unter Beteiligung von Energieverteilern, lokalen Gebietskörperschaften, Unternehmern und Bürgern) können im Haushalt, im Unternehmen und in öffentlichen Gebäuden für ein Gleichgewicht zwischen den verfügbaren Ressourcen und der Stromnachfrage sorgen — insbesondere dank der Entwicklung von Energiespeichertechnologien und digitalen Technologien. Der EWSA weist auf die Gefahr hin, dass Stromverteiler diesbezüglich in einen Interessenkonflikt geraten, und fordert, dass die zuständigen Aufsichtsbehörden Maßnahmen prüfen, mit denen negativen Auswirkungen auf die vertikale Integration vorgebeugt werden kann.

2.7.

Angesichts der in Ziffer 2.6 beschriebenen unzulänglichen Praktiken wird es umso wichtiger, dem in Ziffer 2.3 dargelegten Ansatz zu folgen, um die drei in den Ziffern 2.5.1, 2.5.2 und 2.5.3 erläuterten Vorteile zu erzielen. Der EWSA fordert die Kommission daher auf, einen Vorschlag für die Einbeziehung dieses Ansatzes in ihre Strategie für die Energieunion auszuarbeiten. Um die strategische Perspektive einer Energieunabhängigkeit zu verwirklichen, unabhängig von den erforderlichen Sofortmaßnahmen des letzten Jahres, gilt es, folgende Aspekte ständig zu überwachen und weiterzuentwickeln:

das Gleichgewicht der vorhandenen Ressourcen (Öl, Gas, erneuerbare Energiequellen und Kernenergie usw.);

das Gleichgewicht potenzieller Ressourcen (Exploration, Abbau konventioneller Ressourcen, Entwicklung innovativer Technologien usw.);

die Strategie und Prioritätensetzung für einen optimalen Ausbau der verschiedenen Energieträger in Europa sowie das Finanzierungssystem für die Strategie für eine unabhängige Energieversorgung.

Hierfür muss zudem geprüft werden, welche noch in Betrieb befindlichen Anlagen beibehalten werden sollten und welche alten Energieträger, einschließlich konventioneller Kapazitäten, im Zuge eines reibungslosen und komplementären Prozesses ersetzt werden sollten. Auch sollten Nutzen und Kosten der Methanumwandlung mit Wasserdampf (SMR) und von Technologien für die CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS) bzw. CO2-Abscheidung und -nutzung (CCU) geprüft werden.

2.8.

In diesem Zusammenhang bekräftigt der EWSA, wie wichtig es ist, die Genehmigung von Projekten im Bereich erneuerbare Energien zu beschleunigen. Hierbei handelt sich um eine wichtige Maßnahme, die sich relativ leicht umsetzen lässt. Durch den großen Verwaltungsaufwand werden einige Projekten erheblich verzögert, insbesondere Projekte, bei denen es um große Erzeugungskapazitäten geht. Der EWSA weiß um und begrüßt die diesbezüglichen Bemühungen der Kommission, doch es ist endlich Zeit für effektive Änderungen.

2.9.

Bei der Erfüllung der in Ziffer 2.5.3 genannten Aufgabe sollte die Kommission auch die strategische Verbindung zwischen der europäischen Energiestrategie und der Notwendigkeit eines soliden, nachhaltigen und innovativen europäischen Industriesystems berücksichtigen, was in den Berichten zur Lage der Energieunion bisher nicht der Fall war. Der EWSA hat in seiner Stellungnahme zur Lage der Energieunion 2021 (TEN/767) empfohlen, im Rahmen der Governance und Steuerung der Energieunion Synergien mit der neuen Industriestrategie für Europa stärker zu berücksichtigen. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, ab dem nächsten Bericht der Bedeutung dieser strategischen Verbindung Rechnung zu tragen und für eine bessere Abstimmung mit der strategischen Vorausschau zu sorgen.

2.10.

Auch wird die zentrale und aktive Rolle der Bürgerinnen und Bürger, die im Zentrum der Maßnahmen stehen sollten, im Dokument und den Anhängen nicht angemessen berücksichtigt. Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass die Bürger in den Mittelpunkt der Energieunion gestellt werden sollten, indem sie in den Markt integriert und zu echten „Prosumenten“ gemacht werden. Das Konzept des Prosums muss auf die gemeinsame Nutzung von Energie, den virtuellen Eigenverbrauch und andere Formen des Prosums, bei denen das öffentliche Netz genutzt wird, ausgeweitet werden. Hierzu fordert der EWSA die politischen Entscheidungsträger auf, alle Maßnahmen zu fördern und voranzutreiben, die erforderlich sind, damit die Verbraucherinnen und Verbraucher zu Energieprosumenten werden können.

2.11.

Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, bis Juni 2023 ihre nationalen Energie- und Klimapläne vorzulegen. Zu diesem Zweck muss eine klare Botschaft an die Mitgliedstaaten gerichtet werden, mit einem Fahrplan, auf dessen Grundlage sie ihren Weg zur Energiewende wie in Ziffer 2.3 beschrieben angemessen planen können und der den Empfehlungen der Ziffern 2.7, 2.8 und 2.9 Rechnung trägt.

2.12.

Die für die Neugestaltung des Marktes geplanten Maßnahmen sind in den Kontext der oben genannten Aspekte einzuordnen. Der EWSA teilt die Auffassung, dass Maßnahmen für eine optimale und bessere Gestaltung des EU-Strommarkts erforderlich sind, auch im Hinblick auf die künftige Entwicklung der Energielandschaft, wie in Ziffer 2.3 beschrieben, neue Technologien, geopolitische Entwicklungen und die Lehren aus der derzeitigen Krise. Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, den REMIT-Rahmen zu überarbeiten, um die Risiken eines Marktmissbrauchs zu mindern, und fordert die Kommission auf, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Funktionsfähigkeit des Markts zu erhalten und die wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen der Preisbildung und Spekulation zu vermeiden. Der europäische Energiemarkt sollte nicht wie die Finanzmärkte funktionieren. Der Energiebinnenmarkt muss ein realistisches Bild der Lage im europäischen Energiesystem vermitteln. Der EWSA verweist auf den jüngsten Bericht des Europäischen Rechnungshofs, in dem darauf hingewiesen wird, dass die EU-Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) nicht über ausreichende Ressourcen verfügt, um den Markt zu überwachen und Missbrauch zu verhindern, und fordert die Kommission auf, dafür zu sorgen, dass die ACER ihre diesbezüglichen Aufgaben erfüllen kann.

2.13.

Der EWSA ist besorgt darüber, dass die Subventionen für erneuerbare Energien 2021 gekürzt wurden, während die Subventionen für fossile Brennstoffe stabil geblieben sind. Nach der Krise müssen grundlegende Maßnahmen ergriffen werden, um den Wettbewerb um Subventionen zwischen erneuerbaren Energien und fossilen Energieträgern zu beenden. Dazu macht die Kommission in ihrem Bericht allerdings keinerlei Aussagen.

2.14.

Der EWSA weist darauf hin, dass der Frage der Kosten und Folgen, die sich aus der die Senkung der Energienachfrage betreffenden Säule der EU-Strategie ergeben, im Bericht zur Lage der Energieunion 2022 nicht gebührend Rechnung getragen wird. Der EWSA empfiehlt der Kommission daher, näher zu untersuchen, wie sich diese Senkung im jeweiligen regionalen Kontext auswirken könnte, und die zur Abmilderung ihrer Auswirkungen erforderlichen Instrumente aufzuzeigen.

2.15.

Die klimapolitischen Maßnahmen werden große Auswirkungen auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Unternehmen haben und umfangreiche Schulungs-, Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen erfordern. Dieser Übergang sollte als Chance dafür genutzt werden, in allen Sektoren und Regionen hochwertige Arbeitsplätze mit guten Arbeitsbedingungen zu schaffen. Der gerechte Übergang wird in dem Bericht nicht hinreichend berücksichtigt. Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, den Mechanismus für einen gerechten Übergang zu stärken und dabei besonderes Augenmerk auf die Auswirkungen auf die Arbeitnehmer, die Arbeitsplätze und das Industriesystem zu legen. Ebenso sollten die Sozialpartner kontinuierlich und strukturell in die Entwicklung von Strategien für Nachhaltigkeit, Sicherheit und Solidarität einbezogen werden. Der gerechte Übergang ist nicht nur eine Frage der Finanzierung. Er umfasst auch das Ziel, die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu wahren, für menschenwürdige Arbeit, hochwertige Arbeitsplätze und soziale Sicherheit zu sorgen sowie die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen zu erhalten und weiter auszubauen, und erfordert besondere Maßnahmen auf allen Ebenen, insbesondere der regionalen.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Siehe die Mitteilung der Kommission „Rahmenstrategie für eine krisenfeste Energieunion mit einer zukunftsorientierten Klimaschutzstrategie“ (COM(2015) 80 final).


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/93


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Digitalisierung des Energiesystems — EU-Aktionsplan“

(COM(2022) 552 final)

(2023/C 184/17)

Berichterstatter:

Thomas KATTNIG

Ko-Berichterstatter:

Zsolt KÜKEDI

Befassung

Europäische Kommission, 25.11.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.3.2023

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

198/1/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt die Ziele des Aktionsplans und begrüßt die meisten der darin vorgeschlagenen Maßnahmen. Insbesondere hat der EWSA bereits den Zusammenhang zwischen der Energiewende und dem digitalen Wandel deutlich gemacht und auf die Vorteile der Digitalisierung im Hinblick auf Energieeinsparungen, geringere Energieintensität und ein besseres Management der Energieinfrastruktur hingewiesen. Aber auch wenn die im Aktionsplan zum Ausdruck kommende optimistische Haltung inspirierend ist, so neigt die Kommission doch dazu, die Tatsache außer Acht zu lassen, dass sich die physische Realität stark von den darin angeführten Anwendungsfällen der Digitalisierung unterscheidet.

1.2.

Zwar wird sowohl durch den strategischen Ansatz als auch durch die spezifischen Maßnahmen im Aktionsplan die richtige Richtung gewiesen, jedoch hat die Kommission es versäumt, den Aktionsplan in die Energiepolitik insgesamt zu integrieren. Mit einem isolierten Ansatz, bei dem der Schwerpunkt ausschließlich auf die Digitalisierung gelegt und der allgemeine Rahmen außer Acht gelassen wird, sind die Vorteile, die zu Recht im Aktionsplan erläutert werden, nicht zu erzielen. Durch die Digitalisierung des Energiesystems müssen kooperative Lösungen geschaffen werden, mit denen Anreize für die Nutzerinnen und Nutzer gesetzt werden, sich am digitalisierten Energiesystem zu beteiligen. Denkbar wäre etwa die Verwendung intelligenter Zähler oder von E-Fahrzeugen mit bidirektionaler Ladefunktion, die zur Stabilisierung des Elektrizitätssystems beitragen. Sowohl der Peer-to-Peer-Handel als auch der virtuelle Eigenverbrauch und die gemeinsame Nutzung von Energie erfordern digitale Instrumente. Allerdings machen entweder administrative Hindernisse diese Anwendungen unattraktiv, oder es fehlt an wirksamen Anreizen.

1.3.

Der EWSA bestätigt, dass es zweifellos notwendig ist, das Energiesystem intelligenter und flexibler zu gestalten, das derzeit jedoch durch Defizite wie die fehlende Flexibilität des Übertragungs- und Verteilungsnetzes infolge unzureichender Investitionen in die Energieinfrastruktur überstrapaziert ist. Zwar haben einige Energieversorger erhebliche Gewinne erzielt, doch wird nicht genug in intelligente Netze investiert, um die Ziele der Energiewende zu erreichen. Der Aus- und Umbau der Netze hinkt hinterher, weil der Rechtsrahmen unter anderem keine Anreize für Investitionen in Digitalisierung und Flexibilität bietet und bestehende Netze für die Übertragung und Verteilung volatiler Energie nicht mehr geeignet sind. Um Netzausfälle im digitalisierten Energiesystem zu vermeiden, müssen wir dringend mit dem Umbau unseres Energiesystems beginnen, indem wir das Netz (Übertragungs- und Verteilernetze) entwickeln und ausbauen.

1.4.

Der EWSA fordert die Kommission auf, Artikel 58 der Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 2012/27/EU (1) auf der Grundlage der Ideen im Abschnitt zur „Förderung von Investitionen in die digitale Strominfrastruktur“ zu ändern, um einen Rechtsrahmen zu schaffen, durch den wirksame Anreize für Investitionen in die Digitalisierung der Stromnetze gesetzt werden. Parallel dazu müssen Flexibilitätsmärkte entwickelt werden, um flexiblen Verbrauch, flexible Erzeugung und flexiblen Prosum auf der Grundlage digitaler Technologien attraktiv zu machen.

1.5.

Mehr als sechs Jahre nach der Vorlage des Pakets „Saubere Energie“ kommt sowohl den Energiegemeinschaften als auch dem kollektiven Eigenverbrauch in den Energiesystemen Europas nach wie vor eine untergeordnete Rolle zu. Die Kommission hat die bestehenden Hemmnisse für diese Formen der Energieerzeugung und des Energieverbrauchs bislang nicht beachtet. Die Europäerinnen und Europäer müssen Anreize erhalten und endlich dazu bewegt und motiviert werden, alle ihre energiebezogenen Tätigkeiten zu digitalisieren. In vielen Fällen bedarf es auch eines klaren rechtlichen und administrativen Anspruchs. Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, entsprechende Initiativen auszuarbeiten, einschließlich direkter Unterstützung, die es den Energiegemeinschaften und kollektiven Prosumenten ermöglicht, ihr Potenzial voll auszuschöpfen. Diese Formen der Erzeugung und des Verbrauchs müssen insbesondere im Interesse der Versorgungssicherheit grundlegender Bestandteil des Systems werden. Andernfalls lassen sich mit digitalen Instrumenten keine wesentlichen Veränderungen erzielen.

