ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 75

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

66. Jahrgang
28. Februar 2023


Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

ENTSCHLIEßUNGEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

573. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 26.10.2022-27.10.2022

2023/C 75/01

Entschließung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: Eine existenzielle Bedrohung gemeinsam bewältigen — die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft für die Umsetzung einer ehrgeizigen Klimapolitik

1

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

573. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 26.10.2022-27.10.2022

2023/C 75/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Digitale Souveränität als ein Grundpfeiler der Digitalisierung und des Wachstums in der EU (Initiativstellungnahme)

8

2023/C 75/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Notfallvorsorge (Initiativstellungnahme)

13

2023/C 75/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Digitaler Euro (Initiativstellungnahme)

22

2023/C 75/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Rekapitalisierung von EU-Unternehmen — ein innovativer Weg zu einem nachhaltigen und inklusiven Aufschwung (Initiativstellungnahme)

28

2023/C 75/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Ergänzende Überlegungen zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Jahresbericht zum nachhaltigen Wachstum 2022 (COM(2021) 740 final) (Initiativstellungnahme)

35

2023/C 75/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Ergänzende Überlegungen zur Empfehlung für eine Empfehlung des Rates zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets(COM(2021) 742 final) (Initiativstellungnahme)

43

2023/C 75/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Verbesserung der Arbeitskräftemobilität zur Unterstützung der wirtschaftlichen Erholung (Initiativstellungnahme)

50

2023/C 75/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Förderung der Gleichstellung in der EU (Initiativstellungnahme)

56

2023/C 75/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Starke europäische Solidarität für Patienten mit seltenen Krankheiten (Initiativstellungnahme)

67

2023/C 75/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Betreuung von Menschen mit Behinderungen und älteren Menschen durch Angehörige — rapide Zunahme während der Pandemie (Initiativstellungnahme)

75

2023/C 75/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Digitale Innovationszentren und KMU (Initiativstellungnahme)

82

2023/C 75/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Eine nachhaltige EU-Strategie für pflanzliches Eiweiß und Öl (Initiativstellungnahme)

88

2023/C 75/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Rahmen zur Kennzeichnung nachhaltiger Lebensmittel für nachhaltige Kaufentscheidungen der Verbraucherinnen und Verbraucher (Initiativstellungnahme)

97

2023/C 75/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Eine strategische Vision der Energiewende für die strategische Autonomie der EU (Initiativstellungnahme)

102

2023/C 75/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: Die Bedeutung des öffentlichen Verkehrs für den grünen Wiederaufbau in Europa (Initiativstellungnahme)

115

2023/C 75/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Kulturdiplomatie als Motor der EU-Außenbeziehungen — neue Partnerschaften und Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen (Initiativstellungnahme)

122

2023/C 75/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Multilateraler Gerichtshof für Investor-Staat-Schiedsverfahren — Bewertung des UNCITRAL-Prozesses und dessen Ergebnisse vor dem Hintergrund der Empfehlungen der Zivilgesellschaft (Initiativstellungnahme)

130


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

573. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 26.10.2022-27.10.2022

2023/C 75/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (COM(2022) 650 final) — zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über ein einheitliches Verfahren zur Beantragung einer kombinierten Erlaubnis für Drittstaatsangehörige, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten und zu arbeiten, sowie über ein gemeinsames Bündel von Rechten für Drittstaatsarbeitnehmer, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten (COM(2022) 655 final) — zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte aus Drittländern (COM(2022) 657 final)

136

2023/C 75/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz von Personen, die sich öffentlich beteiligen, vor offenkundig unbegründeten oder missbräuchlichen Gerichtsverfahren (strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung) (COM(2022) 177 final — 2022/0117 COD)

143

2023/C 75/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 767/2008, (EG) Nr. 810/2009 und (EU) 2017/2226 des Europäischen Parlaments und des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1683/95, (EG) Nr. 333/2002, (EG) Nr. 693/2003 und (EG) Nr. 694/2003 des Rates und des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen in Hinblick auf die Digitalisierung des Visumverfahrens(COM(2022) 658 final)

150

2023/C 75/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Qualitäts- und Sicherheitsstandards für zur Verwendung beim Menschen bestimmte Substanzen menschlichen Ursprungs und zur Aufhebung der Richtlinien 2002/98/EG und 2004/23/EG (COM(2022) 338 — 2022/0216 (COD))

154

2023/C 75/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten, zur Änderung der Verordnung (EU) 2019/1020 und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 305/2011 (COM(2022) 144 final)

159

2023/C 75/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Umstellung auf ein Datennetz für die Nachhaltigkeit landwirtschaftlicher Betriebe (FSDN)(COM(2022) 296 final — 2022/0192 (COD))

164

2023/C 75/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Ein Aktionsplan für Solidaritätskorridore zwischen der EU und der Ukraine zur Erleichterung der Agrarexporte der Ukraine und ihres bilateralen Handels mit der EU (COM(2022) 217 final)

171

2023/C 75/26

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — EU-Strategie für Solarenergie(COM(2022) 221 final) und Empfehlung der Kommission zur Beschleunigung der Genehmigungsverfahren für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien und zur Förderung von Strombezugsverträgen(C(2022) 3219 final)

178

2023/C 75/27

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Kurzfristige Energiemarktinterventionen und langfristige Verbesserungen der Strommarktgestaltung — ein Lösungsansatz(COM(2022) 236 final)

185

2023/C 75/28

Stellungnahme des Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Geänderten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Leitlinien der Union für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes, zur Änderung der Verordnung (EU) 2021/1153 und der Verordnung (EU) Nr. 913/2010 sowie zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1315/2013(COM(2022) 384 final/2 — 2021/0420 (COD))

190

2023/C 75/29

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Spezifische Bestimmungen zum Umgang mit Beeinträchtigungen der Programmdurchführung bei aus dem Europäischen Nachbarschaftsinstrument und im Rahmen des Ziels Europäische territoriale Zusammenarbeit unterstützten Kooperationsprogrammen des Zeitraums 2014-2020(COM(2022) 362 final — 2022/0227(COD))

195

2023/C 75/30

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufhebung der Richtlinie 89/629/EWG des Rates(COM(2022) 465 final — 2022/0282(COD))

198

2023/C 75/31

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Vorschriften für einen Freibetrag zur Reduzierung der steuerlichen Begünstigung von Fremd- gegenüber Eigenkapitalfinanzierungen und für die Begrenzung der Abzugsfähigkeit von Zinsen für Körperschaftsteuerzwecke (COM(2022) 216 final — 2022/0154 (CNS))

199

2023/C 75/32

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 1108/70 des Rates zur Einführung einer Buchführung über die Ausgaben für die Verkehrswege des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs und der Verordnung (EG) Nr. 851/2006 der Kommission zur Festlegung des Inhalts der verschiedenen Positionen der Verbuchungsschemata des Anhangs I der Verordnung (EWG) Nr. 1108/70 des Rates (COM(2022) 381 final)

204


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

ENTSCHLIEßUNGEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

573. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 26.10.2022-27.10.2022

28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/1


Entschließung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: „Eine existenzielle Bedrohung gemeinsam bewältigen — die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft für die Umsetzung einer ehrgeizigen Klimapolitik“

(2023/C 75/01)

Berichterstatter:

Peter SCHMIDT

Isabel CAÑO AGUILAR

Sandra PARTHIE

Josep PUXEU ROCAMORA

Neža REPANŠEK

Lutz RIBBE

Rechtsgrundlage

Artikel 50 der Geschäftsordnung

Entschließung

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

104/1/0

Vom 6. bis 18. November findet in Scharm El-Scheich (Ägypten) die Jahrestagung der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (COP 27) statt.

Gemäß dem Präsidiumsvermerk vom 22. Februar 2022 hat der EWSA eine Ad-hoc-Gruppe „Konferenz der Vertragsparteien des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen“ eingesetzt, die die Entschließung des EWSA zur COP entsprechend den Prioritäten der nächsten COP und des UNFCCC-Verhandlungsprozesses vorbereiten, den Ausschuss insgesamt besser mit dem UNFCCC-Prozess vertraut machen und ihn an den Klimaschutzverhandlungen beteiligen soll.

Die Ad-hoc-Gruppe umfasst sechs Mitglieder der Fachgruppe NAT sowie eine Jugendvertreterin, die regelmäßig teilnimmt. Dies geht auf die Initiativstellungnahme zum Thema Für eine strukturierte Einbeziehung junger Menschen in den EU-Beschlussfassungsprozess in Klima- und Nachhaltigkeitsfragen (1) zurück. In den vergangenen Monaten traf sich die Ad-hoc-Gruppe mit einschlägigen Organisationen und Institutionen wie der Europäischen Kommission, dem Ausschuss der Regionen, dem Büro der High-Level Climate Champions und Climate Action Tracker sowie mit Vertretern der Zivilgesellschaft — jungen Menschen, Unternehmen, Landwirten, Gewerkschaften und Umwelt-NGO —, um Informationen auszutauschen und Synergien zu ermitteln. Der Klimanotstand war bei all diesen Gesprächen ein zentrales Thema.

Der Klimawandel verursacht in diesem Jahr mehr extreme Wetterereignisse als je zuvor, von Hitzewellen und Bränden in Europa und Teilen Südasiens bis hin zu katastrophalen Überschwemmungen in Pakistan und Bangladesch und anhaltender Dürre in Ostafrika, durch die Tausende von Menschen ums Leben kommen und Millionen zu Klimaflüchtlingen werden oder von Hunger bedroht sind.

Diesbezüglich heißt es im jüngsten Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (2), dass der Emissionshöchststand spätestens bis 2025 erreicht sein muss, um die Erderwärmung auf 1,5 oC zu begrenzen, dass die Emissionen bis 2030 halbiert werden müssen und dass eine einschneidende und sofortige Verringerung der Emissionen in allen Sektoren unerlässlich ist, um dies zu erreichen. Die aktuellen Maßnahmen dürften jedoch zu einem Temperaturanstieg von etwa 2,7 oC führen, und die derzeitigen Zusagen der Länder (die national festgelegten Beiträge) werden die Erderwärmung auf 2,4 oC begrenzen (3).

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat die schon zuvor schwierige wirtschaftliche und soziale Lage noch verschärft. Die Klimakrise lässt sich jedoch nicht einfach beiseiteschieben. Jede Notfallmaßnahme, die jetzt ergriffen wird, muss ein Ausnahmefall und zeitlich befristet sein. Die Europäische Union muss die Umgestaltung ihrer Energie- und Klimapolitik beschleunigen, um kurzfristige Schocks zu bewältigen und gleichzeitig Fortschritte in Richtung der unumgänglichen Dekarbonisierung der Gesellschaften zu erzielen. Europa muss Vorreiter bei der Klimapolitik sein und die Kluft zwischen den Zielen und den realen Maßnahmen schließen.

In der von den Mitgliedern der Ad-hoc-Gruppe ausgearbeiteten Entschließung werden die Organe und Regierungen der EU aufgefordert, im Sinne der Wissenschaft und wissenschaftlicher Erkenntnisse ehrgeizigere Klimaziele zu setzen. Zudem wird die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft bei der Beschleunigung von Klimamaßnahmen besonders hervorgehoben. Mehr soziale Resilienz lässt sich nur durch die Stärkung der Zivilgesellschaft, der sozialen Akteure und der Basisbewegungen erreichen.

Wir sind die letzte Generation, die den Klimawandel stoppen kann, und der EWSA sollte als Stimme der europäischen Zivilgesellschaft eine führende Rolle bei der Förderung dieses Wandels hin zu CO2-neutralen, inklusiven und sozial gerechten Gesellschaften spielen.

Politische Empfehlungen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Ein ehrgeizigeres Klimaschutzziel zur Bewältigung des Klimanotstands und Intensivierung der Klimaschutzmaßnahmen der EU

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) als Stimme der organisierten Zivilgesellschaft in Europa und beratende Einrichtung für das Europäische Parlament, den Rat und die Kommission sowie als Teil der globalen Zivilgesellschaft

1.

weist darauf hin, dass das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC) vor 30 Jahren mit dem Ziel angenommen wurde, „die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird“ (Artikel 2). Er stellt fest, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde;

2.

verweist darauf, dass wir mit dem Übereinkommen von Paris aus dem Jahr 2015 vom qualitativen Ziel der Klimarahmenkonvention (Vermeidung der Störung des Klimasystems) zu einem quantitativen Ziel übergegangen sind, nämlich den Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur auf deutlich unter 2 oC über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen und die Anstrengungen zur Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 1,5 oC über dem vorindustriellen Niveau fortzusetzen (4);

3.

unterstreicht, dass das 1,5-Grad-Ziel nicht ausreichen wird, um die dramatischen Folgen des Klimawandels abzuwenden. Wie sich zeigt, wirkt sich der Klimawandel bereits jetzt schon auf jede einzelne Region weltweit aus. Überschwemmungen, Dürren, Stürme, Brände und Hitzewellen nehmen exponentiell zu, mit verheerenden sozialen Folgen und jährlich wirtschaftlichen Schäden in Milliardenhöhe (5);

4.

betont, dass wir uns in einem Klimanotstand befinden, aber weiter an den Zielen von Artikel 2 des Übereinkommens festhalten müssen, auch wenn die Vertragsstaatenkonferenz gegenwärtig nicht in der Lage ist, etwas zu bewirken;

5.

ist davon überzeugt, dass die Wissenschaft und wissenschaftliche Erkenntnisse politische Entscheidungen leiten sollten, und weist darauf hin, dass der Weltklimarat klare Bezugswerte vorgegeben hat: der Emissionshöchststand muss spätestens bis 2025 erreicht sein (6), und die weltweiten Emissionen müssen bis 2030 um 45 % unter die Werte von 2010 gesenkt werden, um die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels überhaupt noch zu ermöglichen;

6.

weist darauf hin, dass die ohnehin schwierige Situation, die durch Inflation, hohe Energie- und Lebensmittelpreise und eine mögliche Energieknappheit gekennzeichnet ist, durch den Angriff Russlands auf die Ukraine noch komplizierter geworden ist, was erhebliche Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger und zumindest kurzfristig schwerwiegende soziale und wirtschaftliche Herausforderungen mit sich bringt. Der EWSA hält europäische Klimamaßnahmen aufgrund der aktuellen Lage für noch dringlicher und ist der Ansicht, dass die neue geopolitische Lage die EU zwingt, die Umgestaltung ihrer Energie- und Klimapolitik zu beschleunigen;

7.

ist überzeugt, dass der europäische Grüne Deal gestärkt werden muss, um das Ziel der Dekarbonisierung der Wirtschaft zu erreichen, externe Abhängigkeiten weiter zu verringern, für Resilienz zu sorgen und einen gerechten Übergang zu erleichtern; ist ferner überzeugt, dass Ausnahmen von vereinbarten Zielen nur für begrenzte Zeit zugelassen werden sollten (7); hält es für erforderlich, die Abhängigkeit von Energie, kritischen Rohstoffen und Nahrungsmitteln durch die Entwicklung einer offenen strategischen Autonomie zu verringern;

8.

fordert die EU nachdrücklich auf, als Vorreiter Maßstäbe zu setzen; fordert die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedstaaten auf, die national festgelegten Beiträge (nationally determined contributions, NDC) mit Blick auf den Klimapakt von Glasgow zu aktualisieren; ruft zudem zu einer weltweit gerechten Verteilung auf der Grundlage von Gerechtigkeit, historischer Verantwortung und Fähigkeiten auf;

9.

begrüßt die Beschlüsse des Europäischen Parlaments über das europäische Emissionshandelssystem (EHS) (8) und CO2-Senken (9), die bewirkt haben, dass das EU-Emissionsreduktionsziel leicht angehoben wurde, was praktisch eine Forderung nach einer Erhöhung der national festgelegten Beiträge der EU darstellt, die allerdings nicht ausreicht;

10.

ist besorgt darüber, dass viele Länder langfristige Pläne zur Verwirklichung der Klimaneutralität bis 2050 oder 2060 angekündigt haben, denen eine entsprechende Unterfütterung durch kurz- und mittelfristige Pläne fehlt; fordert die Europäische Kommission deshalb auf, die diplomatischen Bemühungen der EU in Richtung der Festlegung politischer Rahmenbedingungen nach dem Vorbild des europäischen Grünen Deals durch die internationale Gemeinschaft zu intensivieren; ist bereit, diese Bemühungen durch die Zusammenarbeit mit Organisationen der Zivilgesellschaft weltweit zu unterstützen, wobei die Agenda 2030 und die Ziele für nachhaltige Entwicklung für die kommenden entscheidenden Jahre als Kompass dienen;

11.

fordert die EU auf, auf bestimmte Branchen ausgerichtete Ansätze für maßgeschneiderte Maßnahmen oder „Klimaclubs“ weiterzuentwickeln, die von den Ländern mit den ehrgeizigsten Klimaschutzprogrammen entwickelt werden könnten, um andere Länder zu rascherem Handeln anzuregen; die Umsetzung des CO2-Grenzausgleichssystems könnte hier einen Beitrag leisten;

12.

hält entschiedenes und klar definiertes Handeln für erforderlich, um Artikel 6 des Übereinkommens von Paris umzusetzen und das Regelwerk von Paris zu vervollständigen, das einen Rahmen für die freiwillige internationale Zusammenarbeit zur Verringerung der Emissionen für Länder schafft, die ihre Zusagen einhalten wollen, wobei einige der Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Doppelzählungen oder der Gefahr gefälschter Emissionsreduktionsgutschriften vermieden werden sollten;

Unser derzeitiges Wirtschaftsmodell für einen wirksamen Klimaschutz und die Anpassung an den Klimawandel auf den Prüfstand stellen und für eine angemessene Klimafinanzierung sorgen

13.

betont, dass unser derzeitiges Wirtschaftsmodell überarbeitet werden muss, um den Übergang zu einer klimaneutralen Gesellschaft zu beschleunigen, und dass dazu auch die Art und Weise, wie wir konsumieren und produzieren, und der Wert, den wir Suffizienz beimessen, überdacht werden müssen; fordert die EU auf, eine neue Vision des Wohlstands für die Menschen und den Planeten auf der Grundlage der Prinzipien der ökologischen Nachhaltigkeit, des Rechts auf ein würdevolles Leben und des Schutzes der sozialen Werte vorzulegen (10);

14.

regt einen neuen Governance-Rahmen an, um diese Veränderungen anzustoßen, und fordert die Regierungen und regionalen Behörden auf, Ausschüsse für einen gerechten Übergang einzurichten, um den Sozialpartnern und Organisationen der Zivilgesellschaft (auch Jugendorganisationen) die Möglichkeit zu geben, Empfehlungen einzubringen und nationale und regionale Pläne für einen gerechten Übergang mit auszuhandeln und zu gestalten (11); ist der Ansicht, dass die bestehenden Initiativen zur Bewältigung der sozialen Herausforderungen des grünen Wandels Stückwerk geblieben sind (12);

15.

ist sich bewusst, dass die rasche Umstellung auf eine CO2-arme Wirtschaft massive Herausforderungen für Bürger, Arbeitnehmer, Unternehmen und Regionen mit sich bringen wird, insbesondere jene, die am meisten auf CO2-intensive Branchen und Industriebereiche angewiesen sind (13); ist der Ansicht, dass die national festgelegten Beiträge eine detaillierte Bestandsaufnahme und Analyse der Auswirkungen des Übergangs auf die Beschäftigung und die Kompetenzen in den verschiedenen Ländern, Regionen und Branchen auch in Bezug auf Unterauftragnehmer und nachgelagerte Wertschöpfungsketten umfassen sollten, begleitet von nationalen Beschäftigungsplänen und Strategien für einen gerechten Übergang (14), die sich auf den ILO-Grundsatz eines gerechten Übergangs stützen; begrüßt deshalb den Vorschlag der Konferenz zur Zukunft Europas (15), für einen gerechten Übergang zu sorgen, bei dem Beschäftigte und Arbeitsplätze durch eine angemessene Finanzierung des Übergangs und weitere Forschung geschützt werden;

16.

weist darauf hin, dass die Verwirklichung des Dekarbonisierungsziels einen raschen Systemwandel in beispiellosem Umfang erfordern wird, damit der Privatsektor, dem hierbei eine wichtige Aufgabe zukommt, seiner Verantwortung gerecht werden kann;

17.

würdigt die zahlreichen unterschiedlichen Bemühungen von Unternehmen und Unternehmern in der gesamten EU zur Entwicklung von Lösungen für die Eindämmung des Klimawandels und die Anpassung an ihn; hält es für erforderlich, mit innovativen und verantwortungsvollen Geschäftsmodellen dem Klimawandel entgegenzuwirken, deren Schwerpunkt auf messbaren Nachhaltigkeitszielen liegen sollte, u. a. durch eine Verringerung des Einsatzes von Wasser, Energie oder Chemikalien;

18.

bringt seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass die Verringerung der Treibhausgasemissionen in der EU mit einem Anstieg der Emissionen im Ausland einhergeht, die bei der Herstellung von Produkten für den Verbrauch in der EU entstehen, was Spillover-Effekte bei Treibhausgasen (16) verursacht; ist der Ansicht, dass die Treibhausgasinventare der EU die importbedingten Treibhausgasemissionen berücksichtigen müssen und dass die Entkopplung des sozioökonomischen Fortschritts von den negativen Auswirkungen durch in der EU erzeugte und importierte Produkte auf das Klima und die biologische Vielfalt zu einer Priorität werden muss; verweist auf das CO2-Grenzausgleichssystem als unterstützende Maßnahme zur Erreichung dieses Ziels;

19.

weist auf die wissenschaftliche Erkenntnis hin, dass sich der Verlust an biologischer Vielfalt und der Klimawandel gegenseitig verstärken; ruft zu einem ganzheitlichen Ansatz für Umweltmaßnahmen auf, der dem Zusammenhang zwischen dem Verlust an biologischer Vielfalt und dem Klimawandel Rechnung trägt, und schlägt vor, die Schutzgebiete zu überprüfen und auszuweiten und die Anstrengungen zum Schutz der noch vorhandenen natürlichen Ressourcen im Rahmen der EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 zu verstärken (17);

20.

gibt zu bedenken, dass die schwächsten Gruppen von den Auswirkungen des Klimawandels unverhältnismäßig stark betroffen sind und dass die Gemeinschaften, die den geringsten Teil der weltweiten Emissionen verursachen, die schlimmsten Auswirkungen zu spüren bekommen und nicht immer über die erforderlichen Ressourcen zur Bewältigung dieser Folgen verfügen;

21.

weist darauf hin, dass Anpassungsmaßnahmen aufgrund der Häufung anomaler Klimaereignisse immer wichtiger werden und die Auswirkungen des Klimawandels unbedingt besser antizipiert werden müssen; verweist darauf, dass im Übereinkommen von Paris hervorgehoben wird, wie wichtig die nationale Anpassungsplanung ist, und dass alle Länder verpflichtet werden, über die erzielten Fortschritte Bericht zu erstatten; fordert nachdrücklich, in allen Bereichen auf Inklusivität zu achten, um zu vermeiden, dass sich bestehende Ungleichheiten verschärfen;

22.

fordert eine Aufstockung der Gesamtbeiträge zur Klimaschutzfinanzierung der Industrieländer und in Sachen Finanzierung denselben hohen Stellenwert für Klimaschutz- wie für Klimaanpassungsmaßnahmen: ohne zusätzliche Mittel für die Anpassung an die Folgen des Klimawandels sind die Planung und Umsetzung entsprechender Maßnahmen nur eingeschränkt möglich, insbesondere in Entwicklungsländern; fordert weitere Maßnahmen, um sicherzustellen, dass dieser Grundsatz angewandt wird, da durch Eindämmungsmaßnahmen eine Verschärfung der Klimakrise für künftige Generationen verhindert werden kann, während Anpassungsmaßnahmen die heutigen und künftigen Generationen vor den schon jetzt infolge des Klimawandels auftretenden extremen Wetterereignissen schützen können (18); verweist darauf, dass die Mittel für die Anpassung an den Klimawandel gegenwärtig nur 25 % der auf globaler Ebene bereitgestellten Klimaschutzmittel ausmachen und dass Zusagen, die Mittel für Anpassungsmaßnahmen bis 2025 auf 40 % zu erhöhen, nicht eingehalten wurden (19);

23.

begrüßt den Beitrag der Kommission in Höhe von 100 Mio. EUR zum Anpassungsfonds und fordert die EU-Mitgliedstaaten auf, die Mittel für Anpassungsmaßnahmen bis 2025 im Vergleich zu 2019 zu verdoppeln; fordert zusätzliche Anstrengungen zur Einhaltung des im Umsetzungsplan vorgesehenen Ziels von 100 Mrd. USD; betont, dass es gegenwärtig kein globales Finanzierungsinstrument gibt, aus dem Entschädigungen für Verluste und Schäden, die den betroffenen Menschen erwachsen sind, gezahlt werden können, und fordert die EU-Mitgliedstaaten und die Kommission auf, sich an einer „Fazilität für Verluste und Schäden“ zu beteiligen, um die Folgen des Klimawandels zu beheben;

24.

ist der Ansicht, dass die Regierungen und Institutionen der EU im Rahmen der Klimagerechtigkeit eine zukunftsorientierte und umfassende europäische Migrations- und Asylpolitik entwickeln müssen, die Klimaflüchtlingen Schutz bietet, angefangen bei deren förmlicher Anerkennung;

Förderung wirksamer branchenspezifischer Maßnahmen zur Verwirklichung der Klimaneutralität

25.

hebt hervor, dass die Kreislaufwirtschaft und die Bioökonomie die Entwicklung einer neuen Vision von Wohlstand für die Menschen ermöglichen, die weiter beschleunigt werden muss (20), und weist darauf hin, dass die weltweiten Treibhausgasemissionen mit Strategien für eine Kreislaufwirtschaft, die über Branchen und Länder hinweg umgesetzt werden, um 39 % gesenkt werden könnten (21); ist besorgt darüber, dass die EU trotz des 2015 im Rahmen des ersten EU-Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft eingeleiteten umfassenden Prozesses zur Modernisierung der Rechtsvorschriften nur zu rund 12 % kreislauforientiert ist, und ist der Ansicht, dass weitere Fortschritte nur erreicht werden können, wenn alle Akteure der Zivilgesellschaft einbezogen werden, insbesondere zur Überwindung der verbleibenden politischen, kulturellen, infrastrukturellen, ordnungspolitischen und finanziellen Hindernisse (22);

26.

fordert Übergangsstrategien zur Schaffung nachhaltiger Lebensmittelsysteme, die in den national festgelegten Beiträgen zu berücksichtigen sind, und räumt ein, dass viele Länder in ihren national festgelegten Beiträgen zwar das Potenzial der Landwirtschaft in Bezug auf Maßnahmen für den Klimaschutz und die Anpassung an den Klimawandel erwähnen, jedoch nur sehr wenige von ihnen Ziele für die weiteren Bestandteile des Lebensmittelsystems festlegen (23) und damit Chancen weitgehend ungenutzt lassen (24); bekräftigt seine Empfehlungen zur Annahme umfassender Lebensmittelstrategien, etwa der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“, die auch Klimamaßnahmen einschließen, und zur Sicherstellung einer strukturierten Einbeziehung der Interessenträger der gesamten Lebensmittelkette (25) sowie auf allen Regierungs- und Verwaltungsebenen, wobei insbesondere die Erzeuger ins Zentrum der Agrarstrategien gerückt und in die Politikgestaltung einbezogen werden müssen;

27.

ist besorgt über die Lage in Afrika, wo weniger als 4 % der weltweiten Emissionen verursacht werden, das aber als eine der am stärksten gefährdeten Regionen der Welt unverhältnismäßig stark vom Klimawandel bedroht wird; fordert die EU angesichts der Tatsache, dass die COP 27 in Afrika stattfindet, dringend auf, vorrangig finanzielle und technische Mittel sowie Mittel für den Kapazitätsaufbau in Afrika zur Verfügung zu stellen, um die Zusage des Kontinents auf der COP 21 in Paris zu unterstützen und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die meisten national festgelegten Beiträge Afrikas Minderungs- und Anpassungsziele enthalten, für die eine angemessene internationale Unterstützung gebraucht wird, wodurch der Schutz wertvoller und schützenswerter Ökosysteme wie Wälder oder Savannen und die Förderung fossiler Brennstoffe infrage gestellt werden;

28.

fordert die sofortige Abschaffung der Beihilfen für fossile Brennstoffe; begrüßt die Mitteilung „REPowerEU“, da sie Lösungen im Einklang mit den Zielen des Grünen Deals und der Europäischen Energieunion enthält (26)(27), und ist der Ansicht, dass die Regierungen einen Rahmen für Investitionen in bahnbrechende Technologien in Bereichen wie Energieeffizienz und Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen schaffen müssen, indem Forschung, Innovation und Entwicklung unterstützt werden. Zudem sollten die Rechtsvorschriften so gestaltet werden, dass die Entwicklung und Markteinführung neuer Technologien ermöglicht und gestärkt wird, einschließlich nachfrageseitiger Maßnahmen zur Schaffung von Leitmärkten und von Anreizen für den Konsum CO2-armer Produkte (28);

29.

begrüßt digitale Lösungen, die den Umweltschutz und die Nachhaltigkeitswende in den Bereichen Verkehr, Energiesysteme, Gebäude, Landwirtschaft sowie weiteren Branchen ermöglichen, stellt jedoch auch fest, dass die Digitalisierung an sich bislang nicht zur Verringerung der Energienachfrage und der CO2-Emissionen beigetragen hat, und betont deshalb, dass unterstützende Maßnahmen erforderlich sind, um Rebound- und induktive Effekte einzudämmen (29);

30.

betont, dass der Klimawandel auch schwerwiegende Auswirkungen auf Unternehmen und insbesondere KMU hat, etwa Unterbrechungen der Lieferketten oder Schäden an Produktionsstätten aufgrund extremer Wetterphänomene, und sie zwingt, bisweilen kostspielige Änderungen an ihren Geschäfts- und Betriebsmodellen vorzunehmen sowie Investitionen zu tätigen, um rechtlichen oder sonstigen Anforderungen gerecht zu werden; ist der Ansicht, dass Erstanwender neuer nachhaltiger Geschäftsmodelle unterstützt werden sollten, damit Innovation für sie nicht zu einem Wettbewerbsnachteil wird;

31.

unterstreicht, dass die Unterstützung des Privatsektors unter Einhaltung der Grundsätze des gleichberechtigten Zugangs zu KMU-Finanzierungsinstrumenten und ausschließlich auf der Grundlage der Klimaziele erfolgen sollte (30) und dass umfangreiche Arbeiten über Wertschöpfungsketten hinweg und eine branchenübergreifende Zusammenarbeit erforderlich sein werden;

32.

hält fest, dass Harmonisierung und Standardisierung von entscheidender Bedeutung sind, um eine branchenweite Skalierbarkeit von Lösungen durch Technologie, Kompetenzsteigerung und Regulierung zu erreichen, die von den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten auf internationaler Ebene unterstützt werden sollte, und dass insbesondere KMU ganz dringend begleitende Instrumente und Möglichkeiten des Kapazitätsaufbaus benötigen, um neue Anforderungen zu erfüllen und einen Marktzugang in der EU zu erhalten;

Stärkung der Zivilgesellschaft zur Beschleunigung des Klimaschutzes und Forderung nach einem neuen Governance-Rahmen

33.

hebt hervor, dass angesichts des Umfangs der erforderlichen Maßnahmen integrierte Strategien auf mehreren Ebenen und branchenübergreifende Lösungen mit einem echten Engagement der Zivilgesellschaft nötig sind, und schlägt deshalb einen neuen Governance-Rahmen vor, der es ermöglicht, diese transformativen Veränderungen zu entwickeln;

34.

ist der Ansicht, dass dieser neue Governance-Rahmen den sozialen Dialog am Arbeitsplatz gewährleisten sollte, indem die Rechte und die Beteiligung der Arbeitnehmer sichergestellt und Tarifverträge gestärkt werden;

35.

ist der Auffassung, dass auch ein umfassenderer Dialog unter Einbeziehung der Regionen, der Akteure im ländlichen Raum und der Städte, der Sozialpartner, der Genossenschaften und der Zivilgesellschaft gestärkt werden sollte, um soziale Gerechtigkeit und Glaubwürdigkeit zu gewährleisten und das Versprechen, dass niemand zurückgelassen wird, konkret einzulösen (31). So kann beispielsweise die Förderung von Prosumkonzepten den Übergang zu einem saubereren Energiesystem beschleunigen und zur Schaffung neuer Wirtschaftsmodelle sowie dazu beitragen, dass die schwächsten Gruppen unserer Gesellschaften davor geschützt sind, beispielsweise keinen Zugang mehr zu Wärme, Licht und Informationstechnologie zu haben;

36.

ist der festen Überzeugung, dass Bottom-up- und Basisinitiativen wirksam unterstützt und gefördert werden müssen, um den Klimaschutz und die Anpassung an den Klimawandel zu beschleunigen und die Resilienz der Gesellschaft zu stärken, womit das Potenzial einer Kultur der Zusammenarbeit und der von der Basis ausgehenden Lösungen ausgeschöpft wird; ist der Auffassung, dass es gleichermaßen und dringend erforderlich ist, mehr in soziale Innovation zu investieren, um die kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen durchgehend zu berücksichtigen, die nötig sind, um den Klimaschutz im täglichen Leben von Unternehmen, Behörden und Haushalten zu verankern;

37.

ist der Ansicht, dass Geschlechterfragen nicht als gesondertes und isoliertes Thema, sondern als grundlegend angesehen werden sollten, damit keine geschlechtsblinden Maßnahmen und Strategien ergriffen werden. Der Klimawandel wirkt sich nicht auf alle Bevölkerungsgruppen in gleicher Weise aus, und eine falsche Gestaltung klimapolitischer Maßnahmen kann diese Ungerechtigkeiten und Ungleichgewichte zementieren. Die ungleiche Beteiligung von Frauen an Entscheidungsprozessen und Arbeitsmärkten verschärft beispielsweise Ungleichheiten und hindert Frauen oft daran, in vollem Umfang zur Planung, Gestaltung und Umsetzung von Klimamaßnahmen beizutragen (32);

38.

ist davon überzeugt, dass ein entschlosseneres Engagement junger Menschen in den Entscheidungsprozessen, von der Ausarbeitung von Legislativvorschlägen und -initiativen über die Umsetzung bis hin zur Überwachung und Weiterverfolgung, der generationenübergreifenden Dimension dieser Veränderungen am besten gerecht wird (33). Der EWSA hat deshalb 2021 zum ersten Mal eine Jugenddelegierte in die offizielle EU-Delegation für die Vertragsstaatenkonferenzen der UN-Klimarahmenkonvention aufgenommen und sich verpflichtet, der Stimme der Jugend und der Jugendorganisationen in seiner Arbeit mehr Gewicht zu verleihen. Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, dass die Vertragsparteien und weitere Interessenträger seinem Beispiel folgen;

39.

weiß um die entscheidende Bedeutung der indigenen Völker für die Bekämpfung des Klimawandels, da sie für über 80 % der verbleibenden biologischen Vielfalt unseres Planeten sorgen (34); begrüßt das zunehmende Engagement indigener Völker in der Klimapolitik und fordert die Vertragsparteien nachdrücklich auf, sie aktiv in die Umsetzung von Klimamaßnahmen einzubeziehen;

40.

verpflichtet sich, Maßnahmen zur Umsetzung der genannten politischen Empfehlungen zu ergreifen.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 44.

(2)  https://www.ipcc.ch/2022/04/04/ipcc-ar6-wgiii-pressrelease/

(3)  https://climateactiontracker.org/global/temperatures/

(4)  Das Übereinkommen von Paris.

(5)  Quellen: „Economic losses from weather and climate-related extremes in Europe reached around half a trillion euros over past 40 years“ — European Environment Agency, „New report: World counts the cost of a year of climate breakdown“ — UK charity fighting global poverty — Christian Aid — Media Centre, „The Costs of Extreme Weather Events Caused by Climate Change“ — CMCC, „Billion-Dollar Weather and Climate Disasters“ — National Centers for Environmental Information (NCEI).

(6)  „Climate Change 2022: Mitigation of Climate Change“ — IPCC.

(7)  Entschließung des EWSA Der Krieg in der Ukraine und seine wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen (ABl. C 290 vom 29.7.2022, S. 1).

(8)  Climate change: Parliament pushes for faster EU action and energy independence.

(9)  Fit for 55: Parliament agrees to higher EU carbon sink ambitions by 2030.

(10)  Stellungnahme des EWSA Die nachhaltige Wirtschaft, die wir brauchen (ABl. C 106 vom 31.3.2020, S. 1).

(11)  Stellungnahme des EWSA „Fit für 55“: Auf dem Weg zur Klimaneutralität — Umsetzung des EU-Klimaziels für 2030 (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 101).

(12)  Stellungnahme des EWSA Sozialer Dialog im Rahmen des ökologischen Wandels (ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 95).

(13)  Stellungnahme des EWSA „Fit für 55“: Auf dem Weg zur Klimaneutralität — Umsetzung des EU-Klimaziels für 2030 (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 101.).

(14)  Stellungnahme des EWSA „Fit für 55“: Auf dem Weg zur Klimaneutralität — Umsetzung des EU-Klimaziels für 2030 (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 101).

(15)  Konferenz zur Zukunft Europas — Empfehlungen des europäischen Bürgerforums.

(16)  2021 Europe Sustainable Development Report — SDSN Europe.

(17)  In Erarbeitung befindliche Stellungnahme des EWSA (NAT/841) Ziele zur Wiederherstellung der Natur im Rahmen der EU-Biodiversitätsstrategie.

(18)  Stellungnahme des EWSA Die neue EU-Strategie für die Anpassung an den Klimawandel (ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 84).

(19)  António Guterres: „50% of All Climate Finance Needed for Adaptation“.

(20)  Stellungnahme des EWSA Erschließung von Synergien zwischen verschiedenen Fahrplänen für eine Kreislaufwirtschaft (ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 29).

(21)  Circularity Gap Report 2021 „Climate Change Mitigation through the Circular Economy“.

(22)  Stellungnahme des EWSA Die neue EU-Strategie für die Anpassung an den Klimawandel (ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 84).

(23)  Enhancing NDCs For Food Systems — recommendations for decision-makers — NDC Action Project.

(24)  Stellungnahme des EWSA Ernährungssicherheit und nachhaltige Lebensmittelsysteme (ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 72).

(25)  Stellungnahme des EWSA Vom Hof auf den Tisch — eine Strategie für eine nachhaltige Lebensmittelerzeugung (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 268).

(26)  Stellungnahmen des EWSA Klimagerechtigkeit (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 22) und Die neue EU-Strategie für die Anpassung an den Klimawandel, (ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 84).

(27)  Stellungnahme des EWSA REPowerEU: gemeinsames europäisches Vorgehen für erschwinglichere, sichere und nachhaltige Energie (ABl. C 323 vom 26.8.2022, S. 123).

(28)  Stellungnahme des EWSA „Fit für 55“: Auf dem Weg zur Klimaneutralität — Umsetzung des EU-Klimaziels für 2030 (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 101).

(29)  Stellungnahme des EWSA Digitalisierung und Nachhaltigkeit — Status quo und Handlungsbedarf aus Sicht der Zivilgesellschaft (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 187).

(30)  Stellungnahme des EWSA „Fit für 55“: Auf dem Weg zur Klimaneutralität — Umsetzung des EU-Klimaziels für 2030, (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 101).

(31)  Stellungnahme des EWSA „Fit für 55“: Auf dem Weg zur Klimaneutralität — Umsetzung des EU-Klimaziels für 2030 (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 101).

(32)  2020 Pocket Guide to Gender Equality under the UNFCCC — WEDO.

(33)  Stellungnahme des EWSA Für eine strukturierte Einbeziehung junger Menschen in den EU-Beschlussfassungsprozess in Klima- und Nachhaltigkeitsfragen. (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 44).

(34)  „Indigenous peoples defend Earth's biodiversity — but they're in danger“.


STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

573. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 26.10.2022-27.10.2022

28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Digitale Souveränität als ein Grundpfeiler der Digitalisierung und des Wachstums in der EU“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/02)

Berichterstatter:

Philip VON BROCKDORFF

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

7.10.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

185/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Trotz erheblicher Fortschritte bei der Stärkung der digitalen Souveränität der EU ist die Abhängigkeit von nicht in der EU-ansässigen Technologieunternehmen nach wie vor stark ausgeprägt. Dadurch sind die Führungsrolle und die strategische Autonomie der EU in der digitalen Welt eingeschränkt, was wiederum das Wachstumspotenzial der EU ausbremst.

1.2.

In einem Online-Umfeld, das nach wie vor von Technologieunternehmen aus Drittstaaten beherrscht wird, stellt sich die Frage nach dem Ausmaß der Kontrolle der Bürger, Unternehmen und Regierungen in der EU über ihre digitalen Daten. In der derzeitigen Krise mag dies zwar nicht prioritär erscheinen, aber die Notwendigkeit, das Ungleichgewicht im Bereich der digitalen Souveränität anzugehen, darf nicht unterschätzt werden.

1.3.

Vor diesem Hintergrund ist der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) der Auffassung, dass die EU ihre Abhängigkeit von Technologieriesen aus Drittländern reduzieren und sich zu diesem Zweck verstärkt um die Entwicklung einer sicheren, inklusiven und wertebasierten digitalen Wirtschaft bemühen muss, die es mit den Technologieriesen außerhalb der EU aufnehmen kann. Außerdem muss sie den Schwerpunkt auf zuverlässige Konnektivität, Datensicherheit und künstliche Intelligenz (KI) legen.

1.4.

Deshalb fordert der EWSA, dass Investitionen in den digitalen Sektor in erheblichem Maße in eine offene strategische Autonomie der digitalen Wirtschaft gelenkt werden. Dies sollte Investitionen in digitale Kapazitäten, allgemeine und berufliche Bildung, Infrastrukturen und Technologien umfassen. Der EWSA fordert außerdem gleiche Rahmenbedingungen für den digitalen Wandel, bei denen die Arbeitnehmerrechte geschützt werden und Unternehmen jeder Größe ohne Überregulierung nebeneinander bestehen und prosperieren können.

1.5.

Der EWSA stellt fest, dass Innovationen wie Cloud Computing und KI zu wichtigen strategischen Ressourcen innerhalb der EU geworden sind und einen positiven Beitrag zum potenziellen Wachstum der EU-Wirtschaft leisten. Im internationalen Wettlauf um die Entwicklung neuer Technologien in der digitalen Welt verliert die EU jedoch allmählich an Boden und bei einigen Technologien liegen die privaten Investitionen in der EU hinter entsprechenden Investitionen in den USA und China zurück.

1.6.

Der EWSA fordert weitere Anstrengungen zur Schaffung öffentlich-privater Partnerschaften im Bereich der digitalen Technologien sowie die Förderung umfassender EU-Forschungsarbeiten im Bereich der neuen Technologien mit dem spezifischen Ziel, mit den Forschungskapazitäten der USA und Chinas Schritt zu halten.

1.7.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die bestehenden Ungleichgewichte bei der digitalen Souveränität zum Teil auf nationale Hindernisse zurückzuführen sind, die die Vollendung eines echten Binnenmarkts nach wie vor behindern. Derzeit ist der Binnenmarkt im Grunde genommen ein Sammelsurium von vielen kleineren nationalen Märkten und hat nicht das Ausmaß, das erforderlich wäre, damit es einzelne EU-Unternehmen mit den Tech-Giganten der Welt aufnehmen könnten. Darüber hinaus gibt es in der EU unterschiedliche Niveaus in Bezug auf die digitale Entwicklung, die Infrastruktur und die Kapazitäten.

1.8.

Der EWSA ruft die Kommission auf, ihren Regelungsrahmen für den digitalen Bereich voranzubringen, um die EU-Bürger vor den Exzessen der digitalen Welt zu schützen und zugleich einen Rahmen für ein stärker auf den Menschen ausgerichtetes und ethischeres Umfeld zu schaffen.

1.9.

Ebenso wichtig ist es, Online-Plattformen, Ökosysteme und Online-Aktivitäten mithilfe von Vorschriften für die Transparenz und Neutralität von Algorithmen offener, gerechter und vorhersehbarer zu machen und die gemeinsame Nutzung von Daten und Interoperabilität zu berücksichtigen.

1.10.

Der EWSA unterstützt die Forderungen nach der Schaffung einer Cloud- und Dateninfrastruktur durch die EU, um ihre digitale Souveränität auszubauen und das enorme Ungleichgewicht auf dem Markt für Cloud und Datenspeicherung anzugehen, der fast vollständig von Unternehmen aus Drittländern beherrscht wird.

1.11.

Der EWSA würdigt auch das Potenzial der EU, bei der Erhebung und Verarbeitung von Daten, die das Rückgrat der digitalen Wirtschaft bilden, eine weltweite Führungsrolle einzunehmen. Ein EU-Rahmen für die Erhebung und den Austausch von Daten birgt ein enormes Potenzial in strategischen Sektoren wie Gesundheit, Arbeitsmarkt und Verkehr.

1.12.

Der EWSA spricht sich dafür aus, die Wettbewerbs- und Verbraucherschutzpolitik auf dem Binnenmarkt auf den neuesten Stand zu bringen. Dabei sollten auch wettbewerbsverzerrende Praktiken von Technologieunternehmen aus Drittstaaten sowie der wachsende Einfluss chinesischer digitaler Unternehmen in der EU ins Visier genommen werden. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA Entwicklungen im Bereich der EU-Vorschriften wie das Gesetz über digitale Märkte und das vorgeschlagene europäische Chip-Gesetz.

1.13.

Der EWSA würdigt die Schlüsselrolle der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) bei der Gestaltung der digitalen Souveränität der EU, insbesondere durch ihre Interaktion mit großen EU-Technologieunternehmen.

1.14.

Schließlich unterstreicht der EWSA die Bedeutung der Bildung auf allen Ebenen (ob Berufs- oder Hochschulbildung) für die Entwicklung der digitalen Souveränität der EU.

2.   Hintergrund

2.1.

Die digitale Souveränität lässt sich grob als die selbstbestimmte Verwaltung und Einrichtung der eigenen Daten, Hardware und Software durch die Regierungen und Unternehmen beschreiben. Zu lange schon wird der Sorge über die starke Abhängigkeit der EU von einer kleinen Zahl großer Technologieunternehmen, die außerhalb der EU ansässig sind, Ausdruck verliehen.

2.2.

Die Tatsache, dass schätzungsweise 92 % aller Daten der westlichen Welt auf US-amerikanischen Servern gespeichert sind, zeugt von der starken Abhängigkeit der EU von in Drittstaaten ansässigen Technologieunternehmen. Dazu gehören Online-Daten, aus sozialen Medien abgerufene Daten und von nationalen Regierungen verwaltete Daten (1).

2.3.

Es überrascht nicht, dass dieser Umstand die Sorge schürt, dass Unternehmen und nationale Regierungen in der EU möglicherweise nicht die volle Kontrolle über die Daten haben und weiterhin stark von großen Technologieunternehmen in Drittstaaten abhängig sind. Die EU-ansässigen Technologieunternehmen können es dabei kaum mit ihren Konkurrenten aus den USA aufnehmen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die EU langsam, aber sicher ihre Fähigkeit verliert, die Rechtsvorschriften im digitalen Umfeld wirksam durchzusetzen.

2.4.

Besorgniserregend ist, dass diese starke Abhängigkeit von Technologieunternehmen mit Sitz in den USA die Führungsrolle und die strategische Autonomie der EU in der digitalen Welt einschränkt, was wiederum das Wachstumspotenzial der EU ausbremsen könnte. Der wirtschaftliche Einfluss von nicht in der EU ansässigen Technologieunternehmen darf nicht unterschätzt werden. Das Gleiche gilt für deren Einfluss auf die EU-Bürger und ihr Konsumverhalten sowie auf die Art und Weise, wie diese mit anderen Bürgern in der EU und außerhalb interagieren.

2.5.

Heutzutage wissen große Technologieunternehmen aus Drittstaaten mehr über uns als wahrscheinlich unsere engsten Familienmitglieder und Freunde, und der Mangel an Privatsphäre gibt Anlass zur Sorge. So haben nicht wir die Kontrolle über unsere eigenen Online-Daten, sondern große Technologieunternehmen. Das Internet ist nach wie vor weitestgehend unreguliert. Mit Maßnahmen wie der Datenschutz-Grundverordnung (2) wurde versucht, neue Bestimmungen für das weitere Vorgehen festzulegen. Das Problem ist aber, dass die Technologieunternehmen diesbezüglich schneller sind als die EU. Große Technologieunternehmen agieren oft in Räumen, in denen sie einen erheblichen Informationsvorteil gegenüber den Regulierungsbehörden haben. Sie können das Online-Verhalten von Bürgern im Großen und Ganzen weiterhin ungehindert mitverfolgen, dabei Informationen sammeln und diese Erkenntnisse gewinnbringend nutzen.

2.6.

Vor diesem Hintergrund hatte die Kommissionspräsidentin die Digitalpolitik zu einer der Hauptprioritäten ihrer Amtszeit 2019-2024 erklärt und sich für technologische Souveränität ausgesprochen. Von diesem Ziel sind wir jedoch noch weit entfernt, und die Kommission hat sich ebenfalls besorgt geäußert, dass große Technologieunternehmen aus Drittländern EU-Vorschriften und Grundwerte missachten. In den letzten Jahren hat sich die Internetwirtschaft rund um diese Technologieriesen konsolidiert, die mithilfe von Cookies Daten kontrollieren und ihre oligopolistische Marktmacht aufrechterhalten. Das Europäische Parlament hat seinerseits seine Sorge über die Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der zunehmenden technologischen Präsenz Chinas in der EU zum Ausdruck gebracht und insbesondere Maßnahmen auf EU-Ebene gefordert, um den wachsenden Einfluss Chinas auf die 5G-Infrastruktur zu dämpfen.

2.7.

Besorgniserregend ist, dass ganze Wirtschaftszweige der EU nach wie vor stark von großen Online-Plattformen abhängen, die nicht in der EU ansässig sind. Dadurch verlieren Mitgliedstaaten ihre digitale Souveränität in Schlüsselbereichen wie Urheberrecht, Datenschutz und Besteuerung. Diese Sorge wurde auch in Bezug auf andere Bereiche wie den elektronischen Handel und Desinformation im Internet geäußert.

2.8.

In einem Online-Umfeld, das von nichteuropäischen Technologieunternehmen beherrscht wird, stellt sich die Frage, ob die EU-Bürger die Kontrolle über ihre digitalen Daten wiedererlangen können und ob die EU das Ungleichgewicht im Bereich der digitalen Souveränität wirksam und innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens beheben kann. Auf diese Fragen wird in den Abschnitten 3 und 4 eingegangen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Zunächst muss die EU ihre Abhängigkeit von Technologieriesen aus Drittländern reduzieren und sich verstärkt um die Entwicklung einer sicheren, inklusiven und wertebasierten digitalen Wirtschaft bemühen, die es mit diesen Unternehmen aufnehmen kann. Außerdem muss sie den Schwerpunkt auf zuverlässige Konnektivität, Datensicherheit und künstliche Intelligenz (KI) legen. Der EWSA hält den wertebasierten Aspekt für besonders wichtig und betont die soziale und ethische Dimension sowie die Rechte der Arbeitnehmer in einer digitalen Wirtschaft.

3.2.

Als Reaktion auf die Entwicklungen in der digitalen Wirtschaft hat die Kommission 2021 einen Digitalen Kompass für die digitale Dekade der EU erarbeitet und den Schwerpunkt auf Infrastrukturen, Regierungen, Unternehmen und Kompetenzen gelegt. Dieser Kompass sah Ziele auf europäischer und nationaler Ebene sowie einen robusten gemeinsamen Governance-Rahmen vor, um die Fortschritte zu überwachen und Unzulänglichkeiten zu beheben. Außerdem wurden darin Mehrländerprojekte mit kombinierten Investitionen aus der EU, den Mitgliedstaaten und dem Privatsektor vorgeschlagen. Ergänzt wurde dies durch das Gesetz über digitale Märkte, einen Rechtsrahmen, mit dem ein höheres Maß an Wettbewerb auf den europäischen digitalen Märkten gewährleistet werden soll, indem Großunternehmen daran gehindert werden, ihre Marktmacht zu missbrauchen, und indem neuen Akteuren der Markteintritt ermöglicht wird. Das unlängst vorgelegte europäische Chip-Gesetz zielt darauf ab, die Mikrochip-Produktion in der gesamten EU als Reaktion auf die steigende Nachfrage hochzufahren und die Abhängigkeit von Lieferanten aus Drittländern abzubauen. Dies würde der Dominanz Chinas insbesondere bei der Herstellung von Halbleiterchips entgegenwirken.

3.3.

Angesichts der Erholung der EU-Wirtschaft nach der Pandemie und der steigenden Preise fordert der EWSA die erfolgreiche Umsetzung des Digitalen Kompasses. Außerdem fordert er die EU-Regierungen auf, Anreize für Unternehmen zu schaffen, damit diese stärker in die digitalen Kapazitäten und Humanressourcen investieren. Diese Investitionen würden dazu beitragen, die strategische Autonomie beim digitalen Wandel der EU-Wirtschaft zu stärken. Auch Investitionen der EU-Regierungen in die Verbesserung der digitalen Kapazitäten, Infrastrukturen und Technologien werden als wesentlich erachtet.

3.4.

Der EWSA stellt fest, dass Innovationen wie Cloud Computing und KI zu wichtigen strategischen Ressourcen innerhalb der EU geworden sind und einen positiven Beitrag zum potenziellen Wachstum der EU-Wirtschaft leisten. Im internationalen Wettlauf um die Entwicklung neuer Technologien in der digitalen Welt verliert die EU jedoch nach wie vor an Boden. Im Bereich der KI beispielsweise liegen die privaten Investitionen in der EU hinter entsprechenden Investitionen in den USA und China zurück. Gleiches gilt für die Datenerhebungs- und Datenzugangstechnologien und die Quanteninformatik: Die Investitionen der EU in Blockchain-Technologien und das Internet der Dinge liegen ebenfalls unter jenen in den USA und in China.

3.5.

Darüber hinaus nimmt der EWSA die verschiedenen Finanzinstrumente zur Kenntnis, die die Kluft zu den Investitionen der USA und Chinas in digitale Technologien verringern sollen. Mit diesen Instrumenten lässt sich die Forschung und Innovation im Bereich der digitalen Technologien sicherlich unterstützen. Wie aber bereits in Ziffer 3.3 festgestellt, sind weitere Investitionen erforderlich. Der EWSA fordert weitere Anstrengungen zur Schaffung öffentlich-privater Partnerschaften im Bereich der digitalen Technologien sowie die Förderung umfassender EU-Forschungsarbeiten im Bereich der neuen Technologien mit dem spezifischen Ziel, mit den Forschungskapazitäten der USA und Chinas Schritt zu halten.

3.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass es bei der digitalen Souveränität nicht einfach nur darum geht, dass die EU ihren Rückstand aufholt oder sich an der Spitze der digitalen Kurve befindet. Es geht auch nicht um die Frage, ob die EU protektionistisch ist. Vielmehr gilt es, gleiche Wettbewerbsbedingungen für in der EU ansässige Technologieunternehmen zu schaffen, um — wie aus dem Titel dieser Initiativstellungnahme ersichtlich — das Wirtschaftswachstumspotenzial der EU zu stärken, wovon die Gesellschaft in der EU insgesamt profitiert.

3.7.

Es gibt triftige Gründe dafür, warum in der EU ansässige Technologieunternehmen möglicherweise gegenüber den nicht in der EU ansässigen Unternehmen bevorzugt werden sollten, wenn sie zu den weltweit führenden Unternehmen im digitalen Bereich gehören sollen. Der EWSA vertritt jedoch die Auffassung, dass die bestehenden Ungleichgewichte bei der digitalen Souveränität teilweise auf nationale Hindernisse zurückzuführen sind, die die Vollendung eines echten Binnenmarkts nach wie vor behindern. Derzeit ist der Binnenmarkt im Grunde genommen ein Sammelsurium von vielen kleineren nationalen Märkten und hat nicht das Ausmaß, das erforderlich wäre, damit es einzelne EU-Unternehmen mit den „Microsofts“ der Welt aufnehmen könnten. Darüber hinaus gibt es in der EU unterschiedliche Niveaus in Bezug auf die Entwicklung und die Infrastruktur. Deshalb überrascht es nicht, dass der digitale Markt weiterhin von Nicht-EU-Unternehmen beherrscht wird.

3.8.

Nach Ansicht des EWSA wird zudem ein wirksamer Umgang mit der digitalen Souveränität dazu beitragen, die Bedenken in Bezug auf Privatsphäre und personenbezogene Daten, Besteuerung, Daten und öffentliches Beschaffungswesen auszuräumen. Dies wird trotz eines robusteren Rechtsrahmens nicht über Nacht geschehen. Insbesondere die Besteuerung ist ein kontroverses Thema, weil US-amerikanische Technologieunternehmen Gewinne durch Interaktionen mit Kunden in der EU erzielen können, was die Frage der physischen Präsenz aufwirft, die wiederum die Steuerbarkeit betrifft.

3.9.

Schließlich hat der EWSA in einer früheren Stellungnahme (3) die Bedeutung der digitalen Souveränität als tragender Säule der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklung Europas hervorgehoben und betont, dass die digitale Souveränität auf der globalen Wettbewerbsfähigkeit beruhen muss und einer engen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bedarf. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die EU auf internationaler Ebene eine Führungsrolle übernimmt, insbesondere im Hinblick auf die Zuverlässigkeit digitaler Technologien.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA ruft die Mitgliedstaaten auf, den Regelungsrahmen für den digitalen Bereich wirksam umzusetzen, um die EU-Bürger vor den Exzessen der digitalen Welt zu schützen und zugleich einen Rahmen für ein stärker auf den Menschen ausgerichtetes und ethischeres Umfeld zu schaffen. Der EWSA ist der Auffassung, dass der Regelungsrahmen dazu beitragen sollte, den digitalen Sektor in der EU effizienter zu steuern. Außerdem sollten der Schutz der Arbeitnehmer und das Recht auf Tarifverhandlungen die Digitalisierung erleichtern. Gleichzeitig sollte den EU-Technologieunternehmen ausreichend Spielraum für Innovationen eingeräumt werden, damit sie mit Technologieunternehmen aus Drittländern mithalten können. Dabei sollten nach Möglichkeit auch internationale Partnerschaften gefördert werden.

4.2.

Die Festlegung von Vorschriften für EU-Daten wird der EU zwar theoretisch zu mehr Souveränität verhelfen, aber sie wird nicht ausreichen, um EU-Technologieunternehmen in die Lage zu versetzen, die globale Reichweite von Nicht-EU-Unternehmen zu erreichen. Dies lässt sich nur mit politischer Ausrichtung, Investitionen in Forschung und Innovation und der Beseitigung der bestehenden Defizite des Binnenmarktes erreichen.

4.3.

Dazu gehört ein stärker zukunftsorientierter Ansatz für den Regelungsrahmen, der die digitale Wirtschaft in den kommenden Jahren prägen wird. Ebenso wichtig ist es, Online-Plattformen, Ökosysteme und Online-Aktivitäten mithilfe von Vorschriften für die Transparenz und Neutralität von Algorithmen offener, gerechter und vorhersehbarer zu machen und die gemeinsame Nutzung von Daten und Interoperabilität zu berücksichtigen.

4.4.

In Bezug auf die Schaffung der digitalen Souveränität der EU fordert der EWSA eine stärkere Koordinierung zwischen den nationalen Rechtsordnungen und insbesondere den Regulierungsbehörden in diesem Bereich. Die bestehenden Governance-Strukturen müssen überdacht werden, um sowohl die Interaktion zwischen den Mitgliedstaaten zu stärken als auch um gemeinsame Entscheidungen im digitalen Bereich zu erleichtern. Nach Ansicht des EWSA wird dies von entscheidender Bedeutung sein, um die Bemühungen um eine gewisse Form der digitalen Souveränität zu unterstützen. Gleichzeitig warnt der EWSA vor einer Überregulierung, die das potenzielle Wirtschaftswachstum beeinträchtigen könnte.

4.5.

Der EWSA unterstützt die Forderungen nach der Schaffung einer Cloud- und Dateninfrastruktur durch die EU, um ihre digitale Souveränität auszubauen und das enorme Ungleichgewicht auf dem Markt für Cloud und Datenspeicherung anzugehen, der fast vollständig von Unternehmen aus Drittländern beherrscht wird. Dies würde auch zu einer Minderung der Sicherheitsrisiken für die EU-Bürger beitragen. In diesem Zusammenhang bekräftigt der EWSA seine Unterstützung für das EU-Projekt GAIA-X, mit dem ein sicheres Umfeld für die Verwaltung von Daten für Bürger, Unternehmen und Regierungen geschaffen werden soll.

4.6.

Der EWSA würdigt auch das Potenzial der EU, bei der Erhebung und Verarbeitung von Daten, die das Rückgrat der digitalen Wirtschaft bilden, eine weltweite Führungsrolle einzunehmen. Ein EU-Rahmen für die Erhebung und den Austausch von Daten birgt ein enormes Potenzial in strategischen Sektoren wie Gesundheit, Arbeitsmarkt und Verkehr. Dies würde Bürgern und Unternehmen den Zugang zu EU-weiten Daten ermöglichen (im Einklang mit den Vorschriften zum Schutz der Privatsphäre und zum Datenschutz) und die Effizienz auf dem Binnenmarkt erhöhen.

4.7.

In diesem Zusammenhang spricht sich der EWSA dafür aus, die Wettbewerbspolitik im Binnenmarkt auf den neuesten Stand zu bringen und die bestehenden Ungleichgewichte anzugehen. Dabei sollten auch wettbewerbsverzerrende Praktiken von Technologieunternehmen aus Drittstaaten sowie der wachsende Einfluss chinesischer digitaler Unternehmen in der EU ins Visier genommen werden.

4.8.

Der EWSA erkennt an, dass die Verwirklichung der digitalen Souveränität von i) der Anpassung der EU-Technologieunternehmen an den Rechtsrahmen, ii) den Maßnahmen zur Behebung der Defizite des Binnenmarkts und iii) der EU-basierten Forschung und Innovation im digitalen Bereich sowie den Investitionsmöglichkeiten abhängen wird. Gleichzeitig unterstreicht der EWSA die potenzielle Bedeutung der KMU für die digitale Souveränität der EU. KMU verfügen zwar vielleicht nicht über die finanziellen Mittel, um die digitale Wirtschaft direkt zu prägen, aber sie können sicherlich durch Interaktionen mit großen EU-Technologieunternehmen einen Beitrag leisten.

4.9.

Abschließend unterstreicht der EWSA die Bedeutung der Bildung auf allen Ebenen (ob Berufs- oder Hochschulbildung) für die Entwicklung der digitalen Souveränität der EU: Bildungseinrichtungen müssen in einschlägige Forschung und Innovation investieren, und es muss ein Rahmen für qualifizierte Arbeitnehmer geschaffen werden, die die digitale Strategie der EU unterstützen können. Ein koordinierter Ansatz für alle Bildungseinrichtungen in der EU wird ebenfalls empfohlen.

Brüssel, den 26. Oktober 2022.

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  https://www.weforum.org/agenda/2021/03/europe-digital-sovereignty/

(2)  Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. L 119 vom 4.5.2016, S. 1).

(3)  ABl. C 365 vom 23.9.2022, S. 13.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/13


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Notfallvorsorge“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/03)

Berichterstatter:

Paul RÜBIG

Beschluss des Plenums

24.2.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 GO

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

7.10.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

184/8/9

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) fordert die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten auf, dringend einen Plan auszuarbeiten, um die Autonomie/Souveränität des EU-Binnenmarkts in Bezug auf die Energieerzeugungsanlagen, die Lebensmittel- und Wasserproduktion sowie die Gewinnung der erforderlichen Rohstoffe erheblich zu stärken und für Autonomie/Souveränität bei den benötigten Technologien zu sorgen. Die EU muss diese Autonomie/Souveränität in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Materialverarbeitung, Design, Herstellung, Installation, Inbetriebnahme und Wartung der Anlagen im EU-Binnenmarkt erlangen, um Energiearmut und Arbeitslosigkeit unter ihren Bürgern und den Verbrauchern zu vermeiden. Die wirksamste Notfallvorsorge beruht auf Resilienz — sowohl in technischer als auch sozialer Hinsicht. Die Resilienz der Energiesysteme gegenüber natürlichen, politischen oder sonstigen Bedrohungen sollte bei allen energiepolitischen Maßnahmen kontinuierlich verbessert werden.

1.2.

Der EWSA empfiehlt der EU, dringend kurzfristige Maßnahmen für den Bau von Energieerzeugungsanlagen im EU-Binnenmarkt festzulegen, um das Ziel der Autonomie/Souveränität der Union zu erreichen.

1.3.

Der EWSA ist der Ansicht, dass weitreichende und lang anhaltende Energieengpässe in Europa durch folgende Maßnahmen verhindert werden können:

technologische Offenheit (in Bezug auf Energieerzeugung und -nutzung);

Stärkung und Entwicklung des europäischen Energiebinnenmarkts;

Verbesserung der Zusammenarbeit und Koordinierung mit gleichgesinnten Partnern sowie engere Zusammenarbeit mit Nachbar- und Drittländern;

Verfolgung einer ehrgeizigen Handelspolitik und Diversifizierung der Versorgung;

Beseitigung von Qualifikationslücken auf dem Arbeitsmarkt;

Verbesserung der Kommunikation und Sensibilisierung;

Beschleunigung von Innovation und Digitalisierung;

Erleichterung des Zugangs zu Finanzmitteln;

Sicherstellung ausreichender Investitionen (u. a. zur Erleichterung des ökologischen Wandels);

Festlegung realistischer politischer Strategien. Im Bereich Energie und Klima muss z. B. das Paket „Fit für 55“ neu bewertet werden, um ein Gleichgewicht zwischen der Verwirklichung der Ziele für 2030 und 2050 und der Suche nach einem wirtschaftlich und sozial gangbaren Weg für diesen Übergangsprozess zu finden. Die Gewinne aus dem Emissionshandel sollten zur Finanzierung einer Preisobergrenze für Gas auf der Grundlage des US-amerikanischen Henry Hub-Indexes und für Investitionen in neue Energieerzeugungsanlagen in der EU verwendet werden.

1.4.

Um eine Überarbeitung der Zeitpläne für den Grünen Deal zu vermeiden und im Sinne einer realistischen Energiepolitik sollten die Verfahren zur Beurteilung der Optionen, Folgen und Risiken des Grünen Deals und der Energiepolitik der EU den Auswirkungen der Maßnahmen nicht nur auf das Klima, sondern auch auf die Kaufkraft der europäischen Verbraucher und die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft Rechnung tragen, um so Arbeitsplätze in der Union zu erhalten.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass bei der Reaktion auf die Krise angesichts ihrer Schwere keine Maßnahme ausgeschlossen werden sollte.

1.6.

Im Rahmen der zu ergreifenden Maßnahmen sollte nach Ansicht des EWSA ein Teil der Reaktion in der Umsetzung des SET-Plans (Europäischer Strategieplan für die Energietechnologie) und des REPowerEU-Plans bestehen. Dabei geht es insbesondere um

die Verbesserung der Energieeffizienz und Förderung der Kreislaufwirtschaft;

die Umsetzung des REPowerEU-Plans zur Beendigung der Abhängigkeit der EU von fossilen Brennstoffen aus Russland;

die Gewährleistung einer stärkeren Befüllung der Gasspeicher und deren koordinierter Nachfüllung; Überwachung und Optimierung des Strommarkts; Lenkung der Investitionen in Energiesysteme und Verbesserung der Vernetzung mit der unmittelbaren Nachbarschaft über (ACER) (1), (GEREK), ENTSO-G (2), ENTSO-E (3) und den Wissens- und Innovationsgemeinschaften (KIC) des Europäischen Innovations- und Technologieinstituts (EIT) in den Bereichen InnoEnergy, Rohstoffe und Fertigung unter Berücksichtigung der Entwicklungen bezüglich der europäischen Grundstruktur für Wasserstoff und der H2- und der CO2-Speicherung;

die Errichtung von 1 000 Energieproduktionsanlagen in der EU mit einem 14-tägigen Genehmigungsverfahren und unverzüglichem Start der Investitionen mit hälftiger finanzieller Unterstützung durch die EU aus den Einnahmen aus dem Emissionshandel.

1.7.

Der EWSA empfiehlt, die Verbraucher zu ermutigen und dabei zu unterstützen, in ihre eigene Energieerzeugung und -effizienz zu investieren. Dafür sind Informationskampagnen und Steueranreize erforderlich.

1.8.

Der EWSA ist zudem der Ansicht, dass die EU neue Verkehrsinfrastrukturen für den Transport von Energie und Energieressourcen (Pipeline von Nordafrika nach Spanien) und für erneuerbare Energiequellen wie Wasserstoff, Biomethan und Ammoniak (Campfire) aufbauen sollte.

1.9.

Als Reaktion auf die Krise empfiehlt der EWSA folgende kurzfristige Maßnahmen:

Sicherung weiterer Quellen, insbesondere Öl, Kohle, Gas, Uran, Wasser, Nahrungs- und Futtermittel;

Entwicklung von Plänen und Konzepten zur Energieeinsparung und -rationierung in allen 27 EU-Mitgliedstaaten:

Für die Rationierung sollten klare Prioritäten gelten, z. B. die Aushandlung von Plänen zur Rationierung von Energie für energieintensive Branchen sowie von neuen WTO-Handelsabkommen mit neuen vorrangigen Zielen für Nahrungs- und Futtermittel, Wasser und Sanitärversorgung;

Priorisierung der Strom- und Gasspeicherung und -versorgung für Krankenhäuser, die Gesundheits- und Notdienste und die Versorgung älterer und schutzbedürftiger Bürgerinnen und Bürger;

Festlegung von Vorschriften zur Sicherung ausreichender Öl- und Gasreserven;

Förderung von Energieeinsparungen durch neue Energiequellen;

Intensivierung von Forschung und Entwicklung der EU im Energiebereich, insbesondere in Bezug auf alternative Energien, Fusionsenergie, Energiespeicherung, Wasserstoff- und Ammoniaktechnologien, Energieeffizienz energieintensiver Industrieprozesse sowie Verbrauchergeräte;

Beschleunigung öffentlicher Genehmigungsverfahren für neue Projekte, die kurz- und mittelfristig zusätzliche Energie liefern, z. B. Wasserstoff-Entladeterminals in Häfen der EU, Leitungen und Hafenanlagen für die Regasifizierung von verflüssigtem Erdgas (LNG);

Aufforderung an alle Unternehmen in der EU, die in Notfällen erforderliche Produkte und Dienstleistungen erzeugen oder bereitstellen, ihre Notstromversorgung sicherzustellen, ihre Notfallpläne zu aktualisieren, regelmäßige Notfallschulungen zu organisieren usw. (dies betrifft z. B. Telekommunikations- und Rundfunkunternehmen, Notdienste, öffentliche IT-Server und Stromanbieter).

1.10.

Über die kurzfristigen Maßnahmen hinaus empfiehlt der EWSA auch eine Reihe mittel- und langfristiger Maßnahmen:

1.10.1.

Der EWSA fordert die Kommission auf, Pläne auszuarbeiten und die folgenden unionsweit koordinierten Maßnahmen und Aktionen durchzuführen:

Methanspaltung durch Elektrolyse/Pyrolyse und Methanumwandlung mit Wasserdampf zur Erzeugung von Wasserstoff und festem Kohlenstoff;

Nutzung der vielfältigen und langfristigen Methanreserven als Rohstoff für Wasserstoff (Energieträger) und Kohlenstoff und umfassende Untersuchung ihrer Vorteile als Bodenverbesserer in der Landwirtschaft, um die Erträge zu steigern und die Ernährungssicherheit zu verbessern;

massive Beschleunigung der Beschaffung kritischer Energieinfrastrukturen, d. h. Vereinfachung und Straffung der EU-Vorschriften, die die Beschaffung kritischer Energieinfrastrukturen verlangsamen:

die neue EU-Wasserrahmenrichtlinie — die Sicherung einer schnellen Energieversorgung muss Vorrang erhalten;

die neue EU-Verordnung zu den Lieferketten muss vereinfacht werden. Der Schwerpunkt sollte auf einer nachhaltigen Versorgung der EU mit kritischen Rohstoffen und Gütern liegen, was Gegenstand bilateraler Handelsabkommen sein sollte;

Stärkung der Produktionsketten und Verkehrssysteme, um mögliche künftige Lieferengpässe bei kritischen Rohstoffen für EU-Unternehmen (Industrie und Handel) auszugleichen;

Verringerung der Abhängigkeit von Einfuhren von kritischen Rohstoffen und Fertigerzeugnissen;

Fokussierung auf die technologische Souveränität/Autonomie der EU;

Entwicklung einer grenzüberschreitenden Netzinfrastruktur (380 kV oder mehr);

Sicherung der Herstellung von Transformatoren für Stromspannungsänderungen (hoch/niedrig, Gleichstrom/Wechselstrom);

Wiederaufnahme der Tausenden von Energieerzeugungsprojekten (Wasserkraft, Geothermie, Hydrospeicher usw.), die seit Jahren aufgrund ihrer (durch billiges Gas aus Russland) relativ geringen Rentabilität oder aufgrund administrativer Hürden auf Eis liegen;

Erprobung neuer Erschließungstechnologien. In mehreren Gebieten der EU gibt es Lagerstätten mit erheblichen Erdgasbeständen, die mithilfe neuer, kürzlich von europäischen Hochschulen entwickelter Technologien gefördert werden können. Angesichts ihrer Ziele in Bezug auf ihre Energiesouveränität und -autonomie sollte die EU diese neuen Technologien sorgfältig prüfen und die Regionen dazu anhalten, sie zu erproben;

die lokale Produktion von Gas, Öl und synthetischen Kraftstoffen wo möglich und erforderlich als kurzfristige Maßnahme zu überprüfen bzw. die bestehende Produktion als kurzfristige Maßnahme hochzufahren.

1.10.2.

Verbesserung der Ausbildung von Elektrikern und Landwirten und ihrer Kompetenzen sowie Schaffung von Arbeitsplätzen im Bereich Wasserwirtschaft.

1.10.3.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die in Europa derzeit stagnierende Zahl der MINT-Studierenden (MINT = Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) erhöht werden sollte. In asiatischen Ländern hat die Zahl der Studierenden in den Fächern Physik, IKT und Ingenieurwesen hingegen deutlich zugenommen. Er empfiehlt, Initiativen und Anreize zu schaffen, um in Europa für weitere Arbeitsplätze für Ingenieure, Techniker und Hightech-Fachleute zu sorgen, damit die Ziele der technologischen Souveränität/Autonomie der EU erreicht werden.

1.10.4.

Zu guter Letzt hält es der EWSA für wichtig, die Kaufkraft der Unionsbürger und der Verbraucher in der EU aufrechtzuerhalten, indem die Technologie-Souveränität/-Autonomie der Union in den Mittelpunkt gestellt wird. Damit wird ihre Abhängigkeit von (Technologie- und Energie-)Importen verringert, und es werden Arbeitsplätze im Hightech-Bereich in Europa geschaffen.

1.11.

In Zusammenfassung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen stellt sich die Frage, ob sich aus Sicht der Verbraucher die Rangfolge der Prioritäten von „1. Umwelt, 2. Preis und 3. Versorgungssicherheit“ zu „1. Versorgungssicherheit, 2. Preis und 3. Umwelt“ gewandelt hat.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Definition des Begriffs „Notfallmanagement“: „Notfallmanagement“ bedeutet die Organisation und Verwaltung der Mittel und Zuständigkeiten für den Umgang mit allen humanitären Aspekten von Notfällen, d. h.:

Prävention,

Vorsorge,

Reaktion,

Minderung,

Wiederaufbau.

2.2.

Niemand weiß, wie lange der brutale Krieg in der Ukraine andauern wird, wie viel Infrastruktur zerstört werden wird oder wie viele Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in die EU-Mitgliedstaaten fliehen werden — wodurch der Binnenmarkt um Millionen neuer Verbraucherinnen und Verbraucher erweitert werden dürfte.

2.3.

Der Krieg in der Ukraine wird sicherlich dramatische Folgen für die EU haben, da diese in hohem Maße auf fossile Brennstoffe und Rohstoffe aus Russland und der Ukraine angewiesen ist. Es sollte dringend in eigene Bergbau- und Produktionsanlagen für Energieträger investiert werden, um Autonomie/Souveränität zu erreichen — eines der Hauptziele der EU.

2.4.

Im Jahr 2021 bezogen einige europäische Länder 100 % ihrer Erdgasimporte bzw. rund 70 % ihrer Ölimporte aus Russland. Im September 2022 haben einige EU-Mitgliedstaaten (z. B. Polen, Bulgarien und alle drei baltischen Staaten) die Einfuhr von Gas aus Russland eingestellt; und vielen EU-Ländern ist es gelungen, ihre Einfuhren von russischem Erdgas durch Erhöhung der Gasimporte aus anderen Ländern — vor allem in Form von Flüssigerdgas über LNG-Terminals — erheblich zu verringern. In der Folge sind die Gaspreise in die Höhe geschnellt und steigen in der EU derzeit noch weiter. Seit Juli 2022 sind die durchschnittlichen Gaspreise in der EU etwa achtmal so hoch wie in den USA, was sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit der Union auswirkt.

2.5.

Damit steigt auch die Gefahr massiver Arbeitsplatzverluste in der EU. Laut EUROFER sind in der EU-Stahlindustrie 330 000 hoch qualifizierte Arbeitskräfte direkt und bis zu 2,2 Mio. weiterer Arbeitskräfte indirekt beschäftigt. Auch in der Aluminium-, Zement-, Papier, Glas- und Chemieindustrie gibt es Hunderttausende direkt oder indirekt Beschäftigte. Innerhalb des Binnenmarkts könnten in den Energieerzeugungsanlagen Hunderttausende neuer gut bezahlter Arbeitsplätze geschaffen und damit die Kaufkraft der Verbraucher in der EU gestärkt werden.

2.6.

Was die Ernährungssicherheit angeht, so werden die europäischen Länder systematische Anstrengungen unternehmen, um die Abhängigkeit von Weizenlieferungen aus der Ukraine und Russland zu verringern. Es gilt, Düngemittelsubventionen zu überprüfen, Flächen für die Lebens- und Futtermittelproduktion umzuwidmen und Agrar- und Lebensmittelabfälle zur Erzeugung von Biogas zu verwenden.

3.   Katastrophenvorsorge (4)

3.1.

Die EU hat bei der Vorbereitung auf Notfälle viel getan, doch hat der Krieg in der Ukraine gezeigt, dass sie ihre Anstrengungen in folgenden Bereichen fortsetzen und sogar verstärken muss:

Stromabschaltungen (Stromausfälle) aufgrund von technischen Ausfällen, Cyberangriffen usw., die sich auf folgende Bereiche auswirken könnten:

Kommunikationssysteme,

Sanitärtechnik, Wasserversorgung und Abwasserbehandlung,

Geschäftskontinuität in der Industrie;

Strom- und Gasrationierungspläne für Verbraucher und Industrie in der EU. Dieses Risiko hat sich seit dem Krieg in der Ukraine drastisch erhöht;

Zeitweise Nichtverfügbarkeit von Rohstoffen aufgrund von Störungen in der Produktionskette oder im Verkehrswesen (ein Beispiel: der Rückstau von 400 großen Frachtschiffen im Hafen von Shanghai im April 2022 infolge des dortigen COVID-19-Lockdowns);

Cyberbedrohungen oder -attacken: Wie kann die EU die Resilienz der Unternehmen stärken und die Geschäftskontinuität gewährleisten, um die Versorgung der EU-Verbraucher zu garantieren?

Weitere Angriffe: Unternehmen müssen so ausgerüstet sein, dass sie Angriffen standhalten und diese schnell überwinden können.

3.2.

Notfälle und Katastrophen unterstreichen die Bedeutung der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele (5) Zu „Katastrophen“ zählen Naturkatastrophen (6), durch Industrie- oder Technologieunfälle verursachte Katastrophen (vom Menschen hergestellte Maschinen, ABC-Katastrophen), Krieg, politische und zivile Katastrophen (7), Epidemien und Hungersnöte sowie Auswirkungen der Nahrungsmittel- und Futtermittelproduktion.

4.   Wichtige Organisationen im Rahmen der Europäischen Kommission:

4.1.

Der EU mangelt es nicht an kompetenten und spezialisierten Gremien, die helfen können, die Debatte und die Vorbereitungsmaßnahmen bezüglich der „Notfallvorsorge“ zu lenken. Dazu gehören insbesondere:

GD ECHO (Europäischer Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe) (8),

Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen (ERCC) (9),

EU-Wissensnetz für Katastrophenschutz (10),

Katastrophenschutzverfahren der Union (UCPM) (11).

5.   Mögliche kritische Notfälle in den EU-Mitgliedstaaten, insbesondere im Bereich der Energieerzeugungsanlagen

5.1.

Zusammenbruch der Energieversorgungskette für fossile Brennstoffe (Kohle, Öl, Erdgas) — Im Jahr 2021 machten fossile Brennstoffe etwa 80 % des gesamten Primärenergieverbrauchs in der EU aus und wurden zum Großteil importiert.

5.2.

Stromausfälle und anschließende Kommunikationsunterbrechungen aufgrund von technischen Störungen sowie Cyberkrieg oder Terrorangriffen. Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern ist unzuverlässig: Der Wind weht nicht immer und die Sonne scheint nicht immer genau dann, wenn die EU einen großen Energiebedarf hat. Deshalb muss der Ausbau von Windkraft- und Photovoltaikanlagen in der EU mit der Errichtung großer Energiespeicheranlagen einhergehen.

5.3.

Fähigkeit zur Sicherung der Versorgung mit kritischen Rohstoffen (Kupfer, Lithium, Kobalt, Seltenerdmetalle usw.) durch neue EU-Binnenmarktstrategien für Bergbau, Wiederverwertung usw.

5.4.

Fähigkeit zur Sicherung eines wettbewerbsorientierten Binnenmarkts für die Lieferung von Halbfertigprodukten (z. B. herrscht in der EU-Automobilbranche seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine ein akuter Mangel an in der Ukraine produzierten Kabelbäumen)

5.5.

Der zur Erreichung der Dekarbonisierungsziele für die Stromerzeugung erforderliche Materialbedarf übersteigt die jährliche Kupferproduktion um den Faktor 14 (25 Mio. t gegenüber 350 Mio. t Bedarf), die jährliche Gesamtproduktion von Aluminium um den Faktor 7,2 und die weltweite Jahresproduktion von Spezialstahl, der für Windkraftanlagen benötigt wird, um den Faktor 3,9. Solarpaneele werden hauptsächlich in China gefertigt.

5.6.

Lieferungen großer Mengen an fossilen Brennstoffen sind so lange dringend erforderlich, bis in der EU genügend Anlangen zur Erzeugung erneuerbarer Energien gebaut wurden

6.   Reaktion

6.1.

Angesichts des Ausmaßes des Energieverbrauchs in der EU wird der ökologische Wandel in der EU etwa zwei Jahrzehnte benötigen. Auf seiner Tagung in Versailles empfahl der Rat, diesen Wandel zu beschleunigen, was sich als sehr schwierig erweisen dürfte.

6.2.

Bei dem größten Engpass, der einen schnelleren Übergang verhindert, geht es nicht nur um Geld, sondern um die erforderlichen Materialien für die rund 700 000 EU-weit benötigten großen 5-MW-Windkraftanlagen sowie für die Millionen von Photovoltaikanlagen, Fusionsenergieanlagen, Wasserkraftwerke und Energiespeicher. Darüber hinaus müssen geothermische Anlagen sowie Wasserstoff-, Ammoniak- und CO2-Speicher gebaut werden. Zur Verteilung der massiv gesteigerten Mengen an dezentral erzeugtem Strom müssen die Hoch- und Mittelspannungsleitungen in sehr großem Maße ausgebaut werden.

6.3.

Jede dieser 700 000 großen 5 MW-Windkraftanlagen (die in der Regel 12,5 GWh elektrische Energie pro Jahr erzeugen) hat eine Höhe von ca. 200 Metern, ein Fundament aus ca. 2 000 Tonnen Stahlbeton und erfordert ca. 600 Tonnen Spezialstahl, 20 Tonnen Kupfer und eine Versorgung mit sehr knappen Seltenen Erden, die hauptsächlich aus China oder Russland eingeführt werden müssen. Multipliziert man diesen Materialbedarf mit den ca. 700 000 in der EU benötigten Windkraftanlagen, zeigt sich, dass riesige Mengen an Beton, Stahl, Kupfer und anderen Materialien benötigt werden, deren Herstellung enorme zusätzliche CO2-Emissionen verursachen würde. Bei Seltenerdmetallen (für die elektrischen Generatoren und Batterien), Neodym, Dysprosium usw. ist der Engpass noch gravierender, wobei dieses Problem bis 2050 nur sehr schwer zu lösen sein dürfte.

7.   Minderung

7.1.

Wenn Windkraftanlagen in Deutschland weiterhin mit dem gleichen Tempo wie 2021 entstehen, würde die Errichtung der für den Grünen Deal erforderlichen 70 000 Windkraftanlagen 160 Jahre dauern.

7.2.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass nach Ansicht vieler Ingenieure die Erreichung der Ziele des Grünen Deals bis 2050 sehr schwierig ist: Zur Verwirklichung des europäischen Grünen Deals benötigt die EU Werkstoffe (Seltenerdmetalle, Kupfer, Stahl usw.) sowie Elektrotechniker und Ingenieure — und in beiden Bereichen herrscht Mangel.

8.   Prävention

8.1.

Viele energieintensive Industriezweige — u. a. Stahl, Chemie und Zement — sollen bis 2050 auf regenerativen umweltfreundlichen Wasserstoff oder Ammoniak umgestellt werden, der mit erneuerbarer elektrischer Energie erzeugt wird. Viele Menschen sind sich nicht der Tatsache bewusst, dass für die Umstellung all dieser energieintensiven Industriezweige etwa zehnmal mehr Strom aus erneuerbaren Energieträgern benötigt wird als für die Umstellung auf E-Mobilität und die Dekarbonisierung der Stahlindustrie.

8.2.

Auf die Eisen- und Stahlproduktion entfällt ein Viertel aller weltweiten industriellen CO2-Emissionen. 2020 wurden weltweit rund 1 870 Mio. Tonnen Stahl produziert, davon etwa 57 % in China und 7 % in der EU. Von den weltweit produzierten 1 870 Mio. Tonnen Stahl werden rund 1 300 Mio. Tonnen (65 %) mittels des integrierten Hochofenverfahrens hergestellt, bei dem Eisenerz mit Koks reduziert wird, wodurch sehr hohe CO2-Emissionen (etwa 1,4 Tonnen CO2 pro Tonne Stahl) verursacht werden.

8.3.

In den 27 EU-Mitgliedstaaten werden jährlich etwa 150 Mio. Tonnen Stahl produziert, davon etwa 90 Mio. Tonnen im Hochofenverfahren. Für die Umstellung der Produktion dieser 90 Mio. Tonnen (im Hochofen mit Koks reduzierten) Roheisen auf umweltfreundlichen, mit regenerativ erzeugtem Wasserstoff hergestellten Stahl würden (bis 2050) pro Jahr ca. 360 TWh Elektrizität aus erneuerbaren Energieträgern benötigt. 360 TWh pro Jahr sind eine riesige Menge an erneuerbarer Energie! Das ist mehr regenerativer Strom als für die Elektrifizierung aller Personenkraftwagen in der gesamten EU benötigt wird. Zur Erzeugung von regenerativem Strom für die Stahlindustrie in der EU werden nicht weniger als 30 000 große Windkraftanlagen benötigt.

8.4.

In der EU betrug die Stromerzeugung im Jahr 2019 etwa 2 904 TWh, davon lediglich rund 35 % aus erneuerbaren Energien. Dabei stammten ca. 38 % (1 112 TWh) aus fossilen Brennstoffen und ca. 26 % aus Kernenergie (765 TWh) — hingegen nur 13 % aus Windkraft, 12 % aus Wasserkraft, 4 % aus Solarkraftwerken, 4 % aus Bioenergie und 2 % aus geothermischen Quellen. Der Großteil der EU-Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien im Jahr 2019 (1 005 TWh) stammte aus Windkraft (367 TWh, 42 % aller erneuerbaren Energien). Weitere 39 % entfielen auf Wasserkraftwerke (345 TWh), 12 % auf Solarkraftwerke (125 TWh) und die restlichen 6 % auf Bioenergie (55 TWh).

8.5.

Der Ausbau von Pumpspeicherkraftwerken ist notwendig, um das Netz im Falle eines drohenden Stromausfalls zu stabilisieren.

8.6.

Wasserkraft sollte auf der energie- und klimapolitischen Agenda unbedingt eine wichtigere Rolle spielen. Nachhaltig entwickelte Wasserkraftwerke müssen als regenerative Energiequellen anerkannt werden. Die Regierungen sollten große und kleine Wasserkraftwerke in ihre langfristigen Ausbaustrategien, Energiepläne und Anreizsysteme für erneuerbare Energien aufnehmen und sie dabei mit variablen erneuerbaren Energien gleichstellen.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  EU-Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden

(2)  https://www.entsog.eu/

(3)  https://www.entsoe.eu/

(4)  https://ec.europa.eu/echo/what/humanitarian-aid/disaster-preparedness_de

(5)  https://unric.org/de/17ziele/

(6)  https://www.conserve-energy-future.com/10-worst-natural-disasters.php

(7)  https://www.samhsa.gov/find-help/disaster-distress-helpline/disaster-types/incidents-mass-violence

(8)  https://ec.europa.eu/echo/index_de

(9)  https://erccportal.jrc.ec.europa.eu/

(10)  https://civil-protection-knowledge-network.europa.eu/

(11)  https://ec.europa.eu/echo/what/civil-protection/eu-civil-protection-mechanism_de


ANHANG

Die folgenden Textstellen der Fachgruppenstellungnahme wurden zugunsten von im Plenum angenommenen Änderungsanträgen abgelehnt, hatten jedoch jeweils mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen erhalten:

„1.3.

Der EWSA ist der Ansicht, dass weitreichende und lang anhaltende Energieengpässe in Europa durch folgende Maßnahmen verhindert werden können:

Stärkung und Entwicklung des europäischen Energiebinnenmarkts;

Verbesserung der Zusammenarbeit und Koordinierung mit gleichgesinnten Partnern;

Verfolgung einer ehrgeizigen Handelspolitik und Diversifizierung der Versorgung;

Beseitigung von Qualifikationslücken auf dem Arbeitsmarkt;

Verbesserung der Kommunikation und Sensibilisierung;

Beschleunigung von Innovation und Digitalisierung;

Erleichterung des Zugangs zu Finanzmitteln;

Sicherstellung ausreichender Investitionen (u. a. zur Erleichterung des ökologischen Wandels);

Festlegung realistischer politischer Strategien. Im Bereich Energie und Klima muss z. B. das Paket ‚Fit für 55‘ neu bewertet werden, um ein Gleichgewicht zwischen der Verwirklichung der Ziele für 2030 und 2050 und der Suche nach einem wirtschaftlich und sozial gangbaren Weg für diesen Übergangsprozess zu finden.“

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

95

Nein-Stimmen:

67

Enthaltungen:

25

„1.6.

Im Rahmen der zu ergreifenden Maßnahmen sollte nach Ansicht des EWSA ein Teil der Reaktion in der Umsetzung des SET-Plans (Europäischer Strategieplan für die Energietechnologie) und des REPowerEU-Plans bestehen. Dabei geht es insbesondere um

die Verbesserung der Energieeffizienz und Förderung der Kreislaufwirtschaft;

die Umsetzung des REPowerEU-Plans zur Beendigung der Abhängigkeit der EU von fossilen Brennstoffen aus Russland;

die Gewährleistung einer stärkeren Befüllung der Gasspeicher und deren koordinierter Nachfüllung; Überwachung und Optimierung des Strommarkts; Lenkung der Investitionen in Energiesysteme und Verbesserung der Vernetzung mit der unmittelbaren Nachbarschaft über (ACER) (*1), (GEREK), ENTSO-G, ENTSO-E und den Wissens- und Innovationsgemeinschaften (KIC) des Europäischen Innovations- und Technologieinstituts (EIT) in den Bereichen InnoEnergy, Rohstoffe und Fertigung.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

104

Nein-Stimmen:

61

Enthaltungen:

18

„1.10.1.

Der EWSA fordert die Kommission auf, Pläne auszuarbeiten und die folgenden unionsweit koordinierten Maßnahmen und Aktionen durchzuführen:

massive Beschleunigung der Beschaffung kritischer Energieinfrastrukturen, d. h. Vereinfachung und Straffung der EU-Vorschriften, die die Beschaffung kritischer Energieinfrastrukturen verlangsamen:

Neue EU-Wasserrahmenrichtlinie — die Sicherung einer schnellen Energieversorgung muss Vorrang erhalten;

Die neue EU-Verordnung zu den Lieferketten muss vereinfacht werden. Der Schwerpunkt sollte auf einer nachhaltigen Versorgung der EU mit kritischen Rohstoffen und Gütern liegen, was Gegenstand bilateraler Handelsabkommen sein sollte;

Stärkung der Produktionsketten und Verkehrssysteme, um mögliche künftige Lieferengpässe bei kritischen Rohstoffen für EU-Unternehmen (Industrie und Handel) auszugleichen;

Verringerung der Abhängigkeit von Einfuhren von kritischen Rohstoffen und Fertigerzeugnissen;

Fokussierung auf die technologische Souveränität/Autonomie der EU;

Entwicklung einer grenzüberschreitenden Netzinfrastruktur (380 kV oder mehr);

Sicherung der Herstellung von Transformatoren für Stromspannungsänderungen (hoch/niedrig, Gleichstrom/Wechselstrom);

Wiederaufnahme der Tausenden von Energieerzeugungsprojekten (Wasserkraft, Geothermie, Hydrospeicher usw.), die seit Jahren aufgrund ihrer (durch billiges Gas aus Russland) relativ geringen Rentabilität oder aufgrund administrativer Hürden auf Eis liegen;

Erprobung neuer Erschließungstechnologien. In mehreren Gebieten der EU gibt es Lagerstätten mit erheblichen Erdgasbeständen, die mithilfe neuer, kürzlich von europäischen Hochschulen entwickelter Technologien gefördert werden können. Angesichts ihrer Ziele in Bezug auf ihre Energiesouveränität und -autonomie sollte die EU diese neuen Technologien sorgfältig prüfen und die Regionen dazu anhalten, sie zu erproben“.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

96

Nein-Stimmen:

66

Enthaltungen:

30


(*1)  EU-Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden.“‘


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/22


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Digitaler Euro“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/04)

Berichterstatter:

Juraj SIPKO

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

6.10.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

183/1/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Das rasante Tempo der technischen Innovation im Finanzwesen hat Zentralbanken rund um den Globus zur sukzessiven Schaffung digitaler Währungen veranlasst. Die Europäische Zentralbank (EZB-Eurosystem) tut es ihren Schwesterinstitutionen auf der ganzen Welt gleich und beschloss im Juli 2021, die Einführung eines digitalen Euro zu prüfen. Der EWSA begrüßt das Engagement der EZB in Sachen Einführung des digitalen Euro. Derzeit bewegt sich das EZB-Eurosystem zeitlich abgestuft und schrittweise auf die Einführung des digitalen Euro zu. Ein Beschluss über die Einführung des digitalen Euro wurde noch nicht gefasst.

1.2.

Der EWSA hält die finanzielle und digitale Inklusion bei der Einführung des digitalen Euro für überaus wichtig. erwartet in diesem Zusammenhang, dass die Einführung eines digitalen Euro allen Menschen im Euro-Währungsgebiet Vorteile bringen wird. Dies setzt voraus, dass der digitale Euro die Zahlungsvorgänge schneller und effizienter macht.

1.3.

Der EWSA stellt fest, dass durch die Einführung eines digitalen Euro eine neue Form des Geldes entstehen wird. In den Überlegungen rund um die Einführung des digitalen Euro müssen alle positiven Aspekte und Chancen gegen sämtliche potenziellen Risiken, auch und gerade im Finanzsektor, aufgewogen werden. Daher müssen Monitoring, Überwachung und der Umgang mit potenziellen Risiken bei der Gestaltung des digitalen Euro berücksichtigt werden.

1.4.

Der EWSA hält die Finanzstabilität für eine der Schlüsselfragen, die auf dem Weg zum digitalen Euro gelöst werden müssen. Daher wird es bei der Einführung des digitalen Euro wichtig sein, dass die EZB im Bereich der Finanzaufsicht alle erforderlichen Maßnahmen ergreift, um illegale Transaktionen, insbesondere Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung (AML/CFT (anti-money laundering and countering the financing of terrorism)) sowie Cyberangriffe zu bekämpfen.

1.5.

Die Vorbereitung auf den digitalen Euro bietet nach Auffassung des EWSA eine Gelegenheit, das Zahlungssystem effizienter und wettbewerbsfähiger zu gestalten. Auf diese Weise könnte der digitale Euro Risiken senken und gleichzeitig die Finanzstabilität verbessern.

1.6.

Der EWSA unterstützt die Maßnahmen der EZB zur Einführung des digitalen Euro. Da es sich hierbei um einen sehr komplexen Vorgang handelt, der zudem stark durch die derzeitige dynamische Entwicklung innovativer Technologien beeinflusst wird, kommt es darauf an, die Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb des EZB-Systems zu erkunden. Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang wird sein, sowohl Online- als auch Offline-Transaktionen zu ermöglichen. Darüber hinaus müssen die Systeme für grenzüberschreitende Zahlungsvorgänge untereinander kompatibel sein.

1.7.

Der EWSA verfolgt aufmerksam die Agenda der EZB für die Einführung des digitalen Euro und wird dies auch weiterhin tun. Es ist wichtig, dass im weiteren Beschlussfassungsprozess auf EZB-Eurosystem-Ebene alle sachdienlichen und systemrelevanten Maßnahmen ergriffen werden, um unter den sich anbietenden Modellen das geeignetste auszuwählen, das finanzielle Inklusion, Finanzstabilität und Privatsphäre gewährleistet. Die EZB untersucht und prüft derzeit verschiedene Konzepte.

1.8.

Angesichts des komplexen und vor allem anspruchsvollen Vorhabens, das alle Einwohner der Mitgliedstaaten der Europäischen Union betrifft, betont der EWSA, dass die Zivilgesellschaft in die weiteren Vorbereitungen, Verhandlungen und Diskussionen zur Einführung eines digitalen Euro einbezogen werden muss.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der evolutionäre technische Fortschritt führt zu einer schnellen Digitalisierung aller Wirtschaftszweige und der ganzen Gesellschaft. Die rasche Entwicklung und die Auswirkungen technologischer Innovationen sind auch im Finanzsektor und bei Zahlungsdienstleistern zu beobachten. Auch in den Behörden setzt sich die rasche Digitalisierung fort.

2.2.

Weltweit diskutieren und entscheiden Zentralbanken derzeit über die Einführung einer digitalen Zentralbankwährung (Central Bank Digital Currency, CBDC). Bislang haben die Zentralbanken der Bahamas und Nigerias digitale Währungen als gesetzliches Zahlungsmittel zugelassen. Darüber hinaus prüfen derzeit mehr als 110 Länder auf der Welt die etwaige Einführung einer digitalen Währung.

2.3.

Als erster G20-Staat hat die Volksrepublik China (1) erfolgreich ein Projekt für eine digitale Währung initiiert, das bislang allerdings keine Verbindung zu anderen Zentralbanken in der Welt aufweist. Im Januar 2022 veröffentlichte das US-amerikanische Federal Reserve System eine Studie über die Vor- und Nachteile der Einführung eines digitalen Dollar.

2.4.

Derzeit prüfen 90 % der Zentralbanken, die 95 % des weltweiten BIP repräsentieren, die Einführung einer digitalen Währung (2). Fast die Hälfte der Zentralbanken weltweit entwickelt spezifische Pilotvorhaben im Zusammenhang mit der Einführung von CBDC oder führt diese bereits durch. Darüber hinaus beabsichtigen zwei Drittel der Zentralbanken, kurz- oder mittelfristig eine digitale Zentralbankwährung für Einzelhandelsgeschäfte einzuführen.

2.5.

Es herrscht ein allgemeiner Konsens darüber, dass die Einführung digitaler Währungen durch Zentralbanken zu niedrigeren Kosten führen und Zahlungsgeschäfte effizienter, schneller und sicherer machen dürfte.

2.6.

Der laufende Prozess der Einführung digitaler Währungen durch die Zentralbanken hängt mit der dynamischen Entwicklung auf dem Kryptowährungsmarkt zusammen. Darüber hinaus hat die Entstehung und rasche Ausbreitung von COVID-19 den Digitalisierungsprozess weiter beschleunigt.

2.7.

Bei der Entscheidung über die Einführung digitaler Währungen durch die Zentralbanken wird es wichtig sein, deren Auswirkungen auf die makrofinanzielle Stabilität zu berücksichtigen. Staaten, die die Einführung einer digitalen Währung beschlossen haben bzw. sie möglicherweise einführen werden, könnten dadurch erhebliche Vorteile erzielen, nicht nur in Bezug auf Schnelligkeit, Effizienz und Umfang der Transaktionen, sondern auch in Bezug auf das störungsfreie Funktionieren des Zahlungs- und Abrechnungssystems.

2.8.

Bei der Einführung des digitalen Euro durch die Europäische Zentralbank (EZB) sollte die Rolle des öffentlichen Geldes als Anker der Zahlung erhalten und außerdem zur strategischen Autonomie und wirtschaftlichen Effizienz Europas beigetragen werden. Darüber hinaus geht es dabei sollte zu einem gerechteren, vielfältigeren und widerstandsfähigeren europäischen Markt für Zahlungsabwicklungen beigetragen und gleichzeitig Privatsphäre und Sicherheit stark geschützt werden. Das Eurosystem ist in der Tat auf einen hohen Datenschutzstandard ausgerichtet. Allerdings müsste ein Datenschutz, dessen Schutz höher ist als bei den derzeitigen Zahlungslösungen, in den Rechtsrahmen integriert werden.

3.   Wichtigste Bemerkungen

3.1.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die EZB bei der Einführung des digitalen Euro danach streben sollte, potenzielle Risiken zu verringern und auszuräumen. Derzeit werden mehrere Modelle des digitalen Euro geprüft, darunter Modelle mit Validierung durch Dritte oder Peer-to-Peer-Validierung sowie solche, die über Offline- oder Online-Funktionen verfügen (3).

3.2.

Der EWSA erwartet, dass die EZB im Rahmen ihrer Strategie zur Einführung eines digitalen Euro alle Arten von Risiken untersucht und ihr Augenmerk auf Maßnahmen zur Vorbeugung vor potenziellen Risiken legt.

3.3.

Der EWSA betont, dass die von der EZB beabsichtigte Einführung des digitalen Euro auch auf die Wahrung der Finanzstabilität und einen reibungslosen Übergang der Geldpolitik ausgerichtet sein sollte. Daher werden weitere eingehende Analysen der diversen Gestaltungsmerkmale des digitalen Euro und eine Analyse seiner künftigen Auswirkungen auf die makrofinanzielle Stabilität wichtig sein.

3.4.

Der EWSA erwartet, dass im Zuge der fortlaufenden technologischen Entwicklung auch etwaige sonstige Risiken, die mit diesem Prozess verbunden sind, berücksichtigt werden müssen. Die EZB wird daher mit ihrer Strategie für den digitalen Euro zwei Probleme lösen müssen: Sie muss einerseits die Finanzstabilität und einen reibungslosen Übergang der Geldpolitik gewährleisten und andererseits einen dynamischen Prozess der technologischen Entwicklung und Innovation sicherstellen.

3.5.

Der EWSA geht davon aus, dass im grenzübergreifenden Zahlungsverkehr alle erforderlichen Vorkehrungen gegen Terrorismusfinanzierung und andere illegale Praktiken ergriffen werden (4). In diesem Zusammenhang sieht der EWSA großen Spielraum für eine gegenseitig vorteilhafte internationale Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den Zentralbanken und den internationalen Währungs-, Finanz- und Wirtschaftsinstitutionen (5).

3.6.

Der EWSA stellt fest, dass bei der Bewertung der verschiedenen Formen des Geldes die von ihnen erfüllten Funktionen, d. h. ihre Funktionen als Wertaufbewahrung, Rechnungseinheit und Tauschmittel, berücksichtigt werden sollten. Um negative Auswirkungen auf den Finanzsektor zu vermeiden, sollte der digitale Euro in erster Linie ein Zahlungsmittel und weniger ein Instrument für Finanzinvestitionen sein.

3.7.

Damit der digitale Euro seine Funktion als Zahlungsmittel optimal erfüllen kann, müssen nach Auffassung des EWSA finanzielle Mittel in ausreichender Höhe bereitgestellt werden, und es dürfen dabei keine Einschränkungen gelten. Ferner weist der EWSA darauf hin, dass sowohl natürliche als auch juristische Personen bei Zahlungs- und Abwicklungsvorgängen akzeptiert werden müssen. Allerdings müssen Vorkehrungen getroffen werden, um eine Verwendung des digitalen Euro für Investitionszwecke zu vermeiden (6).

3.8.