1.6.

Der EWSA bekräftigt, dass eine klimaneutrale, dezentrale und digitalisierte Energieversorgungsstruktur mit dem richtigen Ansatz erhebliche positive Auswirkungen auf die Beschäftigung und die Wirtschaft, insbesondere die regionale Wirtschaft, haben kann (2). Die Europäische Union braucht in der derzeitigen Krise einen allgemeinen energiepolitischen Ansatz, mit dem die spezifischen energie- und klimabezogenen Fragen mit den Zielen der Politik des sozialen und regionalen Zusammenhalts verbunden werden.

1.7.

Der EWSA stellt jedoch fest, dass eine Politik des Wandels nur dann erfolgreich sein kann, wenn dabei die verschiedenen sozialen Dynamiken des Übergangs berücksichtigt und in Strategien und Maßnahmen einbezogen werden. Wir sollten die Rolle aktiver Verbraucherinnen und Verbraucher bei der Digitalisierung stärken und sie ermutigen und befähigen, möglichst viele intelligente Lösungen zu nutzen, da dadurch die Effizienz und die Leistungsfähigkeit des Energiebinnenmarkts verbessert werden können. Zugleich sind im Interesse der Versorgungssicherheit auch die Verteilernetzbetreiber zu berücksichtigen. Die Instrumente müssen nutzerfreundlich sein, zudem sind schutzbedürftige Gruppen und Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen. Daher ist eine Politik für einen gerechten Übergang und eine aktive politische Steuerung des Wandels unerlässlich. Wird die soziale Dimension bei der Umsetzung vernachlässigt, besteht die Gefahr, dass der Wandel am Widerstand der Öffentlichkeit scheitert.

1.8.

Im Hinblick auf die künftige Gestaltung der Energiesysteme und -infrastruktur hat der EWSA wiederholt betont, dass alle Verbraucher aktiv in die Entwicklung intelligenter Energiesysteme einbezogen und dass Anreize geschaffen werden müssen, damit die Zivilgesellschaft an der Energiewende teilhaben kann. Die von der Kommission in Abschnitt 7.3 angeführte „Vernetzung lokaler und regionaler Innovatoren“ ist sehr wichtig. Durch kollektive Maßnahmen wie die Zusammenarbeit zwischen intelligenten Städten und Gemeinden können die besten und erschwinglichsten Lösungen geschaffen werden, die eine Region benötigt.

1.9.

Die Digitalisierung im Energiebereich wird bereits durch die Digital- und Energiepolitik der EU gesteuert, da Angelegenheiten wie Dateninteroperabilität, Versorgungssicherheit und Cybersicherheit, Privatsphäre und Verbraucherschutz nicht allein dem Markt überlassen werden können und ihre ordnungsgemäße Umsetzung von entscheidender Bedeutung ist. In diesem Zusammenhang weist der EWSA darauf hin, dass die Verletzung der Privatsphäre und der Missbrauch von Daten mit allen Mitteln verhindert werden müssen. Dazu sind nicht nur technische Vorsichtsmaßnahmen erforderlich, sondern auch eine Aufsichtspflicht staatlicher Behörden, die diesen Datenraum überwachen müssen und der politischen und demokratischen Kontrolle unterliegen. Zugleich ist besonderes Augenmerk auf den Schutz der Daten kritischer Infrastrukturen zu legen.

1.10.

Die Kommission weist in ihrer Mitteilung darauf hin, dass unbedingt sichergestellt werden muss, dass der im Elektrizitätsbinnenmarkt bereits geschaffene Rahmen für den Verbraucherschutz durch die Digitalisierung nicht beeinträchtigt wird. Der EWSA nimmt dies zur Kenntnis und fügt hinzu, dass die Verbraucherrechte im Energiemarkt angepasst und verbessert werden müssen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher dürfen nicht benachteiligt oder überfordert werden. Sie sollten von digitalen Instrumenten profitieren, die, wenn sie in sinnvoller Weise entwickelt werden, zur Stärkung des Verbraucherschutzes beitragen können.

1.11.

Bei allen Initiativen ist es wichtig, dass die Verbraucher zu Hause über einen intelligenten Stromzähler verfügen. In vielen Mitgliedstaaten ist dies nach wie vor nicht der Fall, weshalb es dringend erforderlich ist, die Anstrengungen für eine breitere Einführung intelligenter Messsysteme als grundlegende Voraussetzung für die meisten digitalen Lösungen im Energiesektor zu verstärken, insbesondere für die Stromversorgung und in geringem Maße auch für die Gasversorgung. Mitgliedstaaten, in denen intelligente Zähler noch nicht flächendeckend eingeführt wurden, müssen die Einführung beschleunigen und ihre damit verbundenen nationalen Ziele erhöhen. Internationale Erkenntnisse zeigen, dass die Einführung intelligenter Zähler am besten funktioniert, wenn die Netzbetreiber darüber Rechenschaft ablegen müssen sind. Intelligente Zähler sollten als integraler Bestandteil des Stromnetzes betrachtet werden.

1.12.

Stehen nicht genug qualifizierte Arbeitskräfte und ausgebildete Fachkräfte für die Einführung zur Verfügung, besteht die Gefahr, dass neue datengesteuerte Dienste und innovative technologische Lösungen nicht schnell genug umgesetzt werden. Für die notwendigen arbeitsmarkt- und bildungspolitischen Maßnahmen sind ausreichende finanzielle Mittel sowie die Ausarbeitung eines Aktionsplans, mit dem ein koordinierter Ansatz sichergestellt wird, erforderlich. Der EWSA ist der Auffassung, dass in dieser Hinsicht eine enge Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern von entscheidender Bedeutung ist.

1.13.

Cybersicherheit ist eine wesentliche Voraussetzung, um die Zuverlässigkeit des zunehmend digitalisierten Energiesystems sicherzustellen. An den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und insbesondere an den Ereignissen der jüngeren Vergangenheit wird die Gefahr von Cyberangriffen und Sabotageakten gegen kritische Infrastruktur ersichtlich. Probleme können jedoch nicht nur durch Cyberangriffe oder Sabotageakte, sondern auch durch Hardware- und Softwareausfälle verursacht werden. Daher muss die Kommission bei der Digitalisierung besonderes Augenmerk auf das Hardware- und Softwaredesign legen, um für Stabilität zu sorgen. Ein Ausfall oder eine Beeinträchtigung dieser kritischen Infrastruktur kann verheerende Versorgungsengpässe und eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zur Folge haben. Durch eine dezentralere Erzeugung und Nutzung von Energie in Verbindung mit dem Internet entsteht eine größere „Angriffsfläche“, die mit größeren Cybergefahren einhergeht. Das digitalisierte Energiesystem (sowohl in Bezug auf Hardware als auch Software) muss zuverlässig und ohne Unterbrechung verfügbar sein.

1.14.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine kombinierte Strategie für die Energiewende und die Digitalisierung in ländlichen Gebieten nicht das erwartbare Maß an Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten hat. Er fordert im Rahmen des EU-Pakts für den ländlichen Raum eine rasche Umsetzung der von der Kommission verfolgten langfristigen Vision für die ländlichen Gebiete der EU und die Mobilisierung der Interessenträger.

2.   Hintergrund

2.1.

Die Kommission hat eine Mitteilung veröffentlicht, mit der sie das Ziel verfolgt, die Digitalisierung des Energiesystems voranzutreiben. Mit dem EU-Aktionsplan zur Digitalisierung des Energiesystems wird angestrebt, die Ziele der strategischen Vorausschau zum grünen und digitalen Wandel zu erreichen, bei dem mit digitalen Technologien zur Schaffung einer klimaneutralen und ressourceneffizienten Gesellschaft beigetragen und gleichzeitig sichergestellt wird, dass alle von diesem Wandel profitieren können.

2.2.

In ihrem EU-Aktionsplan schlägt die Kommission in fünf Bereichen eine Reihe von Maßnahmen vor: Förderung der Konnektivität, der Interoperabilität und des nahtlosen Austauschs von Energiedaten durch die Schaffung eines gemeinsamen Datenraums, Förderung und Koordinierung von Investitionen in intelligente Netze, Bereitstellung besserer Dienstleistungen auf der Grundlage digitaler Innovationen zur Einbeziehung der Verbraucher in die Energiewende, Umsetzung der Cybersicherheit im Energiesystem und Sicherstellung der Vereinbarkeit des wachsenden Energiebedarfs im IKT-Bereich mit dem europäischen Grünen Deal. Die Kommission ist der Ansicht, dass durch die Digitalisierung die Erschwinglichkeit, Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit des Energiesystems der EU verbessert werden können.

2.3.

Mit intelligenten Lösungen sollen die Verbraucher mehr Kontrolle über ihren Energieverbrauch und ihre Energierechnungen erhalten, wodurch der Umgang mit dem Energieverbrauch verbessert werden soll, auch wenn viele Endverbraucher um die entsprechenden Möglichkeiten wissen dürften, ohne eine intelligente Lösung zu benötigen. Durch innovative Energiedienstleistungen soll der Energieverbrauch gesenkt und Energie dann genutzt werden, wenn sie günstig ist. Dank intelligenter Zähler werden wichtige Informationen zur Senkung der Energieverbrauchskosten, z. B. durch intelligentes Laden von Elektrofahrzeugen und durch Kombination von intelligenten Wärmepumpen mit Photovoltaikmodulen, bereitgestellt. Intelligente Zähler helfen den Kunden, die Daten in ihren Rechnungen zu überprüfen, und ermöglichen es ihnen, gegen falsche Rechnungen und Nachzahlungsforderungen vorzugehen, die derzeit zu den größten Problemen der Verbraucher gehören. Im Aktionsplan ist vorgesehen, digitale Instrumente, die im Interesse der Verbraucher sind und in einigen Fällen in Zusammenarbeit mit ihnen entwickelt werden, zu fördern, digitale Kompetenzen zu verbessern, intelligente digitale Lösungen durch Programme zu finanzieren, die zur Digitalisierung des Energiesystems beitragen können, die nationalen Regulierungsbehörden bei der Festlegung und Überwachung gemeinsamer Indikatoren für intelligente Netze zu unterstützen, einen gemeinsamen europäischen Energiedatenraum zu schaffen und alle relevanten Interessenträger, insbesondere Netzbetreiber und Energielieferanten, umfassend einzubeziehen.

2.4.

Der Kommission zufolge bieten IKT-Technologien im Bereich der Ökologisierung ein großes Potenzial. Mit digitalen Lösungen sollte dazu beigetragen werden, ein Gleichgewicht zwischen Energieangebot, -speicherung und -nachfrage herzustellen und das Energiesystem flexibler zu gestalten, damit die Integration dezentraler erneuerbarer Energieträger erleichtert wird. Es müssen Flexibilitätsmärkte geschaffen werden, um Investitionen in Flexibilitätsoptionen attraktiv zu machen, unabhängig davon, ob diese Investitionen von Erzeugern, Verbrauchern oder Prosumenten getätigt werden, die digitale Instrumente nutzen.

2.5.

Gleichzeitig wird in dem Aktionsplan betont, dass der steigende Energieverbrauch im IKT-Bereich eingedämmt werden muss. Des Weiteren ist im Aktionsplan vorgesehen, einen digitalen Zwilling des europäischen Stromnetzes zu schaffen, durch digitale Instrumente Energiegemeinschaften zu unterstützen, energiebezogene Kennzeichnungen für Computer, Rechenzentren und Blockchains zu entwickeln und einen EU-Verhaltenskodex für die Nachhaltigkeit von Telekommunikationsnetzen auszuarbeiten.

2.6.

In einem zunehmend digitalisierten Energiesystem mit dezentraler Erzeugung, Übertragung und Verteilung von Energie und mit mehr digital vernetzten Geräten in Privathaushalten steigt die Gefahr von Spionage, Cyberkriminalität und Hardwareausfällen im Zusammenhang mit dem Energieverbrauch. Daher schlägt die Kommission gut koordinierte Cybersicherheitsmaßnahmen vor, um die allgemeine Widerstandsfähigkeit des Systems zu stärken.

2.7.

Es wird im Aktionsplan dargelegt, dass dafür sowohl mittel- als auch langfristige Maßnahmen sowie ein steuerungspolitischer Rahmen erforderlich sind. Die Kommission erklärt, dass sie mehrere Interessengruppen, Unternehmen und internationale Partner einbinden wird, und weist darauf hin, dass die begrenzten öffentlichen Mittel sinnvoll eingesetzt werden müssen und mehr private Investitionen erforderlich sind.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

In ihrem Aktionsplan geht die Kommission zu Recht auf das enorme Potenzial digitaler Technologien zur Erhöhung der Flexibilität des Elektrizitätssystems ein. Der EWSA unterstützt diese Ziele und begrüßt die meisten der im Aktionsplan vorgeschlagenen Maßnahmen. Insbesondere hat der EWSA bereits den Zusammenhang zwischen der Energiewende und dem digitalen Wandel deutlich gemacht und auf die Vorteile der Digitalisierung im Hinblick auf Energieeinsparungen, geringere Energieintensität und ein besseres Management der Energieinfrastruktur hingewiesen. Aber auch wenn die im Aktionsplan zum Ausdruck kommende optimistische Haltung inspirierend ist, so neigt die Kommission doch dazu, die Tatsache außer Acht zu lassen, dass sich die physische Realität stark von den darin angeführten Anwendungsfällen der Digitalisierung unterscheidet.