Der EWSA erwartet, dass die EZB bei den Erwägungen im Hinblick auf die Einführung des digitalen Euro Problemstellungen wie insbesondere die Sicherheit und Effizienz der Zahlungen, die finanzielle Inklusion einschließlich der Finanzstabilität und die geldpolitische Transmission usw. lösen wird. Die Pläne privater Unternehmen zur Einführung digitaler Währungen haben die CBDC-Projekte beschleunigt. Es ist sehr wichtig, dass die EZB einen weiteren Wettbewerb durch digitale Währungen des privaten Sektors antizipiert (7).

3.9.

Nach Auffassung des EWSA muss die EZB entscheiden, wie sie die Bedingungen festlegt, um ein mögliches Marktversagen zu verhindern. Darüber hinaus muss auch das Vorgehen in Bezug auf Privatbanken und Finanzinstitute, die inländische und grenzüberschreitende Zahlungsdienste erbringen, geklärt werden. Im Vorbereitungsprozess wird daher eine Entscheidung über die Wahl möglicher CBDC-Modelle für die EZB wichtig sein.

3.10.

Derzeit haben sich folgende Modelle für digitale Zentralbankwährungen herauskristallisiert: ein direktes, ein indirektes, ein intermediäres und ein hybrides Modell. Weiterhin verweist der EWSA darauf, dass eine wesentliche Herausforderung bei der Wahl eines möglichen Modells der digitalen Währung durch die EZB die Vernetzung der Zentralbanken sein wird (8).

3.11.

Der EWSA hofft stark darauf, dass grenzüberschreitende Zahlungssysteme im Einzelhandel mit dem digitalen Euro hinreichend schnell, kostengünstig, transparent, sicherer und deutlich unkomplizierter sein werden.

3.12.

Der EWSA betont, dass die wechselseitige Vernetzung im Zahlungsverkehr des Einzelhandels Transaktionen erleichtern wird, die mittels der unterschiedlichen von den jeweiligen Zentralbanken bei der Einführung des digitalen Euro akzeptierten Modelle durchgeführt werden. Je stärker die Anbieter einzelner Zahlungsdienste vernetzt sind, desto größer die Zufriedenheit von Nutzern und Dienstleistern.

3.13.

Nach Einschätzung des EWSA wird durch die Einführung eines digitalen Euro eine neue Form des Geldes entstehen. Technologische Innovationen führen zu zwei Formen digitaler Währungen, nämlich a) digitale Vermögenswerte der Zentralbanken und b) privaten digitalen Währungen. In diesem Zusammenhang muss nicht nur der potenzielle Wettbewerb, sondern auch die Stellung des digitalen Euro im internationalen Währungsgefüge als zweitwichtigste Reservewährung berücksichtigt werden.

4.   Besondere Empfehlungen

4.1.

Der EWSA weist darauf hin, dass die EZB im Falle der Einführung eines digitalen Euro in Zusammenarbeit mit den Geschäftsbanken dafür sorgen wird, dass weiterhin Bargeld zur Verfügung gestellt wird und auch weiterhin im Privatkundengeschäft verwendet werden kann (9).

4.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass die EZB alle potenziellen Risiken überwachen sollte. Eine wichtige Maßnahme zur Gewährleistung der Währungsstabilität in der Blockchain-Technologie wird Stablecoin sein (10). Diesbezüglich muss festgelegt werden, wie die EZB mit dieser Form der digitalen Währung — Stablecoin — umgehen wird, die auch mit einem digitalen Euro verknüpft werden kann.

4.3.

Der EWSA betont, dass Bargeld weiterhin sehr wichtig für die Inklusivität einer Währung sein wird. Bestimmte Gruppen der Gesellschaft — insbesondere ältere und finanziell schwächere Menschen — haben nicht immer Zugang zu digitalen Konten und Kreditkarten. Für sie ist Bargeld das einzige Zahlungsmittel. Darüber hinaus bietet Bargeld einen Schutz vor einer übermäßigen Verletzung der Privatsphäre der Bürger. Das wachsende Banknotenvolumen in der Wirtschaft ist ein Beleg für das Vertrauen in diese Geldform, wahrscheinlich auch nach und gerade aufgrund der Finanzkrise von 2008.

4.4.

Der EWSA stellt fest, dass weltweit derzeit fast alle Zentralbanken, die eine Strategie zur Einführung der digitalen Währung einer Zentralbank angenommen haben, nach Formen, Systemen, Ausgestaltung und Modellen für ihre künftigen digitalen Währungen suchen und diese testen.

4.5.

Der EWSA sieht das Dilemma der EZB angesichts der voranschreitenden technologischen Innovation (11): Wie ist im laufenden Prozess der Digitalisierung des Euro vorzugehen? Wie können Verbindungen zu anderen digitalen Währungen der Zentralbanken hergestellt und finanzielle Inklusion sowie makroökonomische und finanzielle Stabilität sichergestellt werden?

4.6.

Der EWSA erwartet allerdings nicht, dass die Einführung des digitalen Euro die Lösung aller Fragen im Zusammenhang mit der fortschreitenden technologischen Revolution ist. Es zeichnet sich ab, dass die Barzahlung erheblich weniger genutzt werden wird. Darüber hinaus muss die Frage der Währungshoheit, einschließlich der Unterstützung der Digitalisierung grenzübergreifender Zahlungen und Transfers sowie die zentrale Frage der finanziellen Inklusion geklärt werden. All dies sind offene Fragen, denen sich die EZB bereits jetzt stellen muss.

4.7.

Der EWSA stellt fest, dass die Einführung des digitalen Euro nicht für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen geeignet ist, da die Rahmenbedingungen der Mitgliedstaaten unterschiedlich sind. Demnach werden beim Übergang zum digitalen Euro die nationalen Möglichkeiten seiner Verwendung vordringlich zu berücksichtigen sein. Der digitale Euro wird allen Bürgern des Euro-Währungsgebiets angeboten, ebenso wie Bargeld allen Bürgern des Euro-Währungsgebiets unabhängig von ihrem Land angeboten wird. Seine Verwendung kann je nach Gewohnheiten und Normen der einzelnen Länder unterschiedlich sein.

4.8.

Der EWSA ist sich bewusst, dass es bei der Gestaltung der verschiedenen Merkmale des digitalen Euro wichtig sein wird, insbesondere die Bedingungen für den Schutz der Privatsphäre, aber auch den Zeitpunkt der Markteinführung zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist es bedeutungsvoll, die vorhandene Infrastruktur und neue technische Architekturen für die sichere Abwicklung der Zahlungsvorgänge und -verfahren zu nutzen, und es muss ebenso Verfahren zur Identifizierung der Kunden geben.

4.9.

Der EWSA glaubt, dass ein echter digitaler Euro einen hohen Schutz der Privatsphäre bieten wird. Obwohl der Zeithorizont noch nicht ganz geklärt ist, kommt es schon heute auf eine sorgfältige Vorbereitung an. Darüber hinaus stellt der EWSA fest, dass die EZB bei der Ausgabe eines digitalen Euro alle Anforderungen zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung berücksichtigen wird, dies jedoch nicht bedeutet, dass die EZB selbst die KYC-Prüfungen (Know-your-Customer) durchführen wird; dies könnte z. B. von beaufsichtigten Unternehmen geschehen, je nach Gestaltung des digitalen Euro.

4.10.

Der EWSA hält es ferner für wichtig, die Fragen rund um die staatliche Souveränität sowie die Auswirkungen auf das europäische Bankensystem zu klären. Obwohl das europäische Zahlungssystem in seiner Gesamtheit derzeit nicht vollständig einheitlich ist, hat es den großen Vorteil, dass es sowohl von natürlichen als auch von juristischen Personen genutzt werden kann. Bislang hat es sich nach der globalen Finanzkrise als relativ effizient, stabil und sicher erwiesen.

4.11.

Der EWSA fordert die Vollendung der Bankenunion. Eine vollständige und echte Bankenunion wäre von Vorteil, und sie könnte für einen robusteren und einheitlicheren europäischen Bankensektor sorgen. Auch für den anvisierten digitalen Euro wäre sie entscheidend und vorteilhaft.

4.12.

Der EWSA geht davon aus, dass die Geschäftsbanken in den Ländern des Euro-Währungsgebiets derzeit von günstigen Zahlungsbedingungen profitieren. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass Geschäftsbanken und andere Institute des Finanzsektors, einschließlich der Institute, die Zahlungsdienste erbringen, bei der Gestaltung und Einführung des digitalen Euro intensiv mit der EZB zusammenarbeiten.

4.13.

Bei der Einführung und Umsetzung von digitalen Zentralbankwährungen (CBDC) in den Ländern des Euro-Währungsgebiets müssen zumindest die folgenden, sehr wichtigen Aspekte berücksichtigt werden:

i)

Sollte der digitale Euro als grundlegendes Zahlungsmittel angenommen werden, muss die Möglichkeit von Bargeld-Transaktionen weiterhin vorgesehen werden.

ii)

Der digitale Euro muss innerhalb des Euro-Währungsgebiets und möglicherweise auch im Ausland nutzbar und zugänglich sein.

iii)

Es muss berücksichtigt werden, dass der digitale Euro im Zuge der Digitalisierung auch bei Transaktionen unter noch ungekannten Bedingungen, die es im Barzahlungsverkehr nicht gibt, funktionieren muss.

4.14.

Der EWSA erwartet von der EZB die Ausarbeitung und Umsetzung einer Reihe von Maßnahmen zur Einführung eines digitalen Euro nach einem festgelegten Zeitplan. Er betont darüber hinaus, dass ein hohes Maß an Vernetzung der Zahlungssysteme eine sehr enge Zusammenarbeit nicht nur innerhalb der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets, sondern auch global mit anderen Zentralbanken und den zuständigen Währungs- und Finanzinstitutionen erforderlich macht, die auch die erforderliche technische Unterstützung leisten.

4.15.

Die Einführung eines digitalen Euro setzt die Schaffung aller wesentlichen und systemischen Voraussetzungen für sein wirksames Funktionieren voraus. Da alle Bürger in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets und der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union davon betroffen sind, müssen die Zivilgesellschaft, Forschung und Wissenschaft in die weitere Debatte über die Entwicklung und Einführung des digitalen Euro einbezogen werden.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Die Volksrepublik China startete bereits 2014 ein Projekt zur Einführung eines digitalen Yuan. Bei den Olympischen Winterspielen (2022) war es möglich, den digitalen Yuan zu verwenden. Bislang wird die digitale Währung E-Yuan nur im Hoheitsgebiet der Volksrepublik China verwendet.

(2)  Weitere Informationen unter: https://news.bitcoin.com/105-countries-are-exploring-central-bank-digital-currencies-cbdc-tracker-shows/

(3)  Weitere Informationen unter: https://www.ecb.europa.eu/paym/digital_euro/investigation/governance/shared/files/ecb.degov220504_magdesignfeatures.en.pdf?2e15ee7911b93a720fbdebe09cfa1a79

(4)  Weitere Informationen zu diesem Thema in der Stellungnahme des EWSA zum Legislativpaket zur Bekämpfung der Geldwäsche (ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 89).

(5)  Die folgenden Institutionen sind am stärksten in den Prozess der Einführung einer digitalen Währung durch die Zentralbanken eingebunden: der Internationale Währungsfonds, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, die Weltbank sowie andere öffentliche und private Währungs-, Finanz- und Wirtschaftsinstitutionen.

(6)  Weitere Informationen unter: https://www.ecb.europa.eu/paym/digital_euro/investigation/governance/shared/files/ecb.degov220711_tools.en.pdf?fb2430528d8f964513dd66ffcd8cbaf7

(7)  Es könnte zu einem Wettbewerb zwischen privaten digitalen Währungen (Kryptowährungen) und digitalen Zentralbankwährungen kommen. Seit der globalen Finanzkrise ist die Zahl der privaten digitalen Währungen erheblich gestiegen.

(8)  Wenn verschiedener Modelle grenzüberschreitender Zahlungssysteme verknüpft werden sollen, müssen sie untereinander kompatibel sein.

(9)  Weitere Informationen sind der früheren Stellungnahme des EWSA zu einer EU-Strategie für den Massenzahlungsverkehr zu entnehmen (ABl. C 220 vom 9.6.2021, S. 72).

(10)  Stablecoin ist eine Kryptowährung mit Festpreis, deren Marktpreis an andere Vermögenswerte gebunden ist. Im Vergleich zu anderen Kryptowährungen wie Bitcoin kann Stablecoin an Vermögenswerte wie bestimmte Reserven oder konvertierbare Währungen, darunter den US-Dollar oder den Euro gebunden sein, die an Börsen gehandelt werden können.

(11)  Die treibende Kraft der technischen Entwicklung ist eine dezentrale Finanzierung, darunter etwa die Experimente großer Technologieunternehmen. Diem/Libra und die Einführung von e-CNY sind das Ergebnis einer technologischen Revolution.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/28


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Rekapitalisierung von EU-Unternehmen — ein innovativer Weg zu einem nachhaltigen und inklusiven Aufschwung“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/05)

Berichterstatter:

Antonio GARCÍA DEL RIEGO

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

6.10.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

186/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Jüngste Daten lassen auf eine Eigen- und Hybridkapitallücke von insgesamt 450-600 Mrd. EUR schließen. Hieraus ergeben sich für viele Unternehmen Risiken, insbesondere angesichts neu aufkommender wirtschaftlicher Spannungen und der allgemeinen Überschuldung der Unternehmen in der EU. EU-Unternehmen finanzieren sich hauptsächlich über Bankkredite; deshalb sollten Anreize zur Nutzung anderer Finanzierungsquellen geschaffen werden. Dies erfordert die Einbeziehung verschiedener Akteure wie Vermögensverwalter, Versicherungsunternehmen und Pensionsfonds.

1.2.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) empfiehlt in diesem Zusammenhang die Ausarbeitung eines Rahmens zur Stärkung hybrider Finanzierungsinstrumente, damit solche Instrumente leicht umgesetzt werden und es den Unternehmen ermöglichen können, ihre Bilanzen zu stärken und ihr Investitionsniveau aufrechtzuerhalten, ohne sich dabei weiter zu verschulden. Auf diese Weise könnten sie wettbewerbsfähig bleiben, den ökologischen und digitalen Wandel vorantreiben und sich so auf die Zukunft einstellen.

1.3.

Stark nachrangige Instrumente stellen aus mehreren Gründen die bestmögliche Alternative dar:

i)

Hierbei handelt es sich um bereits bestehende und in verschiedenen europäischen Ländern regulierte Finanzierungsinstrumente, die daher für Kleinst- sowie kleine und mittlere Unternehmen (KKMU) sicher sind.

ii)

Im Vergleich zu komplexeren Instrumenten wie Anleihen oder Aktien stellen sie eine flexible und leicht umsetzbare langfristige Lösung für Unternehmen jeder Größe dar.

iii)

Sie eignen sich auch für Familienunternehmen, die in der Regel die Kontrolle über ihr Unternehmen behalten möchten. Diese Unternehmen machen 60 % der Unternehmen in der EU aus.

1.4.

Damit diese Instrumente eine wirksame Lösung darstellen können, sollten sie den Status eines eigenkapitalähnlichen Instruments haben, um in den Unternehmensbilanzen nicht als Fremdkapital ausgewiesen zu werden und in dem bei Liquidationen angewandten Aufteilungsschlüssel dem Eigenkapital direkt vorrangig zu sein.

1.5.

Um eine große Wirkung zu erzielen und Unternehmen jeder Größe einzubeziehen, sollte hierbei nach einem Modell verfahren werden, bei dem private und öffentliche Einrichtungen wie Banken, Vermögensverwalter, der öffentliche Sektor und institutionelle Anleger (Versicherer und Pensionsfonds) zusammenarbeiten.

1.6.

Die hier empfohlene Lösung kann kurzfristig umgesetzt werden, dient jedoch einem langfristigen Ziel und würde der Kapitalmarktunion förderlich sein. Ein EU-weites Modell für ein solches Instrument könnte von der Sichtbarkeit, Liquidität und Größe des Binnenmarkts profitieren. Ferner könnten damit bedeutende Anreize für institutionelle Anleger geschaffen werden, die das Risikoprofil von Fremdkapital- oder Hybridinstrumenten anstreben, aber höhere Renditen erzielen wollen, wobei gleichzeitig den Bedürfnissen kleinerer Unternehmen Rechnung getragen würde. Würde das hier vorgeschlagene Instrument erfolgreich umgesetzt und auf EU-Ebene eine ausreichende Reichweite annehmen, so könnte es sich zu einer klar definierten Anlageklasse entwickeln, durch die Investitionen und die EU-Integration gefördert würden.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

Kleine und mittlere Unternehmen sind das Herzstück der Wirtschaft. In den 27 EU-Mitgliedstaaten machen sie 99,8 % aller Unternehmen aus; auf sie entfallen knapp zwei Drittel (65 %) der Arbeitsplätze und über die Hälfte der Wertschöpfung außerhalb des Finanzsektors (53 %) (1). Sie sind die eigentliche Wirtschaft und der wichtigste Faktor für den sozialen Zusammenhalt in vielen europäischen Regionen. Im Jahr 2020 existierten mehr als 22,5 Mio. KMU. Zwar waren darunter nur knapp 200 000 mittlere Unternehmen, doch entfielen auf diese 17,3 % der Wertschöpfung und 16 % der Arbeitsplätze (2).

2.2.

Die COVID-19-Pandemie hat die Wirtschaft im Jahr 2020 sowie in Teilen des Jahres 2021 stark in Mitleidenschaft gezogen. Durch ein rasches Handeln der Regierungen und befristete öffentliche Maßnahmen konnte eine weiterreichende Welle von COVID-19-bedingten Insolvenzen verhindert werden. Insbesondere wurde dabei auf Lösungen zur Bewältigung von Liquiditätsengpässen und kurzfristigen Problemen, die eine übermäßigen Verschuldung von EU-Unternehmen zur Folge hatten, zurückgegriffen.

2.3.

Nun, da ein Großteil der gewährten öffentlichen Stützungsmaßnahmen schrittweise ausläuft, sind neue Spannungen mit Konsequenzen für die globalen und europäischen Volkswirtschaften zu verzeichnen, darunter die Energiekrise, die Inflation, das Ende der lockeren Geldpolitik der EZB, steigende Risikospreads, höhere Finanzierungskosten, Störungen der Lieferketten und die Invasion der Ukraine durch Russland.

2.4.

Damit Europa beim ökologischen Wandel eine Vorreiterrolle einnehmen kann, sind massive Investitionen öffentlicher und privater Akteure notwendig. Die geschwächte Position von KMU könnte diesen die Anpassung an neue Standards erschweren und dazu führen, dass sie hinter Großunternehmen oder mittelständischen Unternehmen aus anderen Teilen der Welt zurückfallen.

2.5.

Da ein hoher Anteil der Unternehmen überschuldet ist (3), gleichzeitig aber für die Bewältigung künftiger Herausforderungen langfristige Mittel benötigt, bedarf es neuer Lösungen zur Stärkung der Kapitalposition von KKMU und kleinen Midcap-Unternehmen. Bestehende Initiativen auf europäischer Ebene, wie z. B. die Scale-Up-Maßnahme der EIB für Risikokapital (ESCALAR), richten sich in der Regel an wachstumsstarke Unternehmen, die als Scale-ups gelten, oder an risikokapitalfinanzierte Unternehmen in der Startphase. Diese Initiativen sollten um neue Lösungen ergänzt werden, die vor allem auf bestehende und etablierte KKMU und kleine Midcap-Unternehmen ausgerichtet sein müssen, da diese einen Großteil der europäischen Unternehmen ausmachen.

2.6.

Einige Länder haben selektive Maßnahmen ergriffen, um die Investitionskapazität von Unternehmen zu stärken und gleichzeitig einer drohenden „Zombifizierung“ vorzubeugen. In Spanien und Frankreich belaufen sich diese Programme auf insgesamt über 30 Mrd. EUR für rund 15 000 Unternehmen (4). Die Unterstützung erfolgt in erster Linie in Form stark nachrangiger Darlehen, wobei anhand einer Bonitätseinstufung sichergestellt wird, dass es sich bei den Empfängern um lebensfähige Unternehmen handelt.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Angesichts der übermäßigen Verschuldung europäischer Unternehmen bedarf es eines Rekapitalisierungsinstruments, mit dem die betroffenen Unternehmen in die Lage versetzt werden können, ihre Investitionen beizubehalten oder zu erhöhen. Die öffentlichen Märkte haben bestehende börsennotierte Unternehmen bislang recht gut unterstützt, wohingegen es privaten Kapitalmärkten an der notwendigen Tiefe mangelt, um kleinere Unternehmen unterstützen können. Schätzungen zufolge könnte die EU infolge der Pandemie und des Auslaufens staatlicher Unterstützungsmaßnahmen mit einer Eigen- und Hybridkapitallücke in Höhe von 450-600 Mrd. EUR (5) konfrontiert sein.

3.2.

KKMU und kleine Midcap-Unternehmen beklagen in der Regel, dass sich der Zugang zu Finanzmitteln, insbesondere zu langfristigen Finanzierungen, für sie schwieriger gestaltet als für große Unternehmen.

3.2.1.

Laut SAFE-Erhebung (6) sind KMU bei der Beantragung von Darlehen häufiger mit Hindernissen konfrontiert als Großunternehmen (7 % gegenüber 4 %), verzeichnen geringere Erfolgsquoten (72 % gegenüber 85 %) und höhere Ablehnungsquoten (6 % gegenüber 2 %) und sind allgemein mit schlechteren Bedingungen konfrontiert.

3.2.2.

Bei mehr als 60 % aller europäischen Unternehmen handelt es sich um Familienunternehmen (85 % in Spanien und jeweils 75 % in Italien, Frankreich und Deutschland (7)). Diese Unternehmen sind seltener an Eigenkapitalinstrumenten als Möglichkeiten für langfristige Finanzierungen interessiert, da mit diesen eine Aufgabe der Kontrolle über das Unternehmen verbunden ist.

3.3.

Darüber hinaus verfügen KMU tendenziell über ein weniger diversifiziertes Portfolio externer Finanzierungsinstrumente; die Instrumente sind oft bankbasiert und eher auf einen kurzfristigen Finanzierungsbedarf ausgerichtet.

i)

Die Abhängigkeit der KMU von Banken ist im Euro-Währungsgebiet nach wie vor hoch. So werden 70 % der externen Finanzierungen durch Banken bereitgestellt, während der Anteil in den USA bei 40 % liegt (8).

ii)

63 % der Großunternehmen geben an, Mittel für Anlageinvestitionen zu verwenden, wohingegen dies auf nur 38 % der KMU und 28 % der Kleinstunternehmen zutrifft (9).

3.4.

In dieser Initiativstellungnahme wird daher die Ausarbeitung eines gemeinsamen Rahmens für stark nachrangige Finanzierungsinstrumente empfohlen, mit dem die Rekapitalisierung von EU-Unternehmen gefördert wird. Dieser Rahmen sollte gewährleisten, dass solche Instrumente als eigenkapitalähnliche Instrumente betrachtet werden und sich folglich nicht negativ auf die Schuldenquote und die Bonitätseinstufung der betreffenden Unternehmen auswirken.

3.4.1.

Ferner wird mit dieser Stellungnahme an die EU appelliert, einen solchen gemeinsamen Rahmen im Wege eines gemeinsamen Vorgehens gemäß den Vorschriften im Einklang mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit auszuarbeiten. Nach diesen Grundsätzen ist ein Tätigwerden der Union zulässig, wenn die Ziele einer Maßnahme angesichts des Umfangs und der Wirkungen dieser Maßnahme besser auf Unionsebene erreicht werden können.

3.4.2.

Ein solcher Rahmen für stark nachrangige Instrumente sollte

i)

die angesprochene Lücke bei langfristigen Finanzierungen schließen und so die Bilanzen von Unternehmen stärken und Investitionen fördern;

ii)

Familienunternehmen in die Lage versetzen, ihre langfristigen Investitionen zu steigern, ohne die Kontrolle über ihr Unternehmen aufzugeben. Studien zufolge sind solche Unternehmen häufig bereit, einen Teil der Gewinne auszuschütten und/oder hybride Instrumente auszugeben (10);

iii)

mit den Praktiken der wichtigsten Finanzdienstleister (Geschäftsbanken, Vermögensverwalter, öffentlicher Sektor) vereinbar sein, damit ein Großteil der Unternehmen erreicht werden kann;

iv)

zusätzliche Anreize für institutionelle Anleger im Anwendungsbereich der PRIIP-Verordnung (11) wie Versicherungsunternehmen und Pensionsfonds schaffen, die Ersparnisse verwalten und eine wichtige Funktion erfüllen, indem sie mehr Vermögenswerte in die Realwirtschaft lenken.

3.5.

Es gibt verschiedene Arten stark nachrangiger Instrumente, die zur Stärkung der Bilanzen von KMU und Midcap-Unternehmen eingesetzt werden könnten. Hierzu zählen etwa Anleihen, Wandelanleihen, duale Aktienstrukturen und Hybridanleihen (z. B. Beteiligungsdarlehen).

i)

Anleihen werden hauptsächlich von Unternehmen mit hoher Kapitalisierung genutzt, wobei der Emissionsbetrag in der Regel hoch ist. Sie stellen komplexe und kostenaufwendige Instrumente dar. Wenngleich die Begebung von Unternehmensanleihen in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat, gibt es insgesamt nur 2 000 aktive Emittenten, bei denen es sich hauptsächlich um größere Unternehmen handelt (12).

ii)

Private Wandelanleihen beruhen auf privaten Verträgen und bieten daher vor allem den Vorteil einer äußerst flexiblen Strukturierung. Hieraus ergeben sich jedoch nicht nur ein geringeres Maß an Sicherheit für kleinere Unternehmen, die in der Regel über weniger Finanzkompetenz verfügen, sondern auch hohe Transaktionskosten. Diese Instrumente werden folglich insbesondere von erfahrenen Risikokapitalgebern genutzt.

iii)

Unternehmen mit dualen Aktienstrukturen geben zwei unterschiedliche Aktiengattungen aus, von denen eine mit begrenzten oder gar keinen Stimmrechten verbunden ist, aber trotzdem als Eigenkapitalinstrument gilt. Zwar ist dieses Instrument in einigen Mitgliedstaaten (z. B. in den nordischen Ländern sowie in Polen, Portugal und Italien) zulässig (13), doch ist dies in vielen anderen Mitgliedstaaten (z. B. in Deutschland, Frankreich und Spanien) nicht der Fall. Ferner dürfte sich eine weitreichende Nutzung schwierig gestalten, da sie eine umfangreiche Anpassung an das emittierende Unternehmen erfordern würde.

iv)

Hybridanleihen sind stark nachrangige Fremdkapitalinstrumente, die eher langfristig ausgerichtet sind (und in der Regel eine Karenzzeit vorsehen). Hierbei handelt es sich um Instrumente, die in vielen Rechtsordnungen reguliert sind und den Unternehmen daher mehr Sicherheit bieten. Sie ermöglichen zudem einen einfacheren Finanzierungsprozess, da nicht jede einzelne Transaktion eigens strukturiert werden muss. Darüber hinaus wirken sich Hybridanleihen nicht negativ auf die Verschuldung von Unternehmen aus, da sie in der Zahlungsrangfolge nur dem Eigenkapital vorrangig sind.

 

Durchführung

Durchführbarkeit

Erfolgsbilanz

Unternehmensschutz

Anlegerschutz

Anleihen

Gering

Hoch

Gering

Mittel

Hoch

Wandelanleihen

Mittel

Mittel

Gering

Gering

Hoch

Duale Aktienstruktur

Gering

Mittel

Mittel

Hoch

Mittel

Hybridanleihen

Hoch

Hoch

Mittelhoch

Hoch

Mittel

Quelle: Inbonis Rating.

3.6.

Hybride Finanzierungsinstrumente stellen aus mehreren Gründen die beste Option dar:

i)

Sie stellen eine langfristige Lösung dar, die im Vergleich zu Anleihen oder Aktien leichter umzusetzen ist und Unternehmen einen besseren Schutz bietet.

ii)

Sie gewährleisten, dass es bei KKMU nicht zu einer Verwässerung der Stimmrechte oder einem Kontrollverlust kommt, und bieten gleichzeitig Kostenvorteile, etwa im Zusammenhang mit der steuerlichen Abzugsfähigkeit oder den Emissionskosten.

iii)

Sie ermöglichen Kreditgebern eine attraktive Rendite, ohne dass diese dabei in Unternehmensentscheidungen einbezogen werden müssten.

iv)

Beteiligungsdarlehen, bei denen es sich um eine Art Hybridanleihe handelt, sind in vielen europäischen Ländern, wie in Spanien („préstamos participativos“), Frankreich, („prêts participatifs“), Deutschland („partiarische Darlehen“) und jüngst auch in Portugal („empréstimos participativos“), bereits verfügbar und wurden dort reguliert (14).

3.6.1.

Verschiedene öffentliche und private Initiativen, mit denen der Mangel an Finanzierungskapital EU-weit angegangen wird, stützen sich auf Hybridanleihen. So werden im Rahmen von mindestens sechs Programmen in drei Mitgliedstaaten sowie im Rahmen verschiedener Programme des Europäischen Investitionsfonds hybride Beteiligungsdarlehen gewährt.

i)

In Frankreich unterstützt die Regierung das 12,7 Mrd. EUR schwere „Relance“-Programm für nachrangige Schuldtitel, das 10 000 Unternehmen, insbesondere KMU, zugutekommen soll und auf Beteiligungsdarlehen und nachrangigen Anleihen beruht. Der Zugang zu dem Programm erfolgt über Banken, und die Finanzmittel werden von institutionellen Investoren bereitgestellt.

ii)

In Spanien wurde ein mit 1 Mrd. EUR ausgestatteter Fonds für die Rekapitalisierung der durch die Pandemie beeinträchtigten Unternehmen eingerichtet, der sich an KMU und Midcap-Unternehmen richtet, die zwar Solvenzprobleme haben, aber dennoch als lebensfähig erachtet werden. Die Rekapitalisierung im Rahmen dieses Fonds erfolgt in Form von Beteiligungsdarlehen.

iii)

Ferner wurde in Spanien ein aus öffentlichen Mitteln finanzierter Fonds zur Unterstützung von Anlageinvestitionen in der Industrie mit einem Gesamtvolumen von 9 Mrd. EUR und einer Laufzeit von 15 Jahren (600 Mio. EUR pro Jahr) aufgelegt, der die Verwendung gewöhnlicher Schuldtitel sowie von Beteiligungsdarlehen und Eigenkapital vorsieht und sich an Unternehmen richtet, die Industrieinvestitionen planen.

iv)

In Valencia hat die regionale Entwicklungsbank, das Instituto Valenciano de Finanzas, mehrere Finanzierungsprogramme auf den Weg gebracht, in deren Rahmen KMU und strategische Midcap-Unternehmen mit Investitionsvorhaben mit Beteiligungsdarlehen im Umfang von jährlich insgesamt 400 Mio. EUR unterstützt werden.

v)

In den Niederlanden wurde ein 400 Mio. EUR schweres Programm für nachrangige Darlehen zur Unterstützung von KMU aufgelegt.

3.7.

Damit mit dem Instrument effektiv alle KKMU erreicht werden können und die größtmögliche Wirkung erzielt werden kann, sollte seine operative Struktur möglichst mehrere öffentliche und private Originatoren und Vertreiber vorsehen, bei denen es sich nicht unbedingt um dieselben Akteure handeln muss. Zu den Originatoren gehören Banken, Vermögensverwalter sowie der öffentliche Sektor, während es sich bei den Anlegern um die Banken selbst oder den öffentlichen Sektor oder um institutionelle Anleger (Versicherer und Pensionsfonds) handeln kann. Dieser Rahmen gilt für neu originierte Transaktionen, nicht aber für die Verbriefung bestehender Transaktionen. Nach diesem Muster wurde beispielsweise bei der „Relance“-Initiative in Frankreich verfahren (15).

3.8.

Minderung der mit einer europaweiten Einführung eines Programms für Hybridanleihen womöglich assoziierten Risiken:

Risiko

Lösung

Beaufsichtigung des Schattenbankwesens

Durch die Einbindung von Instrumenten für das Risikomanagement, wie z. B. einer Bonitätseinstufung, würden die Risiken im Zusammenhang mit Schattenbankwesen beseitigt.

Verdrängung von Banken

Durch ein hybrides Finanzierungsinstrument könnte die Solvenz von Unternehmen wiederhergestellt werden, sodass Banken weiterhin bereit wären, ihnen Darlehen zu gewähren.

Vereinbarkeit mit der Initiative zur Schaffung eines Freibetrags als Anreiz gegen eine Bevorzugung der Fremd- gegenüber der Eigenkapitalfinanzierung (DEBRA)

Auch mit dieser Initiative soll die Überschuldung von Unternehmen angegangen werden, sodass sie mit dem wesentlichen Ziel der DEBRA-Initiative vereinbar ist.

Wiederherstellung der Solvenz nicht lebensfähiger Unternehmen

Durch die Einbindung von Marktstandards wie der Bonitätseinstufung würde verhindert, dass nicht lebensfähige Unternehmen Zugang zu diesen Instrumenten haben. Entsprechende Anforderungen gelten in vielen öffentlichen Programmen, die die Verwendung von Beteiligungsdarlehen vorsehen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der vorgeschlagene Rahmen für Hybridanleihen sollte bestimmte Standards erfüllen, um für alle Beteiligten, d. h. Unternehmen, als Vertreiber agierende Finanzdienstleister und institutionelle Anleger, attraktiv zu sein.

4.2.

Nach diesem Rahmen sollten derartige Hybridanleihen unbedingt als Eigenkapital betrachtet werden. Dies hätte Auswirkungen im Hinblick auf

i)

die Berechnung der Schuldenquote, da weder der aktuelle Schuldenstand zunehmen noch der Verschuldungsgrad übermäßig beeinflusst würde. So heißt es in Artikel L313-14 des französischen „Code monétaire et financier“, dass Beteiligungsdarlehen bei der Beurteilung der finanziellen Lage der Unternehmen, die diese aufnehmen, als Eigenkapital zu behandeln sind;

ii)

Kapitalherabsetzungen, da beispielsweise die spanische Rechtsordnung vorsieht, dass Beteiligungsdarlehen für die Zwecke von Kapitalherabsetzungen und Unternehmensauflösungen auf das Eigenkapital angerechnet werden und dass eine vorzeitige Rückzahlung oder Tilgung von Beteiligungsdarlehen nur dann möglich ist, wenn im Anschluss eine Kapitalaufstockung in gleicher Höhe erfolgt (16);

iii)

Insolvenzverfahren, in denen Hybridanleihen einen nachrangigen Status haben sollten; d. h. sie sollten Nachrang gegenüber gewöhnlichen Schuldtiteln bzw. Gläubigern, aber Vorrang vor Eigenkapital bzw. Anteilseignern haben. Sollte das Fremdkapital nicht auf diese Weise strukturiert werden können, so würde dies wahrscheinlich die Möglichkeiten der Unternehmen einschränken, Fremdkapital aus herkömmlichen Quellen aufzunehmen. Der Aktionsplan zur Kapitalmarktunion soll unter anderem für eine größere Konvergenz zwischen den unterschiedlichen Insolvenzregelungen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten sorgen.

4.2.1.

In bestimmten Fällen sind Hybridanleihen nach Maßgabe der Internationalen Rechnungslegungsstandards (IFRS) und nach Basel II als Eigenkapital zu betrachten. Beispielsweise können Hybridanleihen mit unendlicher Laufzeit aufgrund ihres stark nachrangigen Status nach den IFRS-Vorschriften als Eigenkapital betrachtet werden (17). Hybride Finanzierungsinstrumente können in der Regel als Eigenkapital betrachtet werden, wenn sie unverbürgt und nachrangig sind und vollständig ausgezahlt werden, wenn sie nicht auf Initiative des Inhabers kündbar sind, wenn sie zur Verlustdeckung verwendet werden können und wenn die Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen aufgeschoben werden kann (18).

4.2.2.

Der EWSA empfiehlt, die Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (19) (Rechnungslegungsrichtlinie) dahingehend zu ändern, dass die bilanzielle Behandlung von Hybridanleihen und anderen Arten von Schuldtiteln mit einer Laufzeit von mehr als acht Jahren (20), einer Karenzzeit von mindestens drei Jahren und einem variablen Zinssatz, der zum Teil an diskretionär festgelegte Erfolge (etwa im Hinblick auf Wachstum oder Rentabilität) geknüpft ist, vereinheitlicht wird. Infolge einer solchen Änderung könnten Hybridanleihen bei der Berechnung des Nettovermögens eines Unternehmens für handelsrechtliche Zwecke leichter auf das Eigenkapital angerechnet werden und für Rechnungslegungszwecke als Eigenkapital oder Eigenmittel im weiteren Sinne behandelt werden.

4.3.

Zur Vermeidung von Unklarheiten sollte das Instrument für andere — d. h. steuerliche und rechtliche — Zwecke weiterhin als Fremdkapital betrachtet werden, sodass die Begebung eines solchen eigenkapitalähnlichen Instruments nicht zu einer Verwässerung der Stimmrechte oder einem Verlust der Kontrolle über das Unternehmen führen würde.

4.3.1.

Ein weiterer wichtiger Umstand für Unternehmen und Anleger ist, dass die auf das nachrangige Schuldinstrument zu zahlenden periodischen Zinsen keiner Quellenbesteuerung oder sonstigen Abzügen an der Quelle unterzogen werden dürfen, sodass das Finanzierungskonsortium die Zinserträge auf Bruttobasis erhält.

4.4.

Aus Investorensicht würde ein eigenkapitalähnliches Instrument, wie es hier vorgeschlagen wird, als zulässige Anlage für europäische langfristige Investmentfonds (ELTIF) im Sinne von Artikel 10 der ELTIF-Verordnung (21) gelten, sodass es sofort Teil des Finanzökosystems werden könnte.

4.4.1.

Solche ELTIF könnten anschließend in der EU vertrieben werden, wobei ein Prospekt oder ein Basisinformationsblatt gemäß der Prospektrichtlinie bzw. der Verordnung über Basisinformationsblätter (22) für verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte (PRIIP) zu veröffentlichen ist. Auf diese Weise könnten Kleinanleger besser in den privaten Fremdkapitalmarkt und die Realwirtschaft eingebunden werden, was durch Crowdlending-Initiativen bislang nicht erreicht werden konnte.

4.4.2.

Im Idealfall sollte das Instrument auf Marktstandards wie Bonitätseinstufungen von bei der ESMA registrierten Ratingagenturen oder Bewertungen anhand von Umwelt-, sozialen und Unternehmensführungskriterien beruhen, da dies die Anlegerbasis stärken würde.

4.5.

Schließlich würde mit dieser Initiative die Kapitalmarktunion unterstützt. Ein EU-weiter Ansatz für ein solches gemeinsames europäisches Instrument könnte von der Sichtbarkeit, Liquidität und Größe des Binnenmarkts profitieren. Ferner könnten damit bedeutende Anreize für institutionelle Anleger geschaffen werden, die das Risikoprofil von Fremdkapital- oder Hybridinstrumenten anstreben, aber höhere Renditen erzielen wollen, wobei gleichzeitig den Bedürfnissen kleinerer Unternehmen Rechnung getragen würde. Würde das hier vorgeschlagene Instrument erfolgreich umgesetzt und auf EU-Ebene eine ausreichende Reichweite annehmen, so könnte es sich zu einer klar definierten Anlageklasse entwickeln, durch die Investitionen und die EU-Integration gefördert würden.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Europäische Kommission (Juli 2021), Annual Report on European SMEs 2020/2021.

(2)  Europäische Kommission (Juli 2021), Annual Report on European SMEs 2020/2021.

(3)  Die Schuldenquote stieg zwischen Ende 2019 und Anfang 2021 um 18,8 Prozentpunkte und erreichte einen Höchststand von 164,4 % (ECB Economic Bulletin, Ausgabe 2/2022).

(4)  Quelle: französisches Wirtschaftsministerium, COFIDES, SEPIDES, Instituto Valenciano de Finanzas.

(5)  AFME und PwC (2021), Recapitalising EU businesses post COVID-19.

(6)  Europäische Kommission (November 2021), Survey on the access to finance of enterprises (SAFE).

(7)  European Family Businesses (EFB).

(8)  Euler Hermes, SMEs in Europe lack an estimated 400bn of bank-financing.

(9)  Europäische Kommission (November 2021), Survey on the access to finance of enterprises (SAFE).

(10)  AFME und PwC (2021), Recapitalising EU businesses post COVID-19.

(11)  Verordnung (EU) Nr. 1286/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über Basisinformationsblätter für verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte (PRIIP) (ABl. L 352 vom 9.12.2014, S. 1).

(12)  EZB (2021), The rise of non-bank finance and its implications for monetary policy transmission.

(13)  Europäische Kommission (2018), Study on minority shareholders protection — Final report.

(14)  Cuatrecasas (Januar 2022), Legal framework for participative loans.

(15)  Europäische Kommission (2021), Dispositif de garantie aux fonds de prêts participatifs et d’obligations subordonnées [Beihilfebeschluss zur Regelung Frankreichs für eine öffentliche Garantie für Beteiligungsdarlehen und nachrangige Anleihen].

(16)  Beschluss des spanischen Instituts für Rechnungslegung und -prüfung (Instituto de Contabilidad y Auditoría de Cuentas) vom 20. Dezember 1996.

(17)  Beschluss der Kommission in der Beihilfesache SA.60113 (2021/N) — Finnland — COVID-19: Beihilfe für Finnair.

(18)  Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (2006), Internationale Konvergenz der Kapitalmessung und Eigenkapitalanforderungen (Basel II). 4. Anhang 1a — Definition of Capital Included in the Capital Base, Ziffer ii — Tier 2, Buchstabe d — Hybrid (debt/equity) capital instruments.

(19)  Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates (ABl. L 182 vom 29.6.2013, S. 19).

(20)  Die durchschnittliche Lebensdauer eines Unternehmens beträgt ungefähr acht Jahre, wobei die Haltedauer von Private-Equity-Gesellschaften im Schnitt sogar noch geringer ausfällt (fünf Jahre).

(21)  Verordnung (EU) 2015/760 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2015 über europäische langfristige Investmentfonds (ABl. L 123 vom 19.5.2015, S. 98).

(22)  Verordnung (EU) 2017/1129 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt zu veröffentlichen ist und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/71/EG (ABl. L 168 vom 30.6.2017, S. 12).


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/35


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Ergänzende Überlegungen zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Jahresbericht zum nachhaltigen Wachstum 2022

(COM(2021) 740 final)

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/06)

Berichterstatterin:

Judith VORBACH

Beschluss des Plenums

24.3.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

6.10.2022

Verabschiedung im Plenum

27.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

133/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Seit der Annahme der ersten Stellungnahme zum Jahresbericht zum nachhaltigen Wachstum 2022 hat sich die Lage aufgrund des russischen Überfalls auf die Ukraine dramatisch verändert. In der Folgezeit wurden die Schätzungen des realen BIP-Wachstums in der EU herabgestuft und die Inflationsprognosen für den Euro-Währungsraum auf ein Allzeithoch angehoben. Der Inflationsdruck wird vor allem durch die Preiserhöhungen auf dem Gasmarkt ausgelöst. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) stellt fest, dass alle zentralen Ziele einer wohlstandsorientierten Wirtschaftspolitik unter Druck geraten sind. Gleichzeitig stellen geopolitische Verwerfungen und Spannungen sowie COVID-19 nach wie vor ernsthafte Risikofaktoren dar.

1.2.

Der EWSA bekräftigt ausdrücklich seine Forderung nach einem ausgewogenen wirtschaftspolitischen Ansatz, um die seit Langem bestehenden Probleme zu bewältigen und auf die aktuellen Krisen zu reagieren. Die in Artikel 3 EUV verankerten Ziele der EU bilden die Grundlage für den vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Wohlstand, politische Stabilität, Aufwärtskonvergenz, Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz der EU. Gerechtigkeit und Umweltziele dürfen durch die gegenwärtige Krise nicht untergraben werden. Angesichts steigender Preise ist es dringend erforderlich, die schwächsten und besonders gefährdeten Unternehmen, insbesondere KMU, zu schützen. Darüber hinaus ist es von entscheidender Bedeutung, die Kaufkraft der Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu sichern, die einen Großteil der wirtschaftlichen Nachfrage generieren. Die Solidarität mit den Menschen in der Ukraine, die Stärkung der strategischen Autonomie der EU und Bemühungen um Frieden sollten ebenfalls von zentraler Bedeutung sein.

1.3.

Die Aufbau- und Resilienzfazilität ist zum wichtigsten Instrument für die Umsetzung der politischen Prioritäten der EU im Rahmen des Europäischen Semesters geworden. Sie hat zur Stabilisierung der Wirtschaft während der Pandemie beigetragen und spielt bei der Bewältigung der derzeitigen Krise eine Schlüsselrolle. Der EWSA fordert, die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne so umzusetzen, dass sie spürbar zum Wohlergehen der Menschen beitragen. Da die länderspezifischen Empfehlungen eine wichtigere Rolle spielen werden, fordert der EWSA eine sorgfältige Überwachung und einen ausgewogenen Ansatz. Der EWSA fordert eine Reform des Europäischen Semesters, um eine gute Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft zu gewährleisten. In Bezug auf die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne begrüßt der EWSA die Empfehlung, die erfolgreiche Anwendung des Partnerschaftsprinzips voranzutreiben. Die Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft sollte verbindlich sein.

1.4.

Der EWSA begrüßt die Anhebung der Zielwerte für erneuerbare Energien und Energieeffizienz und betont, dass die ökologische Nachhaltigkeit im Mittelpunkt stehen muss. Er fordert aber auch, dass die Reform des europäischen Strommarkts rasch und entschlossen vorangetrieben wird. Die Förderung des grünen Wandels und der Ausbau der strategischen Autonomie bedürfen massiver Investitionen. Der EWSA fordert die Kommission auf, einen strukturierten Überblick darüber zu geben, welche EU-Mittel verwendet und in welchem Umfang Investitionen durch EU-Programme, Mitgliedstaaten oder private oder gemischte Finanzierungsinstrumente abgedeckt werden sollten. Der EWSA empfiehlt, einen Klimaanpassungsfonds einzurichten und in Zukunft auch eine Stärkung von NextGenerationEU (NGEU) und/oder InvestEU ins Auge zu fassen. Bei der Umstrukturierung der Fonds oder der Ausarbeitung des neuen mehrjährigen Finanzrahmens warnt der EWSA vor einer Kürzung der Mittel für soziale Ziele.

1.5.

Die Vollendung des Binnenmarkts sollte zur Aufwärtskonvergenz zwischen den Mitgliedstaaten beitragen. Verzerrungen und Hindernisse müssen beseitigt werden, und die Regionen sollten dabei unterstützt werden, ihr Potenzial voll auszuschöpfen. Bei der Vollendung der Kapitalmarkt- und Bankenunion sowie bei der Umsetzung der Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen sind Fortschritte erforderlich, um die Stabilität der Finanzmärkte zu gewährleisten. Der EWSA fordert eine faire und ausgewogene Verbesserung des Unternehmensumfelds und der Produktivität. Ausbildung und Forschung sind nach wie vor wichtige Instrumente zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit, eines gerechten grünen und digitalen Wandels und der strategischen Autonomie. Der EWSA begrüßt die in der Mitteilung „Unser europäisches Wachstumsmodell“ hervorgehobenen Vorschläge. Außerdem hält er es für wichtig, die strategische Autonomie auszubauen, die Fertigung wichtiger Produkte in die EU zurückzuverlagern und die sozialen und ökologischen Ziele entlang der Lieferketten nicht zu vernachlässigen.

1.6.

Die Kommission fordert zu Recht, öffentliche Unterstützungen zur Mobilisierung privater Investitionen gezielt auf Projekte mit eindeutigem Mehrwert auszurichten, wobei die Wettbewerbspolitik eine Schlüsselrolle spielen sollte. Der EWSA unterstreicht, wie wichtig Transparenz und Überwachung sind, um Integrität zu gewährleisten und die angestrebten Ziele zu erreichen. Mitnahmeeffekte durch die Subventionierung von Investitionen, die ohnehin getätigt worden wären, sind zu vermeiden, und die öffentlichen Haushalte sollten nicht durch Risiken übermäßig belastet werden. Schließlich sollten staatliche Beihilfen auch an die Schaffung guter Arbeitsplätze und die Wahrung der Arbeitnehmerrechte, der Umweltnormen und der steuerlichen Verpflichtungen gekoppelt werden.

1.7.

Der EWSA unterstützt die Empfehlungen der Kommission, automatische Stabilisatoren einzusetzen, Investitionen zu fördern und die allgemeine Ausweichklausel im gesamten Jahr 2023 weiter anzuwenden. Der EWSA hat jedoch Bedenken hinsichtlich der Vorgabe, dass die national finanzierten laufenden Ausgaben langsamer steigen sollen als das mittelfristige Produktionspotenzial, und der Absicht, die Relevanz der Einleitung von Defizitverfahren im Frühjahr 2023 zu bewerten. Bislang wurden die Haushaltsregeln der EU kaum umgesetzt, Sanktionen wurden nie verhängt. Der EWSA bekräftigt seine Forderung nach einer Modernisierung des haushaltspolitischen Rahmens durch die Festlegung realistischer Ziele und die Einführung einer goldenen Regel, ohne die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen zu gefährden. Gleichzeitig sollten Leitlinien für einen Übergangszeitraum vorgelegt werden. Ein solider Wert des Euro muss durch einen ausgewogenen geld- und fiskalpolitischen Ansatz im Einklang mit einer ordnungsgemäßen makroökonomischen Steuerung gewahrt werden. Schließlich betont der EWSA, dass ein faires Ausgaben- und Einnahmensystem eine Voraussetzung für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen ist.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Im Februar 2022 verabschiedete der EWSA eine Stellungnahme zum Jahresbericht zum nachhaltigen Wachstum 2022 (1). Zu der Zeit hatte die EU die tiefste wirtschaftliche Rezession ihrer Geschichte (2) erlebt. Um diesen Schlag zu kontern und eine instabile Lage abzuwenden, wurden noch nie dagewesene Unterstützungsmaßnahmen ergriffen. Mit NGEU ist die EU in eine neue Phase der Wirtschaftspolitik und der Solidarität eingetreten. Die Kommission hat dem Europäischen Semester im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität eine wichtige Rolle zugewiesen und ihm damit mehr Bedeutung für die politische Koordinierung verliehen. Daher bekräftigte der EWSA seine Forderung nach einer stärkeren Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft. Der EWSA begrüßte die Agenda für wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit und betonte, dass deren vier Komponenten — ökologische Nachhaltigkeit, Produktivität, Gerechtigkeit und gesamtwirtschaftliche Stabilität — der gleiche Stellenwert eingeräumt werden sollte, um die angestrebten Verstärkungseffekte zu erreichen und einen gerechten grünen und digitalen Wandel zu meistern.

2.2.

Wie in den vergangenen Jahren trägt die ergänzende Stellungnahme dem Prozess des laufenden Semesters Rechnung und gibt Anregungen für den nächsten Zyklus. Dies ist insbesondere in diesem Jahr von Bedeutung. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich die geopolitische Lage dramatisch verändert. Prioritäten haben sich verschoben und die Politik wurde rasch angepasst, was sich in den Mitteilungen der Kommission zum REPowerEU-Plan (3) und „Unser europäisches Wachstumsmodell“ (4) widerspiegelt. Das Europäische Semester, das einen grundlegenden Wandel durchläuft, hat sich als glaubwürdiger Rahmen für die Koordinierung der EU-Politik während der Pandemie erwiesen. Im Frühjahrspaket wurden die Auswirkungen der aktuellen Krise erneut umfassend dargestellt. Ähnlich wie die Mitteilung der Kommission (5) orientiert sich auch die Gliederung dieser Stellungnahme an den in der Agenda für wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit dargelegten Aspekten.

2.3.

Der Krieg in der Ukraine und die daraus resultierenden Sanktionen, zusammen mit den von China ergriffenen Ausgangsbeschränkungen und der Konjunkturabschwung in den USA beeinträchtigen die Wirtschaft der EU. Der rasche Anstieg der Energie- und Nahrungsmittelpreise treibt die Inflation an, was die Kaufkraft schwächt und die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt. Die EU ist aufgrund ihrer geografischen Lage, ihrer großen Abhängigkeit von importierten Brennstoffen und ihrer starken Integration in globale Wertschöpfungsketten besonders anfällig. In der Sommerprognose wurden die Schätzungen für das reale Wachstum des BIP auf 2,7 % im Jahr 2022 herabgestuft, während die Inflationsaussichten auf einen historischen Höchststand von 8,3 % im Jahr 2022 angehoben wurden (6). Die Kommission betont, dass die nach Art und Ausmaß beispiellosen Schocks, die dieser Krieg ausgelöst hat, die Prognosen äußerst unsicher machen. Weitere Preissteigerungen könnten in Verbindung mit Zweitrundeneffekten stagflationäre Tendenzen verstärken und hätten wahrscheinlich politische Auswirkungen. Geopolitische Spannungen und COVID-19 bleiben auch weiterhin ernsthafte Risikofaktoren (7).

2.4.

Die jüngste Krise gefährdet alle wichtigen Ziele einer wohlstandsorientierten Wirtschaftspolitik (8): ökologische Nachhaltigkeit, nachhaltiges und integratives Wachstum, Vollbeschäftigung und gute Arbeit, gerechte Verteilung, Gesundheit und Lebensqualität, Finanzmarktstabilität, Preisstabilität, ausgewogener Handel auf der Basis einer fairen und wettbewerbsfähigen Industrie- und Wirtschaftsstruktur und stabile öffentliche Finanzen. Um die seit Langem bestehenden Probleme anzugehen und angemessen auf die jüngsten Krisen zu reagieren, bekräftigt der EWSA ausdrücklich seine Forderung nach einem ausgewogenen Politikansatz, der im Einklang mit Artikel 3 EUV all diesen Zielen verpflichtet ist. Das Festhalten an den Zielen und Grundsätzen der EU war die Grundlage für den Wohlstand der EU in der Vergangenheit. Sie bilden auch die Basis für die gegenwärtige und künftige politische Stabilität, Aufwärtskonvergenz, Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz gegenüber neuen Krisen. Die EU muss auf die russische Aggression reagieren, darf dabei jedoch Fairness und Umweltziele nicht aus dem Blick verlieren.

2.5.

Die Gründe für die beispiellosen Preiserhöhungen sind vielfältig und sind u. a. auch auf Mängel der europäischen Politik zurückzuführen. Kommissionspräsidentin von der Leyen hat zu Recht erklärt, dass der Strommarkt in seiner derzeitigen Form nicht mehr funktioniert und reformiert werden muss (9). Der EWSA fordert die Kommission und den Rat nachdrücklich auf, die Reform des EU-Energiemarkts zügig voranzutreiben und dabei auch gegen schädliche kurzfristige Schwankungen und langfristige Preiserhöhungen vorzugehen. Der EWSA fordert nachdrücklich drastische, außerordentliche und auch befristete Maßnahmen. Mögliche Ansatzpunkte sind der Merit-Order-Effekt, die EU-Energiebörse (EEX), der Missbrauch von Marktmacht und die Auswirkungen spekulativer Transaktionen und des Hochfrequenzhandels. Die Strompreise sollten von den Gaspreisen abgekoppelt und Preisobergrenzen berücksichtigt werden. Zufallsgewinne sollten durch Abgaben abgeschöpft werden; allerdings dürfen Investitionen in CO2-arme Lösungen nicht behindert werden.

2.6.

Der Schwerpunkt der Prioritäten der EU muss auf der Solidarität mit der Bevölkerung in der Ukraine, der Stärkung der strategischen Autonomie der EU und Bemühungen um Frieden liegen. Dies steht im Einklang mit Artikel 21 EUV, durch den die Union unter anderem mit einer Politik beauftragt wird, die dazu dient „ihre Werte, ihre grundlegenden Interessen, ihre Sicherheit, ihre Unabhängigkeit und ihre Unversehrtheit zu wahren“, „Demokratie zu festigen und zu fördern“ und „den Frieden zu erhalten, Konflikte zu verhüten und die internationale Sicherheit zu stärken“. Der EWSA stimmt in diesem Sinne auch den in der Erklärung des Europäischen Rates von Versailles verankerten Zielen zu: Stärkung der Souveränität der EU durch die Verringerung strategischer Abhängigkeiten, Erhöhung der Versorgungssicherheit im Bereich kritischer Rohstoffe und schrittweiser Abbau der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland. Der EWSA begrüßt die Bemühungen, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen schrittweise abzubauen, und fordert weitere Maßnahmen in dieser Richtung.

2.7.

Im Rahmen des Europäischen Semesters ist die Aufbau- und Resilienzfazilität zum grundlegenden Instrument für die Umsetzung der politischen Prioritäten der EU geworden. Sie hat tatsächlich bereits entscheidend dazu beigetragen, die Wirtschaft während der Pandemie zu stabilisieren, den grünen und den digitalen Wandel voranzutreiben und die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten zu intensivieren. Künftig wird die Aufbau- und Resilienzfazilität bei der Mobilisierung und Steuerung von Ressourcen eine Schlüsselrolle spielen, um auf die jüngste Krise zu reagieren und den REPowerEU-Plan umzusetzen. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, in ihren nationalen Aufbau- und Resilienzplänen auf der Grundlage der neuen länderspezifischen Empfehlungen ein eigenes Kapitel für REPowerEU vorzuschlagen. Der EWSA betont, dass die aktualisierten nationalen Aufbau- und Resilienzpläne unbedingt wirksam und nachhaltig umzusetzen sind, damit sie positiv und spürbar zum Wohlergehen der Menschen beitragen. Wenn allerdings die Auszahlung von Teilbeträgen aus der Aufbau- und Resilienzfazilität vom Erreichen der in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen festgelegten Ziele abhängig gemacht wird, gewinnen die länderspezifischen Empfehlungen an Bedeutung. Diese Änderung der Verfahren muss überwacht und bewertet werden, und der EWSA fordert die Kommission und den Rat auf, für einen ausgewogenen Ansatz zu sorgen.

2.8.

Insbesondere ist die engere Einbindung der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft in das Europäische Semester auf nationaler Ebene erforderlich, um eine breite Teilhabe an den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen zu erreichen und sicherzustellen, dass alle gesellschaftlichen Gruppen angemessen vertreten sind. Sie würde außerdem zu maßgeschneiderten Lösungen beitragen, die von der organisierten Zivilgesellschaft voll unterstützt werden. Der EWSA fordert eine Reform des Europäischen Semesters im Zuge einer Richtlinie oder Verordnung, um eine wirksame und gute Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft sicherzustellen. Im Rahmen eines formellen, auf Regeln und transparenten Verfahren beruhenden Konsultationsprozesses sollten die Organisationen der Zivilgesellschaft ordnungsgemäß schriftlich informiert werden und ausreichend Zeit erhalten, um die Vorschläge zu analysieren und ihre Anmerkungen und Vorschläge zu formulieren. Die Berücksichtigung oder Ablehnung dieser Vorschläge sollte in öffentlichen Dokumenten begründet werden.

2.9.

Im Zusammenhang mit den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen begrüßt der EWSA die Empfehlung der Kommission, „sich […] auf die erfolgreiche Anwendung des Partnerschaftsprinzips bei der Programmplanung und Umsetzung der Kohäsionspolitik zu stützen“, wie es der EWSA in seiner Stellungnahme zum Jahresbericht zum nachhaltigen Wachstum 2022 gefordert hat. Die Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft muss verbindlich werden. In seiner ersten Entschließung (10) zur Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Ausarbeitung der Pläne konstatierte der EWSA, dass in den meisten Mitgliedstaaten die Beteiligung weitgehend unzureichend ist. Er forderte die Festlegung von Mindeststandards für eine solche Konsultation. In seiner zweiten Entschließung (11) forderte der EWSA viele Mitgliedstaaten auf, die Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft, die transparente Umsetzung und Überwachung sowie die Bereitstellung von Informationen für die Öffentlichkeit zu verbessern und gleichzeitig eine weitere Aussprache mit allen Beteiligten über die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne anzuregen, womit auch Missbrauch und Betrug verhindert werden könnten. Darüber hinaus werden in der Entschließung bewährte Verfahren vorgeschlagen, z. B. die Einrichtung einer Kontrollinstanz, der auch die organisierte Zivilgesellschaft angehört und die anderen Mitgliedstaaten als Vorbild dienen können. Auf ihrer Jahreskonferenz wiederholte die Ad-hoc-Gruppe Europäisches Semester des EWSA ihre Forderung, die Beteiligung der Zivilgesellschaft gesetzlich vorzuschreiben (12). Die Forderung nach einer angemessenen Teilhabe der organisierten Zivilgesellschaft und der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften spiegelt sich auch in dem gemeinsamen Initiativbericht des Haushaltsausschusses und des Ausschusses für Wirtschaft und Währung über die Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität (13) wider, der den Beitrag des Europäischen Parlaments zum Überprüfungsbericht über die Durchführung der Aufbau- und Resilienzfazilität (14) leistet, den die Europäische Kommission am 29. Juli 2022 angenommen hat.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.   Energie und ökologische Nachhaltigkeit

3.1.1.

Die Kommission betont zu Recht, dass eine „schnellere Dekarbonisierung […] unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verringern und gleichzeitig dazu beitragen [wird], unsere […] Klimaziele für 2030 zu erreichen“. Der EWSA hebt hervor, dass die ökologische Nachhaltigkeit im Mittelpunkt stehen muss. Er begrüßt, dass im REPowerEU-Plan vorgesehen ist, bis 2030 den Zielwert für erneuerbare Energien auf mindestens 45 % des Gesamtenergiemixes der EU anzuheben und zur Erreichung des Energieeffizienzziels der Energieverbrauch um 13 % gesenkt werden soll. Ebenso sind die Empfehlungen bezüglich der Investitionen im Energiebereich zu begrüßen, die unter anderem auf die Unterstützung der finanziell schwächeren Haushalte, die Förderung nachhaltiger Mobilität, die Dekarbonisierung der Industrie, Forschung und Innovation sowie den Ausbau der Infrastruktur, auch im grenzüberschreitenden Kontext, ausgerichtet sein sollten.

3.1.2.

Schon vor dem Krieg in der Ukraine klaffte eine Lücke zwischen Investitionsbedarf und vorhandenen Mitteln. Um bis 2030 das Zwischenziel einer Senkung der Emissionen um 55 % gegenüber 1990 zu erreichen, wird der jährliche zusätzliche Investitionsbedarf auf bis zu 520 Mrd. EUR geschätzt (15). Weiterer Bedarf besteht in den Bereichen Weiterbildung und Umschulung, Anpassung an den Klimawandel und Schlüsseltechnologien, z. B. Batterien. Andererseits werden etwa 30 % des EU-Haushalts für den Zeitraum 2021-2027 für den grünen Wandel ausgegeben. Aus der Kohäsionspolitik werden in diesem Jahrzehnt rund 100 Mrd. EUR erwartet, und 224,1 Mrd. EUR soll die Aufbau- und Resilienzfazilität (16) beisteuern. Aus einer Analyse der Kommission geht hervor, dass REPowerEU weitere Investitionen in Höhe von 210 Mrd. EUR für den Zeitraum bis 2027 umfasst — zusätzlich zu dem Betrag, der für die Verwirklichung der Ziele der „Fit für 55“-Vorschläge erforderlich ist. Zur Mobilisierung der Finanzmittel werden verschiedene Möglichkeiten vorgeschlagen, für die weitgehend die Darlehenskomponente der Aufbau- und Resilienzfazilität in Anspruch genommen wird. Der EWSA fordert die Kommission auf, eine strukturierte Übersicht zu erstellen, aus der hervorgeht, welche EU-Mittel verwendet und in welchem Umfang die Investitionen durch EU-Programme, private Investitionen der Mitgliedstaaten oder Mischformen gedeckt werden sollen.

3.1.3.

Angesichts der Dringlichkeit und des gemeinsamen Interesses, die Energiewende zu beschleunigen, empfiehlt der EWSA den Mitgliedstaaten nachdrücklich, die durch NGEU, die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne und den jüngsten REPowerEU-Plan gebotenen Möglichkeiten zügig und umfassend zu nutzen. Sollten die bestehenden Maßnahmen den möglicherweise steigenden Finanzierungsbedarf nicht decken können, sind weitere Initiativen erforderlich. Der EWSA fordert die Einrichtung eines Klimaanpassungsfonds (17), um im Katastrophenfall sofortige Unterstützung leisten zu können. Selbst nach Einführung einer goldenen Regel werden einige Mitgliedstaaten möglicherweise immer noch nicht in der Lage sein, die erforderlichen Investitionen aufzubringen, ohne die langfristige Tragfähigkeit ihrer öffentlichen Finanzen zu gefährden. Daher sollte eine Stärkung von NGEU und/oder InvestEU in Erwägung gezogen werden. Die Verknüpfung von Zuschüssen und/oder Darlehen mit Investitionen in die Energiewende könnte ein entscheidender Schritt sein. Der EWSA fordert eine faire und ausgewogene Verbesserung des Unternehmensumfelds und der Produktivität. Der EWSA warnt jedenfalls bei der Umstrukturierung bestehender Fonds sowie im Zusammenhang mit dem neuen mehrjährigen Finanzrahmen vor Einschnitten bei den Mitteln für soziale Ziele und einen gerechten Übergang.

3.1.4.

Die Kommission betont zu Recht, dass „die Umgestaltung der europäischen Wirtschaft nur gelingen wird, wenn sie auf gerechte und inklusive Art und Weise erfolgt und wenn alle von den Chancen profitieren können, die der grüne und der digitale Wandel mit sich bringen“ (18). Das dürfen keine leeren Worte bleiben. Der EWSA bekräftigt seine Forderung nach einer „Bestandsaufnahme und Analyse der Auswirkungen des Übergangs auf die Beschäftigung und die Kompetenzen“ (19). In Zeiten von Unsicherheit und Krisen sollte der soziale Dialog, eine solide Unternehmensführung unter Mitbestimmung der Arbeitnehmer und die Teilhabe der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft an der Politikgestaltung eine noch größere Rolle spielen. Schließlich sollten alle Aspekte der ökologischen Nachhaltigkeit, einschließlich der biologischen Vielfalt und der Verhinderung von Umweltverschmutzung, weiterhin oberste Priorität haben. Der Grundsatz der Vermeidung erheblicher Beeinträchtigungen sollte auch in den aktualisierten nationalen Aufbau- und Resilienzplänen sorgfältig angewandt werden.

3.2.   Produktivität

3.2.1.

Die wirtschaftliche und soziale Aufwärtskonvergenz zwischen den Mitgliedstaaten sollte durch die Vollendung des Binnenmarkts weiter vorangebracht werden. Der EWSA stimmt mit der Kommission darin überein, dass Verzerrungen und Hindernisse im Binnenmarkt beseitigt werden müssen. Die Unterstützung der Regionen bei der Ausschöpfung ihres vollen Potenzials wird nicht nur zu einem stärker integrierten Binnenmarkt beitragen, sondern auch die Produktivität der EU steigern und die Nachhaltigkeit im Energiebereich verbessern, da die Kapazitäten zur Erzeugung erneuerbarer Energien in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich sind. Um zuverlässige und solide Finanzierungen und Investitionen zu fördern, muss die Vollendung der Kapitalmarkt- und Bankenunion vorangetrieben und gleichzeitig die Stabilität der Finanzmärkte sichergestellt werden. Insbesondere stärkt die Mittelaufnahme für NGEU die EU-Kapitalmärkte und die internationale Bedeutung des Euros. Darüber hinaus verweist der EWSA auf den Rahmen für ein nachhaltiges Finanzwesen. Dieser zielt darauf ab, private Investitionen für Nachhaltigkeit zu mobilisieren. Er betont ebenso, dass klimabedingte Risiken berücksichtigt werden müssen.

3.2.2.

Der EWSA begrüßt einen umfassenden politischen Ansatz für Investitionen und Reformen mit dem Ziel, das Unternehmensumfeld zu verbessern und die Produktivität auf gerechte und ausgewogene Weise zu fördern. Im Mittelpunkt der Reformen sollten eine effiziente öffentliche Verwaltung, eine moderne Verkehrsinfrastruktur, eine hochwertige Aus- und Weiterbildung und Ressourceneffizienz stehen. Der EWSA stimmt mit der Kommission darin überein, dass eine unabhängige, kompetente und effiziente Justiz sowie ein gut funktionierender Rahmen für die Korruptionsbekämpfung wesentlich sind. Forschung und Innovation sind zusammen mit Bildung nach wie vor entscheidend, um Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit, den grünen und den digitalen Wandel, die Aufwärtskonvergenz und die strategische Autonomie der EU zu fördern. Der EWSA begrüßt die Empfehlungen der Kommission, die unter anderem darauf abzielen, den Wissenstransfer zu erleichtern, Spitzenleistungen hervorzubringen, Unternehmensinnovationen zu fördern und Talente anzuziehen.

3.2.3.

Der EWSA kommentiert die Mitteilung der Kommission „Auf dem Weg zu einer grünen, digitalen und resilienten Wirtschaft: unser europäisches Wachstumsmodell“ folgendermaßen: Die Kommission betont Maßnahmen zur Verringerung strategischer Abhängigkeiten wie internationale Partnerschaften, Industrieallianzen, öffentliche und private Investitionen und insbesondere die Diversifizierung der Lieferketten. Nach Dafürhalten des EWSA muss die EU den Freihandel auf faire Weise fördern, ohne die ökologischen und sozialen Ziele entlang der Lieferketten zu vernachlässigen. Bei der Versorgung mit kritischen Rohstoffen und Versorgungsgütern sollte sich die EU in keine neuen Abhängigkeiten von Staaten begeben, die nicht die Werte der EU teilen. Sie sollte sich vielmehr um strategische Autonomie bemühen. Darüber hinaus sollte die Herstellung wichtiger Erzeugnisse wie Arzneimittel in die EU zurückverlagert werden, um ihre Verfügbarkeit im Notfall sicherzustellen.

3.2.4.

Digitalisierung ist ein Schlüsselfaktor für den grünen Wandel sowie Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit. Die Kommission hebt zu Recht vier Aktionsbereiche hervor: digitale Bildung, Fähigkeiten und Kompetenzen, sichere und nachhaltige digitale und Konnektivitätsinfrastrukturen, digitaler Wandel in den Unternehmen sowie die Digitalisierung der öffentlichen Dienste und der Bildungssysteme. Um diese Ziele zu erreichen, sind mehr Investitionen in digitale Schlüsseltechnologien erforderlich, unter anderem in Cybersicherheit, künstliche Intelligenz, Datenräume und Halbleiter. Der EWSA fordert eine nachhaltige Digitalisierung, bei der auf soziale Rechte, eine bessere Energieeffizienz und die Verringerung von Elektronikabfall und Wasserverschwendung geachtet wird.

3.2.5.

Die Kommission ist der Ansicht, dass ein Großteil der Investitionen in den grünen und den digitalen Wandel und die Verbesserung der Resilienz vom Privatsektor getragen werden sollte. Andererseits sollten öffentliche Investitionen gezielt eingesetzt werden und dazu beitragen, private Investitionen zu mobilisieren und Marktversagen zu korrigieren. Tatsächlich möchte die EU in den nächsten zehn Jahren mindestens 1 Billion EUR über den EU-Haushalt und die damit verbundenen Instrumente aufbringen. Die Kommission fordert zu Recht, öffentliche Unterstützungen gezielt auf Projekte mit eindeutigem Mehrwert auszurichten, wobei die Wettbewerbspolitik eine Schlüsselrolle spielen sollte. Insbesondere im Zusammenhang mit InvestEU oder ähnlichen Programmen betont der EWSA, wie wichtig Transparenz und Überwachung sind, um die Integrität zu gewährleisten und die angestrebten Ziele zu erreichen. Mitnahmeeffekte durch die Subventionierung von Investitionen, die ohnehin getätigt worden wären, sind zu vermeiden. Die Mittel müssen transparent zugewiesen und die Risiken sollten rechtsverbindlich geteilt werden, um den öffentlichen Sektor nicht zu überlasten. Es sollten keine höheren Kosten als bei öffentlichen Finanzierungen entstehen. Staatliche Beihilfen sollten an die Schaffung guter Arbeitsplätze und die Wahrung der Arbeitnehmerrechte, der Umweltnormen und der steuerlichen Verpflichtungen gekoppelt werden.

3.3.   Fairness

3.3.1.

Wenngleich die EU im weltweiten Vergleich relativ wohlhabend ist, sind die Ungleichheiten zwischen und innerhalb der Mitgliedstaaten und Regionen ein großes Problem. Die Kommission macht deutlich, dass die Einkommensunterschiede sowie die Risiken von Armut und sozialer Ausgrenzung dank einer raschen politischen Reaktion in den Jahren 2019 und 2020 insgesamt relativ stabil waren, während die mittelfristigen Auswirkungen ungewiss sind. Viele Personen, die ohnehin schon unter schlechteren Bedingungen leben, sind unverhältnismäßig stark betroffen. Die Preissteigerungen treffen einkommensschwächere Haushalte am härtesten. Darüber hinaus stiegen die Immobilienpreise weiterhin rasant an, und in einigen Mitgliedstaaten wurde das schnellste Wachstum innerhalb eines Jahrzehnts verzeichnet, wobei auch die Zinssätze allmählich steigen. Millionen von Menschen verfügen über geringe Einkommen und haben Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen. Nach wie vor bestehen große Unsicherheiten, klimabedingte Katastrophen nehmen zu, und der grüne und der digitale Wandel führen zu strukturellen Veränderungen.

3.3.2.

Soziale Nachhaltigkeit ist kein Selbstzweck, sondern auch eine Voraussetzung für wirtschaftliche und politische Stabilität, angemessene Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit. Sinkende Realeinkommen und eingetrübte Aussichten beeinträchtigen nicht nur das Wohlbefinden des Einzelnen, sondern auch die wirtschaftliche Nachfrage und damit Investitionspläne, Produktion und Wachstum. Obwohl die Banken sich als widerstandsfähig erwiesen haben und notleidende Kredite mit Ausnahme von drei Mitgliedstaaten erheblich abgebaut wurden, könnte diese Resilienz bei einem erneuten Wirtschaftsabschwung gefährdet sein. Der EWSA warnt vor solchen Zweitrundeneffekten. Angesichts steigender Preise ist es dringend erforderlich, die Schwächsten zu schützen und die Kaufkraft der Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen, auf die ein Großteil der Nachfrage zurückgeht, zu sichern.

3.3.3.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich die Maßnahmen zum Schutz der Schwächsten und zur Abfederung der sozialen Auswirkungen der zahlreichen Krisen in der EU, so z. B. das Europäische Instrument zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Notlage (SURE), sowie die Maßnahmen zur Unterstützung der aus der Ukraine fliehenden Menschen. Der EWSA stimmt mit der Kommission auch darin überein, dass der Zugang zu allen Stufen hochwertiger Bildung, ein angemessenes Netz der sozialen Sicherheit, erschwinglicher und sozialer Wohnraum sowie wirksame, resiliente und nachhaltige Gesundheitsversorgungssysteme sichergestellt werden müssen. Der EWSA weist darauf hin, dass auch junge Menschen, die von der Energiekrise betroffen sind, Hilfe benötigen. Ein Schritt in die richtige Richtung ist die vollständige Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte im Rahmen des Semesterzyklus und ihre Überwachung über das sozialpolitische Scoreboard. Nicht zuletzt sind die Reformen und Investitionen im Rahmen der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne, die zur sozialen Inklusion und Resilienz beitragen, sehr zu begrüßen.

3.3.4.

Die im Zusammenhang mit der Entschließung des EWSA zur Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft durchgeführten Befragungen haben gezeigt, dass die soziale Dimension in einigen nationalen Aufbau- und Resilienzplänen relativ schwach ausgeprägt ist. Der EWSA empfiehlt, die Verteilungseffekte zu beachten und der europäischen Säule sozialer Rechte im Rahmen der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne sorgfältig Rechnung zu tragen. Darüber hinaus fordert der EWSA, die Höhe der für die Umsetzung der Säule erforderlichen Investitionen abzuschätzen. Der EWSA betont, wie wichtig es ist, zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen den wirtschaftlichen Freiheiten und den Sozial- und Arbeitsmarktrechten zu finden. Nationale Arbeitnehmerschutzrechte sollten niemals als administrative Markthindernisse angesehen werden (20). Bei der Stärkung des Binnenmarkts sollten sozial- und arbeitnehmerrechtliche Aspekte gleichermaßen berücksichtigt werden, um die Fortschritte der EU auf dem Weg zu wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit auf faire Weise sicherzustellen.

3.4.   Makroökonomische Stabilität

3.4.1.

Die Ermöglichung und Umsetzung umfangreicher finanzieller Unterstützung auf nationaler und EU-Ebene trug entscheidend zur Sicherung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Stabilität bei, nicht zuletzt durch gestärktes Vertrauen. Wenngleich sich die wirtschaftliche Erholung seit dem Ausbruch des Krieges stark verlangsamt hat, dürfte der expansive haushaltspolitische Kurs des Jahres 2022 dazu beitragen, die Auswirkungen der jüngsten Krise wieder abzumildern und die Stabilität zu sichern. Der EWSA unterstützt die Empfehlungen der Kommission, automatische Stabilisatoren einzusetzen und die Investitionen zur Umsetzung des grünen und des digitalen Wandels zu erhöhen. Da sich die wirtschaftliche Lage in der EU noch nicht normalisiert hat und die Mitgliedstaaten in der Lage sein müssen, im Bedarfsfall rasch zu reagieren, begrüßt er insbesondere, dass die allgemeine Ausweichklausel auch 2023 in Kraft bleibt. In Anbetracht dessen, dass die EZB die Zinssätze erstmals seit elf Jahren angehoben hat, fordert der EWSA nachdrücklich politische Maßnahmen, um moderate Renditeabstände europäischer Anleihen (Spreads) sicherzustellen und Turbulenzen an den Finanzmärkten vorzubeugen, um private Investitionen in die Energiewende nicht zu gefährden und eine Rezession zu verhindern. Diese Ziele könnten zwar eine umfassende Nutzung des Instrumentariums der EZB erfordern, doch wird die Geldpolitik allein nicht in der Lage sein, dem derzeitigen Preisanstieg nachhaltig Einhalt zu gebieten.

3.4.2.

Der EWSA begrüßt die diskretionären finanzpolitischen Maßnahmen für die am stärksten gefährdeten und besonders exponierten Branchen zur Abfederung der Auswirkungen der hohen Energiepreise, die auf 0,6 % des BIP der EU im Jahr 2022 geschätzt werden. Mittelfristig könnten jedoch auch die Energieknappheit und deren Auswirkungen auf die Preise anderer Rohstoffe, ebenso wie die anhaltenden geopolitischen Spannungen und der weitere Abwärtsdruck auf die EU-Wirtschaft von Bedeutung sein. Darüber hinaus stellen die eingetrübten Wachstumsaussichten und der zunehmende Preisdruck die Wirtschaftspolitik der EU vor neue Zielkonflikte. Daher unterstützt der EWSA die Empfehlung der Kommission, dass sich die EU auf eine sich wandelnde Wirtschaftslage vorbereiten sollte. Die Situation muss sorgfältig beobachtet werden, damit neue negative Entwicklungen, die einen stabilisierenden fiskalischen Impuls erforderlich machen, frühzeitig erkannt und die nötige Ausweitung der Unterstützungsmaßnahmen antizipiert werden können.

3.4.3.

Was die hoch verschuldeten Mitgliedstaaten angeht, so äußert der EWSA Vorbehalte gegen die Begrenzung des Anstiegs der staatlich finanzierten laufenden Ausgaben auf ein Niveau unterhalb des mittelfristigen Wachstumspotenzials. Er betont, dass bei der Eindämmung der laufenden Primärausgaben die sozialen Auswirkungen zu berücksichtigen sind, und warnt vor Kürzungen bei den Sozial-, Gesundheits- und Bildungsausgaben. Im Gegensatz dazu sollten die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten mit einem wohlstandsorientierten Ansatz bewältigt werden, z. B. durch die Förderung von Forschung, Entwicklung und Fortbildung. Der EWSA hält es auch nicht für zweckmäßig, im Frühjahr 2023 Verfahren bei einem übermäßigen Defizit ins Auge zu fassen. Er weist darauf hin, dass die haushaltspolitischen Vorschriften der EU kaum umgesetzt wurden (21) und Sanktionen in Phase 2 des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit noch nie verhängt wurden, da sie in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten die Lage nur noch verschlimmert hätten. Darüber hinaus fragt sich der EWSA, ob Verfahren bei einem übermäßigen Defizit eingeleitet werden können, solange die Ausweichklausel noch in Kraft ist.

3.4.4.

Der EWSA bekräftigt seine Erwägungen zu den Unzulänglichkeiten des derzeitigen haushaltspolitischen Rahmens und fordert erneut dessen Modernisierung, unter anderem durch die Festlegung realistischer und operativer Defizit- und Verschuldungsziele (22), die Aufnahme einer goldenen Haushaltsregel für Investitionen und die Ermöglichung von mehr Flexibilität und länderspezifischer Differenzierung. Dabei darf die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte nicht gefährdet werden. Ein solider Wert des Euro muss durch einen ausgewogenen geld- und fiskalpolitischen Ansatz im Einklang mit einer ordnungsgemäßen makroökonomischen Steuerung gewahrt werden. Der EWSA hat die Kommission außerdem aufgefordert, Leitlinien für einen Übergangszeitraum vorzulegen. Währenddessen und bevor der überarbeitete haushaltspolitische Rahmen in Kraft tritt, sollten keine Defizitverfahren eingeleitet werden (23). Darüber hinaus betonte das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 8. Juli 2021, „dass ein klarer Weg hin zu einem überarbeiteten fiskalpolitischen Rahmen festgelegt werden muss, vorzugsweise vor der Deaktivierung der allgemeinen Ausweichklausel“. Das EP wies darauf hin, „dass in der derzeitigen Lage die Anwendung des derzeitigen fiskalpolitischen Rahmens, insbesondere der Anpassungspfade, zu einem hohen Tempo des Schuldenabbaus führen würde, das den Erholungspfad der Volkswirtschaften untergraben […] könnte“. Um Stabilitätsrisiken zu vermeiden und die Krisenvorsorge und die Krisenreaktionsfähigkeit zu erhöhen, sollte schließlich die Schaffung geeigneter EU-Fonds in Erwägung gezogen werden.

3.4.5.

Der EWSA unterstützt uneingeschränkt die Empfehlung, weiterhin gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, um aggressive Steuerplanung und Steuerhinterziehung sowie die sich daraus ergebenden Spillover-Effekte zwischen den Mitgliedstaaten verstärkt und koordiniert zu bekämpfen. Der EWSA begrüßt die OECD-Vereinbarung über die Reform der Unternehmensbesteuerung und fordert die Mitgliedstaaten auf, diese zügig umzusetzen. Die EU sollte dieses Abkommen auf internationaler Ebene, insbesondere mit wichtigen Handelspartnern, fördern. Zudem wären Strategien zu begrüßen, durch die der Faktor Arbeit steuerlich entlastet und der grüne und digitale Wandel gefördert würden, wobei freilich immer die Verteilungswirkung solcher Strategien zu berücksichtigen sind. So wirkt beispielsweise die Grundsteuer weniger verzerrend und würde eine Steuerverlagerung weg vom Faktor Arbeit ermöglichen. Darüber hinaus weist der EWSA darauf hin, dass es bei einer umsichtigen Finanzpolitik nur um die Ausgaben geht, während die Einnahmeseite nicht betrachtet wird. Alles in allem wäre aber ein gerechtes Einnahmensystem insbesondere in hoch verschuldeten Ländern eine Voraussetzung für die langfristige fiskale Tragfähigkeit und solide öffentliche Finanzen.

Brüssel, den 27. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum „Jahreswachstumsbericht 2022“ (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 50).

(2)  Siehe Europäische Wirtschaftsprognose. Frühjahr 2020 (europa.eu), Seite 1.

(3)  COM(2022) 230 final.

(4)  Mitteilung der Kommission: Auf dem Weg zu einer grünen, digitalen und resilienten Wirtschaft: unser europäisches Wachstumsmodell.

(5)  Europäisches Semester 2022 — Frühjahrspaket der Europäischen Kommission — Europäische Kommission (europa.eu).

(6)  Europäische Wirtschaftsprognose — Sommer 2022: Russia’s war worsens the outlook (europa.eu).

(7)  Europäische Wirtschaftsprognose — Frühjahr 2022: Russian invasion tests EU economic resilience — Europäische Kommission (europa.eu).

(8)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum „Jahreswachstumsbericht 2022“ (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 50).

(9)  Rede von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen während der Debatte auf der Plenartagung des Europäischen Parlaments (8.6.2022) über die Schlussfolgerungen der Sondertagung des Europäischen Rates vom 30./31. Mai 2022.

(10)  ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 1.

(11)  Siehe Entschließung des EWSA: Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne — Verbesserungsvorschläge (ABl. C 323 vom 26.8.2022, S. 1).

(12)  ESG-Jahreskonferenz 2022 — Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss (europa.eu).

(13)  2021/2251 (INI), Ziffer 88.

(14)  COM(2022) 383 final.

(15)  In den letzten zehn Jahren wurden 683 Mrd. EUR pro Jahr investiert. Für das mittlere Szenario wurde der zusätzliche jährliche Investitionsbedarf bis 2030auf durchschnittlich 360 Mrd. EUR geschätzt. Siehe Bruegel: Policy Contribution, Ausgabe Nr. 18/21, September 2021. Der Investitionsbedarf wird nach 2030 noch steigen.

(16)  COM(2022) 231 final.

(17)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Finanzierung des Klimaanpassungsfonds durch Kohäsionsmittel und NextGenerationEU“ (ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 23).

(18)  Mitteilung der Kommission Auf dem Weg zu einer grünen, digitalen und resilienten Wirtschaft: unser europäisches Wachstumsmodell (COM(2022) 83 final).

(19)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Fit für 55“: Auf dem Weg zur Klimaneutralität — Umsetzung des EU-Klimaziels für 2030 (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 101).

(20)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum „Jahreswachstumsbericht 2022“ (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 50), Ziffer 3.2.3.

(21)  Prognosen des IWF vom Oktober 2015 zufolge war absehbar, dass die 1/20-Regel für den Schuldenabbau in den folgenden drei Jahren von neun Mitgliedstaaten nicht eingehalten werden würde. Die zweite Phase des Defizitverfahrens wurde nicht durchgeführt (Bruegel: Policy Contribution, März 2016).

(22)  Klaus Regling, geschäftsführender Direktor des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), schlägt vor, die Schuldenquote von 60 % auf 100 % zu erhöhen und gleichzeitig das jährliche Defizit bei 3 % des BIP zu belassen.

(23)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 227 und ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 11.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/43


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Ergänzende Überlegungen zur „Empfehlung für eine Empfehlung des Rates zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets“

(COM(2021) 742 final)

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/07)

Berichterstatter:

Juraj SIPKO

Beschluss des Plenums

22.3.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

6.10.2022

Verabschiedung im Plenum

27.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

170/1/2//

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA stellt fest, dass die wirtschaftliche Entwicklung im Euro-Währungsgebiet und in der Europäischen Union gegenwärtig durch eine extreme wirtschaftliche, geoökonomische und politische Unsicherheit gekennzeichnet ist. Diese Unsicherheit ist das Ergebnis zweier anhaltender systemischer Schocks, nämlich der andauernden COVID-19-Pandemie und der russischen Invasion in der Ukraine. Weiterhin haben sich neue Risiken im Zusammenhang mit den Störungen in verschiedenen Bereichen des internationalen Handels, des Zahlungsverkehrs, der Kapital- und Finanzmärkte, einschließlich Produktion, Forschung und Verkehr, abgezeichnet. Systemische Risiken haben zu einem besorgniserregenden Anwachsen der Staatsschulden und einem Anstieg der Inflation geführt. Die größte Herausforderung für die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets und der Europäischen Union ist und bleibt jedoch die Bekämpfung des Klimawandels.

1.2.

Der EWSA weist erneut darauf hin, dass der Kampf gegen das hartnäckige COVID-19-Virus noch lange nicht ausgestanden ist. Es gilt daher, alle materiellen und systemischen Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Pandemie zu ergreifen und sich gleichzeitig auch auf andere mögliche Epidemien und Pandemien vorzubereiten. Der EWSA betont — und die Praxis der letzten zwei Jahre hat dies bestätigt —, dass die höchsten Investitionserträge im Gesundheitswesen erzielt wurden.

1.3.

Der EWSA setzt sich für die Beendigung der russischen Aggression und des Krieges in der Ukraine sowie die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine ein. Auf diese Weise können die Voraussetzungen für ein widerstandsfähiges, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets und der Europäischen Union geschaffen werden.

1.4.

Der EWSA beobachtet mit Sorge die extrem ungünstige Entwicklung der Inflation, die in erster Linie auf steigende Rohstoff-, Lebensmittel- und Energiepreise sowie auf die Unterbrechung der Lieferketten zurückzuführen ist. In dieser Situation ist eine Anhebung der Zinssätze kein besonders wirksames Instrument. Eine zu straffe Geldpolitik kann auch die Gefahr einer Rezession erhöhen und private Investitionen in die Energiewende, die so dringend benötigt werden, verzögern. Daher rät der EWSA der EZB zu einer angemessenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, um die Nebenwirkungen einer verschärften Geldpolitik und deren Folgen für das Ziel einer langfristigen Preisstabilität sorgfältig zu analysieren. Der EWSA fordert die Europäische Zentralbank jedoch auf, die Kerninflation zu senken, ohne die wirtschaftliche Erholung in der EU zu gefährden. Aufgrund der vorgenannten Risiken sollte die EZB bei der Normalisierung ihrer Geldpolitik behutsam vorgehen.

1.5.

Angesichts des drastischen Anstiegs der Energie- und Lebensmittelpreise empfiehlt der EWSA den wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern in den Mitgliedstaaten, für die schwächsten Bevölkerungsgruppen, einschließlich des am stärksten betroffenen Teils der Mittelschicht, ein funktionierendes und wirksames soziales Sicherheitsnetz aufzuspannen, das allen Menschen Schutz bietet.

1.6.

Der EWSA nimmt mit Besorgnis zur Kenntnis, dass die Staatsverschuldung weiter zunimmt. Er empfiehlt daher, Maßnahmen zur mittelfristigen Haushaltskonsolidierung zu ergreifen. Der EWSA spricht sich für eine faire Besteuerung und eine effiziente Verwendung öffentlicher Mittel aus, um die Einnahmen der nationalen Haushalte zu erhöhen.

1.7.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Aktivierung der allgemeinen Ausweichklausel aufgrund von COVID-19 die richtige Entscheidung war. Obwohl sie vorerst bis 2023 verlängert wurde, muss für den Fall anhaltender systemischer Risiken eine weitere Verlängerung der Deaktivierung in Erwägung gezogen werden. Der EWSA erwartet daher von der Europäischen Kommission, dass sie unverzüglich konkrete Schritte zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts einleitet.

1.8.

Auf dem Weg zur Finanzunion sind Fortschritte zu verzeichnen; dennoch ist es unabdingbar, alle sachdienlichen und systemischen Maßnahmen anzunehmen und umzusetzen, um die Bankenunion und die Kapitalmarktunion zu vollenden. In diesem Zusammenhang appelliert der EWSA an die verantwortlichen Organisationen und zuständigen Institutionen, sich gemeinsam um die Schaffung einer Finanzunion zu bemühen.

1.9.

Der EWSA verweist auf die negativen Folgen des Fragmentierungsprozesses und auf die Instabilität des Markts für Staatsanleihen im Euro-Währungsgebiet. Er begrüßt die Ankündigung der Europäischen Zentralbank vom 15. Juni 2022, Maßnahmen zur Bekämpfung der Fragmentierung im Euro-Währungsgebiet zu erarbeiten.

1.10.

Der EWSA unterstützt den Wandel der Volkswirtschaften in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets. Gleichzeitig weist er auf die existenzielle Bedrohung durch den Klimawandel hin. In diesem Zusammenhang empfiehlt er trotz der unvorhergesehenen komplexen geoökonomischen Entwicklungen den Übergang zu erneuerbaren Energiequellen und die Nutzung der verfügbaren Finanzmittel aus dem Konjunkturprogramm und anderen Finanzquellen, einschließlich der Förderung einer Finanzierung durch den Privatsektor.

1.11.

Derzeit sind die Länder des Euro-Währungsgebiets wie auch die übrigen Länder der Europäischen Union mit systemischen Schocks, Risiken und Bedrohungen konfrontiert. Daher ruft der EWSA angesichts dieser kritischen Phase der zivilisatorischen Entwicklung alle Staaten und die zuständigen internationalen Institutionen zur Zusammenarbeit auf, um sich allen historisch bedingten systemischen Schocks, Risiken und Bedrohungen, denen die Menschheit derzeit ausgesetzt ist, entgegenzustellen. Verzögerungen bei der Annahme und Umsetzung von Maßnahmen können weitreichende Folgen nicht nur im Hinblick auf materielle Verluste, sondern auch und vor allem in Form von Menschenleben haben.

2.   Hintergrund und Kontext

2.1.

Derzeit sorgen zwei reale systemische Schocks, COVID-19 und die russische Invasion in der Ukraine, zusammen mit der daraus resultierenden geoökonomischen Fragmentierung, für eine große Verunsicherung. Darüber hinaus hat der Anstieg der Rohstoff- und Lebensmittelpreise sowohl im Euro-Währungsgebiet als auch in der Europäischen Union zu hohen Risiken für die sozioökonomische Entwicklung geführt. Eine der größten Herausforderungen im Zusammenhang mit der existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel besteht für das Euro-Währungsgebiet und die EU-Mitgliedstaaten im Übergang zu einer grünen Wirtschaft.

2.2.

Die aktuelle Wirtschaftsentwicklung steht im Zeichen beispielloser externer Schocks in den Ländern des Euroraums. Mit Blick auf die grundlegenden makroökonomischen Indikatoren kann daher nicht von einer stabilen Entwicklung gesprochen werden. Im Übrigen gibt es in einigen Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets seit langem strukturelle Probleme beim Aufbau einer nachhaltigen, widerstandsfähigen und inklusiven Wirtschaft.

2.3.

Vor dem Auftreten des systemischen Doppelschocks waren die Inflationsraten in fast allen Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets relativ niedrig. Schon vor der Klimakrise bewegte sich die Inflation auf einem relativ niedrigen Niveau, und in einigen Mitgliedstaaten des Euro Währungsgebiets gab es sogar eine Deflation. Die derzeitige Inflation erfordert eine umfassende Nutzung des Instrumentariums der EZB. Derzeit ist die Inflationsentwicklung eines der größten Risiken für ein nachhaltiges, widerstandsfähiges und inklusives Wirtschaftswachstum in den Ländern des Euro-Währungsgebiets. Die Verringerung und Stabilisierung der Inflationsraten sowie ihre Konsolidierung innerhalb des Inflationsziels, d. h. unter zwei Prozent, kann nicht ohne eine entsprechende Änderung der Geldpolitik der EZB erreicht werden. In diesem Zusammenhang hat der EZB-Rat die erforderlichen Maßnahmen ergriffen, um den Auftrag der EZB — Preis- und Finanzstabilität — zu erfüllen. Die EZB muss bei der Normalisierung ihrer Geldpolitik auf absehbare Zeit sehr behutsam vorgehen.

2.4.

Die Inflationsrate ist die höchste seit der Gründung der Europäischen Währungsunion. Sie ist das Ergebnis einer Reihe von Faktoren, die bereits während der sich verschärfenden weltweiten COVID-19-Krise zu einem allmählichen Anstieg der Inflationsraten geführt haben. Die derzeitige wirtschaftliche Erholung in den Euro-Ländern hat diesen negativen Trend aufgrund des geringeren Angebots weiter verschärft. Darüber hinaus führte auch die russische Invasion in der Ukraine zu einem weiteren Preisanstieg. Es stellt sich die berechtigte Frage, inwieweit die EZB mit ihrer Geldpolitik und allen ihr zur Verfügung stehenden Instrumenten den Inflationsanstieg verlangsamen und die Inflation schrittweise auf das erklärte Ziel zurückführen bzw. innerhalb dieses Ziels halten kann, ohne die Stabilität der gemeinsamen Währung und die wirtschaftliche Erholung von der COVID-19-Krise zu gefährden.

2.5.

Die derzeitige Entwicklung der Inflationsrate ist (wie im Herbst 2021 festgestellt) weder vorübergehend noch kurzfristig: Sie ist vielmehr zu einem großen Unsicherheitsfaktor geworden. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres war der Preisanstieg in erster Linie auf die Energiepreise, die Unterbrechung der Lieferketten, einen ungewöhnlich starken Anstieg der Rohstoffpreise und höhere Transportkosten zurückzuführen. Da die Gründe für die aktuelle Preisdynamik komplex sind, wird die Geldpolitik allein die Inflation nicht eindämmen können. Erforderlich ist eine Diversifizierung der Energieeinfuhren und damit eine geringere Abhängigkeit von Lieferungen aus Russland. Darüber hinaus bietet die Diversifizierung den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets die historische Chance, dringende Strukturreformen einzuleiten (z. B. Verwaltungsreformen, Justizreformen, Reformen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit) und ihre Abhängigkeit von der Einfuhr traditioneller Energieträger zu verringern. Darüber hinaus sind Marktinterventionen erforderlich, um die derzeitige Volatilität der Energiepreise in den Griff zu bekommen. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA den Vorschlag der Kommission für Notfallmaßnahmen gegen hohe Energiepreise.

2.6.

Gleichzeitig mehren sich die Anzeichen dafür, dass viele Unternehmen trotz steigender Energiepreise ihre Stückgewinne zu steigern vermochten. Eine Untersuchung der EZB macht deutlich, dass die Gewinne maßgeblich zur inländischen Gesamtinflation beigetragen haben, da die Unternehmen die höheren Kosten weitergegeben und ihre Gewinnspannen gesichert und ausgeweitet haben. Interventionen im Energiemarkt könnten auch die Preisdynamik dämpfen.

2.7.

Derzeit ist der Preisanstieg in erster Linie der Angebotsseite zuzuschreiben. Dieser Trend beeinträchtigt die Wettbewerbsfähigkeit des Euro-Währungsgebiets, führt zu steigenden Kosten und verursacht einen Aufwärtsdruck auf Löhne und Gehälter in einer Zeit des wirtschaftlichen Abschwungs. Sollte sich dieser ungünstige Trend fortsetzen, könnte dies möglicherweise zu einer Stagflation führen (die es gleichwohl im Euro-Währungsgebiet insgesamt noch nicht gibt). Vor fast 40 Jahren gab es schon einmal eine Stagflation. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es bei anhaltenden externen systemischen Schocks nicht auch zu einer unerwünschten Stagflation kommen kann. Andererseits weist der EWSA auf mögliche negative Auswirkungen auf die Nachfrage hin, wenn Gering- und Mittelverdiener von Reallohnverlusten betroffen sind.

2.8.

Das Jahr 2021 war durch eine recht günstige Entwicklung des Wirtschaftswachstums in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets gekennzeichnet. Nichts deutete darauf hin, dass sich die Investitions- und Handelsströme aufgrund hoher wirtschaftlicher Unsicherheit nennenswert abschwächen würden. Die weltweite COVID-19-Krise kann dazu führen, dass die Wachstumsraten innerhalb des Euro-Währungsgebiets weiter auseinanderdriften, wenn keine Strukturreformen beschlossen und umgesetzt werden. Die zunehmende Divergenz kann den Verlauf der Angleichung erheblich beeinträchtigen und diesen negativen Trend in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets noch verschärfen.

2.9.

Die Aussichten für das mögliche Wirtschaftswachstum sind auf kurze Sicht nicht ermutigend. Zugleich büßten die für die Entwicklung nach COVID-19 eingesetzten Instrumente (Aufbau- und Resilienzfazilität) durch die Investitionsunsicherheit infolge des Krieges in der Ukraine etwas an Wirkung ein. Daher ist es wichtig, dass die einzelnen Volkswirtschaften in der Lage sind, die anhaltende Unterbrechung der Handels- und Investitionsströme und die andauernde Unsicherheit in der Weltwirtschaft, vor allem aber die große Unsicherheit in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets zu bewältigen.

2.10.

Das abflauende Wirtschaftswachstum ist auch die Folge eines drastischen Anstiegs der Energiepreise für private Haushalte. Einige Mitgliedstaaten haben Maßnahmen gegen den Preisanstieg in Form von Subventionen, Änderungen bei der Mehrwertsteuer (einschließlich zusätzlicher Sozialbeiträge) und Sozialtarifen auf Energie für die einkommensschwächsten Haushalte ergriffen. In diesem Zusammenhang ist es auch notwendig, über die effizientere Energienutzung in den Haushalten nachzudenken und die Gewohnheiten beim Energieverbrauch zu ändern. Steigende Energiepreise führen dazu, dass der Verbraucher immer stärker sparen muss und die Nachfrage immer mehr zurückgeht. Darüber hinaus führt der Anstieg der Energiepreise für private Haushalte zu einer Veränderung des Konsumverhaltens der privaten Haushalte und einem erheblichen Rückgang des Verbrauchs bestimmter Waren. Energie ist jedoch ein grundlegendes Gut, dessen Verbrauch nur in begrenztem Umfang eingespart werden kann. Schon zeichnet sich ab, dass vor allem ärmere Haushalte unter diesem drastischen Preisanstieg leiden.

2.11.

COVID-19 hat die Entwicklung der öffentlichen Finanzen in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets schwer getroffen. Im März 2020 wurde die allgemeine Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts aktiviert, um die COVID-19-Krise zu bewältigen. Darüber hinaus wurde ein befristeter Rahmen für staatliche Beihilfen geschaffen, der es ermöglicht hat, in großem Umfang steuerliche Anreize zu schaffen, um die Unternehmen zu unterstützen, aber auch um die soziale Stabilität zu gewährleisten.

2.12.

Die finanzpolitische Reaktion und der Produktionsrückgang haben insbesondere in einigen bereits hoch verschuldeten Mitgliedstaaten zu einem markanten Anstieg der öffentlichen Verschuldung geführt. Es ist von größter Bedeutung, darauf zu achten, dass die Staatsverschuldung nicht aus dem Ruder läuft, was durch ihren schrittweisen Abbau zu gewährleisten ist. Da die Energiepreise mittelfristig hoch bleiben, müssen die Markt- und Preisbildungsmechanismen zusammen mit anderen fiskalpolitischen Unterstützungsmaßnahmen überprüft werden, um Privathaushalte und Unternehmen zu entlasten, die von dem Anstieg der Energiepreise besonders betroffen sind.

2.13.

Höhere Ausgaben für die Sicherheit und andere wichtige Prioritäten können zu einer vorübergehenden Verschlechterung der weltwirtschaftlichen Position der Länder des Euroraums führen. Die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets sind somit stark gefordert. Sie müssen unter Einsatz aller verfügbaren Instrumente, wirksamer Einzelmaßnahmen und diplomatischer Mittel dafür sorgen, dass alle Bemühungen auf ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum ausgerichtet sind und die Wirtschaft des Euroraums ihren Anteil an der Weltwirtschaft behaupten kann.

2.14.

In jüngster Zeit ist der Wechselkurs des Euro infolge ungünstiger geopolitischer Entwicklungen seit Mai 2021 gegenüber dem US-Dollar stark eingebrochen. Der Wertverfall des Euro, der zweitgrößten Reservewährung, ist in erster Linie auf die unterschiedliche Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und des Federal Reserve Systems (FED) zurückzuführen.

2.15.

Auf der Grundlage der vorstehenden Analysen legte die Europäische Kommission im Juli 2022 ihre Wirtschaftsprognosen vor, die hauptsächlich von den Entwicklungen in der Ukraine bestimmt werden. Darin geht die Kommission davon aus, dass das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr in den EU-Mitgliedstaaten 2,7 % und im Euroraum 2,6 % betragen und im nächsten Jahr auf 1,5 % bzw. 1,4 % sinken wird. Die durchschnittliche Inflationsrate wird in diesem Jahr sowohl in der EU als auch im Euroraum voraussichtlich 7,6 % erreichen. Im nächsten Jahr dürfte sie auf 4,6 % bzw. 4 % sinken.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA betont, dass die kurz-, aber auch die mittelfristige wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern des Euro-Währungsgebiets durch die Folgen der russischen Invasion in der Ukraine erheblich beeinträchtigt wird und werden kann. Diese ungünstigen Entwicklungen haben systemischen Charakter und sind in der Nachkriegsgeschichte beispiellos. Demnach sind sie kaum mit den anderen Schocks zu vergleichen, die in der Vergangenheit die wirtschaftliche Entwicklung im Euro-Währungsgebiet beeinträchtigt haben. Unbestreitbar herrscht ein sehr hohes Maß an Unsicherheit, was einen Ausblick auf die künftige Entwicklung erschwert.

3.2.

Der EWSA betont, dass die Entwicklung der grundlegenden makroökonomischen und mikroökonomischen Indikatoren in den Ländern des Euroraums nicht ermutigend ist. Die Unsicherheit ist extrem groß. Insbesondere gibt es eine Reihe unbekannter Variablen, die die bereits extrem hohe geopolitische und wirtschaftliche Unsicherheit zusätzlich vergrößern können.

3.3.

Der EWSA sieht in der hohen Inflationsrate ein erhebliches Risiko für die weitere sozioökonomische Entwicklung in den Ländern des Euro-Währungsgebiets. Das derzeitige Inflationsrisiko hängt hauptsächlich mit dem Angebot und der Unterbrechung der Wertschöpfungsketten zusammen. Die Entwicklung in der Ukraine mit ihrem Rückstoßeffekt insbesondere auf die Energieversorgung und die Rohstoffpreise, hat zusammen mit den Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie zu einer Verschiebung der Entwicklungen auf der Angebotsseite geführt.

3.4.

Die derzeitige Inflation macht es erforderlich, das Instrumentarium der EZB umfassend zu nutzen, um durch eine akkommodierende Geldpolitik Preisstabilität zu erzielen. Die EZB sollte bei der Normalisierung ihrer Geldpolitik behutsam vorgehen. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass die Geldpolitik weiterhin die Wirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets unterstützen wird.

3.5.

Der EWSA betont, dass das Inflationsrisiko in den Mitgliedstaaten nicht unter Kontrolle ist und dass nur teilweise versucht wird, sie zu beseitigen. Angesichts der anhaltend ungünstigen Entwicklung der Inflationsraten und ihrer Auswirkungen auf die Privathaushalte und die Wettbewerbsfähigkeit fordert der EWSA die zuständigen und verantwortlichen Institutionen auf, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen und umzusetzen, um den negativen Preisschock abzufedern. Gleichzeitig würde dies Turbulenzen an den Märkten für Staatsanleihen im Euro-Währungsgebiet verhindern. (1)

3.6.

Der EWSA begrüßt die Veröffentlichung des REPowerEU-Plans. Er geht davon aus, dass dieses Programm zu einer schrittweisen Verringerung der Abhängigkeit von Energielieferungen aus der Russischen Föderation beitragen wird. Darüber hinaus bietet es die Möglichkeit, die größten Kostenrisiken, die die Preisstabilität in den Euro-Ländern erheblich gefährden, schrittweise zu beseitigen.

3.7.

Der EWSA erwartet von REPowerEU zwei weitere wichtige Vorteile: i) REPowerEU könnte eine Investitionsdynamik in ausgewählten Sektoren und Branchen auslösen und damit eine Idee verwirklichen, die bereits vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine entwickelt wurde. Der Grundgedanke besteht darin, dass dieses Jahr das Investitionsvolumen erheblich zunehmen wird, insbesondere in ausgewählten Bereichen von öffentlichem Interesse; ii) REPowerEU sollte auch einen wesentlichen Beitrag zu den wichtigsten strukturellen Veränderungen der gegenwärtigen Generation leisten und damit das grundlegende Ziel erfüllen, die Volkswirtschaften des Euroraums wettbewerbsfähiger, nachhaltiger und widerstandsfähiger zu gestalten, um die Kernziele des Grünen Deals zu erreichen.

3.8.

Der EWSA verfolgt aufmerksam, wie die Investitionen im Vergleich zu den ursprünglichen Investitionsplänen erheblich umgeschichtet werden. In den Bereichen, die mit der Umstrukturierung des Energiesektors und der Umsetzung der Prioritäten des Grünen Deals für die EU-Länder zusammenhängen, ist mit einem geringeren Investitionswachstum zu rechnen. Es ist unklar, welche Perspektiven Sektoren und Branchen haben werden, die nicht unmittelbar damit zusammenhängen. Vor diesem Hintergrund wird es wichtig sein zu sehen, wie sich kleine und mittlere Unternehmen in traditionellen Wirtschaftszweigen, die nicht strategisch notwendig sind oder Spitzenleistungen anstreben, entwickeln werden, um die potenziellen Chancen, die die einzelnen Regionen ihnen bieten, zu nutzen.

3.9.

Der EWSA spricht sich nachdrücklich dafür aus, nicht nur den derzeit kritischen Prioritäten, sondern auch der Gewährleistung einer ausgewogenen Innovationsleistung in den Regionen, im Euro-Währungsgebiet und in der EU insgesamt angemessene Aufmerksamkeit zu widmen. Eine Unterschätzung dieses Ziels kann dazu führen, dass die Regionen des Euro-Währungsgebiets und der Mitgliedstaaten der Europäischen Union weiter auseinanderdriften.

3.10.

Der EWSA unterstützt mögliche Konvergenzimpulse aus den ehemals weniger entwickelten Mitgliedstaaten des Euroraums, die langfristig ein schnelleres Wirtschaftswachstum als der Durchschnitt des Euro-Währungsgebiets erzielen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass COVID-19 und der derzeitige Krieg in der Ukraine zu einer Vertiefung der Divergenz in den Staaten des Euro-Währungsgebiets führen können, was nicht zur Verwirklichung der grundlegenden, im Vertrag von Maastricht dargelegten Zielen beiträgt.

3.11.

Der EWSA begrüßt und unterstützt die laufende Debatte über die Gestaltung eines neuen institutionellen Rahmens für die öffentlichen Finanzen in den EU-Mitgliedstaaten. Er weist darauf hin, dass die Aktualisierung der Haushaltsregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts vor allem darauf abzielt, die finanzielle Tragbarkeit mit dem eindeutig bestehenden Bedarf an öffentlichen Investitionen in Einklang zu bringen.

3.12.

Der EWSA spricht sich für eine Koordinierung und Verknüpfung der verschiedenen Arten von Maßnahmen aus, mit denen die Tragbarkeit der Staatsverschuldung sichergestellt werden soll. Darüber hinaus müssen in begründeten Fällen Haushaltsstrategien, die mit einem mittelfristigen, auf Erholung und Resilienz ausgerichteten Ansatz für die Haushaltskorrektur im Einklang stehen, unterstützt werden. Er geht davon aus, dass realistische und praktische Lösungen gefunden werden, die zur Annahme einer Plattform für die öffentlichen Finanzen führen und unverzüglich umgesetzt werden.

3.13.

Da die öffentlichen Haushalte aufgrund der COVID-19-Krise unter Druck stehen, müssen weitere gezielte und wirksame Ausgleichsmaßnahmen ergriffen werden, um private Haushalte und Unternehmen bei der Bewältigung der Energiekrise zu unterstützen. Der EWSA versteht und respektiert die Gründe zur Deckung des aktuellen Bedarfs in sicherheitspolitischer, humanitärer und sozialer Hinsicht sowie die Folgen, die dies für die nationalen Haushalte des Euro-Währungsgebiets hat. Der EWSA begrüßt die Entscheidung der Kommission, die Aktivierung der Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu verlängern, und fordert sie auf, so bald wie möglich konkrete Vorschläge für eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts vorzulegen.

3.14.

Der EWSA hat wiederholt darauf hingewiesen, dass, wie schon in der Vergangenheit, in der Gegenwart erst recht größere Anstrengungen erforderlich sind, um die internationale Position des Euroraums zu stärken. Derzeit stehen die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets aufgrund des allgemeinen Sicherheitsrisikos und struktureller Veränderungen vor neuen Herausforderungen. Darüber hinaus können wirtschaftliche und politische Entwicklungen die Position des Euro im internationalen Währungs- und Zahlungssystem beeinflussen. Die Beendigung der russischen Aggression und des Krieges in der Ukraine sowie die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine können zur Erholung der Weltwirtschaft, aber auch zu einer weltwirtschaftlich stärkeren Stellung des Euroraums beitragen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA ist überzeugt, dass bei der Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität auf die richtigen Prioritäten zu setzen ist. Nur so kann vor dem Hintergrund der derzeitigen großen geopolitischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten mit hohem Inflationsrisiko und steigender öffentlichen Verschuldung die relative sozioökonomische Stabilität in den Mitgliedstaaten des Euroraums gewährleistet werden. Dieses Instrument ermöglicht den EU-Mitgliedstaaten die gemeinsame Emission von Anleihen auf den Kapitalmärkten und hat sich bislang als sehr erfolgreich erwiesen. Der EWSA ist daher bezüglich seiner künftigen praktischen Anwendung sehr zuversichtlich. In diesem Zusammenhang hält der EWSA die Nutzung der Aufbau- und Resilienzfazilität über 2026 hinaus für ratsam.

4.2.

Der EWSA betont, dass die anhaltende Invasion Russlands in der Ukraine zu einer unerwünschten Rezession oder sogar zu einer Stagflation in einigen Euroländern führen kann. Diese negativen Entwicklungen müssen daher unbedingt aufmerksam beobachtet werden, und bereits im Vorfeld sind Maßnahmen zu ergreifen, um diesem Trend entgegenzuwirken.

4.3.

Der EWSA stellt fest, dass die Arbeitslosenzahlen und die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt relativ stabil sind. Allerdings weist er darauf hin, dass in der Entwicklung der Arbeitslosenquoten in den einzelnen Ländern im Vergleich zum Zeitraum vor 2008 relativ große Unterschiede bestehen. In einigen Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets herrscht aufgrund des Mangels an qualifizierten Arbeitskräften eine strukturelle Arbeitslosigkeit. Gerade der vergleichsweise große Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften lässt ausgewählten Sektoren und Branchen kaum Spielraum zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. In diesem Zusammenhang bemängelt der EWSA, dass im Euro-Währungsgebiet und in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Möglichkeiten für Um- und Weiterqualifizierung nur sehr unzureichend ausgeschöpft werden.

4.4.

Der EWSA nimmt mit großer Besorgnis die negative Entwicklung in Bezug auf Ungleichheit und zunehmende Armut in den Mitgliedstaaten des Euroraums und in der gesamten EU zur Kenntnis. Ungleichheiten im weitesten Sinne sind zu einem großen Teil auch eine Spätfolge der globalen Finanzkrise. COVID-19 hat diesen negativen Trend weiter verschärft. Von den steigenden Energiepreisen sind derzeit die am stärksten gefährdeten Gruppen sowie die privaten Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen betroffen. Aus diesem Grund fordert der EWSA alle zuständigen Institutionen auf, ein gut funktionierendes soziales Sicherheitsnetz aufzuspannen, das allen Menschen Schutz bietet.

4.5.

Der EWSA weist erneut auf das mögliche und unvorhersehbare Auftreten weiterer Mutationen, Pandemien und Epidemien hin. Die Entstehung und rasche Ausbreitung von COVID-19 haben deutlich gemacht, dass das Gesundheitswesen nicht auf die Pandemie vorbereitet war. Daher ist nicht nur eine eingehendere Vorbereitung, sondern vor allem auch ein verantwortungsbewussteres Agieren aller zuständigen Stellen und Einrichtungen in diesem Bereich mehr als notwendig. Mit Blick auf die Entwicklungen der letzten zwei Jahre stellt der EWSA fest, dass sich Investitionen in Gesundheit und Prävention besonders auszahlen.

4.6.

Der EWSA betont, dass die Unterstützung für die Bereitstellung zusätzlicher Liquidität seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie die richtige Entscheidung war. Weil bestimmte Betriebe ihre Tätigkeit einstellen mussten, wird es nun jedoch notwendig sein, für einige Unternehmen einen Insolvenzschutzschirm aufzuspannen. Zusätzliche Liquidität wird auch zur Ankurbelung des Wachstums nach der Pandemie benötigt. Der EWSA drängt darauf, die Schaffung der Kapitalmarktunion und der Bankenunion voranzutreiben.

4.7.

Der EWSA blickt mit Sorge auf die derzeitigen Verwerfungen in der Weltwirtschaft. Die russische Invasion in der Ukraine hat den Welthandel, den Zahlungsverkehr, die Währungs- und Finanzbeziehungen, den Verkehr, die Wissenschaft und Forschung, die globalen Wertschöpfungsketten und andere Bereiche sehr hart auf die Probe gestellt. Dieser Prozess hat sich sehr negativ auf die sozioökonomische Entwicklung in den Ländern des Euroraums ausgewirkt.

4.8.

Der EWSA stellt fest, dass die derzeitige große wirtschaftliche und geoökonomische Unsicherheit, die hohe Risiken birgt, die bisher größte Gefahr für das europäische Einigungswerk darstellt. Aufgrund der unvorhersehbaren weiteren sozioökonomischen Entwicklung ist es dringend erforderlich, dass die zuständigen Stellen eine Reihe von Maßnahmen ergreifen und umsetzen, um die externen Schocks für die Volkswirtschaften des Euroraums zu verringern und aufzufangen.

Brüssel, den 27. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Der EWSA begrüßt daher die Ankündigung der EZB vom 15. Juni 2022, ein Instrument zur Bekämpfung der Fragmentierung im Euroraum erarbeiten zu wollen.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/50


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Verbesserung der Arbeitskräftemobilität zur Unterstützung der wirtschaftlichen Erholung“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/08)

Berichterstatter:

Philip VON BROCKDORFF

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

29.9.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

101/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hat in mehreren Stellungnahmen auf die Bedeutung der Arbeitskräftemobilität hingewiesen und festgestellt, dass die Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU im Laufe der Jahre zugenommen hat, wenn auch nur mäßig.

1.2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass eine eingehendere Untersuchung erforderlich ist, um herauszufinden, warum die Zahl der mobilen EU-Bürger im erwerbsfähigen Alter — abgesehen von den durch die Pandemie verursachten Einschränkungen — prozentual weniger stark zunimmt als in den Vorjahren. Der EWSA ruft außerdem dazu auf, eine Studie zu erstellen, in der die wirtschaftlichen Kosten der derzeitigen Lage auf dem Arbeitsmarkt ermittelt werden.

1.3.

Der EWSA empfiehlt wirksamere nationale Maßnahmen, wobei ein Schwerpunkt auf aktiven nationalen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, wie z. B. Lohnergänzungsleistungen für Arbeitnehmer aus der EU und Drittstaaten, liegen sollte.

1.4.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, im Rahmen der länderspezifischen Empfehlungen Indikatoren in das Europäische Semester aufzunehmen, um nationale Maßnahmen zu überwachen, mit denen die Mobilität der Arbeitskräfte in irgendeiner Weise eingeschränkt wird.

1.5.

Zudem ruft er die Europäische Kommission auf, die nachteiligen Entwicklungen in Verbindung mit der Arbeitskräftemobilität zu untersuchen, insbesondere die Abwanderung hoch qualifizierter Kräfte aus bestimmten Branchen und Regionen. Zugleich muss die Bekämpfung der Fachkräfteabwanderung mit Maßnahmen zur Förderung der sozialen und wirtschaftlichen Aufwärtskonvergenz einhergehen.

1.6.

Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten ferner, ihre einschlägigen Portale weiter zu verbessern, indem Informationen über die in den nationalen Rechtsvorschriften vorgeschriebenen Mindestarbeitsbedingungen eingestellt werden, und auf diese Weise Missbrauch zu verhindern. Der EWSA fordert ferner weitere Anstrengungen zur Verbesserung der Sprachkenntnisse.

1.7.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, die Mobilität von Personen mit Behinderungen zu erleichtern.

1.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Gleichstellung der Geschlechter ein wichtiger Faktor für die Verbesserung der Arbeitskräftemobilität in der EU ist, wie er auch in seiner diesbezüglichen Stellungnahme (1) dargelegt hat.

1.9.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die Koordinierung der sozialen Sicherheit laufend zu überwachen und gemeinsame Lösungen für neu entstehende Gegebenheiten, wie Telearbeit aus dem Ausland, vorzusehen. Darüber hinaus fordert der EWSA, die Bemühungen um die Einführung einer europäischen Sozialversicherungsnummer zu verstärken, da diese die Möglichkeit bietet, Hindernisse beim Zugang zur sozialen Sicherheit in grenzüberschreitenden Situationen zu überwinden.

1.10.

Der EWSA stellt fest, dass gute Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sowie Aspekte der Lebensqualität wie die Verfügbarkeit guter Schulen und Freizeiteinrichtungen notwendige Voraussetzungen dafür sind, dass sich Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil sichern und qualifizierte Arbeitskräfte anziehen können.

1.11.

Der EWSA stellt überdies fest, dass sich die Möglichkeiten für Telearbeit durch die COVID-19-Pandemie deutlich verbessert haben. Immer mehr Arbeitnehmer haben Interesse, für eine kurze Zeit oder vorübergehend Telearbeit aus dem Ausland zu leisten. Der EWSA sieht den künftigen Verhandlungen der Sozialpartner über eine Richtlinie zu dieser Frage mit Interesse entgegen.

1.12.

Der EWSA fordert ein EU-weites Netz von Informationsstellen (Onlinedienste, aber auch Anlaufstellen vor Ort sowie Telefonauskünfte), um Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei der Bearbeitung von Anfragen in Bereichen wie Bank- und Versicherungsdienstleistungen zu unterstützen.

1.13.

Der EWSA hebt schließlich hervor, dass die laufenden statistischen Untersuchungen zur Arbeitskräftemobilität wichtig sind, um das Missverhältnis von Qualifikationsangebot und -nachfrage auf den Arbeitsmärkten der EU zu überwinden und die Folgen von Entwicklungen wie dem Krieg in der Ukraine sowie die Auswirkungen der Mobilität von Personen im erwerbstätigen Alter innerhalb und zwischen EU-Mitgliedstaaten abzuschätzen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

In einer Zeit großer wirtschaftlicher Unsicherheit, in der die Wirtschaftsprognosen nach unten korrigiert werden und in naher Zukunft mit einer Anhebung der Zinssätze im Euroraum zur Bekämpfung der hohen Inflationsraten zu rechnen ist, könnte die Arbeitskräftemobilität in der EU eine entscheidende Rolle für die wirtschaftliche Erholung und die Wachstumsaussichten in der EU spielen. Es ist allgemein anerkannt, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der freie Dienstleistungsverkehr zum Wirtschaftswachstum und zum Zusammenhalt in der Union beitragen und Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen. Die Wirkung liegt auf der Hand: Durch eine erhöhte Mobilität zur Besetzung freier Stellen verbessert sich die Zuteilung von Arbeitskräfteressourcen, Wirtschaftsleistung und Wohlstand nehmen insbesondere dann zu, wenn faire Arbeitsbedingungen bestehen. Der Arbeitsmarkt der EU beruht auch auf dem Grundsatz der Gleichbehandlung, wie er in Artikel 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankert und in einigen Sekundärrechtsakten präzisiert ist. Insgesamt wird die EU-Wirtschaft von einer stärkeren Arbeitskräftemobilität profitieren. Für einzelne Mitgliedstaaten kann es jedoch sowohl Vorteile als auch Nachteile geben, je nachdem, wie sich die Richtung der Mobilitätsströme langfristig auswirkt. Kurzfristig wäre die Arbeitskräftemobilität vorteilhaft für Entsendeländer, die durch strukturelle Arbeitslosigkeit gekennzeichnet sind. Der Netto-Effekt für aufnehmende Länder würde jedoch u. a. stark von den Arbeitsbedingungen abhängen, die den Arbeitskräften angeboten werden.

2.2.

Der EWSA hat in einigen seiner Stellungnahmen auf die Bedeutung der Arbeitskräftemobilität hingewiesen und festgestellt, dass die Mobilität der Arbeitskräfte innerhalb der EU im Laufe der Jahre (wenn auch nur mäßig) zugenommen hat und prozentual gesehen immer noch hinter der in den USA zurückbleibt. Laut einer Studie der Generaldirektion Regionalpolitik der Europäischen Kommission liegt der Anteil der US-amerikanischen Bevölkerung, der in einen anderen Staat gezogen ist, bei etwa 2,8 % der Gesamtbevölkerung im erwerbsfähigen Alter, in der EU beläuft sich dieser Anteil hingegen auf etwa 1,2 % (2).

2.3.

Der Bevölkerungsstatistik von Eurostat für 2019 zufolge zogen 13 Mio. EU-Bürgerinnen und -Bürger im erwerbsfähigen Alter (20-64) von einem Mitgliedstaat in einen anderen. Die Anzahl der erwerbsfähigen mobilen Personen in der EU ist jedoch prozentual weniger stark gestiegen als in den Vorjahren, und die Pandemie hat nicht zur Erhöhung dieser Zahlen beigetragen.

2.4.

In der Arbeitskräfteerhebung der EU für das Jahr 2019 wird eine Zahl von 11,9 Mio. mobilen EU-Bürgern im erwerbsfähigen Alter (definiert als EU-Bürger, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem Land ihrer Staatsangehörigkeit aufhalten) genannt, von denen 9,9 Mio. mobile Erwerbspersonen waren (definiert als EU-Bürger, die eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat aufnehmen, ohne eine Arbeitserlaubnis zu benötigen). Dies entspricht 4,2 % der gesamten Arbeitskräfte in den damals 28 Mitgliedstaaten. Durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU haben sich die Beschäftigungsmöglichkeiten für EU-Bürgerinnen und -Bürger natürlich verringert, die wichtigsten Zielländer sind nun Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien.

2.5.

Rumänien und Polen sind die wichtigsten Herkunftsländer mobiler Erwerbspersonen, die wichtigsten Wirtschaftszweige für mobile EU-Bürger sind das verarbeitende Gewerbe sowie der Groß- und Einzelhandel. Andere relativ wichtige Branchen sind Bauwesen und Verkehr, Sozialfürsorge und häusliche Dienstleistungen, Tourismus und Landwirtschaft.

2.6.

Die Zahl der Grenzgänger lag in der EU-28 bei 1,5 Mio., auch hier sind die Zahlen durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU gesunken; die wichtigsten Wohnsitzstaaten von Grenzgängern sind Frankreich, Deutschland und Polen, wobei es auch erhebliche Ströme zwischen der Slowakei, Ungarn und Österreich gibt. Der EWSA weist darauf hin, dass es für die Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU je nach individueller Situation eine Vielzahl von Gründen gibt, u. a. Lohnunterschiede zwischen dem Aufnahmeland und dem Wohnsitzland des Grenzgängers. Für die Entscheidung, eine Arbeit im Ausland aufzunehmen, kann eine Kombination verschiedener Gründe wie z. B. eine saisonale Beschäftigung in Sektoren wie Landwirtschaft und Tourismus ausschlaggebend sein. Auch die in jüngster Zeit EU-weit sinkende Kaufkraft kann die Mobilität der Arbeitskräfte beeinträchtigen, vor allem dann, wenn sich die steigenden Preise auch auf die Kosten für Mietwohnungen auswirken.

2.7.

In den letzten Jahren gab es eine stärkere Mobilität unter hoch qualifizierten mobilen Personen — mehr als ein Drittel der mobilen EU-Bürger fällt in diese Kategorie. Der Anteil der gering qualifizierten mobilen Personen ist dagegen im gleichen Maße gesunken wie die Zahl der hoch qualifizierten mobilen Personen gestiegen ist. Die Mobilität Hochqualifizierter trägt wesentlich zur Weiterentwicklung der wissensbasierten Wirtschaft bei. Die wichtigsten EU-Zielländer für hoch qualifizierte mobile Personen sind Deutschland, Spanien, Frankreich, Belgien und Österreich. Hoch qualifizierte mobile Personen arbeiten am häufigsten als Fachkräfte in Wirtschaft, Lehre, Wissenschaft und Technik, wobei Überqualifizierung weitverbreitet zu sein scheint. Schätzungsweise 55 % der hoch qualifizierten mobilen Personen sind Frauen.

2.8.

Den demografischen Prognosen von Eurostat zufolge wird das Durchschnittsalter der EU-Bürgerinnen und -Bürger voraussichtlich steigen. Entscheidend ist auch, dass der Anteil der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter an der Gesamtbevölkerung voraussichtlich abnehmen wird, insbesondere jener der Personen im Alter zwischen 20 und 39 Jahren. Umgekehrt wird es eine große proportionale Zunahme der älteren Altersgruppe geben. Diese demografischen Entwicklungen werden sich in den kommenden Jahren erheblich auf die mögliche Zahl mobiler EU-Bürger auswirken, da die Wahrscheinlichkeit einer Abwanderung zu Beginn des Berufslebens am größten ist und mit dem Alter abnimmt. Dies wird durch die Tatsache bestätigt, dass bei Personen im Alter von 20 bis 29 Jahren und von 30 bis 39 Jahren eine höhere jährliche Abwanderungsrate verzeichnet wird als bei anderen Altersgruppen.

2.9.

Da die Zahl der Personen in jüngeren Altersgruppen auch in den Entsendeländern abnimmt, wird dies voraussichtlich zum Rückgang der Arbeitskräftemobilität in der EU führen. Diese erwartete Abnahme der Mobilitätsströme könnte jedoch durch die Alterung der EU-Bevölkerung und die steigende Nachfrage nach spezialisierten Gesundheits- und Sozialdiensten konterkariert werden, die eine verstärkte Einstellung mobiler Arbeitskräfte erfordert.

2.10.

Dies zeigt, dass die Mobilitätsströme innerhalb der EU weiterhin ein Problem darstellen, das die Versorgung einschränkt und zu einem Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage in den meisten Branchen, insbesondere in der IT-Branche und der High-Tech-Industrie führt. Auch die Pandemie hat nicht zu einer Verbesserung der Lage beigetragen, da die Mobilität in der EU durch Ausgangsbeschränkungen und weitere restriktive Maßnahmen wie Grenzschließungen und Reiseverbote beeinträchtigt wurde. Vor der Pandemie hatte die Arbeitskräftemobilität in ost-westlicher Richtung gegenüber der süd-nördlichen Mobilität überwogen, und diese Tendenz dürfte sich mit dem Zustrom von Flüchtlingen aus der vom Krieg zerstörten Ukraine fortsetzen. Je früher die Mobilität der EU-Bürger auf das Niveau vor der Pandemie zurückkehrt, desto besser. Die Zahl der mobilen Erwerbstätigen ist zwischen 2019 und 2020 um 4 % zurückgegangen (3).

2.11.

Die gegenseitige Anerkennung von Diplomen und Befähigungsnachweisen ist für die Besetzung freier Stellen in Bereichen mit anhaltendem Arbeitskräftemangel und zur Erleichterung der Mobilität von entscheidender Bedeutung. Das System der Anerkennung muss jedoch ausgebaut werden, um reibungslos zu funktionieren und die Arbeitskräftemobilität zu unterstützen. Das Problem stellt sich hauptsächlich bei der gegenseitigen Anerkennung beruflicher Qualifikationen und weniger auf akademischer oder fachlicher Ebene. Daher ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass es einen unterschiedlichen Ansatz bei der gegenseitigen Anerkennung von akademischen und beruflichen Qualifikationen gibt. Es darf auch nicht vergessen werden, dass die EU gemäß Artikel 166 AEUV die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für den Inhalt und die Gestaltung der beruflichen Bildung strikt beachten und gleichzeitig die Maßnahmen der Mitgliedstaaten unterstützen und ergänzen muss.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Der EWSA ist der Ansicht, dass eine eingehendere Untersuchung erforderlich ist, um herauszufinden, warum die Zahl der mobilen EU-Bürger im erwerbsfähigen Alter — abgesehen von den durch die Pandemie verursachten Einschränkungen — prozentual weniger stark zunimmt als in den Vorjahren. Der EWSA fordert ferner, eine Studie durchzuführen, um festzustellen, welche wirtschaftlichen Kosten der derzeitige Zustand des Arbeitsmarkts, der durch eine Fragmentierung zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist, verursacht, d. h. die Kosten eines nicht-einheitlichen EU-Arbeitsmarkts zu ermitteln.

3.2.

Der EWSA empfiehlt wirksamere nationale Maßnahmen wie z. B. Mobilitätsanreize einschließlich zirkulärer Mobilität (durch Investitionen in den Herkunftsländern im Rahmen von Programmen zum Austausch und zum Voneinanderlernen), wobei der Schwerpunkt auf aktiven nationalen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, wie z. B. Lohnergänzungsleistungen für Arbeitnehmer aus der EU und Drittstaaten, liegen sollte. Diesbezüglich vertritt der EWSA die Auffassung, dass die Mobilität zusätzlich gefördert werden könnte, indem Arbeitsuchenden finanzielle Unterstützung angeboten wird, wie die Übernahme der Kosten eines Umzugs, um eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat oder einer anderen Region aufzunehmen. Darüber hinaus bedarf es weiterer Anstrengungen, um bessere Informationen über Arbeitsplätze in anderen EU-Ländern sowie Angebote zur logistischen Unterstützung bei Umzügen in andere Länder — etwa bei der Suche nach einer Unterkunft, einer Schule für die Kinder oder einer Beschäftigung für den/die Partner(in) oder bei der Registrierung für steuerliche Zwecke — bereitzustellen. Der EWSA empfiehlt, KI-Instrumente in einem gemeinsamen EU-weiten Netz zu nutzen, mit dem alle Stellenangebote in den EU-Mitgliedstaaten zentral erfasst werden, um Profile und Stellenanforderungen besser aufeinander abzustimmen. In gleicher Weise sollten gezieltere Anreize geschaffen werden, um arbeitslose Arbeitnehmer zu ermutigen, in Mitgliedstaaten mit einer niedrigen Arbeitslosenquote zu ziehen. Das Fehlen von Fachkräften ist eines der dringlichsten Probleme für europäische Unternehmen, wie dies im SAFE-Bericht (Umfrage über den Zugang von Unternehmen zu Finanzmitteln) der EZB vom 1. Juni 2022 festgestellt wurde.

3.3.

Der EWSA bedauert, dass der Arbeitsmarkt der EU weiterhin zersplittert ist. Die Arbeitskräftemobilität hat unter der bisher verfolgten fragmentarischen Herangehensweise gelitten. Folglich gilt es, eine weitere nicht abgestimmte Vorgehensweise, insbesondere auf nationaler Ebene, zu vermeiden. Da die Gleichbehandlung von ortsansässigen und mobilen Arbeitnehmern sichergestellt sein muss, fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, im Rahmen der länderspezifischen Empfehlungen Indikatoren in das Europäische Semester aufzunehmen, um nationale politische Maßnahmen zu überwachen, mit denen die Mobilität der Arbeitskräfte in irgendeiner Weise eingeschränkt wird.

3.4.

Die Mobilität von Arbeitnehmern und Fachkräften in der EU kann nur dann erhöht werden, wenn die bestehenden Bestimmungen besser durchgesetzt und der Informationszugang sowie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten verbessert werden. Der EWSA ist der Auffassung, dass der Europäischen Kommission in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle zukommt. Der EWSA stellt fest, dass sich einige Mitgliedstaaten gegen weitere Binnenmarktreformen aussprechen könnten, da sie befürchten, dass diese auf kurze Sicht möglicherweise zu Arbeitsplatzverlusten führen. Dies gilt insbesondere für Länder, die sich bereits im Rückstand befinden, sowie für Länder und Wirtschaftszweige mit einer geringen Produktivität. Theoretisch wäre die Arbeitnehmerfreizügigkeit einer Lösung für dieses Problem zuträglich. Aus nationaler Sicht könnte dies jedoch vorübergehend zu einem Verlust an Ressourcen und einer potenziellen Abwanderung von Fachkräften führen. Möglicherweise muss die Europäische Kommission die nachteiligen Entwicklungen in Verbindung mit der Arbeitskräftemobilität untersuchen, insbesondere die Abwanderung hochqualifizierter Kräfte aus bestimmten Bereichen und Regionen. Zugleich muss die Bekämpfung der Fachkräfteabwanderung mit Maßnahmen zur Förderung der sozialen und wirtschaftlichen Aufwärtskonvergenz einhergehen. Der EWSA stellt fest, dass dabei eine Reihe von Variablen eine Rolle spielen könnten, darunter die voraussichtliche Bevölkerungsentwicklung und ihre Auswirkungen auf die Größe und Zusammensetzung der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter in den entsendenden und aufnehmenden Ländern.

3.5.

Bildungs- und Validierungsstandards müssen jederzeit eingehalten werden. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten daher auf, Bürokratie abzubauen und das Grundprinzip der Gleichbehandlung zu wahren. In diesem Zusammenhang werden weitere Verbesserungen bei den Anerkennungsverfahren und den Portalen zur beruflichen Mobilität als notwendig erachtet. Der EWSA nimmt die umfangreichen Verbesserungen beim EURES-Portal zur beruflichen Mobilität, bei der Online-Plattform Europass und beim System der europäischen Klassifizierung für Fähigkeiten/Kompetenzen, Qualifikationen und Berufe (ESCO) zur Kenntnis und fordert die Mitgliedstaaten auf, ihre einschlägigen Portale durch die Aufnahme der im nationalen Recht vorgesehenen Mindestarbeitsbedingungen weiter zu verbessern. Letzteres gilt als besonders wichtig, um Verstöße gegen die Arbeitsbedingungen für mobile Arbeitnehmer in Grenzregionen und für Arbeitnehmer aus Drittstaaten zu verhindern. Der EWSA fordert weitere Anstrengungen zur Verbesserung von Sprachkenntnissen, da ein Fehlen dieser Kenntnisse die Freizügigkeit in der EU erheblich behindert.

3.6.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, die Mobilität von Personen mit Behinderungen zu erleichtern. Wichtig sind hierbei die Annahme einer gemeinsamen europäischen Definition des Behindertenstatus in Übereinstimmung mit dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, und die gegenseitige Anerkennung des Behindertenstatus unter den Mitgliedstaaten.

3.7.

Wie bereits in seiner Stellungnahme SOC/731 dargelegt, ist der EWSA der Auffassung, dass die Gleichstellung der Geschlechter ein wichtiger Faktor für die Verbesserung der Arbeitskräftemobilität in der EU ist. Sie sollte Teil umfassenderer Bemühungen sein, die Standards der Demokratie und der Gleichheit für alle einzuhalten und so die Mobilität der Arbeitskräfte zu erhöhen.

3.8.

Der EWSA empfiehlt, dass die aufnehmenden Mitgliedstaaten Personen, die im Aufnahmestaat arbeiten, zu Beginn ihrer beruflichen Tätigkeit Ausbildungsmaßnahmen, wie beispielsweise Sprachprogramme, und zu einem späteren Zeitpunkt gegebenenfalls Umschulungen anbieten, um dem Arbeitskräftemangel in bestimmten Branchen entgegenzuwirken und den digitalen Wandel und Maßnahmen für eine klimaneutrale Wirtschaft zu unterstützen.

3.9.

Der EWSA stellt ferner fest, dass durch Erasmus+ die Arbeitskräftemobilität in der EU verbessert werden könnte, und verweist auf eine im Jahr 2011 (4) durchgeführte Studie, in der untersucht wird, wie sich ein Studium im Ausland auf die Arbeitsmarktmobilität im späteren Leben auswirkt; dabei wird die Teilnahme an Erasmus als unabhängige Ursache für Schwankungen bezüglich eines Auslandsstudium herangezogen. In der Studie wird festgestellt, dass sich durch ein Auslandsstudium die Wahrscheinlichkeit, nach dem Erwerb einer akademischen Qualifikation im Ausland zu arbeiten, deutlich erhöht. Bei Hochschulabsolventen, die im Ausland studiert haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie nach ihrem Abschluss im Ausland arbeiten, um 15 Prozentpunkte höher.

3.10.

Der EWSA begrüßt die verbesserte Koordinierung der sozialen Sicherheit in der EU, stellt jedoch mit Besorgnis fest, dass für mobile Arbeitnehmer, und insbesondere grenzüberschreitend erwerbstätige Personen und Grenzgänger, weiterhin Probleme beim Zugang zu Sozialschutzsystemen bestehen. Der EWSA fordert die Europäische Kommission daher auf, die Koordinierung der sozialen Sicherheit laufend zu überwachen und gemeinsame Lösungen für neu entstehende Gegebenheiten, wie Telearbeit aus dem Ausland, vorzusehen. Die Wichtigkeit eines abgestimmten Vorgehens auf Ebene der Union kann nicht genug betont werden. Die Mitgliedstaaten müssen die sozialen Rechte mobiler Arbeitnehmer zu jedem Zeitpunkt, auch in Krisensituationen, sicherstellen. Der EWSA räumt zwar ein, dass es in der EU Unterschiede bei den Rentensystemen gibt, fordert jedoch auch verstärkte Anstrengungen zur besseren Koordinierung und Durchsetzung der Rentenansprüche mobiler Arbeitnehmer in der EU, etwa durch gezielte länderspezifische Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters. Darüber hinaus fordert der EWSA, die Bemühungen um die Einführung einer europäischen Sozialversicherungsnummer zu verstärken, da diese die Möglichkeit bietet, Hindernisse beim Zugang zur sozialen Sicherheit in grenzüberschreitenden Situationen zu überwinden.

3.10.1.

Es sei darauf hingewiesen, dass das europaweite private Altersvorsorgeprodukt (PEPP) (5) für Selbstständige und mobile Arbeitnehmer, die während ihres gesamten Arbeitslebens in verschiedenen Ländern tätig sind, besonders attraktiv sein dürfte. Die Möglichkeit, den Anbieter von PEPP grenzüberschreitend zu wechseln, wird zweifellos zur Arbeitskräftemobilität beitragen, auch wenn nicht klar ist, in welchem Ausmaß dies geschehen wird, da noch keine PEPP verfügbar sind.

3.10.2.

Das PEPP-Konzept wurde bei seiner Einführung vom EWSA als entscheidender Schritt zur Ermutigung der EU-Bürger begrüßt, angemessene Vorkehrungen für ihren Ruhestand zu treffen, und als wesentlichen Baustein der Kapitalmarktunion. Da jedoch noch keine PEPP angeboten werden, hält der EWSA es für notwendig, im Rahmen des Aktionsplans für die Kapitalmarktunion (6) im Zusammenhang mit Maßnahme 9 zusätzliche Anstrengungen zu unternehmen, um die Teilnahme an betrieblichen Altersversorgungssystemen zu fördern.

3.11.

Der EWSA stellt fest, dass sich die Möglichkeiten für Telearbeit durch die COVID-19-Pandemie deutlich verbessert haben (7). Immer mehr Arbeitnehmer haben Interesse, für eine kurze Zeit oder vorübergehend Telearbeit aus dem Ausland zu leisten. Der EWSA sieht den anstehenden Verhandlungen der Sozialpartner über die Überarbeitung und Aktualisierung der autonomen Vereinbarung zur Telearbeit aus dem Jahr 2002 erwartungsvoll entgegen, die in Form einer rechtsverbindlichen, mittels einer Richtlinie umzusetzenden Vereinbarung zur Annahme vorgelegt werden soll.

3.12.

Der EWSA stellt fest, dass gute Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sowie Aspekte der Lebensqualität wie die Verfügbarkeit guter Schulen sowie hochwertiger und nachhaltiger Einrichtungen notwendige Voraussetzungen dafür sind, dass sich Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil sichern und qualifizierte Arbeitskräfte anziehen können. Der EWSA betont zudem, wie wichtig laufende Investitionen in formale und informelle Ausbildung und lebenslanges Lernen sind, um den Übergang zu einer digitalen und CO2-freien Wirtschaft zu unterstützen. In einem dynamischen und sich rasch wandelnden Umfeld ist es von entscheidender Bedeutung, sich schnell und effizient an die sich wandelnden Bedürfnisse des Arbeitsmarktes anzupassen, wobei auch den Auswirkungen des Arbeitskräftemangels auf die vorhandenen Arbeitskräfte Rechnung getragen werden muss. Bedeutsam ist hier die Rahmenvereinbarung der europäischen Sozialpartner über die Digitalisierung, in der es heißt, dass sich beide Seiten zu Weiterqualifizierung und Umschulung verpflichten, um den digitalen Herausforderungen von Unternehmen gerecht zu werden.

3.13.

Der EWSA hebt die Notwendigkeit der Digitalisierung von Verfahren für die Arbeitskräftemobilität und die Entsendung von Arbeitnehmern hervor, um den Informationsaustausch zwischen nationalen Behörden zu verbessern und unverhältnismäßige Hindernisse zu beseitigen. Dies wird dazu beitragen, die Bestimmungen zu überwachen und korrekt durchzusetzen. Der EWSA befürwortet den in der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 20. Mai 2021„Auswirkungen der EU-Vorschriften auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit und den freien Dienstleistungsverkehr: Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU als Instrument zur Abstimmung von Anforderungen und Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt“ (2020/2007(INI)) (8) vorgelegten Vorschlag, eine zentrale, sowohl digital als auch physisch bei der Europäischen Arbeitsbehörde (ELA) anzusiedelnde Informationsstelle zu geltenden Unionsvorschriften für Arbeitnehmer und künftige Arbeitgeber einzurichten. Gemäß Artikel 5 der ELA-Verordnung verbessert die ELA die Verfügbarkeit, Qualität und Zugänglichkeit von Informationen über die Arbeitskräftemobilität, unter anderem mittels einer zentralen unionsweiten Website, die als einheitliches Zugangstor zu Informationsquellen und Dienstleistungen auf Unionsebene und nationaler Ebene in allen Amtssprachen der Union dient. Ferner sollte die ELA die Mitgliedstaaten bei der Aktualisierung ihrer nationalen Websites unterstützen.

3.14.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten daher auf, öffentliche Dienstleistungen, insbesondere die einschlägigen Dienstleistungen der sozialen Sicherheit, zu digitalisieren, um die Mobilität der europäischen Arbeitskräfte in der EU zu erleichtern und gleichzeitig die Übertragbarkeit von Rechten und die Einhaltung von Verpflichtungen im Hinblick auf die Mobilität von Arbeitnehmern und Fachkräften sicherzustellen.

3.15.

Der EWSA fordert darüber hinaus ein EU-weites Netz von Informationsstellen (Onlinedienste, aber auch Anlaufstellen vor Ort sowie Telefonauskünfte), um Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei der Bearbeitung von Anfragen in Bereichen wie Bank- und Versicherungsdienstleistungen zu unterstützen.

3.16.

Der EWSA hebt hervor, dass die laufenden statistischen Untersuchungen zur Arbeitskräftemobilität wichtig sind, um das Missverhältnis von Qualifikationsangebot und -nachfrage auf den Arbeitsmärkten der EU zu überwinden und die Folgen von Entwicklungen wie dem Krieg in der Ukraine sowie die Auswirkungen der Mobilität von Personen im erwerbstätigen Alter innerhalb und zwischen EU-Mitgliedstaaten abzuschätzen. Der EWSA erkennt an, dass eine Anpassung von Angebot und Nachfrage auf europäischer Ebene deutlich schwieriger als auf nationaler oder regionaler Ebene ist. Dennoch ist er der Ansicht, dass die EURES-Berater bei der sachkundigen Unterstützung mobiler Arbeitnehmer eine entscheidende Rolle spielen.

3.17.

Wichtig sind zudem Forschungsarbeiten zur Mobilität von Arbeitnehmern aus Drittstaaten und deren Arbeitsbedingungen. Der EWSA ist besorgt über das Bestehen prekärer Arbeitsbedingungen für Drittstaatsangehörige in Mitgliedstaaten und fordert eine stärkere Durchsetzung der Bestimmungen. Er stellt ferner fest, dass die Arbeitskräftemobilität aus EU-Mitgliedstaaten nicht ausreichen wird, um den Fachkräftemangel zu decken. Die Arbeitsmigration aus Drittstaaten muss ebenfalls erleichtert und verbessert werden. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA das jüngste Paket zur Migrationspolitik, bekräftigt jedoch seine Auffassung, dass wirksame Maßnahmen ergriffen werden müssen, um arbeitslosen Unionsbürgerinnen und -bürgern den Eintritt in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 443 vom 22.11.2022, S. 63.

(2)  https://epc2010.princeton.edu/papers/100976

(3)  Jahresbericht 2021 zur Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU.

(4)  Parey, Waldinger: Studying Abroad and the Effect on International Labour Market Mobility: Evidence from the Introduction of Erasmus, 2011.

(5)  EWSA-Stellungnahme „Europaweites privates Altersvorsorgeprodukt“ (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 139).

(6)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum Thema Eine Kapitalmarktunion für die Menschen und Unternehmen — neuer Aktionsplan (ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 20).

(7)  ABl. C 220 vom 9.6.2021, S. 13, ABl. C 220 vom 9.6.2021, S. 106.

(8)  ABl. C 15 vom 12.1.2022, S. 137.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/56


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Förderung der Gleichstellung in der EU“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/09)

Berichterstatterin:

Ozlem YILDIRIM

Ko-Berichterstatter:

Cristian PÎRVULESCU

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 GO

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

29.9.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

140/13/31

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) verweist auf die Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in der es wie folgt heißt: „[Die Union] gründet sich auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“. Des Weiteren hebt er die Bedeutung von Artikel 20 der Charta hervor, in dem der Grundsatz der Gleichheit aller Personen vor dem Gesetz verankert ist.

1.2.

Darüber hinaus weist der EWSA darauf hin, dass durch die Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes nicht nur Diskriminierung verboten, sondern zugleich eine kohärente Anwendung der Rechtsnorm gefördert wird.

1.3.

Der EWSA fordert den Rat, das Parlament und die Kommission nachdrücklich auf, den Schutz vor Diskriminierung beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen weiterzuentwickeln, insbesondere durch die Annahme des Vorschlags für eine Richtlinie zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung (1).

1.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass es eine solide Grundlage in Form der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gibt und die Instrumente zum Schutz der Grundrechte in der gesamten Union einheitlich weiterentwickelt werden müssen. Darüber hinaus ist es von entscheidender Bedeutung, sämtliche Interaktionen, Umgebungen und Situationen, in denen es zu Diskriminierung kommen kann, zu berücksichtigen. Der unterschiedliche rechtliche Schutz führt zu einer inakzeptablen Hierarchisierung der einzelnen Rechte und lässt ganze Kategorien von Personen ungeschützt.

1.5.

Das derzeitige europäische Schutzsystem stützt sich in erster Linie darauf, dass Opfer ihre Rechte auf individueller Basis einklagen. Aus mehreren Studien geht jedoch hervor, dass Anzeigen und Verfahren der strukturellen, intersektionellen und systemischen Dimension der Ungleichheiten nicht gerecht werden und Opfer kaum — statistisch gesehen nur im Ausnahmefall und nur als letztes Mittel — rechtliche Schritte ergreifen (2).

1.6.

Der EWSA betont, dass die durch die sozialen Strukturen verursachten vielschichtigen Ungleichheiten und Diskriminierungen nur durch eine kohärente und komplexe Politik, konkrete Mittel und eine dauerhafte Mobilisierung abgebaut werden können. Sensibilisierung, Sichtbarkeit und Aufklärung sind wichtige Hebel, die in allen Teilen der Gesellschaft eingesetzt werden müssen.

1.7.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Förderung der Gleichstellung und der Schutz der Grundrechte in ein umfassenderes soziales Konzept eingebettet werden müssen, das zahlreichere und stärkere Instrumente zur Unterstützung von Einzelpersonen sowie öffentlichen und privaten Akteuren durch die Mitgliedstaaten und die EU-Organe vorsieht.

1.8.

Der EWSA ist der Ansicht, dass sich die EU aktiv dafür einsetzen muss, dass Chancengleichheit als allgemeiner Grundsatz der Gleichstellung ebenso wie diesbezügliche positive Verpflichtungen gefördert werden, und dass die EU-Organe zu diesem Zweck mit der Erarbeitung der nächsten Generation an Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung in Europa beginnen müssen.

1.9.

Der EWSA erkennt zwar an, dass technologische Entwicklungen für viele Bürgerinnen und Bürger den Zugang zu ihren Rechten erleichtern, weist jedoch darauf hin, dass sie de facto zu neuen Ungleichheiten führen können, sodass weiterer Handlungsbedarf besteht, um die Überwachung und Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu gewährleisten.

1.10.

Nach Ansicht des EWSA sollte die EU Normen erlassen, die Sammelklagen in den Mitgliedstaaten erleichtern und den Zugang zu gerichtlichen Rechtsbehelfen sowie deren Wirksamkeit gegen Diskriminierungen und zum Schutz der Gleichbehandlung verbessern, damit die Last von Rechtsstreitigkeiten nicht mehr auf Einzelpersonen ruht, ein den angeprangerten Praktiken entsprechender, wirkungsvoller Rechtsbehelf geschaffen wird und der Rechtsrahmen als wirksame Abschreckung zur Eindämmung von Diskriminierung dient.

1.11.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU, die sich auf ihre Werte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Nichtdiskriminierung aufgrund politischer Überzeugungen beruft, effektiv gewährleisten muss, dass die Behörden der Mitgliedstaaten für die Sicherheit, die Gleichbehandlung und den Schutz der politischen, gewerkschaftlichen und gemeinnützigen Akteure sorgen.

1.12.

Ebenfalls verbessert werden muss die Fähigkeit aller zivilgesellschaftlichen Akteure und insbesondere der Menschenrechtsorganisationen, die bestehenden Rechtsinstrumente einzusetzen und mit öffentlichen Institutionen zusammenzuarbeiten.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der EWSA verweist auf die Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in der es wie folgt heißt: „[Die Union] gründet sich auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“. Des Weiteren hebt er die Bedeutung von Artikel 20 der Charta hervor, in dem der Grundsatz der Gleichheit aller Personen vor dem Gesetz verankert ist.

2.2.

Darüber hinaus weist der EWSA darauf hin, dass durch die Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes nicht nur Diskriminierung verboten, sondern zugleich eine kohärente Anwendung der Rechtsnorm gefördert wird.

2.3.

Heute werden die vielfältigen Formen der Ungleichheit (insbesondere geschlechtsspezifische, ethnische, soziale und generationenbezogene Ungleichheiten usw.) und ihre intersektionelle Dimension von der Europäischen Union anerkannt.

2.4.

Mehr als 20 Jahre nach der Verabschiedung des Vertrags von Amsterdam zeigen alle europäischen und nationalen Indikatoren, dass es nach wie vor zu Diskriminierung aus Gründen der ethnischen Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, der sexuellen Ausrichtung, der Überzeugungen und Weltanschauungen, einer Behinderung und des Alters sowie in Bezug auf Beschäftigung und beim Zugang zu Gütern, zur Bildung sowie zu öffentlichen Dienstleistungen und zum Sozialschutz kommt.

2.5.

Dieses Fortdauern von Diskriminierung ist vor allem auf komplexe — häufig kumulierte — Prozesse zurückzuführen und Ergebnis integrierter Prozesse sowie von Systemen und Normen, die direkte oder indirekte Formen der Diskriminierung erzeugen und perpetuieren. Die Verflechtung der Ursachen von Ungleichheiten führt somit dazu, dass diese systemisch sind und die Förderung der Gleichstellung tatsächlich ausbremsen (3).

2.6.

Darüber hinaus stellt der EWSA durch die Rückmeldungen seiner Mitglieder, aber auch im Rahmen seiner direkt in den Mitgliedstaaten durchgeführten Tätigkeiten fest, dass sich das allgemeine soziale Klima verschlechtert hat und diskriminierende Verhaltensweisen gegenüber schutzbedürftigen Personen immer mehr zunehmen. Unter diesem Gesichtspunkt ist ein rasches und konzertiertes Vorgehen auf nationaler und europäischer Ebene ganz klar erforderlich.

2.7.

Im Übrigen konstatieren nach fast zwei Jahren der COVID-19-Krise mehrere Organisationen der Vereinten Nationen, darunter die Internationale Arbeitsorganisation (4), beunruhigende Anzeichen für eine Verschärfung der sozialen und territorialen Ungleichheiten. Die COVID-19-Krise hat die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten verschärft und die europäischen Unternehmen erheblich in Mitleidenschaft gezogen, indem sie ihre Fähigkeit zur Schaffung und zum Erhalt von Arbeitsplätzen beeinträchtigt hat.

2.8.

Folglich sind arme oder prekäre soziale Gruppen zwangsläufig anfälliger für Diskriminierungen, die zu anderen Faktoren der Schutzbedürftigkeit hinzutreten. Der EWSA unterstreicht, dass der spezifische Charakter dieser Diskriminierungen angegangen und eine wirksame Antidiskriminierungspolitik für wirtschaftlich und sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen in der EU entwickelt werden muss.

2.9.

Der EWSA betont, dass die durch die sozialen Strukturen verursachten vielschichtigen Ungleichheiten und Diskriminierungen nur durch eine wirksame Politik, konkrete Mittel und eine dauerhafte Mobilisierung abgebaut werden können. Es bedarf einer stärkeren und deutlicheren Unterstützung der nationalen Gleichstellungsstellen und Menschenrechtsorganisationen, insbesondere was die Verbesserung ihrer Unabhängigkeit sowie den Ausbau ihrer personellen und finanziellen Ausstattung angeht. Sensibilisierung, Sichtbarkeit und Aufklärung sind wichtige Hebel, die in allen Teilen der Gesellschaft und der öffentlichen Maßnahmen eingesetzt werden müssen.

2.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Förderung der Gleichstellung und der Schutz der Grundrechte in ein umfassenderes soziales Konzept eingebettet werden müssen, das zahlreichere und stärkere Instrumente zur Unterstützung von Einzelpersonen sowie öffentlichen und privaten Akteuren durch die Mitgliedstaaten und die EU-Organe vorsieht.

2.11.

Der EWSA bekräftigt seine uneingeschränkte Unterstützung für den neuen Aktionsplan zur Europäischen Säule sozialer Rechte und ist der Auffassung, dass es zahlreiche Elemente gibt, um die Gleichstellung zu fördern, die Grundrechte zu schützen und Diskriminierung zu bekämpfen (5). Eine stärkere Fokussierung auf ihre Umsetzung ist für die Erreichung ihrer Ziele von entscheidender Bedeutung.

2.12.

Im Einklang mit seinen früheren Stellungnahmen (6) erkennt der EWSA die Bemühungen der EU in den Bereichen Gleichstellung von Frauen und Männern, Schutz gegen Diskriminierung aus Gründen der ethnischen Herkunft, der Rasse oder des Alters, der Religion, der Anschauung oder des Glaubens, des Schutzes der Rechte von LGBTQIA+-Personen, der Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie der Integration von Roma und des Schutzes der Rechte von Migrantinnen und Migranten an.

2.13.

Wie der EWSA bereits dargelegt hat, verfügt die Charta über ein Potenzial, das die Menschenrechts- und die zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie die Sozialpartner nicht voll ausschöpfen. Es sind Verbesserungen erforderlich, um ihre Wirkung in Bezug auf den Schutz, die Prävention, die Förderung, die Umsetzung und die Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes zu stärken (7).

2.14.

Das derzeitige europäische Schutzsystem stützt sich in erster Linie darauf, dass Opfer ihre Rechte auf individueller Basis einklagen. Aus mehreren Studien geht jedoch hervor, dass Anzeigen und Verfahren der strukturellen, intersektionellen und systemischen Dimension der Ungleichheiten nicht gerecht werden und Opfer kaum — statistisch gesehen nur im Ausnahmefall und nur als letztes Mittel — rechtliche Schritte ergreifen (8).

2.15.

Im Bereich der Beschäftigung beschränkt sich die Bekämpfung der Diskriminierung derzeit ausschließlich auf Situationen, in denen die in Artikel 19 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) genannten Kriterien zum Tragen kommen (Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse oder ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung).

2.16.

Darüber hinaus beschränkt sich der durch das Unionsrecht hinsichtlich des Zugangs zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen gewährleistete Schutz auf die Kriterien der Rasse bzw. ethnischen Herkunft sowie der Gleichstellung von Männern und Frauen. Keine andere Form des Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz wird als solche behandelt, und der Schutz vor Diskriminierungen ist je nach Kriterium unterschiedlich.

2.17.

Heute gestaltet sich der Schutz vor Diskriminierung innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz der variablen Geometrie. So gewähren einige in Bezug auf Güter und Dienstleistungen Schutz vor allen Formen der Diskriminierung nach Maßgabe von Artikel 19, während andere Mitgliedstaaten einen über die Kriterien dieses Artikels hinausgehenden Schutz sicherzustellen. Daher sind der Schutz vor Diskriminierung und damit die Gleichstellung in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich.

2.18.

Angesichts dieser Tatsache muss festgelegt werden, welche weiteren Schritte notwendig sind, um die derzeitigen Grenzen hinsichtlich der Umsetzung des Systems für einen wirksamen Schutz der Gleichstellung in der EU im Sinne der Inklusion zu überwinden.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.   Förderung des allgemeinen Grundsatzes der Gleichheit in den Mitgliedstaaten

3.1.1.

Mit Blick auf die derzeitige Lage in Europa erscheint die Wahrung des Gleichheitsgrundsatzes als ein ehrgeiziges Ziel, das nach wie vor erheblichen Unwägbarkeiten unterliegt. So weist die Kommission selbst beispielsweise darauf hin, dass der gleichberechtigte Zugang zur Gesundheitsversorgung während der COVID-19-Krise eine große Herausforderung in Europa war (9).

3.1.2.

Während heute einige europäische Länder den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in ihrem jeweiligen Rechtsrahmen umsetzen, indem sie ein Recht auf Gleichbehandlung in der Zivilgesellschaft, in den Wirtschaftsbeziehungen und in der Beziehung zum Staat vorsehen, ahnden andere Länder nur jene Diskriminierungen, die gesetzlich ausdrücklich verboten sind, und sehen keine positive Verpflichtung zur Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes vor (10).

3.1.3.

Diese Diskrepanz führt zu einer erheblichen Kluft zwischen den Unionsbürgerinnen und -bürgern und den Menschen mit Wohnsitz in Europa hinsichtlich der Tragweite des Gleichheitsgrundsatzes, seines gesetzlichen Schutzes und der Anforderungen in Bezug auf seine wirksame Umsetzung.

3.1.4.

Der EWSA fordert die Kommission auf, die strukturellen Schwierigkeiten anzuerkennen, die die vollständige Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes verhindern und die Grenzen der bisherigen diesbezüglichen Errungenschaften sowie das Ausmaß der heutigen Ungleichheiten in Europa aufzeigen. Nationale Gleichstellungsstellen und Menschenrechtsorganisationen sollten sich aktiv an diesem fortlaufenden Bewertungsprozess beteiligen.

3.1.5.

Nach Ansicht des EWSA muss die EU unbedingt eine ehrgeizige Politik zur Förderung des Grundsatzes der Gleichheit und der Chancengleichheit verfolgen, die den im Vertrag über die Europäische Union und in der Charta der Grundrechte verankerten Werten entspricht und alle Zuständigkeitsbereiche der EU einbezieht. In diesem Sinne unterstützt der EWSA die neue Initiative der Europäischen Kommission auf der Grundlage der Artikel 157 und 19 des Vertrags, die sich mit der Wirksamkeit der nationalen Gleichstellungsstellen und der Entwicklung ihres Potenzials, ihrer vielfältigen Aufgaben und Kapazitäten befasst.

3.1.6.

Die EU muss konkrete Instrumente schaffen, um den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in einen in allen Mitgliedstaaten geltenden Rechtsgrundsatz umzusetzen, mit dem über die Ungleichbehandlung im Zusammenhang mit den durch Artikel 19 AEUV gedeckten sieben Diskriminierungskriterien hinaus Schutz gewährt werden kann. Der Einsatz der Strukturfonds wäre beispielsweise einer der wirksamen Möglichkeiten zur effektiven Umsetzung von Antidiskriminierungsmaßnahmen.

3.1.7.

Die Anerkennung eines allgemeinen Grundsatzes der Gleichbehandlung, die Schaffung positiver Verpflichtungen sowie die Anerkennung ihrer systemischen Dimension sind Mittel zur besseren Bekämpfung wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten.

3.2.   Bekämpfung von Ungleichheiten und Diskriminierung im digitalen Bereich

3.2.1.

Der EWSA erkennt an, dass technologische Entwicklungen für viele Bürgerinnen und Bürger den Zugang zu ihren Rechten erleichtern, weist jedoch darauf hin, dass sie de facto neue Probleme in Bezug auf den gleichberechtigten Zugang zu Rechten und Dienstleistungen aufwerfen, weshalb weiterer Handlungsbedarf besteht, um den Grundsatz der Gleichbehandlung zu verteidigen.

3.2.2.

Durch den digitalen Wandel im Bereich der staatlichen Dienstleistungen und des Zugangs zu Gütern und Dienstleistungen (insbesondere zur Grundversorgung) wurden die Beziehungen zu den Nutzern tiefgreifend verändert, indem physische Barrieren beseitigt, jedoch neue digitale Barrieren geschaffen wurden. Dieser Wandel verhindert den Zugang zu Rechten und Dienstleistungen für bestimmte Bürgerinnen und Bürger, insbesondere für besonders benachteiligte oder schutzbedürftige Personen, Menschen mit Behinderungen, sowie für die meisten älteren Menschen in Europa (11).

3.2.3.

Angesichts dieser Funktionsmängel müssen neue öffentliche Maßnahmen zur digitalen Inklusion entwickelt und umgesetzt sowie positive Verpflichtungen für öffentliche und private Betreiber gegenüber den Nutzern verankert werden, darunter auch ein einfacher und kostenloser Zugang.

3.2.4.

Über die technischen Zugangsschwierigkeiten hinaus und hinsichtlich der auf Algorithmen (12) und biometrischen Technologien (13) basierenden Instrumente weist der EWSA darauf hin, dass wir es mit neuen Herausforderungen im Zusammenhang mit Rechtsverstößen und Diskriminierungsformen zu tun haben.

3.2.5.

Wie die Arbeiten des Europarates (14) und der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (15) zeigen, gelangen bei algorithmischen Entscheidungen Entscheidungsfindungsinstrumente zum Einsatz, die mit diskriminierenden Verzerrungen arbeiten, die auf der Suche nach automatisierten Ergebnissen beruhen. Die wichtigsten Rechtsinstrumente zur Minderung der Risiken KI-bedingter Diskriminierung sind das Antidiskriminierungsrecht und das Datenschutzrecht. Wenn beide Rechtsinstrumente wirksam durchgesetzt werden, können sie zur Bekämpfung illegaler Diskriminierung beitragen.

3.2.6.

Nach Ansicht des EWSA erfordert die Überwachung dieser Auswirkungen eine wirksame öffentliche Politik, die für den gesamten EU-Binnenmarkt sowie für außereuropäische Wirtschaftsakteure gilt und als Folgemaßnahme zu den derzeit in Verabschiedung befindlichen Rechtsakten über digitale Dienste die Einführung von Kontrollverfahren für automatisierte Entscheidungen, die Überprüfung der Daten sowie eine Bewertung, Folgenabschätzung und Korrektur der Entwicklung und Umsetzung dieser Technologien vorschreibt. Die Verabschiedung der Richtlinie über digitale Dienste kann ebenfalls zu Lösungen beitragen.

3.3.   Ausbau des Schutzes der Gleichbehandlung und der Bekämpfung von Diskriminierung in der Arbeitswelt

3.3.1.

Der EWSA unterstreicht die entscheidende Bedeutung der Beschäftigung als wesentlichem Faktor für die Integration und die Verwirklichung des Versprechens in Bezug auf die Gleichheit aller.

3.3.2.

Trotz des historischen Engagements der EU für die Gleichstellung von Frauen und Männern in Beschäftigungsfragen verdeutlicht die derzeitige Situation, dass Frauen in der Geschichte stets als erste unter den Folgen von (wirtschaftlichen, sozialen, gesundheitlichen und anderen) Krisen leiden. Die berufliche Gleichstellung von Männern und Frauen ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen für die europäischen Länder. Infolge der COVID-19-Krise sank die Beschäftigungsquote von Frauen in allen Alters- und Berufsgruppen auf insgesamt 61,8 % (16).

3.3.3.

Diese geschlechtsspezifischen Ungleichheiten treten zu anderen Formen der Ungleichheit hinzu. Aus einer Eurostat-Umfrage aus dem Jahr 2019 geht hervor, dass 68 % der Menschen mit Behinderungen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, während dies in der Gesamtbevölkerung nur 28,4 % sind (17) 21 % der Menschen, die sich .als LGBT betrachten, sowie 25 % der Menschen maghrebinischer und afrikanischer Herkunft oder der Angehörigen der Minderheit der Roma gaben an, sich am Arbeitsplatz diskriminiert zu fühlen (18).

3.3.4.

Der Eurobarometer-Umfrage zum Thema Diskriminierung aus dem Jahr 2020 zufolge erachten 59 % der Europäerinnen und Europäer die ethnische Herkunft oder Hautfarbe als Hauptursache für Diskriminierung, und Studien zeigen, dass diese Aspekte im Erwerbsleben besonders bedeutend sind, da sie sich erhebliche Auswirkungen auf die Chancengleichheit und die soziale Integration haben. Es sollten wirksame Methoden entwickelt werden, mit denen diese Diskriminierungen vor Gericht festgestellt werden können, wie etwa die von den französischen obersten Gerichten anerkannte Clerc-Methode, mit der die Laufbahnentwicklungen von auf demselben Niveau eingestellten Personen verglichen werden kann (19).

3.3.5.

Die EU-Politik zur Bekämpfung von Diskriminierung im Beschäftigungsbereich beschränkt sich heute auf einen Rechtsrahmen, der es ermöglicht, Diskriminierungsfälle vor Gericht zu bringen, wobei das potenzielle Opfer die ganze Last tragen muss, die mit der Bekämpfung der Diskriminierung einhergeht, muss es doch ein oder mehrere Rechtsmittel gegen seinen Arbeitgeber, einen Dienstleistungserbringer oder den Staat ergreifen.

3.3.6.

Die Kommission erkennt seit Langem an, dass Diskriminierungen auf kollektive Phänomene zurückzuführen sind. Auf individueller Basis gerichtliche Schritte zu unternehmen, ist für die Opfer sehr schwer. Dass gegen Diskriminierungen schlicht nicht vorgegangen wird, ist ein dokumentiertes und sehr weit verbreitetes Phänomen (20). Diskriminierung im Beschäftigungsbereich macht nur einen Bruchteil der Rechtsstreitigkeiten aus, während es so gut wie keine Rechtsverfahren wegen Diskriminierung beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen gibt. Möglich wäre es, die außergerichtlichen Mechanismen und Verfahren zur Förderung der Gleichstellung sowie die Unterstützung unentgeltlicher juristischer Arbeit und von Rechtsstreitigkeiten im öffentlichen Interesse zu stärken.

3.3.7.

Nach Ansicht des EWSA sollte die EU Verfahrensinstrumente für einen leichteren Zugang zu den Rechten in den Mitgliedstaaten erlassen, beispielsweise durch den Rückgriff auf Sammelklagen, die den Zugang zu gerichtlichen Rechtsbehelfen sowie deren Wirksamkeit gegen Diskriminierungen und zum Schutz der Gleichbehandlung verbessern, damit die Last von Rechtsstreitigkeiten nicht mehr auf Einzelpersonen ruht, ein den angeprangerten Praktiken entsprechender, wirkungsvoller Rechtsbehelf geschaffen wird und der Rechtsrahmen als wirksame Abschreckung zur Eindämmung von Diskriminierung dient.

3.3.8.

Will die EU Diskriminierung am Arbeitsplatz wirksam bekämpfen, können Gerichtsverfahren darüber hinaus nicht das einzige Instrument gegen kollektive und systemische Diskriminierungen sein.

3.3.9.

Die EU muss ihr Interventionsspektrum gegen Diskriminierungen über den gerichtlichen Rechtsbehelf hinaus erweitern, indem sie die Einführung von Antizipationsinstrumenten vorschreibt, um schon im Vorfeld der Ungleichheiten einzugreifen, Praktiken zu korrigieren und Diskriminierungen vorzubeugen.

3.3.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass vergleichbare Maßnahmen hinsichtlich Diskriminierungen auf der Grundlage aller in Artikel 19 des AEUV genannten Kriterien ergriffen werden müssen. Daher fordert er die Kommission auf:

i.

sich im Rahmen ihrer Beschäftigungs- und Antidiskriminierungspolitik zu verpflichten, bestehende Maßnahmen wirksam durchzusetzen oder neue Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung in der Beschäftigung zu ergreifen und die wirksame Umsetzung der geltenden Rechtsvorschriften zu gewährleisten;

ii.

Maßnahmen zur allgemeinen Erfassung von Diskriminierung am Arbeitsplatz und zur Förderung der Bewertungs-, Berichterstattungs- und Überwachungspflichten der Arbeitgeber anzunehmen;

iii.

die Unternehmen bei der Entwicklung von Antidiskriminierungs- und Inklusionspraktiken zu unterstützen.

3.4.   Ausweitung und Vereinheitlichung des Anwendungsbereichs des Schutzes vor Diskriminierung in der Union

3.4.1.

Der EWSA fordert die Europäische Union nachdrücklich auf, den Schutz vor Diskriminierung beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen weiterzuentwickeln, insbesondere durch die Annahme des Vorschlags für eine Richtlinie zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung.

3.4.2.

Der EWSA stellt fest, dass der derzeitige Schutz vor Diskriminierung beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen eine Hierarchisierung des Schutzes nach bestimmten Kriterien schafft und somit zu einem ungleichen Schutz der Personen führt, auf die die Diskriminierungskriterien abzielen.

3.4.3.

Obwohl der Grundsatz der Nichtdiskriminierung ein Pfeiler des Schutzes der Grundrechte in der Union ist, kann die EU ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass im europäischen öffentlichen Raum alle ihre Rechte gleichberechtigt wahrnehmen können, so lange nicht erfüllen, wie die Annahme des Richtlinienentwurfs ausgesetzt ist.

3.4.4.

Der EWSA fordert den Rat, das Parlament und die Kommission auf, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Richtlinienentwurf in einer Fassung angenommen wird, die seinen allgemeinen Vorschlägen zur Verbesserung der Modalitäten für den Zugang zu Rechten und Rechtsbehelfen Rechnung trägt, insbesondere Mechanismen zur Erleichterung des Zugangs zu Rechten durch die Festlegung von Verfahren für Sammelklagen, um ihre Wirksamkeit sowie die Anerkennung der Zuständigkeit der nationalen Antidiskriminierungsstellen zu gewährleisten.

3.4.5.

Die EU sollte ihre Anstrengungen und ihre Zusammenarbeit vor Ort intensivieren, um sicherzustellen, dass die Grundrechte von LGBTIQA+-Personen ausnahmslos geachtet werden, dass sie nirgendwo strafrechtlich verfolgt werden und ihre Teilhabe am öffentlichen Leben gestärkt wird.

3.5.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die EU einen allgemeinen Grundsatz der Chancengleichheit und diesbezügliche positive Verpflichtungen aktiv fördern muss. Die EU-Organe müssen auch nationale Gleichstellungsstellen und Menschenrechtsorganisationen durch die Annahme verbindlicher Standards unterstützen, damit sie ihr Potenzial voll ausschöpfen und die wirksame Anwendung der geltenden Rechtsvorschriften gewährleisten können.

3.6.   Erneuerung des Schutzes vor Diskriminierung aus politischen Gründen, aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft und aufgrund bürgerschaftlichen Engagements

3.6.1.

Der EWSA stellt fest, dass politische Aktivisten, Gewerkschafts- oder Arbeitnehmervertreter sowie Bürgerrechtler in den letzten Jahren überall in Europa mitunter auf Schwierigkeiten bei der Ausübung ihrer Meinungs- und Handlungsfreiheit gestoßen sind, u. a. auch bei der Ausübung des Demonstrationsrechts, um ihre Forderungen zum Ausdruck zu bringen oder darüber zu verhandeln.

3.6.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren Rechtsvorschriften und den geltenden internationalen Instrumenten und unter Berufung auf ihre Werte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Nichtdiskriminierung aufgrund politischer Überzeugungen effektiv gewährleisten müssen, dass die Behörden der Mitgliedstaaten für die Sicherheit, die Gleichbehandlung und den Schutz der politischen Akteure, Sozialpartner und Verbände sorgen.

3.6.3.

Alle Mitgliedstaaten haben die IAO-Übereinkommen Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes und Nr. 98 über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kollektivverhandlungen ratifiziert. Die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf gewerkschaftliche Organisation müssen ebenfalls respektiert und gefördert werden. Auf nationaler und EU-Ebene muss darüber diskutiert werden, wie sichergestellt werden kann, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Zugang zu gewerkschaftlicher Vertretung haben und das Recht auf gewerkschaftliche Organisation und Arbeitskampfmaßnahmen ausüben können (21). Im Einklang mit den international anerkannten Normen der Internationalen Arbeitsorganisation fordert der EWSA die Mitgliedstaaten und die Kommission nachdrücklich auf, in Übereinstimmung mit ihren Rechtsvorschriften, ihren Systemen der Arbeitsbeziehungen und den geltenden internationalen Instrumenten sicherzustellen, dass sie die Vereinigungsfreiheit, das Recht auf gewerkschaftliche Organisation und das Recht auf Kollektivverhandlungen wirksam schützen.

3.7.   Wirksame nationale Institutionen zur Förderung der Gleichstellung, zum Schutz der Grundrechte und zur Bekämpfung von Diskriminierung

3.7.1.

Die Anwendung der europäischen und nationalen Vorschriften in diesem Bereich unterliegt allzu oft erheblichen Einschränkungen im Zusammenhang mit rechtlichen, institutionellen, organisatorischen und finanziellen Aspekten, die die einzelnen Mitgliedstaaten auszeichnen

3.7.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass konkrete Pläne, einschließlich finanzieller Unterstützung, ausgearbeitet werden müssen, um die Kapazitäten der nationalen Institutionen zu verbessern.

3.7.3.

Der EWSA fordert die Kommission auf, ein Programm zur Unterstützung der nationalen Menschenrechtsinstitutionen zu entwickeln, um deren Kapazitäten (Erarbeitung, Billigung und Einhaltung internationaler Normen) zu verbessern, zu stärken und zu straffen, wobei auch Maßnahmen zur Sensibilisierung, Aufklärung und Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse aller Gruppen erforderlich sind.

3.7.4.

Ebenfalls muss dafür gesorgt werden, dass alle sozialen und zivilgesellschaftlichen Akteure — insbesondere jene, die sich für den Schutz der Menschenrechte engagieren — die bestehenden Rechtsinstrumente besser einsetzen und mit öffentlichen Institutionen zusammenarbeiten können. Außerdem müssen die sozialen Akteure und Organisationen der Zivilgesellschaft, die gewährleisten, dass Opfer von Diskriminierung Zugang zum Recht haben, besser unterstützt werden. Zu ihrer Unterstützung kommen Schulungen, Bewusstseinsbildung, Wissenstransfer und Aufklärung über bewährte Verfahren, finanzielle und organisatorische Unterstützung sowie Schutz vor Angriffen und Verleumdungskampagnen in Frage.

3.7.5.

Der EWSA bekräftigt erneut die Notwendigkeit eines wirksamen und für alle zugänglichen Mechanismus zur Ermittlung und Meldung von körperlichen und verbalen Angriffen, Einschüchterungen und Belästigungen (u. a. missbräuchlichen Prozessen) sowie Hetze gegen Organisationen der Zivilgesellschaft, einschließlich Menschenrechtsorganisationen (22). Finden solche Angriffe im digitalen Bereich statt, müssen sie rasch identifiziert und die betreffenden Veröffentlichungen entfernt werden.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  KOM(2008) 426 endgültig.

(2)  Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, 20 Jahre nach Inkrafttreten der Gleichbehandlungsrichtlinien: Gleichbehandlung in der EU, April 2021 (vollständiger Bericht nicht auf Deutsch vorliegend).

(3)  Mulder, J., Indirect sex discrimination in employment, Europäisches Netz von Rechtsexperten auf dem Gebiet der Gleichstellung der Geschlechter und Nichtdiskriminierung, Europäische Kommission, 2020.

(4)  Siehe insbesondere die 8. Ausgabe des IAO-Berichts über die Auswirkungen der anhaltenden Krise auf die Beschäftigung, Oktober 2021, Internationale Arbeitsorganisation (IAO): COVID-19: ILO-Monitor — 8. Ausgabe, 27. Oktober 2021.

(5)  Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte (COM(2021) 38) (ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 38).

(6)  Siehe insbesondere die Stellungnahmen „Die Situation von Frauen mit Behinderungen“ (SOC/579) (ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 20); „Die Lage der Romnija (Roma-Frauen)“ (SOC/585) (ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 20); „Gestaltung der EU-Agenda für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2020-2030“ (SOC/616) (ABl. C 97 vom 24.3.2020, S. 41); „Diversity Management in den EU-Mitgliedstaaten“ (SOC/642) (ABl. C 10 vom 11.1.2021, S. 7); „Eine Union der Gleichheit: Strategie für die Gleichstellung von LGBTIQ-Personen 2020-2025“ (SOC/667) (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 128); „Aktionsplan für Integration und Inklusion 2021-2027“ (SOC/668) (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 134); „Eine Union der Gleichheit: Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (SOC/680) (ABl C 374 vom 16.9.2021, S. 50); und Der neue Strategische Rahmen der EU zur Gleichstellung, Inklusion und Teilhabe der Roma.

(7)  Stellungnahme „Strategie für eine verstärkte Anwendung der Grundrechtecharta in der EU“ (SOC/671) (ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 50).

(8)  Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, 20 Jahre nach Inkrafttreten der Gleichbehandlungsrichtlinien: Gleichbehandlung in der EU, a. a. O.

(9)  Europäische Kommission, Solidarität im Gesundheitswesen: Abbau gesundheitlicher Ungleichheit in der EU (KOM(2009) 567 endgültig).

(10)  Crowley, N., Making Europe More Equal: A legal duty?, Equinet, 2016.

(11)  Défenseur des droits (französischer Bürgerbeauftragter): Dématérialisation et inégalités d’accès aux services publics, 2019; und Dématérialisation des services publics: trois ans après, où en est-on?, 2022.

(12)  Gerards, J., Xenidis, R., Algorithmic discrimination in Europe, Europäisches Netz von Rechtsexperten auf dem Gebiet der Gleichstellung der Geschlechter und Nichtdiskriminierung, Europäische Kommission, 2020.

(13)  Défenseur des droits (französischer Bürgerbeauftragter), Technologies biométriques: l’impératif respect des droits fondamentaux, 2021.

(14)  Europarat, Zuiderveen Borgesius, F., Discrimination, Artificial Intelligence and algorithmic decision-making, 2018.

(15)  Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, Die Zukunft richtig gestalten: Künstliche Intelligenz und Grundrechte, 2021.

(16)  Europäisches Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE), Gender equality and the socio-economic impact of the COVID-19 pandemic.

(17)  Eurostat, Income inequalities, 2019.

(18)  Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, 20 Jahre nach Inkrafttreten der Gleichbehandlungsrichtlinien: Gleichbehandlung in der EU, a. a. O.

(19)  Chappe. V.A. Chappe, La preuve par la comparaison: méthode des panels et droit de la non-discrimination, Sociologies pratiques, 2011/2, Nr. 23, S. 45-55; Rahmenbeschluss des Défenseur des droits (Bürgerbeauftragter) Nr. 2022-139 vom 31. August 2022; Kassationsgericht: Sozialkammer 10/07/1998, Nr. 90-41231; Sozialkammer 04/07/2000, Nr. 98-43285; Sozialkammer 28/06/2006, Nr. 04-46419.

(20)  Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, 20 Jahre nach Inkraftreten der Gleichbehandlungsrichtlinien: Gleichbehandlung in der EU, a. a. O.

(21)  Siehe auch die Stellungnahme „Angemessene Mindestlöhne in Europa“ (SOC/632), Ziffer 4.5.3 und 4.5.6 (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 159).

(22)  EWSA-Stellungnahme „Strategie für eine verstärkte Anwendung der Grundrechtecharta in der EU“ (SOC/671) (ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 50).


ANHANG

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen (Art. 59 Abs. 3 der Geschäftsordnung):

ÄNDERUNGSANTRAG 1

SOC/724 — Förderung der Gleichstellung in der EU

Ziffer 3.3.7

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Nach Ansicht des EWSA sollte die EU Verfahrensinstrumente für einen leichteren Zugang zu den Rechten in den Mitgliedstaaten erlassen, beispielsweise durch den Rückgriff auf Sammelklagen, die den Zugang zu gerichtlichen Rechtsbehelfen sowie deren Wirksamkeit gegen Diskriminierungen und zum Schutz der Gleichbehandlung verbessern, damit die Last von Rechtsstreitigkeiten nicht mehr auf Einzelpersonen ruht, ein den angeprangerten Praktiken entsprechender, wirkungsvoller Rechtsbehelf geschaffen wird und der Rechtsrahmen als wirksame Abschreckung zur Eindämmung von Diskriminierung dient.

Damit die Last von Rechtsstreitigkeiten nicht mehr auf Einzelpersonen ruht, ein den angeprangerten Praktiken entsprechender, wirkungsvoller Rechtsbehelf geschaffen wird und der Rechtsrahmen als wirksame Abschreckung zur Eindämmung von Diskriminierung dient, fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, angemessene Maßnahmen zu erwägen und gegebenenfalls zu ergreifen, um den Zugang zur Justiz zu gewährleisten und zu fördern . Dies könnte Verfahrensinstrumente für einen leichteren Zugang zu den Rechten in dem betreffenden Mitgliedstaat umfassen, beispielsweise durch den Rückgriff auf Sammelklagen, die den Zugang zu gerichtlichen Rechtsbehelfen sowie deren Wirksamkeit gegen Diskriminierungen und zum Schutz der Gleichbehandlung verbessern können .

Begründung

In der Studiengruppe und in der Fachgruppe SOC konnte zu dieser Frage keine Einigung zwischen den drei Gruppen erzielt werden. Das Verfahrensrecht fällt traditionell in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Daher sollte es Sache der Mitgliedstaaten sein, zu entscheiden, ob sie auf nationaler Ebene Sammelklagen/einen kollektiven Rechtsbehelf als Instrument zur Durchsetzung des Gleichstellungsgrundsatzes einführen wollen. Dies würde auch eine Anpassung der einzelnen nationalen Systeme an die nationalen Gegebenheiten ermöglichen. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass kollektive Rechtsbehelfe auch missbraucht werden könnten.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen:

59

Nein-Stimmen:

104

Enthaltungen:

13

ÄNDERUNGSANTRAG 2

SOC/724 — Förderung der Gleichstellung in der EU

Ziffer 3.3.10

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Der EWSA ist der Auffassung, dass vergleichbare Maßnahmen hinsichtlich Diskriminierungen auf der Grundlage aller in Artikel 19 des AEUV genannten Kriterien ergriffen werden müssen. Daher fordert er die Kommission auf:

sich im Rahmen seiner Beschäftigungs- und Antidiskriminierungspolitik zu verpflichten, bestehende Maßnahmen wirksam durchzusetzen oder neue Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung in der Beschäftigung zu ergreifen und die wirksame Umsetzung der geltenden Rechtsvorschriften zu gewährleisten;

Maßnahmen zur allgemeinen Erfassung von Diskriminierung am Arbeitsplatz und zur Förderung der Bewertungs-, Berichterstattungs- und Überwachungspflichten der Arbeitgeber anzunehmen ;

die Unternehmen bei der Entwicklung von Antidiskriminierungs- und Inklusionspraktiken zu unterstützen.

Der EWSA ist der Auffassung, dass vergleichbare Maßnahmen hinsichtlich Diskriminierungen auf der Grundlage aller in Artikel 19 des AEUV genannten Kriterien ergriffen werden müssen. Daher fordert er die Kommission auf:

sich im Rahmen ihrer Beschäftigungs- und Antidiskriminierungspolitik zu verpflichten, bestehende Maßnahmen wirksam durchzusetzen oder neue Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung in der Beschäftigung zu ergreifen und die wirksame Umsetzung der geltenden Rechtsvorschriften zu gewährleisten;

Maßnahmen anzunehmen, die dazu beitragen, dass die Erfassung von Diskriminierung am Arbeitsplatz laut der im EU-Recht verankerten Definition effizient genutzt wird, sowie für die Arbeitgeber hinsichtlich ihrer Bewertungs-, Berichterstattungs- und Überwachungspflichten Orientierungshilfe zu bieten ;

die Unternehmen bei der Entwicklung von Antidiskriminierungs- und Inklusionspraktiken zu unterstützen.

Begründung

In dieser Ziffer geht es um die Umsetzung politischer Maßnahmen auf der Grundlage der in Artikel 19 AEUV festgelegten Kriterien. In Ziffer 3.4.1 (und 1.3) dieser Stellungnahme heißt es bereits: „Der EWSA fordert die Europäische Union nachdrücklich auf, den Schutz vor Diskriminierung beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen weiterzuentwickeln, insbesondere durch die Annahme des Vorschlags für eine Richtlinie zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung.“ Dieser Änderungsantrag zielt auf eine Änderung des Wortlautes ab: Es soll präzisiert werden, welche Art von Maßnahmen zur wirksamen Umsetzung und Anwendung der Antidiskriminierungsvorschriften der EU notwendig sind.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen:

67

Nein-Stimmen:

109

Enthaltungen:

11

ÄNDERUNGSANTRAG 3

SOC/724 — Förderung der Gleichstellung in der EU

Ziffer 3.4.4

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Der EWSA fordert den Rat, das Parlament und die Kommission auf, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Richtlinienentwurf in einer Fassung angenommen wird, die seinen allgemeinen Vorschlägen zur Verbesserung der Modalitäten für den Zugang zu Rechten und Rechtsbehelfen Rechnung trägt, insbesondere Mechanismen zur Erleichterung des Zugangs zu Rechten durch die Festlegung von Verfahren für Sammelklagen, um ihre Wirksamkeit sowie die Anerkennung der Zuständigkeit der nationalen Antidiskriminierungsstellen zu gewährleisten.

Der EWSA fordert den Rat, das Parlament und die Kommission auf, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Richtlinienentwurf in einer Fassung angenommen wird, die seinen allgemeinen Vorschlägen zur Verbesserung der Modalitäten für den Zugang zu Rechten und Rechtsbehelfen Rechnung trägt, wobei die Entscheidung über mögliche Mechanismen zur Erleichterung des Zugangs zu Rechten durch die Festlegung von Verfahren für Sammelklagen den Mitgliedstaaten überlassen werden sollte , um ihre Wirksamkeit sowie die Anerkennung der Zuständigkeit der nationalen Antidiskriminierungsstellen zu gewährleisten.

Begründung

In der Studiengruppe und in der Fachgruppe SOC konnte zu dieser Frage keine Einigung zwischen den drei Gruppen erzielt werden. Das Verfahrensrecht fällt traditionell in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Daher sollte es Sache der Mitgliedstaaten sein, zu entscheiden, ob sie auf nationaler Ebene Sammelklagen/einen kollektiven Rechtsbehelf als Instrument zur Durchsetzung des Gleichstellungsgrundsatzes einführen wollen. Dies würde auch eine Anpassung der einzelnen nationalen Systeme an die nationalen Gegebenheiten ermöglichen. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass kollektive Rechtsbehelfe auch missbraucht werden könnten.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen:

60

Nein-Stimmen:

114

Enthaltungen:

11

ÄNDERUNGANTRAG 4

SOC/724 — Förderung der Gleichstellung in der EU

Ziffer 1.10

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Nach Ansicht des EWSA sollte die EU Normen erlassen, die Sammelklagen in den Mitgliedstaaten erleichtern und den Zugang zu gerichtlichen Rechtsbehelfen sowie deren Wirksamkeit gegen Diskriminierungen und zum Schutz der Gleichbehandlung verbessern, damit die Last von Rechtsstreitigkeiten nicht mehr auf Einzelpersonen ruht, ein den angeprangerten Praktiken entsprechender, wirkungsvoller Rechtsbehelf geschaffen wird und der Rechtsrahmen als wirksame Abschreckung zur Eindämmung von Diskriminierung dient.

Damit die Last von Rechtsstreitigkeiten nicht mehr auf Einzelpersonen ruht, ein den angeprangerten Praktiken entsprechender, wirkungsvoller Rechtsbehelf geschaffen wird und der Rechtsrahmen als wirksame Abschreckung zur Eindämmung von Diskriminierung dient, fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, angemessene Maßnahmen zu erwägen und gegebenenfalls zu ergreifen, um den Zugang zur Justiz zu gewährleisten und zu fördern. Dies könnte Verfahrensinstrumenten für einen leichteren Zugang zu den Rechten in dem betreffenden Mitgliedstaat umfassen, beispielsweise durch den Rückgriff auf Sammelklagen, die den Zugang zu gerichtlichen Rechtsbehelfen sowie deren Wirksamkeit gegen Diskriminierungen und zum Schutz der Gleichbehandlung verbessern können. Mit Blick auf einen leichteren Austausch bewährter Verfahren fordert er die Europäische Kommission auf, Informationen über die verschiedenen einschlägigen nationalen Rechtsrahmen bereitzustellen .

Begründung

In der Studiengruppe und in der Fachgruppe SOC konnte zu dieser Frage keine Einigung zwischen den drei Gruppen erzielt werden. Das Verfahrensrecht fällt traditionell in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Daher sollte es Sache der Mitgliedstaaten sein, zu entscheiden, ob sie auf nationaler Ebene Sammelklagen/einen kollektiven Rechtsbehelf als Instrument zur Durchsetzung des Gleichstellungsgrundsatzes einführen wollen. Dies würde auch eine Anpassung der einzelnen nationalen Systeme an die nationalen Gegebenheiten ermöglichen. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass kollektive Rechtsbehelfe auch missbraucht werden könnten.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen:

65

Nein-Stimmen:

113

Enthaltungen:

8


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/67


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Starke europäische Solidarität für Patienten mit seltenen Krankheiten“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/10)

Berichterstatter:

Alain COHEUR

Beschluss des Plenums

24.2.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

29.9.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

171/1/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Im Jahr 2009 verabschiedete der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Stellungnahme SOC/330 zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Rates für eine europäische Maßnahme im Bereich seltener Krankheiten“ (1), in der er seine Unterstützung, Bedenken und Vorschläge mit dem Ziel zum Ausdruck bringt, den Blick für die Bedürfnisse von Menschen mit seltenen Krankheiten in ihrer Gesamtheit zu schärfen. Der EWSA findet es sehr bedauerlich, dass er mehr als zehn Jahre nach der Verabschiedung seiner Stellungnahme seine Forderung nach einem umfassenden europäischen Ansatz, der sämtlichen Bedürfnissen von Menschen mit seltenen Krankheiten Rechnung trägt, erneuern muss, und fordert europäische Lösungen zur Abmilderung der Auswirkungen seltener Krankheiten auf Alltag, Familien- und Berufsleben.

1.2.

Der EWSA bekräftigt nachdrücklich seine Unterstützung von und Solidarität mit Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten, ihren Familien und insgesamt allen von seltenen Krankheiten betroffenen Menschen. Die Europäische Union (EU) könnte für das Recht auf Gesundheitsversorgung für alle in der gesamten EU eintreten und zeigen, dass Menschen mit einer seltenen Krankheit nicht allein dastehen. Für eine schnellere Diagnose und Behandlung seltener Krankheiten müssen Grundlagenforschung und ein europäischer Raum für Gesundheitsdaten auf der Grundlage des FAIR-Prinzips (Auffindbarkeit, Zugänglichkeit, Interoperabilität und Wiederverwendbarkeit) unterstützt werden. Der EWSA empfiehlt, das Fachwissen von Orphanet anzuerkennen und umfassend zu fördern, um das europäische Ökosystem für Gesundheitsdaten zum Nutzen von Patienten mit seltenen Krankheiten auszubauen. Die Bereitstellung der Orphanet-Website in allen EU-Sprachen wäre für Patienten mit seltenen Krankheiten und Angehörige der Gesundheitsberufe sehr hilfreich.

1.3.

Der EWSA unterstreicht trotz der Verschiedenartigkeit bzw. Vielzahl von Krankheiten, der verstreut lebenden Patienten und des räumlich weit verteilten Fachwissens noch einmal die Ergebnisse in Bezug auf die Prävalenz seltener Krankheiten in der EU, die Ähnlichkeiten der entsprechenden Patientenpfade und die Herausforderungen im Bereich des Sozialschutzes.

1.4.

Der EWSA begrüßt den in der europäischen Säule sozialer Rechte vorgeschlagenen Grundsatz des Rechts auf Zugang zur Gesundheitsversorgung, die einschlägige Resolution der Vereinten Nationen sowie die Aufmerksamkeit, die seltenen Krankheiten auf der Konferenz zur Zukunft Europas und seitens des französischen EU-Ratsvorsitzes 2022 gewidmet wurde, um zu verhindern, dass die Situation betroffener Patienten durch gesundheitliche Ungleichheit noch zusätzlich verschärft wird. Der EWSA betont, wie wichtig eine ehrgeizige europäische Strategie für Pflege und Betreuung für die Pflege- und Betreuungspersonen von Patienten mit seltenen Krankheiten ist.

1.5.

Der EWSA empfiehlt, die politische Dynamik zu nutzen und auf den Empfehlungen von Institutionen und Zivilgesellschaft aufzubauen, um einen umfassenden europäischen Aktionsplan zu seltenen Krankheiten mit bis 2030 zu erreichenden SMART-Zielen aufzustellen, damit gewährleistet ist, dass in der EU alle Patienten mit seltenen Krankheiten die gleichen Chancen auf Diagnose, Behandlung und eine ganzheitliche Perspektive im Bereich der integrierten Pflege haben. Patienten sollten innerhalb eines Jahres eine Diagnose ihrer seltenen Krankheit erhalten können.

1.6.

Der EWSA schlägt vor, den Auftrag der Europäischen Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA) auszuweiten oder sie als Vorbild für die Errichtung einer neuen europäischen Behörde für nicht übertragbare Krankheiten zu nutzen, die die Koordinierung und Solidarität in Bezug auf seltene Krankheiten fördert. So könnte die Umsetzung eines europäischen Aktionsplans zu seltenen Krankheiten koordiniert und ein europäischer Ansatz für nicht übertragbare seltene Krankheiten gewährleistet werden. Durch Synergien mit Orphanet, das durch die EU strukturell unterstützt würde, damit es seine Arbeit in allen Amtssprachen der EU veröffentlichen kann, hätten sowohl Patienten als auch Angehörige der Gesundheitsberufe Zugang zu den benötigten Informationen.

1.7.

Der EWSA verleiht der Zivilgesellschaft der Mitgliedstaaten eine Stimme, um den politischen Dialog mit den Bürgern zu stärken, und unterstützt die europäischen Institutionen durch strukturelle und dauerhafte Zusammenarbeit, damit umfassend unterstützte politische Maßnahmen entwickelt werden. Der EWSA empfiehlt dem nächsten Dreiervorsitz 2023-2024 (Spanien, Belgien und Ungarn), die Politik im Bereich seltener Krankheiten auf der Tagesordnung zu belassen. Denn es gilt, die Bewertung der Europäischen Referenznetzwerke (ERN) im Jahr 2022 ebenso zu berücksichtigen wie die Zusage der Europäischen Kommission, ihre Strategie für seltene Krankheiten bis Anfang 2023 dahingehend zu überarbeiten, dass seltenen Krankheiten in künftigen Amtszeiten der Kommission im Rahmen der öffentlichen Gesundheitspolitik Rechnung getragen wird. Die Einbeziehung der Interessenträger und Sozialpartner ist für die Entwicklung einer ehrgeizigen Strategie unabdingbar.

1.8.

Der EWSA fordert in Einklang mit Artikel 4 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNCRPD) Initiativen wie eine Entschließung zur Stärkung der Handlungskompetenz von Patienten mit seltenen Krankheiten und zur Förderung ihrer Einbindung in die Politik im Bereich seltener Krankheiten und die Formulierung einschlägiger Empfehlungen. Patientenverbände können mit ihrem Erfahrungsschatz als Vertreter und Sprachrohr von Patienten eine entscheidende Rolle spielen; ihre Auftritte in den Medien und ihre Beteiligung an der Formulierung politischer Empfehlungen müssen gefördert und unterstützt werden (2).

1.9.

In Bezug auf seltene Krankheiten gilt es nach Ansicht des EWSA, anzuerkennen, wie wichtig der Erhalt einer Diagnose beim peri- oder neonatalen Screening oder so bald wie möglich nach dem Auftreten von Gesundheits- oder Entwicklungsproblemen ist. Das Gleiche gilt für die Vorteile einer multidisziplinären Gesundheitsversorgung und eine ganzheitliche Perspektive in Bezug auf die Patientenbedürfnisse und -pfade. Denn die Patienten könnten von einer integrierten medizinischen und sozialen Versorgung und einer zentralisierten Koordinierung von Betreuung und Pflege und vor allem von ihrer optimierten finanziellen Zugänglichkeit profitieren.

1.10.

Der EWSA weist darauf hin, dass hochwertige Gesundheitsdienstleistungen niemals das Privileg derjenigen sein dürfen, die, aus welchem Grund auch immer, einen besseren Zugang zum entsprechenden nationalen Gesundheitsdienst haben, die höchsten Versicherungsprämien und Selbstkosten zahlen oder die rentabelsten Sammelkampagnen organisieren können. Die Bedeutung solidarischer Krankenversicherungssysteme zum Schutz von Patienten mit seltenen Krankheiten darf nicht unterschätzt werden. Der EWSA würde eine Debatte über die Vorteile und Herausforderungen begrüßen, die sich für die europäischen solidarischen Krankenkassen ergeben, wenn sie für innovative Behandlungen dieser Patienten aufkommen.

1.11.

Der EWSA erkennt an, wie wichtig es ist, dass Patienten mit seltenen Krankheiten in Europa Zugang zu grenzübergreifenden Behandlungen für Diagnose und Versorgung erhalten. Die Möglichkeit, sowohl zu Behandlungszwecken zu reisen als auch übermäßiges Reisen dank Telemedizin zu vermeiden, kann den Zugang zur Versorgung solcher Patienten, insbesondere derjenigen mit sehr seltenen Krankheiten, verbessern. Der EWSA fordert eine Optimierung der Funktionsweise der ERN und ihre Integration in das gesamte EU-Gesundheitssystem und das jeweilige Gesundheitswesen der Mitgliedstaaten. Er schlägt vor, zu prüfen, inwieweit in den ERN ein Betreuungs- und Pflegeübereinkommen ausgearbeitet werden kann.

1.12.

Angesichts der wirtschaftlichen Ungleichheiten in den Mitgliedstaaten empfiehlt und fordert der EWSA, über die Möglichkeit eines EU-Sonderfinanzfonds nachzudenken, zu dem die Mitgliedstaaten entsprechend ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit beitragen und von dem sie entsprechend profitieren. Ziel ist es, dass alle europäischen Patienten mit seltenen Krankheiten, insbesondere solche mit ungedecktem medizinischem Bedarf, Zugang zu Behandlungen haben und in der EU echte Solidarität gegeben ist. Der EWSA unterstützt Modelle für gemeinsame Beschaffung sowie Beiträge wie den europäischen Rechner für faire Arzneimittelpreise, um den Zugang zu medikamentösen Behandlungen für Mitgliedstaaten und Patienten mit seltenen Krankheiten zu verbessern, und fordert, dass dies bei der Überarbeitung der EU-Rechtsvorschriften über Arzneimittel für seltene Erkrankungen und für Kinder Berücksichtigung findet.

1.13.

Der EWSA empfiehlt, die Möglichkeit eines Solidaritätsfonds für seltene Krankheiten zu prüfen, insbesondere solcher, die nicht von den ERN abgedeckt sind. Ein solcher Fonds kann eine sinnvolle Ergänzung darstellen, wenn die gesetzliche Krankenversicherung Kosten für die Behandlung komplexer oder seltener Krankheiten oder die grenzüberschreitende Versorgung nicht trägt. Der EWSA hält eine Vergemeinschaftung auf europäischer Ebene hier für unabdingbar. Ein europäischer Solidaritätsfonds für Patienten mit seltenen Krankheiten sollte

darauf abzielen, zu verhindern, dass Patienten mit seltenen Krankheiten unzumutbare Kosten für medizinisch notwendige und berechtigte, in der EU verfügbare Gesundheitsversorgung übernehmen müssen und aufgrund der Seltenheit ihrer Krankheit Opfer zusätzlicher gesundheitlicher Ungleichheit werden;

Ausdruck europäischer Solidarität sein, mit dem Ziel, den Zugang zur Gesundheitsversorgung in der gesamten EU für alle Patienten mit einer seltenen Krankheit zu verbessern, die Patientenrechte auf grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung besser durchzusetzen sowie die Nutzung der ERN zu optimieren und zu erleichtern;

durch Deckung der mit einer innerhalb der EU grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung verbundenen, unvermeidbaren Kosten die nationalen Sozialversicherungs- und Krankenversicherungsvorschriften ergänzen und die europäische Zusammenarbeit bei der Bewältigung von Herausforderungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit erleichtern. Diese Zusammenarbeit würde von einem strukturellen und unterstützenden grenzüberschreitenden Ansatz profitieren.

2.   Allgemeine Bemerkungen zu seltenen Krankheiten

2.1.

Seltene Krankheiten sind zwar selten, dennoch ist die Zahl der Patientinnen und Patienten, die an seltenen Krankheiten leiden, hoch. Ob eine Krankheit als selten eingestuft wird, hängt von ihrer Prävalenz ab. In der EU wird eine seltene Krankheit als eine häufig chronische, manchmal mit Behinderung einhergehende oder lebensbedrohliche Erkrankung definiert, die nicht mehr als einen von 2 000 Menschen betrifft (3). Im Jahr 2019 waren auf Orphanet, dem Internetportal für seltene Krankheiten und Arzneimittel für seltene Krankheiten, 6 172 seltene Krankheiten registriert (4). 71,9 % dieser seltenen Krankheiten haben eine genetische Ursache, und 69,9 % treten in der frühen Kindheit auf. Schätzungsweise 3,5 % bis 5,9 % der Bevölkerung leiden an einer seltenen Krankheit, was etwa 36 Mio. Patienten in der EU entspricht.

2.2.

Da viele seltene Krankheiten komplex und chronisch sind, beschränken sich ihre Auswirkungen oft nicht auf das Leben des Patienten, sondern betreffen auch noch viele andere Menschen, wie z. B. die Familie, aber auch die Gesundheits- und Sozialsysteme. Familien laufen Gefahr, in die Isolation abzugleiten und besonders hilfsbedürftig zu werden, und angesichts der geschlechtsspezifischen Dimension der informellen Pflege (5) können seltene Krankheiten das Leben insbesondere von Müttern und Frauen erheblich beeinträchtigen. Dem Zugang zu Sozialschutz für Pflege- und Betreuungspersonen sollte deshalb besondere Aufmerksamkeit gelten.

2.3.

Obwohl bereits mehr als 6 172 Krankheiten identifiziert wurden, die eine Diagnose bei einem Patienten ermöglichen, ist es nicht auszuschließen, dass für andere Erkrankungen noch Definitionen, Beschreibungen oder Diagnosetests fehlen. Dabei handelt es sich um sogenannte Syndrome ohne Namen (syndromes without a name, SWAN). Das Gesundheitsgefälle ist bei Patienten ohne Diagnose noch ausgeprägter. Ihr ungedeckter Bedarf und die Ungleichheit sind noch größer, da eine Diagnose erforderlich ist, um eine angemessene medizinische Versorgung oder zusätzliche Leistungen der Sozial- und Krankenversicherung zu erhalten.

2.4.

Die nach wie vor bestehenden Ungleichheiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung erfordern vorausschauende und zielgerichtete Modelle auf lokaler Ebene, damit die am stärksten gefährdeten Gruppen, z. B. Menschen mit körperlichen, psychosozialen und sensorischen Beeinträchtigungen, eine Diagnose sowie Betreuung und Pflege erhalten können. In früheren Stellungnahmen des EWSA wurde die Gesundheitsversorgung von Migranten und EU-Bürgern mit Migrationshintergrund thematisiert; die darin enthaltenen Fachkenntnisse und Empfehlungen gilt es, als Teil eines gemeinsamen Konzepts für seltene Krankheiten zu nutzen (6).

2.5.

Nach dem Auftreten von Gesundheits- oder Entwicklungsproblemen vergehen bis zur Diagnose einer seltenen Krankheit, sofern sie nicht durch perinatales Screening identifiziert wird, durchschnittlich etwa viereinhalb Jahre. Untersuchungen haben ergeben, dass die Zeit diagnostischer Unsicherheit — oft einschließlich Fehldiagnose und/oder schädlicher Fehlbehandlung — fünf bis sieben Jahre beträgt (7). Der Weg zu einer schlüssigen und korrekten Diagnose ist häufig eine Odyssee von einem Angehörigen der Gesundheitsberufe zum nächsten: Untersuchungen haben gezeigt, dass 22 % der Patienten, bei denen eine seltene Krankheit diagnostiziert wurde, mehr als fünf Angehörige der Gesundheitsberufe und 7 % sogar mehr als zehn konsultiert hatten (8).

2.6.

Um Angehörige der Gesundheitsberufe zu sensibilisieren, damit sie mögliche seltene Krankheiten besser erkennen können, und sie in die Lage zu versetzen, Patienten zu überweisen und den Diagnoseprozess zu beschleunigen, sind Informationsaustausch, angemessene und kontinuierliche hochwertige Schulung der Arbeitskräfte sowie weitsichtige Personalplanung unter Einbeziehung der Sozialpartner erforderlich.

2.7.

Festlegung von Prioritäten und strukturierte Investitionen in die medizinische Grundlagenforschung zu den Ursachen seltener Krankheiten, einschließlich genetischer Ursachen, müssen zu einer effizienteren Behandlung und bestenfalls sogar zu Heilbehandlungen für Patienten mit seltenen Krankheiten führen. Die entsprechende Forschung sollte mit europäischen Finanzierungsinstrumenten wie dem Programm EU4Health 2021-2027 — eine Vision für eine gesündere EU und Verordnungen wie dem Vorschlag für eine Verordnung über den Europäischen Raum für Gesundheitsdaten unterstützt werden.

2.8.

Die Kenntnisse und das Fachwissen, die für die Diagnose und die Bereitstellung fachkundiger therapeutischer Versorgung bei einigen seltenen Krankheiten erforderlich sind, sind mitunter in einigen Mitgliedstaaten gar nicht verfügbar bzw. geografisch über die gesamte EU verteilt. Behandlungen müssen besser verfügbar, zugänglicher und erschwinglicher sein. Dies legen Patientenberichte nahe, denen zufolge Behandlungen in bestimmten Regionen nicht verfügbar sind (22 %), es für bestimmte Behandlungen Wartelisten gibt (14 %), manche Behandlungen unbezahlbar sind (12 %) und keine finanzielle Unterstützung zur Verfügung steht, um Reisen für die Behandlung in anderen Ländern zu erleichtern (12 %) (9).

2.9.