3.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die wichtigsten Herausforderungen für den Energiesektor folgende sind: Diversifizierung der Energiequellen Europas, Verringerung der Abhängigkeit von Energieimporten, Sicherung eines integrierten Energiebinnenmarkts, Verbesserung der Energieeffizienz, rascher Ausbau des Energienetzes, Gewährleistung der Versorgungssicherheit, Dekarbonisierung der Wirtschaft, Reduzierung der Emissionen, Übergang zu einer CO2-armen Wirtschaft mit Technologien für CO2-arme und saubere Energie, Steigerung des Anteils und massiver Ausbau der erneuerbaren Energien zur Erreichung der Klimaziele, Förderung der damit verbundenen Forschung und Bildung, Sicherstellung eines gerechten Übergangs und Unterstützung der sozialen Dimension der Energie, z. B. durch Verringerung der Energiearmut. Grundlage hierfür ist die Digitalisierung des Energiesystems, die dazu beitragen kann, alle diese großen Herausforderungen zu meistern.

3.3.

Zwar wird sowohl durch den strategischen Ansatz als auch durch die spezifischen Maßnahmen im Aktionsplan die richtige Richtung gewiesen, jedoch hat die Kommission es versäumt, den Aktionsplan in die Energiepolitik insgesamt zu integrieren. Mit einem isolierten Ansatz, bei dem der Schwerpunkt ausschließlich auf die Digitalisierung gelegt und der allgemeine Rahmen außer Acht gelassen wird, sind die Vorteile, die zu Recht im Aktionsplan erläutert werden, nicht zu erzielen.

3.4.

In dem Vorschlag der Kommission wird das Bild eines Idealzustands vermittelt, bei dem die Digitalisierung ausgehend von einem gut entwickelten Energiesystem (z. B. Übertragungs- und Verteilernetze) erfolgt. In Europa müssen jedoch zunächst die Übertragungs- und Verteilernetze entsprechend ausgebaut werden, bevor komplexe digitale Technologien entwickelt werden können. Unsere Bemühungen um eine Digitalisierung sind vergeblich, wenn sich über die Energieübertragungsnetze keine intelligent verwaltete Energie übertragen lässt. Darüber hinaus geht in den Übertragungs- und Verteilernetzen eine große Menge an Energie verloren. Schon jetzt beliefen sich in großen Ländern wie Deutschland die Kosten für Ökostrom, der nicht genutzt oder übertragen werden kann und Gegenstand von Kapazitätskürzungen wird, auf mehr als 2 Milliarden Euro vor der Energiekrise und während der Energiekrise auf mehr als 12 Milliarden Euro. Dieser wirtschaftliche Verlust wird um ein Vielfaches zunehmen, sollten die Stromnetze und systemkompatiblen Speicherkapazitäten nicht rasch ausgebaut und gleichzeitig bessere Möglichkeiten zur direkten Nutzung von Strom vor Ort gefunden werden. Durch Digitalisierung in diesem Bereich kann ein Beitrag dazu geleistet werden, diese Verluste zu ermitteln und die so gewonnenen Daten bei der Netzentwicklung zu nutzen.

3.5.

Es trifft zu, dass erhebliche Investitionen in die Energieinfrastruktur erforderlich sind, um die Netze intelligent zu gestalten. Ebenfalls trifft es zu, dass viele Mitgliedstaaten keine Anreize für solche Investitionen setzen, da ihre Rechtsvorschriften klar auf Investitionsausgaben (CapEx) ausgerichtet sind, wohingegen es sich bei Investitionen in die Digitalisierung hauptsächlich um Betriebsausgaben (OpEx) handelt. Es wird nicht ausreichen, solche Investitionen und die diesbezüglichen Fortschritte zu koordinieren und zu überwachen. Der EWSA fordert die Kommission auf, Artikel 58 der Richtlinie (EU) 2019/944 mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt auf der Grundlage der Ideen im Abschnitt zur „Förderung von Investitionen in die digitale Strominfrastruktur“ zu ändern, um einen Rechtsrahmen zu schaffen, durch den wirksame Anreize für Investitionen in die Digitalisierung der Stromnetze gesetzt werden.

3.6.

Die Kommission weist zu Recht darauf hin, dass digitalen Instrumenten bei der Entwicklung von Systemen für den kollektiven Eigenverbrauch und Energiegemeinschaften eine wichtige Rolle zukommt. Sowohl Leitlinien als auch die geplante Versuchsplattform können hier zwar helfen, doch sind sie nicht die wichtigsten Faktoren. Mehr als sechs Jahre nach der Vorlage des Pakets „Saubere Energie“ kommt sowohl den Energiegemeinschaften als auch dem kollektiven Eigenverbrauch in den Energiesystemen Europas nach wie vor eine untergeordnete Rolle zu. In vielen Fällen liegt dies in erster Linie an erheblichen bürokratischen Hemmnissen und fehlenden Informationen aufseiten der Verbraucher und Erzeuger. Die Kommission hat den vorhandenen Hemmnissen bisher keine Beachtung geschenkt. Die Europäerinnen und Europäer müssen Anreize erhalten und endlich dazu bewegt und motiviert werden, alle ihre energiebezogenen Tätigkeiten zu digitalisieren. Das digitalisierte Energiesystem als Ganzes muss für die daran Beteiligten so attraktiv sein, dass es zu seiner Schaffung nicht nur finanzieller Anreize bedarf, sondern dass die Rahmenbedingungen insgesamt sie dazu veranlassen, ein kontrolliertes, gesteuertes und sicheres Energiesystem zu schaffen. Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, entsprechende Initiativen auszuarbeiten, einschließlich direkter Unterstützung, die es den Energiegemeinschaften und kollektiven Prosumenten ermöglicht, ihr Potenzial voll auszuschöpfen. Zugleich sind im Interesse der Versorgungssicherheit auch die Verteilernetzbetreiber zu berücksichtigen. Andernfalls lassen sich mit digitalen Instrumenten keine wesentlichen Veränderungen erzielen.

3.7.

Das bidirektionale Laden von Elektrofahrzeugen ist ein weiterer sehr vielversprechender Anwendungsfall, aus dem ersichtlich wird, dass aktivere Verbraucher mit digitalen Technologien, einschließlich IKT, sowohl auf der Netz- als auch auf der Verbraucherseite unmittelbar zur Systemstabilität beitragen können. In ganz Europa gibt es jedoch kaum kommerzielle Beispiele für das bidirektionale Laden von Elektrofahrzeugen, denn der Markt ist nicht darauf ausgelegt, marktbasierte Anreize für eine flexible Einspeisung und Entnahme von Strom zu schaffen. Bei ihren Bemühungen um die Neugestaltung des Marktes sollte sich die Kommission insbesondere darauf konzentrieren, einen Markt zu schaffen, der Fälle wie die in Abschnitt 4.2 des Aktionsplans genannten attraktiv macht und dazu beiträgt, sie durchgängig zu berücksichtigen, wobei bidirektionales Laden in Zukunft auch von Netzbetreibern als Faktor der Laststeuerung genutzt werden kann, was in den Rechtsvorschriften zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit auch berücksichtigt werden sollte.

3.8.

Der EWSA bekräftigt, dass eine klimaneutrale, dezentrale und digitalisierte Energieversorgungsstruktur mit dem richtigen Ansatz erhebliche positive Auswirkungen auf die Beschäftigung und die Wirtschaft, insbesondere die regionale Wirtschaft, haben kann. (3) Die Europäische Union braucht in der derzeitigen Krise einen allgemeinen energiepolitischen Ansatz, mit dem die spezifischen energie- und klimabezogenen Fragen mit den Zielen der Politik des sozialen und regionalen Zusammenhalts verbunden werden.

3.9.

Der EWSA betont, dass der technologieorientierten Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der finanziellen Förderung neuer Technologien, insbesondere der Digitalisierung des Energiesystems, eine wichtige Rolle bei der Energiewende zukommt. Gleichzeitig stellt der EWSA jedoch fest, dass eine Politik des Wandels nur dann erfolgreich sein kann, wenn dabei die verschiedenen sozialen Dynamiken des Übergangs berücksichtigt und in Strategien und Maßnahmen einbezogen werden. Wir sollten die Rolle der Verbraucher bei der Digitalisierung stärken und sie ermutigen, möglichst viele intelligente Lösungen zu nutzen, da sie dazu beitragen können, die Effizienz und Leistungsfähigkeit des Energiebinnenmarkts zu verbessern. Im Interesse der Versorgungssicherheit sollten dabei alle Glieder der Energiewertschöpfungskette eng einbezogen werden. Eine Politik für einen gerechten Übergang und eine aktive politische Steuerung des Wandels sind deshalb unerlässlich. Wird die soziale Dimension bei der Umsetzung vernachlässigt, besteht die Gefahr, dass der Wandel am Widerstand der Öffentlichkeit scheitert.

3.10.

Die Umgestaltung des Energiesystems kann mit unerwarteten Gewinnen für die Dienstleister einhergehen, die möglicherweise höhere Gebühren für ihre neuen Lösungen verlangen. Durch innovative Dienstleistungen, Apps und Energiemanagementsysteme kann jedoch das enorme ungenutzte Potenzial für die Energieverbraucher erschlossen und eine Entlastung von Verbrauchern, die unter hohen Energiepreisen leiden, herbeigeführt werden. Mit der Digitalisierung kann dazu beigetragen werden, die Preise auf dem Markt vergleichbar zu machen, die Preise für Flexibilitätsoptionen wie Lastverschiebung gerecht zu gestalten und in einem frühen Stadium des Marktprozesses aufzuzeigen, dass Energieverbraucher wie z. B. finanziell schwächere Haushalte für die erbrachte Dienstleistung weniger bezahlen könnten. So können sozial benachteiligte Menschen durch Lösungen für intelligente Energieabrechnungen die Möglichkeit erhalten, nur so viel Energie zu verbrauchen, wie sie bezahlen können, damit sie sich nicht verschulden.

3.11.

Der EWSA fordert die Kommission ferner auf, den Gegebenheiten des Marktes für intelligente Zähler Rechnung zu tragen und erforderlichenfalls einzugreifen. Die geplante Installation intelligenter Zähler könnte zu hohen Kosten für Mieter führen. In der Praxis gibt es kaum einen Wettbewerb zwischen den verschiedenen Anbietern von Messdiensten. Branchenuntersuchungen in Deutschland und Österreich haben gezeigt, dass es im Bereich der Einzelverbrauchserfassung deutliche Hinweise auf ein nicht wettbewerbsorientiertes Oligopol gibt (4). Im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit muss sichergestellt werden, dass die Verbrauchszähler auch von Drittanbietern verwendet werden können. Andernfalls wäre ein Wechsel des Anbieters immer mit Kosten für den Austausch der vorhandenen Zähler verbunden.

3.12.

In diesem Zusammenhang bekräftigt der EWSA seine Position, dass eine Zwei-Klassen-Gesellschaft im Energiebereich unbedingt zu vermeiden ist. Es kann nicht sein, dass nur die finanziell und technisch gut ausgestatteten Haushalte von der Energiewende profitieren und alle anderen Haushalte die Kosten tragen müssen. Der EWSA befürwortet daher die Anreize und Instrumente für die Umsetzung der Energieeffizienz-Richtlinie, mit denen schutzbedürftige Kunden und Haushalte unterstützt werden, und weist darauf hin, dass durch hochgesteckte Ziele im Hinblick auf die Fernwärme- und Fernkälteversorgung die Bedingungen für Sozialwohnungen verschlechtert werden könnten.

3.13.

Im Hinblick auf die künftige Gestaltung der Energiesysteme und -infrastruktur hat der EWSA wiederholt betont, dass alle Verbraucher (Haushalte, Unternehmen und Energiegemeinschaften) aktiv in die Entwicklung intelligenter Energiesysteme einbezogen und dass Anreize geschaffen werden müssen, damit die Zivilgesellschaft an der Energiewende teilhaben kann, und zwar so, dass sie zu ihrer Finanzierung beiträgt. Die von der Kommission in Abschnitt 7.3 angeführte „Vernetzung lokaler und regionaler Innovatoren“ ist sehr wichtig. Durch kollektive Maßnahmen wie die Zusammenarbeit zwischen intelligenten Städten und Gemeinden können die besten und erschwinglichsten Lösungen geschaffen werden, die eine Region benötigt.

3.14.

In dem Aktionsplan ist vorgesehen, einen gemeinsamen europäischen Energiedatenraum einzurichten und mit einer soliden Governance dafür zu sorgen, dass Energiedaten EU-weit auf koordinierte Weise ausgetauscht und genutzt werden. Die Digitalisierung im Energiebereich wird bereits durch die Digital- und Energiepolitik der EU gesteuert, da Angelegenheiten wie Dateninteroperabilität, Versorgungssicherheit und Cybersicherheit, Privatsphäre und Verbraucherschutz nicht allein dem Markt überlassen werden können und ihre ordnungsgemäße Umsetzung von entscheidender Bedeutung ist. In diesem Zusammenhang weist der EWSA darauf hin, dass die Verletzung der Privatsphäre und der Missbrauch von Daten mit allen Mitteln verhindert werden müssen. Dazu sind nicht nur technische Vorsichtsmaßnahmen erforderlich, sondern auch eine Aufsichtspflicht staatlicher Behörden, die diesen Datenraum überwachen müssen und der politischen und demokratischen Kontrolle unterliegen. Das öffentliche Eigentum an Daten muss gefördert werden, da Daten ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in einer vernetzten und digitalisierten Gesellschaft sind. Private Datenmonopole der GAFA (5) hingegen müssen verhindert werden. Zugleich ist besonderes Augenmerk auf den Schutz der Daten kritischer Infrastrukturen zu legen.

3.15.

Der vorgeschlagene Datenraum ist vielversprechend, jedoch sind dabei für alle Marktteilnehmer, die an der Nutzung der Daten interessiert sind, z. B. um den Energiehandel und die gemeinsame Erzeugung bzw. Nutzung von Energie besser planen zu können, klare Regeln für den Zugang zu anonymisierten Daten erforderlich. Es ist wichtig, die im Aktionsplan erwähnte „solide Governance“ zügig auszugestalten, indem für alle Marktteilnehmer, einschließlich Verbraucher, Prosumenten, Energiehändler usw., die grundlegenden Rechte festgelegt werden.

3.16.

Im Hinblick auf die strategische Koordinierung auf EU-Ebene ist in dem Aktionsplan die Einsetzung einer Expertengruppe „Intelligente Energie“ (vormals Arbeitsgruppe „Intelligente Netze“) vorgesehen. Diese Expertengruppe soll dazu beitragen, den europäischen Rahmen für die gemeinsame Nutzung energiebezogener Daten aufzubauen, die Koordinierung des Datenaustauschs für den Energiesektor auf EU-Ebene zu stärken, die Leitgrundsätze festzulegen und die Kohärenz zwischen den verschiedenen Prioritäten und Initiativen für den Datenaustausch sicherzustellen. Des Weiteren soll sie die Kommission bei der Entwicklung und Einführung eines gemeinsamen europäischen Energiedatenraums unterstützen. Der EWSA weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang klare Leitlinien und Ziele aufgestellt werden müssen und dass die Einbeziehung der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft von wesentlicher Bedeutung ist.

3.17.

Die Idee, die Übertragungs- und Verteilernetzbetreiber bei der Schaffung eines digitalen Zwillings des Stromnetzes zu unterstützen, stellt einen interessanten Ansatz dar, mit dem dazu beigetragen werden kann, die Netzmodellierung zu verbessern. Es muss jedoch genau festgelegt werden, welche Rolle dem digitalen Zwilling bei der Planung des Netzausbaus, beim Aufbau eines intelligenteren Netzes, bei der Integration von Flexibilitätsoptionen, einschließlich virtueller Kraftwerke, beim Energieprosum und Energy Sharing sowie bei der Optimierung der Widerstandsfähigkeit zukommen wird. In diesem Zusammenhang erscheinen auch Änderungen der Richtlinie (EU) 2019/944 notwendig.

3.18.

Die Kommission weist in ihrer Mitteilung darauf hin, dass unbedingt sichergestellt werden muss, dass der im Elektrizitätsbinnenmarkt bereits geschaffene Rahmen für den Verbraucherschutz durch die Digitalisierung nicht beeinträchtigt wird. Der EWSA nimmt dies zur Kenntnis und fügt hinzu, dass die Verbraucherrechte im Energiemarkt angepasst und verbessert werden müssen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher dürfen nicht benachteiligt oder überfordert werden. Besonderes Augenmerk sollte schutzbedürftigen Gruppen, Menschen mit Behinderungen und Gruppen mit geringen digitalen Kompetenzen gelten. Es sind angemessene Schutzvorschriften erforderlich, da bereits deutlich wird, dass viele Verbraucher den Überblick über digitale Informationen und über ihre Rechnungen verlieren.

3.19.

In der Mitteilung ist festgelegt, dass das Potenzial der Mitgliedstaaten zur Einführung regulierter Preise, insbesondere für schutzbedürftige Kunden und für von Energiearmut betroffene Menschen, durch die Digitalisierung nicht beeinträchtigt werden darf. Durch digitale Instrumente haben die Behörden ebenfalls die Möglichkeit, Energiearmut besser zu erfassen, zu überwachen und zu bekämpfen, während die Energiewirtschaft ihre Tätigkeiten weiter optimieren und sich dabei auf die Versorgungssicherheit konzentrieren und der Nutzung erneuerbarer Energien Vorrang einräumen kann.

3.20.

Der EWSA begrüßt die Ankündigung der Kommission, dafür zu sorgen, dass bei wichtigen FuI-Projekten zusammengearbeitet wird, um bis Mitte 2023 Strategien zur Einbeziehung der Verbraucher in die Gestaltung und Nutzung zugänglicher und erschwinglicher digitaler Instrumente zu ermitteln. Der EWSA weist erneut darauf hin, dass nach wie vor erhebliche Investitionen in Forschung und Innovation erforderlich sind.

Vor diesem Hintergrund kommt öffentlichen Investitionen in intelligente Systeme für erneuerbare Energie mit Blick auf die Versorgungssicherheit, die Bekämpfung von Energiearmut, die Sicherstellung von erschwinglichen Preisen und die Schaffung von Arbeitsplätzen eine große Bedeutung zu. Der EWSA empfiehlt unter Verweis auf seine Stellungnahme ECO/569 erneut, die goldene Regel auf öffentliche Investitionen anzuwenden. Bei allen Initiativen ist es wichtig, dass die Verbraucher zu Hause über einen intelligenten Stromzähler verfügen. In vielen Mitgliedstaaten ist dies nach wie vor nicht der Fall, weshalb es dringend erforderlich ist, die Anstrengungen für eine breitere Einführung intelligenter Messsysteme als grundlegende Voraussetzung für die meisten digitalen Lösungen im Energiesektor zu verstärken. Mitgliedstaaten, in denen intelligente Zähler noch nicht flächendeckend eingeführt wurden, müssen die Einführung beschleunigen und ihre damit verbundenen nationalen Ziele erhöhen.

3.21.

Stehen nicht genug qualifizierte Arbeitskräfte und ausgebildete Fachkräfte für die Einführung zur Verfügung, besteht die Gefahr, dass neue datengesteuerte Dienste und innovative technologische Lösungen nicht schnell genug umgesetzt werden (6). Der EWSA ist der Auffassung, dass zur Umsetzung der Ziele in enger Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern unverzüglich geeignete Maßnahmen ergriffen werden müssen.

3.22.

Es sind allerdings auch ausreichende finanzielle Mittel und Programme erforderlich, um Langzeitarbeitslose, insbesondere Frauen und junge Menschen, durch spezifische Programme auszubilden und attraktive Rahmenbedingungen für sie zu schaffen. Dazu gehören Arbeitsplatzgarantien und eine Ausbildungs- und Qualifizierungsinitiative sowie ein breites Spektrum an Umschulungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Für die notwendigen arbeitsmarkt- und bildungspolitischen Maßnahmen sind ausreichende finanzielle Mittel sowie die Ausarbeitung eines Aktionsplans, mit dem ein koordinierter Ansatz sichergestellt wird, erforderlich.

3.23.

Der EWSA fordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Ausbildungsanbietern und Unternehmen bei der Gestaltung von Schulungskursen, in denen die Fähigkeiten und Kompetenzen vermittelt werden, die für den digitalen und nachhaltigen Wandel der Wirtschaft erforderlich sind, unter anderem durch Weiterbildung und Umschulung von Arbeitnehmern und Unternehmern. Das Europäische Jahr der Kompetenzen 2023 wird genutzt, um diese Maßnahmen zu stärken und wirksam umzusetzen.

3.24.

Cybersicherheit ist eine wesentliche Voraussetzung, um die Zuverlässigkeit des zunehmend digitalisierten Energiesystems sicherzustellen. An den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und insbesondere an den Ereignissen der jüngeren Vergangenheit wird die Gefahr von Cyberangriffen und Sabotageakten gegen kritische Infrastruktur ersichtlich. Probleme können jedoch nicht nur durch Cyberangriffe oder Sabotageakte, sondern auch durch Hardware- und Softwareausfälle verursacht werden. Daher muss die Kommission bei der Digitalisierung besonderes Augenmerk auf das Hardware- und Softwaredesign legen, um für Stabilität zu sorgen. Ein Ausfall oder eine Beeinträchtigung dieser kritischen Infrastruktur kann verheerende Versorgungsengpässe und eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zur Folge haben. Durch eine dezentralere Erzeugung und Nutzung von Energie in Verbindung mit dem Internet entsteht eine größere „Angriffsfläche“, die mit größeren Cybergefahren einhergeht.

3.25.

Die gesamte Wertschöpfungskette des Energiesystems, angefangen bei der Erzeugung und Übertragung bis hin zur Verteilung und zum Verbraucher, einschließlich all ihrer digitalen Schnittstellen, kann zum Ziel von Cyberangriffen und physischen Angriffen werden. Es liegt im Interesse aller in Europa, diese kritische Infrastruktur besser zu schützen. Die EU muss besser auf mögliche Angriffe dieser Art vorbereitet sein. Daher fordert der EWSA eine sofortige kritische Bewertung der bisher ergriffenen Maßnahmen und eine umfassende Strategie zum Schutz der EU vor Bedrohungen wie Naturkatastrophen, physischen Angriffen und Cyberangriffen. In diesem Zusammenhang weist der EWSA auf seine weiteren Stellungnahmen (7) zu diesem Thema hin und empfiehlt, dass alle ausländischen Investitionen in strategische Wirtschaftszweige in der EU im Einklang mit der Sicherheitspolitik der EU stehen sollten.

3.26.

Rund 7 % des weltweiten Stromverbrauchs entfallen auf den IKT-Bereich. Im Rahmen des grünen und digitalen Wandels muss daher unbedingt sichergestellt werden, dass der wachsende Energiebedarf im IKT-Bereich im Einklang mit dem Ziel der Klimaneutralität verringert wird. Der EWSA teilt die Auffassung, dass es von entscheidender Bedeutung ist, sich mit dem Energie- und Ressourcenverbrauch in der gesamten IKT-Wertschöpfungskette und den wichtigsten neuen zusätzlichen Quellen für den IKT-bezogenen Energieverbrauch zu befassen. Es gibt bereits Lösungen, um die Abwärme aus Rechenzentren zum Beheizen von Haushalten und Unternehmen zu nutzen. Es ist deshalb wichtig, dass Abwärme im Rahmen der Überarbeitung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED III) und weiterer Rechtsvorschriften im Bereich Energie im Zusammenhang mit dem Paket „Fit für 55“ genauso behandelt wird wie erneuerbare Energien. Jedoch bedarf es konkreter und praktikabler Lösungen, die als bewährte Verfahren herangezogen werden können, um optimale Ergebnisse zu erzielen.

3.27.

Weltweit müssen in internationalen Foren und durch Zusammenarbeit mit Partnerländern interoperable technische Normen, Cybersicherheit, Datenschutz und andere Schlüsselmerkmale eines digitalisierten Energiesystems sichergestellt werden. Um den grünen und digitalen Wandel im Verbund mit Partnerländern durch bilaterale Kontakte voranzubringen, fordert der EWSA die Kommission auf, bei energiebezogenen Projekten, Partnerschaften und Kooperationsabkommen digitale und ökologische Aspekte zu berücksichtigen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine kombinierte Strategie für die Energiewende und die Digitalisierung in ländlichen Gebieten nicht das erwartbare Maß an Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten hat. Er fordert im Rahmen des EU-Pakts für den ländlichen Raum eine rasche Umsetzung der von der Kommission verfolgten langfristigen Vision für die ländlichen Gebiete der EU und die Mobilisierung der Interessenträger.

4.2.

Der EWSA empfiehlt, auf dem Arbeitsmarkt der Energiewirtschaft für Gleichberechtigung zu sorgen, indem Chancen für Frauen ausgelotet werden, dabei jedoch zu verhindern, dass die Energiewende und der digitale Wandel für die Karriere und Entlohnung von Frauen zu Fallstricken werden, und in Unternehmen der Energiewirtschaft überall in Europa den sozialen Dialog und Kollektivvereinbarungen zur Gleichstellung auszubauen.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. L 158 vom 14.6.2019, S. 125.

(2)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 1.

(3)  Abl. C 367 vom 10.10.2018, S. 1.

(4)  So wurde beispielsweise festgestellt, dass der größte Anbieter von Messdiensten im Bereich der Einzelverbrauchserfassung in Österreich versucht hat, andere Anbieter von der Nutzung seiner intelligenten Messgeräte durch Hardwaresicherungen auszuschließen (Österreichische Bundeswettbewerbsbehörde (BWB), 2022).

(5)  Die vier Internetgiganten Google, Apple, Facebook und Amazon.

(6)  Auf der Grundlage der Ergebnisse der öffentlichen Konsultation hat die Kommission Defizite bei der Kompetenzentwicklung und einen Mangel an ausreichend qualifizierten Arbeitskräften als die wichtigsten Hemmnisse für die Einführung digitaler Technologien ermittelt (eine Übersicht ist im Portal „Ihre Meinung zählt“ verfügbar).

(7)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 170.


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/101


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 98/24/EG des Rates und der Richtlinie 2004/37/EG des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Grenzwerte für Blei und seine anorganischen Verbindungen und Diisocyanate“

(COM(2023) 71 final — 2023/0033 (COD))

(2023/C 184/18)

Befassung

Europäische Kommission, 13.2.2023

Rat, 8.3.2023

Europäisches Parlament, 13.3.2023

Rechtsgrundlage

Artikel 153 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

197/0/3

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben, wobei er den Standpunkt der Sozialpartner in der Begründung des Vorschlags respektiert.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/102


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2012/19/EU über Elektro- und Elektronik-Altgeräte“

(COM(2022) 63 final — 2022/025(COD))

(2023/C 184/19)

Befassung

Europäisches Parlament, 13.2.2023

 

Rat, 21.2.2023

Rechtsgrundlage

Artikel 192 Absatz 1 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Verabschiedung im Plenum

22.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

194/0/3

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und sich bereits in seiner Stellungnahme 5002/2014 vom 12. November 2014 (1) zu dieser Thematik geäußert hat, beschloss er, eine befürwortende Stellungnahme abzugeben und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in der vorgenannten Stellungnahme vertreten hat.