Für eine hochwertige Gesundheitsversorgung müssen Gesundheitsdienstleistungen zeitnah, fair, integriert und effizient erfolgen (10). Perinatale und neonatale Vorsorge sind für die Früherkennung unabdingbar. Die Empfehlung Recommendation on Cross Border Genetic Testing Of Rare Diseases in the European Union der Expertengruppe für seltene Krankheiten der Kommission und die Arbeit von Eurordis zum Screening in der gesamten EU bilden die Grundlage für eine europaweite Empfehlung.

2.10.

Der Weg zur Diagnose, der Erhalt einer Diagnose und das Leben mit einer seltenen Krankheit kann für Patienten und/oder ihre Familie psychisch belastend sein. Die Unsichtbarkeit einer Krankheit, die durch sie hervorgerufene körperliche Belastung und mangelndes Wissen oder mangelndes Verständnis für die Erkrankung seitens Dritter können zu psychischer und sozialer Vulnerabilität führen. Das tägliche Leben kann durch eine unzureichende Koordinierung bei der Behandlung, aber auch durch praktische, administrative, bildungsbezogene, berufliche oder finanzielle Herausforderungen erschwert werden (11). Ein ganzheitlicher Ansatz für die Behandlung deckt das komplette Spektrum der gesundheitlichen (Prävention und kontinuierliche, kurative, rehabilitative und palliative Gesundheitsversorgung), sozialen und alltäglichen Bedürfnisse ab und erfordert eine hochwertige, integrierte multidisziplinäre medizinische und soziale Betreuung.

2.11.

Der Tag der seltenen Krankheiten fördert das Bewusstsein und die Anerkennung in der Gesellschaft insgesamt und verbessert das Verständnis und die soziale Inklusion von Patienten und Familien. Um Patienten mit seltenen Krankheiten aufzuklären und ihr Wohlergehen sowie das Wohlergehen ihrer Familien zu gewährleisten, ist ein Ökosystem aus Angehörigen der Gesundheitsberufe, Krankenkassen auf Gegenseitigkeit, (digitalen) Kontaktgruppen und Patientenverbänden erforderlich.

3.   Allgemeine Bemerkungen zur europäischen Politik im Bereich seltener Krankheiten

3.1.

Die EU hat seltene Krankheiten vor mehr als zwanzig Jahren zu einer Priorität im Bereich der öffentlichen Gesundheit erklärt und Maßnahmen mit folgenden Ergebnissen ergriffen: mehr Forschung und Entwicklung, Annahme nationaler Aktionspläne für seltene Krankheiten durch die Mitgliedstaaten, Koordinierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den Europäischen Referenznetzwerken (ERN) und Rechte der Patientinnen und Patienten auf Zugang zu grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung (12). Die Kommission nahm die Empfehlung 3 „Verbesserung der Unterstützung, um Patienten mit seltenen Krankheiten den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erleichtern“ an und kündigte an, dass sie ihre Strategie zu seltenen Krankheiten soweit erforderlich bis Anfang 2023 revidieren wird (13). Das Europäische Parlament verabschiedete seine Entschließung zur Strategie der EU im Bereich der öffentlichen Gesundheit für die Zeit nach der COVID-19-Pandemie, in der ein EU-Aktionsplan für seltene Krankheiten gefordert wird (14). Außerdem hat die EU in der europäischen Säule sozialer Rechte die „rechtzeitige, hochwertige und bezahlbare Gesundheitsvorsorge und Heilbehandlung“ verankert (15).

3.2.

Mit der angekündigten Mitteilung über eine europäische Pflege- und Betreuungsstrategie sollen die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte und die angemessene Anerkennung von Pflege- und Betreuungspersonen unterstützt werden. Familien von Patienten mit seltenen Krankheiten würden von einer Strategie profitieren, die Pflege- und Betreuungspersonen und ihre Rechte in der gesamten EU besser anerkennt, mehr Flexibilität bei der Ausübung ihrer Rechte in grenzübergreifendem Kontext bietet und als zentralen Punkt die psychische Gesundheit (sowohl professioneller Pflege- und Betreuungskräfte als auch nichtprofessioneller Pflege- und Betreuungspersonen) beinhaltet (16).

3.3.

Die EU-Mitgliedstaaten haben die Resolution der Vereinten Nationen von 2021 zur Bewältigung der Herausforderungen für Menschen mit einer seltenen Krankheit und ihre Familien (17) mitgetragen, in der unter anderem gefordert wird, die Gesundheitssysteme zu stärken, um Menschen mit einer seltenen Krankheit in die Lage zu versetzen, ihren Bedürfnissen im Bereich der körperlichen und geistigen Gesundheit gerecht zu werden, ihre Menschenrechte, einschließlich ihres Rechts auf das höchstmögliche Maß an körperlicher und geistiger Gesundheit, wahrzunehmen, die Gerechtigkeit und Gleichheit in gesundheitlichen Belangen zu verbessern, Diskriminierung und Stigmatisierung zu beenden, Versorgungslücken zu schließen und eine inklusivere Gesellschaft zu schaffen.

3.4.

Der Rat „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ (Gesundheit) befasste sich mit der europäischen Reaktion auf seltene Krankheiten und erörterte die Frage, inwieweit im Bereich der seltenen Krankheiten die Zusammenarbeit und Abstimmung sowohl der Mitgliedstaaten untereinander als auch auf Unionsebene verstärkt werden sollte. Der Ratsvorsitz der EU ist der Auffassung, dass ein verstärktes Handeln der EU in diesem Bereich die Vorteile der Europäischen Gesundheitsunion für die Unionsbürgerinnen und -bürgern greifbar machen würde. Der europäische Raum für Gesundheitsdaten sollte eine Rolle bei der Bekämpfung seltener Krankheiten spielen und den Zugang zu hochwertigen Gesundheitsdaten in einem gesicherten Umfeld gewährleisten und so eines der Instrumente werden, durch das das Handeln der EU wirksamer werden könnte. Er muss dazu beitragen, neue sicherere und personalisierte Therapien schneller zugänglich zu machen (18).

3.5.

Der Bericht über die Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft der EU enthält einen Vorschlag für gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle, mit dem Ziel, ein „Recht auf Gesundheit“ zu schaffen, das allen Europäern den gleichberechtigten und universellen Zugang zu einer erschwinglichen, präventiven, kurativen und hochwertigen Gesundheitsversorgung garantiert. In der Plenarversammlung der Konferenz wurden die Belange der von seltenen Krankheiten Betroffenen ausdrücklich anerkannt und thematisiert und folgende Aspekte befürwortet: schnellere und stärkere Entscheidungsfindung bei wichtigen Themen und Verbesserung der Effizienz der europäischen Governance im Hinblick auf die Entwicklung der Europäischen Gesundheitsunion; Notwendigkeit, für jeden einen Zugang zu existierenden Behandlungen, sobald sie in der EU verfügbar sind, sicherzustellen, wozu die grenzüberschreitende Zusammenarbeit erleichtert werden muss, insbesondere bei seltenen Krankheiten; Stärkung des Gesundheitssystems zur Verbesserung der Widerstandsfähigkeit und Qualität unserer Gesundheitssysteme, insbesondere durch die Weiterentwicklung, Koordinierung und Finanzierung der ERN, da sie die Grundlage für die Entwicklung von Netzen der medizinischen Versorgung für hochspezialisierte und komplexe Behandlungen bilden (19).

3.6.

„Europas Plan gegen den Krebs“ aus dem Jahr 2021 bietet ein neues EU-Konzept für Krebsprävention, -behandlung und -versorgung. Die Liste der bis 2030 zu ergreifenden Maßnahmen und die Einbeziehung der Interessenträger stellen einen Ansatz für die europäische Gesundheitspolitik dar, mit dem gesundheitliche Ungleichheiten in der EU bekämpft werden sollen (20). Der Plan geht ebenfalls von den ERN aus, die für den Austausch von Fachwissen über die Diagnose und Behandlung seltener Krankheiten eine Vorreiterrolle spielen.

4.   Besondere Bemerkungen zu seltenen Krankheiten und zur Politik im Bereich seltener Krankheiten

4.1.

Bei der Bewertung der Folgemaßnahmen zu seiner Stellungnahme zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Rates für eine europäische Maßnahme im Bereich seltener Krankheiten“ (21) stellt der EWSA fest, dass die Empfehlungen derzeit noch — mit unterschiedlichem Erfolg — umgesetzt werden. Das betrifft beispielsweise die Entwicklung von ERN ab 2017, die Einführung eines Kommunikations- und Berichterstattungssystems, Handbücher oder Leitlinien zur Erleichterung des Dialogs zwischen den verschiedenen Berufskulturen in der EU und die Forderung, dass Patienten innerhalb des Europäischen Raums für Gesundheitsdaten auf ihre Daten zugreifen können müssen. Bei der EU-Politik im Bereich seltener Krankheiten ist dringendes Handeln nötig und viel aufzuholen.

4.2.

Die Europäischen Referenznetzwerke (ERN) sind eine Leitinitiative im Rahmen der konkreten europäischen Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitssystemen und erleichtern klinische Studien und das Zusammentragen von Fachwissen für die Diagnose und Behandlung von Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten in Europa. Das Potenzial dieser ERN wurde bisher noch nicht vollständig ausgelotet, geschweige denn ausgeschöpft. 2022 soll eine Evaluierung gestartet werden (22). Für die 24 im Jahr 2017 gegründeten ERN konnten 1 466 Mitglieder in sämtlichen europäischen Mitgliedstaaten gewonnen werden, darunter über 900 medizinische Abteilungen in mehr als 313 Krankenhäusern. 1,7 Mio. Patienten befinden sich gegenwärtig bei Mitgliedern eines ERN in Behandlung. Über das System für klinisches Patientenmanagement werden dagegen nur 2 100 Fälle komplexer und sehr seltener Krankheiten bearbeitet.

4.3.

Zur Optimierung des Potenzials der ERN müssen folgende Probleme angegangen werden: fehlende Kostenerstattung für Gesundheitsdienstleister, die an den ERN teilnehmen, keine spezifische Kostenerstattung für virtuelle Konsultationen über das System für klinisches Patientenmanagement, Probleme bei der verwaltungstechnischen bzw. technischen Interoperabilität. Ein weiterer Ansatzpunkt für eine größere Bekanntheit und Zugänglichkeit ist die Integration der ERN in die nationalen Gesundheitssysteme über die angeschlossenen Referenzzentren für seltene Krankheiten.

4.4.

Die Zentralisierung der Versorgung von Patienten mit seltenen Krankheiten bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer ausreichenden Zahl von Fachzentren würde der Qualität der Versorgung zugutekommen. Dazu müssen Kriterien für die Definition eines Fachzentrums festgelegt werden. Fachzentren benötigen spezifische und angemessene Finanzmittel. Da die Zivilgesellschaft und die Sozialpartner die Mittel zur Finanzierung der öffentlichen Gesundheitsausgaben aufbringen, sollten sie bei der Verteilung dieser Mittel eine strategische Rolle spielen. Lokale, regionale und nationale Versorgungsnetze müssen auf die Existenz von Fachzentren aufmerksam gemacht und angehalten werden, sich an den ERN zu beteiligen, um den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erleichtern und die Qualität der Versorgung zu verbessern.

4.5.

Mit EU-Mitteln unterstützte grenzüberschreitende Multi-Stakeholder-Partnerschaften und -Konsortien, die die Zivilgesellschaft und Experten für seltene Krankheiten und Gesundheits- bzw. Sozialpolitik, Hochschulen, medizinische Partner, Wissenszentren, Patientenverbände, gemeinnützige Krankenkassen auf Gegenseitigkeit und fachkundige Patienten zusammenbringen, haben sich als bereichernde Ökosysteme für die europäische Forschung und Zusammenarbeit erwiesen. Sie haben zur Formulierung von auf die Patienten ausgerichteten politischen Empfehlungen, zu Pilotprojekten und Studien zur Verbesserung des Zugangs europäischer Patienten mit seltenen Krankheiten zu einer hochwertigen ganzheitlichen und integrierten Gesundheits- und Sozialfürsorge beigetragen (23). Jetzt gilt es, diese Empfehlungen und bewährten Verfahren unter Einbeziehung nationaler, grenzüberschreitender und europäischer Initiativen in einer kohärenten Politik, bei der niemand mit einer seltenen Krankheit zurückgelassen wird, konkret umzusetzen.

4.6.

In der partizipativen Studie Rare 2030 über die künftige Politik im Bereich seltener Krankheiten wurden acht wichtige Empfehlungen zu Behandlung, Betreuung und Pflege, Forschung, Daten sowie zur europäischen und nationalen Infrastruktur mit einem Fahrplan und SMART-Zielen formuliert, die für das nächste Jahrzehnt in der Politik im Bereich seltener Krankheiten tonangebend sein werden: 1) langfristige, integrierte europäische und nationale Pläne und Strategien; 2) eine frühzeitigere, schnellere und genauere Diagnose; 3) Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung; 4) integrierte und personenzentrierte Betreuung und Pflege; 5) Partnerschaften mit Patienten; 6) innovative und bedarfsorientierte Forschung und Entwicklung; 7) Optimierung der Daten zum Nutzen der Patienten und der Gesellschaft; 8) verfügbare, zugängliche und erschwingliche Behandlungen (24).

4.7.

Die Anerkennung des Fachwissens von Patienten mit seltenen Krankheiten, Familienangehörigen und Angehörigen der Gesundheitsberufe stand im Mittelpunkt des EMRaDi-Projekts, bei dem unter anderem Angebot und Nachfrage im Bereich seltener Krankheiten in der Euregio Maas-Rhein untersucht wurden. Zudem wurden auf der Grundlage von 104 eingehenden Befragungen zu acht seltenen Krankheiten Alltag und Patientenpfade analysiert (25). Diese Befragungen bestätigten Annahmen in Bezug auf diagnostische Schwierigkeiten, eine erhöhte Belastung bei der Koordinierung der Versorgung (mit Patienten, die auf ihrem Patientenpfad zwischen sechs und 25 Angehörige von Gesundheitsberufen aufsuchen), die Notwendigkeit und Bevorzugung einer multidisziplinären Versorgung in spezialisierten Zentren und — weiter gefasst — das Erfordernis einer umfassenderen ganzheitlichen Perspektive für das komplette Spektrum an Informationsbedarf, psychologischer Unterstützung, sozialer Inklusion und Entwicklungschancen, praktischen und administrativen Belangen, aber auch den Bedarf an grenzübergreifender medizinischer Versorgung. Im Rahmen des Projekts wurden Empfehlungen zur ganzheitlichen Betreuung und Pflege, Telemedizin und europäischen Solidarität ausgesprochen (26).

4.8.

Die COVID-19-Pandemie hat die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung, den Einsatz neuer Technologien und die Entwicklung der Telemedizin beschleunigt. Die Regelung, der Kapazitätsaufbau und die Kostenerstattung für Telemedizin, einschließlich Telekonsultation, Teleexpertise, Telemonitoring und mobiler Gesundheitsdienste muss in Absprache mit den Sozialpartnern und Interessenträgern aus dem medizinischen Bereich erfolgen und vor allem die Patientensicherheit sowie die Qualität und Kontinuität der Versorgung und Behandlung gewährleisten. Die optimale Nutzung der Telemedizin verhindert, dass Patienten, auch solche mit seltenen Krankheiten, innerhalb ihres Landes oder europaweit übermäßig reisen müssen.

4.9.

Für Fortschritte in der akademischen Forschung, der Gesundheitsökonomie und der Qualität der Behandlung seltener Krankheiten werden Patientenregister auf der Grundlage des FAIR-Prinzips (Auffindbarkeit, Zugänglichkeit, Interoperabilität und Wiederverwendbarkeit) benötigt. Auf der Grundlage von Initiativen wie dem European Registry Data Warehouse, dem Metadatenspeicher für die Europäische Infrastruktur für Register für seltene Erkrankungen (ERDRI.mdr) und dem europäischen Raum für Gesundheitsdaten muss eine Debatte über eine präzise, standardisierte Registrierung und den Zweck von Registern geführt werden.

4.10.

Die Kartierung von Angebot und Nachfrage im Bereich seltener Krankheiten erfordert unter größtmöglicher Achtung der Privatsphäre der betroffenen Patienten quantitative Analysen der Prävalenz, der Inanspruchnahme von Betreuungs- und Pflegeleistungen sowie der Kosten dieser Leistungen. Dank einer innovativen Methodik der belgischen Krankenkassen konnte eine erste Analyse der Prävalenz, der Kosten und der Inanspruchnahme von Betreuung und Pflege von Patienten mit seltenen Krankheiten in Relation zu den Durchschnittswerten der angeschlossenen Mitglieder vorgenommen werden (27).

4.11.

Die Analyse bestätigt, dass Versorgungsdienstleistungen stärker als durchschnittlich in Anspruch genommen werden (häufigere Krankenhausbesuche und -aufnahmen, häufigere allgemeinmedizinische und fachärztliche Versorgung), was auf den komplexeren Betreuungs- und Pflegebedarf zurückzuführen ist. Die Kosten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung werden im Vergleich zu einem durchschnittlichen Mitglied auf das Zehnfache beziffert mit einem dreimal höheren jährlichen Selbstbehalt. Der größte Teil der Kosten — durchschnittlich die Hälfte der Ausgaben — entfällt auf Arzneimittel. Die tatsächlichen Kosten dürften wesentlich höher sein, da in der Studie weder die sozioökonomische Lage der Familie noch andere nicht erstattete Kosten wie psychologische oder paramedizinische Versorgung, Zusatzversicherung oder reine Selbstkosten berücksichtigt wurden. Die Analyse zeigt, wie wichtig starke, solidarische Krankenversicherungssysteme sind, die Patienten mit seltenen Krankheiten schützen. Wenn Patienten mit seltenen Krankheiten aus finanziellen Gründen Betreuung und Pflege verweigern oder nicht in Anspruch nehmen, wirkt sich dies auf ihre Gesundheit und ihre spätere Lebensqualität aus und birgt das Risiko langfristig höherer Kosten.

4.12.

Die Überarbeitung der EU-Rechtsvorschriften über Arzneimittel für seltene Erkrankungen und für Kinder erfordert einen ehrgeizigen Ansatz, um sicherzustellen, dass Arzneimittel und Behandlungen für seltene Erkrankungen für die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten und für die Patienten erschwinglich sind. Die Erschwinglichkeit ist derzeit für viele Patienten mit seltenen Krankheiten ein Hindernis. Durch unterschiedliche Formen europäischer Kooperation und Modelle für den gemeinsamen Kauf von Arzneimitteln durch verschiedene Länder — wie Beneluxa (28) oder den gemeinsamen Kauf von Impfstoffen während der COVID-19-Pandemie — hat sich der Zugang zu Behandlungen mithilfe eines gemeinsamen, transparenten, nachhaltigen und unterstützenden EU-Ansatzes verbessert. Die Debatte über faire Preise und die Transparenz der FuE-Kosten für Arzneimittel wird durch den Vorschlag für einen Rechner für faire Arzneimittelpreise und das Modell für faire Preisgestaltung von AIM zur Berechnung eines fairen Preises für neue oder vorhandene Arzneimittel (ohne Generikawettbewerb) und den Vergleich mit dem tatsächlich gezahlten oder in Verhandlung befindlichen Preis noch befeuert (29).

4.13.

Wenn keine reguläre Kostenerstattung möglich ist, gibt es in verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedliche Bestimmungen für den Zugang von Patienten mit seltenen Krankheiten zu Arzneimitteln für seltene Erkrankungen, darunter Programme für Härtefälle, Bestimmungen für die Off-Label-Nutzung von Medikamenten und z. B. auch Interventionen von speziellen Solidaritätsfonds (30). Solidaritätsfonds können eine sinnvolle Ergänzung darstellen, wenn die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten für die Behandlung komplexer oder seltener Krankheiten oder eine grenzübergreifende Versorgung nicht trägt. Dies ist sicherlich der Fall, wenn es in der EU keine anerkannten Referenzzentren gibt. Trotz der haushaltsrelevanten Auswirkungen der Behandlung seltener Krankheiten gibt es noch keine Überlegungen zu europäischen Übereinkommen über die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten in ERN oder in einem Referenzzentrum in einem anderen Mitgliedstaat.

4.14.

Die Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA) wurde als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie und als zentrale Säule der Europäischen Gesundheitsunion eingerichtet. Ihr Ziel ist es, Gesundheitskrisen vorzubeugen, sie zu erkennen und rasch darauf zu reagieren. Bedrohungen und potenzielle Gesundheitskrisen sollen antizipiert werden, indem Informationen zusammengetragen und die erforderlichen Reaktionskapazitäten aufgebaut werden. Der Zuständigkeitsbereich der HERA kann über übertragbare Krankheiten hinaus ausgeweitet werden, und ihr Auftrag ermöglicht ihr, auch anderen Gefahren für die öffentliche Gesundheit zu begegnen. Die derzeitige Governance-Struktur der Europäischen Gesundheitsunion umfasst noch keine institutionalisierte Unterstützung für die Vorsorge und die Reaktion auf Herausforderungen im Bereich seltener Krankheiten, mit denen die Mitgliedstaaten konfrontiert sein könnten. Die HERA kann als Modell für eine neue Behörde für nicht übertragbare Krankheiten dienen, die die Koordinierung und Solidarität bei seltenen Krankheiten fördern würde.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 91.

(2)  Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen (2006), Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

(3)  Europäische Kommission (2019) Rare Diseases.

(4)  Orphanet (2021) Orphanet in Zahlen: 6 172 Krankheiten https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/index.php?lng=DE; Nguengang Wakap S., Lambert D.M., Olry A., Rodwell C., Gueydan C., Lanneau V., Murphy D., Le Cam Y., Rath A. Estimating cumulative point prevalence of rare diseases: analysis of the Orphanet database. Eur J Hum Genet. 2020 Feb; 28(2):165-173. doi:10.1038/s41431-019-0508-0. Epub 2019 Sep 16. PMID: 31527858; PMCID: PMC6974615.

(5)  Eurocarers (Dezember 2021), The gender dimension of informal care.

(6)  ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 123.

(7)  Eurordis; Rare disease impact report: insights from patients and the medical community 2013 detailing diagnostic uncertainty of low prevalence diseases in the United States and the United Kingdom.

(8)  König-Baudouin-Stiftung (2014), Zoom: Nieuwe perspectieven op gelijke kansen — Zeldzame ziekten.

(9)  Kole, A., Hedley V., et al. (2021) Recommendations from the Rare 2030 Foresight Study: The future of rare diseases starts today. Available, accessible and affordable treatments — What do people living with a rare disease think? S. 119.

(10)  Weltgesundheitsorganisation (2022), Quality of care.

(11)  Loridan J., Noirhomme C. (2020), Field analysis of existing RD patient pathways in the EMR.

(12)  Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden (ABl. L 18 vom 22.1.2000, S. 1); Empfehlung des Rates vom 8. Juni 2009 für eine Maßnahme im Bereich seltener Krankheiten (ABl. C 151 vom 3.7.2009, S. 7); Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (ABl. L 88 vom 4.4.2011, S. 45).

(13)  Europäischer Rechnungshof (2019): EU-Maßnahmen für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung: Zielsetzung zwar ehrgeizig, doch bessere Verwaltung erforderlich.

(14)  Europäisches Parlament (10. Juli 2020), Strategie der EU im Bereich der öffentlichen Gesundheit für die Zeit nach der COVID-19-Pandemie — Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Juli 2020 zur Strategie der EU im Bereich der öffentlichen Gesundheit für die Zeit nach der COVID-19-Pandemie (2020/2691(RSP)) (ABl. C 371 vom 15.9.2021, S. 102).

(15)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte (COM(2021) 102 final).

(16)  International Association of Mutual Benefit Societies (AIM) (2022): AIM's Views on the EU Care Strategy.

(17)  Vereinte Nationen (5. Januar 2022), A/RES/76/132: Von der Generalversammlung am 16. Dezember 2021 verabschiedete Resolution — Addressing the challenges of persons living with a rare disease and their families.

(18)  Rat „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ (Gesundheit), (29. März 2022), Wichtigste Ergebnisse — Europäische Reaktion auf seltene Krankheiten.

(19)  Konferenz zur Zukunft Europas, Bericht über das endgültige Ergebnis, Mai 2022.

(20)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Europas Plan gegen den Krebs (2021).

(21)  ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 91.

(22)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen als Begleitunterlage zum Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, (SWD(2022) 200 final), Europäische Referenznetzwerke, S. 29.

(23)  INNOVCare (2018), Bridging the gaps between health, social and local services to improve care of people living with rare and complex conditions; EMRaDi (2020), Seltene Erkrankungen machen nicht vor Landesgrenzen halt!; Rare 2030 (2021), Foresight in Rare Disease Policy.

(24)  Kole, A., Hedley V., et al. (2021) Recommendations from the Rare 2030 Foresight Study: The future of rare diseases starts today.

(25)  EMRaDi (2020), EMRaDI-Abschlussbericht.

(26)  EMRaDi-Projekt (2019) Factsheet EMRaDi — Wie können die EU-Maßnahmen im Bereich seltener Erkrankungen (SE) den Patient/inn/en und den Angehörigen näher gebracht werden? Von lokalen und grenzübergreifenden Entwicklungen bis hin zu europäischen Lösungen.

(27)  Noirhomme C., (Dezember 2020), MC informations 282, Analyse de la consommation et des dépenses de soins des personnes atteintes de maladies rares, S. 20-29.

(28)  Beneluxa-Initiative zur Arzneimittelpolitik.

(29)  AIM — European fair price calculator for Medicines; AIM offers a tool to calculate fair and transparent European prices for accessible pharmaceutical innovations.

(30)  Universität Maastricht (2020), Bericht über die Analyse der rechtlichen, finanziellen und Erstattungsmechanismen seltener Erkrankungen für die Behandlungskosten von Patienten mit seltenen Erkrankungen in der EMR, 3.2 „Arzneimittel für seltene Leiden (Orphan Drugs)“, S. 48-50.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/75


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Betreuung von Menschen mit Behinderungen und älteren Menschen durch Angehörige — rapide Zunahme während der Pandemie“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/11)

Berichterstatter:

Pietro Vittorio BARBIERI

Beschluss des Plenums

24.2.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

29.9.2022

Verabschiedung auf der Plenartagung

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

170/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist besorgt über die Lebensbedingungen der Bürgerinnen und Bürger, die Langzeitbetreuung für Angehörige mit Behinderungen oder chronischen bzw. degenerativen Erkrankungen wie etwa Demenz und Krebs leisten.

1.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass deren Situation während der COVID-19-Pandemie noch gravierender geworden ist, sodass strukturelle Veränderungen in Bezug auf die sozialpolitischen Maßnahmen und die Sozialdienstleistungen unerlässlich sind.

1.3.

Zur Optimierung der sozialpolitischen Maßnahmen und zur bestmöglichen Festlegung der erforderlichen Unterstützung hält der EWSA eine gemeinsame Definition der Rolle und des Status von Personen für erforderlich, die Langzeitbetreuung für Angehörige mit Behinderungen oder chronischen bzw. degenerativen Erkrankungen wie Demenz und Krebs leisten. Dazu ist es u. a. notwendig, die spezifischen Merkmale dieser Tätigkeit zu beschreiben und diesbezügliche Leistungsstufen festzulegen sowie die Rolle der Betroffenen auch im Bereich der gemeindenahen Dienstleistungen stärker anzuerkennen.

1.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Tätigkeit pflegender Angehöriger im Rahmen soziologischer Studien und statistischer Erhebungen eingehender definiert werden muss. Insbesondere sollte dabei darauf eingegangen werden, wie sich die Langzeitbetreuung auf die pflegenden Angehörigen auswirkt, und zwar unabhängig davon, ob sie gleichzeitig einer beruflichen Beschäftigung nachgehen oder nicht.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass es im Bereich der Betreuung durch Angehörige gemeinsamer Maßnahmen der Behörden, der Arbeitgeber im Rahmen des sozialen Dialogs und nicht zuletzt der betreuenden Familienmitglieder selbst sowie ihrer Vertretungsorganisationen bedarf, um zu gewährleisten, dass diese von der Konzipierung der öffentlichen Maßnahmen bis hin zu ihrer Umsetzung durchgehend einbezogen werden.

1.6.

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, dass Gesundheitsschutzdienstleistungen, einschließlich Vorsorge- und regelmäßiger Facharztuntersuchungen, zur Verfügung stehen und dass Bürgerinnen und Bürger, die die Langzeitpflege ihrer Angehörigen übernehmen, eine angemessene Schulung zum Schutz ihrer eigenen Gesundheit erhalten.

1.7.

Der EWSA fordert, unter denjenigen, die gezwungen sind, ihre Erwerbstätigkeit aufzugeben, um langfristig einen aufgrund einer chronischen bzw. degenerativen Erkrankung oder einer Behinderung pflegebedürftigen Angehörigen zu betreuen, im Rahmen der nationalen Rentensysteme spezifische Umfragen zur Erhebung von Daten durchzuführen, anhand derer der Anspruch auf alternative Vergütungsformen abgestuft und angepasst werden kann.

1.8.

Der EWSA stellt fest, dass in Bezug auf die Langzeitbetreuung von Angehörigen nach wie vor ein Geschlechtergefälle besteht, und fordert im Einklang mit seiner Stellungnahme „Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter“ (1), dass entsprechende Abhilfemaßnahmen ergriffen werden, u. a. eine Stärkung der Umsetzung der bereits in der Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlaments und des Rates (2) enthaltenen Leitlinien.

1.9.

Der EWSA weist darauf hin, dass die breite Öffentlichkeit bislang nur zu einem geringen Maß für die Lebensbedingungen der Betroffenen sensibilisiert ist, und fordert die Schaffung eines Europäischen Tages der pflegenden Angehörigen, um das Bewusstsein für dieses Phänomen zu schärfen und geeignete Strategien und Unterstützungsmaßnahmen zu fördern.

1.10.

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, Dienste und Unterstützung im Bereich Wohnen sowie Haushaltsdienstleistungen bereitzustellen, wobei insbesondere der Gesundheits- und Krankenpflegebedarf sowie der Bedarf an psychologischer Unterstützung für die Betreuungsperson, die Kernfamilie sowie die betreuungsbedürftige Person zu berücksichtigen sind.

1.11.

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, für den Fall unvorhergesehener Ereignisse, die auf längere Sicht oder vorübergehend eine Betreuung unmöglich machen, Notdienste zu fördern und bereitzustellen, ebenso wie Hilfsdienste, um die Folgen einer dauerhaften Be- und Überlastung einzudämmen. Zudem sollten Erleichterungen und vereinfachte Verfahren vorgesehen werden, die den bürokratischen Aufwand für pflegende Angehörige verringern.

1.12.

Der EWSA hält es für wesentlich, Dienstleistungen und Unterstützung bereitzustellen, die es Menschen mit Behinderungen ermöglichen, ein selbstständiges Leben außerhalb der eigenen Familie zu führen, u. a. durch die Vermittlung von Autonomie, alternative Wohnlösungen und Möglichkeiten für ein unabhängiges Leben, was sich zwangsläufig auch positiv auf die Belastung von Angehörigen auswirkt, die ansonsten zur Langzeitpflege verpflichtet wären.

1.13.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen (u. a. Transferleistungen) in Erwägung zu ziehen, um der Gefahr einer Verarmung derjenigen entgegenzuwirken, die — trotz spezifischer Maßnahmen, Dienstleistungen und Unterstützung zu deren Bekämpfung — gezwungen sind, ihre Erwerbstätigkeit vollständig oder teilweise aufzugeben, um langfristig ihre Angehörigen betreuen zu können.

1.14.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen zu ergreifen, um das Angebot an Langzeitbetreuungskräften sowohl in qualitativer als auch quantitativer Hinsicht zu fördern.

1.15.

Der EWSA fordert, die Arbeitgeber dazu anzuhalten und dabei zu unterstützen, pflegenden Angehörigen über die diesbezüglich schon bestehenden nationalen Rechtsvorschriften hinaus flexible Arbeitsbedingungen und betriebliche Sozialmaßnahmen anzubieten.

2.   Bestandsaufnahme

2.1.

Aus den 2018 veröffentlichten Eurostat-Statistiken über die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben (3) geht hervor, dass von den über 300 Mio. Menschen in der Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen in der EU etwa ein Drittel Betreuungsaufgaben wahrnahm. Dies bedeutet, dass rund 100 Mio. Menschen Kinder unter 15 Jahren und/oder pflegebedürftige Angehörige (Kranke, ältere Menschen und/oder Menschen mit Behinderungen) über 15 Jahren betreuten. Rund 200 Mio. Menschen in der EU hatten wiederum keinerlei Betreuungspflichten. Von den pflegenden Angehörigen betreute die Mehrheit (74 %) Kinder unter 15 Jahren, die im selben Haushalt leben. Von den übrigen 26 % kümmerten sich 3 % um außerhalb des Haushalts lebende Kinder, 7 % um Kinder, die sowohl im selben Haushalt als auch außerhalb davon leben, 4 % um Kinder und zugleich um pflegebedürftige Angehörige sowie 12 % ausschließlich um pflegebedürftige Familienmitglieder.

2.2.

Im Jahr 2018 nahm jeder dritte EU-Bürger im Alter von 18 bis 64 Jahren Betreuungspflichten wahr (34,4 % gegenüber 65,6 % ohne Betreuungspflichten). Innerhalb der Gruppe derer, die Betreuungspflichten wahrnahmen, stellt sich die Verteilung wie folgt dar: 28,9 % kümmerten sich ausschließlich um Kinder unter 15 Jahren, 4,1 % betreuten pflegebedürftige Angehörige ab 15 Jahren und nur weniger als 2 % betreuten sowohl kleine Kinder als auch pflegebedürftige Angehörige.

2.3.

Die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger erfolgte überwiegend durch Frauen (die Betreuungspersonen waren zu 63 % Frauen und zu 37 % Männer). Innerhalb der Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen gehörten die pflegenden Angehörigen überwiegend zu den älteren Altersgruppen: 48,5 % waren zwischen 55 und 64 Jahren alt und 35 % zwischen 45 und 54 Jahren. Der Anteil der 18 — bis 44-Jährigen an den pflegenden Angehörigen belief sich auf nur 5,5 %.

2.4.

In der EU-28, also in den derzeitigen 27 Mitgliedstaaten plus Großbritannien vor seinem EU-Austritt, klaffte eine Lücke von 3,3 Prozentpunkten zwischen jenen Männern (2,5 %) und jenen Frauen (5,9 %), die angaben, dass sie ihre Arbeitszeit verkürzt haben oder in ihrer derzeitigen oder einer früheren Position länger als einen Monat nicht erwerbstätig waren, um kranke, ältere und/oder behinderte Angehörige zu betreuen. Das größte Gefälle verzeichnete diesbezüglich Bulgarien (6,8 Prozentpunkte), das niedrigste Zypern (1,1 Prozentpunkte), aber überall änderten Frauen ihr Berufsleben häufiger als Männer (Eurostat, 2018).

2.5.

Im Jahr 2018 gaben 29,4 % der Beschäftigten in der EU-28 an, dass sie wegen Betreuungsaufgaben prinzipiell flexible Arbeitszeiten nutzen und ganze Tage Pflegeurlaub in Anspruch nehmen können. Dabei zeigten sich jedoch Unterschiede zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Der höchste Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit der Möglichkeit, flexible Arbeitszeiten zu nutzen und Pflegeurlaub zu nehmen, wurde in Slowenien (60,4 %) verzeichnet, gefolgt von Finnland (57,1 %) und Dänemark (55,1 %). Am niedrigsten war der Anteil in Ungarn (7,5 %), Polen (7,3 %) und Zypern (3,8 %). Andererseits gab ein Viertel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (25,2 %) an, dass es ihnen nicht möglich ist, flexible Arbeitszeiten zu nutzen oder ganze Tage Pflegeurlaub in Anspruch zu nehmen. Auch bei dieser Gruppe gab es erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten: Betrug ihr Anteil in Lettland 6,9 % und in Slowenien 7,7 %, belief er sich in Polen auf 58,6 % und in Zypern 58,7 % (Eurostat, 2018).

2.6.

Was die Auswirkungen auf die Gesundheit betrifft, so erhielten Elizabeth Blackburn, Carol Greider und Jack Szostak 2009 den Nobelpreis für Medizin für ihre Erkenntnisse über die biologischen Auswirkungen des Stresses, dem Langzeitpflegepersonen typischerweise ausgesetzt sind. Sie stellten fest, dass die Telomere von Müttern, die Kinder mit besonderen Bedürfnissen längerfristig betreuen, verkürzt sind, wodurch ihre Lebenserwartung um neun bis siebzehn Jahre sinkt. Die Auswirkungen von Dauerstress sind in der internationalen wissenschaftlichen Literatur gut belegt.

2.7.

In der Anhörung vom 4. Juli 2022 erklärte die Europäische Kommission, dass im Bereich der informellen Pflege 33 Mrd. bis 39 Mrd. Stunden geleistet würden, was 2,4 % bis 2,7 % des EU-BIP entspricht. Der mehrjährige Finanzrahmen, d. h. der Betrag der EU-Investitionen in innovative Zukunftsprojekte, macht weniger als die Hälfte dieses Betrags aus, nämlich etwa 1,02 % des BIP.

2.8.

Aus persönlichen Berichten, die von Menschen mit Behinderungen vertretenden NRO zusammengetragen wurden, geht hervor, dass die Möglichkeiten pflegender Angehöriger, soziale Kontakte zu unterhalten und eigenen kulturellen oder sportlichen Interessen nachzugehen, aufgrund der häufig kaum planbaren Pflegetätigkeit und des Fehlens alternativer Pflegeangebote, wozu sehr oft verschärfend noch ein Mangel an Zeit und Platz für die eigene Erholung und Entspannung hinzukommt, stark beeinträchtigt und eingeschränkt sind.

2.9.

Aus statistischen Untersuchungen und den Erfahrungsberichten der Betroffenen geht klar hervor, dass es im Bereich der Langzeitbetreuung von Angehörigen mit Behinderungen bzw. chronischen oder degenerativen Erkrankungen ein Geschlechtergefälle gibt, bei dem die Frauen den Großteil der Last zu stemmen haben. Dies bedeutet, dass es vor allem Frauen sind, die ihre Berufstätigkeit aufgeben, in der Karriere zurückstecken oder in Teilzeit arbeiten müssen und, allgemeiner betrachtet, stärker von materieller wie auch immaterieller Armut betroffen sind.

2.10.

In der EU geben 25 % der Frauen und 3 % der Männer an, dass sie aufgrund der Betreuung von Angehörigen, jungen oder älteren Menschen sowie Kranken keinen Zugang zu einer bezahlten Beschäftigung haben oder unfreiwillig nur in Teilzeit arbeiten können (4).

2.11.

Pflegende Angehörige, die ihre Erwerbstätigkeit aufgeben, zahlen häufig keine Sozialversicherungsbeiträge, aufgrund derer sie Anspruch auf eine künftige Altersrente erwerben könnten, und sind damit später unausweichlich auf Sozialleistungen und Armutsbekämpfungsmaßnahmen angewiesen.

2.12.

Der Abbau und die Kürzungen beim Angebot personen- und haushaltsbezogener Dienstleistungen führen in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten — wenn auch zu einem unterschiedlichen Grad — zu einer noch größeren Überlastung derjenigen, die ihre Angehörigen mit Behinderungen oder chronischen bzw. degenerativen Erkrankungen, einschließlich Krebs, betreuen.

2.13.

Da diese pflegenden Angehörigen nicht im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses tätig sind, kommen sie auch nicht in den Genuss von Gesundheitsschutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Prävention von Erkrankungen, die für Arbeitnehmer gestärkt und konsolidiert wurden.

2.14.

Aus den Erfahrungsberichten pflegender Angehöriger geht hervor, dass diese sich nicht aus freien Stücken für eine (Langzeit-)Betreuung entschieden haben, sondern sich wegen der Unzulänglichkeit des Pflegeangebots, und weil sie ihre Angehörigen nicht in einer Einrichtung unterbringen wollen, dazu gezwungen sahen. Und auch dann, wenn ein gutes Pflegeangebot vorhanden ist, müssen Angehörige stets einen mehr oder weniger großen Betreuungsaufwand übernehmen.

2.15.

Aufgrund fehlender Alternativen, Unterstützung und Hilfsdienste sind Menschen mit Behinderungen häufig nicht in der Lage, ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben außerhalb ihrer Herkunftsfamilie zu führen.

2.16.

Aus der Eurofound-Erhebung Living, Working and COVID-19 (5) geht hervor, dass die formelle und informelle häusliche Pflege während der Pandemie erheblich zugenommen hat, während die Inanspruchnahme institutionalisierter Pflege zurückgegangen ist.

2.17.

Tendenziell wenden die EU-Mitgliedstaaten systematisch deutlich mehr Sozialausgaben für die institutionalisierte Betreuung und Pflege auf als für autonomes Wohnen und eine selbständige Lebensführung. Dies steht im Widerspruch zu der Forderung, die die Europäische Kommission in der EU-Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2021-2030 an die Mitgliedstaaten richtet, gute Deinstitutionalisierungsverfahren im Bereich der psychischen Gesundheit und für alle Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kinder, umzusetzen, um den Übergang von der institutionellen Betreuung zu gemeindenahen Diensten zu unterstützen.

2.18.

Zu einer Überlastung kommt es bei der Betreuung von Personen mit unterschiedlichen Profilen — Menschen mit psychischer oder schwerer kognitiver Behinderung, Altersdemenz sowie chronischen, degenerativen oder Krebserkrankungen —, deren jeweilige Bedürfnisse die Intensität, Dauer und Form der erforderlichen Betreuung bestimmen, wobei der Betreuungsbedarf im Laufe der Zeit auch zunehmen und in der Folge zu einer Überbelastung führen kann. In vielen Fällen müssen die Angehörigen nicht nur die Betreuung, sondern auch die strikt krankenpflegerischen Tätigkeiten selbst übernehmen.

2.19.

In Bezug auf pflegende Angehörige bestehen nach wie vor zahlreiche, wenn auch unterschiedlich ausgeprägte Vorurteile, wie z. B. dass die Lage, in der diese sich befinden, schlicht Schicksal sei, aber auch das genaue Gegenteil davon, dass sie sich nämlich aus freien Stücken und ganz bewusst aus emotionalen Gründen dafür entschieden hätten, ihre Angehörigen zu betreuen. Da Menschen mit Behinderungen in bestimmten Situationen keine andere Wahl haben, als die Hilfe der Angehörigen in Anspruch zu nehmen, ist es für sie schwierig, persönliche Autonomie zu erlangen bzw. ein eigenständiges Leben zu führen, was ihre Entscheidungsfreiheit einschränkt oder sie daran hindert, ihren eigenen Weg zu gehen.

2.20.

Wenngleich große qualitative Unterschiede zwischen den Unterstützungsdiensten bestehen, spielt die Bewältigung von Notfällen (Erkrankung des Pflegenden, spezifische Engpässe, wohnraumbezogene Schwierigkeiten, Konflikte, Überforderung durch Stress usw.) bei außergewöhnlichen Ereignissen und damit verbundenen Belastungen und Sorgen eine besonders wichtige Rolle.

2.21.

Bei steigendem Druck und Fehlen einer alternativen Lösung zur Betreuung durch Familienmitglieder führt die Aussicht darauf, den pflegenden Angehörigen in absehbarer Zeit zu verlieren, weil dieser seine persönliche Autonomie einbüßt, von einer degenerativen Erkrankung betroffen ist, altert und versterben wird, begründeterweise zu großer Angst, die umso ausgeprägter ist, als keinerlei gute Betreuungsalternative besteht. Lasten die Betreuungsaufgaben ausschließlich auf den Angehörigen, führt dies insbesondere in Fällen mit sehr hohem Betreuungsaufwand zu einer Isolation der gesamten Kernfamilie, mit den vorhersehbaren Auswirkungen auch auf die Gesundheit der Betroffenen.

2.22.

Im EU-Recht ist keine einheitliche Anerkennung für pflegende Angehörige vorgesehen, die Familienmitglieder mit einer chronischen oder degenerativen Erkrankung bzw. einer Behinderung betreuen. Auch der Wert ihrer Dienste sowie die mit ihrer Arbeit verbundenen Risiken und Bedürfnisse werden nur unzureichend anerkannt.

2.23.

Selbst wenn es an Studien mangelt, die sämtliche Aspekte eines solchen Zusammenhangs erfassen und belegen und gegebenenfalls bewährte Verfahren aufzeigen können, scheint es einen Zusammenhang zwischen, einerseits, starker Ausgrenzung, hohem Risiko und Benachteiligung und, andererseits, der Qualität und Quantität der Dienstleistungen zu geben, die für die betroffenen Familien und die betreuungsbedürftigen Personen bzw. die Menschen mit Behinderung zur Verfügung stehen, um Letzteren eine selbständige Lebensführung zu ermöglichen und Haushaltsdienstleistungen, insbesondere Gesundheits- und Rehabilitationsdienste, bereitzustellen.

2.24.

In der Richtlinie (EU) 2019/1158 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige wurde zwar eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, um das Geschlechtergefälle bei den pflegenden Angehörigen zu reduzieren und für eine bessere Vereinbarkeit von Betreuungsaufgaben und Berufstätigkeit zu sorgen, jedoch wurde es abgesehen von einer Analyse der tatsächlichen Auswirkungen in den Mitgliedstaaten darin verabsäumt, auch diejenigen pflegenden Angehörigen zu berücksichtigen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, ihren Beruf aufgegeben haben oder in Rente sind.

2.25.

Wie bei der Anhörung der Thematischen Studiengruppe „Rechte von Menschen mit Behinderungen“ vom 16. September 2021 deutlich wurde, wird die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger, die die Langzeitbetreuung von Angehörigen mit Behinderungen oder chronischen bzw. degenerativen Erkrankungen übernehmen, vielfach von gemeinnützigen Organisationen geleistet, denen die pflegenden Angehörigen selbst angehören.

2.26.

In der EU-27 arbeiten rund 6,3 Mio. Menschen in der Langzeitpflege, was 3,2 % der gesamten Erwerbsbevölkerung der EU entspricht (basierend auf den Daten der Arbeitskräfteerhebung 2019). Es bestehen große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, und der sehr niedrige Anteil in einigen Ländern (Griechenland, Zypern, Rumänien, Polen, Bulgarien, Estland, Litauen, Kroatien, Italien, Ungarn, wo dieser 1,8 % oder weniger beträgt) spiegelt wohl die dortige Abhängigkeit von informeller Pflege durch Angehörige sowie von den Familien selbst engagierten Hauspflegekräften wider, die in diesen Statistiken nicht erfasst werden.

2.27.

Eine Eurofound-Studie aus dem Jahr 2020 hat ergeben, dass die Löhne in der Langzeitpflege und anderen sozialen Diensten 21 % unter dem Durchschnitt liegen, weshalb die Stiftung dazu aufruft, Tarifverhandlungen in der Branche zu fördern, um dieses Problem anzugehen (6).

3.   Eine politische Strategie für Betreuungs- und Pflegekräfte

3.1.

Es muss eine gemeinsame Definition der Rolle und des Status von Personen gefunden werden, die Langzeitbetreuung für Angehörige mit Behinderungen oder chronischen bzw. degenerativen Erkrankungen wie Demenz und Krebs leisten, indem u. a. die spezifischen Merkmale dieser Tätigkeiten beschrieben sowie diesbezügliche Leistungsstufen festgelegt werden. Eine solche Definition muss die Anerkennung des Status der pflegenden Angehörigen, der einschlägigen politischen Maßnahmen sowie der Unterstützungsdienste in der EU fördern.

3.2.

Im Zuge einer umfassenden Überprüfung der sozialpolitischen Maßnahmen ist es notwendig und angezeigt, die Einbindung und Beteiligung der (betreuenden wie auch der betreuten) Bürgerinnen und Bürger an der gemeinsamen Planung der sie betreffenden Dienste und vor allem an der strategischen Festlegung der diesbezüglichen politischen Maßnahmen zu stärken und sicherzustellen.

3.3.

Im Hinblick auf eine Bestandsaufnahme sollte eine Studie zu den Lebensbedingungen der Bürgerinnen und Bürger durchgeführt werden, die Langzeitbetreuung für Angehörige mit Behinderungen oder chronischen bzw. degenerativen Erkrankungen wie etwa Demenz und Krebs leisten.

3.4.

Um eine angemessene Faktenbasis für die Politikgestaltung zu schaffen, sollte Eurostat seine Erhebung Reconciliation of work and family life aus dem Jahr 2018 aktualisieren und dabei eingehender untersuchen, wie sich die Langzeitbetreuung von Angehörigen auf die betreuenden Familienmitglieder auswirkt, und zwar unabhängig davon, ob diese gleichzeitig eine Beschäftigung nachgehen oder nicht.

3.5.

Bürgerinnen und Bürger, die Langzeitbetreuung für Angehörige leisten, sollten einen angemessenen Gesundheitsschutz genießen (einschließlich Maßnahmen zur Prävention von Unfällen im Rahmen ihrer Pflegetätigkeiten sowie von Krankheiten bzw. Erkrankungen infolge ihrer Pflegetätigkeiten), der jenem der Arbeitnehmer und Selbstständigen möglichst ähnlich ist.

3.6.

Es sollten wirtschaftliche, rechtliche und wirkungsbezogene Analysen durchgeführt werden, um gemeinsame, faire und nachhaltige Kriterien für die Anerkennung der Betreuung von Angehörigen bei gleichzeitiger Ausübung einer regulären Erwerbstätigkeit als Schwerarbeit zu ermitteln.

3.7.

Mithilfe von wirtschaftlichen, rechtlichen und wirkungsbezogenen Analysen sollten auch Maßnahmen zur finanziellen Unterstützung derjenigen zu ermittelt werden, die ihre Erwerbstätigkeit aufgeben, um einen älteren oder aufgrund einer chronischen bzw. degenerativen Erkrankung oder einer Behinderung pflegebedürftigen Angehörigen zu betreuen.

3.8.

Im Einklang mit der EWSA-Stellungnahme „Gleichstellungsstrategie“ (7) müssen Maßnahmen ergriffen werden, um das bei den pflegenden Angehörigen bestehende Geschlechtergefälle anzugehen und die Umsetzung der bereits in der Richtlinie (EU) 2019/1158 enthaltenen diesbezüglichen Leitlinien zu stärken.

3.9.

Der Erfolg und die Wirksamkeit von Strategien und Dienstleistungen für pflegende Angehörige hängen eng mit den politischen Maßnahmen und den Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen zusammen, die ein eigenständiges Leben außerhalb ihrer Herkunftsfamilie führen wollen bzw. können, aber auf die Betreuung in dieser Familie angewiesen sind.

3.10.

Bislang ist nur ein fragmentarisches und unvollständiges Wissen und Bewusstsein für dieses Thema vorhanden, und das auch nur in einem beschränkten Kreis von Beobachtern und sozialen Akteuren. Dieser Mangel muss auch durch konkrete Sensibilisierungsinitiativen ausgeglichen werden, die auf eine Stärkung angemessener Unterstützungsstrategien und -maßnahmen abzielen. Der EWSA fordert daher die Einführung eines Europäischen Tages der pflegenden Angehörigen.

3.11.

Der EWSA fordert die EU auf, eng mit den Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten, um die Lebensbedingungen sowohl von pflegenden Angehörigen als auch ihrer Kernfamilien zu verbessern und zu verhindern, dass sie diese Betreuungsarbeit nicht nur deshalb leisten, weil sie de facto gar keine andere Wahl haben. Konkrete Maßnahmen zur Umsetzung dieses Ziels sollten u. a. Folgendes umfassen:

Anerkennung und Aufwertung des Beitrags der Betroffenen auch im Bereich der gemeindenahen Dienste;

Bereitstellung von Dienstleistungen und Unterstützung in Bezug auf Wohnen, um Isolation, Marginalisierung sowie psychische und physische Überlastung zu vermeiden;

Stärkung der Haushaltsdienstleistungen unter besonderer Berücksichtigung des Gesundheits- und Krankenpflegebedarfs;

Bereitstellung psychologischer Unterstützung für pflegende Angehörige und die betroffenen Kernfamilien;

Erleichterungen und vereinfachten Verfahren zur Erledigung von Amtswegen;

Bereitstellung von Notdiensten für den Fall, dass ein unerwartetes Ereignis eintritt oder die Betreuung nicht erfolgen kann;

Bereitstellung von Hilfsdiensten, um die Folgen einer dauerhaften psychischen und physischen Be- und Überlastung der Angehörigen einzudämmen;

Maßnahmen — u. a. Transferleistungen —, um der Gefahr einer Verarmung pflegender Angehöriger, die ihre Erwerbstätigkeit aufgeben oder zeitlich reduzieren, sowie der betroffenen Kernfamilien insgesamt entgegenzuwirken;

Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Förderung des Angebots an Langzeitbetreuungskräften sowohl in qualitativer als auch quantitativer Hinsicht;

wo immer möglich, Förderung von Maßnahmen zur Erlangung persönlicher Autonomie, von alternativen Wohnlösungen sowie einer eigenständigen Lebensführung für Menschen mit Behinderungen;

Verbesserungen für pflegende Angehörige auf der Grundlage gemeinsamer Maßnahmen der Behörden (Anerkennung und Stärkung der Rolle pflegender Angehöriger, Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit von Dienstleistungen, Gesundheit der pflegenden Angehörigen, Förderung von Not- und Unterstützungsdiensten sowie von Sozialschutz- und Vergütungsregelungen für pflegende Angehörige usw.), der Arbeitgeber im Rahmen des sozialen Dialogs sowie der pflegenden Angehörigen selbst und ihrer Vertretungsorganisationen, wobei sicherzustellen ist, dass diese von der Konzipierung öffentlicher Maßnahmen bis hin zu ihrer Umsetzung durchgehend einbezogen werden.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 77.

(2)  Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige und zur Aufhebung der Richtlinie 2010/18/EU des Rates (ABl. L 188 vom 12.7.2019, S. 79).

(3)  „Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben“, Eurostat 2018.

(4)  ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 19, Ziffer 3.8.

(5)  https://www.eurofound.europa.eu/publications/report/2020/living-working-and-covid-19

(6)  Eurofound (2020), Long-term care workforce: Employment and working conditions.

(7)  ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 77.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/82


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Digitale Innovationszentren und KMU“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/12)

Berichterstatter:

Giuseppe GUERINI

Ko-Berichterstatter:

Nicos EPISTITHIOU

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständiges Arbeitsorgan

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

13.9.2022

Verabschiedung auf der Plenartagung

27.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

136/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der festen Überzeugung, dass die europäische Wirtschaft von dem digitalen und dem grünen Wandel profitieren und damit wettbewerbsfähiger, nachhaltiger, widerstandsfähiger und unabhängiger werden kann.

1.2.

Um diese Ziele zu erreichen, muss die EU ihre Kapazität in den Bereichen Forschung, Entwicklung und Innovation verbessern und die Technologien bei den Bürgerinnen und Bürgern, in den öffentlichen Verwaltungen und in den Unternehmen stärker verbreiten.

1.3.

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die FuE-Investitionen der EU möglichst rasch auf 3 % des BIP angehoben werden sollten. Die EU muss spezifische Kompetenzen im Bereich der neuen Generation digitaler Technologien entwickeln und dafür sorgen, dass diese einen festen Platz in den Geschäftsmodellen der EU-Unternehmen finden.

1.4.

Der grüne und der digitale Wandel bieten kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) viele Möglichkeiten, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, können aber auch eine Bedrohung für sie bedeuten. Um solche Risiken zu vermeiden, müssen die europäischen KMU mit einer Reihe von Maßnahmen und Instrumenten bei der Umstellung begleitet werden.

1.5.

Auch wenn sie äußerst innovativ sein können, haben traditionelle KMU aufgrund finanzieller und organisatorischer Einschränkungen sowie mangelnder Kompetenzen Schwierigkeiten, den zweifachen Wandel zu bewältigen.

1.6.

In allen Mitgliedstaaten muss der Zugang von KMU zur Finanzierung ihrer Innovationen grundlegend verbessert werden, auch dadurch, dass sie auf Möglichkeiten zur Eigenkapitalfinanzierung zurückgreifen können und steuerliche Anreize erhalten, die an digitale Technologien und Kompetenzen geknüpft sind.

1.7.

Digitale Innovationszentren (engl. digital innovation hubs, DIH) fungieren als zentrale Anlaufstellen, die den Unternehmen Analysen und Lösungen anbieten, um den zweifachen Wandel zu bewältigen. Der EWSA ist der Ansicht, dass sich mehr Unternehmen in der EU, auch Unternehmen aus der Sozialwirtschaft, an den Aktivitäten der DIH beteiligen sollten und die Vermittlung der Ergebnisse, insbesondere an die KMU, verbessert werden sollte.

1.8.

DIH können als Plattformen dienen, um technologische Lösungen vor der Investition zu erproben („test before invest“), bewährte Verfahren auszutauschen und digitale Kompetenzen zu entwickeln. Sie können auch eine wichtige Rolle dabei spielen, das Potenzial digitaler Technologien für Nachhaltigkeit zu nutzen.

1.9.

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass es an einer klaren Vision für die künftige Entwicklung der DIH mangelt, insbesondere im Hinblick auf die neu gegründeten europäischen digitalen Innovationszentren (EDIH). Es werden Indikatoren (KPI) benötigt, um die Leistung der DIH zu messen und damit das Ziel zu erreichen, sie zu den wichtigsten europäischen Zentren für die inklusive Innovation der KMU zu machen.

1.10.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die DIH als Zwischenebenen fungieren und so ausgestaltet werden sollten, dass sie die Anforderungen der KMU aufgreifen und ermitteln, mit welchen Instrumenten und Lösungen die KMU unterstützt werden können. Die Sensibilisierung für die wichtige Rolle, die die DIH spielen können, ist von größter Bedeutung.

1.11.

Der Ausschuss stellt fest, dass einige Maßnahmen für KMU auf nationaler Ebene nicht umgesetzt werden und dass eine große Kluft in der Kommunikation über diese Einrichtungen für KMU besteht. Die EU und die Mitgliedstaaten müssen sich gemeinsam dafür einsetzen, stärker für die bestehenden europäischen und nationalen Initiativen für KMU zu sensibilisieren, auch für die Vorteile, die mit einer Beteiligung am DIH-Netzwerk verbunden sind.

1.12.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die angemessene Finanzierung der Aktivitäten der DIH sichergestellt werden muss — von Programmen zur Geschäftsentwicklung und zur Unterstützung von Forschung und Entwicklung bis hin zur geförderten Finanzierung von Unternehmen und der Teilnahme an Ausschreibungen.

1.13.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die DIH ihre Aufmerksamkeit auf die Unterstützung der regionalen Wirtschaft und lokaler KMU-Systeme richten sollten, und empfiehlt eine regionale Bestandsaufnahme der bestehenden Zentren und einen Aktionsplan, der sich auf die regionale Entwicklung und eine stärkere Inklusion und Beteiligung konzentriert. Durch die Zusammenarbeit zwischen Großunternehmen und KMU kann die digitale Innovation auf ein neues Niveau gehoben und dabei das bisher ungenutzte Potenzial von Innovationen in den Lieferketten erschlossen werden.

1.14.

Der EWSA stellt fest, dass die DIH in den europäischen Regionen unterschiedlich verteilt sind, wobei Ost- und Südosteuropa zurückliegen. Der Abbau dieser Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und den Regionen ist für den europäischen Fortschritt von maßgeblicher Bedeutung.

1.15.

Die DIH müssen die KMU bei der Weiterbildung und Umschulung ihrer Mitarbeiter, einschließlich der Unternehmer, unterstützen, auch um die künftige Beschäftigungsfähigkeit in einem sich rasch verändernden Umfeld sicherzustellen. Bei der Weiterentwicklung der Bildungssysteme muss der MINT-Bereich bereits ab der Grundschule unbedingt im Vordergrund stehen. Eine wichtige Rolle spielen darüber hinaus Berufs- und Fachhochschulen sowie lokale Universitäten. Digitale Kompetenzen sind ein entscheidender Faktor, um eine vollständige Digitalisierung zu erreichen und junge Talente auch für traditionelle Branchen zu gewinnen.

1.16.

Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Organisationen, Arbeitgeberverbände und Behörden müssen zusammenarbeiten, um die Aufgaben und Strategien der DIH zu lenken und Programme für lebenslanges Lernen und berufliche Bildung zu entwickeln, die die anhaltende Beschäftigungsfähigkeit unter guten Arbeitsbedingungen bei angemessener Entlohnung sowie die sozialen Rechte und die aktive Teilhabe der Arbeitnehmer gewährleisten. Der soziale Dialog ist dabei von großer Bedeutung, und die Gleichstellung der Geschlechter muss sichergestellt werden.

2.   Kontext des Vorschlags und allgemeine Überlegungen

2.1.

Der digitale Wandel hat erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft, die Umwelt und die Gesellschaft insgesamt. Er steigert die Produktivität der Wirtschaftssysteme, verbessert die öffentlichen Dienstleistungen und die Lebensqualität der Menschen und bringt neue Entwicklungen hervor. Unternehmen und Organisationen (öffentliche und private, marktwirtschaftliche und soziale), die den Weg des digitalen Wandels eingeschlagen haben, haben ihre Dienstleistungen, Produkte und Prozesse weiterentwickelt und sind wettbewerbsfähiger geworden.

2.2.

Auch die Befürchtungen in Bezug auf die negativen Auswirkungen der Digitalisierung auf die Beschäftigung haben sich deutlich relativiert: Zwar sind Tätigkeiten mit einem hohen Standardisierungsgrad in Sektoren, die dem Wettbewerb stärker ausgesetzt sind, tatsächlich Verdrängungsrisiken ausgesetzt, doch sind diese Risiken in Sektoren mit einer höheren Wertschöpfung und in der verarbeitenden Industrie deutlich geringer. Insgesamt kann die europäische Wirtschaft von dem digitalen und dem ökologischen Wandel profitieren und damit wettbewerbsfähiger, nachhaltiger, widerstandsfähiger und unabhängiger werden.

2.3.

Die Veränderungen, die der digitale Wandel mit sich bringt, sind grundlegend und schnell. Sie erfordern von allen Organisationen, dass sie ständig mit dem rasanten Tempo des Wandels Schritt halten, auch indem sie sich selbst neu erfinden. Als das Rückgrat der europäischen Wirtschaft gehören die KMU zu den Organisationen, die am stärksten von den Auswirkungen des digitalen Wandels betroffen sind.

2.4.

Traditionelle KMU tendieren dazu, ihre in Bezug auf Finanzierung, Humankapital und Organisationsstruktur knappen Ressourcen auf konsolidierte Aktivitäten und Praktiken zu konzentrieren. Selbst wenn sie höchst innovativ sind, neigen KMU dazu, die inkrementelle Innovation („Mid-Tech“) der radikalen Innovation, die für den digitalen Bereich typisch ist („High-Tech“), vorzuziehen. Auch greifen KMU zu ihrer Finanzierung eher auf traditionelle Bankdarlehen zurück, die bisweilen aufgrund fehlender Sicherheiten oder einer fehlenden Kredithistorie abgelehnt werden. Die Finanzierungsmöglichkeiten können verbessert werden, insbesondere im Hinblick auf die Eigenkapitalfinanzierung, die in der EU weniger entwickelt ist als beispielsweise in den USA, wo in Phasen, in denen Schulden nicht zurückgezahlt werden können, viele Finanzierungswege zur Verfügung stehen.

2.5.

Die COVID-19-Pandemie hat die Prozesse des digitalen Wandels noch beschleunigt: Schlüsselbereiche der Wirtschaft und der Gesellschaft wie Arbeit, Handel, Bildung, Kommunikation und Unterhaltung wurden plötzlich virtuell. Auch die KMU mussten eine digitale Präsenz entwickeln, um überleben zu können.

2.6.

Die COVID-19-Pandemie schränkte zudem die Handelsströme ein und unterbrach die globalen Wertschöpfungsketten, womit deutlich wird, wie notwendig und dringlich es ist, dass Europa in einem weitaus stärkeren Maß technologisch unabhängig wird. In diese Richtung zielen die Strategien der EU, mit denen unabhängige und äußerst wettbewerbsfähige Lösungen für die Schlüsseltechnologien der Zukunft entwickelt werden sollen. Damit verbunden sind politische Entscheidungen, die begrüßt und unterstützt werden sollten. Obwohl Fortschritte erzielt wurden, gibt es in Bezug auf den digitalen Wandel bei Unternehmen, Behörden und anderen Organisationen noch erheblichen Verbesserungsbedarf.

2.7.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Fähigkeit, Innovationen hervorzubringen, und die Fähigkeit, sie in der Gesellschaft und in der Wirtschaft zu verbreiten, die Schlüsselfaktoren sind, die die Wettbewerbsfähigkeit der EU bis 2050 bestimmen werden. Zu diesem Zweck muss die EU, wie es von der Europäischen Kommission im Programm „Digitales Europa“ (1) gefordert wird, umfassende Kompetenzen im Bereich der neuen Generation digitaler Technologien wie IoT (Internet der Dinge), Big Data, künstliche Intelligenz, Robotik, Cloud-Computing und Blockchain entwickeln und dabei sicherstellen, dass diese Schlüsseltechnologien zu einem festen Bestandteil der Geschäftsmodelle der europäischen Unternehmen werden, unter anderem durch die Aktivitäten der digitalen Innovationszentren. Zur Klarstellung: In dieser Stellungnahme umfasst der Begriff „DIH“ sowohl digitale Innovationszentren als auch europäische digitale Innovationszentren.

2.8.

Die Aussagen über den digitalen Wandel gelten gleichermaßen für den grünen Wandel. Die beiden Seiten des systemischen Wandels haben viele Gemeinsamkeiten und stellen für die KMU eine doppelte Belastung dar (sie bieten aber natürlich auch verschiedene Chancen, die sorgfältig geprüft werden müssen).

2.9.

Die Digitalisierung der europäischen Industrie wird sich unmittelbar auf die Erreichung der Klimaziele des Grünen Deals und der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) der Agenda 2030 auswirken. Allerdings verbrauchen fortgeschrittene digitale Projekte auch erhebliche Mengen an Energie, und der EWSA ist der Ansicht, dass die EDIH eine wichtige Rolle bei der Untersuchung der Auswirkungen auf den grünen Wandel spielen können. Nachhaltige Produktion und kreislauforientierte Geschäftsmodelle können in Europa nur durch umfangreiche Investitionen in neue Technologien erreicht werden.

2.10.

Diese Herausforderungen erfordern den raschen und entschlossenen Ausbau der technologischen Kapazitäten der EU. Der EWSA stellt fest, dass die EU bei den FuE-Investitionen im Verhältnis zum BIP noch immer zurückliegt (2,32 % im Jahr 2020 gegenüber 3,08 % in den USA und 3,2 % in Japan) (2). Die FuE-Investitionen sollten möglichst rasch auf 3 % des BIP angehoben werden, damit die EU in der Welt des digitalen Wandels im globalen Wettbewerb bestehen kann.

2.11.

Auf europäischer Ebene ringen die Unternehmen — darunter nicht nur die KMU — mit der Einführung neuer Technologien. Der EWSA hat in mehreren Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass der digitale Wandel zwar erhebliche Möglichkeiten für die Unternehmen in der gesamten EU mit sich bringt, viele von ihnen aber noch immer mit Hindernissen und Rechtsunsicherheiten konfrontiert sind, insbesondere bei grenzüberschreitenden Aktivitäten. Diese Unsicherheiten führen für viele KMU zu einem fehlenden Zugang zu Finanz- oder Investitionsmitteln sowie zu einem Fachkräftemangel.

2.12.

Daher sollten Instrumente entwickelt und verstärkt werden, mit denen die KMU bei der Überwindung dieser Defizite unterstützt werden. Digitale Innovationszentren sind dabei die wichtigste Hilfe. Der EWSA ist der Ansicht, dass mehr Unternehmen in Europa mit den DIH zusammenarbeiten und die erreichten Ergebnisse besser kommuniziert werden sollten, insbesondere gegenüber den KMU.

3.   Digitale Innovationszentren als Infrastruktur zur Unterstützung der KMU

3.1.

Digitale Innovationszentren sind verschiedenartige Einrichtungen (in Bezug auf ihre Organisation, Verwaltung und die angebotenen Dienstleistungen), die europaweit aufgebaut wurden, um KMU im Digitalisierungsprozess zu unterstützen. Die DIH fungieren als zentrale Anlaufstellen, die den Unternehmen Analysen und Lösungen anbieten, um den grünen und den digitalen Wandel zu bewältigen.

3.2.

Die DIH stellen den KMU Mehrwertdienstleistungen bereit, bspw. Weiterbildung und Umschulung, Beratung zu Innovationen, Technologien, Strategien, Finanzen, dem grünen Wandel und der Kreislaufwirtschaft. Außerdem bieten sie häufig technologische Einrichtungen und Plattformen an, um technologische Lösungen zu testen, bevor Investitionen getätigt werden („test before invest“).

3.3.

Das ausgedehnte Netz der DIH in Europa wird derzeit grundlegend umstrukturiert. Die vor Kurzem ausgewählten europäischen digitalen Innovationszentren (EDIH) werden zu 50 % aus Mitteln des Programms „Digitales Europa“ und zu 50 % aus nationalen und regionalen Mitteln finanziert und sollen die Digitalisierung der KMU und der Behörden unterstützen. Nach der Verabschiedung des Programms „Digitales Europa“ werden die ersten EDIH ab September 2022 die Arbeit aufnehmen. Die derzeitigen DIH werden ihre Tätigkeit fortsetzen, um den digitalen Wandel der KMU und der Regionen weiterhin zu unterstützen, wofür Mittel aus Horizont Europa und dem EFRE verwendet werden. Der EWSA glaubt, dass die Überschneidung der Bezeichnungen zu Verwirrung bei den Empfängern der Dienstleistungen führen könnte.

3.4.

Der EWSA ist der Ansicht, dass es an einer klaren Vision für die künftige Entwicklung der DIH mangelt. Daher fordert der EWSA klare Indikatoren (KPI), um die Leistung der DIH im Zeitablauf zu messen und um darzustellen, wie die Strategie zur Digitalisierung der KMU auf europäischer Ebene voranschreitet. Die DIH müssen zu einem umfassenden Netz zentraler Anlaufstellen werden, um die KMU in ihren digitalen Erfordernissen zu unterstützen.

3.5.

Die EDIH werden in Bezug auf ihre Größe, Verwaltung und Aufgaben homogener sein. Sie werden geografisch recht breit aufgestellt sein und spezielle hochklassige Kapazitäten in den einzelnen „Schlüsseltechnologien“ aufbauen, die im Programm „Digitales Europa“ definiert sind. Sie werden die digitale Umgestaltung der Unternehmen, insbesondere der KMU und Midcap-Unternehmen, sowie der Behörden unterstützen.

3.6.

Auch wenn das von der Europäischen Kommission für die EDIH verfolgte Konzept mit dem Schwerpunkt auf Schlüssel- und Hochtechnologien im Einklang mit den Zielen der technologischen Wettbewerbsfähigkeit Europas steht, die im Programm „Digitales Europa“ festgelegt sind, bestehen doch Bedenken, ob es zu den Innovationspfaden der KMU passt.

3.7.

Der EWSA ist der Ansicht, dass bei der Strategie zum Ausbau der digitalen Kapazitäten der KMU unbedingt mehr Aufmerksamkeit auf die Art der Anforderungen dieses Unternehmenstyps und die möglichen kritischen Probleme, die bei diesem radikalen Wandel auftreten können, gerichtet werden muss. Erreicht wird dies, wenn mehr Kapazitäten zur Verfügung stehen, um auf die Bedürfnisse der KMU eingehen zu können, und indem mit verschiedenen Interessenträgern, einschließlich Großunternehmen, in speziellen Innovationsprogrammen zusammengearbeitet wird.

3.8.

KMU verfügen in ihrer Organisationsstruktur nicht über offizielle Funktionen für Innovation und FuE, und ihr Innovationsansatz ist hauptsächlich auf Mid-Tech (die Integration bewährter Technologien) und die inkrementelle Innovation (die schrittweise und langsamer als die radikale digitale Innovation abläuft) ausgerichtet, die sich auch auf informellen und halbformellen Wegen des Austauschs von Fachwissen und Experimenten mit anderen Unternehmen, u. a. auch im Rahmen von Untervertragsverhältnissen, entwickelt. Schlüsseltechnologien könnten auch in den KMU eingeführt werden, indem strategische und technologische Entwicklungspfade geschaffen werden, die diese Technologien einschließen.

3.9.

Innovationsprozesse für die KMU erfordern daher eine Zwischenebene zwischen Angebot und Nachfrage. Diese sollte geeignet sein, um die (selbst schwache) Nachfrage zu berücksichtigen und die passendsten Instrumente und Lösungen aus dem überreichlichen und unübersichtlichen Angebot an technologischen Antworten zu ermitteln. Die DIH könnten diese Zwischenebene sein. Die Sensibilisierung für die wichtige Rolle, die die EDIH spielen können, ist von großer Bedeutung.

3.10.

Die Ergebnisse, die von den DIH in diesem Zusammenhang erzielt wurden, können bereits als positiv angesehen werden. Gemäß einer Verlautbarung der EIB zeigen die erhobenen Daten, dass digitale Innovationszentren eine Schlüsselrolle bei der Unterstützung der europäischen KMU im digitalen Wandel spielen. […] Mehr als 70 % der befragten Unternehmen, die ein digitales Innovationszentrum in Anspruch genommen hatten, waren der Meinung, dass die Unterstützung, die sie erhalten haben, ihren Digitalisierungsprozess erleichtert hat.

3.11.

Digitale Innovationszentren können auch eine sehr wichtige Rolle dabei spielen, die Digitalisierung sozialwirtschaftlicher Unternehmen zu fördern, insbesondere der sozialen Unternehmen, die im Bereich der Wohlfahrt und der häuslichen Pflege tätig sind, wo digitale Technologien dazu beitragen können, die Dienstleistungen zu verbessern, indem auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen eingegangen wird.

4.   Verbesserungsvorschläge für die europäischen Maßnahmen zur digitalen Innovation der KMU

4.1.

Der EWSA begrüßt die Aufmerksamkeit, die den KMU gewidmet wird, sowie die zahlreichen Maßnahmen und Programme zu deren Unterstützung. Der Ausschuss stellt jedoch fest, dass das globale Konzept der Europäischen Kommission nicht ausreichend auf die Prozesse und Bedürfnisse der KMU zugeschnitten ist. Darüber hinaus werden nicht alle diese politischen Maßnahmen auf nationaler Ebene umgesetzt. Außerdem sind die KMU viel zu wenig über diese Einrichtungen informiert. Der Sensibilisierung für die europäischen und nationalen Initiativen muss Priorität eingeräumt werden, und die Verantwortung muss zwischen den europäischen Institutionen und den Mitgliedstaaten aufgeteilt werden.

4.2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass zur Erfüllung der Aufgaben der DIH eine angemessene Finanzierung sichergestellt werden muss, indem verschiedene Quellen genutzt werden — von Programmen zur Unternehmensentwicklung und FuE-Förderung auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene bis hin zur geförderten Finanzierung für Unternehmen und der Teilnahme an Ausschreibungen. Für die KMU muss die Möglichkeit geschaffen werden, steuerliche Anreize in Verbindung mit Investitionen in die digitale Innovation und die damit zusammenhängenden Kompetenzen zu nutzen.

4.3.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die DIH eine Schlüsselrolle bei der reibungslosen und ausgewogenen Entwicklung von Wirtschaft und Beschäftigung in der EU spielen und insbesondere den digitalen und den grünen Wandel der KMU begleiten sollten. Zu diesem Zweck sollten sie auch verstärkt so genannte „nicht marktbestimmte“ Dienstleistungen im Rahmen von Schulungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen erbringen, wobei die Kosten für diese Aktivitäten, die für die Öffentlichkeit von Bedeutung sind, durch öffentliche Mittel gedeckt werden sollten.

4.4.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die DIH vor allem als Systemintegratoren agieren sollten, die die Bedürfnisse der KMU und die technologischen Lösungen zusammenführen. Dazu ist es entscheidend, dass die DIH die Fähigkeit entwickeln, als lokale Innovationsplattformen zu fungieren, die die Kompetenzen und Ressourcen der lokalen (und ggf. externen) Innovationsnetze mit der Nachfrage bzw. den Möglichkeiten, die sich aus den lokalen Produktionssystemen ergeben, zusammenbringen, bevor spezifische Kompetenzen in einzelnen Schlüsseltechnologien entwickelt werden, die für andere FuE-Einrichtungen (Forschungszentren, Universitäten, große Unternehmen) typisch sind.

4.5.

Angesichts der Standardisierung von Prozessen und der Anreize für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und den Austausch von Wissen, Erfahrungen und Methoden, wie u. a. über eine gemeinsame digitale Plattform, ist der EWSA der Ansicht, dass die DIH ihre Aufmerksamkeit darauf richten sollten, die regionale Wirtschaft und das lokale KMU-Gefüge zu unterstützen. Der EWSA empfiehlt daher eine regionale Kartierung der bestehenden Zentren in Zusammenarbeit mit den Arbeitgeberverbänden der KMU sowie einen Aktionsplan, der sich auf die regionale Entwicklung und eine stärkere Inklusion und Beteiligung konzentriert.

4.6.

Der EWSA stellt fest, dass es nach wie vor Unterschiede in der Verteilung der DIH zwischen den europäischen Regionen gibt, wobei jene ost- und südosteuropäischen Länder zurückliegen, in denen die Digitalisierungsquote in den letzten Jahren gering war. In einer früheren Stellungnahme erklärte der EWSA: „Priorität hat insbesondere die Überwindung der digitalen Kluft. […] durch die Pandemie sind — insbesondere für die Einwohner ländlicher Gebiete — sowohl die Vorteile als auch die Nachteile der digitalen Kommunikation zutage getreten.“ Der Abbau dieser Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und den Regionen ist für den europäischen Fortschritt von großer Bedeutung.

4.7.

Der EWSA ist der Ansicht, dass zur Förderung des digitalen und des grünen Wandels der KMU zwei wichtige Aspekte angemessen überwacht und angegangen werden müssen: die allgemeine Verbreitung der digitalen Kompetenzen und die Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen, angefangen bei den Produktions- und Lieferketten.

4.8.

Digitale Kompetenzen sind ein entscheidender Faktor, insbesondere für die KMU, da sie auf dem Weg zur vollständigen Digitalisierung das Haupthindernis bilden, selbst dann, wenn starke finanzielle Anreize für Investitionen vorhanden sind. Bei den KMU betrifft die Weiterbildung und Umschulung sowohl die Beschäftigten als auch die Unternehmer, die direkt an den Produktionsprozessen und an den Innovations- und Investitionsentscheidungen beteiligt sind. Fehlt es den Unternehmern an digitalen Kompetenzen, können sie die Möglichkeiten der digitalen Technologien nicht nutzen, was die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stark beeinträchtigt und sich negativ auf die Beschäftigung auswirkt.

4.9.

KMU verfügen in ihrer Organisationsstruktur nicht über offizielle Funktionen für Innovation und FuE, und ihr Innovationsansatz ist hauptsächlich auf Mid-Tech (die Integration bewährter Technologien) und die inkrementelle Innovation (die schrittweise und langsamer als die radikale digitale Innovation abläuft) ausgerichtet, die sich auch auf informellen und halbformellen Wegen des Austauschs von Fachwissen und Experimenten mit anderen Unternehmen, u. a. auch im Rahmen von Untervertragsverhältnissen, entwickelt. Schlüsseltechnologien könnten auch in den KMU eingeführt werden, indem strategische und technologische Entwicklungspfade geschaffen werden, die diese Technologien einschließen.

4.10.

Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftliche Organisationen, Arbeitgeberverbände und Behörden, die in ihrer führenden Rolle den Auftrag und die Strategien der DIH lenken, müssen zusammenarbeiten, um Programme für Weiterbildung und Umschulung, lebenslanges Lernen und berufliche Bildung zu entwickeln, die die anhaltende Beschäftigungsfähigkeit unter guten Arbeitsbedingungen bei angemessener Entlohnung sowie die sozialen Rechte der Arbeitnehmer gewährleisten. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen in den Digitalisierungsprozessen eine führende Rolle spielen, wobei die Gleichstellung der Geschlechter gewährleistet werden muss. In dieser Hinsicht ist der soziale Dialog von großer Wichtigkeit und muss unterstützt werden, um die kurz- und mittelfristigen Bedürfnisse sowie die langfristigen politischen Auswirkungen zu ermitteln.

4.11.

Die Zusammenarbeit zwischen Großunternehmen und KMU, angefangen bei den Produktions- und Lieferketten, könnte die digitale Innovation auf ein neues Niveau heben und viele Hindernisse in Bezug auf Wissen, Standardisierung und Kosten überwinden.

4.12.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die künftige strategische Rolle der EDIH von zwei Faktoren abhängt: der Fähigkeit, den politischen Entscheidungsträgern die Bedürfnisse, Sachzwänge und Chancen von KMU in Bezug auf Forschung, Entwicklung und Innovation zu vermitteln, damit sie mit besser gestalteten politischen Maßnahmen die Relevanz und Qualität von KMU fördern können, und der Fähigkeit, unser soziales und unternehmerisches Ökosystem zu stärken und es widerstands- und zukunftsfähiger zu machen.

Brüssel, den 27. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Verordnung (EU) 2021/694 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2021 zur Aufstellung des Programms „Digitales Europa“ und zur Aufhebung des Beschlusses (EU) 2015/2240 (ABl. L 166 vom 11.5.2021, S. 1).

(2)  https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=R%26D_expenditure&oldid=551418


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/88


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Eine nachhaltige EU-Strategie für pflanzliches Eiweiß und Öl“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/13)

Berichterstatter:

Lutz RIBBE

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 GO

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.10.2022

Verabschiedung im Plenum

27.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

158/2/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Viehwirtschaft in der EU (mit Fleisch- und Milchprodukten, Eiern) ist ein wirtschaftlich bedeutsamer Teil der Landwirtschaft, der sich allerdings in den letzten Jahren verstärkt einer gesellschaftlichen Debatte stellen muss, u. a. wegen der sowohl regionalen als auch globalen Umweltauswirkungen der intensiven Tierhaltung, aber auch, weil der Sektor stark von Futtermittelimporten abhängig ist. Letzteres wirft Bedenken hinsichtlich der Futtermittel- und Ernährungssicherheit der EU auf. Insbesondere die Importabhängigkeit bei Pflanzen mit hohem Proteingehalt ist erheblich (ca. 75 %).

1.2.

Abgesehen von seinem impliziten Anspruch auf Ackerland außerhalb der EU beansprucht der Tierhaltungssektor auch einen großen Teil des Ackerlandes innerhalb der EU. Etwa 50 % der Ernte wird verfüttert, um tierische Produkte herzustellen; weniger als 20 % werden direkt durch den Menschen für die pflanzliche Ernährung genutzt.

1.3.

Seit Jahren wird über eine europäische Eiweißstrategie diskutiert, doch über Bekundungen zum Ausbau des Eiweißpflanzenanbaus in Europa hinaus ist bisher wenig passiert. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) möchte mit dieser Stellungnahme Hinweise liefern, welche zusätzlichen Aspekte hierbei Berücksichtigung finden sollten.

1.4.

Der EWSA stellt fest, dass es in der EU kaum Eiweißunterversorgung im eigentlichen (pflanzlichen) Lebensmittelsektor („food“) gibt, sondern vielmehr im Mischfuttersektor („feed“). Es gibt viele gute Gründe, den Eiweißanbau in der EU auszudehnen und ganz besonders auch das Grünland in die Fütterung der Tiere stärker einzubeziehen. Aber trotz der vorhandenen Potenziale wird es rein quantitativ nicht möglich sein, die hohen Eiweißimporte vollständig durch eine europäische Produktion zu substituieren, ohne fundamentale Auswirkungen auf andere landwirtschaftliche Produktionsbereiche auszulösen.

1.5.

Der EWSA betont ferner, dass die Ausweitung des Anbaus von Ölpflanzen in der EU auch positive Auswirkungen haben könnte, z. B. die Energieautarkie für die Treibstoffversorgung der Ackerschlepper, eine größere Verfügbarkeit von Ölkuchen, die sich potenziell hervorragend als Eiweißfuttermittel eignen, sowie eine erweiterte Fruchtfolge.

1.6.

Denn es gibt einen absolut begrenzenden Faktor: die zur Verfügung stehende landwirtschaftliche Fläche. Sowohl in der konventionellen wie auch in der ökologischen Landwirtschaft werden zwar ständig innovative Schritte zur Produktivitätssteigerung vorgenommen, doch auch diese stoßen volumenmäßig an Grenzen. Der EWSA hält es deshalb für dringend notwendig, dass die EU eine Studie über das europaweite Potenzial und die Flächenansprüche von Eiweiß- und Ölpflanzen, die innerhalb der EU angebaut werden könnten, erstellt.

1.7.

Ein wichtiger Bestandteil einer europäischen Eiweißstrategie muss es sein, die Nutztierhaltung insgesamt mit den EU-eigenen sowie UN-Zielen bezüglich europäischer und globaler Ernährungssicherheit, Versorgungsautonomie und Nachhaltigkeit vereinbar zu machen. Ein verstärkter Eiweißanbau in der EU ist lediglich ein Teilaspekt davon. Global erscheint eine Entwicklung, bei der sich der weltweite durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch und Milchprodukten dem heutigen Niveau der entwickelten Volkswirtschaften annähert, unvereinbar mit den UN-Nachhaltigkeitszielen.

1.8.

Eine europäische Eiweiß- und Ölstrategie sollte auch zur nachhaltigen Entwicklung ländlicher Gebiete im Einklang mit der langfristigen Vision der EU für ländliche Gebiete beitragen, beispielsweise durch die Entwicklung neuer, selbsttragender regionaler Wertschöpfungsketten.

1.9.

In Deutschland hat eine von der Bundesregierung eingesetzte „Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL)“, in der alle gesellschaftlich relevanten Gruppen vertreten waren, in einem ganzheitlichen Ansatz Vorschläge für ein nachhaltiges Agrar- und Ernährungssystem entwickelt, bei dem auch der Tierhaltungssektor einbezogen wurde. Dabei wurden Änderungen der Produktionsweisen vorgeschlagen, die über ein Bündel von Instrumenten umgesetzt werden sollen (Honorierung über Märkte und Prämien), um möglichst allen Landwirten eine Anpassung zu ermöglichen. Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission, sich das Format dieses Prozesses genauer anzusehen und zu prüfen, ob es nicht auch für die Entwicklung einer europäischen Eiweißstrategie passend wäre.

1.10.

Eine Eiweißstrategie, die auch den Zielen einer strategischen Versorgungsautonomie dienen würde, wird folgende Elemente beinhalten müssen:

Förderung von Forschung und Innovation im Bereich pflanzlicher Proteine entlang der gesamten Wertschöpfungskette und für eine bedarfsorientierte und optimierte Nutzung pflanzlicher Proteinquellen

Entwicklung und stärkere Förderung des Proteinpotenzials in der EU

Stärkung einer nachhaltigen heimischen Erzeugung pflanzlicher Proteine im Einklang mit den hohen europäischen Standards

Entwicklung und Ausbau regionaler Wertschöpfungsketten und regionaler Verarbeitungskapazitäten

kontinuierliche Zusammenarbeit mit Einrichtungen und landwirtschaftlichen Organisationen zur Förderung des Anbaus und der Verwendung heimischer pflanzlicher Proteine in der Lebensmittel- und Futtermittelindustrie

weitere Steigerung des Pflanzenpotenzials durch Verbesserung und Ausweitung von Zuchtstrategien

Ausbau der Bildungs- und Beratungsdienste und des Wissenstransfers

Ermöglichung und Erleichterung der Erzeugung von Eiweißpflanzen auf im Umweltinteresse genutzten Flächen

verstärkte Bindung der Tierhaltung an die regionalen Futterpotenziale

konsequente Einhaltung der vorhandenen Grenzwerte für Verschmutzungen durch Emissionen (Nitrat in Oberflächen- und Grundwasser, Ammoniak usw.), Internalisierung externer Kosten

Förderung besonders tiergerechter Haltungsverfahren durch Information der Verbraucher und Produktkennzeichnung

Festlegung von Produktions- und Qualitätsnormen in Bezug auf die gesundheitlichen und ökologischen Auswirkungen von Einfuhren von Produkten, die mit den in der EU hergestellten konkurrieren

eine begleitende Informationskampagne über die ökologischen und gesundheitlichen Folgen unterschiedlicher Ernährungsgewohnheiten

2.   Einleitung und Hintergrund

2.1.

Die EU-Agrarpolitik und -praxis waren im Hinblick auf die Lebensmittelversorgung erfolgreich, sie konzentrieren sich nun jedoch u. a. mit ihrer Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ verstärkt auf Fragen der Nachhaltigkeit, die Erreichung der Ziele des Grünen Deals und der SDG. Spätestens seit der COVID-19-Pandemie und dem Ukraine-Krieg steht zusätzlich das Ziel einer strategischen Versorgungsautonomie im Fokus.

2.2.

Die Viehwirtschaft (mit Fleisch- und Milchprodukten, Eiern) ist ein wirtschaftlich bedeutsamer Teil der EU-Wirtschaft, der sich allerdings in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen verstärkt einer gesellschaftlichen Debatte stellen muss; ein Aspekt ist die starke Abhängigkeit von Futtermittelimporten.

2.3.

Das Europäische Parlament spricht in seiner Entschließung „Eine europäische Strategie zur Förderung von Eiweißpflanzen“ (1) von einem „erheblichen Defizit an Pflanzeneiweiß […], was den Bedürfnissen des Tierhaltesektors zuzuschreiben ist“, und dass sich „trotz der Verwendung von Nebenerzeugnissen aus der Produktion von Biokraftstoffen in Futtermitteln leider wenig geändert hat“. Nur „auf 3 % des Ackerlands [werden] Eiweißpflanzen angebaut und mehr als 75 % ihres Bedarfs an pflanzlichen Eiweißen [werden] in erster Linie durch aus Brasilien, Argentinien und den Vereinigten Staaten eingeführte Erzeugnisse gedeckt“ (2), obwohl die Erzeugung von eiweißreichen Stoffen in der EU zwischen 1994 und 2014 von insgesamt 24,2 auf 36,3 Mio. Tonnen (+ 50 %) angestiegen ist; der Gesamtverbrauch hat sich aber im gleichen Zeitraum von 39,7 auf 57,1 Mio. Tonnen (+ 44 %) (3) gesteigert. Politische Entscheidungen wie das Blair-House-Abkommen haben entscheidend mit dazu beigetragen, dass diese Abhängigkeiten entstanden sind.

2.4.

Eine besondere, für die Futtermittelindustrie (4) geradezu überragende Rolle spielt „Sojaschrot, das wegen seines hohen Proteingehalts (über 40 %), des Aminosäuregehalts und der ganzjährigen Verfügbarkeit eine besonders bevorzugte Komponente im Mischfutter ist, wodurch häufige Änderungen der Zusammensetzung vermieden werden können“ (5). Der Verbrauch von Soja stieg in Europa von 2,4 Mio. Tonnen 1960 auf knapp 36 Mio. Tonnen/Jahr. Zur Deckung dieser immensen Nachfrage nach Soja werden knapp 15 Mio. Hektar Land benötigt, „von denen 13 Mio. Hektar in Südamerika liegen“ (6); dies entspricht mehr als der gesamten Ackerfläche Deutschlands (11,7 Mio. Hektar) (7). Der absolut überwiegende Teil des importierten Soja (ca. 94 %) besteht aus gentechnisch veränderten Sorten.

2.5.

Die im Kommissionsdokument (8) genannten Proteinpflanzen mit einem hohen Proteingehalt (über 15 %) „machen etwa ein Viertel des Angebots an Rohproteinpflanzen in der EU aus. Getreide und Grünland steuern zwar einen erheblichen Teil zum Gesamtangebot an Pflanzenproteinen bei“, erstaunlicherweise werden aber Getreide und Grünland von der Kommission bei ihren strategischen Überlegungen zu den Pflanzenproteinen „aufgrund des niedrigen Proteingehalts und der geringen Relevanz für den Markt“ (9) nicht berücksichtigt; eine Argumentation, die der EWSA nicht akzeptieren kann.

2.6.

Die hohen Importe, besonders bei Soja, haben primär damit zu tun, dass Soja aufgrund der natürlichen Anbaubedingungen in den USA und Südamerika dort weitaus kostengünstiger produziert werden kann; zudem spielen z. T. gravierend geringere Umwelt- und Sozialstandards eine Rolle; die Abholzung der Naturwälder in Südamerika sowie die Vertreibung von indigenen Völkern, aber auch von Kleinbauern sind Beispiele dafür (10). Der EWSA begrüßt, dass die Kommission das Problem erkannt hat und sich für „entwaldungsfreie Lieferketten“ (11) einsetzt.

Weder bei den letzten Reformvorschlägen zur GAP noch bei den Verhandlungen mit den Mercosur-Staaten wurden von Seiten der EU ausreichende Initiativen ergriffen, die zu einer wirklichen Reduktion der Importabhängigkeit führen könnten.

2.7.

In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass im Rahmen der bisherigen GAP der Eiweißanbau im Besonderen durch die sogenannten ökologischen Vorrangflächen profitiert hat, die es nach der Reform nicht mehr geben wird: Stickstoffbindende Pflanzen sind der am häufigsten erklärte Typ für ökologische Vorrangflächen (ÖVF); 37 % (!) der ÖVF werden entsprechend genutzt. Eine Auswertung der eingereichten nationalen Strategiepläne zur Umsetzung der neuen GAP steht zwar noch aus, sodass der EWSA noch keine Aussage treffen kann, ob diese zu Verbesserungen oder Verschlechterungen führen werden. Zwar stehen den Mitgliedstaaten diverse Optionen (besonders: gekoppelte Zahlungen) zur Verfügung, den Anbau zu fördern, doch erste Analysen lassen befürchten, dass a) nicht alle Mitgliedstaaten davon Gebrauch machen werden und b) die Förderhöhen nicht attraktiv genug ausfallen.

2.8.

Der EWSA hat eine klare Position: Er hält „eine Verbesserung der Selbstversorgung der EU mit Proteinen […] unter allen Gesichtspunkten [für] wünschenswert. Die Einfuhr von Sojabohnen aus Drittländern kann Entwaldung, Waldschädigung und Zerstörung natürlicher Ökosysteme in bestimmten Erzeugerländern Vorschub leisten. Durch einen verstärkten unionsweiten Anbau von Hülsenfrüchten mit hohem Eiweißgehalt könnten Einfuhren beschränkt werden, was positive Auswirkungen auf das Klima und die Umwelt hätte“ (12).

2.9.

Dieser Position wird von keiner Seite widersprochen. Innerhalb der EU wird vielmehr seit langem über die Notwendigkeit einer entsprechenden europäischen Eiweißstrategie diskutiert, doch viel mehr als Bekenntnisse zum Ausbau des europäischen Eiweißanbaus und die in Ziffer 2.7. genannten Instrumente gibt es bisher nicht. Von einer wirkungsvollen europäischen Eiweißstrategie ist man also weit entfernt.

2.10.

Seit Beginn der COVID-19-Pandemie, spätestens aber mit dem Ukraine-Krieg wird deutlich, dass die globale Arbeitsteilung und Handelsbeziehungen nicht nur positive Folgen haben. Sie können zu Problemen führen, über die man bisher nicht oder nur unzureichend nachgedacht hat. Das neue Stichwort lautet: strategische Versorgungsautonomie. Egal ob man an die Versorgungslücken bei Gesichtsmasken, Arzneimitteln, Halbleitern oder fossilen Energien wie Gas, Öl, Kohle denkt: Abhängigkeiten können zu extremen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen führen.

2.11.

Der Krieg in der Ukraine und seine zu erwartenden Langzeitfolgen werden sowohl den europäischen als auch den globalen landwirtschaftlichen Sektor und die europäische Lebensmittelindustrie nachhaltig treffen und verlangen Veränderungen.

2.12.

In seiner Entschließung „Der Krieg in der Ukraine und seine wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen“ (13) spricht der EWSA deshalb auch davon, „dass der Konflikt unweigerlich schwerwiegende Folgen für den Agrar- und Lebensmittelsektor der EU haben wird, der zusätzliche Unterstützung benötigen wird, […] unterstreicht in dieser Hinsicht, dass die EU sich stärker für nachhaltige Lebensmittelsysteme einsetzen und […] insbesondere muss die EU ihre Ernährungssicherheit verbessern, indem sie die Abhängigkeit von wichtigen importierten landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Betriebsmitteln verringert“.

2.13.

Gleichzeitig betont der EWSA, „dass die Auswirkungen des Krieges nicht zulasten des Klimaschutzes und der Nachhaltigkeit gehen sollten“ und dass die SDG der UN-Agenda 2030 auch Frieden, Sicherheit und Armutsminderung fördern. Durch den europäischen Grünen Deal würden Fortschritte bei der Umsetzung der UN-Agenda 2030 und bei einem gerechten Übergang erzielt.

2.14.

Auch die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich dieser Frage angenommen. In ihrer Erklärung von Versailles vom 11. März 2022 heißt es: „Wir werden unsere Ernährungssicherheit verbessern, indem wir unsere Abhängigkeit von wichtigen importierten landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Betriebsmitteln verringern, insbesondere durch die erhöhte Erzeugung pflanzlicher Proteine in der EU (14).“

3.   Fakten und Trends

3.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass bei der Erarbeitung einer umfassenden europäischen Eiweißstrategie viel stärker systemare Fragen erörtert und berücksichtigt werden müssen. Hierzu gehört die Klärung der Frage, wie das jetzige System aus der Sicht einer strategischen europäischen Versorgungsautonomie sowie aus globalen wie regionalen Nachhaltigkeitsgesichtspunkten zu bewerten ist, welche Vor- und Nachteile es für die Landwirte, Verbraucher, Umwelt und Nutztiere hat. Bedacht werden müssen aber auch aktuelle Trends, die Auswirkungen auf den Bereich Eiweißversorgung haben.

Teller, Tank oder Trog — was bauen wir an und was passiert mit der Ernte landwirtschaftlicher Pflanzen?

3.2.

Ohne die hohen Eiweißimporte wäre die derzeit hohe Fleischproduktion in Europa nicht möglich, obwohl schon heute ein Großteil der landwirtschaftlichen Ernte verfüttert wird. In Deutschland z. B. sind es fast zwei Drittel (!) der gesamten Ernte, nämlich fast das gesamte Grünland (das wir Menschen natürlich auch nicht direkt verwerten können), sowie jeweils 60 % des Maises und des Getreides (15). Die mengenmäßig zweitwichtigste Verwendung der Ernte sind nicht etwa pflanzliche Nahrungsmittel, sondern ist die Gewinnung technischer Energie (Mais für Biogas, Raps für Biodiesel und Getreide und Zuckerrüben für Bioethanol). Erst an dritter Stelle kommt die direkte Nutzung von Pflanzen als Nahrungsmittel. Die in Deutschland konsumierten pflanzlichen Nahrungsmittel — im Wesentlichen Brotgetreide, Kartoffeln, Zucker, Rapsöl und Feldgemüse — machen nur 11 % der gesamten pflanzlichen Erzeugung aus!

3.3.

Auch 93 % der importierten Pflanzenproteine werden verfüttert. Gerade diese Importe wie auch der Umfang sowie die Intensität der Fleischproduktion sind in den letzten Jahren Gegenstand vieler gesellschaftlicher Debatten geworden.

3.4.

Zwei Erkenntnisse sollten vorweggenommen werden: Erstens gibt es in der EU kaum Eiweißunterversorgung im eigentlichen (pflanzlichen) Lebensmittelsektor („food“), sondern vielmehr im Mischfuttersektor („feed“). Es wird zweitens nicht möglich sein, die hohen Eiweißimporte vollständig durch eine europäische Produktion zu substituieren, ohne fundamentale Auswirkungen auf andere Produktionsbereiche der Landwirtschaft auszulösen.

3.5.

Denn es gibt einen absolut begrenzenden Faktor: die zur Verfügung stehende landwirtschaftliche Fläche. Sowohl in der konventionellen wie auch in der ökologischen Landwirtschaft werden zwar ständig innovative Schritte zur Produktivitätssteigerung vorgenommen, doch auch diese stoßen volumenmäßig an Grenzen. Der Verband der ölsaatenverarbeitenden Industrie in Deutschland kommt daher nach eingehender Analyse zu dem Ergebnis, dass es gilt, „die Bezugskanäle dieser Proteinträger […] weiterhin zu sichern, denn eine vollständige Selbstversorgung mit heimischen Proteinen bleibt unrealistisch“ (16).

3.6.

Diese grundlegenden Aussagen sollten nicht missverstanden werden: Es gibt viele gute Gründe, einen verstärkten Anbau von Protein- und Ölpflanzen in der EU intensiv zu fördern. Sie binden Stickstoff im Boden, reduzieren den Bedarf an mineralischem Stickstoff, verbessern Bodenqualität und -fruchtbarkeit, sie leisten einen positiven Beitrag zum Klimaschutz. (z. B. weniger Transportbedarf, weniger Entwaldung, geringerer Betriebsmitteleinsatz). Erweiterte Fruchtfolgen verringern das Auftreten von Schädlingen und sind positiv für die Biodiversität. Heute wird nur ein sehr geringer Teil (ca. 3 %) der landwirtschaftlichen Fläche mit Eiweißpflanzen bestellt. Die sehr sinnvolle Ausdehnung muss aber folglich unweigerlich zu Lasten anderer Anbauformen, z. B. anderer Kultur- oder Energiepflanzen, geschehen oder zu Konkurrenzsituationen beispielsweise mit anderen Naturschutzmaßnahmen führen.

Aktuelle Trends

3.7.

Deshalb ist es zunächst ratsam, Trends zu beschreiben und zu analysieren, die Auswirkungen auf die zukünftige Tierhaltung und -ernährung und somit auf Eiweißbedarf und -qualität haben könnten.

3.7.1.

Auf der einen Seite ist bereits ein verändertes Verbraucher- und Konsumverhalten zu erkennen. Immer mehr Verbraucher reduzieren ihren Fleischkonsum oder wenden sich völlig vom Fleischverzehr ab. Der hohe Fleischkonsum in Europa wird mittlerweile auch aus ernährungsphysiologischen Gründen in Frage gestellt. In einigen Mitgliedstaaten ist bereits ein rückläufiger Fleischverzehr zu beobachten (17). Deutlich ablesbar ist dies nicht nur in Statistiken, sondern auch in den Regalen der Supermärkte, wo aus Eiweißpflanzen hergestellte Fleischersatzprodukte sichtbar zunehmen.

3.7.2.

Ein zweiter Trend kann mit „weniger, dafür aber ‚Fleisch mit besserer Qualität‘“ umschrieben werden: Premiumprogramme, die auf mehr Tierwohl und mehr Regionalität setzen, nehmen zu, was Auswirkungen auf die Fütterung hat. So achten immer mehr Verbraucher darauf, wie die Tiere gehalten werden und ob sie zum Beispiel mit lokal produziertem Futter und/oder gentechnikfreien Futtermitteln gefüttert wurden, ob sie Weidegang haben usw. In der EU ist hierbei schon eine hohe Differenzierung zu beobachten.

3.7.3.

Dieser Trend wurde in der Vergangenheit als kleine Nische angesehen, jedoch deuten sich entscheidende Veränderungen an: Viele große Supermarktketten in mehreren Mitgliedstaaten haben bereits die Anforderungen an ihre Frischfleischprodukte in Bezug auf Tierschutz und Umweltverträglichkeit schrittweise erhöht. Weitere radikale Veränderungen stehen an: So werden einige große Discounter ab 2030 100 % ihres Frischfleisch-Sortiments nur noch aus Außenklima- und Premium-Haltung beziehen. Die Umstellung bezieht sich auf alle Nutztiergruppen (Rind, Schwein, Hähnchen und Pute).

3.7.4.

Auch die geplante bzw. bereits stattfindende Zunahme des Bioanbaus in der EU wird Auswirkungen auf die Futterversorgung (und die Sojaimporte) haben. Die ökologische Tierhaltung wuchs bisher nach Angaben der Europäischen Kommission jährlich um 10 %. Das 25 %-Ziel der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ würde hier einen weiteren Push bewirken, wenn sich die Märkte entsprechend entwickeln, wozu die GAP beitragen will. Da weltweit nur 6 % der Sojabohnen als nicht gentechnisch verändertes Soja vertrieben werden, müssen sich die Betriebe nach Alternativen umschauen und/oder verstärkt hofeigenes Futter herstellen.

3.7.5.

Auch bei der Milch sind bereits deutliche Veränderungen erkennbar: In vielen Mitgliedstaaten verlangt der Lebensmitteleinzelhandel von den Molkereien Milch und Milchprodukte ohne Verwendung von Gentechnik bei der Fütterung der Kühe. Das hat dazu geführt, dass z. B. in Deutschland mittlerweile bei etwa 70 % der Milchproduktion kein Sojaschrot mehr gefüttert wird. Der Markt beginnt sich zu differenzieren, Weide-, Heu- oder Bergbauernmilch sind Beispiele hierfür. Dennoch bleiben Milcherzeugnisse auch in Zukunft eine unverzichtbare und für alle zugängliche Eiweißversorgung im Rahmen einer ausgewogenen Ernährung für alle Altersgruppen der Bevölkerung.

3.7.6.

Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an den EWSA-Informationsbericht „Vorteile der extensiven Viehhaltung und organischer Düngemittel im Rahmen des Grünen Deals“ (18), in dem die extensive Tierhaltung (auf Dauerwiesen und -weiden) nicht nur wegen ihrer besonderen Bedeutung für die Biodiversität und anderer ökologischer und landeskultureller Leistungen, sondern auch als „für die Versorgung mit nachhaltigen, gesunden, sicheren und hochwertigen Lebensmitteln von zentraler Bedeutung, insbesondere angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung“ gewürdigt wird. Die Notwendigkeit, die „Rolle von Gras- und Kleeweiden als wichtige Proteinquelle für Wiederkäuer“ stärker zu berücksichtigen, findet sich auch in einer weiteren Stellungnahme des Ausschusses (19).

3.7.7.

Eine weitere, völlig andere Entwicklung mit potenziell verheerenden wirtschaftlichen Folgen für die Landwirtschaft, die traditionelle Tierhaltung und das gesamte Agrar- und Lebensmittelsystem ist die Entwicklung von sogenanntem Kunstfleisch, das jedoch nichts mit Fleisch zu tun hat, sondern in einem Reaktor gezüchtet wird. Dieser Trend geht weder von Verbrauchern noch von Landwirten aus, sondern von großen multinationalen Konzernen wie Cargill, Tyson Foods oder Nestlé. Sie forschen an bzw. entwickeln Praktiken, um künstliches Fleischgewebe in industriellen Reaktoren herzustellen. Ihr Argument ist, dass sie das, was Landwirte seit jeher in der Geschichte der Menschheit in Form der traditionellen Viehzucht tun (nämlich Zellen wachsen lassen), in einem Reaktor mit viel weniger Landverbrauch leisten können, wobei nach wie vor Zweifel daran bestehen, ob dabei Wasser und sonstige Ressourcen eingespart werden, und auch in Bezug auf „Qualität“ und Produktionskosten bleiben viele Fragezeichen. Der EWSA fordert die Einleitung einen breiten gesellschaftlichen Debatte über Bedenken im Hinblick auf diese potenzielle Entwicklung und deren negative Folgen für Viehzüchter und die Fleischerzeugungskette, die möglicherweise Schäden für die Volkswirtschaften und die Beschäftigung in allen Mitgliedstaaten sowie in der Europäischen Union insgesamt mit sich bringt.

Reaktionen der Politik

3.8.

Es gibt mittlerweile deutliche Reaktionen der Politik, die z. T. inhaltlich noch weiter gehen als die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ und die auch in einem völlig anderen gesellschaftlichen Diskurs erstellt wurden. In Deutschland etwa hat die Bundesregierung im Juli 2020 eine „Zukunftskommission Landwirtschaft“ (ZKL) eingesetzt, die aus 32 Mitgliedern bestand, die sich aus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, auch den traditionellen Bauernverbänden und der Wissenschaft zusammensetzte. Ziel war es, eine von breiten Gesellschaftskreisen akzeptierte Vision für die Zukunft des Landwirtschafts- und Ernährungssystems zu erarbeiten. Im Juni 2021 wurden die Empfehlungen einstimmig verabschiedet und veröffentlicht. Sie folgen einem gemeinsamen Prinzip: Die ökologische und (tier-)ethische Verantwortbarkeit der Landwirtschaft ist am effektivsten und dauerhaftesten zu verbessern, indem Wege gefunden werden, die nachhaltigere Produktionsweisen durch die Einführung neuer Instrumente finanziell honorieren und somit betriebswirtschaftlich rentabel machen.

3.9.

Für den Bereich der Nutztierhaltung schließt sich die ZKL den Empfehlungen des Kompetenznetzwerkes Nutztierhaltung an, das vom Bundeslandwirtschaftsministerium eingesetzt wurde. Im Februar 2020 wurden die Vorschläge der Kommission veröffentlicht (20). Darin wird eine Transformationsstrategie zum Umbau der Nutztierhaltung mit einer substanziellen Erhöhung des Tierwohlniveaus skizziert. Diese beinhaltet eine Finanzierung durch Steuern oder Abgaben in Verbindung mit höheren Marktpreisen und einer Prämiengewährung, die an eine verbindliche Tierhaltungskennzeichnung mit entsprechenden definierten Haltungsstandards gebunden ist. Dies sei entscheidend, um den betroffenen Landwirten eine wirtschaftliche Perspektive zu eröffnen. Das Ergebnis dieser Transformationsstrategie soll zur Existenzsicherung der tierhaltenden Betriebe bei einem gleichzeitigen Rückgang der Tierbestände führen.

3.10.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die derzeitigen Formen der Tierhaltung in Europa sowohl hinsichtlich der Nachfrage nach Importen (hauptsächlich Soja) als auch hinsichtlich der regionalen Auswirkungen auf die Umwelt teilweise grundlegend unterscheiden. Während die eher traditionellen bzw. extensiv-ökologischen, flächengebundenen Haltungsformen meist auf regionalen Betriebs- und Futtermitteln basieren und überschaubare Umweltauswirkungen haben, teilweise sogar unverzichtbar für die Erhaltung von Kulturlandschaften sind, belastet das gegenwärtige und wachsende Volumen der Intensivtierhaltung die regionale Umwelt und basiert — trotz bereits großer Ansprüche auf Ackerland innerhalb der EU — weitgehend auf importiertem Futter, dessen Anbau in den Ursprungsländern massive Konsequenzen hat (u. a. Beitrag zur globalen Entwaldung und zum Klimawandel sowie soziale Verwerfungen).

3.11.

Ein wichtiger Bestandteil einer europäischen Eiweißstrategie muss es deshalb sein, die Nutztierhaltung insgesamt mit den EU-eigenen sowie den UN-Zielen bezüglich europäischer und globaler Ernährungssicherheit, Versorgungsautonomie und Nachhaltigkeit vereinbar zu machen. Ein verstärkter Eiweißanbau in der EU ist ein Teilaspekt davon, jedoch erscheint global eine Entwicklung, bei der sich der weltweite durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch und Milchprodukten dem heutigen Niveau der entwickelten Volkswirtschaften annähert, unvereinbar mit den UN-Nachhaltigkeitszielen. Eine Reduktion der Tierbestände ist unvermeidlich.

3.12.

Im Prinzip hat die ZKL bereits eine solche Bewertung des heutigen Agrar- und Ernährungssystems vorgenommen, und dies im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskussionsprozesses, der es verdient, von anderen EU-Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission selbst genauer analysiert zu werden. Darin werden auf der einen Seite die unbestrittenen positiven Leistungen, die die Landwirtschaft für die Gesellschaft erbringt, gewürdigt, gleichzeitig setzt sie sich kritisch mit dem auseinander, worauf die Produktionsentwicklungen der letzten Jahre basieren und welche Folgen sie mit sich gebracht haben: „Die Kehrseite dieses Fortschrittes sind Formen der Übernutzung von Natur und Umwelt, von Tieren und biologischen Kreisläufen bis hin zur gefährlichen Beeinträchtigung des Klimas. Gleichwohl steckt die Landwirtschaft auch ökonomisch in einer Krise. Verschiedene, nicht zuletzt auch politische Faktoren haben zu Wirtschaftsweisen geführt, die weder ökologisch noch ökonomisch und sozial zukunftsfähig sind. […] Angesichts der externen Kosten, die die vorherrschenden Produktionsformen mit sich bringen, scheidet eine unveränderte Fortführung des heutigen Agar- und Ernährungssystems aus ökologischen und tierethischen, wie auch aus ökonomischen Gründen aus (21).

4.   Forderungen: Eine nachhaltige Eiweißversorgung und die Rolle von Ölpflanzen stärken

4.1.

In einem Europa, in dem mehr und mehr die Versorgungsautonomie als ein strategisches Ziel anerkannt wird, sind durchaus Vergleiche zur Energiepolitik angebracht: Die Abhängigkeit von Importen sollte so weit wie möglich reduziert und eine nachhaltige Deckung des Bedarfs mit eigenen Ressourcen im Mittelpunkt stehen.

4.2.

Anders als im Energiebereich, in dem es gelingen kann, den Mangel an fossilen Brennstoffen durch neue Technologien (Wind, Sonne, Biomasse, Wasserstoff usw.) zu kompensieren, muss der globale Ernährungssektor Produktion und Konsum an das Potenzial des endlichen Naturkapitals (hauptsächlich Land, aber auch Biodiversität) anpassen. Damit einhergehen muss eine Priorisierung der Nutzung der landwirtschaftlichen Erträge. Oberste Priorität muss die Versorgung der Menschen vor allem mit pflanzlichen Produkten (Getreide, Obst, Gemüse usw.) haben. Glücklicherweise gibt es keinen Grund zur Sorge, dass die EU diesen Bedarf für die eigene Bevölkerung nicht decken kann. Angesichts der wachsenden Besorgnis über den Welthunger sollte allerdings bedacht werden, dass der Welthunger nicht mit Fleischproduktion gelöst werden kann, im Gegenteil: Futtermittel (wie auch Biomasse zu Energiezwecken) konkurrieren mit Nahrung.

4.3.

Dieser Landnutzungskonflikt verschärft sich dadurch, dass sich die Landwirtschaft in fast allen Regionen der EU einer zum Teil erheblichen Flächenkonkurrenz ausgesetzt sieht: Der Verlust an landwirtschaftlichen Flächen zur Urbanisierung/Bebauung und Infrastruktur usw. wird nach Berechnungen der EU dazu führen, dass die Nutzfläche bis 2030 um fast 1 Mio. Hektar abnehmen könnte.

4.4.

Dennoch finden wir in der EU im globalen Vergleich eine komfortable Situation vor: Eine EU-Landwirtschaft, die sich an den Prinzipien des europäischen Agrarmodells (22) orientiert, ist eindeutig in der Lage, ausreichend hochwertige pflanzliche Produkte für alle Mitbürger bereitzustellen, sie kann zudem durchaus große Mengen an Futtermitteln liefern, aber nicht zur Befriedigung des jetzigen Bedarfs. Und angesichts des zu vermutenden Ausfalls von Getreidelieferungen aus der Ukraine und Russland in Hungersregionen muss die Frage gestellt werden, ob wir in der EU nicht weniger Getreide verfüttern (bzw. dem Kraftstoff zusetzen) müssten, um zur Lösung des sich verschärfenden globalen Hungerproblems beitragen zu können und auch um die Eiweißversorgung zu steigern.

4.5.

Im Rahmen einer europäischen Eiweißstrategie muss bedacht werden, dass Wiederkäuer (aber nicht nur die) eine Gabe haben, über die Menschen nicht verfügen: sie können Gras verwerten! Selbst bei Monogastriern (Schweine und Geflügel) könnte Grünland einen Teil der Futterrationen ergänzen. Damit sollte Grünland einen wesentlichen Baustein für eine nachhaltige Eiweißversorgung darstellen, dies kommt in den politischen Diskussionen derzeit viel zu kurz. Auch die im vergangenen Jahr von der EU getroffene Entscheidung, Tier- und Insektenmehl in der Tierernährung wieder zuzulassen, kann zu einer Reduzierung des Anteils an pflanzlichem Eiweiß in der Tierernährung beitragen.

4.6.

Neuere Studien aus den Fachgremien der Union zur Förderung von Öl- und Proteinpflanzen (UFOP) zu den Potenzialen von Raps und Leguminosen in Anbau und Fütterung stimmen zuversichtlich, dass anbautechnisch ein Potenzial vorhanden ist, um weitaus mehr Raps und Leguminosen anzubauen und gleichzeitig die Fruchtfolgen deutlich zu erweitern. Der Anteil von Raps und Leguminosen könnte jeweils ca. 10 % der Ackerfläche betragen, dies entspricht z. B. bei Leguminosen (insbesondere Körnererbsen, Ackerbohnen, Sojabohnen, Süßlupinen) mehr als einer Verdoppelung des aktuellen Niveaus. Mehr Ölpflanzen stehen also einer nachhaltigen Landnutzung nicht entgegen, im Gegenteil. Allerdings kann dies nur zu Lasten anderer Anbauformen geschehen.

4.7.

Diese Studie zeigt jedoch auch, dass der Bedarf des jetzigen Tierbestandes nicht autark gedeckt werden kann und dass es zu Bestandsreduktionen kommen muss, will man dem Ziel einer strategischen Versorgungsautonomie näherkommen.

4.8.

Der EWSA hält es deshalb für dringend notwendig, dass die EU eine Studie über das europaweite Potenzial von Eiweiß- und Ölpflanzen, die innerhalb der EU-Grenzen angebaut werden könnten, erstellt. Dabei muss die Nachhaltigkeit der Landnutzung (Fruchtfolgen, Bodenfruchtbarkeit, inklusive Biodiversität) berücksichtigt werden. Aus den Ergebnissen dieser Studie sollte dann abgeleitet werden, welche Flächenansprüche für eine gesunde, auf pflanzlichem Protein basierende Ernährung für die europäischen Bürger erforderlich sind. Daraus lässt sich dann ableiten, was für Tierfutter (bzw. für Energiezwecke) übrigbleibt und damit auch, was noch importiert werden muss für eine Nutztierhaltung, die in die europäischen und globalen ökologischen Grenzen einer auf Nachhaltigkeit und Tierwohl ausgerichteten Tierhaltung passt. Eine europäische Eiweißstrategie muss dann auch eine Antwort auf die Frage geben, welche Konsequenzen sie für bestehende Handelsabkommen (wie z. B. Mercosur) haben muss und wie die nachhaltig wirtschaftenden Landwirte in der EU vor Importen aus nicht nachhaltigen Produktionen geschützt werden können.

4.9.

Dem EWSA ist es wichtig, zu betonen, dass bei einer Nutzung von 10 % der Anbaufläche in der EU durch Ölkulturen das so gewonnene Öl zu einer Energieautarkie für die Treibstoffversorgung der Ackerschlepper führen könnte, wenn es nur für diesen Zweck benutzt wird. Der EWSA hat schon in früheren Stellungnahmen (23) darauf hingewiesen, dass er es für sinnvoll hält, ein gesondertes Programm zum Einsatz von nicht veresterten (also reinen) Pflanzenölen in landwirtschaftlichen Maschinen aufzulegen und nicht auf eine Beimischung zum Diesel zu setzen. Allerdings sollte auch die Verwendung von B100-Kraftstoffen (zu 100 % veresterte Pflanzenöle) in Betracht gezogen werden. Der dabei anfallende Ölkuchen (24) stellt ein hervorragendes Eiweißfuttermittel dar (gleiches gilt beispielsweise für Abfälle aus der Alkoholgewinnung).

4.10.

Einige Mitgliedstaaten arbeiten bereits — aus sehr unterschiedlichen Gründen — an einer Abstockung der Tierbestände (z. B. die Niederlande). Diese kann ordnungsrechtlich verfügt oder durch marktwirtschaftliche Instrumente gestaltet werden. Der EWSA spricht sich — neben klaren Umwelt- und Tierwohlstandards — primär für marktwirtschaftliche Lösungen aus, mit denen Bedingungen geschaffenen werden, um neue regionale Wertschöpfungsketten aufzubauen, die selbsttragend und nicht dauerhaft von Förderungen abhängig sind. Gleichzeitig sollen sie möglichst allen tierhaltenden Betrieben Perspektiven eröffnen. Sie müssen es zudem möglichst allen Landwirten in der EU ermöglichen, nachhaltig zu produzieren und einen sicheren Lebensunterhalt zu verdienen. Dies erfordert Schutz vor unlauterem Wettbewerb und vor unlauteren Handelspraktiken, und dafür ist es erforderlich, die Marktmacht der Landwirte im Transformationsprozess hin zu einem globalen nachhaltigen Ernährungssystem voranzutreiben.

4.11.

Dies alles zeigt erneut, dass eine nachhaltige EU-Strategie für pflanzliches Eiweiß und Öl das gesamte Agrar- und Ernährungssystem betrachten muss, eine isolierte Anbaustrategie hilft nicht weiter.

4.12.

Marktmechanismen müssen derartig ausgerichtet werden, dass sie die realen sozialen, gesellschaftlichen und ökologischen Kosten widerspiegeln. Marktversagen kann durch fakten- und wissenschaftsbasierte staatliche Eingriffe korrigiert werden, die darauf abzielen, den Kompromiss zwischen Kosten und Nutzen für die Gesellschaft unter Berücksichtigung aller Interessen zu optimieren.

Brüssel, den 27. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17.4.2018 zu einer europäischen Strategie zur Förderung von Eiweißpflanzen (ABl. C 390 vom 18.11.2019, S. 2).

(2)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17.4.2018 (ABl. C 390 vom 18.11.2019, S. 2), Anm. des EWSA zu Erwägung E: Die 75 %-ige Abhängigkeit bezieht sich als auf Eiweißpflanzen mit einem hohen Proteingehalt, die bedeutende Eiweißversorgung der Tiere durch Gras und Getreide wird unverständlicherweise in vielen Diskussionen vernachlässigt!

(3)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17.4.2018 (ABl. C 390 vom 18.11.2019, S. 2), Erwägung L.

(4)  Bericht der Kommission an den Rat und Europäische Parlament über die Entwicklung von Pflanzenproteinen in der Europäischen Union Report (COM(2018) 757 final,), S. 2.

(5)  COM(2018) 757 final, S. 3.

(6)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17.4.2018 (ABl. C 390 vom 18.11.2019, S. 2), Erwägung L.

(7)  Die gesamte Landwirtschaftsfläche Europas (inkl. Weiden und Wiesen) in der EU beträgt laut Eurostat derzeit rund 174 Mio. Hektar (Angaben aus der Zeit vor dem Brexit).

(8)  COM(2018) 757 final .

(9)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17.4.2018 (ABl. C 390 vom 18.11.2019, S. 2).

(10)  Stellungnahme des EWSA zur Minimierung des Risikos der Entwaldung und Waldschädigung im Zusammenhang mit Produkten, die in der EU in Verkehr gebracht werden (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 88).

(11)  Stellungnahme des EWSA zur Minimierung des Risikos der Entwaldung und Waldschädigung im Zusammenhang mit Produkten, die in der EU in Verkehr gebracht werden (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 88).

(12)  Sondierungsstellungnahme des EWSA auf Ersuchen des französischen Ratsvorsitzes Ernährungssicherheit und nachhaltige Lebensmittelsysteme (ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 72), Ziffer 1.3.ii.

(13)  Entschließung des EWSA, verabschiedet auf der Plenartagung vom 24. März 2022 (ABl. C 290 vom 29.7.2022, S. 1).

(14)  https://www.consilium.europa.eu/media/54802/20220311-versailles-declaration-de.pdf.

(15)  2017 betrug die landwirtschaftliche Nutzfläche in der EU (27) 178,7 Mio. Hektar: 105,5 Mio. Hektar waren Ackerland, davon 63 % (66,8 Mio. Hektar) Ackerland für Futtermittelanbau (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1196852/umfrage/landwirtschaftliche-flaechen-in-der-eu-nach-nutzungsart/).

(16)  Verband der Ölsaaten-verarbeitenden Industrie in Deutschland (OVID): Eiweißstrategie 2.0, 2019.

(17)  In Deutschland ist der Schweinefleischverzehr pro Einwohner von 1995 bis 2021 von 39,8 auf 31 kg zurückgegangen.

(18)  EWSA-Informationsbericht Vorteile der extensiven Viehhaltung und organischer Düngemittel im Rahmen des europäischen Grünen Deals.

(19)  Sondierungsstellungnahme des EWSA auf Ersuchen des französischen Vorsitzes des Rates Ernährungssicherheit und nachhaltige Lebensmittelsysteme (ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 72).

(20)  https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Tiere/Nutztiere/200211-empfehlung-kompetenznetzwerk-nutztierhaltung.html.

(21)  Abschlussbericht der ZKL.

(22)  Initiativstellungnahme des EWSA zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik 2013 (ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 35).

(23)  Stellungnahme des EWSA zur Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 43).

(24)  Beim Pressen von Raps erhält man ca. ein Drittel Öl und zwei Drittel sogenannten Ölkuchen.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/97


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Rahmen zur Kennzeichnung nachhaltiger Lebensmittel für nachhaltige Kaufentscheidungen der Verbraucherinnen und Verbraucher“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/14)

Berichterstatter:

Andreas THURNER

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 GO

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.10.2022

Verabschiedung im Plenum

27.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

147/5/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA)

1.1.

begrüßt die Initiative der Europäischen Kommission, einen gesetzlichen Rahmen für nachhaltige Lebensmittelsysteme zu schaffen, der u. a. auch Regeln für die Nachhaltigkeitskennzeichnung bei Lebensmitteln beinhalten soll. Es bedarf eindeutig einer Regulierung und eines gewissen Maßes an Standardisierung und Harmonisierung, um Glaubwürdigkeit und gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten;

1.2.

betont, dass Nachhaltigkeit ein multidimensionales Konzept ist, bei dem die wirtschaftliche, ökologische und soziale Dimension stets in gleichem Maße berücksichtigt werden sollte;

1.3.

weist darauf hin, dass die Ernährungsgewohnheiten der Menschen sehr verschieden sind, von unterschiedlichen Faktoren abhängen und zudem sehr beharrlich sind. Die Erwartungen an ein Kennzeichnungssystem von Nachhaltigkeit sollten somit von Beginn an realistisch eingeschätzt werden. Allerdings besteht ein allgemeines Interesse an einer Umstellung auf nachhaltigere Verbrauchsmuster;

1.4.

empfiehlt daher, einen transparenten, wissenschaftlich fundierten und möglichst einfachen und pragmatischen Rahmen für die Nachhaltigkeitskennzeichnung bei Lebensmitteln festzulegen, der sowohl Wirtschaftsbeteiligte dabei unterstützt, die Nachhaltigkeit der Produkte zu bewerten und zu verbessern als auch für Konsumentinnen und Konsumenten nützliche Hinweise für eine bewusste Kaufentscheidung ermöglicht;

1.5.

schlägt vor, sich im Sinne eines einfachen und pragmatischen Zugangs auch mit Teilaspekten einer umfassend definierten und bewerteten Nachhaltigkeit zu begnügen, wie z. B. dem Tierwohl, sozialen oder ökologischen Kriterien. Allerdings sollte in diesem Fall die Bezeichnung „nachhaltig“ nicht verwendet werden, weil diese nur bei einem umfassenden Bewertungsansatz verwendet werden sollte;

1.6.

spricht sich zunächst für einen freiwilligen Ansatz aus, der allerdings im Fall der Anwendung zwingende Bedingungen vorsehen soll. Nachhaltigkeitssiegel oder Nachhaltigkeitsangaben, die in der Folge nicht auf diesen Bedingungen aufbauen, sollten verboten werden;

1.7.

ist der Ansicht, dass Kennzeichnungsformen mit einer Bewertungsskala (z. B. in Form eines Ampelsystems) den Verbrauchern dabei helfen können, fundierte Entscheidungen zu treffen. Ein derartiges Bewertungssystem kann gleichzeitig auch eine Vorreiterrolle bezüglich Nachhaltigkeit fördern und Unternehmen ermutigen, die Prozesse entlang der Lebensmittelkette dahingehend zu verbessern;

1.8.

weist dabei darauf hin, dass die Bewertungsalgorithmen entscheidend für ein Skalierungsmodell sind. Diese müssen wissenschaftlich basiert sein und für Verbraucherinnen und Verbraucher in geeigneter Weise transparent gemacht werden;

1.9.

ist der Auffassung, dass bestehende EU-Qualitätsregelungen wie die biologische Wirtschaftsweise oder geografische Angaben bereits Elemente beinhalten, die zu mehr Nachhaltigkeit im Lebensmittelsystem beitragen. Dies sollte entsprechend anerkannt werden. Der EWSA empfiehlt darüber hinaus, die bestehenden Regelungen einem Nachhaltigkeitscheck zu unterziehen und gegebenenfalls um adäquate Nachhaltigkeitsbestimmungen zu ergänzen;

1.10.

unterstreicht die entscheidende Rolle der Bildung zur Vermittlung eines grundlegenden Verständnisses für Nachhaltigkeitsaspekte in Verbindung mit Lebensmitteln. Auch durch Sensibilisierungskampagnen und angemessene Maßnahmen zur Förderung der Erschwinglichkeit nachhaltiger Lebensmittel kann der Übergang zu nachhaltigeren Lebensmittelsystemen gefördert werden.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

Die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ (1) steht im Mittelpunkt des europäischen Grünen Deals. Ihr Ziel besteht darin, Lebensmittelsysteme fair, gesund und umweltfreundlich zu gestalten. Der Aktionsplan der Strategie umfasst u. a. Maßnahmen zur Förderung eines nachhaltigen Lebensmittelverbrauchs und zur Erleichterung der Umstellung auf eine gesunde und nachhaltige Ernährung. In der Zwischenzeit hat die Europäische Kommission bereits mit den Vorarbeiten für ein horizontales Rahmengesetz begonnen, um den Übergang zur Nachhaltigkeit zu beschleunigen und zu erleichtern. Auch soll sichergestellt werden, dass die in der EU in Verkehr gebrachten Lebensmittel immer nachhaltiger werden.

2.2.

Der EWSA hat mit seinem Entwurf einer strategischen Vision für die Förderung einer umfassenden Ernährungspolitik bereits einen soliden Aktionsrahmen entwickelt. Die Grundlagen dieser Vision sind in Stellungnahmen zu Themen wie umfassende Lebensmittelpolitik (2), gesunde und nachhaltige Ernährung (3), kurze Lebensmittelversorgungsketten/Agroökologie (4), nachhaltiger Konsum (5) und Abstimmung der Strategien und Maßnahmen der Lebensmittelwirtschaft auf die Nachhaltigkeitsziele zugunsten eines nachhaltigen Wiederaufbaus nach der COVID-19-Krise (6) enthalten.

2.3.

Die Unternehmen tragen eine große Verantwortung dafür, einerseits die Verbraucher zu gesunden und die Umwelt weniger belastenden Entscheidungen zu bewegen und andererseits die nachhaltige Umgestaltung der Lebensmittelsysteme durch nachhaltige Bewirtschaftungs-, Verarbeitungs- und Verpackungsverfahren voranzutreiben. Die Unternehmen sollten Teil des gesamten Prozesses zur Entwicklung des Rahmens zur Kennzeichnung nachhaltiger Lebensmittel sein.

2.4.

Neben den Unternehmen und den Akteuren in der Lebensmittelproduktion spielen auch die Verbraucherinnen und Verbraucher beim Übergang zu nachhaltigeren Lebensmittelsystemen eine entscheidende Rolle. Jede Kaufentscheidung löst im Prinzip den nächsten Produktionsauftrag aus. Eine stärkere Nachfrage nach nachhaltigen Lebensmitteln wird daher auch auf der Angebotsseite zu mehr Nachhaltigkeit führen.

2.5.

Vor diesem Hintergrund sollen mit dieser Initiativstellungnahme mögliche Optionen für einen Rahmen für die Kennzeichnung von nachhaltigen Lebensmitteln ausgelotet und Schlussfolgerungen und Empfehlungen vorgelegt werden, um die Kommission bereits zu einem frühen Zeitpunkt bei der Entwicklung eines derartigen politischen Rahmens zu unterstützen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Nachhaltigkeit ist ein multidimensionales Konzept, bei dem die wirtschaftliche, ökologische und soziale Dimension stets in gleichem Maße berücksichtigt werden sollte. Nach der Definition der FAO ist unter einem nachhaltigen Lebensmittelsystem ein Lebensmittelsystem zu verstehen, das so für Ernährungssicherheit und Nahrung für alle sorgt, dass die wirtschaftlichen, sozialen und umweltbezogenen Grundlagen für Ernährungssicherheit und Ernährung künftiger Generationen nicht gefährdet werden (7). Um es auf den Punkt zu bringen: eine einseitige Fokussierung auf den ökologischen Part der Nachhaltigkeit, wie es derzeit oft der Fall ist, oder auf die sozioökonomischen Säulen der Nachhaltigkeit ist per Definition nicht nachhaltig. Das Ziel sollte darin bestehen, die gesamte Wertschöpfungskette in allen drei Dimensionen der Nachhaltigkeit abzudecken.

3.2.

Ein Kennzeichnungsrahmen sollte nicht darauf abzielen, Lebensmittel als nachhaltig oder nicht nachhaltig einzustufen, sondern vielmehr die Entwicklung hin zu einem nachhaltigeren Lebensmittelsystem unterstützen. Der Kennzeichnungsrahmen soll Wirtschaftsbeteiligten dabei helfen, die Nachhaltigkeit der Produkte zu bewerten und zu verbessern (Methoden, die Anreize für Verbesserungen bieten, z. B. ein Benchmarking- oder ein Referenzsystem), und nützliche Hinweise für die Verbraucherinnen und Verbraucher bieten. Dieser Kennzeichnungsrahmen sollte auf offene und transparente Weise unter Einbeziehung der einschlägigen Interessenträger entwickelt werden und auf einer klaren, wissenschaftlich fundierten Methodik aufbauen. Zu diesem Zweck sollten die Unternehmen Zugang zu Indikatoren, Methoden und Ergebnissen haben, die auf der Grundlage des Kennzeichnungssystems erzielt wurden. Vor allem muss der Rahmen einfach sein.

3.3.

Es bedarf klarer Regeln, damit die Verwirrung auf dem Markt verringert wird, die dort derzeit aufgrund der inflationären Verwendung des Begriffs „nachhaltig“ (eine Form des ökologischen Etikettenschwindels) herrscht. Nachhaltigkeitssiegel oder Nachhaltigkeitsangaben, die nicht auf einem weithin anerkannten Zertifizierungssystem beruhen, sollten verboten werden.

3.4.

Die Nachhaltigkeitskennzeichnung bei Lebensmitteln sollte auf Basis des gesamten Herstellungsprozesses erfolgen und zunächst freiwillig sein. Jeglicher Rahmen für die Kennzeichnung der Nachhaltigkeit von Lebensmitteln muss jedoch unbedingt von Beginn an auf einer klaren Definition/Methodik beruhen, die auf allen drei Säulen der Nachhaltigkeit (Umwelt, Soziales und Wirtschaft) zugleich aufbaut. Dies sollte die gesamte Lebensmittelwertschöpfungskette von der Produktion bis zum Verbrauch umfassen. Im weiteren Verlauf sollte geprüft werden, ob eine Verpflichtung zur Kennzeichnung der Nachhaltigkeit erforderlich sein könnte. Der EU-Rahmen sollte nationalen und regionalen Systemen adäquate Gestaltungsspielräume einräumen, allerdings müssen die Definitionen und Bewertungsregeln EU-weit harmonisiert sein.

3.5.

Allerdings darf die Rolle der Kennzeichnung nicht überschätzt werden. Es sollte ein realistisches und pragmatisches Verständnis davon geben, was eine Nachhaltigkeitskennzeichnung bewirken kann und was nicht. Laut Weltgesundheitsorganisation sollten die Verbraucher die Kennzeichnung kennen und erkennen, ihre Bedeutung verstehen und in der Lage und daran interessiert sein, sie richtig zu nutzen, damit sie dank der Kennzeichnung fundierte Entscheidungen beim Kauf von Lebensmitteln und für eine gesündere Ernährung treffen können (8). Es wird darauf ankommen, das Bewusstsein für die Nachhaltigkeits- und Qualitätskennzeichnungssysteme der EU zu schärfen. Zusammen mit öffentlichen Beschaffungs- und Bildungsmaßnahmen kann dies die Nachfrage nach nachhaltigen Lebensmitteln stärken. Die politischen Entscheidungsträger sollten außerdem angemessene Maßnahmen zur Förderung der Erschwinglichkeit und Zugänglichkeit nachhaltiger Lebensmittel prüfen.

3.6.

Die Kennzeichnung der Nachhaltigkeit ist dort von großer Bedeutung, wo der Hersteller die erforderlichen Informationen nicht direkt zur Verfügung stellen kann. Wenn der Hersteller dem Verbraucher die einschlägigen Informationen direkt zur Verfügung stellen kann (z. B. auf einem lokalen Bauernmarkt oder in einem Hofladen), ist ein Kennzeichnungssystem nicht erforderlich. Dies ist wichtig, um bürokratische Hürden für Kleinerzeuger zu vermeiden.

3.7.

Bildung spielt für die Vermittlung eines grundlegenden Verständnisses von Nachhaltigkeitsaspekten im Zusammenhang mit Lebensmitteln eine entscheidende Rolle. Es muss in Bildungsmaßnahmen für eine nachhaltige Ernährung von früher Kindheit an investiert werden, damit junge Menschen den Wert der Ernährung zu schätzen lernen. Zudem ist hier damit zu rechnen, dass die Kinder in der Folge die Eltern zu mehr Nachhaltigkeit „erziehen“, wie das zum Beispiel beim Thema „Mülltrennung und Recycling“ zu beobachten war. Das EU-Schulprogramm für Obst, Gemüse und Milch sollte zum Beispiel verstärkt auch wichtige Nachhaltigkeitsaspekte beleuchten.

3.8.

Der EWSA wiederholt seine Empfehlung, neue Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung zu entwickeln, die den kulturellen und geografischen Unterschieden zwischen und innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung tragen. Solche Leitlinien würden Landwirten, Verarbeitern, Einzelhändlern und der Gastronomie als Orientierungshilfe dienen. Ein neuer „Rahmen“ für die Erzeugung, die Verarbeitung, den Vertrieb und den Verkauf gesünderer und nachhaltigerer Lebensmittel zu einem gerechteren Preis würde dem Agrar- und Lebensmittelsystem zugutekommen (9).

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Die Ernährungsgewohnheiten der Menschen sind verschieden und stark vom persönlichen und kulturellen Umfeld geprägt. Zudem sind Ernährungsgewohnheiten sehr hartnäckig: wenn Menschen ihre Ernährung ändern sollen, dann geht das nur in kleinen Schritten und über längere Zeiträume. Die Lebensstile und das soziale Umfeld der Menschen sind weitere relevante Faktoren, die bestimmen, ob Nachhaltigkeit eine Rolle im Konsumverhalten spielt. Ein großer und wachsender Teil der Verbraucher erklärt jedoch, dass er bereit ist, seine Konsumgewohnheiten aus Gründen der Nachhaltigkeit zu ändern. Es besteht ein Interesse an Informationen über Nachhaltigkeit als Grundlage für fundierte Entscheidungen.

4.2.

Ganz generell spricht eine Kennzeichnung der Nachhaltigkeit oft jene Menschen an, die sich ohnehin bereits für das Thema interessieren. Eine Nachhaltigkeitskennzeichnung soll es dieser Kerngruppe erleichtern, nachhaltige Konsumentscheidungen zu treffen.

4.3.

Es stellt sich daher auch die Frage, ob und wie man jene Menschen erreichen kann, die kein Interesse am Thema Nachhaltigkeit haben. Über die Vorbildwirkung der Kernzielgruppen für die Nachhaltigkeit kann aber eine Verhaltensänderung durch Nachahmung erreicht werden. Es ist auch ein Fortschritt, wenn Zielgruppen, die sich nicht so sehr für das Thema interessieren, zumindest gelegentlich oder in Teilbereichen eine nachhaltige Lebensmittelwahl treffen. Dies sind nur einige Aspekte, um die Erwartungen an eine Nachhaltigkeitskennzeichnung von Beginn an realistisch einzuordnen.

4.4.

Wesentliche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Nachhaltigkeitskennzeichnung bei Lebensmitteln sind eine entsprechende Wahrnehmung und Akzeptanz beim Konsumenten sowie eine verständliche Botschaft. Die Kennzeichnung selbst muss verständlich, einfach und vertrauenswürdig sein. Parallel dazu sollten auf Verbraucherseite Begleitmaßnahmen gesetzt werden, die Bildung und Information zu nachhaltiger Ernährung fördern, die Vertrauen und Akzeptanz in ein Kennzeichnungssystem stärken und die zu nachhaltigerem Konsum motivieren.

4.5.

Nachhaltigkeitsangaben sollten auf folgenden Grundsätzen beruhen: Zuverlässigkeit, Transparenz, Relevanz, Zugänglichkeit und Klarheit (Leitlinien der Vereinten Nationen für die Bereitstellung von Informationen über die Nachhaltigkeit von Produkten (10)). Beim Zertifizierungssystem ist darauf zu achten, dass der strukturelle Hintergrund adäquat berücksichtigt wird, um kleine Strukturen, z. B. Landwirte, KMU, Ab-Hof-Verkauf, Wochenmärkte usw. nicht zu benachteiligen.

4.6.

Kennzeichnungen mit einer Bewertungsskala (z. B. in Form eines Ampelsystems) könnten den Verbrauchern helfen, fundierte Entscheidungen zu treffen. Ein derartiges Bewertungssystem kann gleichzeitig auch eine Vorreiterrolle bezüglich Nachhaltigkeit fördern und Unternehmen ermutigen, die Prozesse entlang der Lebensmittelkette dahingehend zu verbessern. Es sollte jedoch ein gewisses Maß an Kohärenz zwischen den verschiedenen Kennzeichnungssystemen geben, um Verwirrung zu vermeiden.

4.7.

Bei der Entwicklung eines geeigneten Kennzeichnungsrahmens für Nachhaltigkeit sollte möglichst ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt werden, im Sinne von „nachhaltige Produktion und nachhaltiger Konsum“ statt lediglich „nachhaltige Lebensmittel“. Das Verbraucherverhalten ist ein wesentlicher Baustein im Gesamtbild eines nachhaltigen Lebensmittelsystems. Verpackung und Transport (Produktherkunft) sind ebenso relevante Bereiche. Gleichzeitig wird es notwendig sein, einen gewissen Pragmatismus an den Tag zu legen, wenn es darum geht, die relevanten Indikatoren für Nachhaltigkeit festzulegen (z. B. welche Informationen/Daten sind in verlässlicher Form verfügbar). Jedenfalls sollte möglichst rasch ein harmonisiertes Regelwerk für Nachhaltigkeitskennzeichnung geschaffen werden. Immer mehr unterschiedliche Nachhaltigkeitslabels auf nationaler und unternehmerischer Ebene stiften lediglich Verwirrung und führen zu Vertrauensverlust.

4.8.

Europäische Lebensmitteleinzelhandel-Unternehmen (LEH) sammeln bereits erste Erfahrungen mit Pilotprojekten zur Nachhaltigkeitskennzeichnung bei Lebensmitteln. Vorläufige Erkenntnisse daraus sind u. a.: die Wahrnehmung bei gekennzeichneten Produkten ist tendenziell positiver als bei nicht gekennzeichneten Produkten bei nur geringem Einfluss auf die Kaufentscheidung, positive Rückmeldungen kommen v. a. von jüngeren Zielgruppen, manchmal kommt es bei der Anwendung eines Score-Systems zu Verwirrung mit Nutriscore sowie der Wunsch nach Informationen auf der Verpackung (anstatt lediglich auf dem Preisschild). Als wesentliche Punkte erscheinen u. a. die Glaubwürdigkeit des Bewertungssystems (unabhängig, wissenschaftsbasiert), die Klarheit der Information (Verständlichkeit), ein möglichst harmonisierter Ansatz über die gesamte Branche und Transparenz („klären“ statt „vereinfachen“, etwa über einen mit relevanten Informationen hinterlegten Barcode).

4.9.

Die Berücksichtigung der sozialen und sozioökonomischen Dimension ist entscheidend, wenn auch die Indikatoren dazu noch nicht unbedingt auf der Hand liegen. Insbesondere im Sozialbereich gelten in den Mitgliedstaaten unterschiedliche rechtliche Bestimmungen (Arbeitsbedingungen, Mindestlohn), was einen EU-weit harmonisierten Ansatz erschweren dürfte. Dennoch ist es wichtig, sozioökonomische Aspekte in die Nachhaltigkeitskennzeichnung aufzunehmen.

4.10.

Im Rahmen einer pragmatischen Herangehensweise scheint es naheliegend, bestehende EU-Zertifizierungssysteme wie biologische Wirtschaftsweise, geschützte geographische Angabe (ggA), geschützte Ursprungsbezeichnung (gU) oder garantiert traditionelle Spezialitäten (gtS) zur Förderung der Nachhaltigkeit im Lebensmittelsystem anzuerkennen. Auch wenn diese Regelungen das Thema Nachhaltigkeit möglicherweise nicht vollumfassend abdecken, so beinhalten sie doch Elemente, die zu mehr Nachhaltigkeit im Lebensmittelsystem beitragen. Die bestehenden Regelungen sollten einem Nachhaltigkeitscheck unterzogen werden und allenfalls um adäquate Nachhaltigkeitsbestimmungen ergänzt werden.

4.11.

Regionale/lokale Produkte und kurze Versorgungsketten können eine Rolle dabei spielen, die Lebensmittelsysteme nachhaltiger zu gestalten. Regionale Produzenten produzieren oft in unmittelbarer Nachbarschaft der lokalen Bevölkerung und erfahren so eine gewisse „gesellschaftliche Kontrolle“, was nachhaltige Produktionsweisen tendenziell vorantreiben dürfte.

4.12.

Das Thema „Saisonalität“ hat speziell bei Obst und Gemüse einen Einfluss auf den Grad der Nachhaltigkeit. Durch Information und Aufklärung kann ein Bewusstsein für einen ressourcenarmen Konsum dieser rasch verderblichen und wasserreichen Lebensmittelkategorie geschaffen werden.

4.13.

Im Zuge der jüngsten GAP-Reform und mit der Umsetzung des europäischen Grünen Deals (Biodiversitätsstrategie, Strategie „Vom Hof auf den Tisch“) in der europäischen Landwirtschaft soll sichergestellt werden, dass die landwirtschaftliche Produktion in Europa noch nachhaltiger wird. Somit ermöglicht eine Kennzeichnung der Herkunft der landwirtschaftlichen Rohstoffe auch Rückschlüsse auf deren Nachhaltigkeitsniveau.

Brüssel, den 27. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  https://ec.europa.eu/food/horizontal-topics/farm-fork-strategy_de

(2)  Initiativstellungnahme des EWSA „Beitrag der Zivilgesellschaft zur Ausarbeitung einer umfassenden Ernährungspolitik in der EU“ (ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 18).

(3)  Initiativstellungnahme des EWSA „Förderung einer gesunden und nachhaltigen Ernährung in der EU“ (ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 9).

(4)  Initiativstellungnahme des EWSA Förderung kurzer und alternativer Lebensmittelversorgungsketten in der EU: Die Rolle der Agrarökologie (ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 65).

(5)  Initiativstellungnahme des EWSA Eine EU-Strategie für nachhaltigen Konsum (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 51).

(6)  Initiativstellungnahme des EWSA Abstimmung der Lebensmittelwirtschaft auf die Nachhaltigkeitsziele (ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 63).

(7)  https://www.fao.org/in-action/territorios-inteligentes/componentes/produccion-agricola/contexto-general/en/

(8)  https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/336988/WHO-EURO-2020-1569-41320-56234-eng.pdf?sequence=1&isAllowed=y

(9)  Initiativstellungnahme des EWSA „Förderung einer gesunden und nachhaltigen Ernährung in der EU“ (ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 9).

(10)  https://www.oneplanetnetwork.org/knowledge-centre/resources/guidelines-providing-product-sustainability-information


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/102


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Eine strategische Vision der Energiewende für die strategische Autonomie der EU“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/15)

Berichterstatter:

Thomas KATTNIG

Lutz RIBBE

Tomasz Andrzej WRÓBLEWSKI

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

4.10.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

197/9/12

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Ende 2021 beschloss der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), eine umfassende Vision für die Energiewende auszuarbeiten. Am 18. Januar 2022 beschloss der EWSA, dass alle Fachgruppen und die CCMI ihre Initiativstellungnahmen zu verschiedenen Aspekten der Energiewende in die Rahmenstellungnahme „Eine strategische Vision der Energiewende für eine nachhaltige Entwicklung“ einfließen lassen sollten.

Angesichts der derzeitigen Lage in der Ukraine nach der militärischen Invasion durch die Russische Föderation mit Folgen in nie gekanntem Maße für die Energieversorgung und die Energiepreise in der EU ist die Energiewende jedoch zur obersten Priorität geworden.

Mit Blick auf die aktuelle Krise und unter Berücksichtigung des Ziels, die EU bis 2030 von russischem Erdgas unabhängig zu machen, enthält diese Stellungnahme des EWSA eine umfassende Vision für die Energiewende, die darauf abzielt, eine strategische Autonomie der EU im Energiebereich aufzubauen und zu stärken.

Zur Entwicklung einer langfristigen strategischen Vision werden in dieser Rahmenstellungnahme folgende Dokumente zusammengefasst:

Schlussfolgerungen und Empfehlungen aus Initiativstellungnahmen der einzelnen Fachgruppen und der CCMI (1),

Schlussfolgerungen der Stellungnahmen zu REPowerEU und dem REPowerEU-Plan sowie den anstehenden Legislativvorschlägen und

Schlussfolgerungen und Empfehlungen aus früheren EWSA-Stellungnahmen.

1.2.

Der EWSA weist auf die Gefahr hin, dass das Zusammenspiel der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der derzeitigen Energiekrise das demokratische System in Mitleidenschaft ziehen könnte, wenn keine geeigneten Lösungen gefunden werden. Er befürwortet deshalb die Umsetzung von Sofortmaßnahmen zur Bewältigung der dringendsten Probleme, insbesondere zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit zu möglichst erschwinglichen Kosten sowohl für die Verbraucher als auch für die Industrie, die von den derzeitigen dramatischen Preiserhöhungen besonders hart getroffen werden.

1.3.

Der Klimawandel wird in Europa zunehmend zu einer bitteren Realität. Darüber hinaus zeigt die derzeitige Energiekrise, die durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine verschärft wird, deutlich, dass sowohl die Ziele als auch die Maßnahmen, die im Rahmen der europäischen Energieunion und des Grünen Deals vorgeschlagen werden, zwar im Wesentlichen richtig sind, aber nicht weit genug gehen. Sie reichen noch nicht aus, um Europa zu einer sicheren, nachhaltigen und wettbewerbsfähigen strategischen Energieautonomie zu führen. Vor allem werden sie immer noch viel zu zögerlich angegangen. In dieser Hinsicht ist ein Paradigmenwechsel erforderlich.

1.4.

Das Potenzial, über das Europa im Bereich der erneuerbaren Energien verfügt, muss so genau wie möglich ermittelt und umfassend bekannt gemacht werden, um ein gemeinsames Verständnis darüber herzustellen, welcher Grad an Unabhängigkeit von Energieimporten erreicht werden kann. Insbesondere müssen die Elektrifizierung des Wärme- und Verkehrssektors sowie der Bedarf an in der EU erzeugtem grünem Wasserstoff berücksichtigt werden.

1.5.

Es gilt also nicht nur, dieses Potenzial so rasch wie möglich zu erschließen, sondern auch die Möglichkeiten zur Energieeinsparung konsequenter zu nutzen. Energieeinsparungen sind aktuell der beste Weg, um unmittelbare Wirkung zu erzielen.

1.6.

Gleichzeitig werden jedoch zudem kurz- und möglicherweise auch mittelfristige Maßnahmen erforderlich sein, um die nunmehr fehlenden Energielieferungen aus Russland auszugleichen. Eine dieser Maßnahmen ist der Import von Flüssigerdgas. Der EWSA hält es jedoch für wichtig, dass auf diese Weise keine neuen langfristigen Abhängigkeiten von fossilen Brennstoffen entstehen. Dies muss bereits im Vorfeld im Investitionszyklus berücksichtigt werden. Insgesamt besteht das Ziel nicht darin, die Abhängigkeiten zu diversifizieren, sondern das höchstmögliche Maß an strategischer Autonomie zu erreichen.

1.7.

Diese Umstellung ist nicht nur eine beträchtliche technische Herausforderung, sondern umfasst auch strukturelle Fragen. In Zukunft wird die Energieerzeugung viel stärker dezentralisiert sein als in der Vergangenheit. Dies eröffnet auch Chancen für Städte und Regionen sowie weitere neue Interessenträger, z. B. KKMU, und Einzelpersonen und Gruppen, die als Prosumenten auftreten. Der EWSA ist der Auffassung, dass die politischen Entscheidungsträger immer noch keine klaren Hinweise oder Maßnahmen dazu vorgelegt haben, wie insbesondere bisher reine Energieverbraucher zu neuen Akteuren werden können. Er hat in vielen Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass Akzeptanz eine entscheidende Voraussetzung für einen raschen Wandel ist. Beteiligungsrechte und -möglichkeiten sind der beste Weg, diese Akzeptanz zu erreichen. Es geht also nicht nur darum, wo und aus welcher Quelle Energie erzeugt wird, sondern auch darum, wer Geld damit verdienen darf. Er bekräftigt seine Forderung nach umfassenden und gezielten Informations- und Sensibilisierungsmaßnahmen, die von der Kommission und den Mitgliedstaaten in koordinierter und komplementärer Weise gemeinsam mit Unternehmensverbänden, Kammern, Sozialpartnern und weiteren einschlägigen Interessenträgern ergriffen werden (2).

1.8.

Der EWSA bekräftigt seine bereits in früheren Stellungnahmen dargelegte Überzeugung: Nicht nur müssen die Mittel für den sozialen und regionalen Zusammenhalt und die Wiederaufbauhilfe auf eine Weise eingesetzt werden, die den Klimamaßnahmen und der Energiewende zugutekommt, sondern die Klima- und Energiepolitik muss wiederum auch so gestaltet werden, dass der soziale und regionale Zusammenhalt gefördert wird.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der EWSA weist auf die Gefahr hin, dass das Zusammenspiel der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der derzeitigen Energiekrise das demokratische System in Mitleidenschaft ziehen könnte, wenn keine geeigneten Lösungen gefunden werden. Er befürwortet deshalb die Umsetzung von Sofortmaßnahmen zur Bewältigung der dringendsten Probleme, insbesondere zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit zu möglichst erschwinglichen Kosten sowohl für die Verbraucher als auch für die Industrie, die von den derzeitigen dramatischen Preiserhöhungen besonders hart getroffen werden.

2.2.

Die Konsequenzen der Klimakrise treffen Europa und die Welt massiv. Der EWSA bekräftigt seine nachdrückliche Unterstützung für die Ziele des Grünen Deals, für die Stärkung der strategischen Autonomie bei der Energieversorgung und für die Umstellung auf eine nachhaltige, klimaneutrale Wirtschaft. Der von Russland initiierte Energiekrieg macht es noch deutlicher, dass der durch den Grünen Deal eingeleitete Wandel massiv beschleunigt werden muss. REPowerEU und weitere von der Kommission vorgeschlagene Initiativen dienen dazu, den Grünen Deal entsprechend anzupassen, gehen aber nicht weit genug.

2.3.

Bei jeder geplanten Maßnahme im Rahmen der Energiewende muss die soziale Dimension berücksichtigt werden. Einerseits ist dies erforderlich, um die Akzeptanz der Bevölkerung für die notwendigen Veränderungen nicht aufs Spiel zu setzen und einen gerechten Übergang sicherzustellen. Andererseits wird dieser Wandel auch positive Entwicklungen in der regionalen Wirtschaft, einschließlich neuer Arbeitsplätze (3), ermöglichen, wodurch die Akzeptanz gefördert wird. Als Vertreter der Zivilgesellschaft hat der EWSA oft Hinweise dazu gegeben, wie die Öffentlichkeit einbezogen werden sollte, damit sie von dem gerechten Wandel profitieren kann. Leider wurden diese Empfehlungen meist ignoriert, was zu größeren Akzeptanzschwierigkeiten führen könnte.

2.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft, insbesondere der Industrie und der KKMU als Triebkräfte für nachhaltige Innovation, gewahrt werden muss und kann. Intelligente Konzepte für den Energieverbrauch (z. B. virtuelle Kraftwerke) bieten kleineren Unternehmen erhebliche Wachstumschancen. Da KKMU ein wesentlicher Bestandteil der Lösung für eine wettbewerbsfähige, klimaneutrale, kreislauforientierte und inklusive Wirtschaft in der EU sind, müssen die passenden Bedingungen mit gezielten Formen der Unterstützung und entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen und aufrechterhalten werden. Dies ist notwendig, um Wirtschaftswachstum und gute Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen.

2.5.

Die EU ist zwar ein Vorreiter bei der Verringerung der CO2-Emissionen, doch müssen auch andere Akteure beim Klimaschutz mitziehen. Die Europäische Union muss ihre diplomatischen Bemühungen verstärken, neue Formen der Zusammenarbeit eingehen und Instrumente wie Kooperations- und Handelsabkommen einsetzen, um Drittländer davon zu überzeugen, mehr zur Bewältigung dieser Krise zu tun. Gleichzeitig muss die EU die Frage diskutieren, ob industrielle Lieferketten zurück nach Europa verlagert werden sollten, um die Abhängigkeit von chinesischen Zulieferern (etwa bei Fotovoltaikmodulen und Batterien) zu verringern und zugleich gänzlich nachhaltige Lieferketten zu gewährleisten, auch in Bezug auf die Sozialpolitik und die Achtung der Menschenrechte.

2.6.

Die derzeitige Energie-(Preis-)Krise und der Mangel an Sicherheit, Stabilität und Verlässlichkeit der Versorgung stellen eine enorme Belastung für die Europäische Union dar. Die Krise wäre weniger schwerwiegend, wenn bereits früher gezieltere Maßnahmen ergriffen worden wären, z. B. wenn die eigenen Ziele der EU (wie die der Europäischen Energieunion) ernster genommen worden wären. Der EWSA begrüßt die in der Mitteilung „REPowerEU“ sowie im REPowerEU-Plan vorgeschlagen Maßnahmen zur Steigerung der Erzeugung grüner Energie, zur Diversifizierung der Versorgung und zur Verringerung der Nachfrage nach russischem Gas, da sie im Einklang mit den Zielen des Grünen Deals und der Europäischen Energieunion stehende Lösungen enthalten. Nach Ansicht des Ausschusses sollte es nicht primär um eine Diversifizierung der Abhängigkeiten gehen, sondern Ziel sollte möglichst eine strategische Energieunabhängigkeit und -autonomie sein. Der EWSA gibt zu bedenken, dass die EU bei der Suche nach Ersatz für russisches Gas durch andere Quellen besonders auf die Umweltauswirkungen dieser Ressourcen und auf neue Abhängigkeiten von Drittstaaten achten muss, die nicht die europäischen Werte vertreten.

2.7.

Die Lage auf den Energiemärkten im August 2022 hat gezeigt, dass es keine stets zu 100 % verlässliche Energiequelle gibt. So ist schon seit Monaten eine beträchtliche Zahl französischer Kernkraftwerke nicht mehr am Netz, was auf Instandhaltung, die Auswirkungen des Klimawandels und sonstige Probleme zurückzuführen ist. Die Energiegewinnung aus Kohle hat nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die Klimakrise, sondern leidet auch ganz unmittelbar unter ihr: Wegen des niedrigen Wasserstands des Rheins infolge der Dürre können Kohlekraftwerke nicht mehr beliefert werden. Aus ähnlichen Gründen ist auch die Wasserkraft weniger verlässlich, wie sich z. B. in Italien gezeigt hat. Darüber hinaus ist Erdgas, unabhängig davon, ob es als Gas oder in flüssiger Form transportiert wird, nicht nur klimaschädlich, sondern birgt auch massive geopolitische Risiken. Mit anderen Worten: In dem diversifizierten und gesicherten Energiemix, den alle Mitgliedstaaten derzeit anstreben, stechen Wind- und Solarenergie mit Blick auf die künftige Energiepolitik der EU als strategische und tragfähige Quellen heraus. Der Ausgleich von Schwankungen bei diesen beiden Energiequellen erfordert in erster Linie Speicheranlagen und zweitens grünen Wasserstoff, mit dessen Hilfe Wind- und Solarenergie über einen längeren Zeitraum gespeichert werden können. Für die strategische Autonomie Europas ist entscheidend, wie viel grüner Wasserstoff in Europa selbst erzeugt werden kann und wie viel importiert werden muss. Auch in der Zeit des Wandels werden wir auf die vergleichsweise zuverlässigste und klimaeffizienteste Quelle hinweisen.

2.8.

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und nicht zuletzt die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit zeigen die Gefahr von Cyberangriffen und Sabotageakten gegen kritische Infrastrukturen wie das Energienetz oder Kraftwerke. Ein Ausfall oder eine Beeinträchtigung dieser Infrastrukturen können verheerende Versorgungsengpässe verursachen und die öffentliche Sicherheit gefährden. Kritische Infrastrukturen wie Gas- und Stromnetze, Telekommunikationskabel in der Tiefsee, Offshore-Anlagen sowie Onshore-Windparks und LNG-Terminals, Kohle- und Kernkraftwerke, Transport und Verkehr, Gesundheitsdienste, Finanzen und Sicherheit könnten Ziele für Cyberangriffe sowie physische Angriffe sein. Es liegt im Interesse aller in Europa, diese kritische Infrastruktur besser zu schützen. Die EU muss besser auf mögliche Angriffe dieser Art vorbereitet sein. Der EWSA fordert deshalb eine sofortige kritische Bewertung der bisher ergriffenen Maßnahmen und eine umfassende Strategie zum Schutz der EU vor Bedrohungen wie Naturkatastrophen, physischen Angriffen und Cyberangriffen. Der EWSA empfiehlt in diesem Zusammenhang, dass alle ausländischen Investitionen in strategischen Sektoren in der EU im Einklang mit der Sicherheitspolitik der EU stehen sollten.

2.9.

Der EWSA begrüßt die Einrichtung des Klima-Sozialfonds (4). Er ist jedoch überzeugt, dass dieser keine ausreichende finanzielle Unterstützung bieten wird, um die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen verantwortungsvoll zu bewältigen. Die enorme Herausforderung, in einem heterogenen Wirtschaftsraum mit 27 Mitgliedstaaten einen effektiven und fairen Ausgleichsmechanismus zu entwerfen, erfordert weitergehende flankierende Maßnahmen und umfassendere Ressourcen auf EU- und nationaler Ebene.

2.10.

Der massive Anstieg der Energiepreise hat gezeigt, dass der derzeitige Energiemarkt nur teilweise nachhaltig ist. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen selbst erklärte unter Bezugnahme auf die grenzüberschreitende kostenbasierte Preisgestaltung an den europäischen Strombörsen, dass dieses System nicht mehr funktionieren wird, wenn die Menge des Ökostroms weiter ansteigt. Es sind grundlegende Fragen über die Energiezukunft zu stellen, die eine umweltfreundliche, erschwingliche und zuverlässige Energieversorgung und das Recht auf Energie gewährleisten. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Gestaltung des Energiemarkts und seine Regulierung an die neuen Realitäten der vorherrschenden erneuerbaren Energien angepasst werden müssen und dass die notwendigen Voraussetzungen für Industrie, KKMU und einzelne Akteure sowie für die Schaffung neuer Möglichkeiten der Beteiligung für Prosumenten, Bürgerenergiegemeinschaften usw. zu schaffen sind und zugleich ein angemessener Verbraucherschutz zu stärken ist. Bei der Neugestaltung des Marktes muss besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, bestehende strukturelle Hindernisse für den Marktzugang kleiner Marktteilnehmer zu vermeiden. Dies gilt beispielsweise für den Zugang zu Regelarbeit und gegebenenfalls zu Kapazitätsmärkten, die zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit eventuell erforderlich sind.

2.11.

Um sozialverträgliche, aber auch erneut wettbewerbsfähige Energiepreise zu gewährleisten und zugleich die Weichen für eine weitere Führungsrolle der EU bei der Nutzung erneuerbarer Energien zu stellen, fordert der EWSA die Straffung und Beschleunigung der Genehmigungsverfahren im Bereich erneuerbare Energien, da diese Verfahren als Haupthindernis für einen rascheren Einsatz erneuerbarer Energieträger erachtet werden. Parallel dazu müssen die Rahmenbedingungen für Dezentralisierungsmaßnahmen, Energiegenossenschaften und alle Formen des Prosums erheblich verbessert werden.

2.12.

Der EWSA unterstützt nachdrücklich den Vorschlag der Kommission zur Gasspeicherung und ihren Vorschlag für eine Verordnung über koordinierte Maßnahmen zur Senkung der Gasnachfrage. Er fordert die Organe auf,

dies durch ein Instrument für kurzfristige Investitionen zur Unterstützung der Entwicklung wasserstofffähiger Infrastruktur wie Verbindungsleitungen und Speicheranlagen zu ergänzen,

die Nutzung von Gasspeicheranlagen in benachbarten Drittländern in Erwägung zu ziehen,

Pläne für die einzelnen Mitgliedstaaten aufzustellen, um eine unausgewogene Lastenteilung auf regionaler Ebene zu vermeiden.

2.13.

Der EWSA weist darauf hin, dass die parallele Entwicklung zentralisierter und dezentraler Infrastrukturen problematisch ist und dass die Gefahr von Fehlinvestitionen besteht. So gibt es beispielsweise konkurrierende Möglichkeiten der Nutzung für ein nationales Wasserstoffleitungsnetz und den Ausbau des Netzes für kalte Fernwärme. Der EWSA fordert deshalb, dass im Interesse der Investitionssicherheit entsprechende grundlegende Entscheidungen getroffen werden (5).

3.   Energiewende als übergreifende Strategie in der EU und im internationalen Kontext

3.1.

Der von Russland gestartete Angriffskrieg hat zu einer globalen geopolitischen Krise geführt, die exponentiell zunehmende Auswirkungen sowohl auf das wirtschaftliche Gleichgewicht als auch auf die globale Energieversorgungssicherheit hat. Er hat Jahrzehnte der Energie-, Verteidigungs- und Außenpolitik in Frage gestellt und die EU gezwungen, sowohl ihre Pläne als auch ihre bisher viel zu zögerlichen Maßnahmen für den grünen und den digitalen Wandel neu zu bewerten und zu überprüfen, welche Auswirkungen die russische Invasion und die verhängten Sanktionen auf die Weiterführung der Energiewende in der Welt haben werden.

3.2.

Die Abhängigkeit von Primärenergieimporten aus Drittstaaten ist zu einer unmittelbaren Bedrohung der Sicherheit und Stabilität der EU geworden. Die Europäische Kommission hat deshalb im Rahmen von REPowerEU rasch eine Reihe von Maßnahmen zur Anpassung der europäischen Energiepolitik an die derzeitige geopolitische Lage vorgeschlagen. In dem Vorschlag für eine Verordnung zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen werden beispielsweise Speicheranlagen als kritische Energieinfrastruktur eingestuft, und es werden sowohl die Zertifizierung für Betreiber von Gasspeicheranlagen vorgeschrieben als auch Befüllungsziele festgelegt. Hiermit soll der EU die Kontrolle über ihren Energiemarkt wiedergegeben werden. Der EWSA begrüßt all diese Maßnahmen, die in der Tat dazu beitragen dürften, dass die EU die Kontrolle über ihren Energiemarkt wiedererlangt.

3.3.

Zugleich hält es der EWSA angesichts der derzeitigen politischen Spannungen für notwendig, noch aktiver mit einer Reihe von Ländern zusammenzuarbeiten, die in der Lage sind, Europa kurzfristig mit Energie zu versorgen, bis der von der Kommission geplante massive Ausbau der erneuerbaren Energien greift. Dazu gehören die Vereinigten Staaten und in unterschiedlichem Maße südamerikanische und afrikanische Länder, deren Exporte fossiler Brennstoffe, die kurzfristig notwendig geworden sind, mit Wissenstransfer und der Entwicklung von Technologien für erneuerbare Energien einhergehen müssen, damit auch in diesen Ländern der Klimaschutz beschleunigt wird.

4.   Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die Energiewende

4.1.   Öffentliche Investitionen

4.1.1.

Zur Deckung des steigenden Bedarfs an Strom und zur Einhaltung der EU-Klimaziele braucht es eine Verdoppelung der Investitionen in das Stromnetz auf 55 Mrd. EUR jährlich und eine Erhöhung der Mittel für die Errichtung von sauberen Erzeugungskapazitäten auf 75 Mrd. EUR pro Jahr (6). Mit Blick auf die Gewährleistung von Versorgungssicherheit, die Bekämpfung von Energiearmut, erschwingliche Preise und die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze kommen öffentlichen Investitionen in intelligente und erneuerbare Energiesysteme sowie Speicheranlagen große Bedeutung zu.

4.1.2.

Der EWSA empfiehlt wie in der Stellungnahme ECO/569 (7) zum wiederholten Male, bei öffentlichen Investitionen die goldene Regel anzuwenden, sofern weder die mittelfristige Haushaltsstabilität noch der Wert des Euro gefährdet wird, um die Produktivität zu sichern und die soziale und ökologische Grundlage für das Wohlergehen künftiger Generationen zu schützen.

4.1.3.

Mischfinanzierungen unter Einbeziehung privater Investoren sind nur dann eine Option, wenn sichergestellt ist, dass die Vergabe transparent erfolgt, es keine Geheimhaltungsklauseln gibt und der öffentlichen Hand dadurch im Vergleich zu einer öffentlichen Finanzierung keine ungerechtfertigten Kosten entstehen. Bei gerechtfertigten Zusatzkosten muss vollständige Transparenz herrschen. Es ist deshalb umso wichtiger, bei derartigen Mischfinanzierungsmodellen die Rechte und Pflichten klar zu definieren, Haftungsfragen zu klären und ein effizientes und schnelles System für die Konfliktlösung vorzusehen, um langfristige Zusatzkosten und Probleme mit der Haftung zu vermeiden.

4.1.4.

Im Hinblick auf die künftige Gestaltung von Energiesystemen und -infrastrukturen hat der EWSA wiederholt betont, dass alle Verbraucher (Haushalte, Unternehmen und Energiegemeinschaften) aktiv an der Entwicklung intelligenter Energiesysteme beteiligt und dass Anreize gesetzt werden müssen, damit die Zivilgesellschaft an der Energiewende teilhaben kann. Die Rolle, die Einzelne, Landwirte, Städte, KKMU oder Bürgerenergiegemeinschaften bei der Finanzierung von Maßnahmen spielen, wird offenkundig völlig unterschätzt. Der EWSA weist darauf hin, dass beispielsweise in Deutschland über 90 % der installierten Kapazitäten nicht von den großen Energieversorgern errichtet wurden. Es mangelt an einer Strategie, wie dieses eindeutig vorhandene Potential und die Bereitschaft genutzt werden können.

4.1.5.

Das europäische Energierecht erkennt Klimaschutz nicht als Ziel der Netzregulierung an. Deshalb haben es auch nationale Regulierungsbehörden schwer, Anreize für den Umbau und Ausbau sowie eine Modernisierung der Stromverteilnetze zu setzen, die den Anforderungen der Klimaneutralität gerecht werden. Das europäische Energierecht sollte die Klimaneutralität deshalb ausdrücklich als Ziel der Netzregulierung erwähnen.

4.1.6.

Die Kommission weist zu Recht darauf hin, dass durch öffentliche Investitionen private Investitionen mobilisiert werden können und müssen. Im REPowerEU-Plan wird jedoch nicht auf die Refinanzierung der eingesetzten öffentlichen Mittel eingegangen. Die Abschaffung von Beihilfen für fossile Rohstoffe wäre eine mögliche Lösung, eine andere die Besteuerung der enormen Zufallsgewinne infolge der massiven Öl- und Gaskrise, die insbesondere große Ölunternehmen eingestrichen haben. Der EWSA befürchtet, dass die extrem hohen Gewinne der Energieunternehmen auf der einen Seite und die durch die Explosion der Energiepreise ausgelöste zunehmende Energiearmut auf der anderen Seite ein gefährlicher sozialer Sprengstoff ist. Der EWSA schlägt vor, diese Gewinne mithilfe von Steuern abzuschöpfen und als finanziellen Ausgleich an Energieverbraucher, z. B. finanziell schwächere Haushalte oder energieintensive Unternehmen, weiterzugeben sowie für den Ausbau der erneuerbaren Energiequellen und der erforderlichen Netzinfrastruktur zu nutzen, zumal dies in einigen Mitgliedstaaten bereits diskutiert oder umgesetzt wird. Nach Ansicht des EWSA ist bei der Festlegung einer solchen Besteuerung sehr viel Fingerspitzengefühl erforderlich, damit Energieunternehmen nicht davon abgehalten werden, in CO2-arme Lösungen zu investieren. Der EWSA fordert die Kommission auf, unverzüglich entsprechende Maßnahmen vorzuschlagen.

4.1.7.

Die Versorgungspolitik muss mit einer Infrastruktur einhergehen, die den sinnvollen Fluss von Strom und Gas auf dem europäischen Markt ermöglicht und Netzstabilität garantiert. Der EWSA ist überzeugt, dass die Definition des Ausbaus der Netze als überragendes öffentliches Interesse, die Aufnahme von Klimaschutz als Regulierungsziel und allgemein eine bessere Synchronität bei der Planung von erneuerbaren Energien und dem Stromnetz besonders zu beachten sind. Hier bedarf es unbedingt konkreter europararechtlicher Vorgaben.

4.2.   Fonds für die Anpassung an den Klimawandel

4.2.1.

Der derzeitige Mechanismus der EU zur Reaktion auf Naturkatastrophen ist der Solidaritätsfonds der Europäischen Union, dessen jährliche Finanzausstattung jedoch angesichts der Kosten für die Schäden (8) infolge der jüngsten Naturkatastrophen viel zu gering ist und drastisch aufgestockt werden muss. Die EU-Mittel für die Energiewende sind umfangreicher, tragen aber nicht dem dringenden Bedarf der EU an Energieautonomie auf der Grundlage erneuerbarer Energiequellen Rechnung.

4.2.2.

Nach Ansicht des EWSA benötigt die EU einen neuen Finanzierungsmechanismus, über den die Mitgliedstaaten in solchen Notlagen sofort und substanziell unterstützt werden können. Der EWSA schlägt deshalb die Einrichtung eines Klimaanpassungsfonds vor. Diese Mittel sollten aus bestehenden EU-Fonds, insbesondere aus dem Kohäsionsfonds und der Aufbau- und Resilienzfazilität abgezweigt, aber über diesen neuen Fonds effizient und kohärent verwaltet werden.

4.2.3.

Bei der Modernisierung des Finanzierungsumfelds könnten auch der Anwendungsbereich bestehender Programme erweitert, ihre Mittel aufgestockt und NextGenerationEU als Vorbild für ein neues Finanzierungsinstrument herangezogen werden. Der EWSA weist darauf hin, dass möglicherweise neue Ressourcen geschaffen werden müssen, um die enormen Herausforderungen, vor denen wir stehen, bewältigen zu können. Jegliche neuen Eigenmittel müssen jedoch gerecht gestaltet werden, um eine weitere Belastung benachteiligter Gruppen zu vermeiden. Darüber hinaus dürfen sie die wirtschaftliche Entwicklung nicht behindern.

4.2.4.

Die Funktionsweise des verstärkt auf rasche und dringende Reaktionen ausgerichteten Klimaanpassungsfonds muss unbedingt mit der übergeordneten Klima-, Umwelt- und Energiepolitik der EU in Einklang stehen, die langfristig die Abhängigkeit von Notfallmaßnahmen verringern sowie Mensch und Natur schützen wird.

4.3.   Technologieförderung

4.3.1.

Der grüne Wandel in der verarbeitenden Industrie kann nur gelingen, wenn als Grundlage ein stabiler und geeigneter Mix aus erneuerbarer Energie in ausreichender Menge für die Elektrifizierung und für die Erzeugung von grünem Wasserstoff zur Verfügung steht. Speichertechnologien werden entwickelt, und die Möglichkeiten der Digitalisierung werden voll ausgeschöpft. Deshalb besteht nach wie vor erheblicher Forschungs- und Entwicklungsbedarf.

4.3.2.

Seit Beginn der Liberalisierung sind die Investitionen der Stromunternehmen rückläufig. Der Anteil der öffentlichen Investitionen in die Erforschung und Entwicklung von Technologien zur Verringerung der CO2-Emissionen ist in der EU geringer als in allen anderen großen Volkswirtschaften, was die Wettbewerbsfähigkeit der EU bei Schlüsseltechnologien der Zukunft gefährdet. Der EWSA fordert die Kommission auf, einen strategischen Investitionsplan auszuarbeiten und die Mitgliedstaaten darin zu bestärken, die Mittel optimal und effizient für die Entwicklung sauberer Energie einzusetzen. Dies gilt auch für Investitionen in das Stromnetz.

4.3.3.

Die Dekarbonisierung wird (in den vor uns liegenden 30 Jahren) einen tiefgreifenden Wandel der industriellen Abläufe erfordern. Obwohl es bereits viele CO2-arme Technologien gibt, ist ihr Technologie-Reifegrad (TRL (9)) niedrig. Es werden ehrgeizige Technologiefahrpläne erforderlich sein, um diese bahnbrechenden Technologien auszubauen und in großem Umfang einzusetzen, und die EU muss die Innovation durch die Klima- und Innovationsfonds fördern.

4.3.4.

Es ist unstrittig, dass grüner Wasserstoff in Zukunft einen Beitrag für ein versorgungssicheres europäisches Energiesystem leisten wird. Der EWSA verweist auf seine Stellungnahmen zur Wasserstoffstrategie (10) und zur Strategie für die Integration des Energiesystems (11).

4.4.   Unterstützung von KKMU (12)

4.4.1.

Kleinstunternehmen sowie kleine und mittlere Unternehmen (KKMU), wie traditionelle Unternehmen, Familienunternehmen, Händler, Unternehmen der Sozialwirtschaft, Handwerksbetriebe oder freie Berufe, tragen maßgeblich zu einer wettbewerbsfähigen, klimaneutralen, kreislauforientierten und inklusiven EU-Wirtschaft bei, sofern die passenden Bedingungen geschaffen und kontinuierlich erhalten werden. KKMU profitieren von der Verbesserung ihrer eigenen Umweltleistung und der Bereitstellung von Fachwissen und Lösungen für andere Unternehmen, die breite Öffentlichkeit und den öffentlichen Sektor. Der EWSA anerkennt und betont die Vielfalt und die unterschiedlichen Bedürfnisse von KKMU und fordert zugleich, den kleinsten und am stärksten gefährdeten Unternehmen besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

4.4.2.

Der EWSA betont, dass KKMU dringend dabei unterstützt werden müssen, den grünen Wandel bestmöglich zu verstehen und zu meistern. Er fordert umfassende und gezielte Informations- und Sensibilisierungsmaßnahmen, die von der Kommission und den Mitgliedstaaten in koordinierter und komplementärer Weise gemeinsam mit Unternehmensverbänden, Kammern, Sozialpartnern und anderen einschlägigen Interessenträgern ergriffen werden. Umgekehrt sollte auch die wichtige Rolle von KKMU im Hinblick auf neue Technologien und innovative Lösungen für den ökologischen Wandel in der EU-Industrie hervorgehoben und bei den Kriterien für die Teilnahme an Finanzierungsprogrammen berücksichtigt werden.

4.4.3.

Der EWSA fordert die EU und die Mitgliedstaaten auf, grüne Investitionen in KKMU zu beschleunigen, indem für günstige, berechenbare und förderliche rechtliche Rahmenbedingungen gesorgt wird. Dazu gehören auch reibungslose Genehmigungsverfahren und die Vermeidung übermäßiger Verwaltungspflichten. Zudem muss ein schneller, problemloser, einfacher und nachvollziehbarer Zugang zu Finanzmitteln, die auf die unterschiedlichen Bedürfnisse aller verschiedenen Arten von KKMU zugeschnitten sind, gewährt werden.

4.4.4.

Der EWSA schlägt vor, in verschiedenen Regionen so genannte „Hubs for Circularity“ (H4C) einzurichten, um die Ressourceneffizienz von KKMU zu verbessern. Dies dürfte die branchenübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen verbessern und die Entwicklung neuer Praktiken und Verfahren, einschließlich der Demonstration neuer Technologien, erleichtern. Die Vergabeverfahren in der gesamten EU müssen klimabezogene, soziale und weitere Qualitätskriterien umfassen. Dies fördert die Innovation durch KKMU und erleichtert ihnen den Zugang zu öffentlichen Aufträgen. KKMU-Verbände, Kammern, Hochschulen, Sozialpartner und weitere einschlägige Interessenträger sollten integraler Bestandteil des Prozesses sein.

4.4.5.

Der EWSA fordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Bildungsanbietern und KKMU bei der Gestaltung der Ausbildung, damit die für den grünen Wandel der Wirtschaft erforderlichen Kompetenzen und Fähigkeiten, auch durch Weiterqualifizierung und Umschulung von Arbeitnehmern und Unternehmern, vermittelt werden. Außerdem spricht sich der EWSA dafür aus, mittels Anreizen und Erleichterungen für die Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen, ihren Organisationen, Kammern, Hochschulen und Forschungseinrichtungen Innovationstätigkeiten von KKMU zu unterstützen.

5.   Allgemeine Förderung eines gerechten und inklusiven Übergangs

5.1.   Gerechter Übergang

5.1.1.

Ein gerechter Übergang umfasst Maßnahmen und sozialpolitische Interventionen, die den Transformationsprozess hin zu einer nachhaltigen, CO2-neutralen Wirtschafts- und Produktionsweise begleiten. Der EWSA unterstreicht, dass der gerechte Übergang nicht nur eine Frage der Finanzierung ist. Er umfasst auch das Ziel, die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu wahren, menschenwürdige Arbeit, hochwertige Arbeitsplätze und soziale Sicherheit zu schaffen, die demokratische Mitbestimmung (auch auf betrieblicher Ebene) zu stärken sowie die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen zu erhalten und weiter auszubauen, und erfordert besondere Maßnahmen auf allen Ebenen, insbesondere der regionalen.

5.1.2.

Die Beschäftigung in jenen Schlüsselsektoren, die von der ökologischen Modernisierung und der industriellen Revolution in Richtung klimaneutrales Europa besonders betroffen sind, steht vor großen Umbrüchen, die Umschulungen und Bildungsinvestitionen in qualitativ hochwertige grüne Jobs unerlässlich machen. Vor diesem Hintergrund sind die zeitgemäße Wissensvermittlung und Bildungsrechte ebenso relevant wie die stetige Förderung der Akzeptanz für Frauen in technischen Berufssparten.

5.1.3.

Die im Paket „Fit für 55“ vorgesehenen Maßnahmen und Transformationsschritte können zu massiven Veränderungen in der Wirtschaft und zu sozialen Verwerfungen führen. Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, in der Bewertung der Nationalen Energie- und Klimapläne (NECP) auch mehr auf die Angemessenheit der Strategien für einen gerechten Übergang zu achten und dabei insbesondere die Erreichung folgender Ziele zu evaluieren:

Erleichterung von Beschäftigungsübergängen,

Unterstützung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die ihren Arbeitsplatz aufgrund der Dekarbonisierung verlieren (ein verlorener Arbeitsplatz sollte mindestens durch einen anderen, gleichwertigen Arbeitsplatz ersetzt werden),

Erschließung von regionalwirtschaftlichen Potentialen, die sich aus erneuerbaren Energien und neuen Formen der Teilnahme und Teilhabe an der Stromproduktion ergeben,

wirksame Bekämpfung der Energiearmut.

5.1.4.

Der EWSA fordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Ausbildungsanbietern und Unternehmen bei der Gestaltung von Schulungen, auf denen die Fähigkeiten und Kompetenzen vermittelt werden, die für den ökologischen Wandel der Wirtschaft erforderlich sind, unter anderem durch Weiterbildung und Umschulung von Arbeitnehmern und Unternehmern.

5.1.5.

Der EWSA erinnert an seine in früheren Stellungnahmen (13) formulierte Überzeugung: Nicht nur müssen die Mittel für den sozialen und regionalen Zusammenhalt und den Wiederaufbau auf eine Weise eingesetzt werden, die den Klimamaßnahmen und der Energiewende zugutekommt, sondern die Klima- und Energiepolitik muss wiederum so gestaltet werden, dass der soziale und regionale Zusammenhalt gefördert wird. Solche Ansätze gibt es, etwa Projekte zur Errichtung von Solaranlagen in ehemaligen Braunkohleabbaugebieten in Portugal und Griechenland oder die sehr strategisch ausgerichtete Prosumerförderung in Litauen. Doch diese Beispiele sind alles andere als allgemeine Praxis bzw. Mainstream.

5.2.   Erleichterung privater Investitionen

5.2.1.

Die einzelnen Mitgliedstaaten benötigen Programme für die von der Basis ausgehende Entwicklung erneuerbarer Energiequellen, die für die Energiewende unerlässlich sind und sowohl die Qualität als auch vor allem die Preise der gelieferten Energie erheblich beeinflussen. Aufgrund des Anstiegs der Energiepreise (aus den nationalen Stromnetzen) besteht bereits die Tendenz, dass viele Unternehmen, für die grüne Energie eine Frage des Überlebens geworden ist, ihren Energiebedarf eigenständig decken. Viele Unternehmen investieren bereits dynamisch in ihre eigenen erneuerbaren Energien und Wärmequellen. Da diese Quellen billiger sind, sind sie auch für lokale Unternehmen und Bürger attraktiv, die die überschüssige Energie, die in das Stromnetz eingespeist wird, nutzen könnten. Leider sind die Systeme in vielen Teilen Europas noch nicht ausreichend ausgebaut und derzeit nicht darauf vorbereitet, zahlreiche neue Anlagen zu bedienen. Darüber hinaus müssten sich diese privaten Investitionen sehr oft nicht nur auf die Bedürfnisse eines einzelnen Unternehmens konzentrieren, sondern könnten der lokalen Bevölkerung zugutekommen.

5.2.2.

Das Problem beim Ausbau der erneuerbaren Energien ist offenbar der dynamische Anstieg der Stromproduktion innerhalb eines äußerst kurzen Zeitraums, der trotz erheblicher Investitionen in die Modernisierung des Netzes und der Erhöhung der Übertragungskapazität eine große Herausforderung für die inländischen Stromnetze in den Mitgliedstaaten darstellt. Europa muss nun lokale Energiegemeinschaften aufbauen, bei denen die lokalen Gebietskörperschaften eine zentrale Rolle in Bezug auf Investitionen einnehmen. Dabei handelt es sich um sogenannte Energiegenossenschaften, die unter Beteiligung der Anwohner gegründet und häufig von lokalen Investitionsfonds finanziert werden. Diese Form der Einbeziehung der lokalen Gesellschaft in die Energiewende stellt die Unterstützung dieser Initiativen sicher und minimiert das Risiko des sozialen Widerstands gegen den Standort von Erzeugungs-, Verteilungs- oder Übertragungsanlagen in den Regionen.

5.2.3.

Derartige Initiativen sollten deshalb so bald wie möglich in den EU-Vorschriften berücksichtigt und durch ein staatliches Finanzierungssystem für entsprechende Investitionen unterstützt werden. In diesem Fall ist die Vermarktung von Mittel- und Niederspannungsleitungen im Stromnetz von entscheidender Bedeutung, damit die Netzinfrastruktur auch unter Beteiligung privater Investoren aufgebaut werden kann. Die Zunahme der von Privatpersonen installierten Photovoltaikanlagen zeigt das große Investitionspotenzial von Gesellschaft und Unternehmern. Durch geeignete Rechtsvorschriften in diesem Bereich ließen sich Probleme mit der Finanzierung sowie hinsichtlich der Verbindung solcher Investitionen mit dem Stromnetz lösen.

5.3.   Energiearmut

5.3.1.

Die Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs zu Energie und einer sicheren Energieversorgung zu erschwinglichen Preisen muss für die EU und die Mitgliedstaaten absolute Priorität haben. Aufgrund des drastischen Anstiegs der Energiepreise sind EU-weit immer mehr Bürger und Verbraucher von Energiearmut betroffen. Die Situation derjenigen, die bereits in Energiearmut leben, verschlechtert sich, und Verbraucher, die in der Vergangenheit keine Probleme mit der Begleichung ihrer Energierechnung hatten, drohen in die Armut abzurutschen.

5.3.2.

Angesichts der Bedeutung dieses Themas fordert der EWSA die EU nachdrücklich auf, einen gemeinsamen Ansatz in Sachen Energiearmut voranzutreiben. Derzeit kann jeder Mitgliedstaat den Begriff Energiearmut nach eigenen Kriterien definieren, und das Fehlen eines gemeinsamen Ansatzes könnte dazu führen, dass die Kommission die Situation nicht angemessen bewerten kann und die Mitgliedstaaten unter Energiearmut nicht dasselbe verstehen und jeweils unterschiedlich reagieren. Die im Vorschlag für eine Neufassung der Energieeffizienzrichtlinie enthaltene Begriffsbestimmung und die zuvor von der Europäischen Beobachtungsstelle für Energiearmut (EPOV) festgelegten Indikatoren sind ein guter Anfang. Angesichts der Dringlichkeit des Problems ist der EWSA der Auffassung, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten einen gemeinsamen Ansatz entwickeln müssen, der ein spezifisches gemeinsames Verständnis des Begriffs Energiearmut und die Erhebung statistischer Daten ermöglicht.

5.3.3.

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, in eine faire und effiziente Energieversorgung zu investieren, um die Energiearmut auf lange Sicht zu lindern. Um dies zu erreichen, muss sichergestellt werden, dass die Investitionen in erneuerbare Energien und Energieeffizienz sowie umfassende Gebäuderenovierungen den Gruppen mit dem niedrigsten Einkommen zugutekommen. Nur wenn sichergestellt wird, dass finanziell schwächere Haushalte über die Mittel für die notwendigen Investitionen verfügen, können Prosumenten strategische Autonomie für sich selbst oder als Teil einer Gemeinschaft mit anderen erreichen, was letztlich die nachhaltigste Methode zur Überwindung der Energiearmut ist.

5.3.4.

In diesem Zusammenhang erinnert der EWSA an seine Position, dass eine Zwei-Klassen-Energie-Gesellschaft unbedingt zu verhindern ist. Es kann nicht sein, dass nur die finanziell und technisch gut ausgestatteten Haushalte von der Energiewende profitieren und alle anderen Haushalte die Kosten tragen müssen. Der EWSA unterstützt deshalb die Anreize und Instrumente für die Umsetzung der Energieeffizienzrichtlinie, mit denen schutzbedürftige Kunden und Haushalte unterstützt werden, und weist darauf hin, dass hochgesteckte Ziele für die Fernwärme- und Fernkälteversorgung die Bedingungen für Sozialwohnungen verschlechtern könnten. Er begrüßt deshalb den Vorschlag zur Einrichtung eines Klima-Sozialfonds und fordert, den Grundsatz des gerechten Übergangs einzuhalten und so den unterschiedlichen Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen.

5.3.5.

Da Energiearmut auch auf allgemeine Armut zurückzuführen ist, müssen die Kommission und die Mitgliedstaaten weiterhin gezielt auf die Verringerung der Armut insgesamt hinarbeiten. Diese Krise rückt die Notwendigkeit in den Fokus, den Zugang zu Beschäftigung und die soziale Inklusion laufend zu verbessern sowie für einen angemessenen Lebensstandard zu sorgen und das Wirtschaftswachstum der Mitgliedstaaten zu fördern.

5.4.   Ländliche Gebiete

5.4.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine kombinierte Strategie für die Energiewende und die Digitalisierung in ländlichen Gebieten nicht das erwartbare Maß an Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten hat. Er fordert die rasche Umsetzung der von der Kommission verfolgten langfristigen Vision für die ländlichen Gebiete der EU und die Mobilisierung der Interessenträger im Rahmen des EU-Pakts für den ländlichen Raum.

5.4.2.

Der EWSA hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Energiewende (die Umstellung von großen, zentralisierten Produktionsanlagen auf eher dezentrale Strukturen) echte Chancen für neue Einkommensquellen und neue Arbeitsplätze in ländlichen Gebieten bietet (14). Auch diesbezüglich ist der Ausschuss sehr enttäuscht über die Ideen, die die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten bisher vorgelegt haben.

5.4.3.

Die Rolle der lokalen und regionalen Energiegemeinschaften muss deshalb gewürdigt und gestärkt werden, um eine gerechte Energiewende in Verbindung mit der kommunalen Entwicklung zu erreichen, und zwar durch den Auf- und Ausbau von Bürgerenergiegemeinschaften, in denen Bürger, lokale Behörden und KKMU freiwillig zusammenarbeiten, um soziale und wirtschaftliche Vorteile zu schaffen.

5.4.4.

Der EWSA kommt zu dem Schluss, dass der Einsatz digitaler Technologien in ländlichen Gebieten eine entscheidende Voraussetzung zur Förderung der Energiewende ist. Das Energiesystem im ländlichen Raum muss dezentralisiert werden. Das impliziert einen enormen Bedarf an stärkerer und besserer Vernetzung, was wiederum den Einsatz digitaler Technologien erforderlich macht, um Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen und effiziente Energieflüsse zu gewährleisten.

6.   Besondere Bemerkungen

6.1.

Wohlstand, gute Arbeitsplätze und ein klimapolitisches Engagement in der europäischen Gesellschaft kann es nur dann geben, wenn eine tragfähige industrielle Basis in der EU erhalten bleibt. Um ihre Wettbewerbsposition abzusichern, muss die europäische Industrie in Europa investieren, und zwar sowohl in Forschung, Entwicklung und Innovation als auch in Anlagen und Ausrüstungen. Dazu braucht sie einen angemessenen Rechtsrahmen.

Der Energiesektor ist ein sehr großes Wirtschaftssegment. Die Besonderheit dieses Segments ist seine grundlegende Hebelwirkung für andere Wirtschaftssektoren. Die Energiewirtschaft ist in all ihren Dimensionen allerdings stark von Geschlechterstereotypen geprägt und männerdominiert, was sowohl bei öffentlichen als auch bei privaten Energieunternehmen zu großen beruflichen Ungleichgewichten zwischen Frauen und Männern führt (15).

Der EWSA empfiehlt:

das geltende Recht im Bereich Gleichstellung zu stärken und sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene durchzusetzen,

gleiche Ausbildungsbedingungen in Energieberufen in den Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene zu schaffen und ein Europakolleg für MINT-Fächer einzurichten,

für Gleichberechtigung auf dem Arbeitsmarkt in der Energiewirtschaft zu sorgen, indem Chancen für Frauen ausgelotet werden, wobei jedoch zu verhindern ist, dass die Energiewende und der digitale Wandel zu Fallen für die Karriere und Entlohnung von Frauen werden, und überall in Europa den sozialen Dialog und Tarifverträge zur Gleichstellung in Unternehmen der Energiewirtschaft auszubauen.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 67, ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 88, ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 53, ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 1; ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 59, ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 23, ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 198.

(2)  ABl. C 486, vom 21.12.2022, S. 1.

(3)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 1.

(4)  ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 158.

(5)  Siehe ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 85.

(6)  Zu diesem Schluss kommt der Strom-Branchenverband Eurelectric.

(7)  ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 50.

(8)  Erschreckende 80 Mrd. EUR in Deutschland im Jahr 2021.

(9)  TRL: Technologie-Reifegrade sind unterschiedliche Punkte einer Skala zur Messung des Fortschritts oder Reifegrads einer Technologie.

(10)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 30.

(11)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 22.

(12)  ABl. C 486, vom 21.12.2022, S. 1.

(13)  Siehe ABl. C 47 vom 11.2.2020, S. 30 und ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 269.

(14)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 1.

(15)  UN-Nachhaltigkeitsziele 5, 7 und 8; Joy Clancy, Universität Twente, Give women a chance: engendering the energy supply chain.


ANHANG

Die folgenden abgelehnten Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 2.6

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Die derzeitige Energie-(Preis-)Krise und der Mangel an Sicherheit, Stabilität und Verlässlichkeit der Versorgung stellen eine enorme Belastung für die Europäische Union dar. Die Krise wäre weniger schwerwiegend, wenn bereits früher gezieltere Maßnahmen ergriffen worden wären, z. B. wenn die eigenen Ziele der EU (wie die der Europäischen Energieunion) ernster genommen worden wären. Der EWSA begrüßt die in der Mitteilung „REPowerEU“ sowie im REPowerEU-Plan vorgeschlagen Maßnahmen zur Steigerung der Erzeugung grüner Energie, zur Diversifizierung der Versorgung und zur Verringerung der Nachfrage nach russischem Gas, da sie im Einklang mit den Zielen des Grünen Deals und der Europäischen Energieunion stehende Lösungen enthalten. Nach Ansicht des Ausschusses sollte es nicht primär um eine Diversifizierung der Abhängigkeiten gehen, sondern Ziel sollte möglichst eine strategische Energieunabhängigkeit und -autonomie sein . Der EWSA gibt zu bedenken, dass die EU bei der Suche nach Ersatz für russisches Gas durch andere Quellen besonders auf die Umweltauswirkungen dieser Ressourcen und auf neue Abhängigkeiten von Drittstaaten achten muss, die nicht die europäischen Werte vertreten.

Die derzeitige Energie-(Preis-)Krise und der Mangel an Sicherheit, Stabilität und Verlässlichkeit der Versorgung stellen eine enorme Belastung für die Europäische Union dar. Die Krise wäre weniger schwerwiegend, wenn bereits früher gezieltere Maßnahmen ergriffen worden wären, z. B. wenn die eigenen Ziele der EU (wie die der Europäischen Energieunion) ernster genommen worden wären. Der EWSA begrüßt die in der Mitteilung „REPowerEU“ sowie im REPowerEU-Plan vorgeschlagen Maßnahmen zur Steigerung der Erzeugung grüner Energie, zur Diversifizierung der Versorgung und zur Verringerung der Nachfrage nach russischem Gas, da sie im Einklang mit den Zielen des Grünen Deals und der Europäischen Energieunion stehende Lösungen enthalten. Nach Ansicht des Ausschusses sollte es primär um eine Diversifizierung der Ressourcen und die Sicherstellung einer möglichst offenen strategischen Energieunabhängigkeit und -autonomie gehen . Der EWSA gibt zu bedenken, dass die EU bei der Suche nach Ersatz für russisches Gas durch andere Quellen besonders auf die Umweltauswirkungen dieser Ressourcen und auf neue Abhängigkeiten von Drittstaaten achten muss, die nicht die europäischen Werte vertreten. Gleichzeitig müssen wir in der aktuellen Situation all unsere funktionierenden Energiequellen beibehalten. Denn die Gefahr für uns liegt gerade jetzt nicht in den möglichen Auswirkungen von Ersatzenergiequellen auf die Umwelt, sondern im Energiemangel und in Stromausfällen. Energieerzeugungskapazitäten, die derzeit den europäischen Energiemarkt versorgen, dürfen nicht verloren gehen.

Ergebnis der Abstimmung über den Änderungsantrag:

Ja-Stimmen:

77

Nein-Stimmen:

113

Enthaltungen:

14

Ziffer 4.3.1

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Der grüne Wandel in der verarbeitenden Industrie kann nur gelingen, wenn als Grundlage ein stabiler und geeigneter Mix aus erneuerbarer Energie in ausreichender Menge für die Elektrifizierung und für die Erzeugung von grünem Wasserstoff zur Verfügung steht. Speichertechnologien werden entwickelt, und die Möglichkeiten der Digitalisierung werden voll ausgeschöpft. Deshalb besteht nach wie vor erheblicher Forschungs- und Entwicklungsbedarf.

Der grüne Wandel in der verarbeitenden Industrie kann nur gelingen, wenn als Grundlage ein stabiler und geeigneter Mix aus erneuerbarer Energie in ausreichender Menge für die Elektrifizierung und für die Erzeugung von Wasserstoff zur Verfügung steht. Speichertechnologien werden entwickelt, und die Möglichkeiten der Digitalisierung werden voll ausgeschöpft. Deshalb besteht nach wie vor erheblicher Forschungs- und Entwicklungsbedarf.

Ergebnis der Abstimmung über den Änderungsantrag:

Ja-Stimmen:

92

Nein-Stimmen:

112

Enthaltungen:

9

Ziffer 4.3.4

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Es ist unstrittig, dass grüner Wasserstoff in Zukunft einen Beitrag für ein versorgungssicheres europäisches Energiesystem leisten wird. Der EWSA verweist auf seine Stellungnahmen zur Wasserstoffstrategie (1) und zur Strategie für die Integration des Energiesystems (2).

Es ist unstrittig, dass Wasserstoff in Zukunft einen Beitrag für ein versorgungssicheres europäisches Energiesystem leisten wird. Der EWSA verweist auf seine Stellungnahmen zur Wasserstoffstrategie (1) und zur Strategie für die Integration des Energiesystems (2).

Ergebnis der Abstimmung über den Änderungsantrag:

Ja-Stimmen:

92

Nein-Stimmen:

112

Enthaltungen:

9

Ziffer 1.4

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Das Potenzial, über das Europa im Bereich der erneuerbaren Energien verfügt, muss so genau wie möglich ermittelt und umfassend bekannt gemacht werden, um ein gemeinsames Verständnis darüber herzustellen, welcher Grad an Unabhängigkeit von Energieimporten erreicht werden kann. Insbesondere müssen die Elektrifizierung des Wärme- und Verkehrssektors sowie der Bedarf an in der EU erzeugtem grünem Wasserstoff berücksichtigt werden.

Das Potenzial, über das Europa im Bereich der erneuerbaren Energien verfügt, muss so genau wie möglich ermittelt und umfassend bekannt gemacht werden, um ein gemeinsames Verständnis darüber herzustellen, welcher Grad an Unabhängigkeit von Energieimporten erreicht werden kann. Insbesondere müssen die Elektrifizierung des Wärme- und Verkehrssektors sowie der Bedarf an in der EU erzeugtem Wasserstoff berücksichtigt werden.

Ergebnis der Abstimmung über den Änderungsantrag:

Ja-Stimmen:

92

Nein-Stimmen:

112

Enthaltungen:

9

Ziffer 1.6

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Gleichzeitig werden jedoch zudem kurz- und möglicherweise auch mittelfristige Maßnahmen erforderlich sein, um die nunmehr fehlenden Energielieferungen aus Russland auszugleichen. Eine dieser Maßnahmen ist der Import von Flüssigerdgas. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält es jedoch für wichtig, dass auf diese Weise keine neuen langfristigen Abhängigkeiten von fossilen Brennstoffen entstehen. Dies muss bereits im Vorfeld im Investitionszyklus berücksichtigt werden. Insgesamt besteht das Ziel nicht darin, die Abhängigkeiten zu diversifizieren, sondern das höchstmögliche Maß an strategischer Autonomie zu erreichen.

Gleichzeitig werden jedoch zudem kurz- und möglicherweise auch mittelfristige Maßnahmen erforderlich sein, um die nunmehr fehlenden Energielieferungen aus Russland auszugleichen. Eine dieser Maßnahmen ist der Import von Flüssigerdgas. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält es jedoch für wichtig, dass auf diese Weise keine neuen langfristigen Abhängigkeiten von fossilen Brennstoffen entstehen. Dies muss bereits im Vorfeld im Investitionszyklus berücksichtigt werden. Insgesamt besteht das Ziel darin, die Energiequellen zu diversifizieren und gleichzeitig die hohen Abhängigkeiten von einem Einführer zu verringern, um das höchstmögliche Maß an offener strategischer Autonomie zu erreichen.

Ergebnis der Abstimmung über den Änderungsantrag:

Ja-Stimmen:

77

Nein-Stimmen:

113

Enthaltungen:

14


(1)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 30.

(2)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 22.

(1)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 30.

(2)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 22.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/115


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: „Die Bedeutung des öffentlichen Verkehrs für den grünen Wiederaufbau in Europa“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/16)

Berichterstatterin:

Kristina KRUPAVIČIENĖ

Ko-Berichterstatterin:

Dovilė JUODKAITĖ

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

4.10.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

173/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist sich der entscheidenden Rolle bewusst, die dem öffentlichen Verkehr beim grünen Wiederaufbau in Europa nach der Pandemie zukommt. Die Pandemie hat sich als Katalysator erwiesen und gezeigt, dass öffentliche Verkehrsdienste Dienstleistungen im allgemeinen Interesse darstellen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an vorderster Front sowie schutzbedürftigen Gruppen den Zugang zu Arbeitsplätzen und Dienstleistungen ermöglichen. Der EWSA fordert, dass Mobilität als ein individuelles Recht und öffentliches Gut anerkannt wird, das allen Menschen zugänglich sein muss, da sie die Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben ermöglicht. Es muss ein vorrangiges Ziel der EU sein sicherzustellen, dass alle Menschen Zugang zu erschwinglichen, sicheren und hochwertigen öffentlichen Verkehrsdiensten mit einer ausreichenden Personalausstattung haben.

1.2.

Der EWSA ist sich der Bedeutung des öffentlichen Verkehrs für Einzelpersonen, Nutzer und Arbeitnehmer bewusst und bekräftigt seine Forderung nach einem partizipativen Ansatz für die Planung öffentlicher Verkehrsdienste auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene (1). Nur so kann sichergestellt werden, dass Strategien und Maßnahmen für den Wiederaufbau den Bedürfnissen und Erwartungen aller Personen entsprechen, die öffentliche Verkehrsdienste anbieten oder nutzen.

1.3.

Der EWSA merkt an, dass die Entwicklung hochwertiger Dienstleistungen für die Erholung des öffentlichen Verkehrswesens nach der Pandemie von grundlegender Bedeutung ist. Dieses Dienstleistungsniveau lässt sich nur erreichen, wenn das zuständige Personal gute Arbeitsbedingungen genießt und motiviert und angemessen geschult ist. Der EWSA fordert die politischen Entscheidungsträger auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene zur Entwicklung — und die politischen Entscheidungsträger auf EU-Ebene zur umfassenden Unterstützung — von Geschäftsmodellen auf, mit denen für qualitativ hochwertigere, innovative und attraktive Verkehrssysteme und somit für qualitativ hochwertige Dienstleistungen sowie angemessene Arbeitsbedingungen und einen adäquaten Sozialschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesorgt wird.

1.4.

Öffentliche Verkehrsdienste stellen arbeitsintensive Dienstleistungen dar, die mit nicht verlagerbaren grünen Arbeitsplätzen verbunden sind. Öffentliche Verkehrsbetriebe zählen zu den größten Arbeitgebern in städtischen Gebieten. Sie schaffen Arbeitsplätze für ein breites Spektrum von Menschen und tragen zur Eingliederung von Wanderarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern in den Arbeitsmarkt bei. Der EWSA fordert die Entscheidungsträger auf, zwecks Wahrung der sozialen Komponente der Branche verbindliche Kriterien an die Qualität der Dienstleistungen und Sozialkriterien in öffentliche Verkehrsdienstleistungsverträge aufzunehmen, so beispielsweise die Anwendung von Tarifverträgen und eine angemessene Berücksichtigung der Situation von Arbeitnehmern infolge eines Betreiberwechsels. Darüber hinaus fordert der EWSA die politischen Entscheidungsträger auf, für solide Mechanismen des sozialen Dialogs zu sorgen, um den Sektor in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht nachhaltig zu machen. Der EWSA fordert außerdem, dass die Verfahren für die Vergabe öffentlicher Aufträge uneingeschränkt eingehalten werden (Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates (2) bzw. Richtlinie 2014/23/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (3)).

1.5.

Der EWSA merkt an, dass die Verwirklichung einer nachhaltigen Mobilität ein starkes politisches Engagement aller Beteiligten sowie auf allen Ebenen erfordert. Den EU-Institutionen muss bei der politischen Steuerung und Leitung eine wichtige Rolle zukommen. Sie müssen klare Ziele und Vorgaben festlegen und die erforderlichen Finanzmittel zur Verfügung stellen. Der EWSA fordert die Europäische Kommission daher auf, messbare und ehrgeizige Ziele für den Übergang vom Individualverkehr zu kollektivem Verkehr und aktiver Mobilität festzulegen.

1.6.

Damit Maßnahmen zur Förderung eines nachhaltigen öffentlichen Verkehrs und folglich eines grünen Wiederaufbaus auch erfolgreich sind, bedarf es unbedingt nachhaltiger Investitionen. Im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität wurden den EU-Mitgliedstaaten erhebliche Finanzmittel zur Verfügung gestellt. In diesem Zusammenhang verpflichteten sich viele Länder, in ihre öffentlichen Verkehrssysteme zu investieren. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Einhaltung dieser Verpflichtungen zu überwachen und darüber Bericht zu erstatten und sicherzustellen, dass im Zuge des grünen Wiederaufbaus Arbeitsplätze, die Qualität von Dienstleistungen und die soziale Inklusion erhalten und verbessert werden. Er fordert die Mitgliedstaaten auf, partizipative Mechanismen einzurichten, um die Nutzer und Sozialpartner dazu zu konsultieren, wie diese für die Erholung des öffentlichen Verkehrswesens unabdingbaren Mittel verwendet werden. Der EWSA weist darauf hin, dass alle für die Entwicklung von Verkehrslösungen bereitgestellten EU- und öffentlichen Mittel an Kriterien im Hinblick auf die Inklusivität, Zugänglichkeit und Nachhaltigkeit des Verkehrs geknüpft sein sollten.

1.7.

Der EWSA fordert die politischen Entscheidungsträger deshalb auf, die Aspekte des digitalen Wandels, mit denen ein nachhaltiger und gerechter Verkehr für alle erreicht werden soll, in inklusiver und partizipativer Weise umzusetzen.

1.8.

Der EWSA ersucht die Europäische Union und die Mitgliedstaaten, den Übergang zu umweltfreundlicheren Verkehrsträgern zu unterstützen, indem sie diese allgemein attraktiver machen. Auch die Sensibilisierung für die Umweltauswirkungen des Verkehrs und des persönlichen Mobilitätsverhaltens ist wichtig, um den Übergang zu einem nachhaltigen öffentlichen Verkehr zu fördern. Der EWSA fordert die Kommission daher auf, das Jahr 2024 dem öffentlichen Verkehr, seinen Nutzern und den in diesem Sektor tätigen Arbeitnehmern zu widmen.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

Verkehr und Mobilität sind ein integraler Bestandteil des täglichen Lebens der Europäerinnen und Europäer. Sie ermöglichen die Mobilität von Menschen sämtlicher gesellschaftlicher Hintergründe überall in Europa. Gleichzeitig wurde im Rahmen des europäischen Grünen Deals das Ziel ausgerufen, die verkehrsbedingten Emissionen bis 2050 um 90 % zu verringern und so Klimaneutralität zu erreichen. Zu dieser Verringerung müssen sämtliche Bereiche des Verkehrssektors beitragen. Gemäß dem grünen Deal muss der „multimodale Verkehr […] kräftig angekurbelt werden, sodass das Verkehrssystem effizienter wird.“

2.2.