Brüssel, den 22. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 230 vom 14.7.2015, S. 91.


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/103


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2014/65/EU zur Steigerung der Attraktivität der öffentlichen Kapitalmärkte in der Union für Unternehmen und zur Erleichterung des Kapitalzugangs für kleine und mittlere Unternehmen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/34/EG“

(COM(2022) 760 final — 2022/0405 (COD))

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Strukturen mit Mehrstimmrechtsaktien in Gesellschaften, die eine Zulassung ihrer Anteile zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt beantragen“

(COM(2022) 761 final — 2022/0406 (COD))

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EU) 2017/1129, (EU) Nr. 596/2014 und (EU) Nr. 600/2014 zur Steigerung der Attraktivität der öffentlichen Kapitalmärkte in der Union für Unternehmen und zur Erleichterung des Kapitalzugangs für kleine und mittlere Unternehmen“

(COM(2022) 762 final — 2022/0411 (COD))

(2023/C 184/20)

Berichterstatter:

Kęstutis KUPŠYS

Befassung

Rat der Europäischen Union, 6.2.2023 (COM(2022) 760 final und COM(2022) 762 final);

8.2.2023 (COM(2022) 761 final)

Europäisches Parlament, 1.2.2023

Rechtsgrundlage

Artikel 50 Absatz 1, Artikel 114 und 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

2.3.2023

Verabschiedung im Plenum

23.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

123/2/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Eine stärkere Eigenkapitalfinanzierung europäischer Unternehmen ist von entscheidender Bedeutung, um die Erholung nach der COVID-19-Krise sicherzustellen und angesichts des Krieges Russlands gegen die Ukraine ein widerstandsfähiges europäisches Wirtschaftssystem aufzubauen. Deshalb begrüßt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nachdrücklich den von der Kommission vorgeschlagenen Rechtsakt über die Börsennotierung.

1.2

Der EWSA ist der Auffassung, dass Familienunternehmen durch den Zugang zu den Kapitalmärkten bislang ungenutzte Möglichkeiten zur Mobilisierung von Wachstumskapital erschließen könnten. Die Mehrstimmrechtsregelung hilft Eignerfamilien dabei, die Kontrolle zu behalten und die Börsennotierung so für sie attraktiver zu machen. Der EWSA teilt die Auffassung, dass auf nationaler Ebene detaillierte Rahmen konzipiert und gleichzeitig auf europäischer Ebene Harmonisierung auf hohem Niveau gefördert werden sollten.

1.3

Der EWSA begrüßt auch die Initiative der Kommission, den Inhalt des Prospekts zu straffen. Dadurch würden die Kosten und der Aufwand für die Emittenten erheblich verringert werden.

1.4

Generell begrüßt der EWSA den Vorschlag, Emittenten die Wahl zu lassen, einen Prospekt nur in englischer Sprache zu veröffentlichen. Denn dies ist die von internationalen Anlegern üblicherweise verwendete Sprache. Die Veröffentlichung eines vollständigen Dokuments (und nicht nur der Zusammenfassung) in den Landessprachen käme jedoch lokalen Kleinanlegern zugute. Emittenten sollten nach Auffassung des EWSA berücksichtigen, dass „nur auf Englisch“ vorliegende Emissionspapiere die Entwicklung einer nationalen Anlagebasis für Kleinanleger behindern würden.

1.5

Der EWSA stellt fest, dass die Kombination von Finanzanalysen mit anderen Dienstleistungen die Sichtbarkeit börsennotierter kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) erhöhen dürfte. Daher begrüßt er die vorgeschlagene Anhebung des Schwellenwerts für die Entflechtungsvorschriften auf 10 Mrd. EUR. Es könnten jedoch auch weitere Maßnahmen zur Förderung abhängiger Analysen bzw. Forschung erforderlich sein.

1.6

Der EWSA schätzt insbesondere den Ansatz der Kommission, die Rechtsunsicherheit in Bezug auf die Offenlegungspflichten zu verringern. Der Vorschlag eines Mechanismus zur marktübergreifenden Aufsicht über die Orderbücher (CMOBS), der den Austausch von Orderbuchdaten zwischen den Aufsichtsbehörden erleichtern würde, birgt jedoch das Risiko ungleicher Wettbewerbsbedingungen, da bilaterale Handelsplätze keinen Berichtspflichten unterliegen würden.

2.   Hintergrund

2.1

Die Kommission legte am 7. Dezember 2022 Vorschläge (1) für Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion der EU vor. Ein neuer Rechtsakt über die Börsennotierung zielt als Teil des Pakets darauf ab, den Verwaltungsaufwand für Unternehmen jeder Größe, insbesondere für KMU, zu verringern, um ihnen so einen die Kapitalbeschaffung durch Börsennotierung zu erleichtern.

2.2

Die Kommission stellt fest, dass die EU-Kapitalmärkte nach wie vor fragmentiert und von zu geringer Größe sind. Studien zufolge ist die Gesamtzahl der börsennotierten Unternehmen auf KMU-Wachstumsmärkten in Europa seit 2014 kaum gestiegen (2), obwohl die börsennotierten Unternehmen klare Vorteile hatten, wie der Anstieg ihrer Marktbewertung beweist. Im Allgemeinen steigern börsennotierte Unternehmen ihre Einnahmen und schaffen mehr Arbeitsplätze. Zudem wachsen ihre Bilanzen schneller als die nicht börsennotierter Unternehmen. Eine Reihe von Studien belegen eine suboptimale Situation in Bezug auf die Börsengänge von KMU in Europa.

2.3

Der Rechtsakt über die Börsennotierung enthält einfachere und verbesserte Börsennotierungsvorschriften, insbesondere für KMU. Dabei wird gleichzeitig versucht, eine Schwächung des Anlegerschutzes und eine Beeinträchtigung der Marktintegrität zu vermeiden.

2.4

Mit dem Rechtsakt sollen erhebliche Kostensenkungen gewährleistet und zur Attraktivität der Börsengänge in Europa beigetragen werden. Vereinfachte Prospektvorschriften würden Unternehmen die Börsennotierung erleichtern und die dabei anfallenden Kosten senken. Die Möglichkeit für Unternehmen, beim Börsengang auf KMU-Wachstumsmärkten Mehrstimmrechtsaktien zu verwenden, bietet den Eigentümern die Möglichkeit, die Kontrolle über die Vision ihres Unternehmens zu behalten.

2.5

Verhältnismäßigere Vorschriften über Marktmissbrauch würden auch mehr Klarheit und Rechtssicherheit für börsennotierte Unternehmen in Bezug auf die Einhaltung der wichtigsten Offenlegungspflichten schaffen. Der vorgeschlagene Rechtsakt über die Börsennotierung zielt auch darauf ab, die Bereitstellung und Verbreitung von Finanzanalysen bezüglich Midcap-Unternehmen und KMU zu verbessern, was wiederum ihre Notierung auf öffentlichen Märkten fördern dürfte.

2.6

Dies bringt u. a. folgende Vorteile:

kürzere, aktuellere, besser vergleichbare und leichter zugängliche Unternehmensinformationen für Anleger;

bessere Verfügbarkeit von Finanzanalysen, die Investitionsentscheidungen erleichtern;

wirksamere Überwachung dank klarerer Vorschriften für die Börsennotierung und verbesserte Instrumente zur Untersuchung von Marktmissbrauch;

stärker standardisierte Prospekte, die von den Aufsichtsbehörden leichter geprüft werden können.

2.7

Mit dem Rechtsakt zur Börsennotierung soll im Einklang mit den politischen Zielen in den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (ESG) sichergestellt werden, dass Unternehmen, die ESG-Anleihen begeben, ESG-relevante Informationen in die Notierungsunterlagen aufnehmen, damit Anleger die Stichhaltigkeit der ESG-Ansprüche besser beurteilen können. Unternehmen, die Dividendenwerte emittieren, können sich in den Notierungsunterlagen auf die bereits veröffentlichten und damit öffentlich zugänglichen ESG-Informationen beziehen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

Argumente für einen verbesserten Zugang zu Börsennotierungen auf europäischen öffentlichen Märkten

3.1

Nach Auffassung des EWSA ist mehr Beteiligungskapital für europäische Unternehmen von entscheidender Bedeutung, um die Erholung nach der COVID-19-Krise sicherzustellen. Gleichzeitig gilt es, angesichts des Krieges Russlands gegen die Ukraine ein widerstandsfähiges europäisches Wirtschaftssystem aufzubauen. Die Finanzmarktinfrastruktur ist von entscheidender Bedeutung, um die für die Rekapitalisierung der Wirtschaft erforderlichen Investitionsströme freizusetzen.

3.2

Hochentwickelte öffentliche Märkte sind auch für Kleinanleger wichtig. Die Menschen in Europa halten Bargeld und Einlagen in Höhe von 11 Billionen EUR auf ihren Bankkonten (3). Der Anteil der Einlagen am Gesamtvermögen der privaten Haushalte ist dreimal so hoch wie in den USA. Versäumt es die EU, Endanleger dazu zu bewegen, ihre Mittel in die europäischen Kapitalmärkte zu lenken, werden deren Kapitalvermögen nicht in vollem Umfang für unsere Unternehmen genutzt. Vermögensverwalter sollten mehr Vertrauen in die Aussichten der europäischen Aktienmärkte fassen, und europäische Kleinanleger sollten beim Aufbau ihrer Portfolios mehr Wahlmöglichkeiten haben. Um das zu erreichen, muss sichergestellt werden, dass ein diversifiziertes Angebot an hochwertigen Emittenten an europäischen öffentlichen Märkten notiert wird.

3.3

In einer Zeit, in der Unternehmen in finanzielle Bedrängnis geraten, die wirtschaftliche Unvorhersehbarkeit zunimmt und insbesondere die Fremdkapitalkosten steigen, wirkt Eigenkapital als stabilisierender Faktor und als Puffer gegen künftige Schocks.

3.4

Der EWSA stellt auch fest, dass Eigenkapitalfinanzierung durch europäische Haushalte für europäische Unternehmen die offene strategische Autonomie der EU auf einer sehr grundlegenden Ebene sicherstellen kann: durch Eigentum an Vermögenswerten und Kontrolle über die Unternehmen. Die Tatsache, dass europäische Unternehmen von kritischer Bedeutung unter ausländische Kontrolle und insbesondere in die Einflusssphäre von Ländern geraten, die die europäischen Werte nicht teilen, stellt ein erhebliches Risiko für die wirtschaftliche und politische Stabilität der EU dar. Dadurch wird zudem die Entwicklung des in der EU ansässigen Finanzsystems, das auf die Bedürfnisse der EU ausgerichtet ist, behindert. Beispielsweise wird der Finanzhandel in der EU nach wie vor von Nicht-EU-Investitionsbanken dominiert (4).

3.5

Junge und innovative Unternehmen, die beim grünen und digitalen Wandel an vorderster Front stehen, sollten ermutigt werden, sich um eine Notierung auf den europäischen Aktienmärkten zu bemühen und sich die dringend benötigten Finanzmittel durch die Emission öffentlich gehandelter Aktien zu beschaffen. Denn dies ist der nachhaltigste Weg, diesen Unternehmen dabei zu helfen, ihr gesamtes kreatives Potenzial zu entfalten und Arbeitsplätze zu schaffen.

3.6

Steigende Inflation führt — insbesondere bei versierten Kleinanlegern — zu einem erhöhten Interesse an Aktieninvestitionen. Europäische Aktienmärkte können zu einem Ort werden, an dem diese Investitionen in die zentralen Wirtschaftssektoren, deren Unternehmen ausreichende Renditen erzielen, gelenkt werden. Gleichzeitig ist der EWSA der Ansicht, dass die EU unbedingt solide und robuste Handelsregeln schaffen muss, um das Potenzial der EU-Kapitalmärkte voll zu entfalten. Die Lehren aus der Finanzkrise haben gezeigt, dass die EU die Märkte schützen, für Fairness, Integrität, Widerstandsfähigkeit und Transparenz sorgen und gleichzeitig ein Höchstmaß an Anlegerschutz gewährleisten muss.

3.7

Eine in 14 EU-Mitgliedstaaten durchgeführte Studie ergab, dass bis zu 17 000 große Unternehmen an die Börse gehen könnten, dies aber nicht tun wollen (5). Der EWSA sieht die Gefahr, dass der Handel auf den EU-Kapitalmärkten schwindet, wenn die EU keine Anreize für neue Börsennotierungen auf den Aktienmärkten setzt. Denn Anleger diversifizieren ihr Portfolio weltweit, wenn es kein ausreichend großes Angebot an Anlagewerten in der EU gibt.

3.8

Die neue Generation von Europäerinnen und Europäern, die am Markt für Privatanleger aktiv wird, achtet auf Nachhaltigkeit (d. h. ESG-Faktoren). Gleichzeitig richten sich viele Wirtschaftsakteure auf grüne Ziele aus, die durch die Politik des europäischen Grünen Deals gefördert werden. Der EWSA sieht in dieser Kombination von Faktoren potenziell starke Impulse für die volle Ausschöpfung des Potenzials der europäischen Taxonomie für ein nachhaltiges Finanzwesen und des Rahmens für die Offenlegung nichtfinanzieller Informationen von Unternehmen. Unternehmen, die sowohl freiwillig als auch im Hinblick auf eine Anpassung an die künftigen EU-Rechtsvorschriften handeln, müssen zum einen bei ihrer Geschäftstätigkeit mehr Gewicht auf die ESG legen. Zum anderen erwartet die neue Generation von Investoren die Einhaltung der ESG-Kriterien und spürbare positive soziale und regenerative ökologische Auswirkungen — in gleichem Maße wie finanziellen Gewinn.

3.9

Der EWSA verweist auch auf einige Studien, denen zufolge in Volkswirtschaften mit marktbasierter Finanzierung Investitionen in umweltfreundlichere und technologieintensivere Sektoren umgeschichtet werden (6). Dagegen folgt auf einen kreditintensiven Aufschwung tendenziell eine tiefere Rezession und eine langsamere Erholung (7).

3.10

Klares Ziel sollte es sein, eine Börsenkapitalisierung von 100 % des BIP der EU (von derzeit rund 64 % (8)) zu erreichen. Der EWSA ist der Auffassung, dass es keine andere Wahl gibt, als öffentliche Märkte zu unterstützen und die Rahmenbedingungen für den Börsengang zu verbessern.

Bedeutung für KMU und Familienunternehmen

3.11

Nach Ansicht des EWSA spielen KMU auf den Aktienmärkten noch immer nicht die ihnen gebührende Rolle. Es sollten Anstrengungen unternommen werden, um KMU durch Eigenkapitalfinanzierung die notwendige Widerstandsfähigkeit zu verschaffen.

3.12

Nach Auffassung des EWSA liegt die zu geringe Eigenkapitalfinanzierung in Europa seit Jahrzehnten auf der Hand. Das Problem mangelnder Eigenkapitalfinanzierung von KMU ist eklatant. KMU sind zu unbekannt, um Kapital anzuziehen. Eine Umwandlung in börsennotierte Unternehmen würde ihre Möglichkeiten auf lange Sicht verbessern. Nach Auffassung des EWSA müssen börsennotierte KMU unbedingt einen angemessenen Platz in den Portfolios von Privatanlegern (Kleinanlegern), Investmentfonds und Pensionsfonds sowie Versicherungsgesellschaften bekommen.

3.13

Ein gut funktionierender Markt für Erstemissionen ist auch im Vorfeld des Börsengangs wichtig, da er sich auf die Planung von Ausstiegsstrategien und damit auf die Bereitstellung von Risikokapital durch Risikokapitalunternehmen auswirkt.

3.14

Finanzanalysen sind notwendig, um die Sichtbarkeit von KMU zu erhöhen, und daher zu fördern. Initiativen wie die bessere Verfügbarkeit von Finanzanalysen oder das zentrale europäische Zugangsportal würden dazu beitragen, die Sichtbarkeit von KMU für Investoren zu erhöhen.

3.15

Sollen familienkontrollierte Unternehmen zum Börsengang motiviert werden, ist Sorgfalt geboten. In Deutschland beispielsweise sind 90 % aller Unternehmen von Familien kontrolliert, und 43 % der Unternehmen mit einem Umsatz von mehr als 50 Mio. EUR sind Familienunternehmen (9). Die Tatsache, dass sich ein Unternehmen in Familieneigentum befindet, hat seine Vorzüge. Gleichwohl kann das Wachstumspotenzial (zumindest teilweise) beschränkt sein, wenn notwendige Finanzmittel nicht verfügbar sind. Der EWSA ist zuversichtlich, dass der Zugang von Familienunternehmen zu den Kapitalmärkten diesen ungenutzte Möglichkeiten eröffnen würde (10). Die Mehrstimmrechtsregelung hilft Eignerfamilien dabei, die Kontrolle zu behalten und die Börsennotierung so für sie attraktiver zu machen.

3.16

Die meisten globalen Finanzzentren bieten die Möglichkeit von Mehrstimmrechtsregelungen. Europa braucht einen harmonisierten Ansatz, um mit den globalen Entwicklungen Schritt zu halten und expansionswillige Unternehmen nicht zu verlieren.

Transparenz und Offenlegung

3.17

Die Transparenzanforderungen für Unternehmen, die einen Börsengang vorbereiten, werden höher sein als die für Privatunternehmen. Im Gegensatz zu Privatunternehmen erhalten börsennotierte Unternehmen Gelder von externen Anteilseignern, die weder über denselben Informationsgrad noch über denselben Einfluss auf die Entscheidungsfindung verfügen wie die Eigentümer von Privatunternehmen.

3.18

Daher ist ein deutlich höheres Maß an Anlegerschutz gerechtfertigt bzw. erforderlich, z. B. durch die Festlegung von Offenlegungspflichten (auch in Bezug auf Insiderinformationen) und strengen Standards für die Berichterstattung.

3.19

Nach Auffassung des EWSA ist die Offenlegungspflicht für einen gut funktionierenden öffentlichen Markt äußerst wichtig und notwendig. Anleger müssen hinreichend über die prognostizierte Entwicklung von Wertpapieren informiert werden. Jedwede Einschränkung der Offenlegungspflicht würde bei einer Emission potenzielle Anleger abschrecken. Dadurch könnte wiederum die vollständige Ausschöpfung der Möglichkeiten der Kapitalmärkte erheblich behindert werden.

3.20

Die Aufnahme zu vieler Informationen in Angebotsunterlagen allein zur Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten ist jedoch weder für den Emittenten noch für den Anleger sinnvoll. Es gilt, das richtige Gleichgewicht zu finden.

4.   Besondere Bemerkungen und Empfehlungen

4.1

Vor diesem Hintergrund begrüßt der EWSA den von der Kommission vorgeschlagenen Rechtsakt über die Börsennotierung, abgesehen von einigen wenigen Bedenken, nachdrücklich.

4.2

Der EWSA sieht eindeutig die Notwendigkeit, gegen fragmentierte nationale Vorschriften bezüglich Mehrstimmrechtsaktien vorzugehen. Er geht davon aus, dass die Mindestharmonisierung dieser Vorschriften, die darauf abzielt, Familienunternehmen auf die EU-Kapitalmärkte zu bringen, dazu beitragen wird, eine echte gesamteuropäische Kapitalmarktunion aufzubauen. Auf nationaler Ebene sollten detaillierte Rahmen konzipiert werden, die sich an das lokale Ökosystem anpassen und gleichzeitig auf EU-Ebene eine Harmonisierung auf hohem Niveau fördern.

4.3

Der EWSA stellt fest, dass Streubesitz nicht der einzige Faktor ist, der für die Gewährleistung der Liquidität von Bedeutung ist. Die Anforderung, dass mindestens 10 % des gezeichneten Kapitals im Streubesitz sein müssen, sollte erst ab dem Zeitpunkt der Börsennotierung gelten. Insbesondere für kleinere Mitgliedstaaten ist Flexibilität von entscheidender Bedeutung, da ihre Märkte auch mit einem geringeren Anteil an Streubesitz gut funktionieren können. Dies ist überaus wichtig, um abrupte Delistings zu verhindern.

4.4

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission, den Inhalt des Prospekts zu straffen. Dies würde die Kosten und den Aufwand für die Emittenten erheblich verringern. Die Mitgesetzgeber sollten jedoch ein Gleichgewicht zwischen dem Aufwand für die Emittenten und dem Informationsbedarf der Anleger anstreben. 800-seitige Prospekte sollten der Vergangenheit angehören. Gleichwohl sollte die notwendige Ausführlichkeit der Informationen, insbesondere zu ESG-Faktoren unter Berücksichtigung des Grundsatzes der doppelten Wesentlichkeit, sichergestellt werden. Aufbauend auf den strengen Bestimmungen der Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (11) würde eine solche Berichterstattung die Finanzierung des Grünen Deals nachhaltig fördern.

4.5

Derzeit ist der Inhalt der Prospekte nicht zentral organisiert und nicht einheitlich, und mit Ausnahme der Zusammenfassung nicht immer in englischer Sprache verfügbar („in der im internationalen Finanzsektor üblichen englischen Sprache“, wie es im Vorschlag heißt). Überdies werden die Informationen in nicht maschinenlesbaren Formaten bereitgestellt. Bei einem Emissionsverfahren können unterschiedliche Dokumente zu verschiedenen Dossiers verpflichtend sein (z. B. Wertpapierbeschreibung, Zusammenfassung des Prospekts und Registrierungsformular).

4.6

Daher wird die Harmonisierung und Vereinfachung des Prospekts für Eigenkapitalinstrumente begrüßt. Der EWSA stimmt dem Vorschlag der Kommission im Allgemeinen zu, Emittenten die Wahl zu lassen, einen Prospekt nur in englischer Sprache als gängige Sprache der internationalen Anleger zu veröffentlichen (mit Ausnahme der Zusammenfassung, die in der Landessprache bereitgestellt werden sollte, um weiterhin Kleinanleger anzuziehen).

4.7

Der EWSA misst der Verwendung von Landessprachen jedoch ebenso große Bedeutung bei, da Englisch nicht in allen Mitgliedstaaten allgemein verbreitet ist. Nach Ansicht des EWSA würde die Veröffentlichung eines umfassenden Dokuments (und nicht nur der Zusammenfassung) in den Landessprachen neben einer englischen Fassung eine aktivere Beteiligung lokaler Kleinanleger ermöglichen. Emittenten und ihre Berater müssen berücksichtigen, dass „nur auf Englisch“ vorliegende Emissionspapiere die Entwicklung einer nationalen Anlagebasis für Kleinanleger behindern würden und die erhofften Ziele der angekündigten EU-Investitionsstrategie für Kleinanleger konterkarieren könnten. In diesem Zusammenhang weist der EWSA darauf hin, dass Maßnahmen ergriffen werden sollten, um lokale Kleinanleger zu ermutigen, sich an den Kapitalmärkten zu engagieren, unter anderem durch eine angemessene Bekanntmachung der Emissionsdokumente und eine bessere Lesbarkeit.

4.8

Finanzanalysen sind für die Entwicklung eines gesunden Ökosystems zur Eigenkapitalfinanzierung von KMU von zentraler Bedeutung. Die Genehmigung der Bündelung von Analysen für KMU mit anderen Dienstleistungen zur Ergänzung der bestehenden Analysekanäle dürfte die Erstellung und Verbreitung von Analyseberichten erhöhen. Der EWSA begrüßt die vorgeschlagene Anhebung des Schwellenwerts der Entflechtungsvorschriften auf 10 Mrd. EUR. Dies wird die durch MiFID II (12) verursachte geringere Abdeckung und Sichtbarkeit von KMU korrigieren. Der EWSA betont jedoch, dass sich die Erstellung von Finanzanalysen in den Händen größerer Finanzinstitute konzentriert. Im Gegensatz zu kleinen und mittelgroßen Brokern sind sehr große Broker aufgrund ihres Umfangs eher in der Lage, geringe Gebühren zu verlangen. Sie können den Handel auch zur Querfinanzierung von Analysen nutzen (13). Darüber hinaus sind große Makler meist daran interessiert, Analysen zu Großunternehmen (Blue-Chip) bereitzustellen, während KMU möglicherweise zu geringes Interesse zukommt. Die große Mehrheit der Emittenten gibt an (14), dass die Abdeckung und Sichtbarkeit von KMU durch MiFID II verringert wurde. Der EWSA hält es für dringend notwendig, weitere Maßnahmen zur Förderung unabhängiger Analysen zu ergreifen und dabei von den in Europa verfügbaren bewährten Verfahren zu lernen (15).

4.9

In der auf den Börsengang folgenden Phase sollten börsennotierte Unternehmen im Hinblick auf Transparenz beispielhaft sein, und der Schutz der Interessen von Minderheitsaktionären sollte oberste Priorität haben. Besteht die Gefahr, dass Anteilseigner von Unternehmen, die an die Börse gehen, ungerecht behandelt oder nicht gut geschützt werden, ist das ihrem Vertrauen in die EU-Kapitalmärkte abträglich. Der EWSA würdigt nachdrücklich den Vorstoß der Kommission, die Rechtsunsicherheit in Bezug auf Offenlegungspflichten durch gezielte Änderungen der Marktmissbrauchsverordnung zu verringern.

4.10

Der Ausschuss hält den bestehenden Rahmen, der Ad-hoc-Anfragen bei Verdacht auf Marktmissbrauch vorsieht, für angemessen und ausreichend, um eine wirksame Überwachung sicherzustellen. Er stellt jedoch fest, dass es mehrere Aufsichtsbehörden für sinnvoll halten, den Austausch von Orderbuchdaten im Rahmen des Mechanismus zur marktübergreifenden Aufsicht über die Orderbücher (CMOBS) zu verbessern. Der Anwendungsbereich des CMOBS-Vorschlags birgt die Gefahr ungleicher Wettbewerbsbedingungen, da bilaterale Handelsplätze von diesem Mechanismus nicht erfasst würden.

4.11

Der EWSA plädiert nachdrücklich dafür, andere laufende Initiativen zur Steigerung der Attraktivität der öffentlichen Märkte schneller voranzutreiben. Er hat mehrere Stellungnahmen zu früheren, laufenden und kommenden Legislativinitiativen verabschiedet. (16) Trotz der geopolitischen Herausforderungen sollten weiterhin rasche Fortschritte auf dem Weg zu Kapitalmarktunion erzielt werden. Eine starke Kapitalmarktunion wird mehr denn je gebraucht, eben aufgrund der wachsenden Gefahr wirtschaftlicher und sozialer Instabilität.

Brüssel, den 23. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Capital markets union: clearing, insolvency and listing package.

(2)  Abschlussbericht der Sachverständigengruppe für KMU, Empowering EU Capital Markets for SMEs: Making listing cool again.

(3)  Eurostat — Statistics explained.

(4)  Statistischer Bericht der ESMA „EU securities markets“, 2020, S. 40.

(5)  Oxera-Bericht, Primary and secondary equity markets in EU, 2020.

(6)  Haas, R.D. und Popov, A., Finance and Carbon Emissions, ECB Working Paper Series, 2019.

(7)  Jordà, Ò., Schularick, M. und Taylor, A.M., When Credit Bites Back, Journal of Money, Credit and Banking 45, Nr. 2 (1. Dezember 2013), S. 3–28.