In ihrer Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität erklärt die Kommission nachhaltige Mobilität zwischen und innerhalb von Städten zu einer Leitinitiative. In diesem Zusammenhang betont sie die Notwendigkeit, für eine „faire und gerechte Mobilität für alle“ zu sorgen und die Anteile der öffentlichen Verkehrsmittel zu erhöhen, um die nahtlose Multimodalität in Stadtgebieten und städtischen Randgebieten zu verbessern. In der Strategie wird zudem die steigende Nachfrage nach neuen und innovativen Lösungen wie etwa Bedarfsverkehrsdiensten und kollaborativen Mobilitätsdiensten hervorgehoben. Ferner ist die Strategie schwerpunktmäßig darauf ausgerichtet, den Rahmen für urbane Mobilität zu verbessern.

Im Zusammenhang mit ihrem Rahmen für urbane Mobilität (4) weist die Kommission darauf hin, dass Mobilität in Städten für 23 % des wachsenden Anteils des Verkehrs am Energieverbrauch und an den Treibhausgasemissionen der EU verantwortlich ist, dass Städte vor beispiellosen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Luftqualität stehen, wobei die NO2- und PM10-Konzentrationen die EU-Grenzwerte überschreiten, dass die Verkehrsüberlastung in Städten in der EU seit 2013 stagniert oder sogar zugenommen hat, was mit erheblichen gesellschaftlichen Kosten und negativen Auswirkungen auf den Pendlerverkehr verbunden ist, dass sich 38 % aller Todesfälle und schweren Verletzungen im Straßenverkehr in der EU in Stadtgebieten ereignen, dass mehr als 70 % der Menschen in Europa in Städten leben und Lösungen für eine bessere und sichere Mobilität sowie zur Verringerung der Verkehrsüberlastung, der Luftverschmutzung und der Lärmbelästigung erwarten und dass die restlichen 30 % in Dörfern, Kleinstädten oder stadtnahen Gebieten leben und häufig auf Privatfahrzeuge angewiesen sind, um naheliegende städtische Knoten zu erreichen.

Die Infrastrukturen und Dienstleistungen für den öffentlichen Verkehr in den Städten müssen angepasst werden, um eine bessere Zugänglichkeit zu gewährleisten und unter anderem die alternde Bevölkerung in vielen Städten sowie Menschen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mobilität besser zu unterstützen.

2.3.

Die Kommission betont ferner, dass der Klimawandel dringend angegangen werden muss. Dies sei für die soziale Inklusion und das Wohlergehen der Menschen, insbesondere benachteiligter Gruppen, von grundlegender Bedeutung. Deshalb hat sie den Aufbau eines solideren öffentlichen Verkehrsnetzes zu einem der Ziele ihres Rahmens für urbane Mobilität gemacht.

2.4.

In den letzten Jahren hat die Pandemie das Wirtschaftswachstum und die Förderregeln und -mechanismen grundlegend beeinträchtigt. Sie hat Schwachstellen des EU-Binnenmarkts aufgezeigt und gewisse Werte, die dessen Entwicklung zugrunde liegen, in den Mittelpunkt gerückt. Die Pandemie hat jedoch auch dafür gesorgt, dass Maßnahmen wie der Grüne Deal schneller umgesetzt werden können, und verdeutlicht, wie wichtig es ist, gemäß dem Konzept des gerechten Übergangs die Menschen in den Mittelpunkt des Wiederaufbauprozesses zu stellen. Ferner hat sie die Kommission zur Verabschiedung der Aufbau- und Resilienzfazilität, ihres bislang größten Finanzhilfeprogramms zur Abmilderung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen von COVID-19, bewogen, bei dem der ökologische und der digitale Wandel zwei der insgesamt sechs Säulen darstellen.

2.5.

Im öffentlichen Verkehrswesen hatte die Pandemie Auswirkungen auf die Arbeitsplätze sowie für die Nutzer und Betreiber öffentlicher Verkehrsmittel und öffentliche Behörden. In seinen Schlussfolgerungen zur Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität wies der Rat darauf hin, dass der öffentliche Verkehr durch die COVID-19-Krise stark beeinträchtigt wurde und die politische Reaktion auf die Krise darauf abzielen sollte, das Vertrauen in den öffentlichen Verkehr wiederherzustellen, seine Widerstandsfähigkeit zu verbessern und seine nachhaltige Umgestaltung und Modernisierung zu beschleunigen und dabei in Anbetracht seiner grundlegenden Bedeutung für den sozialen und territorialen Zusammenhalt sicherzustellen, dass Verkehrsdienste erschwinglich bleiben.

2.6.

Der EWSA hebt den äußerst wichtigen Umstand hervor, dass der öffentliche Verkehr während der gesamten Pandemie die dringend erforderliche Mobilität von Arbeitnehmern an vorderster Front und benachteiligten Gruppen gewährleistete und so einen deutlichen Mehrwert bot. Wanderarbeitnehmer und Frauen machen einen großen Anteil dieser Gruppen aus und sind bekanntermaßen in hohem Maße auf öffentliche Verkehrsdienste angewiesen, um Zugang zu Arbeitsplätzen und grundlegenden Dienstleistungen zu haben. Eurobarometer-Daten für 2020 zeigen, dass öffentliche Verkehrsmittel deutlich häufiger von Frauen genutzt werden als von Männern. Die Studie des Europäischen Parlaments „Frauen und Verkehr“ (5) liefert interessante Einblicke in Bezug auf derartige Entscheidungen, wobei jedoch auch auf einen Mangel an Daten zu geschlechtsspezifischen Mobilitätsmustern hingewiesen wird.

2.7.

Der EWSA erkennt zudem an, dass die Anbieter von Verkehrsdiensten und die Behörden infolge der Pandemie mit höheren Kosten und geringeren Ressourcen konfrontiert sind. Wenngleich die COVID-19-Präventionsmaßnahmen zu höheren Kosten geführt haben und der erhebliche Rückgang der Nutzerzahlen den Unternehmen große Einnahmeneinbußen verursacht hat, war den lokalen, öffentlichen und staatlichen Behörden klar, dass die Aufrechterhaltung des öffentlichen Verkehrs zu ihren Pflichten im Dienste der Gemeinschaften und insbesondere jener Menschen zählt, die im Dienste anderer tätig sind.

2.8.

Mit dieser Initiativstellungnahme sollen wichtige Empfehlungen für den Wiederaufbau und die künftige Weiterentwicklung eines nachhaltigen, robusten, inklusiven, zugänglichen und widerstandsfähigen öffentlichen Verkehrswesens für die Zeit nach der COVID-19-Pandemie geäußert werden, das den Bedürfnissen künftiger Generationen unter Berücksichtigung des demografischen Wandels in der EU (6) gerecht wird. Der Schwerpunkt wird dabei auf Fragen im Zusammenhang mit der Finanzierung und der Attraktivität des öffentlichen Verkehrs und seiner Rolle beim grünen Wiederaufbau in der EU liegen, wobei die sozialen Bedingungen der Beschäftigten im öffentlichen Verkehr ein zentrales Thema darstellen. Der Personalmangel in sämtlichen Bereichen des Verkehrssektors zeigt, dass ein solcher Ansatz unbedingt notwendig ist.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA erkennt an, dass der öffentliche Verkehr ein wichtiger Bestandteil der Strategie für den grünen Wiederaufbau in Europa nach der Pandemie ist. Er liefert nicht nur eine Lösung für Klimaprobleme, sondern trägt auch zur Verringerung der Verkehrsüberlastung und somit zu einer höheren Lebensqualität bei. Stand 2020 entfielen jährlich fast 60 Mrd. Personenreisen in Stadtgebieten in Europa auf den öffentlichen Verkehr, Tendenz steigend. (…) Aufgrund von Verkehrsüberlastung entstehen der europäischen Wirtschaft jährlich Einbußen in Höhe von 1 % des EU-weiten BIP, d. h. 100 Mrd. EUR (7).

3.2.

Der EWSA merkt an, dass die Pandemie das Verhalten der Menschen verändert und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der lokalen Behörden auf den Mehrwert des öffentlichen Verkehrs für die Gesellschaft gelenkt hat. Gleichzeitig gehörte das öffentliche Verkehrswesen zu den von der Pandemie besonders beeinträchtigten Sektoren, da es zu einem drastischen Rückgang der Nutzer kam und seine Erholung die längste Zeit in Anspruch nahm. Während der Pandemie gingen viele Menschen zu einer aktiven Mobilität und zur Nutzung von Privatfahrzeugen über, um Infektionen zu vermeiden. Während die Zunahme der aktiven Mobilität eine positive Entwicklung darstellt und folglich gefördert werden sollte, muss die Frage der zunehmenden Nutzung von Privatfahrzeugen von den politischen Entscheidungsträgern auf europäischer Ebene sowie von den nationalen, lokalen und regionalen Behörden ernsthaft geprüft werden.

3.3.

Der EWSA erkennt an, dass die Beschäftigung im öffentlichen Verkehrswesen trotz der Aufrechterhaltung einschlägiger Dienste während der Pandemie stark beeinträchtigt wurde. Zu Beginn des ersten Lockdowns waren in Europa zwei Millionen Menschen direkt im öffentlichen Verkehrssektor beschäftigt (8). Insbesondere bietet der Sektor ein breites Spektrum sicherer lokaler Arbeitsplätze sowohl für weniger qualifizierte als auch für hoch qualifizierte Arbeitnehmer mit unterschiedlichsten Hintergründen (9). Ein erheblicher Teil der Arbeitnehmer fiel jedoch zwangsweise unter befristete staatliche Arbeitslosenregelungen, wobei viele sich dafür entschieden haben, nicht an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Dies gilt insbesondere für Mitgliedstaaten mit geringen Sozialleistungen und einer niedrigen tarifvertraglichen Abdeckung.

3.4.

Daher warnt der EWSA vor einem kritischen Personalmangel in allen Bereichen des Verkehrssektors in Europa, einschließlich des öffentlichen Verkehrssektors. Die Qualität und die Sicherheit von Arbeitsplätzen sind zu zentralen Kriterien für Arbeitsuchende geworden, wobei soziale Sicherheit und Tarifbindung in diesem Zusammenhang wichtige Garantien bieten.

3.5.

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der öffentlichen, regionalen und staatlichen Behörden, den öffentlichen Verkehr während der gesamten Pandemie im erforderlichen Umfang aufrechtzuerhalten, obwohl die komplexen Umstände finanzielle Unterstützung sowie Investitionen in COVID-19-Sicherheitsprotokolle erforderten. Der EWSA ist sich bewusst, dass sich die zuständigen Behörden gezwungen sahen, die zulässige Anzahl von Personen in Fahrzeugen drastisch zu beschränken (10), digitale Lösungen zur Verringerung der direkten Kontakte zwischen Nutzern und Personal einzuführen, die Ausgaben für Gesundheits- und Hygieneausrüstung zu erhöhen und die durch den plötzlichen und anhaltenden Rückgang der Zahl der Nutzer öffentlicher Verkehrsdienste entstandenen Einnahmeneinbußen auszugleichen.

3.6.

Gleichzeitig bedauert der EWSA, dass bei der Einführung von COVID-19-Sicherheitsprotokollen für den Verkehrssektor nicht immer Inklusionsfragen und den Bedürfnissen aller betroffenen Personen Rechnung getragen wurde. Beispielsweise konnten in einigen Fällen öffentliche Verkehrsdienste nicht länger von Menschen mit Behinderungen und älteren Menschen genutzt werden, weil Assistenzdienste für Fahrgäste mit eingeschränkter Mobilität verringert oder ausgesetzt wurden (11). Außerdem eigneten sich digitale Lösungen mitunter nicht für Menschen mit geringeren digitalen Kompetenzen oder Menschen, die sich digitale Geräte oder elektronische Kommunikationsdienste nicht leisten können, und sie wurden nicht im Einklang mit den Strategien und Standards der EU für Barrierefreiheit entwickelt.

3.7.

Der EWSA merkt an, dass es nun Strategien für die Zeit nach der Pandemie bedarf, um den öffentlichen Verkehr attraktiv und für mehr Menschen zugänglich zu machen. Wie vom EWSA in seiner Stellungnahme INT/909 hervorgehoben, haben „wir jetzt die Chance für eine gerechte Konjunkturerholung und einen gerechten Wiederaufbau unserer Volkswirtschaften […], um sie umweltfreundlicher, fairer und krisenresistenter zu machen (12).“ Auch in seiner Stellungnahme TEN/728 bekräftigt der EWSA die Forderung, „dass die Ökowende sozial gerecht sein und die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Verkehrs bewahren muss, auch durch die umfassende Umsetzung des europäischen Verkehrsraums mit uneingeschränkter Umsetzung des Binnenmarkts (13).“

3.8.

Angesichts der vorstehenden Erwägungen muss der öffentliche Verkehr vor allem folgende Merkmale aufweisen, um attraktiver zu werden:

Verfügbarkeit, d. h. ausreichende Kapazitäten verschiedener öffentlicher Verkehrsdienste, um der gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden, insbesondere in ländlichen Gebieten und Randgebieten, in denen die Menschen häufig weniger Optionen haben;

ausreichend Personal, das angemessene Rahmenbedingungen und eine adäquate Ausbildung genießt und dem stabile und hochwertige Arbeitsplätze und ein umfassendes Spektrum an Rechten und Leistungen geboten werden;

Konnektivität, d. h. nahtlose intermodale Anbindungen — auch zwischen verschiedenen geografischen Regionen — für alle Fahrgäste durch ein verstärktes und wirksames Konzept mit verschiedenen Verkehrsträgern für Verbindungen innerhalb von und zwischen städtischen und nichtstädtischen Gebieten;

Erschwinglichkeit für alle Mitglieder der Gesellschaft. Zu diesem Zweck sollte bei der Berechnung der Kosten öffentlicher Verkehrsdienste berücksichtigt werden, dass diese auch für Personen erschwinglich sein müssen, die von sozioökonomischer Armut und Ausgrenzung betroffen sind. Deshalb sollten in enger Abstimmung mit den betroffenen Gemeinschaften gezielte Regelungen zur Unterstützung der in sozioökonomischer Hinsicht besonders benachteiligten Gruppen ausgelotet werden;

Zugänglichkeit, d. h. die Möglichkeit für alle Menschen, einschließlich Menschen mit Behinderungen, älterer Menschen und Menschen mit (vorübergehend) eingeschränkter Mobilität, Verkehrsdienste unkompliziert und selbstständig zu nutzen;

Sicherheit von Nutzern und Personal im Hinblick auf geschlechtsspezifische und intersektionale Aspekte. Wie sich in den vergangenen Jahren erwiesen hat, sind inklusive Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit für sicheres Reisen ebenso relevant. Die Beschäftigten im öffentlichen Verkehr benötigen ein sicheres Arbeitsumfeld, in dem sie weder Gewalt noch Belästigung ausgesetzt sind.

Qualität im Hinblick auf Nutzerfreundlichkeit, Fahrtzeiten, Betreuung und dafür angemessene Personalausstattung, barrierefreie digitale Lösungen sowie Informationen über Beförderungsmöglichkeiten und Fahrtzeiten.

3.9.

Der EWSA merkt an, dass in den Jahren vor der Pandemie mit der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 über gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen Möglichkeiten eingeführt wurden, privaten Unternehmen im Wege von wettbewerblichen Vergabeverfahren und öffentlichen Dienstleistungsaufträgen gemäß den allgemeinen EU-Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe Zugang zu öffentlichen Verkehrsdiensten zu geben. Angesichts der strategischen Bedeutung des öffentlichen Verkehrs für Gesellschaft und Mobilität, die die Pandemie deutlich gemacht hat, und des beispiellosen Personalmangels in der Branche betont der EWSA, dass öffentliche Dienstleistungsaufträge Schutz im Hinblick auf Sozial- und Beschäftigungsbedingungen bieten müssen, damit qualifizierte Arbeitskräfte gehalten werden.

3.10.

Der öffentliche Verkehr ist eine Dienstleistung, die der Gesellschaft als Ganzes in all ihrer Vielfalt zugutekommen muss. Vor diesem Hintergrund ist es von entscheidender Bedeutung, die Verfahren für die Vergabe öffentlicher Aufträge transparent zu halten und die Beteiligung von Arbeitnehmern und Nutzern an den Vergabeentscheidungen sicherzustellen.

3.11.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission zur Abfederung der sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen von COVID-19 die Aufbau- und Resilienzfazilität ins Leben gerufen hat. Mit der entsprechenden Verordnung (EU) 2021/241 des Europäischen Parlaments und des Rates (14) wurde festgelegt, unter welchen Bedingungen die Mitgliedstaaten einen Anspruch auf Finanzhilfen aus dieser Fazilität haben. So mussten die Mitgliedstaaten nationale Aufbau- und Resilienzpläne vorlegen und sich dazu verpflichten, 37 % der ihnen gewährten EU-Finanzhilfen für Investitionen und Reformen im Klimaschutzbereich und 20 % für die Förderung des digitalen Wandels aufzuwenden. Saubere Mobilität ist nach wie vor eine zentrale Komponente dieser Pläne. Der EWSA merkt jedoch an, dass die Umsetzung dieser Maßnahmen Auswirkungen sowohl für die Gesellschaft als auch für die Arbeitnehmer haben wird und daher nicht hinter verschlossenen Türen erfolgen darf. In die Entwicklung von Strategien für einen umweltfreundlicheren und nachhaltigeren öffentlichen Verkehr sollten alle sozialen Interessenträger einbezogen werden (15). Ferner sollten öffentliche Interessenträger in der Lage sein, die Durchführung der öffentlichen Maßnahmen und die Verwendung der einschlägigen öffentlichen Mittel wirksam zu überwachen.

3.12.

Es gilt, eine inklusive Teilhabe an der Erarbeitung von Lösungen für den öffentlichen Verkehr zu fördern, damit alle Interessenträger, einschließlich Behörden, Dienstleister, Nutzer öffentlicher Verkehrsdienste und Experten für Zugänglichkeits- und Stadtplanungsfragen die Möglichkeit haben, sich einzubringen (16). Ferner sollten bewährte Verfahren für eine gemeinsame Gestaltung öffentlicher Verkehrslösungen gefördert werden (17). Bei der Gestaltung öffentlicher Verkehrsdienste sollte nach dem Konzept des „universellen Designs“ im Sinne des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (18) verfahren werden, um die Zugänglichkeit solcher Dienste für ein größtmögliches Spektrum von Nutzern, einschließlich Menschen mit Behinderungen, älterer Menschen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität, zu gewährleisten.

3.13.

In der Mitteilung der Kommission „Fit für 55“ heißt es: „Viele Bürgerinnen und Bürger, insbesondere jüngere Menschen, sind bereit, ihre Konsum- und Mobilitätsmuster zu ändern, wenn sie entsprechend informiert werden, sodass sie ihren CO2-Fußabdruck begrenzen und in einer ökologischeren und gesünderen Umwelt leben können (19).“ Die Steigerung der Attraktivität dieser Verkehrsträger für alle wird zum Umstieg auf umweltfreundlichere und nachhaltigere Verkehrsträger beitragen. Es ist wichtig, das Bewusstsein für die Umweltauswirkungen des Verkehrs und des persönlichen Mobilitätsverhaltens zu schärfen. Sensibilisierungsmaßnahmen allein werden jedoch nur dann die erforderliche Wirkung entfalten, wenn die Herausforderungen im Hinblick auf verfügbare, erschwingliche, zugängliche und sichere öffentliche Verkehrsmittel angemessen angegangen werden. Obwohl sich viele Menschen bewusst sind, dass es im Interesse der Umwelt dringend notwendig ist, umweltfreundlichere Verkehrsträger zu nutzen, werden sie keinen entscheidenden Beitrag zur Ökowende leisten können, wenn sie es sich einfach nicht leisten können, umweltfreundlichere Verkehrsmittel zu nutzen oder keinen Zugang dazu haben. Damit vergibt die EU eine große Chance.

3.14.

Der EWSA betont, dass die COVID-19-Pandemie dazu geführt hat, dass im öffentlichen Verkehrswesen rascher digitale Technologien eingeführt wurden. Diese Entwicklung dürfte sehr wahrscheinlich durch die Durchführung der Aufbau- und Resilienzfazilität und der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne aufrechterhalten und weiter verstärkt werden. Zwar kann die Digitalisierung zur Effizienz und Nachhaltigkeit des öffentlichen Verkehrs beitragen und Vorteile für die Nutzer von Verkehrsdiensten (z. B. digitale Reiseplaner oder Echtzeitinformationen zu Verkehrsdiensten) mit sich bringen, doch sollte darauf geachtet werden, dass der digitale Wandel nicht zu geringeren Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitnehmer im Verkehrswesen oder zu schlechteren persönlichen Assistenzdiensten für die Nutzer führt. Ebenso gilt es sicherzustellen, dass die Kluft zwischen Menschen, die einen Nutzen aus der Digitalisierung schlagen können, und jenen, denen dies aufgrund mangelnder Zugänglichkeit oder Erschwinglichkeit der erforderlichen digitalen Dienste oder aufgrund geringerer digitaler Kompetenzen verwehrt bleibt, nicht größer wird. Der EWSA fordert die politischen Entscheidungsträger deshalb auf, die Aspekte des digitalen Wandels, mit denen ein nachhaltiger und gerechter Verkehr für alle erreicht werden soll, in inklusiver und partizipativer Weise umzusetzen.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  EWSA-Stellungnahme „Neuer europäischer Rahmen für urbane Mobilität“ (TEN/766) (ABl. C 323 vom 26.8.2022, S. 107)

(2)  Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates (ABl. L 315 vom 3.12.2007, S. 1).

(3)  Richtlinie 2014/23/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Konzessionsvergabe (ABl. L 94 vom 28.3.2014, S. 1)

(4)  Der neue europäische Rahmen für urbane Mobilität (COM (2021) 811 final).

(5)  Women and transport, Europäisches Parlament, FEMM-Ausschuss, Dezember 2021, https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2021/701004/IPOL_STU(2021)701004_EN.pdf, S. 34. Darin wird festgestellt, dass die Daten vor dem Hintergrund der Mobilitätsbedürfnisse von Frauen gesehen werden müssen. Wie bereits in den vorigen Abschnitten erwähnt wurde, arbeiten Frauen häufiger Teilzeit, betreuen Kinder und Verwandte, haben eine höhere Lebenserwartung, besitzen seltener einen Führerschein und ein eigenes Auto, nutzen häufiger öffentliche Verkehrsmittel und gehen öfter zu Fuß als Männer. Ihre täglichen Mobilitätsmuster sind komplexer als bei Männern. Zugleich haben Frauen häufig nur eine begrenzte Kontrolle über die Haushaltsfinanzen, da sie in einem Haushalt eher Zweitverdiener sind (Borgato et al., 2021; Rastrigina und Verashchagina, 2015). Frauen sind generell häufiger von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht (EIGE, 2020), da sie eher schutzbedürftigen Gruppen angehören, und Erschwinglichkeit ist ein entscheidender Faktor für ihre Mobilität.

(6)  Eurostat: Ageing Europe — statistics on population developments.

(7)  Gemeinsame Erklärung der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) und des Internationalen Verbands für öffentliches Verkehrswesen (UITP) zur COP 26: Tackling climate action with public transport is one of the EU's largest economic opportunities of the 21st century.

(8)  Vom TRAN-Ausschuss des Europäischen Parlaments in Auftrag gegebene und von der Fachabteilung Struktur- und Kohäsionspolitik der Generaldirektion Interne Politikbereiche durchgeführte Studie „Relaunching Transport and Tourism in the EU after COVID-19“, Mai 2021.

(9)  Gemeinsame Erklärung der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) und des Internationalen Verbands für öffentliches Verkehrswesen (UITP) zur COP 26: Tackling climate action with public transport is one of the EU's largest economic opportunities of the 21st century.

(10)  Während des ersten Lockdowns im Jahr 2020 wurde die zulässige Fahrzeugauslastung in Mailand auf 25 %, in Barcelona auf 50 %, in Irland auf 20 % und in Portugal auf zwei Drittel beschränkt. Siehe diesbezüglich die vom TRAN-Ausschuss des Europäischen Parlaments in Auftrag gegebene und von der Fachabteilung Struktur- und Kohäsionspolitik der Generaldirektion Interne Politikbereiche durchgeführte eingehende Analyse COVID-19 and urban mobility: impacts and perspectives (PE 652.213) vom September 2020.

(11)  Europäisches Behindertenforum (EDF): EDF Recommendations on exit measures for transport services in light of covid-19.

(12)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 219.

(13)  ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 100.

(14)  Verordnung (EU) 2021/241 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Februar 2021 zur Einrichtung der Aufbau- und Resilienzfazilität (ABl. L 57 vom 18.2.2021, S. 17).

(15)  Im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen heißt es: „Bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften und politischen Konzepten zur Durchführung dieses Übereinkommens und bei anderen Entscheidungsprozessen in Fragen, die Menschen mit Behinderungen betreffen, führen die Vertragsstaaten mit den Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern mit Behinderungen, über die sie vertretenden Organisationen enge Konsultationen und beziehen sie aktiv ein.“ Artikel 4 Absatz 3 der UN-Behindertenrechtskonvention. Zudem stellt der EWSA in seiner Stellungnahme zum Weißbuch „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum — Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“ fest: „Wie bereits in seiner Stellungnahme von 2012 dargelegt, möchte der EWSA einen offenen, kontinuierlichen und transparenten Meinungsaustausch über die Umsetzung des Weißbuchs zwischen der Zivilgesellschaft (Unternehmen, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Nutzer, NRO und Wissenschaft usw.), der Kommission und anderen relevanten Akteuren wie den nationalen Stellen auf verschiedenen Ebenen fördern. So werden die Akzeptanz und das Verständnis seitens der Zivilgesellschaft gestärkt und die Rückmeldungen in Form nützlicher Informationen an die politischen Entscheidungsträger und für die Umsetzung Zuständigen verbessert.“ (ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 100).

(16)  Wie der EWSA bereits in seiner Stellungnahme zum Thema „Gesellschaftliche Herausforderungen im Zusammenhang mit der Ökologisierung des See- und Binnenschiffsverkehrs“ dargelegt hat, vertritt er die „Auffassung, dass alle Interessenträger einschließlich der Sozialpartner einbezogen werden müssen, um sinnvolle und tragfähige Lösungen für die Ökologisierung des Seetransports zu finden“ (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 18).

(17)  Siehe z. B. das Projekt TRIPS (TRansport Innovation for disabled People needs Satisfaction).

(18)  Artikel 2 der UN-Behindertenrechtskonvention.

(19)  ‚Fit für 55‘ (COM (2021) 550 final).


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/122


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Kulturdiplomatie als Motor der EU-Außenbeziehungen — neue Partnerschaften und Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/17)

Berichterstatter:

Luca JAHIER

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

14.10.2022

Verabschiedung im Plenum

27.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

178/1/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Kultur ist inklusiv. Sie ist eine Art Kapital, das es uns ermöglicht, uns sowohl über den Weg klar zu werden, den wir in Europa beschreiten wollen, als auch über das Bild, das man sich von uns in der Welt machen soll. In einer Zeit, in der auf dem europäischen Kontinent wieder ein Krieg geführt wird, der Verwüstung anrichtet, Menschenleben auslöscht und Orte zerstört, brauchen wir die kulturellen Beziehungen mehr denn je als Instrument für Dialog, Frieden und Zukunft. Kultur zu einem strategischen Motor des auswärtigen Handelns der Europäischen Union zu machen, muss nun, wie schon in vielen Dokumenten und wichtigen Initiativen der letzten 17 Jahre wiederholt gefordert, zu einer echten Priorität werden.

1.2.

Auf der Grundlage der Mitteilung der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2016, der zahlreichen Beschlüsse und Leitlinien des Rates sowie der Empfehlungen des Europäischen Parlaments (EP) ist es nun an der Zeit, einen echten mehrjährigen strategischen Aktionsplan anzunehmen. Dieser sollte unter der Federführung des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) für wirksame Synergien mit den verschiedenen Politikbereichen und Dienststellen der Europäischen Kommission und der Mitgliedstaaten sorgen und eine Plattform für den Aufbau möglichst vielfältiger Beziehungen bieten, die sowohl die zuständigen Stellen auf territorialer Ebene als auch die zahlreichen bereits aktiven privaten bzw. institutionellen Akteure umfassen. Für diesen Aktionsplan müssen die erforderlichen Mittel bereitgestellt werden.

1.3.

In der Zwischenzeit sollten die Maßnahmen zum Schutz, zur Wiederherstellung und zum Wiederaufbau des Kulturerbes in von Naturkatastrophen, Krisen und Konflikten betroffenen Gebieten unverzüglich intensiviert und dazu die Ausbildung lokaler Akteure und der Aufbau von Kapazitäten lokaler Institutionen und Organisationen der Zivilgesellschaft verstärkt werden. Im Bereich der Kreativwirtschaft müssen umfassendere Maßnahmen ergriffen werden. So sollten etwa im Westbalkan, im Mittelmeerraum und im Nahen Osten sowie in Afrika und in der Ukraine umfangreiche Pilotprojekte gestartet werden.

1.4.

Darüber hinaus sollte im Hinblick auf die Schaffung einer EU-Plattform für internationale Kulturbeziehungen die Vielzahl der auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene, auf Ebene der zahlreichen Organisationen der Zivilgesellschaft in den Mitgliedstaaten sowie im Rahmen der verschiedenen internationalen Partnerschaften bereits umgesetzten Maßnahmen und Initiativen kartiert werden.

1.5.

Innerhalb des EAD sollte rund um einen „EU-Sonderbeauftragten für kulturelle Beziehungen“ eine eigene, leistungsstarke Struktur aufgebaut werden, die mit den erforderlichen Haushaltsmitteln auszustatten ist, damit sie eine politische Gesamtstrategie erarbeiten, sich mit den Mitgliedstaaten und den verschiedenen Organisationen vernetzen sowie Instrumente und kleinere Mittelzuweisungen für die EU-Delegationen bereitstellen kann, die Maßnahmen in ihren jeweiligen Ländern konzipieren.

2.   Allgemeiner Kontext

2.1.

Die Kultur als Instrument des auswärtigen Handelns der EU einzusetzen, um den interkulturellen Dialog, die Menschenrechte und den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt gestützt auf die wachstumswirksame Kultur- und Kreativwirtschaft zu stärken, steht schon seit Langem auf der Tagesordnung der EU-Organe. Die Besonderheit der Kulturdiplomatie, die die EU als außenpolitisches Instrument erkannt hat, besteht darin, dass für die kulturelle Zusammenarbeit keinerlei Vorbedingungen gestellt werden und ein über die bloße Förderung kultureller Produktionen aus den Mitgliedstaaten hinausgehender Ansatz unterstützt wird, bei dem der gemeinsamen Nutzung eines Raums für kulturelle Koproduktionen mit den Partnerländern auf der Ebene der Zivilgesellschaft Vorrang eingeräumt wird.

2.2.

Bereits 2007 nahm die Europäische Kommission eine Mitteilung über eine europäische Kulturagenda im Zeichen der Globalisierung (1) an, mit der auch der kulturellen Dimension eine gewichtigere Rolle in den Außenbeziehungen der EU eingeräumt werden sollte. Dieses Vorhaben wurde auch vom EP in seinen Entschließungen aus den Jahren 2008 und 2011 nachdrücklich unterstützt. Im Jahr darauf stellte das EP Mittel in Höhe von 500 000 Euro für vorbereitende Maßnahmen zum Thema Kultur in den internationalen Beziehungen bereit, im Rahmen derer 2014 eine wichtige Rahmenstudie (2) erarbeitet wurde.

2.3.

Der Europäische Rat hat wiederholt betont, welches Potenzial die kulturellen Beziehungen für die Diplomatie bergen, insbesondere in seinen Schlussfolgerungen aus den Jahren 2007, 2008, 2014 und 2015 sowie in den Aktionsplänen der Kommission seit 2014.

2.4.

Die Vorarbeiten aus diesem Jahrzehnt flossen in die Gemeinsame Mitteilung der Kommission und der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik vom Juni 2016 „Künftige Strategie der EU für internationale Kulturbeziehungen“ (3) ein. In dieser Mitteilung wurden drei Arbeitsbereiche für die Umsetzung dieser Strategie dargelegt:

die sozioökonomische Entwicklung mit Schwerpunkt auf der Kulturpolitik sowie auf der Rolle der lokalen Gebietskörperschaften bei kulturellen Initiativen und der Kultur- und Kreativwirtschaft in den Partnerländern;

der interkulturelle Dialog zur Förderung von Frieden und Stabilität,

der Schutz des Kulturerbes vor Naturkatastrophen, bewaffneten Konflikten und dem Handel mit Artefakten, aus denen auch terroristische Aktivitäten finanziert werden.

2.5.

In der Mitteilung wurde auch darauf hingewiesen, dass eine bessere Koordinierung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten gefördert werden muss, um die starke Fragmentierung zu überwinden, die Rolle einiger EU-Delegationen in Drittländern als Knotenpunkte zu stärken, die Zusammenarbeit mit der Dachorganisation der nationalen Kulturinstitute der Europäischen Union (EUNIC) als Garantin der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für den Kulturbereich zu verstärken und die schon bestehenden Instrumente und Finanzierungslinien in den verschiedenen Bereichen zu nutzen. Außerdem wurde eine Plattform für Kulturdiplomatie (4) eingerichtet, um die Ermittlung geeigneter Programme und Ressourcen sowie die Koordinierung der relevanten Interessenträger zu erleichtern.

2.6.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nahm im Mai 2017 zu dieser Mitteilung (5) Stellung und brachte dabei seine nachdrückliche Unterstützung zum Ausdruck, stellte aber auch fest, dass nach der Vorlage einer „künftigen EU-Strategie“ ein Schritt nach vorn hin zur Annahme und anschließenden Umsetzung einer klaren Strategie und eines Aktionsplans getan werden müsse. Dieser Aktionsplan müsse, so der EWSA in seiner Stellungnahme, vier strukturellen Erfordernissen entsprechen: Schaffung klarer Entscheidungsstrukturen auf EU-Ebene, Gewährleistung von Koordinierung und ergänzender Unterstützung auf der Ebene der Mitgliedstaaten, Klärung finanzieller Aspekte sowie Förderung von Netzwerken kultureller Akteure, die eine dynamische kulturelle Zivilgesellschaft repräsentieren. Der EWSA forderte ferner, die kulturelle Dimension als vierte Säule der Strategie für nachhaltige Entwicklung anzuerkennen und geeignete Netze zu entwickeln, um die vielfältigen Organisationen der Zivilgesellschaft sowie andere bereits auf verschiedenen Ebenen in diesem Bereich tätige Organisationen einzubeziehen.

2.7.

Das EP selbst betonte in seiner im Juli 2017 verabschiedeten Entschließung (6), dass es in der Mitteilung an substanzielleren Maßnahmen fehlt, die die Entwicklung einer echten EU-Strategie für Kulturdiplomatie und die Bereitstellung angemessener Mittel ermöglichen. Auch der AdR wies in seiner Stellungnahme (7) vom Juni 2017 nachdrücklich auf die Schlüsselrolle hin, die Städte und lokale Regierungsebenen bei der Entwicklung kultureller Kooperationsnetze in ihrer Nachbarschaft spielen können. Dieses Thema wurde im Jahr 2020 in einer umfassenden Studie (8), in der eine Mehrebenenstrategie für internationale Kulturbeziehungen dargelegt wurde, erneut aufgegriffen.

2.8.

Der Rat fasste in seinen Schlussfolgerungen vom Mai 2017 die Vorschläge der Kommission zusammen und bekräftigte sie. Zudem empfahl er die Einsetzung einer „Gruppe der Freunde des Vorsitzes“ als bereichsübergreifende Plattform zur Erleichterung der Umsetzung der Strategie. Der Rat hat sich mit dem Thema der Kulturdiplomatie zudem in seinen wichtigen Schlussfolgerungen zu einer Strategie der EU für die internationalen Kulturbeziehungen und einem Aktionsrahmen vom Juni 2019 (9), seiner Entschließung zur kulturellen Dimension der nachhaltigen Entwicklung vom September 2019 (10), seinen Schlussfolgerungen zum Risikomanagement im Bereich des Kulturerbes vom Mai 2020 (11) sowie seinen Schlussfolgerungen zu einem EU-Konzept für das Kulturerbe in Konflikten und Krisen vom Juni 2021 (12) befasst.

2.9.

Schließlich definierte die Kommission im Europäischen Aktionsrahmen für das Kulturerbe (13), der im Anschluss an das Europäische Jahr des Kulturerbes 2018 veröffentlicht wurde, das „Kulturelle Erbe für stärkere globale Partnerschaften: Stärkung der internationalen Zusammenarbeit“ als einen von fünf zentralen Aktionsbereichen.

3.   Bemerkungen und Vorschläge

3.1.

Der oben genannte Rahmen verdeutlicht den Umfang der verschiedenen Dokumente, Leitlinien, Vorschläge und Beschlüsse, die im Laufe der Jahre vorgelegt wurden, sowie den inzwischen etablierten Konsens, wonach die Kultur ein Motor der Identitätsstiftung und des Zusammenhalts, eine Triebkraft für die sozioökonomische Entwicklung und ein wesentlicher Faktor für den Aufbau von Friedensbeziehungen auch im Rahmen der direkten Zusammenarbeit zwischen den Menschen (unter Einbeziehung von Organisationen der Zivilgesellschaft, Hochschulen, Kulturzentren, Museen, Städten und anderen Organisationen mit Mittlerfunktion) ist.

Darüber hinaus besteht zunehmend Konsens darüber, dass es auch im Hinblick auf die Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung darauf ankommt, einen Schwerpunkt auf die kulturelle Dimension zu legen.

3.2.

Gleichsam zählt die Kultur nun zu den wichtigsten Kooperationsinstrumenten der EU und ist in mehreren bilateralen Abkommen der EU mit Drittländern verankert. Überdies wird seit vielen Jahren im Rahmen der technischen und finanziellen Unterstützung der EU ein breites Spektrum an Kulturprojekten umgesetzt.

Ziele dieser Maßnahmen sind die Erhaltung und Wiederherstellung von Kulturerbestätten, die Produktion und Verbreitung von Kunstwerken, die Einrichtung und Restaurierung von Museen, die Stärkung der Kapazitäten von Kulturakteuren und Künstlern auf lokaler Ebene, die Förderung des freien Personenverkehrs von Kulturschaffenden zwischen den Ländern, die Organisation wichtiger kultureller Veranstaltungen, die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für den Schutz des kulturellen Erbes sowie die Entwicklung eines neuen Modells für nachhaltigen Tourismus. Die Kommission unterstützt ferner den Aufbau und die Stärkung der Kulturwirtschaft in den Partnerländern, insbesondere in den Bereichen audiovisuelle Medien und Film, sowie die Förderung des lokalen Zugangs zur Kultur.

3.3.

Diese Maßnahmen sind jedoch stark fragmentiert, beruhen auf keinem erkennbaren Gesamtkonzept und entbehren einer konkreten strategischen Vision , sodass es keine echte Grundlage gibt, um ihr reelles Potenzial als zunehmend wichtiger „Motor“ des auswärtigen Handelns der EU und als Triebfeder der Partnerschaft in vielen Teilen der Welt auszuschöpfen. Es handelt sich regelrecht um einen verborgenen Schatz, der gehoben werden muss, um das enorme Kapital, das die sowohl auf Ebene der Mitgliedstaaten als auch der vielfältigen lokalen Akteure, Institutionen und zivilgesellschaftlichen Organisationen bereits laufenden bzw. vor der Umsetzung stehenden Initiativen darstellen, zu einer echten kritischen Masse zu bündeln.

3.4.

Auch darf nicht vergessen werden, dass die Kulturdiplomatie der EU nur dann Sinn macht, wenn sie als Instrument ihres auswärtigen Handelns genutzt und weiterentwickelt wird. Dazu bedarf es einer Vision in Bezug auf den Einfluss, der ausgeübt werden soll — im Fall der EU durch die weltweite Förderung ihres Modells der friedlichen Koexistenz und der Integration der Völker unter Achtung der Grundrechte und der Freiheit des künstlerischen Ausdrucks sowie im Einklang mit den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit.

3.5.

Darüber hinaus ist Kultur das Produkt von Arbeit und in diesem Sinne eine tragende Säule Europas. Arbeit hat die Entwicklung der Industrie ermöglicht, Europa zu einem Handelszentrum gemacht, die Geschichte der europäischen Städte geprägt, die Emanzipation der europäischen Völker ermöglicht und gleichzeitig die sozialen Rechte und das europäischen Sozialmodell etabliert. Die Kultur der Arbeit muss auch künftig im Mittelpunkt des europäischen Handelns stehen.

3.6.

Das materielle und immaterielle Kulturerbe ist vom Wesen her ein politisch sensibler und hochkomplexer Bereich und mit viel symbolischer und emotionaler Bedeutung aufgeladen. Es birgt daher ein hohes Risiko politischer Manipulation in Bezug auf seine Geschichte, seine Zurechnung zu einem bestimmten Teil einer Gesellschaft und seine Nutzung, insbesondere dann, wenn Minderheiten involviert sind, und im Konfliktfall. Daher kann das Kulturerbe sowohl zu einem Konflikte schürenden Instrument, aber auch zu einem Motor für Frieden, Aussöhnung und gemeinsame Entwicklung werden. Dies spricht eindeutig dafür, dass darin das Potenzial für eine starke und komplementäre diplomatische Komponente des EU-Konzepts für Frieden, Sicherheit und nachhaltige Entwicklung schlummert.

3.7.

In den Schlussfolgerungen des Rates der EU vom 21. Juni 2021, die hauptsächlich dem Schutz des Kulturerbes in Konflikten und Krisen gewidmet sind, wird das Bestreben bekräftigt, die „Kulturdiplomatie“ zu einem wichtigen Instrument für Frieden und Entwicklung im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU zu machen. Der EAD, die Kommission und alle einschlägigen Agenturen und Einrichtungen der EU werden in den vorgenannten Schlussfolgerungen beauftragt, diesbezüglich konkrete Maßnahmen vorzubereiten, u. a. durch die Einrichtung einer speziellen Taskforce unter Federführung des EAD, die dem Rat jährlich über die erzielten Fortschritte Bericht erstatten soll. In Ziffer 8 der Schlussfolgerungen wird betont, wie wichtig es ist, alle notwendigen Partnerschaften mit einschlägigen internationalen und regionalen Organisationen sowie zwischenstaatlichen und nichtstaatlichen Organisationen zu stärken.

3.8.

Daher muss mit Nachdruck bekräftigt werden, was bereits in der EWSA-Stellungnahme und in der Entschließung des EP aus dem Jahr 2017 gefordert wurde, nämlich die Annahme eines umfassenden Aktionsplans, wie dies kürzlich in einer Reihe anderer Bereiche des EU-Politikbereiche geschehen ist, die Schaffung einer flexiblen operativen Referenzstruktur sowie die Bereitstellung der erforderlichen Mittel, sei es durch eigene Fonds oder die Mobilisierung von Mitteln im Rahmen bereits bestehender Programme.

Die Schwerpunkte dieses Aktionsplans sollten insbesondere auf folgenden Aspekten liegen: Stärkung der Kohärenz der Strategien und Instrumente für das auswärtige Handeln der EU; Komplementarität zwischen materiellem und immateriellem Kulturerbe; Verknüpfung mit dem Klimawandel als Krisenursache; Einbindung und Engagement von lokalen Akteuren, Frauen und jungen Menschen; Bildung und Wissensaustausch; Aufbau von Netzen und Verknüpfung mit bereits bestehenden Netzen wie Erasmus+; verschiedene Möglichkeiten zum Aufbau einer konkreten Zusammenarbeit und Partnerschaft zwischen den Kulturinstitutionen der EU und den Akteuren der in diesem Bereich tätigen Organisationen der Zivilgesellschaft aus der EU und aus Drittstaaten; Verstärkung der Zusammenarbeit mit den unterschiedlichen regionalen und internationalen Einrichtungen, um die Kultur zu einer wichtigen Stütze dieser Synergien zu machen.

Insbesondere sollten folgende Dimensionen stärker mit dem Bereich kulturelle Beziehungen verknüpft werden:

kulturelle Beziehungen und nachhaltige Entwicklung;

kulturelle Beziehungen und Kreislaufwirtschaft;

kulturelle Beziehungen und digitaler Wandel;

kulturelle Beziehungen, Frieden und Stabilität;

kulturelle Beziehungen und Förderung der Grundrechte und der Meinungsfreiheit;

kulturelle Beziehungen und Minderheiten, Schutz und Förderung von Minderheitenkulturen und -sprachen;

kulturelle Beziehungen und Förderung der Gleichstellung der Geschlechter.

3.9.

Dieser Plan sollte wie jetzt üblich unter Beteiligung möglichst vieler Interessenträger ausgearbeitet werden und den gleichen Stellenwert und dieselbe Relevanz erhalten wie viele andere neuere Pläne auch. Dabei ist es jedoch notwendig, von Anfang an ein Paket konkreter Maßnahmen einzuleiten, um dem Mandat des Rates und den zahlreichen oben genannten Empfehlungen und Vorschlägen der anderen Organe endlich Substanz zu verleihen und diesen Prozess mit Nachdruck voran zu bringen. Nachstehend seien nur einige Beispiel für diese Maßnahmen genannt:

3.9.1.

Das Kulturerbe in Natur-, Krisen- und Konfliktgebieten muss aufbauend auf den bestehenden GSVP-Missionen in Afghanistan, der Ukraine, Georgien, Kosovo, Libyen, den Palästinensischen Gebieten (Ramallah und Rafah), Niger, Mali und am Horn von Afrika (Somalia und Somaliland) sowie erforderlichenfalls durch Anpassung der Mandate geschützt, restauriert und wiederaufgebaut werden. Zu diesem Zweck muss in den Dialog zwischen verschiedenen Gemeinschaften, Volksgruppen und gegebenenfalls Religionen investiert werden, und der Wiederaufbau und die Erhaltung des Kulturerbes müssen als Instrumente für die Rekonstruktion des kollektiven Gedächtnisses und die Versöhnung genutzt werden, aber auch als Möglichkeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen sowie nachhaltigen Wirtschaftstätigkeiten und Tourismusaktivitäten. Außerdem müssen die Kapazitäten vor Ort und die erforderlichen Bildungsmaßnahmen ausgebaut werden, und im Hinblick auf die Entwicklung präventiver Maßnahmen muss stärker auf die satellitengestützte Kartierung und digitale Bildauswertung gesetzt werden.

3.9.2.

Der illegale Handel mit Kulturgütern, der auch zur Finanzierung des internationalen Terrorismus genutzt wird und in Konfliktgebieten von großer Bedeutung ist, muss in Abstimmung mit Europol und Interpol stärker bekämpft werden. Zudem muss die Schulung der Grenzpolizei verstärkt werden.

3.9.3.

Es sollte ferner eine gezielte Maßnahme für die Kreativwirtschaft konzipiert werden, insbesondere in Bezug auf die zeitgenössische Kunst und neue Technologien, mit besonderem Schwerpunkt auf den jungen Generationen. Dieser Bereich, in dem bereits wichtige Initiativen in Zusammenarbeit mit der WTO durchgeführt wurden, ist sicherlich einer der vielversprechendsten Wege für die Gewährleistung einer nachhaltigen Entwicklung, und seine Relevanz wurde insbesondere im Rahmen des neuen Partnerschaftsabkommens mit den AKP-Staaten bereits anerkannt. Die geplante Errichtung einer AKP-Kulturstiftung und der Vorschlag für ein erstes Treffen der Kulturminister AKP-EU bieten einen überaus interessanten politischen Rahmen, dem die ihm gebührende Priorität eingeräumt werden muss. In diesem Sinne sei auch auf das Kreativforum 2021 in Ljubljana (14) hingewiesen, bei dem kreative Unternehmen aus dem gesamten Mittelmeerraum zusammenkamen, um einen Beitrag zum ökologischen Wandel, zur sozialen Innovation und zum Wirtschaftswachstum zu leisten.

3.9.4.

Es bedarf einer systematischen Kartierung der Vielfalt und des Reichtums an bereits bestehenden Initiativen auf allen Ebenen, auch durch Einrichtung einer interaktiven Website, die einen Austausch bewährter Verfahren und die Schaffung neuer Synergien zwischen den Akteuren auf den verschiedenen Ebenen und über Grenzen hinweg ermöglicht. Ziel ist die Schaffung einer EU-Plattform für internationale Kulturbeziehungen nach dem Vorbild bereits bestehender erfolgreicher Initiativen aus anderen Bereichen (z. B. der Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft oder des Festivals Neues Europäisches Bauhaus usw.). In diesem Bereich kann der EWSA in Zusammenarbeit mit den einschlägigen großen europäischen Kulturorganisationen sicherlich als wertvolles und stabiles institutionelles Forum fungieren.

3.9.5.

Darüber hinaus sollten in einigen spezifischen Gebieten Pilotprojekte aufgelegt werden, die an die für diese Gebiete bereits ermittelten politischen Prioritäten anknüpfen. Hier einige Beispiele, bei denen die EU durch koordiniertes Handeln etwas bewirken kann:

3.9.5.1.

Der Westbalkan ist — auch im Hinblick auf seine künftige Integration in die EU — ein Gebiet, in dem die kulturelle Dimension stark ausgebaut werden sollte. Dazu könnte beispielsweise der Aufbau eines regionalen Netzes der zivilgesellschaftlichen Organisationen aus allen westlichen Balkanstaaten unterstützt werden, die sich für die Erhaltung des kulturellen und des natürlichen Erbes als gemeinsames Erbe einsetzen. In diesem Sinne sollte dem Thema kulturelles und religiöses Erbe aufgrund seiner enormen Bedeutung für die Identität der verschiedenen Gemeinschaften bei den Gesprächen zwischen Belgrad und Pristina über die Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo eine sehr viel höhere Priorität eingeräumt werden. Unterstützt werden sollten auch regionale Kooperationsprojekte unter Beteiligung von Historikern und Kunsthistorikern aus ganz Südosteuropa, um der zunehmenden Tendenz hin zu Geschichtsrevisionismus bzw. -umschreibung entgegenzuwirken, durch die die (vielfältigen) Identitäten historischer Denkmäler und Kulturerbestätten verzerrt dargestellt werden. Dazu müssen auch die Kapazitäten der Organisationen der Zivilgesellschaft und der Institutionen vor Ort aufgebaut werden, z. B. im Rahmen von Twinning-Programmen mit Museen, Stiftungen und anderen Einrichtungen in den EU-Mitgliedstaaten. Außerdem könnte nach dem Vorbild des bestehenden Programms „ILUCIDARE Champions Program“ ein Programm „EU-Westbalkan Heritage Champions“ aufgelegt werden, das Fachleuten aus dem Bereich Kulturerbe aus der EU und dem Westbalkan Gelegenheit zum Austausch von Erfahrungen und bewährten Vorgehensweisen bietet. Schließlich könnte das Programm „Europäisches Solidaritätskorps“ genutzt werden, um junge Menschen zu ermuntern, sich tatkräftig an der Restaurierung von Kulturerbestätten zu beteiligen. Darüber hinaus könnte ein spezifisches Programm für die Freiwilligentätigkeit im Bereich des Kulturerbes auf regionaler Ebene, das sowohl Unionsbürgerinnen und -bürgern auch Drittstaatsangehörigen offensteht, erheblich zum Wiedererstarken einer solidarischen Geisteshaltung in der Region beizutragen.

3.9.5.2.

Der Mittelmeerraum und der Nahe Osten Der Mittelmeerraum und der Nahe Osten sind sicherlich vorrangige Gebiete, in denen es jedoch viele Konfliktsituationen gibt. Dort mangelt es nicht an vielfältigen Kulturerbestätten von unschätzbarem Wert, die eine wichtige Rolle bei der Förderung der Aussöhnung, des Friedens, des Wiederaufbaus und auch der nachhaltigen Entwicklung sowie bei der Verhinderung neuer Krisen spielen können, indem erneut auf das wertvolle Kapital zurückgegriffen wird, das den lokalen Gemeinwesen und ihren Traditionen innewohnt. Ganz ohne Zweifel sollte das zuvor von der GD DEVCO im Gebiet Mossul geförderte Projekt wiederaufgenommen und ausgebaut werden, um die schwer beschädigten Identitäten und das Kulturerbe, das droht, in alle Winde zerstreut zu werden, durch die Schulung von lokalen Akteuren aus dem Kulturbereich und vor Ort ansässigen Fachkräfte sowie durch die Entwicklung entsprechender Wirtschaftstätigkeiten wiederherzustellen. Vergleichbare Maßnahmen sollten auch in Syrien ergriffen werden, um Palmira wiederaufzubauen . Desgleichen darf vor dem Hintergrund der komplexen Gemengelage in Libyen der enorme Wert des kulturellen Erbes dieses Landes nicht unterschätzt werden. In Bezug auf die Stätten von Sabrata, Leptis Magna, Kyrene, Apollonia und Ghadames besteht schon seit Beginn des Konflikts vor vielen Jahren ein erhebliches Risiko, dass zahlreiche Vermögenswerte von unschätzbarem Wert über die Netze des illegalen Handels anderswohin verbracht werden.

Seit 2015 fördert die Union für den Mittelmeerraum ein unabhängiges Netz von Experten für den Klimawandel im Mittelmeerraum  (15), das wichtige Schlussfolgerungen angenommen hat, etwa den Aktionsplan für Stadtentwicklung bis 2040  (16). Ein spezifisches Projekt mit der Union für den Mittelmeerraum für eine gemeinsame Strategie zur Sicherung der verschiedenen materiellen Kulturerbestätten wäre von hohem politischem Wert, denn so könnten auch alle damit verbundenen Tourismus- und Wirtschaftstätigkeiten erhalten werden.

Wichtigstes Referenzdokument ist derzeit die Abschlusserklärung der Konferenz der Kulturminister des Mittelmeerraums, die am 16./17. Juni 2022 in Neapel stattfand und zum Ziel hatte, gemeinsame Strategien und Maßnahmen zum Schutz und zur Stärkung der Kultur als Gemeingut der Region zu entwickeln und einen „Neapel-Prozess“ für die kulturelle Zusammenarbeit im Mittelmeerraum einzuleiten (17).

3.9.5.3.

Welch große Bedeutung der Kultur auf dem afrikanischen Kontinent zukommt, ist allgemein bekannt. Dennoch wird ihre Rolle sowohl in den politischen Beziehungen als auch in Bezug auf konkrete Projekte und Investitionen häufig vernachlässigt. Dabei mangelt es nicht an Beispielen für bewährte Verfahren, und in den AKP-Ländern wird dem Thema immer höhere Priorität beigemessen. Zudem schlummert hier durchaus Potenzial für die Beziehungen zur Afrikanischen Union. Eines der Leuchtturm-Projekt ist zweifellos das auf Initiative des ersten senegalesischen Präsidenten Léopold Sédar Senghor errichtete und Ende 2018 eröffnete „Musée des civilisations noires“ in Dakar, das als wichtigstes Zentrum für den kulturellen Austausch auf dem gesamten Kontinent im Hinblick auf eine Afrikanische Renaissance gilt. Darüber hinaus birgt die Region Tigray, in der es gerade zu brutalsten Konflikten und schwersten humanitären Notlagen kommt, als die Wiege der koptischen Religion mit ihren bedeutenden Klöstern und Kirchen ein umfangreiches Kulturerbe.

Afrika ist aber auch der Kontinent mit den weltweit meisten Flüchtlingen und Binnenvertriebenen. Es muss in die Kultur dieser großen Bevölkerungsgruppen investiert werden, u. a. um ihre Traditionen erhalten und sie zur Grundlage für einen Neubeginn und Wiederaufbau machen zu können. Ein ähnlich gelagertes Thema ist die kulturelle Dimension der Beziehungen zu den betreffenden Diasporagemeinschaften, die zahlreich sind und Triebfedern der Entwicklung sein können.

Schließlich kommt es in Afrika zur Zeit insbesondere auf der Ebene des Handwerks und der KMU zu einem regelrechten Boom der Modeindustrie, die somit nicht nur ein Motor für wirtschaftliches Wohlergehen und Beschäftigung ist, sondern auch identitätsstiftend wirkt und die Menschen Stolz für die Kreativität ihres Kontinents empfinden lässt. Spezifische Projekte sowohl in den Bereichen Bildung als auch Partnerschaften zwischen Wirtschaftsakteuren beider Kontinente müssen erheblich gestärkt werden.

3.9.5.4.

Angesichts der bereits klar ersichtlichen massiven Zerstörung des kulturellen Erbes in vielen Teilen der Ukraine sollte für das Land eine eigene Initiative aufgelegt werden. Europäische Museen könnten die Mittelbeschaffung zur Unterstützung des ukrainischen Kulturerbes organisieren, und die Mitgliedstaaten könnten öffentlich-private Partnerschaften fördern, um Restaurierungsprojekte zu finanzieren. Das Pilotprojekt des EP European Spaces of Culture könnte schwerpunktmäßig auf die Ukraine ausgerichtet werden, wobei in Kiew ein Europäisches Kulturhaus in Form einer Bibliothek oder einer anderen kulturellen Einrichtung durch die EUNIC in Zusammenarbeit mit dem EAD geschaffen werden könnte.

3.9.5.5.

Ferner sollten spezifische Maßnahmen ergriffen werden, damit der Westen der russischen und belarussischen Bevölkerung und dem russischen Kulturbetrieb eine positive Botschaft des Friedens und Respekts übermitteln und so Putins Propaganda entkräften kann.

3.9.6.

Diese Initiative sollte mit dem Europarat abgestimmt werden, der bereits europaweit kulturpolitische Maßnahmen umsetzt, z. B. das Programm „Kulturerbe-Routen“ in Verbindung mit der Unesco, der ICCROM (Internationale Studienzentrale für die Erhaltung und Restaurierung von Kulturgut) und dem ICOM (Internationaler Museumsrat). Dies dient der Stärkung der multilateralen Zusammenarbeit im Hinblick auf die Unesco-Weltkonferenz über Kulturpolitik und nachhaltige Entwicklung (MONDIACULT 2022), die vom 28. bis 30. September 2022 in Mexiko stattfinden soll.

3.9.7.

Im Hinblick auf den Wiederaufbau zerstörter und ausgeraubter Kulturen sollten Leitlinien für eine Strategie für die Rückgabe geraubter Kunstwerke und den Aufbau von Kapazitäten für Länder und Museen erarbeitet werden, in denen diese Werke untergebracht sind. Die Rückgabe erweist sich im Falle von Altertümern, die von besonderer Bedeutung für die Menschheit sind und aus dem Hoheitsgebiet eines Staates dergestalt entfernt wurden, dass das Denkmal oder das weitere archäologische Umfeld beeinträchtigt ist, als umso erforderlicher sowohl aufgrund der Grundprinzipien des Kulturerberechts als auch aufgrund der Notwendigkeit, die Integrität des Denkmals in seinem historischen, kulturellen und natürlichen Kontext wiederherzustellen. Dieser Grundsatz kommt auch im Unesco-Übereinkommen über Kulturgut von 1970 zum Ausdruck, das die internationale Rückgabe im Zuge der Bekämpfung archäologischer Plünderungen, des illegalen Handels mit Antiquitäten und des Schmuggels von Kunstschätzen erleichtert. Beispiele hierfür sind die Grabstätten indigener Völker in Amerika, die Benin-Bronzen, die Statue von Meister Zhang Gong und die Parthenon-Skulpturen.

3.9.8.

Des Weiteren muss der Ausbau der Kapazitäten der in den einzelnen Ländern im Kultursektor und in den internationalen Kulturbeziehungen tätigen Organisationen der Zivilgesellschaft intensiviert und so die Entwicklung von unabhängigen sowie insbesondere von Basisorganisationen gefördert werden.

3.10.

Ein solches Unterfangen kann nur dann zum Erfolg geführt werden, wenn innerhalb des EAD eigens dafür eine leistungsstarke Struktur geschaffen wird, die mit anderen einschlägigen Generaldirektionen der Kommission vernetzt ist. An der Spitze dieser Struktur sollte ein „EU-Sonderbeauftragter für kulturelle Beziehungen“ stehen, der die Erarbeitung einer anerkannten und starken politischen Gesamtstrategie ebenso wie die Vernetzung und die umfassende Steuerung des vorgenannten Aktionsplans vorantreibt.

Diese Struktur muss mit den für die Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Mitteln ausgestattet werden.

Darüber hinaus sollte ein Netz von Anlaufstellen für Kultur eingerichtet werden, die in den einzelnen EU-Delegationen angesiedelt wären und den jeweiligen politischen Prioritäten Rechnung trügen, sich dabei aber stets klar erkennbar auf das gemeinsame Ziel eines Europas stützen sollten, das für den Frieden eintritt. Den EU-Delegationen sollten in diesem Fall spezifische Mittel für kulturelle Maßnahmen vor Ort zugewiesen werden.

3.11.

Um die kulturelle Dimension in den internationalen Beziehungen der EU mit dem anstehenden Übergang zu einer digitalen und nachhaltigen Wirtschaft zu verknüpfen, müssen schließlich eindeutige Qualitätsgrundsätze für alle Investitionen festgelegt werden, die in Kulturmaßnahmen in den Partnerländern getätigt werden. So müssen bei Investitionen in materielle Vermögenswerte etwa die Grundsätze des neuen Europäischen Bauhauses (Nachhaltigkeit, Ästhetik, Inklusion) sowie des Qualitätssystems Davos Baukultur berücksichtigt werden.

Brüssel, den 27. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  KOM(2007) 242 endgültig.

(2)  Engaging the World: Towards Global Cultural Citizenship (europa.eu).

(3)  JOIN/2016/029 final.

(4)  Cultural Relations Platform (cultureinexternalrelations.eu).

(5)  Künftige Strategie der EU für internationale Kulturbeziehungen (ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 120).

(6)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 5. Juli 2017 zu der künftigen Strategie der EU für internationale Kulturbeziehungen (2016/2240(INI)) (ABl. C 334 vom 19.9.2018, S. 112).

(7)  Stellungnahme des Europäischen Ausschusses der Regionen — Künftige Strategie der EU für internationale Kulturbeziehungen (ABl. C 207 vom 30.6.2017, S. 95).

(8)  Towards a multi-level strategy for EU external cultural relations — erhältlich beim Amt für Veröffentlichungen der EU (op.europa.eu).

(9)  Schlussfolgerungen des Rates zu einer Strategie der EU für die internationalen Kulturbeziehungen und einem Aktionsrahmen vom Juni 2019 (ABl. C 192 vom 7.6.2019, S. 6).

(10)  Entschließung des Rates zur kulturellen Dimension der nachhaltigen Entwicklung (ABl. C 410 vom 6.12.2019, S. 1).

(11)  Schlussfolgerungen des Rates zum Risikomanagement im Bereich des Kulturerbes (ABl. C 186 vom 5.6.2020, S. 1).

(12)  Schlussfolgerungen des Rates zum Ansatz der EU für das Kulturerbe in Konflikten und Krisen (21.6.2021).

(13)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen, European Framework of Action for Cultural Heritage (SWD(2018) 491 final vom 5.12.2018), S. 29.

(14)  Future Unlocked! — Cultural and Creative Sectors as Agents of Change (creativeforum.si).

(15)  https://www.medecc.org/.

(16)  Towards a new UfM Strategic Urban Development Action Plan 2040 — Union for the Mediterranean — UfM (ufmsecretariat.org).

(17)  https://cultura.gov.it/medculture.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/130


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Multilateraler Gerichtshof für Investor-Staat-Schiedsverfahren — Bewertung des UNCITRAL-Prozesses und dessen Ergebnisse vor dem Hintergrund der Empfehlungen der Zivilgesellschaft“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/18)

Berichterstatter:

Christophe QUAREZ

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

14.9.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

176/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Ein wirksames und funktionierendes internationales Investitionsschutzsystem mit Streitbeilegung ist auch ein Anliegen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA). Der Ausschuss teilt allerdings die Kritik an der in Handels- und Investitionsabkommen vorgesehenen Investor-Staat-Streitbeilegung (ISDS). Diese Kritik der Zivilgesellschaft bezieht sich im Wesentlichen auf Fragen der Legitimität, der Kohärenz und der Transparenz dieses Schiedssystems.

1.2.

Der EWSA nimmt das Verhandlungsmandat der Europäischen Kommission zur Teilnahme an den unter der Federführung der Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht (UNCITRAL) geführten Verhandlungen über die mögliche Einrichtung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs (MIC) zur Kenntnis. Er bedauert jedoch, dass sich die laufenden Verhandlungen mehr mit Verfahrensfragen befassen als mit den Kernproblemen.

1.3.

Seitdem dieser erste multilaterale Prozess zur Reform der ISDS vor nunmehr fünf Jahre aufgenommen wurde, hat es wenige wesentliche Fortschritte gegeben, abgesehen von einem Verhaltenskodex für die Richter am Schiedsgericht, dessen Einzelheiten noch genauer festzulegen sind. In den Diskussionsrunden zur strukturellen Reform des ISDS-Systems, in denen die vorgeschlagene Einrichtung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs eine zentrale Rolle spielt, gestaltet sich die Suche nach einer gemeinsamen, von allen UNCITRAL-Mitgliedstaaten mitgetragenen Lösung schwierig.

1.4.

Tatsächlich ist eine materiellrechtliche Überarbeitung des Systems aufgrund des fehlenden Konsenses der Mitgliedstaaten in den einschlägigen internationalen Organisationen derzeit nicht vorgesehen. Der EWSA fordert die Europäische Kommission daher auf, die Reform der materiellrechtlichen Fragen zusammen mit den Verfahrensregeln weiterzuverfolgen. Es sollten nicht zu vage oder zu breit gefasste materiellrechtliche Bestimmungen über eine faire und gerechte Behandlung (FET) diskutiert werden, sondern diese sollten sich auf die Fragen der Nichtdiskriminierung und direkten Enteignung als wesentliche Elemente des Investitionsschutzes beschränken.

1.5.

Darüber hinaus ruft der EWSA dazu auf, über einige stärker bereichsübergreifende Fragen weiterzuverhandeln, darunter über die abschreckende oder lähmende Wirkung der ISDS auf die Rechtsetzung, die Ausschöpfung lokaler Rechtsbehelfe und die Beteiligung Dritter, wie z. B. lokaler Gemeinschaften, die von Investitionen betroffen sind. Der Prozess muss zu tatsächlichen Ergebnissen führen, die etwas bewirken. Er darf nicht damit enden, dass kleinere Verbesserungen am derzeitigen ISDS-Schiedssystem als Erfolg gefeiert werden.

1.6.

Der EWSA stellt fest, dass die Reform der Verfahrensregeln (insbesondere hinsichtlich der Transparenz, der berufsethischen Regeln, des Zugangs zu und der Kosten der Schiedsverfahren) nichtsdestotrotz den Weg für Gespräche über die Reform der materiellrechtlichen Vorschriften ebnet.

1.7.

Der EWSA spricht sich dafür aus, in einem Amicus-Curiae-Modell (1) die Möglichkeit einer Beteiligung Dritter für alle Interessenträger (z. B. Anwohner, Arbeitnehmer, Gewerkschaften, Umweltgruppen oder Verbraucher) vorzusehen und sicherzustellen, dass deren Anliegen von den Richtern auch gebührend berücksichtigt werden.

1.8.

Der EWSA begrüßt die Arbeiten der OECD, die zum Ziel haben, die Herausforderungen der nachhaltigen Entwicklung in den Investitionsabkommen zu berücksichtigen. Allerdings fordert er die OECD dazu auf, ihre Arbeiten zu ergänzen und ebenso die sozialen Herausforderungen und insbesondere die Sorgfaltspflicht zu einem Kriterium zu machen, das von ausländischen Investoren erfüllt werden muss.

1.9.

Der EWSA hat stets geltend gemacht und insbesondere in der Stellungnahme REX/501 zu einem multilateralen Investitionsgerichtshof (2) darauf hingewiesen, dass der multilaterale Investitionsgerichtshof in keiner Weise die Fähigkeit der EU und der Mitgliedstaaten beeinträchtigen darf, ihren Verpflichtungen im Rahmen internationaler Abkommen über Umwelt, Menschenrechte und Arbeitnehmerrechte sowie des Verbraucherschutzes nachzukommen. Zudem müssen Verfahrensgarantien gegen Klagen vorgesehen werden, die nationale Rechtsvorschriften von allgemeinem Interesse ins Visier nehmen. Nach Ansicht des EWSA wäre dieses Ziel durch die Aufnahme einer Klausel über die Normenhierarchie (3) und eines Gemeinwohlvorbehalts erreicht.

1.10.

Die Arbeiten der UNCITRAL-Arbeitsgruppe III konzentrieren sich zwar auf Verfahrenselemente, doch könnte dies nach Einschätzung des EWSA künftig positive Auswirkungen in Bezug auf eine eindeutigere und gefestigtere Rechtsprechung haben und zudem eine Reform des materiellen Rechts für Investitionsabkommen erleichtern.

1.11.

Der EWSA unterstreicht, dass Privatpersonen nach dem internationalen Gewohnheitsrecht und den internationalen Menschenrechten ihre Schadenersatzansprüche zunächst vor nationalen Gerichten geltend machen müssen, bevor sie internationale Verfahren gegen einen Staat anstrengen können. Er bedauert hingegen, dass im internationalen Investitionsrecht die Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs in der Regel nicht gefordert wird. Der EWSA stellt fest, dass dieses System KMU aufgrund ihrer begrenzten finanziellen Mittel benachteiligt. Daher fordert der EWSA die Kommission auf, im Rahmen des UNCITRAL-Prozesses die Frage nach der Ausschöpfung lokaler Rechtsmittel vor einer Anrufung internationaler Gerichte zu prüfen. ISDS sollte als außerordentliche Abhilfemaßnahme anerkannt werden.

1.12.

Der EWSA erinnert die Kommission an seine Forderung nach einer engeren Einbindung des Ausschusses in die Arbeiten bezüglich der UNCITRAL.

1.13.

Der EWSA weist erneut darauf hin, dass für Kohärenz zwischen den ehrgeizigen Nachhaltigkeitszielen der EU und dem Rahmen für die Reform des ISDS-Modells gesorgt werden muss. Schlecht konzipierte Abkommen können den Fortschritt beeinträchtigen, während sorgfältig ausgearbeitete Investitionsabkommen den Unternehmen helfen können, die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen. Es muss ein neues Governancemodell für internationale Investitionen entwickelt werden, mit dem die erhebliche Diskrepanz zwischen dem Investitionssystem einerseits und den Menschen- und Arbeitnehmerrechten und Umweltbelangen anderseits geschlossen wird.

2.   Einleitung

2.1.

Die Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten (ISDS) ist ein in vielen Freihandelsabkommen und internationalen Investitionsabkommen vorgesehenes Instrument, durch das Streitigkeiten bei der Anwendung der Investitionsschutzabkommen beigelegt werden können.

2.2.

Es handelt sich um einen Rechtsbehelf vor einem privaten Schiedsgericht, der von einem ausländischen Investor aus einem Vertragsstaat gegen einen Staat eingelegt wird, der die Bestimmungen des betreffenden Abkommens nicht einhält.

2.3.

Dabei wird ein Richter des Schiedsgerichts vom Unternehmen benannt, der zweite vom Staat und der dritte vom Generalsekretär des Ständigen Schiedshofs.

2.4.

Der EWSA hat sich bereits mehrfach mit Problemen im Zusammenhang mit der ISDS beschäftigt (4). Das Ziel dieser Stellungnahme ist daher nicht die Analyse sämtlicher Schwachstellen und Probleme in Bezug auf das ISDS-Schiedsverfahren, sondern es geht darum, den Reform- und Modernisierungsprozess dieser Methode der Streitbeilegung, über den in der UNCITRAL beraten wird und in dem die Kommission eine zentrale Rolle spielt, zu untersuchen und einen Standpunkt dazu zu formulieren.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Das Modell der ISDS wurde in den letzten Jahren vielfach kritisiert, wobei immer stärker auf eine Neufassung der Investitionsabkommen gedrungen wird. Die Kritik bezieht sich darauf, dass das Recht der Staaten, Gesetze zu erlassen, und die demokratische Legitimität in Frage gestellt werden und dass europäische Rechtsvorschriften (in Bezug auf Gesundheitsschutz, Pflanzenschutz, Gesellschaft oder Umwelt) verletzt werden. Sie bezieht sich zudem auf die Neutralität und Unabhängigkeit der Richter an den Schiedsgerichten.

3.2.

Die am häufigsten ermittelten Probleme betreffen den Mangel an Transparenz in den Investitionsstreitigkeiten, den Mangel an Kohärenz und an Vorhersehbarkeit der Schiedssprüche, die Rolle und die Unabhängigkeit der Richter am Schiedsgericht, die Zweifel an deren Legitimität und die abschreckende Wirkung der Urteile auf die Regelungsbefugnisse des Staates. Die abschreckende Wirkung bezieht sich insbesondere auf die Tatsache, dass Staaten davon abgehalten werden könnten, bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Rechtsvorschriften zu erlassen, aus Furcht, aufgrund eines Investitionsabkommens im Streitfall in Haftung genommen zu werden und größere Summen an ausländische Investoren zahlen zu müssen, was zulasten ihrer Bürger und Steuerzahler ginge.

3.3.

Die Kritik bezieht sich oft auch auf die Klauseln der ISDS, die vage und zu breite Konzepte enthalten, darunter die „gerechte und billige Behandlung“ und die „indirekten Enteignung“, die zu Rechtsunsicherheit und zu Missbrauch führen könnten.

3.4.

Der Grundsatz, keine Berufung, Nichtigkeitsklage oder Revision zuzulassen, sofern nichts anderes vereinbart wurde, beeinträchtigt das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Die Schwachstellen dieser klassischen ISDS wurden in den letzten Jahren von Investoren ausgenutzt. Dies hatte eine beispiellose Zunahme der Investor-Staat-Streitigkeiten und einem deutlichen Anstieg der von Investoren eingeklagten Beträge sowie höhere Verfahrenskosten zur Folge.

3.5.

Angesichts der Tatsache, dass die aktuellen Herausforderungen, wie der Klimawandel, der einen gerechten Wandel für die Arbeitnehmer hin zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft erforderlich macht, COVID-19, der digitale Wandel und die Umsetzung der Ziele für die nachhaltige Entwicklung, darunter auch das Konzept der menschenwürdigen Arbeit, nicht ohne internationale und nationale Investitionen angegangen werden können, bedarf es einer grundlegenden Überarbeitung der Streitbeilegungsverfahren zwischen Investoren und den Staaten.

3.6.

Der EWSA weist erneut darauf hin, dass es ein wirksames und funktionierendes internationales Investitionsschutzsystem mit Streitbeilegung geben muss und zugleich für Kohärenz zwischen den ehrgeizigen Nachhaltigkeitszielen der EU und der Reform des ISDS-Modells gesorgt werden muss. Schlecht konzipierte Abkommen können den Fortschritt beeinträchtigen, während sorgfältig ausgearbeitete Investitionsabkommen den Unternehmen helfen können, die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen.

4.   Grundfragen der Debatte in der Europäischen Union

4.1.

Die Kritik am ISDS-Modell hat die Kommission dazu veranlasst, selbiges 2015 durch die Schaffung einer dauerhaften Stelle zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zu ersetzen und diese so zu gestalten, dass den oben genannten Bedenken Rechnung getragen wird.

4.2.

Dabei gilt es klarzustellen, dass die Kommission mit der Schaffung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs lediglich das Ziel verfolgt, Verfahrensfragen im Zusammenhang mit der Streitbeilegung zu klären, jedoch nicht vollumfassend auf die grundsätzliche Kritik an der Investor-Staat-Streitbeilegung (ISDS) eingeht.

4.3.

Der aktuelle Reformansatz sieht vor, dass inhaltliche Fragen, z. B. zum anwendbaren materiellen Recht oder zu den Auslegungsvorschriften, einschließlich der Wahrung der Kohärenz mit anderen internationalen Verpflichtungen (z. B. im Zusammenhang mit den Übereinkommen der IAO und der Vereinten Nationen), ausschließlich im Rahmen der zugrunde liegenden Investitionsschutzabkommen behandelt werden können, die in die Zuständigkeit des multilateralen Investitionsgerichtshofs fallen.

4.4.

Der EWSA äußert daher die Befürchtung, dass ein neues System zur Streitbeilegung, sofern ein solches auf multilateraler Ebene gefunden wird, nicht das grundlegende Problem der bilateralen Investitionsschutzabkommen lösen würde, da diese vage oder zu breite Bestimmungen enthalten, die für Missbrauch anfällig sind (wie die oben erwähnten Bestimmungen zur „gerechten und billigen Behandlung“ oder indirekten Enteignung). Der EWSA spricht sich daher dafür aus, die Bestimmungen über eine faire und gerechte Behandlung (FET) ausschließlich auf Nichtdiskriminierung und direkte Enteignung zu beschränken. Er fordert die Europäische Kommission auf, nicht nur verfahrenstechnische Aspekte zu berücksichtigen, sondern auch diese Fragen des anwendbaren materiellen Rechts anzugehen.

4.5.

Die Einzelheiten der Funktionsweise des multilateralen Investitionsgerichtshofs (wie seine Zusammensetzung, die Haushaltsmittel, die Möglichkeit der Unterstützung durch ein Sekretariat usw.) werden vom Ergebnis der bevorstehenden Verhandlungen zwischen den Ländern abhängen, die sich dem geplanten neuen System anschließen.

5.   Ein Ansatz im Einklang mit den Zielen der nachhaltigen Entwicklung und der sozialen Gerechtigkeit

5.1.

Die Öffentlichkeit und sogar die Fachwelt nehmen derzeit eine große Diskrepanz zwischen dem rechtsverbindlichen Schutz von Investitionen mithilfe verbindlicher Rechtsinstrumente zur Durchsetzung einerseits und dem Schutz der Menschen-, Sozial-, Umwelt- und Gesundheitsrechte andererseits wahr. Der Schutz letzterer erfolgt nämlich auf internationaler Ebene nur durch teilweise verbindliche Regeln ohne Durchsetzungsinstrumente oder sogar nur durch freiwillige Systeme. Zuweilen ist auch ein verbindlicher Schutz vorgesehen, doch fehlen die entsprechenden Instrumente zu seiner Durchsetzung.

5.2.

Bei der Debatte über die Reform des ISDS-Systems muss auch dem neuen Ansatz der Europäischen Kommission in Bezug auf die wirksame Umsetzung und Durchsetzung der Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung in den Freihandelsabkommen der EU Rechnung getragen werden, durch den der 15-Punkte-Aktionsplan vom Februar 2018 überarbeitet wird (5).

5.3.

Der EWSA begrüßt, dass die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Rahmen einer Initiative zur Zukunft der Investitionsschutzabkommen (6) untersucht, wie bei den künftigen Investitionsschutzabkommen die ermittelten Probleme bewältigt und Reformimpulse aufgenommen werden können. Im Mittelpunkt dieser Initiative steht die zentrale Herausforderung der Klimakrise. Der EWSA fordert jedoch die OECD auf, diese Arbeiten zu ergänzen und dazu die sozialen Herausforderungen zu berücksichtigen und insbesondere auch die Sorgfaltspflicht zu einem Kriterium für ausländische Investoren zu machen.

5.4.

Die Arbeiten der OECD umfasst wichtige Meilensteine wie eine Empfehlung des Rates zu Nachhaltigkeitskriterien für ausländische Direktinvestitionen (7), die von den OECD-Ministerinnen und -Ministern im Juni 2022 angenommen wurde. Es handelt sich um das erste multilaterale Instrument, das die politischen Entscheidungsträger dabei unterstützt, den positiven Beitrag internationaler Investitionen zu den Nachhaltigkeitszielen zu steigern. Ergänzt wird es durch das Toolkit für qualitative ADI (FDI Qualities Policy Toolkit) (8) und die Indikatoren für die Qualität ausländischer Direktinvestitionen (FDI Qualities Indicators 2022) (9).

5.5.

Der EWSA teilt die Ansicht des Ausschusses für internationalen Handel (INTA) (10) des Europäischen Parlaments, wonach die Investitionspolitik der Union den Erwartungen der Investoren und der Empfängerstaaten, aber auch den umfassenderen wirtschaftlichen Interessen der Union, ihren außenpolitischen Zielen und ihren Prioritäten, insbesondere im Bereich des Umweltschutzes, der Menschenrechte und der Grundrechte, entsprechen muss.

5.6.

Der EWSA betont, dass Privatpersonen nach dem internationalen Gewohnheitsrecht und den internationalen Menschenrechten ihre Schadenersatzansprüche zunächst vor nationalen Gerichten geltend machen müssen, bevor sie internationale Verfahren gegen einen Staat anstrengen können. Er bedauert hingegen, dass die Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs im internationalen Investitionsrecht in der Regel nicht gefordert wird, bevor ein internationales Verfahren eingeleitet wird.

5.7.

Daher fordert der EWSA die Kommission auf, die Frage der Ausschöpfung innerstaatlicher Rechtsmittel weiter zu prüfen.

6.   Die Rolle der Arbeitsgruppe III der Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht (UNCITRAL)

6.1.

Gestützt auf das ihr vom Rat erteilte Mandat hat die Kommission Verhandlungen mit Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen im Rahmen der UNCITRAL und insbesondere innerhalb der Arbeitsgruppe III aufgenommen.

6.2.

Der EWSA erinnert die Kommission an seine Forderung nach einer stärkeren Einbindung des Ausschusses in die Arbeiten der UNCITRAL.

6.3.

Die UNCITRAL hat ihrer Arbeitsgruppe III im November 2017 ein breites Mandat erteilt, eine mögliche Reform der Investor-Staat-Streitbeilegung zu erarbeiten. In der ersten Phase ihrer Beratungen ermittelte die Arbeitsgruppe III eine Reihe von Problemen.

Im Zusammenhang mit den Gesamtkosten und der Dauer der ISDS stellte die Arbeitsgruppe Folgendes fest (11):

Sie berücksichtigte Analysen, die auf den derzeit verfügbaren begrenzten Informationen beruhen, wonach 80-90 % der Kosten der ISDS-Verfahren auf die rechtliche Vertretung und Sachverständigenhonorare entfallen und sich die Kosten im Durchschnitt auf 8 Mio. USD pro Verfahren belaufen.

Besondere Aufmerksamkeit wurde der Tatsache zuteil, dass die hohen Kosten von öffentlich finanzierten ISDS-Verfahren für Entwicklungsländer mit begrenzten finanziellen Ressourcen schwer zu rechtfertigen sind.

Es wurde betont, dass die Dauer und die Kosten der Verfahren auch darauf zurückzuführen sind, dass das ISDS-System nicht dem Grundsatz der Bindung an Vorentscheidungen folgt, was die Vorhersehbarkeit beeinträchtigt.

Ferner wurde darauf hingewiesen, dass die hohen Verfahrenskosten dazu führen, dass kleine und mittlere Unternehmen in einigen Systemen nur eingeschränkten Zugang zum ISDS-Instrument haben, wodurch ihnen der Schutz, der ihnen im Rahmen der Investitionsschutzabkommen gewährt wird, verwehrt bleibt.

Es wurde jedoch auch festgestellt, dass zusätzliche Kosten in einigen Systemen auch durch missbräuchliche Verfahren, parallele Verfahren, das Fehlen klarer Verfahrensvorschriften und eines Mechanismus zur sehr raschen Ablehnung missbräuchlicher Klagen entstehen können.

Des Weiteren wurde darauf hingewiesen, dass der Anstieg der Kosten mit systemischen Problemen und der Struktur des ISDS-Systems oder gar dem Fehlen eines solchen Systems zusammenhängt. Sie fügte hinzu, dass der Mangel an Kohärenz und Vorhersehbarkeit der Ergebnisse auf diese Aspekte zurückzuführen seien, wovon insbesondere die beklagten Staaten betroffen seien.

Im Zusammenhang mit bestehenden materiellrechtlichen Bedenken muss es eine gebührende Berücksichtigung der Wechselwirkungen mit den zugrunde liegenden materiellrechtlichen Standards geben (12):

Alternativen zu Schiedsverfahren zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten sowie Methoden zur Vermeidung von Streitigkeiten,

Ausschöpfung lokaler Rechtsbehelfe,

Beteiligung von Dritter,

Widerklagen,

abschreckende Wirkung der ISDS auf die Rechtsetzung („regulatory chill“),

Berechnung des Schadensersatzes.

6.4.

Seitdem die Arbeitsgruppe III ihre Arbeit aufgenommen hat, hat sie sich mit zwei zentralen Bereichen befasst: Der eine umfasst mögliche Strukturreformen durch die Schaffung eines ständigen Gerichts und eines Berufungssystems, die Ernennung von Richtern und die Festlegung des Umfangs der Berufung. Zweitens hat sie sich parallel mit nicht-strukturellen, abgestuften Teilreformen beschäftigt, z. B. mit der Entwicklung eines Verhaltenskodex für Schiedsgerichte und Richter, um für mehr Transparenz zu sorgen und Interessenkonflikte zu vermeiden, mit einer Methodik zur Bewertung von Schadensersatz sowie mit Möglichkeiten zur Förderung der Mediation zwischen den Parteien. Bei der Strukturreform und Querschnittsfragen wurden jedoch keine größeren Fortschritte erzielt. Beispielsweise haben die Delegationen nach wie vor keine Einigung über die Zuständigkeit des ständigen Gerichtshofs, seine Zusammensetzung und das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder des Gerichtshofs erzielt.

6.5.

Die Europäische Kommission hat in die Debatte klare Regeln für ethisches Verhalten und Unparteilichkeit, einmalige Ernennungen, die Vollzeitbeschäftigung der Richter an den Schiedsgerichten und Mechanismen zur Ernennung unabhängiger Richter eingebracht. Der EWSA unterstützt diesen Standpunkt, da strenge Regeln erforderlich sind, um Interessenkonflikte zu vermeiden.

6.6.

Anfangs angesprochenen bereichsübergreifenden Fragen wurde weniger Beachtung geschenkt, so der abschreckenden Wirkung der ISDS auf die Rechtsetzung, der Ausschöpfung lokaler Rechtsbehelfe und der Möglichkeit der Beteiligung Dritter, z. B. von Investitionen betroffener lokaler Gemeinschaften. Dies hat aufseiten vieler zivilgesellschaftlicher Gruppen, die die Entwicklung beobachten, Enttäuschung hervorgerufen. Der EWSA fordert im Einklang mit früheren Empfehlungen (REX/501) die Kommission auf, dafür zu sorgen, dass diese grundlegenden Fragen weiterhin Gegenstand der Verhandlungen bleiben und zufriedenstellend gelöst werden.

6.7.

Er bedauert, dass die Protokolle und die Website der Arbeitsgruppe III schwer verständlich sind. Dies erschwert es den interessierten Parteien, sich angemessen über den Verlauf der Arbeiten zu informieren.

6.8.

Der EWSA stellt ferner fest, dass selbst wenn sich die Arbeiten der Arbeitsgruppe III auf Verfahrenselemente konzentrieren, dies künftig positive Auswirkungen haben kann, z. B. eine eindeutigere und gefestigtere Rechtsprechung, und dies zudem eine Reform des materiellen Rechts für Investitionsabkommen erleichtern wird. Damit ein multilateraler ISDS-Reformprozess wirklich etwas bewirken kann, hält es der EWSA allerdings für unerlässlich, dass im Zuge einer institutionellen Reform von Ad-hoc-Schiedsverfahren abgerückt wird. Es sollte ein umfassenderer Ansatz für die internationale Investitionspolitik gefunden werden, als einfach nur die ISDS-Schiedsverfahren durch ein Investor-Staat-Gericht zu ersetzen.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Im Rahmen eines Amicus-Curiae-Verfahrens (Amicus Curiae bedeutet „Freund des Gerichts“) wird eine Einrichtung oder Person bestimmt, die zwar nicht Streitpartei ist, dem Gericht jedoch juristische Argumente unterbreiten möchte. Die Zulassung eines Amicus Curiae ist an strenge Bedingungen gebunden, damit die Rechte aller Streitparteien während des Verfahrens ausgewogen gewahrt werden. Durch die Beteiligung der Amicus Curiae wird den Entscheidungen im Rahmen von Investitionsschiedsverfahren außerdem mehr Legitimität verliehen, https://www.iisd.org/itn/en/2019/04/23/protecting-social-rights-using-the-amicus-curiae-procedure-in-investment-arbitration-a-smokescreen-against-third-parties-maxime-somda/.

(2)  ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 145.

(3)  Wenn die Staaten, die an den Verhandlungen teilgenommen haben, eine Rangfolge der aufeinander folgenden Abkommen zu demselben Thema festlegen wollen, werden in den Schlussbestimmungen die Beziehungen zwischen dem neuen Abkommen und den bereits vorhandenen oder künftigen Abkommen zu demselben Thema geregelt.

(4)  ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 145, ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 30, ABl. C 332 vom 8.10.2015, S. 45.

(5)  Der EWSA hat sich mit diesem Aspekt in seiner Stellungnahme REX/535 „Die nächste Generation von Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung — Überprüfung des 15-Punkte-Aktionsplans“ beschäftigt (ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 40).

(6)  https://www.oecd.org/investment/investment-policy/investment-treaties.htm

(7)  https://legalinstruments.oecd.org/en/instruments/OECD-LEGAL-0476

(8)  https://www.oecd-ilibrary.org/finance-and-investment/fdi-qualities-policy-toolkit_7ba74100-en

(9)  https://read.oecd-ilibrary.org/view/?ref=1144_1144750-u5ks4jvtnl&title=FDI-Qualities-Indicators-2022

(10)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 23. Juni 2022 zur Zukunft der Auslandsinvestitionspolitik der EU (2021/2176(INI)).

(11)  Bericht der Arbeitsgruppe III (Reform zur Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten) über die Arbeiten ihrer 34. Sitzung (Wien, 27. November-1. Dezember 2017).

(12)  Bericht der Arbeitsgruppe III (Reform zur Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten) über die Arbeit ihrer 37. Sitzung (New York, 1.-5. April 2019).


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

573. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 26.10.2022-27.10.2022

28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/136


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen

(COM(2022) 650 final)

zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über ein einheitliches Verfahren zur Beantragung einer kombinierten Erlaubnis für Drittstaatsangehörige, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten und zu arbeiten, sowie über ein gemeinsames Bündel von Rechten für Drittstaatsarbeitnehmer, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten

(COM(2022) 655 final)

zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte aus Drittländern

(COM(2022) 657 final)

(2023/C 75/19)

Berichterstatter:

José Antonio MORENO DÍAZ

Ko-Berichterstatterin:

Milena ANGELOVA

Befassung

Europäische Kommission, 26.7.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

29.9.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

179/0/6

1.   Einleitung

1.1.

Im April 2022 legte die Europäische Kommission im Nachgang zu der Arbeitsagenda des neuen Migrations- und Asylpakets, das im September 2020 angenommen wurde, das Paket zu Kompetenzen und Talenten vor. Das neue Paket soll die reguläre Migration in die EU fördern und die Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte aus Drittländern dergestalt anregen, dass diese sowohl den Herkunfts- als auch den Zielländern zugutekommt. Die Überarbeitungen zielen auch darauf ab, ein effizienteres und kohärenteres System von Rechten und Beschäftigungsmöglichkeiten für in der EU ansässige Drittstaatsangehörige zu fördern und gleichzeitig die Attraktivität der EU als Ziel für qualifizierte Drittstaatsangehörige zu erhöhen.

1.2.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt dieses Paket, das auf einem konstruktiven und kohärenten Migrationsansatz beruht und der Notwendigkeit Rechnung trägt, die Instrumente der EU für die reguläre Migration zu verbessern. Da der grüne und der digitale Wandel allmählich Fahrt aufnehmen und in allen Wirtschaftszweigen ein Arbeits- und Fachkräftemangel offensichtlich wird, unterstreicht der EWSA den Beitrag, den die legale Migration zur Behebung des Arbeits- und Fachkräftemangels in den Bereichen leisten kann, in denen nachweislich Bedarf besteht.

1.3.

Der EWSA hat bereits zu bedenken gegeben, dass der Schwerpunkt des neuen Migrations- und Asylpakets auf Grenzmanagement und Migrationskontrolle liegt. Die Fortschritte bei der Steuerung der organisierten und regulären Einwanderung werden daher positiv bewertet.

1.4.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission anerkennt, dass Migrantinnen und Migranten schon jetzt eine entscheidende Rolle in der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft spielen, indem sie dazu beitragen, den Bedarf auf dem sich wandelnden Arbeitsmarkt zu decken und wo erforderlich den Arbeitskräftemangel und die Qualifikationslücken zu beheben. In dieser Hinsicht ist ein Perspektivwechsel mit einem normalisierenden und positiven Diskurs von großer Bedeutung.

1.5.

Der EWSA begrüßt deshalb, dass der Zustrom von qualifizierten Arbeitskräften aus Drittländern erleichtert wird, um diesen wachsenden Bedarf zu decken, insbesondere in Branchen mit einem strukturellen Fachkräftemangel.

1.6.

Der EWSA bestreitet nicht, dass ein wichtiger Zusammenhang zwischen der Ankunft von Arbeitnehmern aus Drittstaaten und den Erfordernissen der Arbeitsmärkte der Mitgliedstaaten besteht, doch sollte dieser Zusammenhang überprüft werden, um Unterbeschäftigung und schlechte Arbeitsbedingungen für neu angekommene Arbeitnehmer aus Drittstaaten zu verhindern.

1.7.

Der EWSA hält es zwar für notwendig, neue Wege zu beschreiten, um Fachkräfte für die EU anzuwerben, weist aber auch auf einen anders gelagerten Bedarf auf den Arbeitsmärkten der Mitgliedstaaten hin, der über die im vorgeschlagenen Paket vorgesehenen Maßnahmen hinaus spezifische Maßnahmen erfordert. Insbesondere ist es wichtig, die Bemühungen zur Unterstützung der Eingliederung von Arbeitslosen und Nichterwerbstätigen in den Arbeitsmarkt durch gezielte Unterstützungsmaßnahmen zu verstärken.

1.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission bei der Suche nach Wegen für die legale und organisierte Arbeitsmigration, die auch Menschen Rechnung tragen, die internationalen Schutz benötigen, ehrgeiziger vorgehen sollte.

1.9.

Der EWSA begrüßt die Mitteilung über die Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte aus Drittstaaten, die er als einen Fortschritt im Bereich der Arbeitsmigration ansieht, der angemessene, realistische und wirksame Instrumente in den neuen Kontexten erfordert.

1.10.

Der EWSA hält es für notwendig, Fortschritte beim Talentpool (1) zu erzielen, beginnend mit dem ersten Pilotprojekt bis zur Vollversion, die nächstes Jahr starten soll, und weist darauf hin, dass Erfolg und Reichweite des Talentpools davon abhängen werden, dass dieses Instrument durch eine angemessene Mittelausstattung zugänglich und einsatzbereit gemacht wird. Er begrüßt zudem die Fachkräftepartnerschaften und hält es für erforderlich, sie in Zusammenarbeit mit Drittländern zu entwickeln. Der EWSA ruft dazu auf, geeignete Bewertungsverfahren einzurichten, die für Sichtbarkeit und Transparenz bei der Einführung der Fachkräftepartnerschaften sorgen, und zwar nicht nur für die Instrumente selbst, sondern auch für die Ermittlung der Länder, mit denen zusammengearbeitet werden soll, einzurichten. Bei der außenpolitischen Dimension der Einwanderungs- und Asylpolitik der EU müssen Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte stets geachtet werden.

1.11.

In mehreren wichtigen Sektoren besteht ein hoher Frauenanteil. Allerdings haben es mobile weibliche Arbeitskräfte und Migrantinnen möglicherweise mit unsicheren Arbeitsplätzen und der Schattenwirtschaft zu tun; insbesondere aber sind sie häufig mit Diskriminierung, sozialer Ausgrenzung und fehlenden Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten sowie Missbrauch, Gewalt und Belästigung konfrontiert. Der EWSA ist der Auffassung, dass der Schutz der Rechte der Frau und die Geschlechterperspektive stärker berücksichtigt werden müssen.

1.12.

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagene Überarbeitung der Richtlinie über langfristig in der EU aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige. Der EWSA begrüßt, dass der Vorschlag den Prozess der Erlangung dieser Rechtsstellung durch die Akkumulierung von anspruchswirksamen Jahren aus Aufenthaltszeiten in verschiedenen Mitgliedstaaten erleichtert, die Mobilität innerhalb der EU fördert und darauf abzielt, den gleichberechtigten Zugang zum Sozialschutz auf Unionsbürger, die in einem anderen Mitgliedstaat langfristig aufenthaltsberechtigt sind, auszudehnen.

1.13.

Der EWSA begrüßt die Überarbeitung der Richtlinie über die kombinierte Erlaubnis, einschließlich des Ziels, das Antragsverfahren zu erleichtern und zu vereinfachen und sicherzustellen, dass die kombinierte Erlaubnis nicht an einen bestimmten Arbeitgeber gebunden ist. Allerdings hätte die Kommission versuchen können, das Bündel an Rechten entsprechend dem Inhalt des ersten Richtlinienvorschlags aus dem Jahr 2011 zu erweitern.

1.14.

Der EWSA hält es für wesentlich, bei der Überarbeitung zu betonen, dass die Gleichbehandlung von Drittstaatsarbeitnehmern verbessert werden muss, insbesondere in Bezug auf Arbeitsbedingungen, Vereinigungsfreiheit, Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft und Sozialleistungen.

1.15.

Der EWSA betont ferner, wie wichtig es ist, die Sozialpartner und weitere einschlägige Interessenträger in die Debatte über eine bessere Steuerung der Arbeitsmigration auf EU-Ebene einzubeziehen. Daher begrüßt er die Einrichtung der vorgeschlagenen Plattform für den Dialog auf EU-Ebene.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Im April 2022 legte die Europäische Kommission im Nachgang zu der Arbeitsagenda des neuen Migrations- und Asylpakets, das im September 2020 angenommen wurde, das Paket zu Kompetenzen und Talenten vor. Das Paket umfasst die Überarbeitung der Richtlinie 2003/109/EG über langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige (2), die Überarbeitung der Richtlinie 2011/98/EU über die kombinierte Erlaubnis (3) und die Mitteilung über die Anwerbung von qualifizierten Arbeitskräften aus Drittländern (4).

2.2.

Das neue Paket soll die reguläre Migration in die EU fördern und die Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte aus Drittländern dergestalt anregen, dass diese sowohl den Herkunfts- als auch den Zielländern zugutekommt. Die Überarbeitungen zielen auch darauf ab, ein effizienteres und kohärenteres System von Rechten und Beschäftigungsmöglichkeiten für in der EU ansässige Drittstaatsangehörige zu fördern und gleichzeitig die Attraktivität der EU als Ziel für qualifizierte Drittstaatsangehörige zu erhöhen.

2.3.

Mit der Mitteilung über die Anwerbung von qualifizierten Arbeitskräften sollen die Grundsätze für die legale Migration aus wirtschaftlichen Gründen in die EU geregelt werden. Sie spiegelt den Willen wider, die legislative Säule mit den beiden Vorschlägen für eine Überarbeitung zu verbessern, Fachkräftepartnerschaften und einen EU-Talentpool aufzubauen sowie die Strategie für legale Migration in den Bereichen Pflege und Betreuung, Jugend und Innovation voranzubringen.

2.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass der Vorschlag keine Analyse und Bewertung der Frage enthält, warum die geltenden Richtlinien über die kombinierte Erlaubnis und langfristige Aufenthaltsberechtigungen nicht ordnungsgemäß funktionieren. Die Kommission sollte die Ursachen dieser Störungen erforschen und mitteilen. Dabei sollte sie klären, ob zu diesen Ursachen die mangelnde Bereitschaft der Mitgliedstaaten zur Umsetzung dieser Richtlinien oder ein übermäßiger Verwaltungsaufwand zählen, und so verhindern, dass diese Probleme in Zukunft erneut auftreten.

2.5.

Der Vorschlag zur Überarbeitung der Richtlinie über die kombinierte Erlaubnis bietet die Gelegenheit, den Zugang zu diesem Instrument zu erweitern, die Erwerbsbeteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus Drittstaaten zu erleichtern und gleichzeitig die damit verbundenen Rechte zu konsolidieren und Fortschritte bei der Harmonisierung der Anwendung zwischen den Mitgliedstaaten zu erzielen.

2.6.

Die vorgeschlagene Überarbeitung der EU-Richtlinie über langfristig Aufenthaltsberechtigte zielt auch darauf ab, ihre Anwendung in den einzelnen Mitgliedstaaten zu verbessern und gleichzeitig die Mobilität innerhalb der EU zu erleichtern, indem die Verfahren vereinfacht und die Fristen für die Erteilung einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung verkürzt werden.

2.7.

Generell begrüßt der EWSA dieses Paket, das auf einem konstruktiven und kohärenten Migrationskonzept beruht und der Notwendigkeit Rechnung trägt, die Instrumente der EU für die reguläre Migration zu verbessern. Er unterstreicht dabei den Beitrag, den die legale Migration zur Behebung des Arbeits- und Fachkräftemangels in den Bereichen leisten kann, in denen nachweislich Bedarf besteht. Der EWSA hat bereits zu bedenken gegeben, dass der Schwerpunkt des neuen Migrations- und Asylpakets auf Grenzmanagement und Migrationskontrolle liegt. Die Fortschritte bei der Steuerung der organisierten und regulären Migration werden daher positiv bewertet.

2.8.

Der EWSA erkennt an, dass Migrantinnen und Migranten schon jetzt eine entscheidende Rolle in der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft spielen, indem sie dazu beitragen, den Bedarf auf dem Arbeitsmarkt zu decken und wo erforderlich den Arbeitskräftemangel und die Qualifikationslücken zu beheben. Der EWSA begrüßt daher die Erleichterung des Zustroms von qualifizierten Arbeitskräften aus Drittländern, um diesen wachsenden Bedarf zu decken, insbesondere in Branchen mit einem strukturellen Fachkräftemangel. Er begrüßt auch die Bemühungen, innovative und skalierbare Unternehmen anzuziehen, die einen erheblichen Mehrwert für die Wirtschaft und Gesellschaft der EU haben. Internationale Forschungsprojekte bleiben ein weiteres wirksames Mittel, um Talente von Weltrang zu fördern, anzuziehen und zu halten. Zu diesem Zweck muss der Zugang zum EU-Arbeitsmarkt für gesuchte Fachkräfte aus Drittländern beschleunigt und vereinfacht werden, um Europa für andere Teile der Welt attraktiver zu machen. Der EWSA befürwortet und begrüßt ferner die Entwicklung und Umsetzung praktischer Instrumente, mit denen Fachkräfte aus Drittländern leichter mit potenziellen Arbeitgebern in den Mitgliedstaaten zusammengebracht und aufeinander abgestimmt werden können.

2.9.

Das Narrativ, dass der Zustrom ausländischer Arbeitskräfte im Zusammenhang mit den Bedürfnissen der Arbeitsmärkte der Mitgliedstaaten steht, muss überdacht werden. In einigen EU-Ländern gibt es eine strukturelle Arbeitslosigkeit in bestimmten Beschäftigungsbereichen und Berufen, die auf Missverhältnisse zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage, mangelnde Attraktivität bestimmter Branchen/Berufe und Bedenken hinsichtlich der Arbeitsbedingungen zurückgeführt werden kann. In diesen Ländern muss versucht werden, die Attraktivität dieser Branchen und Berufe für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem heimischen Markt (Staatsangehörige des betreffenden Landes, Staatsangehörige eines anderen EU-Mitgliedstaats und Arbeitnehmer aus Drittstaaten mit Arbeitserlaubnis) zu verbessern, um Unterbeschäftigung und schlechte Arbeitsbedingungen für neu angekommene Arbeitnehmer aus Drittstaaten zu verhindern. Parallel dazu kann der EU-Talentpool dazu beitragen, Arbeitnehmer aus Drittstaaten und Arbeitsplätze in der EU gezielt abzugleichen, um eine Unterbeschäftigung dieser Arbeitskräfte zu vermeiden.

2.10.

Der EWSA hält es zwar für notwendig, neue Wege zu beschreiten, um Fachkräfte für die EU anzuwerben, weist aber auch auf einen anders gelagerten Bedarf auf den Arbeitsmärkten der Mitgliedstaaten hin, der über die im vorgeschlagenen Paket vorgesehenen Maßnahmen hinaus spezifische Maßnahmen erfordert.

2.11.

Diesbezüglich hofft der EWSA, dass (wie in den Follow-up-Berichten geplant) 2023 Fortschritte bei der Verbesserung der Richtlinie über Saisonarbeitnehmer und der Richtlinie über unternehmensinterne Transfers erzielt werden können. Der EWSA betont in diesem Zusammenhang, dass im Einklang mit den Entschließungen des Europäischen Parlaments und seinen eigenen Entschließungen darauf hingearbeitet werden muss, den Schutz von Saisonarbeitnehmern zu gewährleisten und insbesondere die Arbeitsausbeutung zu bekämpfen, wo diese festgestellt wird. Zu diesem Zweck sollte in Übereinstimmung mit den Tätigkeiten der Europäischen Arbeitsbehörde (ELA) die Arbeitsaufsicht gestärkt und ausgeweitet werden.

2.12.

Der EWSA verweist auf die am 1. Juli 2020 angenommene europäische Kompetenzagenda (5) und vertritt diesbezüglich die Auffassung, dass Migranten, Flüchtlinge und Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, unabhängig von ihren Kompetenzen und Qualifikationen gleichbehandelt werden sollten. Daher sollten alle Arbeitnehmer ihre Fähigkeiten und Kompetenzen validieren und eine hochwertige und effektive Ausbildung bzw. Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen absolvieren können, damit sie im Rahmen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittener, flexibler Lernwege und unter angemessener Berücksichtigung der unterschiedlichen Altersgruppen in den Arbeitsmarkt integriert werden können.

2.13.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission bei der Suche nach Wegen für die legale und organisierte Arbeitsmigration, die auch Menschen Rechnung tragen, die internationalen Schutz benötigen, ehrgeiziger vorgehen sollte.

2.14.

Im Falle von Personen aus Drittländern, die für ein Studium in die EU kommen, sollte ihrer reibungslosen Eingliederung in den EU-Arbeitsmarkt gebührende Aufmerksamkeit gewidmet werden, wobei es gleichzeitig die Abwanderung von Fachkräften einzudämmen gilt. Es wäre positiv, präventive Maßnahmen wie Klauseln für eine auf ethischen Grundsätzen beruhende Rekrutierung (6), Mechanismen für die unterstützte Rückkehr in die Herkunftsländer und die Wiedereingliederung in den Herkunftsländern vorzusehen oder diesbezüglich spezifische Klauseln in bilaterale Arbeitsmigrationsabkommen aufzunehmen.

3.   Mitteilung über die Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte aus Drittländern

3.1.

In der Mitteilung vom April 2022 werden die Empfehlungen des Migrations- und Asylpakets von 2020 zur legalen Migration aufgegriffen, um legislative und operative Initiativen in diesem Bereich zu fördern.

3.2.

Der EWSA begrüßt diese Mitteilung, die er als einen Fortschritt im Bereich der Arbeitsmigration ansieht, der angemessene, realistische und wirksame Instrumente in den neuen Kontexten erforderlich macht. Die Aufnahme einer Reihe spezifischer Maßnahmen zugunsten von Flüchtlingen aus der Ukraine kommt zur rechten Zeit. Der EWSA bedauert allerdings, dass diese Maßnahmen generell für Menschen, die internationalen Schutz benötigen, nicht schon früher umgesetzt wurden, insbesondere während der Krise, die 2015 durch den Krieg in Syrien ausgelöst wurde. Der EWSA ist davon überzeugt, dass die Maßnahmen und Initiativen, die im Zusammenhang mit Flüchtlingen aus der Ukraine ergriffen wurden, einen Wendepunkt darstellen und künftig als Maßstab für Handeln der EU in ähnlichen Fällen angesetzt werden sollten.

3.3.

Der EWSA hält es für notwendig, in Zusammenarbeit mit Drittländern Fortschritte bei den Fachkräftepartnerschaften zu erzielen. Er ruft dazu auf, geeignete Bewertungsverfahren nicht nur für die Instrumente selbst einzurichten, sondern auch für die Ermittlung der Länder, mit denen zusammengearbeitet werden soll. Bei der außenpolitischen Dimension der Einwanderungs- und Asylpolitik der EU müssen Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte stets geachtet werden. Auch die Verfahren und Ergebnisse der bereits abgeschlossenen Pilotprojekte sollten überprüft und bewertet und bei der Einleitung neuer Vorhaben berücksichtigt und genutzt werden.

3.4.

Bei dem Vorschlag für den EU-Talentpool sollte die Europäische Kommission mit den Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern zusammenarbeiten, um den Verwaltungsaufwand des Pools so gering wie möglich zu halten und unnötige Komplexität zu vermeiden, damit er möglichst rasch einsatzbereit ist. Der Pool sollte zur Deckung des derzeitigen und künftigen Qualifikationsbedarfs beitragen, die Möglichkeiten der KI und anderer Spitzentechnologien so nutzen, dass die Kompetenzen und Talente von Drittstaatsangehörigen umfassend genutzt und die Rolle der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sowie die Mobilität der Arbeitskräfte innerhalb der EU ergänzt werden.

3.5.

In Anbetracht des für Arbeitgeber spürbaren akuten und vielfach strukturellen Arbeits- und Fachkräftemangels wäre es zweckmäßig, vor der Einführung der Vollversion des Talentpools einen gezielten Ansatz zur Stellenvermittlung zu entwickeln, der sich auf Listen für den Fachkräftemangel in Engpassberufen stützt. Da sichergestellt werden muss, dass die nationalen Listen für den Fachkräftemangel in Engpassberufen auf dem neuesten Stand sind, sollte die Kommission Möglichkeiten ermitteln, um einschlägiges Wissen auszutauschen und vergleichende Analysen vorzunehmen.

3.6.

Parallel zur Ausgestaltung des Talentpools ist es notwendig, gemeinsam mit den Arbeitgebern und den Gewerkschaften Echtzeitinformationen über den Arbeitsmarkt und die Kompetenzen weiterzuentwickeln, damit der Pool erfolgreich funktionieren kann. Gleichzeitig gilt es, die Fähigkeit der EU zu verbessern, vergleichbare und zuverlässige Daten über den Zuwanderungsbedarf aus Drittländern zu erheben und auszuwerten.

3.7.

Der EWSA begrüßt die Einführung eines Instruments, um eine Abstimmung zwischen Arbeitgebern in der EU und den auf dem EU-Markt nicht verfügbaren Fachkräften zu erleichtern. Diese Schritte sind für die Rekrutierung von Fachkräften sicherlich notwendig, dennoch müssen daneben auch andere Sektoren der Arbeitsmärkte der Mitgliedstaaten beachtet werden.

3.8.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass der Erfolg dieser Initiativen von der Zusammenarbeit und Beteiligung der wirtschaftlichen und sozialen Akteure abhängt, und hält es für wesentlich, Möglichkeiten für einen Dialog zwischen ihnen auf europäischer Ebene zu schaffen. Der EWSA eignet sich hervorragend als Forum für die Erörterung operativer und praktischer Fragen im Zusammenhang mit der Arbeitsmigration. Daher sollte der EWSA an der hochrangigen Konferenz teilnehmen, die die Kommission für Ende 2022 im Zusammenhang mit der neuen Plattform für Arbeitsmigration plant. Der EWSA betont ferner, wie wichtig es ist, die Sozialpartner und weitere einschlägige Interessenträger in die Debatte über eine bessere Steuerung der Arbeitsmigration auf EU-Ebene einzubeziehen. Daher begrüßt er die Einrichtung der vorgeschlagenen Plattform für den Dialog auf EU-Ebene.

3.9.

Der EWSA hält es zwar für zielführend, künftige Möglichkeiten für die Arbeitsmigration in Branchen wie der Pflege auszuloten, bedauert aber, dass die Fortschritte in diesem Falle auf spezifischen Verfahren fußen, die der Kohärenz der gemeinsamen europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik schaden und somit einem umfassenden Konzept im Wege stehen. Der EWSA ist sich allerdings einig, dass in diesen Bereichen Fortschritte erzielt werden müssen, indem Fragen wie eine auf ethischen Grundsätzen beruhende Rekrutierung und Standards für den Schutz der Arbeitnehmerrechte angegangen werden.

3.10.

In mehreren äußerst wichtigen Sektoren ist der Frauenanteil hoch. Allerdings haben es mobile weibliche Arbeitskräfte und Migrantinnen möglicherweise mit unsicheren Arbeitsplätzen und der Schattenwirtschaft zu tun; insbesondere aber sind sie häufig mit Diskriminierung, sozialer Ausgrenzung und fehlenden Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten sowie Missbrauch, Gewalt und Belästigung konfrontiert. Der EWSA ist der Auffassung, dass der Schutz der Rechte der Frau und die Geschlechterperspektive stärker berücksichtigt werden müssen.

3.11.

Der EWSA begrüßt auch die Förderung von Mobilitätsprogrammen für junge Menschen, weist jedoch erneut darauf hin, dass Mobilität und ihre Eingliederung in den Arbeitsmarkt sichergestellt sein müssen, um die Rechte jüngerer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen, deren Arbeitsbedingungen mitunter schlechter sind (befristete Beschäftigungsverhältnisse, niedrige Löhne usw.). In diesem Sinne sollten auch spezifische Maßnahmen für Arbeitskräfte mit Behinderungen festgelegt werden, um ihre angemessene Integration zu erleichtern.

3.12.

Der EWSA begrüßt die Initiative, Programme für die Aufnahme „innovativer Unternehmer“ aus Drittstaaten zu prüfen. Der EWSA hält es diesbezüglich für positiv, dass diese Aufnahmeprogramme im Zusammenhang mit dem Übergang zu einer digitalen und nachhaltigen Wirtschaft geprüft werden. Allerdings könnte ihr Umfang bei einer entsprechenden Konzipierung noch erweitert werden, sodass sie auch die Aufnahme anderer Berufsgruppen in EU-Länder ermöglichen.

4.   Überarbeitung der Richtlinie über langfristig Aufenthaltsberechtigte in der EU

4.1.

Der EWSA begrüßt diesen Vorschlag für eine Richtlinie, mit der die Rechtsstellung der langfristig Aufenthaltsberechtigten in der EU gestärkt werden soll, und zwar durch die Verbesserung der Art und Weise, wie die langfristige Aufenthaltsberechtigung erworben wird, insbesondere bei einem Aufenthalt in einem zweiten Mitgliedstaat. Er begrüßt ferner, dass mit dem Vorschlag der gleichberechtigte Zugang von Staatsangehörigen eines EU-Mitgliedstaats, die in einem anderen EU-Mitgliedstaat langfristig aufenthaltsberechtigt sind, zum Sozialschutz ausgedehnt wird. Er begrüßt außerdem den Versuch, die Gleichbehandlung zu gewährleisten und den Zugang zu Informationen über die Familienzusammenführung im Zusammenhang mit dieser Richtlinie zu erleichtern.

4.2.

Die langfristige Aufenthaltsberechtigung in der EU ist eines der wichtigsten Instrumente der europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik. Die 2003 festgelegten Verfahren zur Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in der Union haben sich in der EU uneinheitlich entwickelt. Mit dem Vorschlag der Kommission soll ein kohärenteres System geschaffen werden.

4.3.

Unionsbürger können nach einer Aufenthaltsdauer von fünf Jahren in einem zweiten Mitgliedstaat die Rechtsstellung eines in der EU langfristig Aufenthaltsberechtigten beantragen. Diese Bestimmung wird in der vorgeschlagenen überarbeiteten Richtlinie beibehalten. Mit dem Vorschlag soll die Mobilität von Personen mit dieser Art von Aufenthaltsberechtigung innerhalb der EU erleichtert werden, indem die erforderliche Aufenthaltsdauer auf drei Jahre verkürzt wird. Darüber hinaus ist in dem Vorschlag die Möglichkeit vorgesehen, Aufenthaltszeiten in verschiedenen Mitgliedstaaten zu kumulieren.

4.4.

Der EWSA hält es für einen Fortschritt, Antragstellern die Möglichkeit zu geben, Aufenthaltszeiten in verschiedenen Mitgliedstaaten zu kumulieren, um die Voraussetzungen für eine langfristige Aufenthaltsberechtigung in der EU zu erfüllen. Allerdings müssten die Verfahren zur Überwachung und Koordinierung dieser Bestimmung in den einzelnen Mitgliedstaaten verbessert werden.

4.5.

Der EWSA begrüßt die Berücksichtigung verschiedener Aufenthaltsmodelle, z. B. Aufenthalt zwecks Studiums, Aufenthalt als Person, die internationalen Schutz genießt, und vorübergehender Aufenthalt. Zeiten rechtmäßigen Aufenthalts im Rahmen eines Visums für einen kurzfristigen Aufenthalt gelten nicht als Aufenthaltszeiten, sie können aber im Rahmen der Bestimmung in Betracht gezogen werden, wenn der Antragsteller ein reguläres Beschäftigungsverhältnis oder etwas Vergleichbares nachweisen kann.

4.6.

Der EWSA begrüßt ferner die Stärkung der Rechte von langfristig Aufenthaltsberechtigten und ihren Familienangehörigen. Dazu gehört auch das Recht, in andere Mitgliedstaaten zu ziehen und dort zu arbeiten, und oder für einen Arbeitsplatzwechsel in einen anderen Mitgliedstaat zu ziehen. Der EWSA hält es für besonders interessant, dass nach dem vorgeschlagenen neuen Artikel die Lage auf dem nationalen Arbeitsmarkt bei der Beantragung einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung in einem zweiten Mitgliedstaat (d. h., wenn bereits ein langfristiger Aufenthaltstitel in der EU erworben wurde) nicht berücksichtigt werden muss, und zwar weder bei einer unselbstständigen noch bei einer selbstständigen Erwerbstätigkeit.

4.7.

Der EWSA begrüßt die Vereinfachung der Möglichkeit, spätestens 30 Tage nach Einreichung des Antrags eine Beschäftigung oder ein Studium in einem zweiten Mitgliedstaat aufnehmen zu können. Er begrüßt ferner die Anerkennung des Rechts auf Ausübung einer regulären Berufstätigkeit (seitens eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem zweiten Mitgliedstaat) unter denselben Bedingungen wie Unionsbürger.

4.8.

Der EWSA erkennt an, wie wichtig es ist, dass die Mitgliedstaaten den langfristig Aufenthaltsberechtigten in der EU (und ihren Familienangehörigen) dieselben Freiheiten und Rechte garantieren wie den Inhabern nationaler unbefristeter Aufenthaltstitel. Darüber hinaus ist es positiv, dass die Mitgliedstaaten auch dafür sorgen sollten, dass Personen, die eine langfristige Aufenthaltsberechtigung in der EU beantragen, keine höheren Antragsbearbeitungsgebühren entrichten müssen als Personen, die einen nationalen Aufenthaltstitel beantragen.

4.9.

Der EWSA sieht im Recht auf Familienleben einen grundlegenden Faktor für die soziale Integration. Deshalb begrüßt er den Abbau administrativer und bürokratischer Hindernisse, insbesondere der Voraussetzungen für die Integration langfristig Aufenthaltsberechtigter. Er begrüßt ferner, dass Kinder eines in der EU langfristig Aufenthaltsberechtigten, die in der EU geboren oder adoptiert werden, automatisch die Rechtsstellung eines in der EU langfristig Aufenthaltsberechtigten erwerben sollen.

5.   Überarbeitung der Richtlinie über die kombinierte Erlaubnis

5.1.

Der EWSA begrüßt die Überarbeitung der Richtlinie über die kombinierte Erlaubnis, die mehrere Verbesserungen gegenüber der geltenden Richtlinie mit sich bringt:

die Verkürzung der Frist für das Verfahren zur Erteilung der Erlaubnis auf vier Monate;

die Tatsache, dass der Antrag entweder im Herkunftsland oder in einem Bestimmungsmitgliedstaat gestellt werden kann;

die Ausweitung des Geltungsbereichs der Richtlinie auch auf ausländische Arbeitnehmer, die über Leiharbeitsunternehmen beschäftigt sind;

die Möglichkeit, während der Gültigkeitsdauer der kombinierten Erlaubnis den Arbeitgeber zu wechseln. Die Mitgliedstaaten haben jedoch weiterhin das Recht, den Arbeitgeberwechsel abzulehnen;

die Tatsache, dass die kombinierte Erlaubnis frühestens drei Monate nach dem Arbeitsplatzverlust des Inhabers entzogen werden darf, was Stabilität gewährleistet und die Qualität der Beschäftigung und die Arbeitsbedingungen von Arbeitsmigranten verbessert;

die Ausweitung der Richtlinie über die kombinierte Erlaubnis auf Personen, die vorübergehenden Schutz genießen;

die Tatsache, dass nach Wegen gesucht wird, um Informationen über die mit der kombinierten Erlaubnis verbundenen Rechte bereitzustellen.

5.2.

Der EWSA hält es jedoch für eine verpasste Chance, dass die Rechte nicht entsprechend dem Inhalt des ersten Richtlinienvorschlags aus dem Jahr 2011 ausgeweitet wurden. Dies gilt für Fragen wie den Zugang zu Arbeitslosenleistungen. Diesbezüglich betont der EWSA, wie wichtig es ist, den Mitgliedstaaten hier wie in der geltenden Richtlinie eine gewisse Flexibilität einzuräumen. Zudem bedauert der EWSA, dass die Möglichkeit einer Ausweitung der Richtlinie auf Migrantinnen und Migranten mit befristeten Beschäftigungsverhältnissen nicht geprüft wurde.

5.3.

Der EWSA hält es für wesentlich, bei der Überarbeitung zu betonen, dass die Gleichbehandlung von Drittstaatsarbeitnehmern — insbesondere in Bezug auf die Beratung über soziale Rechte und Arbeitsbedingungen, Vereinigungsfreiheit, Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft und Sozialleistungen — verbessert werden muss, um die Eingliederung in den Arbeitsmarkt unter gleichen Bedingungen zu ermöglichen.

5.4.

Der EWSA unterstützt die Forderung an die Mitgliedstaaten, geeignete Mechanismen für Risikobewertung, Inspektionen und Sanktionen sowie für die Kontrolle der Arbeitgeber zu entwickeln. Er weist jedoch darauf hin, dass die Arbeitsaufsicht in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt und die Botschaften und Kontrollinstrumente, die auf EU-Ebene entwickelt werden können, im Rahmen des Mandats der Europäischen Arbeitsbehörde gestärkt werden sollten (7).

5.5.

Der EWSA hält weitere Fortschritte beim Schutz von Arbeitsmigranten, die die Beschwerdemechanismen der Arbeitsaufsicht nutzen, für erforderlich. Ohne Mechanismen, die verhindern, dass Beschwerden wegen Arbeitsbedingungen zum Anlass von Kontrollen in Bezug auf die Rechtsstellung von Migranten genutzt werden, besteht die Gefahr, dass Arbeitgeber diejenigen bestrafen, die ausbeuterische Arbeitsbedingungen melden, was sich negativ auf ihren Aufenthaltsstatus auswirken könnte. In diesem Zusammenhang müssen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitsausbeutung weiterentwickelt und besser durchgesetzt werden.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Der EU-Talentpool wird ein unionsweiter Pool von Bewerberinnen und Bewerbern aus Drittstaaten sein, die auf der Grundlage spezifischer Qualifikationsniveaus, Kriterien und Migrationserfordernisse und nach Prüfung ihrer persönlichen Eignung ausgewählt werden. Er wird die erste unionsweite Plattform sein und ist als Vermittlungsinstrument gedacht (COM(2022) 657 final).

(2)  COM(2022) 650 final.

(3)  COM(2022) 655 final.

(4)  COM(2022) 657 final.

(5)  https://ec.europa.eu/social/main.jsp?langId=de&catId=89&furtherNews=yes&newsId=9723

(6)  General principles and operational guidelines for fair recruitment and definition of recruitment fees and related costs.

(7)  https://www.ela.europa.eu/en/what-we-do


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/143


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz von Personen, die sich öffentlich beteiligen, vor offenkundig unbegründeten oder missbräuchlichen Gerichtsverfahren („strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung“)

(COM(2022) 177 final — 2022/0117 COD)

(2023/C 75/20)

Berichterstatter:

Tomasz Andrzej WRÓBLEWSKI

Ko-Berichterstatter:

Christian MOOS

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

29.9.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

143/2/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Initiative der Europäischen Kommission als Fortschritt bei der Bekämpfung der seit 2015 in Europa immer häufiger zu beobachtenden Verfahren, mit den öffentliche Stimmen mundtot gemacht werden sollen (1). Strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung (sogenannte SLAPP-Klagen — „Strategic Lawsuits Against Public Participation“) sind ganz oder teilweise unbegründete Verfahren, die in erster Linie darauf abzielen, die Beteiligung der Öffentlichkeit zu verhindern, einzuschränken oder zu ahnden. Im Hinblick auf eine informierte Zivilgesellschaft und Transparenz im öffentlichen Leben muss ihnen unbedingt entgegengewirkt werden. Da SLAPP-Klagen auch von Parteien aus Drittländern angestrengt werden, schützen Maßnahmen zu ihrer Verhinderung die europäische Demokratie zugleich vor externen Bedrohungen.

1.2.

Bei SLAPP-Klagen besteht oft ein erhebliches Machtungleichgewicht — die Kläger verfügen über größere finanzielle oder institutionelle Ressourcen, was es ihnen relativ einfach macht, ein Verfahren anzustrengen. In diesem Zusammenhang müssen den Beklagten geeignete Instrumente an die Hand gegeben werden, damit sie sich in diesem derzeit ungleichen Kampf verteidigen können.

1.3.

SLAPP-Klagen stellen einen Rechtsmissbrauch dar und können in demokratischen, Rechtsstaaten nicht akzeptiert werden. Journalistinnen und Journalisten und insbesondere unabhängige Medienschaffende sind am stärksten bedroht, doch es kann auch alle anderen Teilnehmer an öffentlichen Debatten treffen.

1.4.

Allerdings muss zwischen SLAPP-Klagen und dem Schutz der persönlichen Rechte sowie der Möglichkeit, sich gegen Verleumdung zur Wehr zu setzen, unterschieden werden. SLAPP-Klagen sind unbegründete Verfahren, die darauf abzielen, öffentliche Debatten zu unterdrücken und die jeweiligen Beteiligten mundtot zu machen. Die SLAPP-Widerklagen beeinträchtigen weder das Recht, ein Gericht anzurufen, noch schützen sie diejenigen, die falsche oder verleumderische Inhalte verbreiten.

1.5.

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagenen Mechanismen, hält es jedoch im Rahmen der legislativen Arbeit für sinnvoll, eine Erweiterung des Maßnahmenkatalogs in Erwägung zu ziehen. Denkbare Vorschläge sind die Einführung einer Vorabentscheidung zur Beendigung eines für nicht konform befundenen Verfahrens, die Verbindung mehrerer Verfahren auf Antrag des Beklagten an seinem Gerichtsstand, die zeitliche Beschränkung des Verfahrens, die Einführung eines beschleunigten Verfahrens oder eine Bestimmung, wonach die Klage nur durch den Kläger selbst finanziert werden darf.

1.6.

Neben der Annahme neuer Rechtsvorschriften, die angesichts des gesamten Gesetzgebungsverfahrens mehrere Jahre in Anspruch nehmen könnte, sollten auch die nationalen Rechtsvorschriften auf Mechanismen überprüft werden, mit denen bereits jetzt gegen SLAPP-Klagen vorgegangen werden kann. Die Ermittlung der Gründe dafür, dass bestehende Mechanismen nicht wirksam genutzt werden, kann dazu beitragen, die an öffentlichen Debatten beteiligten Akteure besser zu schützen.

1.7.

Die Überwachung der Anti-SLAPP-Maßnahmen und der Wirksamkeit der umgesetzten Lösungen ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt. Es sollte darüber nachgedacht werden, wer solche Bewertungen vornehmen sollte, insbesondere angesichts der Tatsache, dass SLAPP-Klagen auch von öffentlichen Einrichtungen kommen können. Den Mitgliedstaaten die Zuständigkeit dafür zu übertragen, ist daher u. U. nicht das richtige Mittel, um die angestrebten Ziele zu erreichen.

1.8.

Im Hinblick auf eine möglichst wirksame Umsetzung der Richtlinie sollte zudem deren Anwendung in einem möglichst kurzen Zeitraum bewertet werden. Nach Ansicht des EWSA wäre ein kürzerer Zeitraum angemessener als der vorgeschlagene Fünfjahreszeitraum.

1.9.

Da die geplante Richtlinie nur auf grenzübergreifende Verfahren anwendbar ist, muss außerdem darauf hingearbeitet werden, dass die einzelnen Mitgliedstaaten entsprechende Initiativen für nationale Verfahren auf den Weg bringen. Durch die Beschränkung auf grenzübergreifende Verfahren wird nur einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der öffentlichen Debatte Schutz geboten. Dadurch wird insbesondere lokal tätigen Journalisten, Aktivisten oder Hinweisgeber der Schutz verwehrt. Ein umfassendes Vorgehen gegen SLAPP-Klagen erfordert einen einheitlichen Ansatz sowohl in grenzübergreifenden als auch in Fällen auf nationaler Ebene.

1.10.

Die Mitgliedstaaten sollten auch nachdrücklich aufgefordert werden, ihre nationalen Rechtsvorschriften im Sinne einer Entkriminalisierung von Verleumdung zu überprüfen. Alle Gerichtsverfahren, die persönliche Rechte betreffen, sollten zivilrechtlicher Natur sein. Eine mögliche strafrechtliche Verantwortlichkeit führt zu einer Situation, in der die Teilnehmer an der öffentlichen Debatte eher davor zurückschrecken, ihre Meinung zu äußern oder Unrecht anzuprangern.

1.11.

Der EWSA betont, dass es über Rechtsvorschriften hinaus äußerst wichtig ist, geeignete Bildungs- und Fortbildungsmaßnahmen sowohl für Angehörige der Rechtsberufe (insbesondere Richter und Anwälte) als auch für Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der öffentlichen Debatte — Journalisten, Aktivisten, Menschenrechtsverteidiger, Hinweisgeber oder einfache Bürgerinnen und Bürger — umzusetzen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Meinungsfreiheit und die von ihr abgeleitete Medienfreiheit gehören zu den Grundwerten, die von demokratischen Staaten im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit garantiert werden sollten.

2.2.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung, wie es in Artikel 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum Ausdruck kommt, umfasst die Meinungsfreiheit und die Freiheit, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Der Schwerpunkt liegt zudem auf der Wahrung der Medienfreiheit und des Medienpluralismus. Ähnliche Garantien sind in vielen anderen Rechtsvorschriften enthalten, wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates (2) zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (Hinweisgeber), und den von den einzelnen Mitgliedstaaten erlassenen Rechtsvorschriften, was auf ihren universellen Charakter und ihre wichtige Rolle hinweist.

2.3.

In den letzten Jahrzehnten hat die technologische Entwicklung die Form der öffentlichen Debatte radikal verändert. Vor nicht allzu langer Zeit waren Fernsehen, Radio und Zeitungen noch die wichtigsten, hauptsächlich von professionellen Journalisten und von Hinweisgebern gestalteten Medien für diese Debatte. Mittlerweile haben die Online-Medien eine wichtige Rolle übernommen und es jedem ermöglicht, seine Meinung zu äußern und sich an ein breites Publikum — gegebenenfalls anonym — zu richten.

2.4.

Vor dem Hintergrund der Entwicklung der Medien und des technologischen Wandels ist es von entscheidender Bedeutung, Mechanismen einzuführen, die den tatsächlichen Schutz der Meinungsfreiheit für alle Teilnehmer an öffentlichen Debatten gewährleisten, d. h. nicht nur für professionelle Journalisten, sondern auch für Umweltaktivisten (3) und Sozialaktivisten, Menschenrechtsverteidiger, NGO, Hinweisgeber (4) im weiteren Sinne, engagierte Bürgerinnen und Bürger, Gewerkschaften und alle anderen Einzelpersonen und Organisationen, die sich öffentlich zu gesellschaftlich relevanten Themen äußern.

2.5.

Es ist wichtig, nicht nur die Bedeutung der Medienfreiheit, sondern auch die notwendige Gewährleistung des Medienpluralismus hervorzuheben. Der EWSA bekräftigt seine Schlussfolgerungen zum Thema „Freiheit und Vielfalt der Medien in Europa sichern“ (5). Eine offene, in keiner Weise eingeschränkte Debatte ist das Fundament einer partizipativen Gesellschaft, ohne die eine Demokratie nicht richtig funktionieren kann (6). Der Ausschluss kritischer Stimmen von der öffentlichen Debatte kann wie schon in der Vergangenheit zu sozialen Spannungen und Gewalt führen. Medien sind mehr als nur spezialisierte Einrichtungen, die professionell Medientätigkeiten ausüben. Sie gestatten die aktive Teilnahme von Personen, die Meinungen austauschen oder ihre Standpunkte teilen, ob nun im Internet, in Foren, Blogs oder Podcasts. Dies ist besonders wichtig in Ländern, in denen öffentliche Medien von Regierungsparteien bzw. private Medien von wenigen Eigentümern kontrolliert werden, die versuchen, Inhalte zu bestimmen und die Vielfalt der öffentlichen Debatten beschränken.

2.6.

Innerhalb der EU untergraben schrumpfende zivilgesellschaftliche Räume die Fähigkeit der Organisationen der Zivilgesellschaft, ihre entscheidende Rolle für das Funktionieren und den Schutz der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit wahrzunehmen. Strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung sind ein Instrument, um kritische Stimmen aus der Zivilgesellschaft zum Schweigen zu bringen. Der EWSA begrüßt die Entschließung des Europäischen Parlaments zu Maßnahmen zur Bekämpfung der Schrumpfung des zivilgesellschaftlichen Raums (7) und betrachtet die vorgeschlagene Richtlinie nicht nur als eine Maßnahme im Instrumentarium der EU, sondern auch als entscheidenden Schritt, um diesen Praktiken ein Ende zu setzen.

2.7.

Umfassendere Möglichkeiten zur Veröffentlichung von Erklärungen und Warnmeldungen und zu verstärktem sozialen Engagement ermöglichen nicht nur eine breitere öffentliche Debatte, sondern auch die Überwindung besorgniserregender gesellschaftlicher Missstände durch Aufdecken von Machtmissbrauch seitens staatlicher oder privater Einrichtungen, einschließlich Korruption oder Veruntreuung öffentlicher Gelder. Der EWSA weist darauf hin, dass die Medien (im weiteren Sinne, d. h. die Tätigkeiten der Medienschaffenden und der Teilnehmer an öffentlichen Debatten) als „vierte Gewalt“ nicht nur die Aufgabe haben, die Meinung zu gestalten, sondern auch die Tätigkeit der Behörden und privater Akteure genau zu beobachten. Daher ist der Schutz der „vierten Gewalt“ für die Gewährleistung demokratischer Standards und der Rechtsstaatlichkeit äußerst wichtig.

2.8.

Der Missbrauch von Gerichtsverfahren, um eine öffentliche Debatte zu unterdrücken, ist in den Mitgliedstaaten immer häufiger zu beobachten. Einflussreiche Einzelpersonen, Einrichtungen und Unternehmen mit großen finanziellen und organisatorischen Ressourcen nutzen ihre Macht, um Kritiker zum Schweigen zu bringen, indem sie zu neuen Methoden wie der missbräuchlichen Anwendung der Datenschutz-Grundverordnung greifen oder die Offenlegung der Informationsquellen von Journalisten verlangen. Die Kritiker, u. a. Journalisten und Akteure der Zivilgesellschaft, die als Hinweisgeber auftreten, haben jedoch häufig nicht die finanziellen oder organisatorischen Mittel, um sich gegen unbegründete Klagen zu verteidigen. Einige der natürlichen und juristischen Personen, die mit SLAPP-Klagen gegen Bürger bzw. zivilgesellschaftliche Akteure in der EU vorgehen, befinden sich außerhalb der Union. In Zeiten zunehmender geopolitischer Spannungen braucht die EU Instrumente, um ihre Demokratie vor externen Bedrohungen zu schützen, darunter Maßnahmen zur Bekämpfung von SLAPP-Klagen.

2.9.

SLAPP-Verfahren fallen nicht unter das Recht, ein Gericht anzurufen. Ihr Ziel besteht nicht darin, die Rechte des Klägers durchzusetzen, sondern Kritiker einzuschüchtern und zu schwächen und für den Beklagten möglichst ressourcenzehrend zu sein. Oft werden aussichtslose und sich wiederholende Klagen angestrengt. Ihr eigentliches Ziel ist, die beklagten Organisationen, Einzelpersonen oder sogar ihre Angehörigen in Bezug auf die öffentliche Debatte einzuschüchtern bzw. zum Schweigen zu bringen und von weiteren Aktivitäten abzuschrecken. Wenn nichts gegen derartige Einschüchterungen unternommen wird, kann es zu einer Monopolisierung oder Oligopolisierung der Medien kommen, die mit den Idealen der demokratischen Rechtsstaatlichkeit unvereinbar ist.

2.10.

Angesichts der Schlüsselrolle von Medien, NGO, anderen Einrichtungen und Hinweisgebern für die Zivilgesellschaft, die im öffentlichen Interesse handeln, müssen diese Akteure bei Verletzungen oder versuchten Verletzungen der Meinungsfreiheit unbedingt angemessen geschützt werden. Das gilt erst recht, wenn die Macht und Ressourcen klar ungleich verteilt sind. Letzteres kann sich negativ auf die Bereitschaft der Beklagten auswirken, sich auch weiterhin an der öffentlichen Debatte zu beteiligen und Missstände, Korruption oder Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. Die hohen Prozesskosten, die dadurch noch weiter in die Höhe getrieben werden, dass Verfahren systematisch in die Länge gezogen werden, stellen ein erhebliches Problem für potenzielle Opfer von SLAPP-Klagen dar.

2.11.

Mitunter gehen strategische Klagen, mit denen die öffentliche Debatte unterdrückt werden soll, mit anderen verwerflichen Praktiken wie Einschüchterung, Schikanierung und Drohungen gegen die Beklagten einher. Auch diese Handlungen zersetzen die Zivilgesellschaft und laufen dem öffentlichen Interesse zuwider. Deshalb muss unabhängig von den finanziellen Ressourcen oder Vorrechten der beteiligten Akteure rigoros und umgehend dagegen vorgegangen werden.

2.12.

Gleichzeitig dürfen Probleme wie Falschinformationen oder offenkundige Hetze nicht übersehen werden, die geprüft und, falls Verstöße festgestellt werden, aus dem öffentlichen Raum entfernt werden müssen. Der EWSA fordert jedoch eine strikte und korrekte Anwendung der bestehenden Protokolle, die sich aus der Umsetzung der Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (8) ergeben, da die damit zusammenhängenden Maßnahmen nicht zu Einschränkungen der Meinungsfreiheit führen dürfen, wenn sich herausstellt, dass die übermittelten Informationen und Meinungen keine Falschmeldungen bzw. keine Hetze darstellen (9). In jedem Fall können diese Praktiken nicht als Vorwand dafür dienen, das Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken.

2.13.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie zum Schutz von Personen, die sich öffentlich beteiligen, vor offenkundig unbegründeten oder missbräuchlichen Gerichtsverfahren (10) und die Empfehlung (EU) 2022/758 der Kommission (11) zum Schutz von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich öffentlich beteiligen, vor offenkundig unbegründeten oder missbräuchlichen Gerichtsverfahren.

2.14.

Der EWSA fordert das Europäische Parlament und den Rat auf, die Richtlinie unverzüglich anzunehmen, da die Umsetzung von Maßnahmen zum Schutz von Journalisten, Akteuren der Zivilgesellschaft und anderen Personen, die sich öffentlich beteiligen, dringend erforderlich ist.

2.15.

Der EWSA begrüßt den Beschluss der Regierung Irlands, sich an der Annahme und Anwendung der vorgeschlagenen Richtlinie zu beteiligen. Nach Artikel 3 und Artikel 4a Absatz 1 des dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügten Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts kann Irland beschließen, sich nach entsprechender Mitteilung an der Annahme und Anwendung dieser Richtlinie zu beteiligen.

2.16.

Zusätzlich zu den Empfehlungen der Verordnung der Kommission über SLAPP-Klagen ermutigt der EWSA die Regierung des Königreichs Dänemark, nationale Rechtsvorschriften zu erlassen, die das gleiche Maß an Schutz für Personen, die sich öffentlich beteiligen, vor strategischen Klagen gewährleisten wie in der vorgeschlagenen Richtlinie vorgesehen. Nach den Artikeln 1 und 2 des dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügten Protokolls Nr. 22 über die Position Dänemarks beteiligt sich Dänemark nicht an der Annahme dieser Richtlinie und ist weder durch diese Richtlinie gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.

2.17.

Nach Ansicht des EWSA dürfen die verabschiedeten Maßnahmen die Rechtsweggarantie nicht unangemessen einschränken und sollten nur in Fällen von Missbrauch angewandt werden.

2.18.

Nach Ansicht des EWSA sollten rechtliche Maßnahmen, die unbegründete und missbräuchliche Gerichtsverfahren verhindern, durch Bildungsmaßnahmen und ein Netz von Organisationen zur rechtlichen Unterstützung der von solchen Klagen betroffenen Personen und Einrichtungen ergänzt werden. So müssen insbesondere Angehörige der Rechtsberufe (sowohl Richter als auch Rechtsanwälte, die in Verfahren als Verteidiger auftreten) aufgrund ihrer wichtigen Rolle angemessen geschult werden, da ihre Entscheidungen und Handlungen für das Ziel der Maßnahmen und für die Gewährleistung der Meinungsfreiheit von entscheidender Bedeutung sind.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Strategische Klagen zur Unterdrückung der öffentlichen Debatte (SLAPP-Klagen) sind ein ernstes und um sich greifendes Problem, weshalb den Maßnahmen der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments zu ihrer Bekämpfung große Bedeutung zukommt. Sie sind von wesentlicher Bedeutung für einen angemessenen Schutz der Teilnehmer an öffentlichen Debatten, wenn die Rechtsweggarantie missbraucht wird, um eine abschreckende Wirkung zu erzeugen, die Beklagten zum Schweigen zu bringen und davon abzuhalten, ihre Tätigkeiten fortzusetzen.

3.2.

Der Schutz vor SLAPP-Klagen sollte allen Teilnehmern an öffentlichen Debatten gewährt werden, unabhängig davon, ob es sich um inländische oder grenzübergreifende SLAPP-Klagen handelt. Der EWSA teilt die Auffassung, dass Verfahren, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gegen eine Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat angestrengt werden, für die Beklagten in der Regel komplexer und kostspieliger sind. Das gleiche Problem kann jedoch auch bei in einer anderen Stadt eingereichten Klagen oder bei Verfahrenstaktiken auftreten, die darauf abzielen, das Verfahren im selben Land zu verschleppen und die Kosten dafür in die Höhe zu treiben. Werden nur grenzübergreifende Fälle reguliert, kann das zu einer ungerechtfertigten Differenzierung bei den Rechten von Einzelpersonen und Organisationen führen, deren Tätigkeiten Auswirkungen auf lokaler Ebene haben, die also in der Regel über begrenzte finanzielle, personelle und organisatorische Ressourcen verfügen.

3.3.

Damit die Richtlinie ordnungsgemäß funktionieren kann, muss eine geeignete und eindeutige Rechtsgrundlage für die zu ergreifenden Maßnahmen festgelegt werden. Der Hauptzweck von Anti-SLAPP-Mechanismen besteht nicht darin, ein ordnungsgemäßes Verfahren zu gewährleisten (das ordnungsgemäß im Einklang mit den nationalen Verfahren stattfinden kann), sondern die Rechte von Beklagten zu schützen, die möglicherweise nicht über angemessene rechtliche und finanzielle Mittel verfügen. Der EWSA ist der Ansicht, dass Beklagten, die sich in der Regel in einer schwächeren Position befinden als die Kläger, Mechanismen an die Hand gegeben werden müssen, mit denen sie sich gegen unbegründete Ansprüche, die einen Missbrauch der Rechtsweggarantie darstellen, verteidigen können.

3.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Einführung der grenzübergreifenden Bedingung es erforderlich macht, in jedem Einzelfall folgende Kriterien zu prüfen: 1) ob beide Verfahrensbeteiligten ihren Wohnsitz oder Sitz in dem anderen Mitgliedstaat haben, 2) ob die Teilnahme an einer öffentlichen Debatte über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse für mehr als einen Staat relevant ist oder 3) ob der Kläger oder mit ihm verbundene Einrichtungen in einem anderen Mitgliedstaat parallel oder früher bereits Gerichtsverfahren gegen dieselben oder mit ihnen verbundene Beklagte angestrengt haben. Insbesondere das zweite Kriterium kann zu einer Ermessensbeurteilung und einer Beschränkung des den Beklagten gewährten Schutzes führen.

3.5.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass der Schutz vor SLAPP-Klagen nicht ausschließlich auf zivilrechtliche Verfahren ausgerichtet sein sollte. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Standpunkte internationaler Organisationen (Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Europarat) bezüglich der Streichung des Tatbestands der Verleumdung aus dem Strafrecht. Die bisher ergriffenen Maßnahmen haben nicht zu den erwarteten Ergebnissen geführt, da Verleumdung in einigen Mitgliedstaaten nach wie vor eine Straftat ist, die sowohl mit einer Geldstrafe als auch mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden kann. Es ist unmöglich, sich an der öffentlichen Debatte frei zu beteiligen, wenn dabei eine Strafverfolgung droht. Der EWSA empfiehlt, wirksame und effiziente Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten den Straftatbestand der Verleumdung als Relikt einer beschämenden Vergangenheit abschaffen, da er die Rede- und Meinungsfreiheit bedroht.

3.6.

Strafrechtliche Sanktionen haben abschreckende Wirkung, und zwar unabhängig davon, ob sie letztendlich zur Anwendung kommen. Daher muss davon ausgegangen werden, dass sie öffentliche Debatten stärker unterdrücken als Zivilverfahren. Wenn es keinen entsprechenden Schutzmechanismen im Strafrecht gibt, kann dies zu einer bewussten Verlagerung von Zivil- auf Strafverfahren führen, weil die Angeklagten bei Strafverfahren keinen zusätzlichen Schutz genießen.

3.7.

Der EWSA weist darauf hin, dass SLAPP-Klagen nicht nur von privatrechtlichen Einrichtungen, sondern auch von staatlichen Akteuren wie der Staatsanwaltschaft angestrengt werden können und dass sich der Anwendungsbereich der Richtlinie daher auf alle diese Einrichtungen erstrecken muss. Der EWSA fordert auch in solchen Fällen den entsprechenden Schutz natürlicher und juristischer Personen, die an öffentlichen Debatten beteiligt sind, sowie den Schutz ihrer Quellen. Dabei sollte der Überwachung von SLAPP-Klagen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Frage, ob diese Aufgabe den Mitgliedstaaten übertragen werden sollte, stellt sich zu Recht, da ja auch Behörden als Kläger in SLAPP-Verfahren auftreten können. Es sollte erwogen werden, für diese Aufgabe unabhängige Organisationen einzubeziehen oder ein Kontrollverfahren auf supranationaler Ebene einzuführen.

3.8.

Wichtig ist, dass nicht nur Journalisten und Menschenrechtsverteidiger als potenzielle Zielpersonen von SLAPP-Klagen angesehen werden dürfen, auch wenn diese Berufe in dieser Hinsicht als besonders exponiert angesehen werden sollten. Die Zielgruppe sollte ihrer Funktion gemäß (auf der Grundlage der jeweiligen Aktivitäten) statt nach Ausbildung oder Beruf definiert werden. Auf diese Weise ist es auch möglich, nicht nur Personen zu schützen, die nicht direkt an Medienaktivitäten beteiligt sind, sondern beispielsweise auch engagierte Bürgerinnen und Bürger, die Missstände in ihren lokalen Gemeinschaften publik machen, sowie Hinweisgeber im weiteren Sinne.

3.9.

Die im Richtlinienentwurf vorgeschlagenen Verfahrensgarantien — Schutzmaßnahmen, vorzeitige Einstellung offenkundig unbegründeter Klagen in Gerichtsverfahren, Rechtsbehelfe bei missbräuchlichen Rechtsstreitigkeiten, Schutz vor in Drittländern ergangenen Urteilen — sind zu begrüßen. Es sollte jedoch die Möglichkeit geprüft werden, weitere Maßnahmen einzuführen, die die Arbeit der Justiz ergänzen und erleichtern würden, z. B. die Erleichterung oder Anordnung der Verbindung verschiedener Klagen gegen denselben Beklagten im Falle von Klagen, die von denselben oder mit ihnen verbundenen Klägern erhoben werden.

3.10.

Nach Ansicht des EWSA wäre es außerdem hilfreich, einen gewissen Grad an Automatismus in Form einer „Vorabentscheidung“ einzuführen. So könnten Gerichtsverfahren für nicht konform befunden werden, wenn sie offensichtlich die Kriterien zur Einstufung als SLAPP-Klage erfüllen. Hierdurch würde es sogar möglich werden, in offenkundigen Fällen von der Einleitung eines Gerichtsverfahrens abzusehen. Dies würde die Kosten (nicht nur private, sondern auch öffentliche Kosten) senken und die Zahl der zu bearbeitenden Fälle begrenzen.

3.11.

Darüber hinaus sollten zusätzliche Lösungen nach dem Vorbild bestehender Mechanismen in Betracht gezogen werden, wie z. B.:

die Verbindung mehrerer Verfahren auf Antrag der Beklagten in ihrem Gerichtsstand;

die zeitliche Beschränkung der Verfahrensdauer oder die Einführung eines beschleunigten Verfahrens (nach Wahlverfahren);

der Ausschluss der Möglichkeit, dass andere Personen als der Kläger die Klage finanzieren (Finanzierung durch Dritte).

3.12.

Angesichts der steigenden Zahl von SLAPP-Klagen empfiehlt der EWSA, dass die Mitgliedstaaten die in der Richtlinie enthaltenen neuen Anti-SLAPP-Regeln vorübergehend auf Klagen anwenden, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen Vorschriften bereits anhängig sind oder eingereicht wurden.

3.13.

Gleichzeitig müssen die nationalen Rechtsvorschriften zu den derzeitigen Maßnahmen zur Bekämpfung von SLAPP-Klagen überprüft werden. Die Wirksamkeit der bestehenden Mechanismen könnte zur Verbesserung der geplanten Maßnahmen und zum Schutz der gefährdeten Personen beitragen. Wenn es in den nationalen Rechtsvorschriften bereits Instrumente gibt, mit denen das Problem zumindest teilweise gelöst werden könnte, sollte ermittelt werden, aus welchen Gründen sie nicht angemessen angewandt werden. Eine solche Analyse könnte zum einen unabhängig von der geplanten Richtlinie die Situation der von SLAPP-Klagen bedrohten Teilnehmer an der sozialen Debatte verbessern und darüber hinaus für die Ausarbeitung und Umsetzung neuer Rechtsvorschriften von Nutzen sein.

3.14.

Die vorgeschlagene Richtlinie gilt nicht für innerstaatliche Fälle. Daher begrüßt der EWSA die Empfehlung (EU) 2022/758 der Kommission zum Schutz von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich öffentlich beteiligen, vor offenkundig unbegründeten oder missbräuchlichen Gerichtsverfahren. Er fordert die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, das gleiche Schutzniveau wie in der vorgeschlagenen Richtlinie zu gewährleisten. Das Handeln der EU sollte sich jedoch nicht auf Empfehlungen beschränken, sondern die Mitgliedstaaten verpflichten, ihre Rechtsvorschriften in diesem Bereich zu harmonisieren, um in allen Mitgliedstaaten ein gleiches Maß an Schutz vor SLAPP-Klagen zu gewährleisten. Dies gilt insbesondere für die rechtlichen Definitionen und den Schutzumfang bei SLAPP-Klagen, um unterschiedliche Auslegungen und unterschiedliche Schutzniveaus in den Mitgliedstaaten zu vermeiden.

3.15.

Da sich strategische Klagen, mit denen die öffentliche Debatte unterdrückt werden soll, zu einem immer größeren Problem entwickelt haben, empfiehlt der EWSA, die Anwendung der Richtlinie nach höchstens drei Jahren und nicht wie derzeit vorgesehen erst nach fünf Jahren zu überprüfen. Die Mitgliedstaaten sollten der Kommission daher zwei Jahre nach ihrer Umsetzung Informationen über die Anwendung der Richtlinie übermitteln. Die Kommission sollte den Bericht über die Anwendung der Richtlinie ein Jahr danach — d. h. drei Jahre nach ihrer Umsetzung — vorlegen.

3.16.

Der EWSA fordert die Kommission auf, bei der Vorbereitung der Überprüfung der Rechtsvorschriften Journalisten und alle Interessenträger, die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft zu konsultieren, um die von den Mitgliedstaaten bereitgestellten Informationen durch unabhängige Bewertungen der Anwendung der Richtlinie zu ergänzen.

3.17.

Es ist von entscheidender Bedeutung, die in der Empfehlung (EU) 2022/758 genannten Bildungsmaßnahmen umzusetzen. So bedarf es insbesondere angemessener Schulungen für Angehörige der Rechtsberufe (sowohl Richter als auch Rechtsanwälte, die in Verfahren als Verteidiger auftreten) sowie umfassenderer Bildungsmaßnahmen für die breite Öffentlichkeit der Mitgliedstaaten, da jede Bürgerin und jeder Bürger aufgrund einer Beteiligung an der öffentlichen Debatte mit einer SLAPP-Klage überzogen werden könnte. Bei diesen Bildungsmaßnahmen sollten SLAPP-Klagen mit transnationaler Dimension, die von der vorgeschlagenen Richtlinie abgedeckt werden, ausreichend berücksichtigt werden. Darüber hinaus müssen in allen Mitgliedstaaten allgemeine Kampagnen zur Verbreitung und Förderung des Rechts auf Meinungsäußerung bzw. Meinungsfreiheit zur Ergänzung und Verstärkung der Richtlinie durchgeführt werden.

3.18.

Als wichtiges Element des Systems zur Bekämpfung strategischer Einschüchterungsklagen sollte gefährdeten Personen und Organisationen überdies unentgeltliche Rechtsberatung angeboten werden. Der EWSA unterstützt die Einrichtung und Entwicklung von Rechtsberatungsstellen an Hochschulen und durch juristische Berufskammern sowie andere Einrichtungen, die eine solche Unterstützung leisten können. Es muss jedoch sichergestellt werden, dass die von den Mitgliedstaaten für diese Aufgabe empfohlenen Stellen glaubwürdig, unabhängig und professionell sind, und dass ihre Tätigkeit einer angemessenen unabhängigen Überprüfung durch die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats unterliegt.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  CASE Report.

(2)  Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (ABl. L 305 vom 26.11.2019, S. 17).

(3)  NAT/824 — Informationsbericht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses „Umweltschutz als Voraussetzung für die Achtung der Grundrechte“.

(4)  SOC/593 — Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses „Schutz von Whistleblowern auf der Ebene der EU“ (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 155).

(5)  SOC/635 — Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Freiheit und Vielfalt der Medien in Europa sichern“ (Initiativstellungnahme) EESC 2021/01539 (ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 9).

(6)  REX/545 — Informationsbericht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses „Unterstützung des unabhängigen Mediensektors in Belarus“.

(7)  Entschließung des Europäischen Parlaments zum schrumpfenden Handlungsspielraum für die Zivilgesellschaft in der EU (2021/2103(INI)) (ABl. C 347 vom 9.9.2022, S. 2).

(8)  Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (ABl. L 315 vom 14.11.2012, S. 57).

(9)  SOC/712 — Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Ein inklusiveres und besser schützendes Europa: Erweiterung der Liste der EU-Straftatbestände um Hetze und Hasskriminalität (EESC 2022/00299) (ABl. C 323 vom 26.8.2022, S. 83).

(10)  COM(2022) 177 final.

(11)  Empfehlung (EU) 2022/758 der Kommission vom 27. April 2022. zum Schutz von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich öffentlich beteiligen, vor offenkundig unbegründeten oder missbräuchlichen Gerichtsverfahren („Strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung“) (ABl. L 138 vom 17.5.2022, S. 30).


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/150


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 767/2008, (EG) Nr. 810/2009 und (EU) 2017/2226 des Europäischen Parlaments und des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1683/95, (EG) Nr. 333/2002, (EG) Nr. 693/2003 und (EG) Nr. 694/2003 des Rates und des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen in Hinblick auf die Digitalisierung des Visumverfahrens“

(COM(2022) 658 final)

(2023/C 75/21)

Berichterstatter:

Ionuţ SIBIAN

Befassung

Europäische Kommission, 28.6.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 AEUV

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

29.9.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

187/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Initiative zur Einführung eines vollständig digitalisierten Visumverfahrens. Ein zugängliches, rasches und zuverlässiges digitales Visumverfahren und ein insgesamt weniger papiergestütztes Immigrationssystem würde den mit der Einwanderung verbundenen Verwaltungsaufwand erheblich verringern.

1.2.

Der EWSA begrüßt die Digitalisierungsinitiative, da sie im Einklang mit dem allgemeinen Ansatz der Union zur Förderung der Modernisierung und Digitalisierung öffentlicher Verwaltungen und der Mitteilung der Kommission „Digitaler Kompass 2030: der europäische Weg in die digitale Dekade“ steht.

1.3.

Der EWSA sieht in dem Vorschlag eine wirkungsvolle Möglichkeit, das Verfahren für die Beantragung von Visa zu optimieren, indem die Kosten und der Aufwand sowohl für die Mitgliedstaaten als auch für die Antragsteller verringert, die Rechtssicherheit gewährleistet und gleichzeitig die Sicherheit des Schengen-Raums erhöht werden.

1.4.

Der EWSA begrüßt, dass die vorgeschlagene Digitalisierung des Antragsverfahrens die Einschränkung der Mobilität von Drittstaatsangehörigen, die ein Visum beantragen, minimieren wird, da sie ihr Reisedokument nun nicht mehr persönlich vorlegen müssen.

1.5.

Bei der Digitalisierung des Verfahrens für die Beantragung von Visa muss jede (unbeabsichtigte) Form der Diskriminierung vermieden werden, die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind ebenso zu achten wie die Rechte von Personen, denen digitale Kompetenzen fehlen oder die keinen Internetzugang haben. Bei der Digitalisierung des Visumverfahrens müssen die Anforderungen an die Barrierefreiheit erfüllt werden, die in der Richtlinie über einen barrierefreien Zugang zum Internet (1) und im europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit (2) festgelegt sind.

1.6.

Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, bei den IT-Lösungen, die für die EU-Visumantragsplattform verwendet werden, Tools/Instrumente vorzusehen, mit denen die Rechte des Kindes geschützt und Menschenhandel vorgebeugt wird.

1.7.

Die digitale EU-Visumantragsplattform sollte vollständig mit den nationalen Visasystemen der einzelnen Mitgliedstaaten vernetzt sein.

1.8.

Der EWSA hält eine „digitale EU-Botschaft“ als zentrale Anlaufstelle auf EU-Ebene für erforderlich, die einheitliche Anforderungen für Belege festlegt und Informationen und Anleitungen für das Antragsverfahren für Reisende bereithält.

1.9.

Nach Auffassung des EWSA wird die Digitalisierung des Visumverfahrens die EU als Reiseziel attraktiver machen und mehr Reisende anlocken.

1.10.

Der EWSA erkennt an, dass die Digitalisierung des Visumverfahrens positive Auswirkungen auf die Umwelt haben könnte und dass die zentrale Plattform für die Beantragung eine energieeffiziente Lösung ist.

1.11.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, sich nachdrücklich zu einer Zusammenarbeit mit den Regierungen von Drittstaaten, Botschaften/Konsulaten der Mitgliedstaaten und der organisierten Zivilgesellschaft zu verpflichten, um die Antragsteller während des gesamten Verfahrens für die Beantragung von Visa zu informieren, vorzubereiten und zu unterstützen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.   Hintergrund der Stellungnahme und des betreffenden Legislativvorschlags

2.1.1.

Der Vorschlag zur Digitalisierung des Verfahrens für Schengen-Visa wurde 2018 angekündigt. Damals schlug die Kommission vor, den Visakodex zu überarbeiten, und betonte, dass digitale Visa auf lange Sicht die Zukunft sind. Das Europäische Parlament und der Rat begannen dann 2019 mit der Überarbeitung des EU-Visakodex. Sie führten aus, dass sie unter umfassender Nutzung der aktuellen rechtlichen und technischen Entwicklungen eine gemeinsame Lösung entwickeln wollten, damit Schengen-Visumanträge künftig online gestellt werden.

2.1.2.

2020 führte die COVID-19-Pandemie weltweit zu einer Verlangsamung der Schengen-Visumverfahren, da Antragsteller nicht mehr problemlos in den Botschaften und Konsulaten vorgelassen wurden. Die Mitgliedstaaten forderten deshalb erneut, die Arbeiten zur Digitalisierung der Visumverfahren zu beschleunigen.

2.1.3.

In ihrem Arbeitsprogramm 2021 kündigte die Europäische Kommission einen Legislativvorschlag zur Digitalisierung des Visumverfahrens für das 4. Quartal 2021 an. Das im September 2020 vorgeschlagene neue Migrations- und Asylpaket sieht unter anderem vor das Visumverfahren bis 2025 vollständig zu digitalisieren, mit einem digitalen Visum und der Möglichkeit, Visumanträge online zu stellen.

2.1.4.

Am 27. April 2022 legte die Kommission einen Vorschlag zur Digitalisierung der EU-Visa vor. Mit dem Vorschlag wird Folgendes angestrebt:

Modernisierung, Vereinfachung und Harmonisierung des Verfahrens zur Beantragung von Visa durch die Digitalisierung des Visumverfahrens und

Verringerung des Risikos von (Identitäts-)Betrug und Nachahmung und die Erleichterung des Überprüfungsverfahrens an der Grenze durch Digitalisierung.

2.1.5.

In dem Vorschlag ist die Einrichtung einer zentralen Online-Plattform vorgesehen. Das System hätte folgende Vorteile:

Antragsteller könnten unabhängig von dem Schengen-Land, in das sie reisen wollen, ein Visum online über eine zentrale EU-Plattform beantragen und auch die Visumgebühr über diese Plattform entrichten.

Die Plattform ermittelt automatisch, welches Schengen-Land für die Prüfung eines Antrags zuständig ist, insbesondere wenn der Antragsteller beabsichtigt, in mehrere Schengen-Länder zu reisen.

Die Plattform bietet Antragstellern aktuelle Informationen über Visa für kurzfristige Aufenthalte in Schengen-Ländern sowie alle erforderlichen Informationen zu Anforderungen und Verfahren (z. B. Belege, Visumgebühren und ob ein Termin erforderlich ist, um biometrische Identifikatoren zu erfassen).

Nur für Erstantragsteller, für die Erfassung biometrischer Identifikatoren sowie für Antragsteller, deren biometrische Daten nicht mehr gültig sind oder die ein neues Reisedokument erworben haben, ist es erforderlich, persönlich im Konsulat vorstellig zu werden.

Das Visum wird moderne Sicherheitsmerkmale enthalten, die sicherer als die derzeitige Visummarke sind.

2.1.6.

In dem Vorschlag für eine Verordnung wird hervorgehoben, dass das neue System den Schutz der Grundrechte gewährleistet.

2.1.7.

Die Agentur der Europäischen Union für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (eu-LISA) wird für die technische Entwicklung und das Betriebsmanagement der EU-Visumantragsplattform und ihrer Komponenten als Teil des VIS verantwortlich sein.

2.1.8.

Alle ausländischen Staatsangehörigen, die ein Visum für eines der 26 Schengen-Länder benötigen, können die digitale Schengen-Visumantragsplattform nutzen, sobald diese betriebsbereit ist. Bei den verbleibenden fünf nicht zum Schengen-Raum gehörenden EU-Mitgliedstaaten kann die Plattform nicht genutzt werden, da sie noch nicht zur Ausstellung von Schengen-Visa berechtigt sind.

2.1.9.

Reisende aus Ländern, die von der Visumpflicht für den Schengen-Raum befreit sind, müssen die Plattform nicht nutzen. Stattdessen müssen sie für die Einreise nach Europa ab November 2023 eine ETIAS-Genehmigung beantragen (3).

2.2.   Allgemeine Bemerkungen

2.2.1.

Der EWSA begrüßt die Initiative zur Einführung eines vollständig digitalisierten Visumverfahrens. Ein zugängliches, rasches und zuverlässiges digitales Visumverfahren und ein insgesamt weniger papiergestütztes Immigrationssystem würde den mit der Einwanderung verbundenen Verwaltungsaufwand erheblich verringern. Die Verwaltung, Bearbeitung und Archivierung von Dokumenten in Papierform ist ebenso wie ihre Vernichtung zeitaufwendig und kostspielig für die Konsulate. Daneben würde die Digitalisierung des Visumverfahrens den Mitgliedstaaten wie auch den Drittstaatsangehörigen, die ein Visum beantragen, viele Vorteile bringen.

2.2.2.

Das vorgeschlagene Online-System muss so konzipiert werden, dass Anträge rasch bearbeitet werden und das System nutzerfreundlich, sicher (hinreichende Garantien für die Sicherheit der eingegebenen Daten) und berechenbar (im Einklang mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit) ist. Das System muss zuverlässig funktionieren. Die Antragsteller müssen sich darauf verlassen können, dass Online-Visumanträge in wenigen Tagen bearbeitet werden.

2.2.3.

Die Angleichung und Vereinheitlichung der Verfahren für die Beantragung von Visa im Schengen-Raum wird dazu beitragen, dass die Gefahr des „Visum-Shoppings“ sinkt, bei dem Antragsteller möglicherweise versucht sind, ihren Visumantrag in einem Schengen-Land zu stellen, das eine raschere und bequemere Bearbeitung in Aussicht stellt als das Land, in das sie eigentlich reisen wollen (beispielsweise Visa-Shopping durch russische Staatsbürger, falls keine allgemeine Einigung über die Aussetzung des Visaerleichterungsabkommens der EU erzielt wird). Die Digitalisierung des Visumverfahrens wird auch die Sicherheitsrisiken verringern, die mit der Visummarke verbunden sind, d. h. die Gefahr von Fälschung, Betrug und Diebstahl. Der Vorschlag fügt sich auch in den allgemeinen Ansatz der Union zur Förderung der Modernisierung und Digitalisierung öffentlicher Verwaltungen ein.

2.2.4.

Der EWSA sieht in dem Vorschlag eine wirkungsvolle Möglichkeit, das Verfahren für die Beantragung von Visa zu optimieren, indem die Kosten und der Aufwand sowohl für die Mitgliedstaaten als auch für die Antragsteller verringert und gleichzeitig die Sicherheit des Schengen-Raums erhöht werden.

2.2.5.

Der EWSA begrüßt, dass die vorgeschlagene Digitalisierung des Visumantragsverfahrens die Einschränkung der Mobilität von Drittstaatsangehörigen, die ein Visum beantragen, minimieren wird. Da die Antragsteller ihre Reisedokumente nicht länger beim Konsulat oder der Visumantragstelle vorlegen müssen, können sie ins Ausland reisen, während ihr Visumantrag bearbeitet wird. Der EWSA ist der Ansicht, dass dies denen zugutekommen wird, die im Zusammenhang mit ihrer Arbeit regelmäßig reisen (4), ebenso wie Aktivistinnen und Aktivisten sowie Angehörigen von Minderheitengruppen (z. B. LGBTQI+, Roma), denen so mehr Möglichkeiten gegeben werden, erforderlichenfalls an einen für sie sicheren Ort zu reisen.

2.2.6.

Die digitale Visumantragsplattform sollte vollständig mit den nationalen Visasystemen der einzelnen Mitgliedstaaten vernetzt sein. Auf diese Weise würde sichergestellt, dass das neue digitale Visasystem wie auch das digitale Visum selbst von Anfang an in die digitalen Visasysteme der Mitgliedstaaten integriert und so konzipiert ist, dass vollständige Interoperabilität zwischen den Mitgliedstaaten gegeben ist.

2.2.7.

Allerdings ist eine „digitale EU-Botschaft“ als zentrale Anlaufstelle auf EU-Ebene erforderlich, die einheitliche Anforderungen für Belege festlegt und Informationen und Anleitungen für das Antragsverfahren für Reisende bereithält.

2.2.8.

Der EWSA schließt sich der Auffassung an, dass die Digitalisierung des Visumverfahrens die EU als Reiseziel attraktiver machen und mehr Reisende anlocken wird.

2.2.9.

Daneben empfiehlt der EWSA der Kommission, sich nachdrücklich zur Zusammenarbeit mit den Regierungen und der organisierten Zivilgesellschaft von Drittstaaten zu bekennen, damit diese ihre Staatsangehörigen während des gesamten Verfahrens für die Beantragung von Visa informieren, vorbereiten und unterstützen.

2.3.   Besondere Bemerkungen

2.3.1.

Die Digitalisierung des Verfahrens für die Beantragung von Visa wird die Abhängigkeit der Mitgliedstaaten von externen Dienstleistern und somit auch die Gefahr der Weitergabe personenbezogener Daten an Dritte verringern.

2.3.2.

Das digitale Visum wird die Fälschung von Visummarken erschweren, da das Visum digital und nicht wie die Visummarke physisch ist. Außerdem würden die hohen Kosten im Zusammenhang mit der Visummarke entfallen.

2.3.3.

Ein Vorteil des digitalen Visums würde sich bei Diebstahl oder Verlust des Reisedokuments zeigen. Das neue Reisedokument könnte nämlich leicht mit dem vorhandenen Visum in Verbindung gebracht werden, ohne dass wie bisher ein neues Visum beantragt werden muss, da die Visummarke bislang physisch mit dem Reisedokument verbunden ist. Somit würden die Kosten für die Mitgliedstaaten wegfallen, die durch die Ausstellung eines neuen Visums entstehen, und auch den Antragstellern würden durch das vorgeschlagene neue digitale System keine zusätzlichen Kosten entstehen.

2.3.4.

Bei der Digitalisierung des Visumverfahrens muss sichergestellt werden, dass den jeweiligen besonderen Bedürfnissen Rechnung getragen wird, dass die Rechte von Menschen mit Behinderungen geachtet werden und dass das Antragsverfahren diskriminierungsfrei zugänglich ist. Dazu gehört auch die Erfüllung der Anforderungen an die Barrierefreiheit, die in der europäischen Richtlinie über einen barrierefreien Zugang zum Internet (Richtlinie über den barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Anwendungen) und im europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit festgelegt sind.

2.3.5.

Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, bei den IT-Lösungen, die für die EU-Visumantragsplattform verwendet werden, Tools/Instrumente vorzusehen, mit denen die Rechte des Kindes geschützt und Menschenhandel vorgebeugt wird.

2.3.6.

Digitalisierung darf nicht mit Automatisierung und dem Einsatz künstlicher Intelligenz gleichgesetzt werden. Die Digitalisierung des Visumverfahrens darf daher nicht zu Personalabbau führen.

2.3.7.

Den für die Bearbeitung der Visumanträge zuständigen Verwaltungsbediensteten müssen ferner angemessene Schulungen angeboten werden, damit die Vorteile der Digitalisierung des Verfahrens genutzt und Fehler vermieden werden können.

2.3.8.

Es muss zusätzliche Unterstützung für die Botschaften (Konsulate) der Mitgliedstaaten und die Zivilgesellschaft bereitgestellt werden, um mögliche Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Zugang zum Internet und den IT-Kenntnissen von Antragstellern in Drittländern zu bewältigen, damit sie beim Zugang zu dem System für die Beantragung eines Visums nicht diskriminiert werden.

2.3.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass sich die Digitalisierung des Visumverfahrens positiv auf die Umwelt auswirken könnte, da im Rahmen des Visumsantragssystems und für die Ausstellung der Visummarke weniger Papier verbraucht und verschwendet wird und die Antragsteller weder zur Beantragung des Visums noch nach dem Abschluss der Bearbeitung des Antrags zur Abholung der Reisedokumente anreisen müssen. Der EWSA ist sich zwar bewusst, dass die Digitalisierung (Speicherung und Verwaltung von Daten) Energie erfordert, die CO2-Emissionen verursacht, ist jedoch der Auffassung, dass eine zentrale Visumantragsplattform eine energieeffizientere Lösung ist als eine Plattform für jeden Mitgliedstaat.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Richtlinie (EU) 2016/2102 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen (ABl. L 327 vom 2.12.2016, S. 1).

(2)  Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (ABl. L 151 vom 7.6.2019, S. 70).

(3)  https://www.etiasvisa.com/etias-form-application.

(4)  Beispielsweise Vertreterinnen und Vertreter von Unternehmen, Gewerkschaften oder der organisierten Zivilgesellschaft.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/154


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Qualitäts- und Sicherheitsstandards für zur Verwendung beim Menschen bestimmte Substanzen menschlichen Ursprungs und zur Aufhebung der Richtlinien 2002/98/EG und 2004/23/EG

(COM(2022) 338 — 2022/0216 (COD))

(2023/C 75/22)

Hauptberichterstatter:

Tymoteusz Adam ZYCH

Befassung durch

Europäisches Parlament, 12.9.2022

Rat der Europäischen Union, 22.7.2022

Rechtsgrundlagen

Artikel 168 Absatz 4 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Verabschiedung im Plenum

27.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

151/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Qualitäts- und Sicherheitsstandards für zur Verwendung beim Menschen bestimmte Substanzen menschlichen Ursprungs und zur Aufhebung der Richtlinien 2002/98/EG und 2004/23/EG (1), da er für den Schutz der öffentlichen Gesundheit, das Wohlergehen der Patienten in den Ländern der Europäischen Union und das Innovationspotenzial der EU von großer Bedeutung ist.

1.2.

Die Festlegung gemeinsamer grundlegender Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Substanzen menschlichen Ursprungs (substances of human origin, SoHO) im Einklang mit dem derzeitigen Stand des medizinischen Wissens ist sinnvoll, und der EWSA teilt die Auffassung, dass eine neue kohärente Regelung in diesem Bereich erforderlich ist.

1.3.

Der EWSA hält es für angemessen, den Anwendungsbereich der Verordnung so zu definieren, dass nicht nur SoHO, die noch nicht auf europäischer Ebene geregelt sind (z. B. Muttermilch), sondern auch etwaige künftig verwendete SoHO abgedeckt sind.

1.4.

Der EWSA unterstützt rechtliche Änderungen, durch die die Kosten für die EU-Institutionen, die Mitgliedstaaten und die Bürger gesenkt werden, insbesondere indem veraltete Tests und systematische Screening-Maßnahmen aus den Rechtsvorschriften gestrichen werden. Die Wirksamkeit der Bestimmungen der Verordnung sollte kontinuierlich überwacht werden, wobei der Notwendigkeit Rechnung zu tragen ist, die Sicherheit und Qualität der SoHO zu wahren und die Standards einzuhalten, die sich aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben.

1.5.

Der EWSA begrüßt die Einführung einheitlicher grundlegender Standards für die Führung von Registern der SoHO-Einrichtungen. Unterstützt wird dies durch die Schaffung einer SoHO-Plattform der EU, die durch einen kontinuierlichen und raschen Informationsaustausch zur Verbesserung der Sicherheit der öffentlichen Gesundheit in der Union beitragen wird.

1.6.

Der EWSA unterstützt die Annahme von Lösungen zur Stärkung der Rechte von SoHO-Gebern und zur Behebung von Mängeln in den bestehenden Vorschriften. In diesem Zusammenhang betont der EWSA, dass die Bekräftigung des Grundsatzes der kostenlosen SoHO-Spende im Entwurf von wesentlicher Bedeutung ist, um Missbrauch und die Sicherheit der SoHO-Lieferung zu unterbinden. Der Ausschuss erinnert daran, dass sich die Forderung nach strikter Einhaltung dieser Bestimmung aus Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe c der EU-Grundrechtecharta ableitet, nach dem im Rahmen der Medizin und der Biologie ein „Verbot [gilt], den menschlichen Körper und Teile davon als solche zur Erzielung von Gewinnen zu nutzen“.

1.7.

Nach Ansicht des EWSA sollte besonderes Augenmerk auf eine zuverlässige und systematische Kontrolle der SoHO-Einrichtungen in Bezug auf Sicherheit und Qualität sowie die Art der Gewinnung von SoHO gelegt werden. Besonders wichtig ist es, kontinuierlich zu überwachen und zu kontrollieren, ob SoHO-Importeure die geltenden Regeln einhalten. SoHO, die aus Drittstaaten eingeführt werden, sollten denselben Qualitäts- und Sicherheitsstandards genügen wie in der EU gewonnene SoHO.

2.   Einleitung

2.1.

Gegenstand dieser Stellungnahme ist der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Qualitäts- und Sicherheitsstandards für zur Verwendung beim Menschen bestimmte Substanzen menschlichen Ursprungs und zur Aufhebung der Richtlinien 2002/98/EG und 2004/23/EG (SoHO-Verordnung).

2.2.

Wie in der Begründung des Vorschlags dargelegt, dient die SoHO-Verordnung folgenden Zielen: 1) Gewährleistung der Sicherheit und Qualität für Patienten, die mit SoHO-Therapien behandelt werden, sowie umfassender Schutz vor vermeidbaren Risiken im Zusammenhang mit SoHO, 2) Gewährleistung der Sicherheit und Qualität für SoHO-Spender und für Kinder, die mithilfe von Eizell-, Samen- oder Embryonenspenden geboren werden, 3) Stärkung der Aufsichtsverfahren unter den Mitgliedstaaten und ihre Harmonisierung, 4) Erleichterung der Entwicklung sicherer und wirksamer innovativer SoHO-Therapien und 5) Erhöhung der Resilienz der Branche und Verringerung des Risikos von Engpässen. Die vorgeschlagenen Lösungen sind eine Reaktion auf den mangelhaften Schutz von Patienten und Spendern von Blut, Gewebe und Zellen sowie von Nachkommen, die aus gespendeten Zellen oder Embryonen geboren wurden, vor vermeidbaren Risiken im Zusammenhang mit veralteten technischen Vorschriften, auf die unterschiedlichen Ansätze der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Überwachung, die den grenzüberschreitenden Austausch von Blut, Gewebe und Zellen behindern, auf die Exposition gegenüber Störungen der Versorgung mit Blut, Gewebe und Zellen sowie auf die unvollständige Nutzung des Potenzials von Blut, Gewebe und Zellen, die auf neue Weise verarbeitet oder verwendet werden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA ist sich der neuen Anforderungen im Zusammenhang mit der Entwicklung der Medizin, insbesondere der Biotechnologie, bewusst, die neue Möglichkeiten für den Einsatz von SoHO in vielen Formen der Therapie in der gesamten EU bieten. Zugleich stellt der EWSA fest, dass einige der bestehenden Standards aufgrund der Entwicklung neuer Behandlungsmethoden veraltet sind.

3.2.

Der EWSA begrüßt deshalb den Vorschlag der Europäischen Kommission für die SoHO-Verordnung, weil er SoHO pauschal als „Blut, Gewebe und Zellen“ erfasst. Dies ist ein angemessener und vorausschauender Ansatz, da Substanzen, die uns derzeit noch unbekannt sind, aber möglicherweise in Zukunft therapeutisch verwendet werden, rechtlich unter die bestehenden Sicherheits- und Qualitätsvorschriften fallen werden.

3.3.

Der EWSA begrüßt die Anpassung des Rechtsrahmens an den Grundsatz der finanziellen Neutralität, der vom Ausschuss für Bioethik des Europarates empfohlen wurde. Mit dem Vorschlag werden auch der derzeitige Rechtsrahmen harmonisiert und insbesondere die Bestimmungen über den Schutz und die Überwachung von Spendern sowie über die Meldung genetischer Krankheiten bei Kindern, die mithilfe medizinisch unterstützter Fortpflanzung geboren wurden, gestärkt.

3.4.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag für einen einheitlichen rechtlichen Ansatz in allen Mitgliedstaaten und hält ihn für angemessen. Dies wird unmittelbar dazu beitragen, dass die SoHO-Qualitäts- und -Sicherheitsstandards in den EU-Ländern eingehalten werden.

3.5.

Der EWSA begrüßt die zu erwartenden Auswirkungen des Inkrafttretens der Verordnung, u. a. die Festlegung gemeinsamer allgemeiner Sicherheits- und Qualitätsstandards, die Einbeziehung aller derzeit nicht geregelten SoHO in den Geltungsbereich der Verordnung, die Erleichterung des Austauschs von SoHO zwischen den Mitgliedstaaten, die Verpflichtung zur Ergreifung von Maßnahmen zur Krisenvorsorge auf Betreiber- und nationaler Ebene sowie zur Überwachung der Versorgung und nicht zuletzt die Schaffung eines Rechtsrahmens, der Innovationen fördert, die Sicherheit, Zugänglichkeit und Wirksamkeit von SoHO verbessert und zukunftssicher ist.

3.6.

Der EWSA begrüßt insbesondere, dass die technischen Leitlinien auf den Erkenntnissen europäischer Expertengremien beruhen. Dies ist der beste Weg, um sicherzustellen, dass die Rechtsvorschriften im Einklang mit einer evidenzbasierten Medizin stets auf dem neuesten Stand sind.

3.7.

Der EWSA begrüßt, dass der Grundsatz der Freiwilligkeit und Unentgeltlichkeit der Spenden, der bisher ausdrücklich bei den Standards für die Blutspende formuliert ist, auf alle derzeit verwendeten SoHO (z. B. Muttermilch) sowie SoHO ausgeweitet wurde, die derzeit nicht definiert, jedoch künftig verwendet werden können. Es sei darauf hingewiesen, dass die Verordnung eine Entschädigung zulässt, um etwaige Risiken eines finanziellen Nachteils für den Spender durch die Spende auszuräumen, wobei festgelegt wird, dass diese Entschädigung niemals ein Anreiz für potenzielle Spender sein darf, falsche Angaben zu machen oder häufiger als erlaubt zu spenden. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der Grundsatz der Unentgeltlichkeit der Spende von SoHO für die Verhinderung von Missbrauch und die Sicherheit der Gewinnung von SoHO von wesentlicher Bedeutung ist. Der Ausschuss erinnert daran, dass sich die Forderung nach strikter Einhaltung dieser Bestimmung aus Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe c der EU-Grundrechtecharta ableitet, nach dem im Rahmen der Medizin und der Biologie ein „Verbot [gilt], den menschlichen Körper und Teile davon als solche zur Erzielung von Gewinnen zu nutzen“. Die Mitgliedstaaten sollten dies bei der Festlegung der Regeln für die Gewährung solcher Leistungen in ihren nationalen Rechtsvorschriften berücksichtigen.

3.8.

Der EWSA unterstützt die Einführung einheitlicher grundlegender Standards für die Führung von Registern der SoHO-Einrichtungen durch die Mitgliedstaaten. Unterstützt wird dies durch die Schaffung einer SoHO-Plattform der EU, die durch einen kontinuierlichen und raschen Informationsaustausch zur Verbesserung der Sicherheit der öffentlichen Gesundheit in der Union beitragen wird. Positiv zu bewerten ist auch die Einrichtung des SoHO-Koordinierungsgremiums, das zur wirksamen Umsetzung der in der Verordnung verankerten Qualitäts- und Sicherheitsstandards beitragen kann.

3.9.

In dem Vorschlag ist festgelegt, dass die Verantwortung für Entscheidungen ethischer und organisatorischer Natur bei den Mitgliedstaaten liegt. Dies ist im Hinblick auf den Umfang der vertraglich verankerten Zuständigkeiten der Union und der Mitgliedstaaten angemessen und im Zusammenhang mit dem Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Verordnung, der organisatorischer und technischer Natur ist, auch verständlich. Ziel der SoHO-Verordnung ist es, die Qualität, Sicherheit und Verfügbarkeit von SoHO zu gewährleisten und ihre Herstellung und ihren Transport zu kontrollieren. Der EWSA weist jedoch darauf hin, dass die Entwicklung der Biotechnologie ebenso wie die Sicherheit und Qualitätskontrolle anhand der Standards bewertet werden muss, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind.

3.10.

In der vorgeschlagenen Verordnung werden die Befugnisse des Personals der zuständigen Behörden und der Personen, die Aufsichtstätigkeiten ausüben, festgelegt. In der Verordnung wird darauf hingewiesen, wie wichtig ein angemessener beruflicher Hintergrund und regelmäßige Schulungen, auch auf EU-Ebene, sind. Die Verordnung enthält jedoch keine näheren Angaben zur Ausbildung und erforderlichen beruflichen Erfahrung des Personals (mit Ausnahme von Artikel 51, in dem die erforderlichen Qualifikationen des von der SoHO-Einrichtung benannten Arztes festgelegt sind). Der besondere Charakter der Arbeit mit SoHO erfordert jedoch die Zusammenarbeit zahlreicher Fachleute innerhalb eines Teams, etwa mit entsprechenden Kompetenzen im Bereich Biotechnologie, in anderen Fällen mit einer entsprechenden ärztlichen Spezialisierung oder gegebenenfalls mit einer Spezialisierung in den Bereichen Ethik oder Jura. Der EWSA schlägt deshalb eine Bestimmung vor, wonach die zuständigen Behörden ein interdisziplinäres Expertenteam umfassen müssen.

4.   Niveau der Regulierung und Anwendungsbereich der Verordnung

4.1.

Der EWSA begrüßt, dass die Verordnung mit dem Subsidiaritätsprinzip in Einklang steht. Die in der Verordnung festgelegten Ziele sind für die Mitgliedstaaten allein sehr viel schwerer erreichbar oder können nicht in vergleichbar wirksamer Weise erreicht werden. Die Verordnung hat deshalb einen klaren europäischen Mehrwert. Von Vorteil ist vor allem, dass sich die Umsetzung von Standards und Leitlinien auf Expertengremien wie das ECDC oder das EDQM stützt und Daten über eine gemeinsame SoHO-Plattform für Europa ausgetauscht werden sollen.

4.2.

Laut der vorgeschlagenen Definition ist „medizinisch unterstützte Fortpflanzung“ die Ermöglichung bzw. Erleichterung der Empfängnis durch intrauterine Insemination von Spermien, In-vitro-Fertilisation oder jeden anderen labortechnischen oder medizinischen Eingriff, der die Empfängnis fördert. Nach Ansicht des EWSA sollte diese Definition präzisiert werden. Nachvollziehbar ist, dass der Anwendungsbereich der Verordnung Verfahren umfassen sollte, in denen SOHO verwendet werden oder bei denen SoHO gewonnen werden. Die Formulierung „jeder andere medizinische Eingriff, der die Empfängnis fördert“ in der Definition führt jedoch dazu, dass auch andere Methoden, bei denen keine SoHO verwendet werden und die nicht mit den Standards der Verordnung in Zusammenhang stehen, in ihren Anwendungsbereich fallen.

5.   Sicherheit der Präparate und Kontrolle der SoHO-Einrichtungen

5.1.

Der EWSA begrüßt die Präzisierung der Qualitäts- und Sicherheitsstandards für SoHO und die Einführung wirksamer Kontrollmechanismen für SoHO-Einrichtungen. Die vorgeschlagenen Lösungen werden den Zugang der Patienten zu hochwertigen Therapien verbessern und sich positiv auf die öffentliche Gesundheit in der Europäischen Union auswirken.

5.2.

In diesem Zusammenhang weist der Ausschuss darauf hin, dass Qualitäts- und Sicherheitsstandards für alle in der Europäischen Union verwendeten SoHO gelten sollten, einschließlich SoHO, die aus Drittstaaten eingeführt werden. Der EWSA weist zudem darauf hin, dass die in der Verordnung vorgesehenen Kontrollmechanismen wirksam und systematisch auf die an der Einfuhr von SoHO Beteiligten angewandt werden müssen, insbesondere im Hinblick auf Qualität und Sicherheit der Präparate. Dies ist besonders wichtig im Hinblick auf die Erleichterung von SoHO-Importen aus Drittstaaten. Der EWSA fordert, dass die EU-Institutionen alle erforderlichen Schritte unternehmen, um zu verhindern, dass sich eine Industrie bezahlter Zell- und Gewebespenden entwickelt, wie dies in manchen Teilen der Welt der Fall ist.

5.3.

Wenn ein Mitgliedstaat ein neues Verfahren zulässt, dann unterliegen dessen Sicherheit und Qualitätsstandards laut dem Verordnungsvorschlag den EU-Vorschriften der SoHO-Verordnung. Der EWSA weist darauf hin, dass auch neue Verfahren, die außerhalb der EU angewandt werden, einer ständigen Bewertung durch die zuständigen Expertengremien auf EU-Ebene unterzogen werden sollten.

5.4.

Gemäß Artikel 7 der vorgeschlagenen Verordnung müssen die zuständigen Behörden zur Vermeidung von Interessenkonflikten die Unparteilichkeit ihres Personals gewährleisten. Um dieses Ziel wirksam zu erreichen, schlägt der EWSA vor, dass die Anforderung auch für den Zeitraum unmittelbar vor der Arbeitsaufnahme der betreffenden Mitarbeiter gelten soll.

5.5.

Gemäß Artikel 29 Absatz 7 des Verordnungsvorschlags sind die Inspektoren befugt, zu überprüfen, ob die SoHO-Betriebsstätten die Standards für den Schutz von Spendern und Empfängern, die Standards für die Bereitstellung von Informationen sowie die Standards hinsichtlich des freiwilligen und unentgeltlichen Charakters der Spenden einhalten. Nach Ansicht des EWSA sollten die Befugnisse der Inspektoren, zu denen auch umfassende Kontrollen gehören sollten, gestärkt werden.

6.   Rechte der SoHO-Spender

6.1.

Der EWSA begrüßt die Aufnahme von Lösungen in den Entwurf der SoHO-Verordnung, mit denen die Rechte von SoHO-Spendern systematisch gestärkt und die Mängel der bestehenden Rechtsvorschriften ausgeräumt werden.

6.2.

Artikel 53, in dem die Standards für den Schutz von Spendern festgelegt sind, sieht in Absatz 1 Buchstabe b vor, dass die Informationen für Spender oder in ihrem Namen handelnde Personen in einer Form zur Verfügung zu stellen sind, die ihrer Fähigkeit, diese zu begreifen, angemessen ist. Um jegliche Zweifel in Bezug auf die Auslegung auszuräumen, ist nach Auffassung des EWSA festzulegen, dass die bereitgestellten Informationen vollständig und eindeutig sein müssen, damit die in der Medizin allgemein anerkannte Bedingung der Einwilligung nach Aufklärung erfüllt ist.

6.3.

Gemäß Artikel 55 Absatz 3 Buchstabe c sind die SoHO-Einrichtungen verpflichtet, den Spendern Informationen über das Recht auf Widerruf der Einwilligung und etwaige Einschränkungen des Rechts auf Widerruf der Einwilligung zur Verfügung zu stellen. Nach Ansicht des EWSA kann das Recht auf Widerruf der Einwilligung nur durch bestimmte Sachverhalte eingeschränkt werden, z. B. wenn das Verfahren bereits begonnen hat. Um Verstöße gegen ein Grundrecht des Patienten, nämlich das Recht auf Selbstbestimmung, zu verhindern, erscheint es gerechtfertigt, eine erschöpfende Liste von Fällen vorzusehen, in denen das Recht auf Widerruf der Einwilligung eingeschränkt werden kann.

7.   Datenschutz

7.1.

Der EWSA begrüßt, dass in der Verordnung bekräftigt wird, dass strenge Vertraulichkeitsverpflichtungen gemäß der Datenschutz-Grundverordnung (2) (DSGVO) in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten von SoHO-Spendern und -Empfängern eingehalten werden müssen, auch in Bezug auf die Beschränkung des Zwecks der Verarbeitung personenbezogener Daten und die Beschränkung der Daten auf ein Mindestmaß.

7.2.

Nach Ansicht des EWSA ist es gerechtfertigt, zwischen der freiwilligen Einwilligung in die Spende nach Kenntnis der Sachlage gemäß dem Verordnungsentwurf und der gesonderten Pflicht zur Einwilligung in die Verarbeitung personenbezogener Daten betreffend die Gesundheit des Spenders im Sinne der DSGVO zu unterscheiden, denn es handelt sich nicht um identische Anforderungen.

Brüssel, den 27. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  COM(2022) 338.

(2)  Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. L 119 vom 4.5.2016, S. 1).


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/159


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten, zur Änderung der Verordnung (EU) 2019/1020 und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 305/2011

(COM(2022) 144 final)

(2023/C 75/23)

Berichterstatter:

Manuel GARCÍA SALGADO

Ko-Berichterstatter:

Domenico CAMPOGRANDE

Befassung

Europäisches Parlament, 18.5.2022

 

Rat der Europäischen Union, 30.5.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständiges Arbeitsorgan

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

13.9.2022

Verabschiedung im Plenum

27.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

139/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Auffassung, dass der Vorschlag der Europäischen Kommission keine kurzfristigen Lösungen vorsieht, um die derzeitigen Verzögerungen bei der Veröffentlichung neuer Normen im Amtsblatt der Europäischen Union zu beheben. So strebt die Kommission eine Überarbeitung der Bauprodukteverordnung (1) an, die selbst bei erfolgreicher Durchführung erst nach zehn Jahren zu Ergebnissen führen wird.

1.2.

Der EWSA stellt mit Besorgnis fest, dass für den Übergang von der derzeit geltenden zur überarbeiteten Verordnung ein Zeitraum von 20 Jahren vorgeschlagen wurde. Dies könnte zu praktischen Problemen führen, da ein Zeitraum von 20 Jahren für die schrittweise Einführung harmonisierter technischer Spezifikationen schlichtweg zu lang ist. Das aktuelle Normungssystem ist nicht praktikabel, da es den von der Kommission aufgeworfenen Fragen und neu festgelegten politischen Prioritäten nicht entsprechen kann.

1.3.

Der EWSA stellt mit Besorgnis fest, dass die Kommission den Mitgliedstaaten zwar mehrere politische Optionen vorgelegt hat, gleichzeitig jedoch erneut den alten Ansatz aufgreift, nach dem technische Spezifikationen von Regulierungsbehörden auf europäischer Ebene verfasst werden. Dies ist vor allem deshalb besorgniserregend, da bei einem solchen zentralisierten Prozess kleinere Akteure der Industrie geringere Möglichkeiten hätten, ihre Meinung zu äußern und ihre Standpunkte einzubringen.

1.4.

Der EWSA unterstützt im Einklang mit der Baubranche die Ausarbeitung einer Alternative zu der von der Kommission vorgeschlagenen Option. Die Normung sollte weiterhin im Mittelpunkt stehen. Es wird notwendig sein, die Beratungen fortzusetzen und alle interessierten Akteure (die Mitgliedstaaten, das Europäische Komitee für Normung (CEN), die Europäische Kommission usw.) um Zusammenarbeit zu ersuchen, damit eine tragfähige Lösung vorgeschlagen werden kann, bei der harmonisierte Normen einen grundlegenden Bestandteil des Systems darstellen. Konkret soll im Zuge eines Dialogs zwischen allen Interessenträgern ein angemessenes System für den freien Verkehr von Bauprodukten erarbeitet werden. Der Dialog mit den Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie die Beteiligung gesellschaftlicher Interessenträger an der Normung stellen in diesem Zusammenhang wichtige Instrumente dar.

1.5.

Der EWSA erkennt zwar an, dass das Normungsverfahren oft als ein von der Industrie ausgehender Bottom-up-Prozess betrachtet wird. Es muss jedoch unbedingt sichergestellt werden, dass alle Interessenträger kooperativ und kompromissbereit zusammenarbeiten, um zeitgemäße Normen zu entwickeln, die entscheidend für die Nachhaltigkeit und Digitalisierung des Bausektors und die Förderung der Innovation in der Branche sind. Dieser Prozess sollte auch durch den sozialen Dialog unterstützt werden und die Beteiligung von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und gesellschaftlichen Interessenträgern an der Normung sicherstellen.

1.6.

Nach Ansicht des EWSA trägt ein in das Normungssystem integrierter gut funktionierender europäischer Rechtsrahmen für Bauprodukte nicht nur den Bedürfnissen der Branche Rechnung, sondern er kommt auch der Gesellschaft im Allgemeinen. Dies zeigt, wie wichtig die Einbeziehung der Sozialpartner ist. Auf diese Weise kann die EU den digitalen Binnenmarkt, die wirtschaftliche Erholung nach der COVID-19-Krise, die strategischen Pläne im Rahmen des europäischen Grünen Deals und die Ziele der Kreislaufwirtschaft verwirklichen.

1.7.

Der EWSA stellt fest, dass in dem Vorschlag für eine neue Bauprodukteverordnung auf eine für alle Akteure des Bausektors obligatorische Anwendung europäischer Bewertungsmethoden, Klassifizierungen und Kriterien verwiesen wird. Dies betrifft mehr als drei Millionen Unternehmen in der EU, von denen die meisten kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sind. Derartige Anforderungen müssen gerechtfertigt und verhältnismäßig sein und dürfen keinen unnötigen bürokratischen und administrativen Aufwand verursachen, insbesondere wenn ihr Mehrwert begrenzt ist. Nach Auffassung des EWSA wurde dieses Problem in dem Vorschlag für eine überarbeitete Bauprodukteverordnung unterschätzt.

1.8.

Der EWSA spricht sich für eine vollständige Leistungserklärung sowie für eine Anpassung von Artikel 6 und Anhang III in Bezug auf die in Anhang I aufgeführten Anforderungen aus, da die CE-Kennzeichnung auf Bauprodukten keine Garantie dafür bietet, dass die Grundanforderungen an Bauwerke erfüllt werden. Dies steht einem einheitlichen europäischen Binnenmarkt für Bauprodukte entgegen, da den Mitgliedstaaten gemäß Artikel 8 vorgeschrieben werden kann, die Vermarktung und Verwendung von Bauprodukten zu verhindern, die die Sicherheit auf Baustellen gefährden können.

1.9.

Der EWSA betont, dass die mit der Bauprodukteverordnung verbundenen Verfahren verbessert oder weiterentwickelt werden müssen, insbesondere im Hinblick auf die Normung und die Bestimmung von Schnittstellen zu nationalen Durchführungsstandards. Es gilt sicherzustellen, dass die Kommission alle Prüfanforderungen/Leistungen/Merkmale in Form harmonisierter Normen einführt. Andernfalls sollte es den Mitgliedstaaten möglich sein, im Fall spezifischer Bedenken auf nationaler Ebene hinsichtlich der Verwendung von Bauprodukten nationale Anforderungen an solche Produkte zu beschließen. In diesem Fall müssten nationale Anforderungen und Anhänge für einen bestimmten Zeitraum genehmigt werden. Im Fall einer umfassenderen Leistungserklärung müssen die notwendigen Schritte unternommen werden, um sicherzustellen, dass auf der Ebene der Arbeiten (Entwicklung, Montage usw.) eine Übereinstimmung sowohl hinsichtlich des Inhalts der Informationen als auch hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit erreicht wird.

1.10.

Der EWSA merkt an, dass der in dem Vorschlag für eine überarbeitete Bauprodukteverordnung vorgesehene Mechanismus für die Sammlung von Informationen über die in den Spezifikationen zu öffentlichen Aufträgen genannten Produkte nicht näher beschrieben wird, da er Gegenstand des neuen Artikels 7 ist. Es wird eine enorme und unermessliche Aufgabe sein, die Eigenschaften und Merkmale zu erfassen, die den Anforderungen aller öffentlichen Auftraggeber für alle möglichen Verwendungszwecke entsprechen.

1.11.

Nach Auffassung des EWSA muss unbedingt verhindert werden, dass die Anstrengungen von Bauunternehmen zur Verwirklichung kreislaufwirtschaftlicher Konzepte aufgrund mangelnder regulatorischer Klarheit in der neuen Bauprodukteverordnung verzögert, behindert oder sogar eingestellt werden. Deshalb bedarf es regulatorischer Klarstellungen, um einen Stillstand auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft zu verhindern.

1.12.

Nach Auffassung des EWSA muss die überarbeitete Bauprodukteverordnung klare und verhältnismäßige Bestimmungen enthalten. Diese müssen auch dem Umstand Rechnung tragen, dass für wiederverwendete oder wiederaufbereitete Produkte, die etwa vor 20, 50 oder 150 Jahren erstmals verwendet wurden, keine Informationen vorliegen, da Leistungsinformationen für solche Produkte mit CE-Kennzeichnung nur lokal verfügbar sind.

1.13.

Nach Meinung des EWSA ist es für die Wettbewerbsfähigkeit des Sektors wesentlich, dass die überarbeitete Bauprodukteverordnung nicht nur das Inverkehrbringen innovativer Produkte ermöglicht, sondern auch deren Nutzung erleichtert. In diesem Sinne sollte die europäische technische Zulassung (ETZ) auch Informationen enthalten, die die Zweifel der Nutzer hinsichtlich der Verwendung innovativer Produkte mindern.

1.14.

Der EWSA betont, dass klar sein muss, dass für den Begriff „Bauprodukt“ weiterhin nur die in Artikel 2 Ziffer 1 der geltenden Bauprodukteverordnung vorgesehene Definition gilt und dass diese nicht ausgeweitet wird. Es ist nicht klar, was in dem Vorschlag für eine überarbeitete Bauprodukteverordnung unter dem Begriff „Dienstleistung“ zu verstehen ist. In diesem Zusammenhang gilt es sicherzustellen, dass Sonderanfertigungen vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen bleiben.

1.15.

Der EWSA teilt die positive Bewertung des Kommissionsvorschlags durch die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) in Bezug auf die zusätzlich zu den Funktions- und Sicherheitsanforderungen für Bauprodukte vorgesehenen Kriterien, insbesondere in den Bereichen Umwelt und Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, die häufig mit der Kreislaufwirtschaft und mit Nachhaltigkeitsfragen zusammenhängen. All dies bestätigt den Eindruck, dass ein gutes Management von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz positive Auswirkungen hat.

1.16.

Der EWSA bringt seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass es nach nationalen Rechtsvorschriften in der Regel zulässig ist, (bis zu einem gewissen Prozentsatz mit Altteer, PCB, PCP, Asbest oder Altmineralwolle) kontaminierte Abfälle unter der Straßendecke zu verwenden; andernfalls werden diese Abfälle auf spezielle Deponien verbracht. Bau- und Abbruchabfälle machen mehr als ein Drittel des gesamten Abfallaufkommens in der EU aus (2). Ferner bestehen in bestimmten Bereichen widersprüchliche Bedenken, z. B. hinsichtlich der Frage, ob der Untergrund beim Straßenbau und bei anderen Infrastrukturen nicht als große Lagerstätte für Bauabfälle genutzt wird.

1.17.

Der EWSA bringt seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass es bei der Vorbereitung für die Wiederverwendung, die Wiederaufarbeitung und das Recycling eines Konzepts bedarf, das die Trennung von Bauteilen und Werkstoffen in der Recyclingphase erleichtert und mit dem gemischte oder komplexe Materialien vermieden werden. All dies bewirkt, dass Arbeitnehmer diesen Stoffen massiv ausgesetzt sind. Die EU-OSHA unterstützt Unternehmen, die innovative Lösungen für derartige Probleme vorgeschlagen haben. Ein Beispiel hierfür stellt die „Beseitigung gefährlicher Lösungsmittel bei der Analyse von zurückgewonnenem Material für die Straßeninstandsetzung und im Baugewerbe“ dar. Deshalb vertritt der EWSA die Ansicht, dass diese für die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz so wesentlichen Aspekte in der überarbeiteten Verordnung berücksichtigt werden müssen. Nach Auffassung des EWSA sollte dies nicht nur Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Fortschritt gewährleisten, sondern auf der Grundlage der Grundsätze und der einschlägigen Verordnung zur sozialen Verantwortung der Unternehmen auch zur Verbesserung der sozioökonomischen und ökologischen Situation beitragen.

1.18.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Vorschlag grundlegend überarbeitet werden muss, um die zentralen Ziele erreichen zu können.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Im ihrem Bericht über die Durchführung der Bauprodukteverordnung von 2016 zeigte die Kommission bestimmte Mängel bei der Durchführung dieser Verordnung auf. Bei der Bewertung der Bauprodukteverordnung, in den Stellungnahmen der REFIT-Plattform und in den Anmerkungen der Mitgliedstaaten und der Interessenträger wurde deutlich auf die Mängel des Rechtsrahmens hingewiesen. Diese behindern das Funktionieren des Binnenmarkts für Bauprodukte, weshalb die Ziele der Bauprodukteverordnung nicht erreicht werden können.

2.2.

In der Mitteilung über den europäischen Grünen Deal (3), im Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft und in der Mitteilung über eine Renovierungswelle für Europa (4) wurde die Rolle der Bauprodukteverordnung als Teil der Bemühungen um energie- und ressourceneffiziente Gebäude und Renovierungen, für die Nachhaltigkeit von Bauprodukten sowie für den Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft hervorgehoben. In dem Vorschlag für eine überarbeitete Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden (5) wurde die Bedeutung der Lebenszyklus-Treibhausgasemissionen von Gebäuden und Baustoffen für die Berechnung des Treibhauspotenzials neuer Gebäude ab 2030 hervorgehoben.

2.3.

In der EU-Waldstrategie und in der Mitteilung über nachhaltige Kohlenstoffkreisläufe (6) wurde im Zusammenhang mit der Überarbeitung der Bauprodukteverordnung die Entwicklung einer Methodologie und eines robusten und transparenten Standards für die Quantifizierung der Klimavorteile von Bauprodukten und der Abscheidung und Nutzung von CO2 angekündigt.

2.4.

Sowohl das Europäische Parlament als auch der Rat haben Maßnahmen zur Förderung der Kreislaufwirtschaft von Bauprodukten, zur Beseitigung von Hindernissen im Binnenmarkt für Bauprodukte und zur Verwirklichung der Ziele des europäischen Grünen Deals und des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft gefordert.

2.5.

Die beiden übergeordneten Ziele der Überarbeitung der Bauprodukteverordnung bestehen darin, 1) einen gut funktionierenden Binnenmarkt für Bauprodukte zu verwirklichen und 2) einen Beitrag zu den Zielen des ökologischen und des digitalen Wandels, insbesondere zu einem modernen, ressourceneffizienten und wettbewerbsorientierten Markt, zu leisten.

2.6.

Die Bauprodukteverordnung schränkt die Möglichkeiten für die Branche erheblich ein, die Leistung ihrer Produkte in einheitlicher und abgestimmter Weise zu erklären und die Produkte im Hinblick auf ihre Klima-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbilanz zu differenzieren. Darüber hinaus schränkt sie auch die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten erheblich ein, nationale Anforderungen an Gebäude festzulegen oder mit Nachhaltigkeitszielen verbundene Kriterien für die Vergabe öffentlicher Aufträge aufzunehmen, ohne das Funktionieren des Binnenmarkts zu gefährden.

2.7.

In der Mitteilung „Eine neue Industriestrategie für Europa“ (7) vom März 2020 wird ein Plan dargelegt, nach dem die EU-Industrie die Führung beim ökologischen und beim digitalen Wandel übernehmen soll. In der Mitteilung zur Aktualisierung der neuen Industriestrategie von 2020 wurde das Bauwesen als eines der vorrangigen Ökosysteme genannt, die mit den größten Herausforderungen bei der Verwirklichung der Klima- und Nachhaltigkeitsziele und der Bewältigung des digitalen Wandels konfrontiert sind, und deren Wettbewerbsfähigkeit davon abhängt.

2.8.

Mit der vorgeschlagenen Verordnung zur Aufhebung der derzeitigen Bauprodukteverordnung sollen die in dieser Verordnung festgestellten Mängel behoben und die Ziele des europäischen Grünen Deals und des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft in Bezug auf Bauprodukte angegangen werden. Die zentralen Aspekte der Funktionsweise des Rahmens der Bauprodukteverordnung, insbesondere der Normungsprozess, müssen unbedingt verbessert werden, um die politischen Ziele zu erreichen. Allerdings werden wesentliche Aspekte im Zusammenhang mit der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie andere Empfehlungen der EU-OSHA im Verordnungsvorschlag nicht berücksichtigt.

2.9.

Der EWSA ist der Ansicht, dass allgemeine und berufliche Bildung, Umschulungen, lebenslanges Lernen und Zertifizierungen äußerst wichtige Aspekte sind und dass sie für die Zukunft der Branche Gegenstand des sozialen Dialogs sein müssen. Der EWSA stellt ferner fest, dass der Erwerb der erforderlichen Kompetenzen Zeit und Geld erfordert.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Die Normung spielt für das europäische Baugewerbe eine vordringliche Rolle. Sie ist die wichtigste Säule des Binnenmarkts, erleichtert den freien Verkehr von Bauprodukten in der EU und fördert die Bautätigkeit. Diese wichtige Funktion wird in den europäischen Rechtsvorschriften anerkannt, insbesondere in der Bauprodukteverordnung und der Verordnung zur europäischen Normung (8).

3.2.

Das Ziel der Normung im Bereich der Nachhaltigkeit von Bauwerken sollte eine gleichberechtigte Bewertung der ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekte der Nachhaltigkeit von Produkten, Gebäuden und Dienstleistungen sowie die Unterrichtung des Verbrauchers (vorzugsweise durch Kennzeichnung) umfassen.

3.3.

Ohne zeitgemäße Normen könnte der Binnenmarkt für Bauprodukte weder verwirklicht noch aufrechterhalten werden. In den letzten Jahren ist die Integration von Normen in das Regulierungssystem allerdings oft gescheitert, was zu einer geringeren Effizienz im Bausektor und zu einer Beeinträchtigung des Binnenmarkts, u. a. durch höhere direkte oder indirekte Kosten für — insbesondere kleine und mittlere — Unternehmen, geführt hat.

3.4.

Die Kommission kann Standards für die Entwicklung harmonisierter Normen anhand von Normungsanwendungen festlegen. Sie hat sich allerdings passiv verhalten und von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch gemacht, weshalb das CEN gezwungen war, weiterhin mit veralteten Aufträgen zu arbeiten. Dies hat Sachverständige überdies von der Arbeit an neuen Normen abgehalten, da diese häufig aus Gründen blockiert werden, auf die sie keinen Einfluss haben.

3.5.