(8)  Federation of European Securities Exchanges database, 2022.

(9)  Stiftung Familienunternehmen.

(10)  ABl. C 75 vom 28.2.2023, S. 28.

(11)  ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 51.

(12)  MiFID = Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (Markets in Financial Instruments Directive).

(13)  Oxera-Bericht, Unbundling: what‘s the impact on equity research?, 2019.

(14)  Europäische Kommission, Abschlussbericht, The impact of MiFID II rules on SME and fixed income investment research, 2020.

(15)  Siehe die gemeinnützige Initiative „Lighthouse“, gefördert vom spanischen Finanzanalyseinstitut Instituto Español de Analistas Financieros.

(16)  ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 20; ABl. C 290 vom 29.7.2022, S. 58; ABl. C 177 vom 18.5.2016, S. 9; ABl. C 10 vom 11.1.2021, S. 30; ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 41.


25.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 184/109


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Sicherstellung der Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit von Düngemitteln“

(COM(2022) 590 final)

(2023/C 184/21)

Berichterstatter:

Arnold PUECH D’ALISSAC

Befassung

Europäische Kommission, 9.12.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

9.3.2023

Verabschiedung im Plenum

23.3.2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

170/3/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Angesichts der globalen Düngemittelkrise, die Anfang 2021 begann und sich infolge des Kriegs in der Ukraine noch verschärft hat, begrüßt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Mitteilung der Kommission zur Sicherstellung der Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit von Düngemitteln. In Europa, wo die Landwirte Rekordpreise zahlen müssen und Lieferengpässe auftreten, ist dieses Problem besonders akut. Die derzeitige Situation bedroht die europäische Landwirtschaft und die weltweite Nahrungsmittelversorgung.

1.2.

Der EWSA betont, dass EU-intern dringend gehandelt werden muss, um die Auswirkungen der Düngemittelkrise zu begrenzen. Neben der Möglichkeit, die am stärksten betroffenen Stickstoffhersteller und Landwirte direkt durch staatliche Beihilfen zu unterstützen (wofür begrenzte Haushaltsmittel zur Verfügung stehen, wodurch Wettbewerbsverzerrungen zu befürchten sind und die der Konditionalität unterliegen sollten), hält der EWSA Korrekturmaßnahmen für angezeigt. Sie könnten das Funktionieren des Düngemittelmarkts in der EU verbessern, da sie wahrscheinlich stärker bei den Landwirten ankommen und für die Steuerzahler kostengünstiger sein würden.

1.3.

Um durch erleichterte Einfuhren und inländischen Wettbewerb sowohl das Angebot an Düngemitteln zu verbessern als auch die Preise zu dämpfen, empfiehlt der EWSA unter anderem die Aussetzung der EU-Einfuhrzölle auf sämtliche Düngemittel, die Verbesserung der Düngemittellogistik sowie eine flexiblere Regulierung.

1.4.

Der EWSA sieht ferner die Notwendigkeit mittelfristiger Maßnahmen, um die Abhängigkeit der EU von importierten mineralischen Düngemitteln zu begrenzen und den ökologischen Fußabdruck der Pflanzendüngung zu verringern. Die Maßnahmen sollten zu einem geringeren Düngemitteleinsatz führen, indem die Nährstoffeffizienz von Pflanzen erhöht wird. Synthetische Düngemittel sollten teilweise durch aufbereiteten Dung und andere Abfälle ersetzt und mit Blick auf einen agrarökologischen Wandel in der Landwirtschaft die Selbstversorgung Europas in der Düngemittelproduktion verbessert werden.

1.5.

Der EWSA begrüßt die Ankündigung einer neuen Marktbeobachtungsstelle für Düngemittel, die 2023 eingerichtet werden soll, da er es für wesentlich hält, die Transparenz auf dem europäischen Düngemittelmarkt durch die regelmäßige Veröffentlichung repräsentativer Inlandspreise und durch die Erstellung öffentlicher Statistiken über die Produktion und den Einsatz von Düngemitteln zu erhöhen.

1.6.

Weiterhin fordert der EWSA bei neuen Maßnahmen die Berücksichtigung der sozialen Aspekte, die die Landwirte (die stark unter den hohen Düngemittelpreisen leiden), die Lebensmittelverbraucher (auf die eine Inflation der Lebensmittelpreise zukommt) und die Arbeitnehmer dieses Wirtschaftszweiges betreffen.

1.7.

Der EWSA dringt darauf, dass sich die EU international stärker für die globale Ernährungssicherheit engagiert, indem bei Düngemitteln für mehr Transparenz, ein besseres Angebot und eine wirksame Verwendung gesorgt wird. Der weltweite Handel mit Düngemitteln sollte durch offene Märkte, die Vermeidung von Ausfuhrbeschränkungen und -verboten, die Steigerung der Düngemittelproduktion in Europa und die Erweiterung der Logistikrouten erleichtert werden.

2.   Einleitung und Hintergrund

2.1.

Düngemittel enthalten drei für das Pflanzenwachstum unabdingbare Elemente: Stickstoff (N), Phosphor (P) und Kalium (K).

2.2.

Düngemittel sind Betriebsmittel, die aus der heutigen Landwirtschaft größtenteils nicht mehr wegzudenken sind. Ihre Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit wirkt sich entscheidend auf die Ernährungssicherheit aus. Seit Anfang 2021 kam es zu einer weltweiten Verknappung bei Mineraldüngern, die zunächst auf einen Anstieg der Nachfrage infolge der Erholung nach der COVID-19-Krise zurückzuführen war und sich infolge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine durch den Rückgang der Lieferungen aus Russland, Belarus und der Ukraine — drei weltweit wichtigen Düngemittellieferanten — weiter verschärft hat.

2.3.

Die Düngemittelkrise ist in Europa besonders akut, da i) die EU ein großer Nettoimporteur von Düngemitteln ist, ii) der Düngemittelmarkt für Stickstoff und Phosphor durch Einfuhrzölle geschützt wird, was die Inlandspreise über die Weltmarktpreise treibt, und iii) die Düngemitteleinfuhren der EU aus Russland, Belarus und der Ukraine, die zuvor 43 % der EU-Einfuhren ausmachten, seit März 2022 trotz der offiziellen EU-Position, Lebensmittel- und Düngemittelimporte aus Russland nicht mit Sanktionen zu belegen, erheblich zurückgegangen sind.

2.4.

Die Inlandspreise für Düngemittel sind auf ein Rekordniveau gestiegen (auf das Dreifache für mineralischen Stickstoff im November 2022 gegenüber Januar 2021). Zusammen mit dem knappen Angebot und den verzögerten Käufen führte dies zu einem erheblichen Rückgang des Einsatzes von Düngemitteln in der EU für die Ernte 2022 (1) und zu einem möglichen Mangel in mehreren Mitgliedstaaten im Frühjahr 2023 mit Folgen für die Ernte 2023.

2.5.

Diese Ereignisse spielen sich vor dem Hintergrund des europäischen Grünen Deals und der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ (2) ab, die von der Europäischen Kommission im Mai 2020 veröffentlicht wurde und in der die folgenden Ziele für die gesamte EU formuliert werden: „[…] die Nährstoffverluste bei gleichbleibender Bodenfruchtbarkeit um mindestens 50 % […] verringern“ und den „Einsatz von Düngemitteln bis 2030 um mindestens 20 %“ reduzieren.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA betont, dass gut verfügbare und preisgünstige Düngemittel für die landwirtschaftliche Erzeugung und die Ernährungssicherheit in Europa und weltweit von wesentlicher Bedeutung sind. Düngemittelknappheit und überhöhte Düngemittelpreise führen zu geringeren Ernteerträgen, gefährden die Nahrungsmittelerzeugung und heizen die Nahrungsmittelpreisinflation auf Kosten der europäischen Bürger und der Weltbevölkerung an.

3.2.

Die derzeitige Krise auf den Düngemittelmärkten ist eine besondere Bedrohung für Niedrigeinkommensländer, die akut von Ernährungsunsicherheit betroffen sind. Sie bedroht allerdings auch Europa, wo gefährdete Gruppen bereits unter den hohen Lebensmittelpreisen leiden. Die Düngemittelkrise kann zu Minderernten führen und damit die weltweite Ernährungssicherheit beeinträchtigen, da die EU ein wichtiger Getreideproduzent und -exporteur ist.

3.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die weltweite Verknappung der Düngemittel nicht nur auf den hohen Erdgaspreis, sondern auch auf ein Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage und logistische Engpässe zurückzuführen ist. In der EU wird die Situation durch ihre hohe Abhängigkeit von importiertem Mineraldünger, die Einfuhrzölle der EU und den Krieg in der Ukraine noch weiter verschärft.

Interne Sofortmaßnahmen

3.4.

Trotz der hohen Düngemittelpreise scheint die Kostenwettbewerbsfähigkeit mehrerer Stickstoffdünger-Produzenten in der EU durch den extrem hohen Erdgaspreis in Europa beeinträchtigt worden zu sein, der mittlerweile das Siebenfache des US-amerikanischen Niveaus erreicht und sich gegenüber 2021 verdreifacht hat. Neben der vorrangigen Versorgung mit Erdgas bei einer etwaigen Gasmangellage könnte eine spezifische Unterstützung der EU-Stickstoffindustrie von Fall zu Fall helfen, die bestehenden Produktionskapazitäten bestmöglich zu nutzen, wie dies durch den geänderten befristeten Krisenrahmen der EU für staatliche Beihilfen ermöglicht wird. In diesem Zusammenhang muss eine wirtschaftliche und soziale Konditionalität dafür sorgen, dass keine Zufallsgewinne abgeschöpft werden können, denn tatsächlich konnten einige Düngemittelhersteller ihre Gewinne aufgrund der Düngemittelkrise steigern.

3.5.

Die Anwender der Düngemittel, also v. a. Ackerbauern und auf Mischkulturen und Viehzucht spezialisierte Landwirte, auf die 62 % der Düngerausgaben und 69 % des Stickstoffverbrauchs in der EU entfallen (3), wurden von der derzeitigen Krise hart getroffen. Sie kämpfen mit Liquiditätsengpässen beim Kauf von Düngemitteln vor der Ernte sowie mit einer Kosten-Preis-Schere, da die höheren Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse die Preissteigerungen bei Düngemitteln und anderen landwirtschaftlichen Betriebsmitteln möglicherweise nicht ausgleichen (4). Daher könnte eine gezielte Unterstützung der Düngemittelnutzer etwas gegen die Krise ausrichten, was durch den geänderten befristeten Krisenrahmen der EU für staatliche Beihilfen ermöglicht wird.

3.6.

Die Haushaltsmittel sind jedoch sehr begrenzt und es gibt konkurrierende Prioritäten bei der Finanzierung dieser Unterstützung durch die Inanspruchnahme der Agrarreserve der EU in Höhe von 450 Millionen Euro für das Haushaltsjahr 2023. Solche Maßnahmen über nationale GAP-Strategiepläne zu finanzieren, ist ebenfalls keine gute Lösung, denn sie wurden erst unlängst genehmigt und es würde lange dauern, sie zu ändern. Andererseits würden staatliche Beihilfen die einzelstaatlichen Haushalte belasten und außerdem die Gefahr erheblicher Wettbewerbsverzerrungen zwischen Landwirten aus verschiedenen Mitgliedstaaten bergen. Bezeichnend ist, dass bislang nur drei Mitgliedstaaten Beihilferegelungen für den Ankauf von Düngemitteln durch Landwirte mit einem Gesamtbudget von 855 Millionen Euro eingeführt haben.

3.7.

Der EWSA ist der Auffassung, dass Korrekturmaßnahmen zur Verbesserung der Funktionsweise des EU-Düngemittelmarkts daher ratsamer und für die Steuerzahler kostengünstiger sind. Solche zeitlich befristeten Sofortmaßnahmen sollten sowohl auf die Versorgung mit Düngemitteln als auch auf die Preise in Europa abzielen, indem Einfuhren und Wettbewerb erleichtert werden. Einige Düngemittelunternehmen konnten ihre Gewinne erheblich steigern. Die Branche braucht nun ein positives und strategisches Signal, wenn diese Mittel in europäische Produktionsstätten reinvestiert und Europas Autonomie verbessert werden sollen. Dies ist der Preis für unserer Unabhängigkeit.

3.8.

Anknüpfend an den Vorschlag der Europäischen Kommission vom 17. Juli 2022 sieht die Verordnung (EU) 2022/2465 des Rates vom 12. Dezember 2022 (5) eine vorübergehende Aussetzung der Einfuhrzölle auf Harnstoff und Ammoniak vor (was jedoch nicht für Einfuhren aus Russland und Belarus gilt). Der EWSA begrüßt diesen Beschluss, da neben den Partnern, die bereits von Freihandelsabkommen mit der EU profitieren (z. B. nordafrikanische Länder), auch andere wichtige Bezugsquellen (wie die USA, zentralasiatische Staaten und arabische Golfstaaten) von einer solchen Aussetzung positiv beeinflusst würden. Die Verordnung trat jedoch zu spät in Kraft, um in der Saison 2022/2023 noch Wirkung zu entfalten. Die meisten Harnstoffimporte waren bereits zu sprunghaften angestiegenen Preisen geliefert oder bestellt worden. Der Rat hatte indes eine zeitliche Begrenzung auf sechs Monate anstatt der zunächst vorgesehenen zwei Jahre beschlossen. Der EWSA empfiehlt der Kommission und dem Rat, die Verordnung auf die nächste Saison und auf alle Stickstoff- und Phosphordünger auszuweiten. Dies würde das Angebot durch Diversifizierung verbessern und die Preise für Düngemittel in der EU senken.

3.9.

Darüber hinaus sollten dringend weitere Maßnahmen ergriffen werden, um das Funktionieren des EU-Markts für mineralische Düngemittel in den Bereichen Logistik und Regulierung zu sichern, etwa durch i) Anreize für Landwirte und Düngemittelvertreiber, frühzeitig Käufe vorzunehmen und Preisrisiken zu mindern, ii) die Verbesserung der Importabfertigung von Düngemittelschiffen in Häfen und des Landtransports per Lkw, iii) die Vereinheitlichung der einzelstaatlichen Interpretation von Düngemittellieferanten bezüglich der Sanktionen gegen Russland und iv) das Zulassen einer vorübergehenden Flexibilität in den EU-Vorschriften, einschließlich der REACH-Verordnung, des Verkehrsrechts und der Düngemittelverordnung.

3.10.

Die Europäische Kommission sollte ausgehend von den fachlichen Vorschlägen ihrer Gemeinsamen Forschungsstelle (6) rasch Legislativmaßnahmen vorschlagen, die eine sichere Verwendung verwerteter Gülle oberhalb des in der Nitratrichtlinie (RENURE) für nitratgefährdete Gebiete festgelegten Schwellenwerts und die stärkere Substitution synthetischer Düngemittel ermöglichen. Bis ein solcher Schwellenwert festgelegt ist, empfiehlt der EWSA, dafür zu sorgen, dass die aktuelle Obergrenze von 170 kg organischem Stickstoff pro Hektar und Jahr von allen Landwirten in der EU eingehalten wird.

Mittelfristige interne Maßnahmen

3.11.

In seiner Stellungnahme zur Strategischen Vorausschau 2022 (7) empfiehlt der EWSA, die Abhängigkeit der EU von der Einfuhr von Futtermitteln, Düngemitteln und sonstigen Betriebsmitteln zu verringern. Er schlägt eine Definition der offenen strategischen Autonomie für Lebensmittelsysteme vor, die auf den Aspekten Lebensmittelerzeugung, Arbeitskräfte und fairer Handel beruht. Das übergeordnete Ziel ist eine sichere Ernährung der EU-Bevölkerung im Rahmen einer gesunden, nachhaltigen, widerstandsfähigen und fairen Lebensmittelversorgung.

3.12.

Der EWSA ist in puncto Düngemittel der Auffassung, dass zwar unverzüglich Sofortmaßnahmen ergriffen, zugleich aber auch längerfristige Maßnahmen in die Wege geleitet werden sollten, um bestmöglich mit der Abhängigkeit der europäischen Landwirtschaft von importierten mineralischen Düngemitteln umzugehen und die Umweltfolgen der Pflanzendüngung in Europa zu verringern. Diese Maßnahmen sollten dazu führen, dass i) die Düngemittel optimal eingesetzt werden müssen, indem die Nährstoffeffizienz von Pflanzen erhöht wird und somit geringere Verluste entstehen, ii) synthetische Düngemittel verstärkt durch aufbereiteten Dung und Lebensmittelabfälle ersetzt werden und iii) und die Selbstversorgung Europas in der Düngemittelproduktion verbessert wird. Der EWSA betont, dass sich die Landwirtschaft in einem Wandel befindet und Agrarökologie und konservierende Landwirtschaft Verbesserungen mit sich bringen werden.

3.13.

Die Verbesserung der Nährstoffeffizienz von Pflanzen ist notwendig, um den Düngemittelverbrauch und die Ausschwemmung von Nährstoffen in das Wasser bzw. deren Freisetzung in die Luft zu verringern. Sie könnte helfen, mit weniger Düngemitteln gleichbleibende Erntemengen zu erzielen. Dies kann durch optimierte Düngeverfahren erreicht werden, darunter: Einsatz von Deckpflanzen, Wahl der Düngemittel (Bevorzugung stickstoffhaltiger Typen wie Nitratdünger und Verwendung von Urease-/Nitrifikationshemmern), Einsatz von Biostimulanzien sowie Präzisionslandwirtschaft, die eine optimierte Anwendung ermöglicht (zeitlich versetzte Ausbringung, Bilanzberechnung, Boden- und Pflanzenanalyse, Pflanzensensoren, Tools zur Entscheidungsunterstützung).

3.14.

Die Nährstoffeffizienz lässt sich außerdem durch Pflanzenzüchtung maßgeblich verbessern, da verbesserte Sorten für den gleichen Ertrag weniger Nährstoffe, und vor allem weniger Stickstoff, aufnehmen müssen. In diesem Zusammenhang ist der EWSA der Auffassung, dass innovative Technologien und Saatgut entwickelt werden sollten, um Landwirten, die mit den Beschränkungen bestehender Instrumente konfrontiert sind, stets Lösungen zu bieten (8).

3.15.

Die Ersetzung nährstoffintensiver Kulturen wie Getreide, Raps und Zuckerrüben durch Pflanzen mit niedrigerem Nährstoffbedarf wie Sonnenblumen (9) und Hülsenfrüchte ist eine Tendenz, der die Landwirte seit 2021–2022 von sich aus gefolgt sind (10). In einem allgemeinpolitischen Rahmen muss an dieser Stelle jedoch behutsam abgewogen werden, denn angesichts der jeweiligen Trockenmasseerträge und Proteingehalte je Hektar könnte ein solcher Kurs die Agrarmärkte durcheinanderbringen und die Ernährungssicherheit gefährden.

3.16.

Die Teilsubstitution mineralischer Düngemittel durch organische, die aus Viehdung und anderen organischen Abfällen gewonnen werden, ist ebenfalls ein wichtiges mittelfristiges Ziel in der EU (11). Dies ist vorteilhaft für die Böden (höherer organischer Gehalt) und das Klima (weniger Emissionen aus der Herstellung synthetischer Stickstoffdünger) und reduziert die Importabhängigkeit. Allerdings darf das Potenzial von Dung nicht überschätzt werden, da er größtenteils bereits verwendet wird, die nutzbaren Mengen geografisch begrenzt anfallen (Regionen mit strukturellem Überschuss an Dung) und erhebliche Gewinnungs-, Verarbeitungs- und Transportkosten entstehen. Düngstoffe aus menschlichen Exkrementen werden in der Regel nicht auf landwirtschaftlichen Böden ausgebracht, obschon sie ein Potenzial von 2 Milliarden kg Stickstoff bergen (12). Die Europäische Kommission sollte auch die Entwicklung von Techniken zur Nährstoffrückgewinnung aus Algen und Klärschlamm und zur sicheren landwirtschaftlichen Anwendung fördern.

3.17.

Im Hinblick auf Stickstoffdünger ist die Förderung alternativer, fossilfreier Ammoniak-Herstellungsverfahren ein sehr wichtiges langfristiges Ziel, um die Abhängigkeit der EU von Erdgas und ihren CO2-Fußabdruck zu verringern. Grüner Wasserstoff, der durch Wasserelektrolyse (mit Strom aus erneuerbaren Energieträgern) erzeugt wird, befindet sich in der Phase der industriellen Erprobung. Mithilfe der Methanisierung können aus landwirtschaftlichen Nebenprodukten und organischen Abfällen sowohl Biomethan für die Ammoniakerzeugung als auch Gärrückstände gewonnen werden, die als organischer Dünger dienen können. Trotz des derzeit hohen Marktpreises von mit fossilen Energieträgern erzeugtem Ammoniak sind erneuerbare Alternativen längst noch nicht wettbewerbsfähig. Hier braucht es Zeit, einen höheren technologischen Reifegrad und möglicherweise erhebliche öffentliche Subventionen, bevor die industrielle Phase erreicht wird.

3.18.

Der EWSA begrüßt die Ankündigung einer neuen Marktbeobachtungsstelle für Düngemittel, die 2023 eingerichtet werden soll, und die beabsichtigten Konsultationen der Interessenträger im Bereich Düngemittel im Rahmen der Expertengruppe des Europäischen Mechanismus zur Krisenvorsorge und Krisenreaktion im Bereich der Ernährungssicherheit (EFSCM). Der EWSA ist ferner der Auffassung, dass ein hohes Maß an Transparenz auf dem EU-Düngemittelmarkt nur durch die regelmäßige Veröffentlichung repräsentativer Inlandsmarktpreise für ausgewählte Stickstoff-, Phosphor- und Kalium-Dünger sowie durch die Ausarbeitung öffentlicher Statistiken über den Düngemittelverbrauch gewährleistet werden kann.

Soziale Aspekte

3.19.

Der EWSA bemängelt, dass die sozialen Aspekte eines adäquaten und bezahlbaren Düngemittelangebots in der Mitteilung nicht ausreichend berücksichtigt werden. Landwirte (insbesondere Kleinbauern) müssen einen höheren Preis für Düngemittel zahlen, den sie durch die Ernte möglicherweise nicht wieder einfahren können, da der Kauf von Düngemitteln und der Verkauf der Endprodukte entkoppelt sind. Darüber hinaus sind teurere Düngemittel für den inflationären Anstieg der Nahrungsmittelpreise mitverantwortlich, der insbesondere einkommensschwache Haushalte trifft. Und schließlich werden die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer in der europäischen Düngemittelindustrie auch durch die Einbußen an Wettbewerbsfähigkeit, Produktionseinstellungen und die große Unsicherheit in diesem Wirtschaftszweig in der EU beeinträchtigt.

Sicherstellung der Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit von Düngemitteln weltweit

3.20.

Der EWSA unterstützt die Bemühungen der Europäischen Kommission, der Mitgliedstaaten, der europäischen Finanzinstitutionen, der G20-Länder, der UN-Agenturen und der internationalen Finanzinstitutionen im Kampf gegen die weltweite Ernährungsunsicherheit, einschließlich der Förderung von Düngemittelmärkten durch einen gesunden Wettbewerb und Transparenz, der Verfügbarkeit von Düngemitteln und ihrer wirksamen Nutzung.

3.21.

Transparenz auf dem globalen Düngemittelmarkt ist von besonderer Bedeutung. Der EWSA fordert das Agrarmarkt-Informationssystem (AMIS) der G20 auf, die Repräsentativität seiner Datenbank für Düngemittelpreise, die derzeit auf vier Produkte und Standorte beschränkt ist, zu verbessern.

3.22.

Die FAO und die WTO haben kürzlich davor gewarnt (13), dass der weltweite Mangel an Düngemitteln voraussichtlich auch 2023 andauern wird, was die landwirtschaftliche Erzeugung und die Ernährungssicherheit insbesondere in Afrika gefährdet. Der weltweite Handel mit Düngemitteln muss dringend erleichtert werden: durch offene Märkte, die Vermeidung von Ausfuhrbeschränkungen und -verboten, die Steigerung der Düngemittelproduktion, die Erweiterung der Logistikrouten und eine höhere Wirksamkeit der Düngemittel. Der EWSA begrüßt die diesbezüglichen internationalen Initiativen, darunter die Globale Krisenreaktionsgruppe für Ernährung, Energie und Finanzen der Vereinten Nationen, die Globale Allianz für Ernährungssicherheit (G7), FARM (EU, G7, Afrikanische Union) und die Global Fertilizer Challenge (USA, EU).

3.23.

Hohe Preise für importierte Nahrungs- und Düngemittel sowie Unterbrechungen der Lieferketten verschlimmern den dringenden Zahlungsbilanzbedarf bestimmter Niedrigeinkommensländer. Die EU sollte sich bilateral (über die Fazilität für Ernährungssicherheit und die Resilienzfazilität) und multilateral, etwa über den Treuhandfonds des IWF für Armutsbekämpfung und Wachstum (PRGT) und das Food Shock Window stärker engagieren.

Brüssel, den 23. März 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Der Europäischen Kommission zufolge hat eine Kombination aus Dürre und hohen Düngemittelpreisen, die insbesondere zu einer geringeren Ausbringung von Phosphor und Kalium geführt hat, zu niedrigeren Erträgen und zum Rückgang der Getreideernte 2022 in der EU um 8 % gegenüber 2021 beigetragen. Quelle: Kurzfristiger Ausblick für die Agrarmärkte, Europäische Kommission, 5.10.2022.

(2)  COM(2020) 381 final, 20.5.2020.

(3)  Quelle: Informationsnetz landwirtschaftlicher Buchführungen (FADN), 2017.

(4)  Zum Vergleich: Ammoniumnitrat hat sich in Frankreich im November 2022 gegenüber dem Januar 2021 um 203 % verteuert. Dagegen ist der Preis für Mahlweizen im selben Zeitraum um 45 % gestiegen. Quelle: La Dépêche Le Petit Meunier.

(5)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32022R2465 (ABl. L 322 vom 16.12.2022, S. 81).

(6)  https://publications.jrc.ec.europa.eu/repository/handle/JRC121636.

(7)  https://www.eesc.europa.eu/de/our-work/opinions-information-reports/opinions/strategic-foresight-report-2022 (siehe ABl., S. 45).

(8)  ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 72.

(9)  Die mit Sonnenblumen bestellte Fläche in der EU hat um 750 000 Hektar zugenommen, wohingegen die Getreideanbaufläche 2022 in gleicher Größenordnung zurückgegangen ist.

(10)  ABl. C 75 vom 28.2.2023, S. 88.

(11)  https://www.eesc.europa.eu/de/our-work/opinions-information-reports/information-reports/benefits-extensive-livestock-farming-and-organic-fertilizers-context-european-green-deal-egd-ir-information-report

(12)  Schätzungen zufolge scheidet ein Mensch über Urin mehr als 4 kg Stickstoff pro Jahr aus (siehe Viskari et al., 2018 — https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fsufs.2018.00032/full).

(13)  Global fertilizer markets and policies: a joint FAO/WTO mapping exercise, 14. November 2022, https://www.wto.org/english/news_e/news22_e/igo_14nov22_e.htm.