Die Kommission weist auf Probleme im Zusammenhang mit dem (sicherlich verbesserungsfähigen) derzeitigen Normungsverfahren über das CEN hin, die sie dazu veranlasst haben, viele Normen zu blockieren. Nach Ansicht des EWSA kann die von der Kommission vorgeschlagene Lösung, d. h. die Annahme immer mehr delegierter Rechtsakte, nicht zufriedenstellend sein, da sie Arbeitgeber, Arbeitnehmer und gesellschaftliche Interessenträger im Normungsverfahren außen vor lässt. Ferner werden viele Normen von der Kommission blockiert, weshalb eine kurzfristige Lösung gefunden werden muss, um diese Blockade aufzuheben. Der EWSA stellt kritisch infrage, ob diese Form der Ausweitung letztlich nicht zu Kompetenzüberschneidungen mit den Mitgliedstaaten führt. Nach Ansicht des EWSA sollte dieser Ansatz nur in hinreichend gerechtfertigten Ausnahmefällen zur Anwendung kommen, und darüber hinaus sollte eine Reihe eindeutiger Bedingungen festgelegt werden.

3.6.

In dem Vorschlag für eine überarbeitete Verordnung wird angemerkt, dass Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Lieferkettenmanagement und dem öffentlichen Auftragswesen sich auf die Umwelt und die Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz auswirken und so die Verwendung und Vermarktung von hochwertigen Produkten und Baustoffen fördern können. Auch die EU-OSHA sieht darin einen wichtigen Einflussfaktor, der für eine stärkere Verwendung umweltschonender und für Arbeitnehmer sichererer Produkte sorgen kann.

3.7.

Im Rahmen des EU-OSHA-Projekts „LIFT-OSH“ (Leverage Instruments for Occupational Safety and Health, Förderinstrumente für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz) haben sich die Erkenntnisse über die positiven Auswirkungen eines guten Arbeitsschutzmanagements bestätigt.

3.8.

Der EWSA bringt seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass es bei der Vorbereitung für die Wiederverwendung, die Wiederaufarbeitung und das Recycling eines Konzepts bedarf, das die Trennung von Bauteilen und Werkstoffen in der Recyclingphase erleichtert und mit dem gemischte oder komplexe Materialien vermieden werden. All dies bewirkt, dass Arbeitnehmer diesen Stoffen massiv ausgesetzt sind. Die EU-OSHA unterstützt Unternehmen, die innovative Lösungen für derartige Probleme vorgeschlagen haben. Ein Beispiel hierfür stellt die „Beseitigung gefährlicher Lösungsmittel bei der Analyse von zurückgewonnenem Material für die Straßeninstandsetzung und im Baugewerbe“ dar. Deshalb vertritt der EWSA die Ansicht, dass diese für die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz so wesentlichen Aspekte in der überarbeiteten Verordnung berücksichtigt werden müssen. Nach Auffassung des EWSA sollte dies nicht nur Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Fortschritt gewährleisten, sondern auf der Grundlage der Grundsätze und der einschlägigen Verordnung zur sozialen Verantwortung der Unternehmen auch zur Verbesserung der sozioökonomischen und ökologischen Situation beitragen.

3.9.

Nach dem Vorschlag für eine überarbeitete Bauprodukteverordnung unterliegen Bauprodukte, die auf der Baustelle für den sofortigen Einbau in Bauwerke hergestellt werden, denselben Vorschriften wie andere Bauprodukte, die von Herstellern in Verkehr gebracht werden. Auf diese Weise sollen Sicherheit und Umweltschutz gewährleistet und eine potenzielle Regulierungslücke geschlossen werden. Eine solche Regelungslücke besteht nach Ansicht des EWSA nicht, wenn diese Produkte nicht in den Verkehr gebracht werden. Auftragnehmer, die auf der Baustelle Produkte für den sofortigen Einbau in Bauwerke herstellen (z. B. Betonstürze, Polyurethansprühschaumstoff oder Fenster- und Türrahmen), müssen die für Bauwerke bzw. deren Teile geltenden rechtlichen Anforderungen erfüllen. Diese wiederum beruhen in den meisten — wenn nicht in allen — Fällen auf genau denselben technischen Anforderungen, wie sie für Hersteller gelten, beispielsweise im Hinblick auf die Durchführung einer werkseigenen Produktionskontrolle, die Anfertigung der technischen Dokumentation, die Bewertung von Bauprodukten, die Leistungs- und Konformitätserklärung und die Anbringung der CE-Kennzeichnung. Diese überflüssige Bestimmung wäre für KMU besonders nachteilig.

3.10.

In Artikel 7 des Vorschlags für eine überarbeitete Bauprodukteverordnung wird der Anwendungsbereich des Artikels auf alle Produktanforderungen ausgeweitet, die in den Spezifikationen für die Vergabe öffentlicher Aufträge genannt werden. Es wird allerdings nicht weiter beschrieben, wie diese Informationen, die sich auf ein breites und vielfältiges Spektrum an Bauwerken, z. B. Zwinger für Polizeihunde, Verwaltungsgebäude von Behörden, Autobahnen und kerntechnische Anlagen, beziehen können, eingeholt werden können. Der EWSA fragt sich, ob alle Informationen über die Eigenschaften und Merkmale von Produkten eingeholt werden können und wie geeignete Bewertungsmethoden festgelegt werden können, die den Anforderungen aller öffentlichen Auftraggeber für alle möglichen Verwendungszwecke entsprechen. Darüber hinaus dürfte die von öffentlichen Auftraggebern eingeforderte Glaubwürdigkeit je nach Verwendungszweck sehr unterschiedlich ausfallen. So wird im Hinblick auf die Leistung von Abdichtungsbahnen, die in einem Hundezwinger verbaut werden sollen, eine andere Glaubwürdigkeit erwartet als im Hinblick auf die Leistung eines baugleichen Produkts, das auf dem Dach eines Kunstmuseums verwendet wird. Dies könnte zu Unstimmigkeiten bei der Anwendung der im Kommissionsvorschlag vorgesehenen Bewertungs- und Überprüfungssysteme führen. Der EWSA bezweifelt, dass es sich hierbei um einen realistischen Ansatz handelt.

Brüssel, den 27. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Verordnung (EU) Nr. 305/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten und zur Aufhebung der Richtlinie 89/106/EWG des Rates (ABl. L 88 vom 4.4.2011, S. 5).

(2)  https://ec.europa.eu/environment/topics/waste-and-recycling/construction-and-demolition-waste_en

(3)  COM(2019) 640 final.

(4)  COM(2020) 662 final.

(5)  COM(2021) 802 final.

(6)  COM(2021) 800 final.

(7)  COM(2020) 102 final.

(8)  Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur europäischen Normung, zur Änderung der Richtlinien 89/686/EWG und 93/15/EWG des Rates sowie der Richtlinien 94/9/EG, 94/25/EG, 95/16/EG, 97/23/EG, 98/34/EG, 2004/22/EG, 2007/23/EG, 2009/23/EG und 2009/105/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung des Beschlusses 87/95/EWG des Rates und des Beschlusses Nr. 1673/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 316 vom 14.11.2012, S. 12).


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/164


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Umstellung auf ein Datennetz für die Nachhaltigkeit landwirtschaftlicher Betriebe (FSDN)“

(COM(2022) 296 final — 2022/0192 (COD))

(2023/C 75/24)

Berichterstatter:

Florian MARIN

Befassung

Europäisches Parlament, 4.7.2022

Rat, 11.7.2022

Beschluss des Plenums

17.5.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.10.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

188/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt und unterstützt die in der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ vorgesehene Umstellung des Informationsnetzes landwirtschaftlicher Buchführungen (INLB) auf ein Datennetz für die Nachhaltigkeit landwirtschaftlicher Betriebe (FSDN), dessen Ziel darin besteht, Nachhaltigkeitsdaten zu erheben, Beratungsdienste zu verbessern und den Landwirten Rückmeldung zu geben.

1.2.

Der EWSA hält das FSDN für ein wichtiges Instrument für faktengestützte Strategien und empfiehlt Folgendes:

Daten über Klimawandel, Bodenqualität und Kohlenstoffbindung, Pestizideinsatz, Wasser- und Luftqualität, Energie und Artenvielfalt sollten als Umweltdaten behandelt werden, die von den Landwirten oder über andere mit dem FSDN interoperable Instrumente zu erheben sind. Die erhobenen Daten sollten nach der Art des Erzeugnisses (ökologisches/biologisches Erzeugnis usw.) aufgeschlüsselt werden. Datenvariablen zur Nachhaltigkeit sollten gründlich auf Validität, Qualität und Vergleichbarkeit geprüft werden, bevor sie in das Datennetz aufgenommen werden, wenn sie als Instrument für politische Maßnahmen dienen sollen;

Daten über Arbeitsbedingungen, Vertragsarten, Gesundheit und Sicherheit (Vorhandensein eines Gesundheits- und Sicherheitsplans auf Betriebsebene, Zahl der Unfälle, einschließlich bezüglich der Selbstständigen), Kompetenzen und Löhne, soziale Konditionalität im Zusammenhang mit der Gemeinsamen Agrarpolitik, die Angaben über Selbstständige, befristet Beschäftigte und Saisonarbeitskräfte sollten als Sozialdaten behandelt werden, die von den Landwirten oder über andere mit dem FSDN interoperable Instrumente zu erheben sind. Besonderes Augenmerk sollte auf Frauen und junge Menschen gelegt werden;

Umwelt- und Sozialdaten sollten als genauso wichtig eingestuft werden wie Wirtschaftsdaten. Angesichts der Tatsache, dass das INLB in den vergangenen Jahrzehnten im Wesentlichen zur Bewertung der wirtschaftlichen Lage der Landwirte diente, ist die wirtschaftliche Dimension gemeinsam mit den ökologischen und sozialen Herausforderungen der zentrale Aspekt;

insbesondere mit Blick auf die Umwelt- und Sozialdaten sollte eine Verknüpfung mit dem Integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem (IVKS) und Daten aus der Umsetzung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) sowie mit Eurostat hergestellt werden;

alle Landwirte, die dazu bereit und in der Lage sind, sollten im Rahmen einer speziellen Methodik sowie unter Berücksichtigung der Repräsentativität und der finanziellen Vorgaben die Möglichkeit haben, einen Beitrag zum FSDN zu leisten; es sollten keine Sanktionen ergriffen werden, wenn sie Teil der Stichprobengruppe sind, sich aber nicht beteiligen wollen. Die Bereitstellung von Daten durch die Landwirte muss freiwillig bleiben. Die Mitgliedstaaten sollten jedoch geeignete Wege und Anreize ermitteln, um die Landwirte zur Teilnahme am FSDN zu ermutigen;

es sollte stets ein möglichst geringer bürokratischer Aufwand angestrebt werden: auch moderne Datentechnologien wie künstliche Intelligenz, Internet der Dinge, automatische Validierung oder Infrastruktur zur Datenfernerfassung sollten genutzt werden;

das FSDN sollte dazu beitragen, das Verständnis des gesamten Ökosystems des landwirtschaftlichen Betriebs zu verbessern, und zu diesem Zweck sollte für Interoperabilität mit anderen Datenbanken gesorgt werden; die gemeinsame Analyse getrennter Datensätze, die andere Teile der Lieferkette abdecken, sollte ebenfalls vorgesehen werden;

die Berücksichtigung von Subsistenz- und Semisubsistenzbetrieben in der Stichprobe des FSDN;

aufgrund der unterschiedlichen Situationen in den einzelnen Mitgliedstaaten sollten unterschiedlicher Merkmale, Quellen, Formate, Dimensionen und Granularitätsgrade der Daten berücksichtigt werden;

Gewährleistung eines ständigen Austauschs bewährter landwirtschaftlicher Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten und den Landwirten; hierfür sollten besondere Instrumente entwickelt werden;

es sollte mehr getan werden, um die Kapazitäten für die Erhebung, den Austausch, die Verwaltung und die Nutzung von Daten zu stärken und die Effizienz und die Entscheidungsfindung auf Ebene der landwirtschaftlichen Betriebe, insbesondere der Kleinbetriebe, zu verbessern;

das FSDN sollte zur Verbesserung der Betriebsführung beitragen, und maßgeschneiderte Beratungsdienste sollten auch in einer Art erbracht werden, dass eine klare Verknüpfung mit Daten über exogene Variablen der landwirtschaftlichen Erzeugung wie beispielsweise Wettervorhersagen hergestellt wird;

es sollten spezielle Kriterien für die Nachhaltigkeit der vom FSDN geforderten Prozesse und die Arbeitsbedingungen für Datenerfasser festgelegt werden.

1.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass Datenschutz, Eigentum, Privatsphäre und Vertraulichkeit stets gewährleistet werden sollten (Gewährleistung der vollständigen Anonymisierung) und dass die Landwirte stets die Kontrolle über ihre Daten haben müssen. Darüber hinaus sollten die Interessen der Landwirte geschützt werden. Wenn ihre Daten weitergegeben werden sollen, sollte — unabhängig von der Bestimmung und Verwendung der Daten — ihre Einwilligung eingeholt werden.

1.4.

Der EWSA empfiehlt, den Landwirten Anreize zu bieten, sich zu beteiligen, und dass sie neben den Beratungsdiensten einen klaren und direkten Nutzen daraus ziehen, dass sie ihre Daten bereitstellen, etwa finanzielle Vorteile oder Zugang zu aus EU-Mitteln finanzierten speziellen Aufforderungen zur Einreichung von Vorschlägen.

1.5.

Die für das FSDN erhobenen Daten dürfen unter keinen Umständen für die Kontrolle und Sanktionierung von Landwirten verwendet werden. Wird dieser Grundsatz verletzt, sollten die Landwirte die Möglichkeit haben, von der Bereitstellung von Daten abzusehen, was den Nutzen des FSDN als politisches Instrument jedoch erheblich beeinträchtigen würde.

1.6.

Der allgemeine Ansatz des FSDN besteht in der Nutzung digitaler Technologien. Aus diesem Grund empfiehlt der EWSA, sich stärker für die Schaffung eines gemeinsamen Datenraums für die Landwirtschaft einzusetzen und so das Miteigentum an Daten und Datengenossenschaften zu unterstützen. In der Agrar- und Lebensmittelbranche fehlt es an einer gemeinsamen Methodik zur Gewährleistung der Vergleichbarkeit und der gemeinsamen Nutzung von Daten.

1.7.

Der EWSA schlägt vor, ein eigenes integriertes Programm für die Digitalisierung der Agrar- und Lebensmittelbranche aufzulegen, da einige Landwirte bereits verpflichtet sind, Umweltdaten zu erheben, um ihre Produkte verkaufen zu können. Außerdem sind autonome und intelligente Maschinen bzw. Sensoren Datengeneratoren. Neben der Erleichterung des Zugangs zu Daten sowie zu Hardware- und Softwaretechnologien sollten digitale Inklusion und digitale Kompetenz berücksichtigt werden.

1.8.

Der EWSA schlägt vor, mehr Anstrengungen zur Beseitigung weißer Flecken auf der Karte und zur Bereitstellung von Telefonverbindungen und Breitbandanschlüssen in ländlichen Gebieten zu unternehmen.

1.9.

Schließlich empfiehlt der EWSA, dass die Mittel für die Umsetzung des FSDN von der Kommission und den Mitgliedstaaten garantiert werden und dass bei den erhobenen Daten die Preisschwankungen und die verschiedenen Krisen in der Agrar- und Lebensmittelversorgungskette berücksichtigt werden.

2.   Einführung

2.1.

Im Rahmen der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ (1) plant die Europäische Kommission, das Informationsnetz landwirtschaftlicher Buchführungen (INLB) auf ein Datennetz für die Nachhaltigkeit landwirtschaftlicher Betriebe (FSDN) umzustellen, um Nachhaltigkeitsdaten zu sammeln, Beratungsdienste zu verbessern und den Landwirten Rückmeldung zu geben. Die Daten werden nach bestimmten Kriterien in regelmäßigen Abständen in allen Mitgliedstaaten auf Betriebsebene erhoben. Das INLB wird angepasst, um eine effiziente Datenerhebung durch das FSDN zu gewährleisten.

2.2.

Jeder Mitgliedstaat erstellt einen speziellen Plan für die Auswahl der Buchführungsbetriebe, der eine repräsentative Datenstichprobe gewährleistet. Die landwirtschaftlichen Betriebe werden einheitlich klassifiziert, und Datenerheber (z. B. die Buchstellen) werden in den Prozess einbezogen, der auf Mitgliedstaatsebene von einem Verbindungsbüro koordiniert wird.

2.3.

Die von den Betrieben bereitgestellten Daten werden verwendet, um den Buchführungsbetrieb zu kennzeichnen, das Einkommen sowie die wirtschaftliche, ökologische und soziale Nachhaltigkeit des Betriebs zu bewerten und die Richtigkeit der Angaben stichprobenweise zu überprüfen.

3.   Funktionalität des FSDN

3.1.

Der EWSA begrüßt die Umstellung vom INLB auf das FSDN und ist angesichts der bereits stattfindenden Erhebung bestimmter Sozial- und Umweltdaten durch einige Mitgliedstaaten der Auffassung, dass dieselben Daten nicht mehrfach erhoben werden sollten. Auch sollte, insbesondere mit Blick auf die Sozial- und Umweltdaten, eine Verknüpfung mit dem Integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem (IVKS) und Daten aus der Umsetzung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) sowie mit Eurostat sichergestellt werden.

3.2.

Der Datenaustausch zwischen dem FSDN und verschiedenen Akteuren (Verwaltungen, Statistikämter, private Stellen u. a.) sollte kontrolliert und angepasst erfolgen. Die Förderung der bereits von der EU entwickelten und finanzierten digitalen Technologien (FAIRshare (2), Horizont-Europa-Projekte usw.) kann zur Verbesserung der Betriebsführung und der Nutzung digitaler Technologien auf Betriebsebene beitragen.

3.3.

Die Verzögerungszeit zwischen Datenerhebung und Datenverarbeitung sollte keinen Einfluss auf die Qualität des FSDN und der Beratungsdienste für die Landwirte haben. Die Landwirte sollten von einer weitergehenden Datennutzung im Zusammenhang mit dem FSDN (z. B. Forschung, Innovation, Ausbildung) Kenntnis haben und einer derartigen Nutzung zustimmen.

3.4.

Beim Datenschutz und den entsprechenden Bestimmungen der Datenschutz-Grundverordnung (3) (DSGVO), bei Daten für Sensoren, beim Vertrauen in die Datennutzung, bei Kontrollverfahren sowie beim Recht auf Privatsphäre, den Eigentums- und Herstellungsrechten bzw. bei der Transparenz sollten die Interessen der Landwirte berücksichtigt werden, und die Landwirte sollten einen Nutzen von den erhobenen Daten haben. Der bürokratische Aufwand sollte durchgehend so gering wie möglich sein. Es bedarf einer klaren Methodik auf EU-Ebene, um Landwirte in dieser Hinsicht zu bestärken. Auch sollte über die Einbeziehung von Bauernverbänden nachgedacht werden.

3.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Nachhaltigkeit der Systemimplementierung und die Arbeitsbedingungen der an der Umsetzung des FSDN in den Bereichen Datenerhebung, -verwaltung, -speicherung und -verarbeitung beteiligten Personen berücksichtigt werden sollten. Diesbezüglich verweist der EWSA auf seine Stellungnahme zum Thema „Digitalisierung und Nachhaltigkeit“ (4): Die energieeffizientesten Rechenzentren sollten zur Norm werden, und neue Rechenzentren sollten vollständig mit erneuerbarer Energie betrieben werden. Die Europäische Kommission sollte mit Blick auf die Nachhaltigkeit des Verfahrens und die Arbeitsbedingungen der Datenerheber konkrete Kriterien festlegen, die in allen Mitgliedstaaten zu berücksichtigen sind.

3.6.

Das FSDN sollte nicht nur ein Instrument für die Ausarbeitung öffentlicher Maßnahmen durch Behörden sein, sondern auch die Bedürfnisse von Sozialpartnern, Forschungseinrichtungen, Hochschulen, Landwirten und NGO berücksichtigen. Das FSDN könnte zu einer besseren Teilhabe der Landwirte am Finanzsystem (Kredite usw.) beitragen. Das FSDN sollte regelmäßig einen Überblick über die Landwirtschaft auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene sowie über die verschiedenen Bewirtschaftungsformen geben.

3.7.

Alle Landwirte in der EU sollten, sofern sie dazu bereit sind, unter Berücksichtigung der Repräsentativität, der finanziellen Vorgaben und der Ziele des FSDN einen Beitrag zum FSDN leisten können. Die Möglichkeit eines freiwilligen Beitrags zum FSDN auf der Grundlage angepasster, festgelegter Kriterien und Methoden für Betriebe, die nicht in der Stichprobe enthalten sind, sollte bestehen. Die Landwirte sollten nicht verpflichtet sein, Daten für das FSDN zur Verfügung zu stellen, und es sollten keine Sanktionen geben. Subsistenz- und Semisubsistenzbetriebe sollten ebenfalls berücksichtigt werden. Die erhobenen Daten sollten nach der Art des Erzeugnisses (ökologisches/biologisches Erzeugnis usw.) aufgeschlüsselt werden.

3.8.

Eine moderne und innovative Datenerhebung und -verarbeitung auf der Grundlage künstlicher Intelligenz, des Internets der Dinge, automatischer Validierung, von Texterkennung oder Infrastrukturen zur Datenfernerfassung sollte für ein effizienteres FSDN ebenso berücksichtigt werden wie im Rahmen des europäischen Weltraumprogramms generierte Geodaten. Es sollte eine klare Verknüpfung zwischen dem FSDN, der GAP und der Europäischen Cloud für offene Wissenschaft hergestellt werden.

3.9.

Das FSDN sollte den unterschiedlichen Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten Rechnung tragen, insbesondere in Bezug auf umwelt- und sozialpolitische Aspekte, und sollte flexibel genug sein, um auch neue Indikatoren zu berücksichtigen. Für ein Gelingen des FSDN muss die Zusammenarbeit zwischen den Verbindungsbüros, den Büros der Mitgliedstaaten und der GD Landwirtschaft der Kommission funktionieren. Umwelt- und Sozialdaten sollte die gleiche Bedeutung beigemessen werden wie Wirtschaftsdaten. Gleiches gilt für landwirtschaftliche Klein- und Großbetriebe sowie für unterschiedliche Regionen. Die Offenheit und Bereitschaft, einen Beitrag zum FSDN zu leisten, ist von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich, und der Grad der Sensitivität und der genaue Nutzen mancher Elemente sollten bedacht werden.

3.10.

Der EWSA schlägt vor, einen klaren Unterschied zwischen jährlich und mehrjährlich zu erhebenden Daten zu machen. Da dieselben Daten nicht mehrfach erhoben werden sollten, besteht eine Schwierigkeit bei der Gestaltung des FSDN darin, dass es unterschiedlichen Merkmalen, Quellen, Formaten, Dimensionen und Granularitätsgraden der Daten Rechnung tragen muss. Bei den Kostenstrukturen für die Datenerhebung gibt es große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, darum ist eine größere Flexibilität erforderlich.

3.11.

Berücksichtigt werden sollten bei der Datenerhebung die verschiedenen Krisen und die zunehmenden Preisschwankungen, die in den Agrar- und Lebensmittelketten immer mehr zum Dauerzustand werden. Der Krieg in der Ukraine erhöht die Intensität dieser Preisschwankungen noch, und durch Spekulation mit Lebensmitteln entsteht Druck auf die Lieferketten. Die dem FSDN zugewiesenen Finanzmittel sollten von der Kommission und den Mitgliedstaaten garantiert werden.

3.12.

Der EWSA schlägt die Entwicklung eines europäischen Beratungsgremiums unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft vor. Die entsprechende Auswahl sollte unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Herausforderungen und der Dynamik der Datennachfrage auf Grundlage transparenter Kriterien für die Überwachung der Datenerhebung und für Entscheidungen über die Datennutzung und strategische Änderungen der Datenanforderungen erfolgen.

3.13.

Der EWSA schlägt ferner vor, dass in das FSDN auch Daten über landwirtschaftliche Verfahren aufgenommen werden, insbesondere in Bezug auf Landbewirtschaftung, Pflanzenschutz, Pflanzenernährung, Tiergesundheit und Tierwohl. Im Rahmen des FSDN sollten bewährte landwirtschaftliche Verfahren zusammengetragen und bekannt gemacht werden, insbesondere in den Bereichen Umwelt und Soziales (Ausbildung, Modelle, bewährte Verfahren, Austausch zwischen Beratern usw.).

3.14.

Daten über Klimawandel, Bodenqualität und Kohlenstoffbindung, Pestizideinsatz, Wasser- und Luftqualität, Energie und Artenvielfalt sollten als Umweltdaten behandelt werden, die von den Landwirten oder über andere mit dem FSDN interoperable Instrumente zu erheben sind.

3.15.

Als Sozialdaten, die von den Landwirten oder über andere mit dem FSDN interoperable Instrumente zu erheben sind, sollten Arbeitsbedingungen, Vertragsarten, Gesundheit und Sicherheit (Vorhandensein eines Gesundheits- und Sicherheitsplans auf Betriebsebene, Zahl der Unfälle, einschließlich bezüglich der Selbstständigen), soziale Konditionalität im Zusammenhang mit der Gemeinsamen Agrarpolitik, die Angaben über Selbstständige, befristet Beschäftigte und Saisonarbeitskräfte sowie Kompetenzen und Löhne gelten. Ebenfalls durchgehend Beachtung finden sollte die Nutzung der erhobenen Daten für die Überwachung der Fortschritte bei der Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung.

3.16.

Frauen und junge Menschen sollten nach Ansicht des EWSA besonders im Fokus stehen, weil sie für die Zukunft der ländlichen Entwicklung von zentraler Bedeutung sind. Die Eröffnung weiterer Möglichkeiten, stabile Arbeitsverträge, angepasste öffentliche Dienstleistungen und eine hohe Lebensqualität sind Aspekte, die durch das FSDN indirekt mitgetragen werden können. Besondere Aufmerksamkeit sollte auch den Daten international tätiger landwirtschaftlicher Betriebe gewidmet werden, da die Organisation der landwirtschaftlichen Betriebe komplexer wird und einige auch außerhalb der EU produzieren.

3.17.

Bezüglich der Umsetzung der FSDN-Rechtsvorschriften ist der EWSA besorgt über die vorgeschlagene Befugnis der Kommission, eine beträchtliche Anzahl delegierter Rechtsakte zu erlassen (z. B. in Bezug auf die Datenverwaltung, die Betriebskennung, die Verwendung von Daten oder den Zugang zu und die Übermittlung von Primärdaten). Dies sollte auf ein Mindestmaß beschränkt und vielmehr im Wege von Durchführungsrechtsakten geregelt werden.

4.   Beitrag des FSDN zur Verbesserung der ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Leistungen landwirtschaftlicher Betriebe sowie der Transparenz und Gerechtigkeit in der Lebensmittelversorgungskette

4.1.

Das FSDN könnte ein Instrument zur Verbesserung der Betriebsführung sein, indem Instrumente entwickelt werden, die durch die Erhebung und Analyse von Betriebsdaten die Entscheidungsfindung unterstützen und dadurch zur Verbesserung der Leistungen landwirtschaftlicher Betriebe (u. a. durch Förderung der Präzisionslandwirtschaft) beitragen. Dies ist die Richtung, in die die Mitgliedstaaten gelenkt werden sollten. Die Beratungsdienste im Rahmen des FSDN könnten von einer verbesserten Datensatzeinbindung profitieren, um eine fundierte Beratung über (wirtschaftliche, ökologische, soziale) Nachhaltigkeitsaspekte bereitzustellen.

4.2.

Die auf Betriebsebene erhobenen Daten werden teilweise genutzt, um das Potenzial und die Nachhaltigkeit des Betriebs zu steigern. Die Landwirte müssen die Kontrolle über ihre Daten haben und sollten im Sinne der Förderung nachhaltiger landwirtschaftlicher Verfahren bei einer zielgerichteteren, effizienteren und nachhaltigeren Nutzung ihrer Daten unterstützt und beraten werden. Die Daten sollten für den konkreten Zweck verwendet werden, für den sie erhoben wurden. Die Mitgliedstaaten sollten tatkräftig mitwirken, und die Kommission sollte auf das Ökosystem der landwirtschaftlichen Betriebe zugeschnittene eindeutige Empfehlungen und offene Softwarelösungen erarbeiten.

4.3.

Der EWSA schlägt vor, einen gemeinsamen Datenraum mit einem Gütesiegel für vertrauenswürdige öffentliche Daten über Agrarlebensmittel in der EU zu entwickeln, um die Lieferketten besser und effizienter zu machen. In jedem Mitgliedstaat sollten konkrete Ziele aufgestellt werden. Gemeinsame Daten, Datengenossenschaften für die Landwirtschaft und die Entwicklung von Partnerschaften für eine datengestützte Landwirtschaft erfordern eigene Finanzmittel und eine eigene Strategie.

4.4.

In der Agrar- und Lebensmittelbranche fehlt es an der Entwicklung von Normen und einer gemeinsamen Methodik zur Gewährleistung der Vergleichbarkeit und der gemeinsamen Nutzung von Daten. Hier sollten unter Einbeziehung der Mitgliedstaaten konkrete Schritte unternommen werden, da manche Landwirte zur Datenerhebung verpflichtet sind, um ihre Produkte an Einzelhändler verkaufen zu können.

4.5.

Das FSDN sollte nach Ansicht des EWSA zu einem besseren Verständnis des gesamten Ökosystems des landwirtschaftlichen Betriebs beitragen. Außerdem sollte es mit anderen Datenbanken interoperabel sein, die Lieferkettendaten oder die gemeinsame Analyse getrennter Datensätze betreffen, damit die Verteilung des Mehrwerts beobachtet und eine gerechte Behandlung aller Akteure der Lebensmittelkette gewährleistet werden kann. Das FSDN sollte grundlegende Leistungsindikatoren für die Leistung landwirtschaftlicher Betriebe bereitstellen. Es sollte aber auch die regionale Lage und die produktbezogene Situation abbilden.

4.6.

Das FSDN sollte zu einer intelligenten, innovativen und nachhaltigen Betriebsführung, zur Verbesserung der Führung und der Erträge des Betriebs beitragen und einen Bezug zu den exogenen Variablen der landwirtschaftlichen Erzeugung (Wetter usw.) herstellen. Landwirte und Genossenschaften sollten stärker in die Forschungsprojekte einbezogen werden, und EU-Mittel könnten speziell für die Digitalisierung der Agrar- und Lebensmittelbranche bereitgestellt werden. Aufgrund der Besonderheiten dieser Branche sollte unter Beteiligung der Mitgliedstaaten eine spezielle Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen veröffentlicht werden.

5.   Beitrag des FSDN zur Digitalisierung der Landwirtschaft und der Agrar- und Lebensmittelbranche

5.1.

IT-Technologien setzen sich nur langsam durch. Die Landwirtschaft ist nach wie vor eine der am wenigsten digitalisierten Branchen, und es gibt erhebliche Unterschiede zwischen Ländern, Regionen und einzelnen landwirtschaftlichen Betrieben. Die digitale Inklusion ist ein großes Problem, das mit Blick auf eine Verringerung der Ungleichheiten vorrangig angegangen werden sollte. Eine stärker digitalisierte Agrar- und Lebensmittelbranche trägt zu mehr Transparenz in der Lieferkette bei und mindert das Risiko von Lebensmittelspekulationen. Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission, die Mitgliedstaaten und die Zivilgesellschaft partnerschaftlich ein eigenes integriertes Programm für die Digitalisierung der Agrar- und Lebensmittelbranche auflegen. Da der digitale Wandel eine Priorität darstellt, sollte den Mitgliedstaaten und insbesondere Kleinlandwirten der Zugang zu Hardware- und Softwaretechnologien durch spezielle Programme ermöglicht werden. Die Verlängerung der für die Erhebung und den Austausch von Daten genutzten Softwarelizenzen sollte in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden. In diesem Zusammenhang können EU-Mittel eingesetzt werden. Die Beteiligung der Mitgliedstaaten ist wichtig.

5.2.

Autonome und intelligente Maschinen oder Sensoren sind Datengeneratoren, die auf Ebene der Betriebe zur Unterstützung der Entscheidungsfindung und auf Ebene der Lieferkette zur Konsolidierung des Datenmanagements dienen können. Die Interkonnektivität und Interoperabilität unter den Akteuren der Lieferkette und Geodaten sollten dazu beitragen, Kleinlandwirten den Marktzugang zu sichern und Lieferketten zu festigen.

5.3.

Die Konsolidierung der Kapazitäten für die Erhebung, den Austausch, die Verwaltung und die Nutzung von Daten auf Betriebsebene, insbesondere für Kleinbetriebe, ist für eine bessere Integration der Landwirte in die Lieferketten und für die Steigerung der Effizienz der Höfe wichtig. Diese Kosten sollten durch die GAP gedeckt werden, und die Mitgliedstaaten sollten spezielle Maßnahmen in ihre Strategiepläne aufnehmen. Das geringe Wissen der Kleinlandwirte über digitale Prozesse muss sorgfältig gehandhabt werden. Der Schwerpunkt sollte eindeutig und beständig darauf liegen, das digitale Wissen in der gesamten GAP und in anderen relevanten Politikbereichen zu verbessern.

5.4.

Die Erhebung von Sozial- und Umweltdaten sollte nicht isoliert oder als Zusatzaufgabe erfolgen, sondern als eine Tätigkeit, die auf Ebene des Betriebes (unabhängig von seiner Größe oder Art) kontinuierlich vonstatten geht. Die Mitgliedstaaten sollten diesen fortlaufenden Prozess unterstützen.

5.5.

Der EWSA ist besorgt darüber, dass die Nachfrage nach Daten und Digitalisierung in der Agrar- und Lebensmittelbranche zu Preisdiskriminierung und Spekulation auf den Rohstoffmärkten führen könnte. Die Konzentration des Datenmarkts auf eine kleine Zahl von Unternehmen muss so gesteuert werden, dass die Datensouveränität gewährleistet ist. Darüber hinaus muss der Datenaustausch zwischen den Akteuren der Lieferkette auf faire, transparente und diskriminierungsfreie Weise erfolgen, damit das FSDN zu einer gerechteren Lieferkette und zur Verringerung der indirekten Emissionen beitragen kann.

5.6.

Der Schwerpunkt sollte stets auf der Schaffung eines Rahmens für Datendemokratie und einer ausgewogenen Verhandlungsmacht liegen, soweit es die Datennutzung in der Agrar- und Lebensmittelbranche betrifft. Der EWSA begrüßt die Einführung einer Betriebskennnummer und wünscht sich mit Blick auf Datenschutz, -eigentum, -haftung und -übertragbarkeit in der Landwirtschaft mehr Klarheit. Die Daten sollten gleichermaßen sowohl denjenigen zugutekommen, die die Daten bereitstellen, als auch denjenigen, die sie zusammentragen. Außerdem sollten FSDN-Daten leicht auffindbar sein.

5.7.

Sensibilisierungskampagnen sind nötig, in denen die Bedeutung von Daten für die wirtschaftliche, soziale und ökologische Leistung landwirtschaftlicher Betriebe, insbesondere für Kleinlandwirte, hervorgehoben wird. Dies stärkt das Vertrauen und macht den Beitrag von Daten zur Relevanz und Effizienz künftiger politischer Maßnahmen besser verständlich. Die Akteure der Agrar- und Lebensmittelversorgungsketten sollten Zugang zu offenen Datenplattformen haben, um Vergleichbarkeit und Transparenz innerhalb der Produktversorgungsketten zu gewährleisten. Das FSDN könnte Landwirte dazu motivieren, digitale Plattformen zu nutzen, um sich leichter in die Lieferketten zu integrieren und bewährte Verfahren auszutauschen.

5.8.

Über die Fortbildungen für Datenerheber hinaus sollten durchgehend digitale Kompetenzen vermittelt werden, insbesondere für kleine Höfe und ältere Landwirte. Es sollten kontinuierlich Schulungen, Verfahren und Kampagnen im Bereich der Cybersicherheit durchgeführt werden. Ungeachtet der Fortschritte im Bereich der Digitalisierung und der Datenwirtschaft müssen die Systeme noch benutzerfreundlicher werden. Der EWSA betont, dass Breitbandversorgung und Digitalisierung als Voraussetzung für Präzisionslandwirtschaft und Robotik sichergestellt und Investitionen in nachhaltige Techniken gefördert werden müssen. Es sollte erwogen werden, eine klare Verbindung zwischen dem FSDN und der Fazilität „Connecting Europe“, aber auch zum Connecting-Europe-Breitbandfonds zu schaffen.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  EWSA-Stellungnahme „Vom Hof auf den Tisch — Eine Strategie für eine nachhaltige Lebensmittelerzeugung“, ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 268.

(2)  https://www.h2020fairshare.eu/.

(3)  Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. L 119 vom 4.5.2016, S. 1).

(4)  Stellungnahme des EWSA „Digitalisierung und Nachhaltigkeit — Status quo und Handlungsbedarf aus Sicht der Zivilgesellschaft“ (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 187).


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/171


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Ein Aktionsplan für Solidaritätskorridore zwischen der EU und der Ukraine zur Erleichterung der Agrarexporte der Ukraine und ihres bilateralen Handels mit der EU

(COM(2022) 217 final)

(2023/C 75/25)

Berichterstatter:

Marcin NOWACKI

Befassung

Europäische Kommission, 28.6.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

4.10.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

156/12/17

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstreicht, dass die ungerechtfertigte militärische Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine zur Zerstörung eines erheblichen Teils der Infrastruktur und zur Blockade der Seehäfen und Seewege geführt hat, was wiederum den Zusammenbruch des ukrainischen Außenhandels zur Folge hatte. Daher ist es notwendig, alternative Handelswege über den Straßen- und Schienenverkehr zwischen der EU und der Ukraine zu ermitteln.

1.2.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten, die Kommission und den Rat auf, durch die Erhöhung der Zahl der Beamten und durch die Zusammenarbeit zwischen Beamten der EU und denen der Ukraine für eine Verbesserung der Zollabfertigung an den Grenzübergängen zu sorgen. Damit sollte der bereits in einigen EU-Mitgliedstaaten bestehende Trend fortgesetzt werden. So hat Polen beispielsweise an den Grenzübergängen Korczowa-Krakowez und Dorohusk-Jahodyn gesonderte Fahrspuren für den Güterverkehr eingerichtet. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass eine Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten und der Ukraine erforderlich ist, um die Zollabfertigung zu verbessern, u. a. mittels der gleichzeitigen Durchführung der Zollabfertigung durch alle zuständigen Dienststellen unter Einhaltung sämtlicher Verfahren sowohl der EU Mitgliedstaaten als auch der Ukraine.

1.3.

Es sollte betont werden, dass eine der jüngsten Kernmaßnahmen zur Stärkung des Handels auf dem Landweg die Unterzeichnung zweier Abkommen zwischen der EU, der Ukraine und der Republik Moldau über die Liberalisierung des Straßengüterverkehrs aus der Ukraine in die EU über Moldau ist. Die Straßentransportabkommen werden zu diesen Bemühungen beitragen, indem sie den Straßengüterverkehr zwischen der EU und der Ukraine und Moldau erleichtern und es ukrainischen, moldauischen und EU-Beförderern ermöglichen, die jeweiligen Hoheitsgebiete zu durchfahren und dort tätig zu sein, ohne für diese Tätigkeiten eine Genehmigung einholen zu müssen. Das Abkommen zwischen der EU und der Ukraine sieht auch die Anerkennung ukrainischer Führerscheine und Berufsqualifizierungsnachweise vor (1).

1.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass dringend in Infrastruktur investiert werden muss, um die Kapazitäten der Grenzübergänge zu erhöhen und den Handel über den Schienenverkehr zu ermöglichen. Diese Investitionen können nur unter Beteiligung europäischer Fonds getätigt werden. Um das Transportvolumen zu erhöhen, sind die Unterstützung des Investitionsprozesses, Zahlungsgarantien und Sicherheiten für am Güterverkehr zwischen der EU und der Ukraine beteiligte Unternehmen notwendig.

1.5.

Der EWSA weist darauf hin, dass eine enge Zusammenarbeit mit den ukrainischen Partnern erforderlich ist, und zwar nicht nur bei der Umsetzung des Investitionsprozesses und der Verbesserung der Verfahren für den Güterverkehr, sondern auch bei der Zulassung ukrainischer Arbeitnehmer zur Beschäftigung in der EU. Dies betrifft sowohl die Regierungspartner als auch die Sozialpartner.

1.6.

Der EWSA stellt fest, dass die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung maßgebliche Hürden und ihre Ursachen im Rahmen des Handels zwischen der EU und der Ukraine richtig benennt. Der anhaltende bewaffnete Konflikt auf ukrainischem Gebiet, der durch die völlig ungerechtfertigte Invasion der Russischen Föderation ausgelöst wurde, hat zur Zerstörung eines Großteils der Infrastruktur der Ukraine und zur Blockade ihrer Seehäfen am Schwarzen Meer geführt, wodurch sie von ihrem Kanal für den internationalen Handel abgeschnitten wurde.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

Die vorliegende Stellungnahme ist eine Reaktion auf die „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Ein Aktionsplan für die Solidaritätskorridore zwischen der EU und der Ukraine zur Erleichterung der Agrarexporte aus der Ukraine und des bilateralen Handels mit der EU“ (2) vom 12. Mai 2022.

2.2.

Zu den wichtigsten von der Ukraine produzierten und in die EU sowie zahlreiche Länder Afrikas und Asiens exportierten Gütern gehören Lebensmittel und vor allem Getreide. Die Ukraine ist einer der größten Lebensmittelproduzenten. Die Blockade des Außenhandels mit diesem Land bedeutet einen erheblichen Rückgang der Versorgung mit vielen Lebensmitteln in der EU und weltweit. Die Ukraine und Russland produzieren zusammen 10 % des weltweiten Weizens und haben einen Anteil von 30 % am weltweiten Weizenhandel.

2.3.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission, alternative und optimierte Logistikrouten — die neuen „Solidaritätskorridore zwischen der EU und der Ukraine“ — zu schaffen, die den Handel mit ukrainischen landwirtschaftlichen Erzeugnissen und den bilateralen Außenhandel erleichtern werden. Die Korridore werden der Ukraine auch Zugang zu den europäischen Handelswegen über die Seehäfen verschaffen, was unserem östlichen Nachbarn die Möglichkeit zur Teilnahme am Welthandel geben wird. Es besteht jedoch allgemein Einigkeit darüber, dass die Ausfuhren über den Landweg nur ein Drittel bis höchstens die Hälfte der Ausfuhren kompensieren dürfen, die die Ukraine normalerweise über das Schwarze Meer tätigt. Im Übrigen sind die Kosten für den Transport auf dem Landweg nach Europa viel höher als für den Transport per Schiff über das Schwarze Meer. Darüber hinaus unterliegen ukrainische Exporte innerhalb des EU-Binnenmarkts bestimmten Beschränkungen. Dadurch werden einerseits den Landwirten Chancen genommen und andererseits viele afrikanische und asiatische Länder bei der Versorgung mit dringend benötigten Lebensmitteln nicht unterstützt.

2.4.

Die Öffnung eines sicheren Getreidekorridors im Schwarzen Meer kann eine gute Nachricht für Lebensmittel importierende Länder und für ukrainische Landwirte sein. Angesichts des geringen Vertrauens in Russland steht die eigentliche Bewährungsprobe jedoch noch aus. Erschwerend kommen die derzeit hohen Kraftstoff- und Düngemittelpreise hinzu. Ein Großteil der Agrarflächen der Ukraine wird von Russland kontrolliert bzw. ist von russischen Angriffen bedroht. Sollte die landwirtschaftliche Tätigkeit aufgrund hoher Kosten und geringer Sicherheit nicht mehr möglich sein, dann könnten die Landwirte den Betrieb einstellen, was den Druck auf die internationale Ernährungssicherheit weiter erhöhen und Arbeitsplätze vernichten würde. Hier sind Lösungen dringend erforderlich — es darf keine Zeit verloren werden.

2.5.

Der EWSA stellt fest, dass die Kommission die Engpässe — d. h. die problematischsten Bereiche, die den Handel zwischen der EU und der Ukraine erschweren — richtig benennt und eine Reihe von Maßnahmen zur Lösung der festgestellten Probleme vorschlägt.

2.6.

Die größten Schwierigkeiten bei der Entwicklung des Handels zwischen der EU und der Ukraine betreffen die Infrastruktur. Deshalb sind Investitionen dringend erforderlich, um für einen ungehinderten Verkehr an den Grenzübergängen zu sorgen und den Schienenverkehr zwischen der Ukraine und den EU-Mitgliedstaaten zu erleichtern. Auch bedarf es des Auf- und Ausbaus der Zusammenarbeit zwischen Institutionen und Mitgliedstaaten der EU mit der Ukraine und der Republik Moldau, die ebenfalls eine aktive Rolle im Güterverkehr spielen kann.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Es ist schwierig, den Schaden abzuschätzen, der durch die russische Invasion der Ukraine verursacht wurde, zumal nicht vorhersehbar ist, wie lange der Krieg noch andauert. Dennoch sollte bereits über die Planung des Wiederaufbaus der Ukraine, ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und ihrer Integration in das wirtschaftliche Ökosystem der EU nachgedacht werden. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Wiederaufbau der Ukraine war die Lugano-Konferenz am 4./5. Juli 2022. Dies ist umso bedeutender, als die Staats- und Regierungschefs der EU am 23. Juni 2022 beschlossen haben, der Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu gewähren. Der von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Plan für die Einrichtung von „Solidaritätskorridoren“ zur Steigerung des Handels zwischen der EU und der Ukraine ist diesbezüglich sicherlich ein wesentlicher Fortschritt.

3.2.

Die Ukraine verfügt über 18 Häfen, von denen aus Waren in europäische Länder und andere Teile der Welt exportiert werden können. Nach jüngsten Informationen aus der Ukraine wurden 15 dieser Häfen blockiert. Nur drei Häfen sind in Betrieb: Reni, Ismajil und Ust-Donézki. Russland hat auch das Auslaufen von fast 80 ausländischen Schiffen samt Besatzung verhindert. Ukrainischen Quellen zufolge haben im März nur 400 000 Tonnen Fracht die Häfen verlassen. Im Mai stieg der Hafenumschlag auf 1,3 Mio. Tonnen (3). Dies ist jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ein Abkommen, dem zufolge Russland Handelsschiffen das Verlassen ukrainischer Häfen gestatten soll, gibt Anlass zur Hoffnung. Die ersten Schiffe mit ukrainischem Getreide haben den Hafen von Odessa bereits verlassen. Es ist zu betonen, dass das Abkommen mit Russland fragil ist und die Häfen jederzeit erneut vollständig blockiert werden könnten (4).

3.3.

Schließlich ist die Ukraine einer der größten Lebensmittelproduzenten der Welt. Etwa die Hälfte der weltweiten Ausfuhren von Sonnenblumenöl, 16 % des Maises und 10 % des Weizens kommen aus diesem Land. Die Ukraine ist auch ein wichtiger Produzent und Exporteur anderer Getreide- und Lebensmittelerzeugnisse (5). Lebensmittelexporte sind eine wichtige Einnahmequelle für die Ukraine — 2021 beliefen sie sich auf 27,7 Mrd. USD (6). Ukrainische Agrarerzeugnisse werden in Südostasien, im Nahen Osten und in Afrika verkauft. EU-Länder wie Spanien, die Niederlande und Italien gehören ebenfalls zu den größten Importeuren dieser Waren.

3.4.

Vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine wurden rund zwei Drittel der ukrainischen Exporte auf dem Seeweg abgewickelt. Gleichzeitig wurde Getreide fast ausschließlich auf dem Seeweg ausgeführt — im Falle von Pflanzenölen zu mehr als 90 % (7). Die Blockade der Handelsseehäfen im Schwarzen Meer wirkt sich unmittelbar auf die internationale Ernährungssicherheit und die Wirtschaftslage in vielen Ländern der Welt aus. Die begrenzte Versorgung mit Lebensmitteln aus der Ukraine ist und bleibt sicherlich ein wichtiger Faktor für den Preisanstieg in der gesamten EU. Die Ernte wurde insofern durch den Krieg erschwert, als Feldfrüchte in besetzten Gebieten von russischen Truppen gestohlen wurden. Darüber hinaus wurden von ihnen Gebiete vermint und Anbauflächen abgebrannt. Unter diesen Bedingungen fällt die Ernte in der Ukraine deutlich geringer aus als in den Vorjahren. Gepaart mit Schwierigkeiten beim Export könnte das in vielen Regionen der Welt zu Hunger führen. Außerdem werden schätzungsweise rund 30 % der Weizenanbaugebiete der Ukraine nun von Russland kontrolliert (Stand: August 2022). In den besetzten Gebieten ist der Produktionsstatus unklar: Wer kontrolliert die Lieferungen, und können diese noch die Weltmärkte erreichen? Beim Kriegsausbruch steckten Schätzungen zufolge 20 bis 25 Mio. Tonnen Getreide aus der Ernte des Jahres 2021 in der Ukraine fest.

3.5.

Die vorgenannten Probleme rechtfertigen voll und ganz die Vorschläge der Kommission zur Einrichtung von Solidaritätskorridoren. Der EWSA weist jedoch darauf hin, dass der Vorschlag der Kommission neben Maßnahmen zum Ausbau der Kapazitäten der Grenzübergänge auch Maßnahmen zur Erhöhung der Investitionssicherheit enthalten sollte.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Koordinierung der Arbeit der Zollbehörden der EU-Mitgliedstaaten und der Ukraine

4.1.1.

Gemeinsame Zollkontrollen an der EU-Grenze zur Ukraine sind nicht neu. Ein ähnlicher Mechanismus wurde während der UEFA EURO 2012 angewandt. Während der Europameisterschaft überquerten mehr als eine Million Menschen die polnisch-ukrainische Grenze. Die damaligen Sonderverfahren betrafen jedoch nur den Personen- und nicht den Warenverkehr. Durch die Koordinierung der Zolldienste konnten die Kapazitäten der Grenzübergänge allerdings erheblich gesteigert werden. Die besonderen Umstände infolge der russischen Invasion in der Ukraine rechtfertigen sicherlich die Erwägung ähnlicher Maßnahmen für den Warenverkehr. Es besteht kein Zweifel, dass Zollkontrollen an den Grenzübergängen zur Ukraine notwendig sind. Der EWSA empfiehlt jedoch, dass sie an einem Ort und von Beamten der EU-Mitgliedstaaten und der Ukraine gemeinsam im Rahmen einer umfassenden Kooperation und Koordinierung durchgeführt werden sollten.

4.2.   Ausbau der Grenzübergangskapazitäten — Lösungen für den Straßenverkehr — Öffnung neuer Grenzübergänge und Fahrspuren für die Abfertigung von Waren, insbesondere von Agrar- und Lebensmittelerzeugnissen

4.2.1.

Die Öffnung der Grenzübergänge und die Erhöhung ihrer Kapazitäten sind von entscheidender Bedeutung, um den freien Warenverkehr zwischen den EU-Mitgliedstaaten und der Ukraine zu ermöglichen. Dieser Trend zeichnet sich in den Nachbarstaaten der Ukraine ab und sollte durch Investitionen in die notwendige Infrastruktur auch finanziell unterstützt werden. Es ist notwendig, sowohl die Kapazitäten der bestehenden Grenzübergänge zu erhöhen, z. B. durch Aufstockung des Zollpersonals, als auch neue Grenzübergänge zu schaffen, insbesondere für die Abfertigung von Waren an Orten, an denen dies möglich ist. Erwähnenswert ist das Beispiel Polens, das den Warendurchsatz an den Grenzübergängen Korczowa-Krakowez und Dorohusk-Jahodyn erhöht hat. Dank des Ausbaus und der Nutzung der bestehenden Infrastruktur hat Polen die Wartezeiten für die Abfertigung von Waren an anderen Grenzübergängen in kürzester Zeit verringert.

4.2.2.

Es ist zu unterstreichen, dass die Möglichkeit besteht, für den Handel mit ukrainischem Getreide Seehäfen nicht nur in Polen, sondern auch in den baltischen Staaten zu nutzen. Dazu sollte das Schienennetz in Polen wirksam genutzt und die Nutzung von Häfen in Polen, Litauen, Lettland und Estland durch die ukrainischen Behörden und Unternehmen ermöglicht werden. Wichtig ist der Hinweis, dass ein erheblicher Teil des ukrainischen Getreides in Hallen an der polnisch-ukrainischen Grenze gelagert wird. Somit bestehen weiterhin Hindernisse für die Handelslogistik, die es zu beseitigen gilt.

4.2.3.

Es ist zu erwähnen, dass die Kommission auch vorschlägt, Verhandlungen über ein Abkommen zwischen der EU und der Ukraine über den Straßengüterverkehr aufzunehmen. Nach seiner ursprünglichen Laufzeit könnte dieses Abkommen so lange in Kraft bleiben, wie die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine schwerwiegende Auswirkungen auf die Verkehrsinfrastruktur und den Verkehrsbetrieb hat. Es ist jedoch zu betonen, dass sich die Rahmenbedingungen für Unternehmen in der Ukraine und der EU erheblich unterscheiden. So muss ein mögliches Abkommen zwischen der EU und der Ukraine unbedingt einen Fahrplan für regulatorische Änderungen in der Ukraine enthalten, damit die nationalen Vorschriften mit den europäischen Standards, einschließlich des Mobilitätspakets, in Einklang stehen. Andernfalls könnten ukrainische Transportunternehmen einen erheblichen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihren europäischen Konkurrenten erlangen, was schwerwiegende wirtschaftliche Folgen für die europäische Transportindustrie hätte.

4.2.4.

Die Kommission fordert im Rahmen von Aktion 4 eine Priorisierung der ukrainischen Agrarexporte über Güterverkehrskorridore, in denen die bestverfügbaren Kapazitäten eingesetzt werden. Diese Maßnahme ist verwaltungstechnisch wichtig. Es ist jedoch zu betonen, dass private Transportunternehmen ohne zusätzliche wirtschaftliche Anreize und angemessene Versicherung möglicherweise nicht bereit sind, die mit der Beförderung landwirtschaftlicher Erzeugnisse verbundenen Risiken auf sich zu nehmen. Private Unternehmen werden sich vom Grundsatz der Gewinnmaximierung und Risikominimierung leiten lassen, sodass sie sich möglicherweise anstelle des Transports von Agrarerzeugnissen aus der Ukraine für andere Waren oder ganz andere Geschäftstätigkeiten entscheiden.

4.2.5.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission zu Recht darauf hinweist, dass zahlreiche Hindernisse beseitigt werden müssen, damit ukrainische Fahrer auf dem Unionsgebiet arbeiten könnten. Es sollten gemeinsame Maßnahmen mit den ukrainischen Partnern ergriffen werden, um ukrainischen Staatsangehörigen die Arbeit für europäische Transportunternehmen und den freien Grenzübertritt zu ermöglichen. Die in der Region tätigen europäischen Transportunternehmen sind schließlich mit einem erheblichen Mangel an Arbeitskräften konfrontiert. Viele ukrainische Bürgerinnen und Bürger hatten vor dem Krieg in EU-Mitgliedstaaten gearbeitet, waren aber nach Kriegsausbruch gezwungen, in ihr Heimatland zurückzukehren. Derzeit können sie nicht die Ukraine verlassen und in der EU arbeiten, was die Situation der europäischen Unternehmen erheblich erschwert.

4.3.   Schienenverbindungen zwischen der EU und der Ukraine

4.3.1.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Europäische Kommission die Probleme im Schienengüterverkehr treffend benennt. Die Spurweite in der EU beträgt 1 435 mm, in der Ukraine hingegen 1 520 mm. Dadurch können europäische Güterzüge nicht auf ukrainischen Gleisen fahren und umgekehrt. Die Kommission verweist jedoch auf die Praxis des Austauschs von Waggon-Drehgestellen, die sich nicht in jedem Fall als ausreichend erweisen dürfte. Es ist zu unterstreichen, dass ukrainische Waggons manchmal breiter sind als die in Europa verwendeten, was dazu führen kann, dass sie nicht auf europäischen Gleisen fahren können.

4.3.2.

Im Rahmen von Aktion 5 verpflichtet sich die Kommission, mit den Mitgliedstaaten und der Industrie zusammenzuarbeiten, um die wichtigsten Umschlagzentren bzw. Zentren zur Änderung der Spurweite an den Grenzen zwischen der EU und der Ukraine und darüber hinaus zu ermitteln und die Umschlagmengen für Massengut- und Containertransporte auf Tagesbasis festzulegen. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Koordinierungshilfe der EU über den Verkehr hinausgehen und auch die Warenbeförderung einschließen sollte. Derzeit haben ukrainische Unternehmen große Schwierigkeiten, neue Logistikketten aufzubauen (Buchung von Grenzterminals und Organisation des Schienengüterverkehrs, Buchung von Hafenterminals, Vertragsabschlüsse mit Reedereien). Sie liefern das Getreide oft nur bis zur Grenze, was zu Engpässen führt. Das Problem könnte durch groß angelegte Matchmaking-Veranstaltungen und -Mechanismen (auch online) gelöst werden, etwa um ukrainische Exporteure mit europäischen Spediteuren, Logistikunternehmen usw. zusammenzubringen.

4.3.3.

Die Einrichtung von Solidaritätskorridoren erfordert eine Reihe von Investitionen in die Infrastruktur, insbesondere im Bereich des Schienenverkehrs. Ein bemerkenswertes Beispiel ist der Ausbau der europäischen Eisenbahninfrastruktur innerhalb des vorgeschlagenen Korridors Polen-Ukraine-Rumänien auf der Strecke Danzig–Lublin/Przemyśl–Lwiw–Tscherniwzí–Suceava–Constanța. Das Projekt könnte ein östliches Element des neuen TEN-V-Korridors Ostsee-Schwarzes Meer-Ägäis sein, das im Rahmen der zyklischen Überarbeitung des TEN-V-Netzes erörtert wird. Sobald die notwendigen Investitionen in Polen getätigt worden sind — z. B. in den „Solidarity Transport Hub“ und die Anpassung der Hochgeschwindigkeitsbahnstrecken an den Güterverkehr — dürfte dies die schnellste Route für die Beförderung von Gütern von der Ukraine zu den Ostseehäfen sein. Investitionen in den Schienenverkehr im Rahmen des TEN-V-Netzes werden Moldau in die Lage versetzen, die Verbindungen mit der EU zu verbessern und mehr Güterverkehrswege nach Odessa und Chișinău zu öffnen.

4.4.   Finanzielle Unterstützung und Risikominderung für Unternehmer

4.4.1.

Der Wiederaufbau der Ukraine ist mit sehr hohen Investitionen verbunden. Ein bedeutender Teil der Infrastruktur und der Landwirtschaft der Ukraine wurde durch militärische Handlungen zerstört. Diese Investitionen erfordern Finanzquellen und Zahlungsgarantien, um Sicherheit in den Fällen zu schaffen, in denen der Investor nicht in der Lage ist, den Auftragnehmer zu bezahlen. Daher müssen auch europäische Finanzmittel zur Unterstützung von Unternehmern, die in der Ukraine Investitionen tätigen, vorgesehen werden. Angesichts der hohen Kraftstoff-, Düngemittel- und Versicherungskosten werden viele Landwirte keine Investitionen riskieren wollen. Es wird zur Aufgabe zahlreicher Agrarbetriebe in den besetzten Gebieten kommen; das bedeutet, dass es keine Beschäftigung für die Bevölkerung und keine Lebensmittelerzeugung gibt.

4.4.2.

Die Kommission weist richtigerweise darauf hin, dass die Waggoneigentümer der EU bisher zögerlich waren, ihr Eisenbahnmaterial und ihre Fahrzeuge in die Ukraine einreisen zu lassen. Als Reaktion auf diese Bedenken hat die Ukraine ein Regierungsdekret erlassen, in dem sich das Land dazu verpflichtet, die Kosten der Schäden durch verlorengegangene Waggons und Lastkähne zu übernehmen. Der Erlass impliziert jedoch keinen Ausgleich von Versicherungsrisiken und gilt nicht für den Straßenverkehr. Teilweise gelangen derzeit europäische Fahrzeuge zwar bereits in die Ukraine, allerdings immer noch in nur begrenzter Zahl. Es ist in der Tat angebracht, die EU in Zusammenarbeit mit der Ukraine zu unterstützen und diesem Instrument spezifische Mittel zuzuweisen. Das Risiko von Kriegshandlungen auf ukrainischem Hoheitsgebiet beeinträchtigt ganz erheblich die Bereitschaft von Unternehmen (auch im Bereich des Straßengüterverkehrs), sich am Warenaustausch zwischen der EU und der Ukraine zu beteiligen.

4.4.3.

Die Kommission verweist an vielen Stellen auf die Notwendigkeit erheblicher Investitionen, z. B. in den Ausbau von Schienenstrecken, in die Infrastruktur für den Güterumschlag oder die Lagerung von Waren. Es ist darauf hinzuweisen, dass die größte Herausforderung für private Investitionen in Getreide-Infrastrukturen (Terminals, Silos, Anschaffung von Waggons und Material, Ausbau von Hafenmolen usw.) derzeit in der Ungewissheit über den Kriegsverlauf und damit der Gefahr von Überinvestitionen besteht. Angesichts der globalen Dimension des Problems erscheint es gerechtfertigt, die Unterstützung durch Staaten und internationale Organisationen zu fordern, um Finanzinstrumente zu schaffen, mit denen private Unternehmen gegen das Risiko von Schlüsselinvestitionen in Infrastrukturen zur Beförderung und Lagerung von Getreide abgesichert werden sollen. Zu den potenziellen Interessenträgern gehören die Europäische Investitionsbank und andere Entwicklungsbanken der Länder in der Region.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Supporting Ukrainian exports and improving connections to the EU: EU strengthens cooperation with Ukraine and Moldova (europa.eu).

(2)  COM(2022) 217 final.

(3)  https://ubn.news/russian-invaders-have-seized-and-blocked-15-ukrainian-ports/

(4)  https://www.business-standard.com/article/international/ukraine-russia-sign-un-deal-to-export-grain-and-fertiliser-on-black-sea-122072201213_1.html

(5)  https://www.bbc.com/news/world-europe-61583492; https://www.apk-inform.com/en/news/1526701; siehe auch The importance of Ukraine and the Russian Federation for global agricultural markets and the risks associated with the war in Ukraine, Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO).

(6)  https://www.weforum.org/agenda/2022/07/ukraine-s-food-exports-by-the-numbers/

(7)  https://www.bbc.com/news/world-europe-61583492


ANHANG

Der folgende abgelehnte Änderungsantrag erhielt mindestens ein Viertel der Stimmen:

ÄNDERUNGSANATRAG

von:

CAÑO AGUILAR Isabel

HAJNOŠ Miroslav

QUAREZ Christophe

SZYMAŃSKI Mateusz

TEN/781 — Solidaritätskorridore zwischen der EU und der Ukraine

Ziffer 4.5

Neue Ziffer nach Ziffer 4.4.3

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

 

4.5.

Schutz der Arbeitnehmerrechte im neuen Entwurf des Arbeitsgesetzbuchs

Das ukrainische Parlament hat vor kurzem Abstand von seinem seit langem bestehenden Grundsatz der Konsultation von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zu politischen Maßnahmen im Zusammenhang mit Änderungen des Arbeitsrechts genommen. Infolgedessen hat das ukrainische Parlament das Gesetz 2434-IX verabschiedet. Es ist im August 2022 in Kraft getreten und diskriminiert Arbeitnehmer in Organisationen mit weniger als 250 Beschäftigten und einem Lohn, der das Achtfache des Mindestlohns übersteigt, da es dem Arbeitgeber die Möglichkeit einräumt, individuelle Arbeitsverträge vorzuschlagen, die nach der Unterzeichnung dem Arbeitnehmer zusätzliche Aufgaben und Pflichten auferlegen können, die im Arbeitsrecht oder in den Tarifverträgen nicht vorgesehen sind. Das Gesetz wurde zwar für das Kriegsrecht verabschiedet, ist jedoch offensichtlich Teil eines weiterreichenden Plans der Deregulierung und Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte. In Friedenszeiten stünde die Verabschiedung eines solchen Gesetzes und seine Aufnahme in neue arbeitsrechtliche Vorschriften im Widerspruch zum EU-Besitzstand, einschließlich der Dienstleistungsfreiheit, der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitnehmer, nachhaltiger Beschäftigungsbedingungen und des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, aber auch der Verpflichtungen im Rahmen der ratifizierten Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation und der europäischen Säule sozialer Rechte zu sicherer und anpassungsfähiger Beschäftigung, angemessenen Mindestlöhnen und Mindesteinkommen.

Ergebnis der Abstimmung über den Änderungsantrag:

Ja-Stimmen:

81

Nein-Stimmen:

97

Enthaltungen:

17


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/178


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — EU-Strategie für Solarenergie“

(COM(2022) 221 final)

und „Empfehlung der Kommission zur Beschleunigung der Genehmigungsverfahren für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien und zur Förderung von Strombezugsverträgen“

(C(2022) 3219 final)

(2023/C 75/26)

Berichterstatter:

Kęstutis KUPŠYS

Mitberichterstatterin:

Alena MASTANTUONO

Befassung

Europäische Kommission, 28.6.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

4.10.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

171/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) betont, dass die EU die Solarenergie und die europäischen Kapazitäten in diesem Bereich dringend ausbauen muss. Dies ist aus mehreren Gründen geboten: Es gilt, die Klimaziele zu erreichen, die strategische Energieautonomie der EU zu erhöhen, öffentliche und private Investitionen sowie die Schaffung guter Arbeitsplätze anzuregen, die industrielle Basis zu stärken und Geschäftschancen zu fördern sowie einen Beitrag dazu zu leisten, dass Haushalte Zugang zu erschwinglicher Energie haben.

1.2.

Gleichzeitig weist der EWSA darauf hin, dass die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten in Bezug auf ihren Energiemix, der von den jeweiligen geografischen und klimatischen Gegebenheiten und von der Verfügbarkeit verschiedener erneuerbarer Energiequellen abhängt, berücksichtigt werden müssen. Der Ausbau der Solarenergie muss mit den technischen Voraussetzungen und der ökologischen Nachhaltigkeit in Einklang stehen. Nur wenn die Mitgliedstaaten enger zusammenarbeiten, können sie das Potenzial der Solarenergie in Europa voll ausschöpfen.

1.3.

Der EWSA begrüßt die EU-Strategie für Solarenergie (1) (im Folgenden „die Strategie“), bedauert jedoch, dass es lange dauern wird, bis ihre Ergebnisse zum Tragen kommen werden. Er fordert die Mitgliedstaaten auf, nicht bis zur Annahme der neuen EU-Vorschriften zu warten und bereits jetzt damit zu beginnen, Verwaltungsverfahren zu vereinfachen und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, die über zentrale Anlaufstellen abgewickelten integrierten und kombinierten Genehmigungsverfahren zu verbessern und die Ausweisung von „go-to“-Gebieten umgehend zu beschleunigen, um den vollständigen Umsetzungsprozess auf höchstens zwei Jahre zu begrenzen. Ferner weist er darauf hin, dass die Bereitstellung umfassender Speicherkapazitäten sowie betriebsbereite Übertragungs- und Verteilernetze Voraussetzungen für eine wirksame Solarstrategie sind.

Der EWSA fordert die politischen Entscheidungsträger auf, die Menschen dazu zu bewegen, dabei zu unterstützen und dazu zu befähigen, Solarenergie-Prosumenten zu werden und Energiegemeinschaften ins Leben zu rufen. Der EWSA empfiehlt den lokalen Gebietskörperschaften, Projekte zur Bekämpfung von Energiearmut in Regionen ins Leben zu rufen, in denen sich die Menschen Investitionen in Energiegemeinschaften nicht leisten können. Der EWSA fordert, dass größeres Augenmerk auf die Agri-Fotovoltaik gelegt wird, die den Landwirten neue Möglichkeiten und Vorteile bietet.

1.4.

Der EWSA merkt an, dass der verstärkte Einsatz von Wärmepumpen mit einer zunehmenden Zahl installierter Fotovoltaik-Anlagen einhergehen sollte. So stellt die Kombination aus einer (Dach-)Fotovoltaik-Anlage und einer Wärmepumpe in Fällen, in denen die klimatischen Bedingungen dies zulassen, die energieeffizienteste und wirtschaftlich günstigste Kühlungslösung dar. Nach Ansicht des EWSA sollten zudem Fotovoltaik-Großanlagen gefördert werden.

1.5.

Voraussetzung für einen großflächigen Einsatz von Fotovoltaik-Anlagen sind die Stärkung der industriellen Basis in Europa und die Gewährleistung reibungslos und zuverlässig funktionierender Lieferketten. Nach Ansicht des EWSA sollte die EU daher unbedingt Wege zur Herstellung von Fotovoltaik-Anlagen in Europa finden und in diesem Sinne ein günstigeres Umfeld für öffentliche und private Investitionen sowie unternehmensfreundliche Rahmenbedingungen schaffen, u. a. durch die Bereitstellung geeigneter Finanzierungsmöglichkeiten und eine starke Schwerpunktsetzung auf Forschung und Innovation.

1.6.

Aufgrund des massiven Fachkräftemangels sowie wegen rechtlicher und sogar technischer Hindernisse stehen der Installation von Solarenergieanlagen wesentliche Hürden im Wege. Der EWSA plädiert für eine intensive Förderung der Aus- und Weiterbildung und der Kompetenzentwicklung durch die Zusammenarbeit zwischen den einschlägigen Interessenträgern.

1.7.

Der EWSA betont, wie wichtig der Aufbau eigener industrieller Kapazitäten für nachhaltige und preisgünstige Solarenergieprodukte in der EU ist, und fordert umfassende Unterstützung für die Allianz der Fotovoltaik-Industrie. Er betont, dass mit Unterstützung der Behörden und der Sozialpartner alle betroffenen Interessenträger mobilisiert werden müssen, um das notwendige Praxis- und Fachwissen bereitzustellen und starken Rückhalt für den Einsatz von Fotovoltaik-Anlagen zu gewährleisten.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

Angesichts des Krieges in der Ukraine, der von der EU gegen Russland verhängten Sanktionen und der Bemühungen um Gewährleistung der Energiesouveränität hat die Europäische Kommission am 18. Mai 2022 den REPowerEU-Plan (2) vorgelegt. Dieser soll „unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland rasch verringern, indem wir den Übergang zu sauberen Energien beschleunigen und die Kräfte bündeln, um ein widerstandsfähigeres Energiesystem und eine echte Energieunion zu erreichen“.

2.2.

Für die Erzeugung sauberer Energie sind im Rahmen von REPowerEU Lösungen vorgesehen, wie die EU den ökologischen Wandel beschleunigen und massive Investitionen in erneuerbare Energien mobilisieren kann (3). Im Rahmen des Plans hat die Europäische Kommission eine EU-Strategie für Solarenergie (im Folgenden „die Strategie“) angenommen. Diese Strategie stützt sich auf vier Initiativen:

a)

eine Europäische Solardach-Initiative,

b)

ein Maßnahmenpaket zu Genehmigungsverfahren,

c)

eine groß angelegte Kompetenzpartnerschaft der EU,

d)

eine Europäische Allianz für die Fotovoltaik-Industrie.

2.3.

Die Strategie baut auf der vorgeschlagenen EU-Initiative zu erneuerbaren Energiequellen, zur Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden und zur Energieeffizienz (im Folgenden „COM(2022) 222 final“ (4)) auf. In der Kommissionsmitteilung COM(2022) 222 final ist die Festlegung einer Höchstdauer für das Genehmigungsverfahren für Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energie vorgesehen. Die Kommission hat eine Initiative zur Anhebung der in früheren Vorschlägen zur Überarbeitung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (5) (RED II) und der Energieeffizienzrichtlinie (6) (EED) festgelegten Ziele vorgelegt.

2.4.

Diese Stellungnahme gehört zu einem Paket von EWSA-Stellungnahmen zu Energiethemen, u. a. zum REPowerEU-Plan (7), Energiemärkten, Energiesicherheit und Energiepreisen, und ist in diesem Gesamtkontext zu betrachten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagene Strategie und insbesondere die Tatsache, dass damit auf den in allen Bereichen der Solarenergie verzeichneten Handlungsbedarf eingegangen wird: Investitionen, Innovation, Energieerzeugung, Strom, Marktgestaltung, Anreize, Infrastruktur, qualifizierte Arbeitskräfte, Sensibilisierung, Nachhaltigkeit und Wertschöpfungsketten.

3.2.

Die Förderung der Solarenergie und der Ausbau der Kapazitäten Europas in diesem Bereich sind aus mehreren Gründen von vorrangiger Bedeutung. So gilt es, die Klimaziele zu erreichen und die strategische Autonomie der EU bei der Energieversorgung zu stärken. Außerdem fördert der Ausbau der Solarenergie öffentliche und private Investitionen und die Schaffung guter Arbeitsplätze, eröffnet Geschäftsmöglichkeiten und leistet einen Beitrag dazu, dass Haushalte Zugang zu erschwinglicher Energie haben.

3.3.

Damit die EU-Strategie für Solarenergie kohärent und nachhaltig sein kann, muss Folgendes von der EU sichergestellt werden:

1.

ein geeigneter Rechtsrahmen, der Zeit- und Kosteneinsparungen ermöglicht,

2.

die aktive Mitwirkung der Verbraucher zur Erzeugung von Solarenergie,

3.

die Nutzung von Skaleneffekten,

4.

umfassende öffentliche und private Investitionen in die Infrastruktur,

5.

Anreize für Forschung, Entwicklung und Innovation,

6.

die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte und hochwertiger Arbeitsplätze, um erstere anzuziehen,

7.

eine ausreichende Rohstoffversorgung,

8.

Kreislaufwirtschaft und Energieeffizienz in der gesamten Fotovoltaik-Branche und

9.

angemessene Finanzierungsmöglichkeiten.

3.4.

Ferner weist der EWSA darauf hin, dass die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten in Bezug auf ihren Energiemix, der von den jeweiligen geografischen und klimatischen Gegebenheiten und von der Verfügbarkeit verschiedener erneuerbarer Energiequellen abhängt, in der Strategie berücksichtigt werden müssen. Außerdem muss der Ausbau der Solarenergie mit den technischen Voraussetzungen und der ökologischen Nachhaltigkeit in Einklang stehen.

3.5.

Der EWSA hofft, dass die Strategie für Solarenergie entscheidend zur Umstellung auf ein klimaneutrales Energiesystem, in dem erneuerbare Energien eine zentrale Rolle spielen, beitragen wird. Um dies zu erreichen, muss ein besonderer Schwerpunkt auf Speichertechnologien, Nachfragesteuerung und die Integration des Energiesystems insgesamt gelegt werden.

3.6.

Der EWSA weist darauf hin, dass dringend günstige Rahmenbedingungen für Forschung, Produktentwicklung und den Aufbau von in der EU angesiedelten industriellen Kapazitäten für die Herstellung nachhaltiger und preislich wettbewerbsfähiger Solarenergieanlagen geschaffen werden müssen. Daher unterstützt der EWSA nachdrücklich die Allianz der Fotovoltaik-Industrie, da von ihr Lösungen für das anhaltende Problem der schwindenden Industriekapazitäten in der EU erwartet werden. Hier sollten die Erfahrungen und mögliche Synergien mit anderen Allianzen wie der Europäischen Batterie-Allianz genutzt werden. Zivilgesellschaftliche Akteure sollten dabei von Anfang an einbezogen werden, da sie entscheidend dazu beitragen, Praxis- und Fachwissen bereitzustellen sowie eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen und gesellschaftliche Akzeptanz und die Konsultation der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen.

Förderung einer stärkeren Nutzung von Solarenergie

3.7.

Damit Solarenergie besser angenommen wird, bedarf es einer Strategie, die den Verbrauchern und allen Akteuren des Energiesystems Anreize dafür bietet, diese Ziele bei der Energiebeschaffung zu berücksichtigen. Zugleich müssen sie ermutigt werden, sich zu Energieeffizienz- und Energiesparmaßnahmen zu verpflichten. Dies könnte erreicht werden, indem den Verbrauchern die zu erwartenden Vorteile wie z. B. geringere Energiekosten, ein besseres allgemeines Wohlergehen und eine Steigerung des Werts ihrer Immobilien bewusst gemacht und geeignete Finanzinstrumente entwickelt werden.

3.8.

Der EWSA fordert die politischen Entscheidungsträger auf, die Menschen dazu zu bewegen, dabei zu unterstützen und dazu zu befähigen, nicht nur bewusste Energieverbraucher, sondern auch Energie-Prosumenten zu werden und lokale Energiegemeinschaften zu schaffen. Dies würde dazu beitragen, dass sie bewusster handeln und unabhängiger von den Preisen des gemeinsamen Marktes sind. Der EWSA empfiehlt den lokalen Gebietskörperschaften, kollektive Solarenergieprojekte auf den Weg zu bringen und dabei öffentliche Gebäude wie Büros, Schulen und Krankenhäuser zu nutzen, um Energiearmut dort zu bekämpfen, wo sich die Menschen Investitionen in Energiegemeinschaften nicht leisten können.

3.9.

Angesichts der vorrangigen Rolle von Energieeffizienz und Energieeinsparungen sollten die Mitgliedstaaten die Einführung intelligenter Zähler unterstützen, um Energieverbraucher in die Lage zu versetzen, einen besseren Überblick über ihren Verbrauch zu gewinnen und besser zu verstehen, wie sie diesen steuern können. Nach Auffassung des EWSA sollte unbedingt bedacht werden, dass die verstärkte Nutzung von Solarenergie bei der Renovierung von Gebäuden zu mehr Energieeffizienz führt. Die Mitgliedstaaten sollten die Energieverbraucher dazu anzuhalten, ihren Energiebedarf mit Bedacht über 24 Stunden zu verteilen, um Spitzenlasten zu verringern.

3.10.

Der EWSA merkt an, dass die zunehmende Zahl installierter Fotovoltaik-Anlagen in Verbindung mit dem verstärkten Einsatz von Wärmepumpen betrachtet werden sollte, da die Spitzenwerte bei der Erzeugung von Solarenergie mit dem Anstieg der Nachfrage nach Strom für die Kühlung von Gebäuden zusammenfallen. Die Kombination aus einer (Dach-)Fotovoltaik-Anlage und einer Wärmepumpe stellt in Fällen, in denen die klimatischen Bedingungen dies zulassen, die energieeffizienteste und kostengünstigste Lösung für die Kühlung (zu bestimmten Tageszeiten) dar. Zu den restlichen Zeiten hängt die Energieerzeugung von der schwankenden Intensität der Sonneneinstrahlung ab, was bedeutet, dass zur Deckung des Energiebedarfs eine weitere Energiequelle genutzt werden muss. Diese Schwankungen können teilweise durch den Ausbau umfassender Speicherkapazitäten, die heute immer noch nicht in ausreichender Menge vorhanden sind, und durch bessere Übertragungsleitungen, die eine engere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten erfordern, ausgeglichen werden.

3.11.

Thermische Solarenergie wurde in den meisten Mitgliedstaaten bisher weitgehend unterschätzt. Der EWSA fordert, dass solarthermische Systeme bei der Planung der Energiewende auf mitgliedstaatlicher, regionaler und kommunaler Ebene in Form von Großanlagen umfangreicher genutzt werden, wo dies möglich ist. Angesichts der derzeit herrschenden Gasversorgungskrise und der Notwendigkeit, Erdgas, das hauptsächlich zum Heizen und für industrielle Zwecke verwendet wird, zu ersetzen, wird die Solarthermie ein wichtiger Faktor im Energiesystem sein.

3.12.

Der EWSA hält es für notwendig, die Möglichkeiten für die Nutzung von Dach-Fotovoltaik-Anlagen weiter zu prüfen und verstärkt zu nutzen und zu diesem Zweck Mechanismen für die ständige Konsultation von und Zusammenarbeit mit einem breiten Spektrum an einschlägigen Interessenträgern zu schaffen. Dies würde die Einrichtung und angemessene Finanzierung lokaler und regionaler Agenturen und Stellen für erneuerbare Energien zur Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger, KMU und lokalen Behörden erfordern, wobei gleichzeitig Schulungsinitiativen geschaffen und neue attraktive Arbeitsplätze gefördert werden müssten.

3.13.

Gebäudeintegrierte Fotovoltaik-Anlagen spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die Erzeugung von Solarenergie zu maximieren. Wenn nicht nur das Dach, sondern auch Teile der Fassade eines Gebäudes mit Solarpaneelen bedeckt sind, können die betreffenden Nutzer die Sonnenenergie täglich für einen viel längeren Zeitraum nutzen. Dies kommt dem gesamten Energiesystem zugute, da es die Glättung von Spitzen bei der Erzeugung von Solarenergie ermöglicht. Der EWSA empfiehlt, weitere Forschungsarbeiten zu gebäudeintegrierten Fotovoltaik-Anlagen zu fördern und die Solardach-Initiative um eine zusätzliche Komponente mit einem Schwerpunkt auf der Förderung der östlich-westlichen Ausrichtung von Fotovoltaik-Anlagen zu ergänzen.

Beschleunigung der Genehmigungsverfahren und Sicherstellung der finanziellen Ressourcen

3.14.

Der EWSA betont, dass die Genehmigungsverfahren dringend beschleunigt werden müssen, um den Ausbau erneuerbarer Energien, einschließlich ihrer Erzeugung, Speicherung, Verteilung und Übertragung, zu fördern. Zwar fällt die Erteilung von Genehmigungen in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch unterstützt der EWSA die in der Mitteilung COM(2022) 222 final und in der Empfehlung C(2022) 3219 final (8) der Kommission vorgesehenen allgemeinen Leitlinien und fordert die Mitgliedstaaten auf, schwerpunktmäßig auf die Weiterentwicklung ihrer Verfahren hinzuarbeiten.

3.15.

Branchenanalysen (9) zufolge reicht die Dauer von Genehmigungsverfahren für Fotovoltaik-Anlagen von 12 Monaten in Litauen bis hin zu 48 Monaten in Kroatien. Von den 12 Ländern, für die die entsprechenden Informationen zur Verfügung standen, wiesen nur drei eine Verfahrensdauer unterhalb der EU-Höchstdauer von 24 Monaten auf. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten deshalb auf, klar definierte und verkürzte Fristen für Verwaltungs- und Genehmigungsverfahren festzulegen und die entsprechenden Prozesse zu vereinfachen, indem sie die über zentrale Anlaufstellen abgewickelten integrierten und kombinierten Genehmigungsverfahren verbessern. Nach Auffassung des EWSA sollten die Mitgliedstaaten nicht bis zur Annahme des Vorschlags warten, sondern bereits jetzt mit der Beschleunigung der Verfahren beginnen. Darüber hinaus betont der EWSA, dass möglichst viele der in den verschiedenen Phasen des Genehmigungsverfahrens vorgesehenen Schritte digitalisiert werden müssen.

3.16.

Der EWSA unterstützt die im Abschnitt „Erleichterung der Bürger- und Gemeinschaftsbeteiligung“ der Kommissionsempfehlung (10) getroffenen Aussagen uneingeschränkt. Die Beteiligung von Bürgern und Energiegemeinschaften an Projekten im Bereich der erneuerbaren Energien ist von wesentlicher Bedeutung dafür, dass die Bürger einbezogen werden und ihren Beitrag zur Energiewende leisten können. Der EWSA betont, dass der Einsatz von Solarenergie nicht nur einigen privilegierten Verbrauchern vorbehalten bleiben darf und dass von Energiearmut betroffene und finanziell schwächere Verbraucher Zugang zu Solarenergie erhalten müssen, etwa durch auf Sozialwohnungen installierte Anlagen, Energiegemeinschaften oder die finanzielle Unterstützung einzelner Anlagen.

3.17.

Nach der Mitteilung COM(2022) 222 final sollten die Mitgliedstaaten innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten der Änderungen an der Richtlinie einen Plan oder Pläne verabschieden, mit dem/denen sie für eine oder mehrere Arten erneuerbarer Energiequellen „go-to“-Gebiete ausweisen. Der EWSA betont, dass diese Pläne dringend und so bald wie möglich vorgelegt werden müssen, wobei der gesamte Umsetzungsprozess auf höchstens zwei Jahre begrenzt werden sollte. Dächer bieten homogene Flächen, es sei denn, sie befinden sich in kulturell geschützten Gebieten. Der EWSA spricht sich für kürzere Fristen bei Anschubinitiativen aus, die auf bekannten technischen Lösungen beruhen, wie z. B. bei Fotovoltaik-Dachanlagen.

3.18.

Der EWSA weist ferner darauf hin, dass auf Seen und der Oberfläche von Wasserreservoirs schwimmende Fotovoltaik-Module den Wasserverlust durch Verdunstung verringern und gleichzeitig aufgrund der inhärenten Kühlung durch das Wasser den Wirkungsgrad der Fotovoltaik-Anlage bei der Stromumwandlung verbessern. Bei Staudämmen kann Tagstrom über schwimmende Fotovoltaik-Module bereitgestellt und Nachtstrom durch die Freisetzung von Wasser aus dem Staudamm erzeugt werden, wozu jeweils der bestehende Netzanschluss genutzt werden kann.

3.19.

Bei weniger ausgereiften technischen Lösungen, deren Auswirkungen auf den Verlust an biologischer Vielfalt noch nicht vollständig geprüft wurden, ist jedoch Umsicht geboten. Als Beispiel hierfür können schwimmende Fotovoltaik-Projekte angeführt werden, insbesondere in natürlichen Gewässern. Das Fehlen eines mehr ins Detail gehenden Ansatzes ist einer der wenigen Mängel des vorgenannten Kommissionsvorschlags.

3.20.

Der EWSA fordert, dass (etwa im Wege einer weiteren Kommissionsempfehlung) größeres Augenmerk auf die Agri-Fotovoltaik gelegt wird. Die einschlägigen Maßnahmen der Mitgliedstaaten sollten einer Nutzung landwirtschaftlicher Flächen oder der Lebensmittelerzeugung nicht im Wege stehen (daher müssen Anreize für die Erzeugung von Solarenergie auf weniger wertvollen Flächen geschaffen werden). Gleichzeitig sollten im Bereich der Agrarpolitik die damit verbundenen Chancen hervorgehoben werden, also etwa zusätzliche Einkünfte für Landwirte aus der Energieerzeugung und ein besserer Schutz von Pflanzen und Tieren (Schatten- und Kühlwirkung, Verringerung der Wärmebelastung, Schutz vor Hagel und Frost). Dieser letzte Faktor sollte auch unter dem Gesichtspunkt einer verbesserten Anpassung an den Klimawandel betrachtet werden. Die Errichtung großflächiger Solarparks sollte vor allem auf Grenzertrags- und Brachflächen gefördert werden.

3.21.

Die Förderung der Solarenergie ist ein dringendes Anliegen. Es ist deshalb unverzichtbar, dass die in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen verankerten einschlägigen Projekte vorrangig umgesetzt werden. Da die Kapazitäten für die Gewinnung grüner Energie, insbesondere von Solarenergie, von Region zu Region sehr unterschiedlich ausfallen, könnten und sollten kohäsionspolitische Maßnahmen einen entscheidenden Beitrag zur gesamten Energieversorgung der EU leisten. Auch InvestEU oder ähnliche Programme sollten diesbezüglich eine wichtige Rolle spielen. Der EWSA begrüßt, dass die Strategie schwerpunktmäßig auf die Umwidmung ehemaliger Industrie- oder Bergbauflächen ausgerichtet ist, da solche Flächen Möglichkeiten für die Einrichtung von Solarenergie-Systemen bieten. In diesem Zusammenhang spricht sich der EWSA dafür aus, den Modernisierungsfonds und den Fonds für einen gerechten Übergang für die Schaffung von „go-to“-Gebieten zu nutzen.

Stärkung der Produktions- und Installationskapazitäten

3.22.

Das derzeitige Fotovoltaik-Ziel der EU, die Kapazitäten bis 2025 auf 320 GW und bis 2030 auf 600 GW aufzustocken (allein Deutschland will 215 GW erreichen) ist zwar sehr ehrgeizig, doch ist es notwendig, um die Klimaziele der EU zu erreichen. Gemäß dem REPowerEU-Plan müssen die Kapazitäten bis 2025 jährlich um 42 GW, danach sogar um 53 GW pro Jahr aufgestockt werden. Der Ausbau der Fotovoltaik-Kapazitäten in der EU muss also künftig doppelt so schnell erfolgen wie noch im Jahr 2021. So bedarf es umgehend einer Steigerung von 21 auf 42 GW pro Jahr.

3.23.

Derzeit ist die europäische Wirtschaft aufgrund mangelnder Fertigungskapazitäten nicht in der Lage, die erforderlichen Komponenten für einen derart massiven Ausbau der Fotovoltaik bereitzustellen. Aufgrund des massiven Fachkräftemangels sowie wegen rechtlicher und sogar technischer Hindernisse stehen der Installation entsprechender Anlagen zudem wesentliche Hürden im Wege. Im Gegensatz zur EU wird China im Jahr 2022 voraussichtlich weitere 100 GW an Fotovoltaik-Kapazitäten installieren und sein Tempo beim Ausbau somit nahezu verdoppeln (11). Dieser Ausbau soll die gesamte Wertschöpfungskette seiner Fotovoltaik-Industrie abdecken.

3.24.

Der EWSA betont deshalb, dass die industrielle Basis und die Wirtschaft in Europa gestärkt, die strategische Autonomie (insbesondere bei der Energieversorgung) gewahrt und reibungslos und zuverlässig funktionierende Lieferketten sichergestellt werden müssen. Der EWSA weist darauf hin, dass die EU nur dann eine führende Rolle in der Solarindustrie einnehmen kann, wenn die Rahmenbedingungen einen wirtschaftlichen Mehrwert ermöglichen. Er betont ferner, dass mit Unterstützung der Behörden und der Sozialpartner hierbei alle betroffenen Interessenträger mobilisiert werden müssen.

3.25.

Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, im Rahmen der wichtigen Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) alle notwendigen Voraussetzungen für die Vermarktung innovativer europäischer Fotovoltaik-Lösungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette im Solarbereich zu schaffen. Ein solcher Rahmen würde langfristig nachhaltige Wettbewerbsbedingungen für die Fotovoltaik-Herstellung in Europa gewährleisten und u. a. die Führungsrolle der EU in den Bereichen Fotovoltaik-Technologien, Nachhaltigkeit, Recycling und integrierte Fotovoltaik-Lösungen sichern.

3.26.

Der EWSA hält es für unerlässlich, dass die EU öffentliche und private Investitionen verstärkt und günstige Rahmenbedingungen für den Solarenergiesektor schafft, etwa durch die Förderung von Fortbildungsmaßnahmen auf diesem Gebiet und durch die Gewährleistung eines angemessenen Zugangs zu Finanzmitteln, u. a. über die „EU-Nachhaltigkeitstaxonomie“. Vor dem Hintergrund der erwogenen Umwandlung der Europäischen Investitionsbank in eine Klimabank für Europa plädiert der EWSA dafür, die Unterstützung für die Herstellung von Fotovoltaik-Anlagen zu einem Schwerpunkt in den Finanzierungsprogrammen dieser Bank zu machen.

3.27.

Der EWSA fordert, dass Anreize für die Erforschung neuer Fotovoltaik-Technologien z. B. auf der Grundlage alternativer Materialien geschaffen werden. Um das Problem des Fachkräftemangels zu lösen, ist die Förderung der Aus- und Weiterbildung und der Kompetenzentwicklung durch die Zusammenarbeit zwischen den einschlägigen Interessenträgern von entscheidender Bedeutung. Der EWSA fordert die zuständigen Stellen deshalb auf, Wege zur Heranbildung von Arbeitskräften zu finden, die über die erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen verfügen, um alle verfügbaren Optionen im Bereich der Energieeffizienz und der Technologien für erneuerbare Energien wirksam zum Einsatz zu bringen.

4.   Besondere Bemerkungen zu Lieferketten im verarbeitenden Gewerbe

4.1.

In den vorgelagerten Fertigungssegmenten bestehen erhebliche strategische Abhängigkeiten, die den raschen Ausbau der Erzeugung von Solarenergie behindern könnten. Die größte Hürde besteht nach wie vor darin, dass die Kapazitäten für die Bereitstellung der für die ambitionierten Ziele der Strategie erforderlichen Materialien begrenzt sind. Obwohl es nach wie vor zu den führenden Akteuren in der Fotovoltaik-Forschung gehört und über wichtige Forschungseinrichtungen verfügt, spielt Europa, das in der Vergangenheit auch bei der Erzeugung von Solarenergie eine Vorreiterrolle innehatte, derzeit in nahezu keinem Segment der Fotovoltaik-Wertschöpfungskette eine sichtbare Rolle.

4.2.

Im Hinblick auf die branchenspezifische Wertschöpfungskette verfügt die EU nur über begrenzte Kapazitäten für die Beschaffung des grundlegenden Rohstoffs Polysilizium. Die Probleme bei der Beschaffung dieses Rohstoffs werden dadurch verschärft, dass die vier größten Solarsilizium-Fabriken, auf die fast die Hälfte der weltweiten Produktion entfällt, in der Region Xinjiang in China angesiedelt sind.

4.3.

Der EWSA begrüßt die Gesetzgebungsinitiative (12) der Kommission zum Verbot von in Zwangsarbeit hergestellten Produkten auf dem Binnenmarkt. Diese Maßnahme ähnelt dem in den USA verabschiedeten Uyghur Forced Labor Prevention Act, der direkte Auswirkungen auf die Vermarktung von Polysilizium hat, da der Preis dieses hauptsächlich in China hergestellten Ausgangsmaterials in der gesamten Fotovoltaik-Branche steigen dürfte. Der EWSA merkt jedoch an, dass die weltweite Umsetzung einer solchen Maßnahme zur Verwirklichung des Ziels für nachhaltige Entwicklung Nr. 8 („menschenwürdige Arbeit“) beiträgt.

4.4.

Ein möglicher, wenn auch vereinfachter Ansatz zur Bewältigung dieses Problems könnte darin bestehen, in Europa entsprechende Kapazitäten zu schaffen. Allerdings sind die derzeitigen Technologien für die Erzeugung von Roh-Polysilizium und den daraus hergestellten Ingots paradoxerweise äußerst energieintensiv. Es ist durchaus machbar und könnte überall dort erfolgen, wo eine verlässliche Versorgung mit günstiger Energie gegeben ist, u. a. aus erneuerbaren Energiequellen (z. B. über Hybrid-Stromerzeugungsanlagen, bei denen die Erzeugung von Wind- und Solarenergie mit Speicherkapazitäten kombiniert wird). Angesichts des Mangels an Rohstoffen und Komponenten und der strengen EU-Vorschriften, auch im Bereich der Energieeffizienz, ist dies für die Branche in Europa, für die der Zugang zu Finanzmitteln zudem schwierig ist, wirtschaftlich eher wenig attraktiv.

4.5.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass es bei Innovationen im Bereich der Entwicklung vollständig recycelbarer Fotovoltaik-Systeme einer europäischen Zusammenarbeit bedarf, damit eine florierende europäische Solarbranche aufgebaut werden kann. Es sollte geprüft werden, ob aussichtsreichere Rohstoffe als Silizium verwendet werden können, um etwa Solarzellen-Folien oder lichtdurchlässige Solarzellen herzustellen, die beispielsweise in energieerzeugenden Fenstern verbaut werden könnten.

4.6.

In den weiteren Stufen der Wertschöpfungskette, d. h. bei Solarwafern und -zellen, befindet sich die Europäische Union in einer noch schlechteren Position. So werden nur 1 % der Solarwafer und 0,4 % der Solarzellen in Europa hergestellt. Nach Angaben des Industrieverbands SolarPower Europe besteht in Europa ein erheblicher Mangel an Produktionskapazitäten für Ingots und Wafer.

4.7.

Nach Angaben des European Solar Manufacturing Council (ESMC) stellen 29 verschiedene Unternehmen in Europa nur 3 % der Fotovoltaik-Module her. Folglich ist nur etwa eines von 30 in Europa montierten Modulen europäischen Ursprungs. 2020 belief sich das Handelsdefizit bei Solarenergie-Produkten auf 8,7 Mrd. USD.

4.8.

Auch weitere Komponenten für Fotovoltaik-Anlagen sind knapp, doch sind die Engpässe hier weniger kritisch. Bei den Montagestrukturen handelt es sich um weniger komplexe Produkte, deren mögliche Einfuhr in geringerem Maße zu kritischen Abhängigkeiten führt oder die bei hoher Nachfrage lokal hergestellt werden können.

4.9.

Im Falle von Solarglas, einem wesentlichen Element für die lokale Herstellung von Solarpaneelen, zeigt sich die Kurzsichtigkeit der EU-Handelspolitik in aller Deutlichkeit. So wurden die europäischen Hersteller durch die Aufhebung der defensiven Handelszölle auf aus China nach Europa eingeführte Endprodukte (Solarpaneele) einem harten Wettbewerb aus Drittstaaten ausgesetzt, während ähnliche defensive Regelungen für Zwischenprodukte wie Solarglas bestehen blieben. Dies führte dazu, dass europäische Fotovoltaik-Hersteller für in Europa hergestelltes Solarglas einen unverhältnismäßig höheren Preis zahlen müssen als vergleichbare Hersteller in anderen Teilen der Welt. Dies wiederum führte auch zu einem Preisdruck bei eingeführtem Solarglas.

4.10.

Solarpaneele können einen effizienten Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten, sofern der gesamte Produktionszyklus, einschließlich Recycling und Wiederverwendung, nicht zu viel Energie beansprucht. Die Herstellung, der Transport und die Entsorgung jeglicher Technologie verursachen Emissionen. Die Art der Herstellung und des Recyclings eines Paneels gibt Aufschluss darüber, inwiefern es tatsächlich zu einer Verringerung der Gesamtemissionen beiträgt. Darüber hinaus hält es der EWSA für wichtig, dass den Zielen für nachhaltige Entwicklung entlang der gesamten Lieferkette gebührend Rechnung getragen wird.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Vorschlag der Kommission COM(2022) 221 final.

(2)  COM(2022) 230 final.

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Thema REPowerEU: gemeinsames europäisches Vorgehen für erschwinglichere, sichere und nachhaltige Energie (ABl. C 323 vom 26.8.2022, S. 123) und RePowerEU-Plan (ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 185).

(4)  COM(2022) 222 final.

(5)  Richtlinie (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (ABl. L 328 vom 21.12.2018, S. 82).

(6)  Richtlinie 2012/27/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur Energieeffizienz, zur Änderung der Richtlinien 2009/125/EG und 2010/30/EU und zur Aufhebung der Richtlinien 2004/8/EG und 2006/32/EG (ABl. L 315 vom 14.11.2012, S. 1).

(7)  Stellungnahme des EWSA zum Thema RePowerEU-Plan (ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 185).

(8)  Empfehlung der Kommission vom 18. Mai 2022 zur Beschleunigung der Genehmigungsverfahren für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien und zur Förderung von Strombezugsverträgen (C(2022) 3219 final).

(9)  https://ember-climate.org/insights/research/europes-race-for-wind-and-solar/

(10)  C(2022) 3219 final.

(11)  https://www.pv-magazine.com/2022/05/31/chinese-pv-industry-brief-chinas-nea-predicts-108-gw-of-solar-in-2022/

(12)  COM(2022) 71, COM(2022) 66 und COM(2022) 453.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/185


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Kurzfristige Energiemarktinterventionen und langfristige Verbesserungen der Strommarktgestaltung — ein Lösungsansatz“

(COM(2022) 236 final)

(2023/C 75/27)

Berichterstatterin:

Alena MASTANTUONO

Befassung

Europäische Kommission, 28.6.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

4.10.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

179/3/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.2.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist sehr besorgt über die Entwicklungen auf den Energiemärkten und begrüßt deshalb, dass die Kommission in ihrer Mitteilung kurzfristige Energiemarktinterventionen und langfristige Verbesserungen der Strommarktgestaltung erwägt. Der EWSA unterstreicht daher die Schlussfolgerung der Kommission, dass „in einigen Bereichen […] die Gestaltung des EU-Strommarktes […] angepasst werden [sollte], um der künftigen Energielandschaft und dem künftigen Energieerzeugungsmix, neu aufkommenden Technologien, geopolitischen Entwicklungen sowie den Lehren aus der aktuellen Krise Rechnung zu tragen. Diese Anpassungen sollten dazu beitragen, die Funktionsweise des Strommarktes zu optimieren und ihn besser auf eine kosteneffiziente Dekarbonisierung des Stromsektors auszurichten, bezahlbare Preise für die Verbraucher zu gewährleisten und die Widerstandsfähigkeit gegenüber volatilen Preisen zu erhöhen.“

1.1.

Da gut funktionierende Energiemärkte bei der Verfolgung aller grundlegenden Ziele eines nachhaltigen Energiesystems (Versorgungssicherheit, erschwingliche Kosten und Preise, Klimaneutralität) eine entscheidende Rolle spielen, hält der EWSA es auch für die Zukunft für wichtig, die richtigen Voraussetzungen zu fördern und aufrechtzuerhalten. Künftige Maßnahmen sollten diese Voraussetzungen nicht untergraben und mittel- bis langfristig Klimaschutzmaßnahmen ermöglichen.

1.2.

Gleichzeitig betont der EWSA jedoch auch, dass sich die derzeitige Energiepreiskrise negativ die europäischen Haushalte und Unternehmen auswirkt. Extreme Energiepreise treiben die Inflation an und tragen zu wirtschaftlicher Unsicherheit bei. Deshalb unterstützt der EWSA den Ansatz der Kommission, kurzfristige Maßnahmen zu ergreifen, um erschwingliche Preise und geringere Kosten für die europäischen Bürger und Unternehmen zu sichern, unter anderem durch direkte finanzielle Unterstützung für schutzbedürftige Verbraucher sowie für am stärksten betroffene KMU und energieintensive Wirtschaftszweige. Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass auf die vorübergehenden Interventionen eine Anpassung der Marktgestaltung in jenen Bereichen folgen sollte, in denen Anpassungen der Gestaltung des EU-Strommarkts erforderlich sind, wie die Kommission anmerkt.

Der EWSA fordert die politischen Entscheidungsträger auf, von kontinuierlichen Entlastungszahlungen abzusehen und die Menschen stattdessen mit entsprechenden Unterstützungs- und Befähigungsmaßnahmen dazu zu bewegen, Energieprosumenten zu werden und lokale Energiegemeinschaften zu schaffen, um ihre Unabhängigkeit von den Preisen des gemeinsamen Marktes zu fördern. Der EWSA ruft die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission auf, schutzbedürftigen Verbraucherinnen und Verbrauchern mit spezifischen Programmen zu helfen, Prosumenten zu werden.

1.3.

Das Hauptproblem ist nach Ansicht des EWSA der hohe Erdgaspreis. Deshalb sollten alle Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene darauf abzielen, diese Ursache für die steigenden Strompreise zu beseitigen und die Erzeugung und Nutzung nichtfossiler Energie so weit zu fördern, dass der Energiebedarf gedeckt ist. Der EWSA begrüßt deshalb die von der Europäischen Kommission am 14. September 2022 vorgeschlagenen Maßnahmen auf der Nachfrageseite und fordert gemeinsame Anstrengungen der Haushalte, des öffentlichen Sektors und der Unternehmen. Eine Reduzierung der Nachfrage ist die einfachste Möglichkeit, um die Energiekosten zu stemmen und die Emissionen zu senken. Der EWSA fordert darüber hinaus mehr Investitionen in einen schnelleren Übergang zu einem nichtfossilen und klimaneutralen Energiesystem.

1.4.

Der EWSA betont, dass jeder Folgemaßnahme eine eingehende Debatte und Folgenabschätzung vorausgehen müssen. Der EWSA möchte an dieser Debatte teilnehmen. Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten von kurzfristigen Vorschlägen absehen, die die grundlegenden Ziele eines nachhaltigen Energiesystems gefährden würden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Die Mitteilung der Kommission über kurzfristige Energiemarktinterventionen und langfristige Verbesserungen der Strommarktgestaltung baut auf mehreren neuen Dokumenten auf, in denen es um den raschen Anstieg der Energiepreise und Probleme der Energieversorgungssicherheit infolge der russischen Invasion in der Ukraine geht. Sie steht auch in engem Zusammenhang mit den Initiativen zur Energiewende hin zur Klimaneutralität. Der EWSA betont, dass die Mitteilung in diesem Gesamtkontext betrachtet werden muss, und verweist auf seine früheren Stellungnahmen zu diesem Thema (1).

2.2.

Gut funktionierende Energiemärkte spielen bei der Verfolgung aller grundlegenden Ziele eines nachhaltigen Energiesystems eine entscheidende Rolle. Dazu gehören Versorgungssicherheit, erschwingliche Kosten und Preise sowie Klimaneutralität. Da all diese Ziele derzeit auf dem Spiel stehen, sollte sich die EU auf die Maßnahmen konzentrieren, die im Hinblick auf die Ziele als Ganzes nutzbringend sind und den Bedürfnissen des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells Rechnung tragen. Der EWSA hält es daher für wichtig, zu den Grundlagen zurückzukehren und sich vorrangig auf die Schaffung effizienter Bedingungen für besser integrierte Energiemärkte zu konzentrieren.

2.3.

Durch die Sektorintegration sind die Energiemärkte immer stärker miteinander verflochten. Dies trägt zu einer kosteneffizienten Dekarbonisierung des Energiesystems und zur Bewältigung der zunehmenden Volatilität des Energiesystems bei. Die derzeitige Marktgestaltung sollte die Akteure zur Dekarbonisierung animieren, die erforderlich ist, um Europa auf den Weg zur Klimaneutralität zu bringen. Andererseits ist die derzeitige Marktgestaltung, bei der die Strompreise auf der Grundlage des Merit-Order-Prinzips festgelegt werden, sehr stark von den extrem hohen Gaspreisen betroffen.

2.4.

Der Binnenmarkt ist für einen effizienten Ressourceneinsatz in der EU von entscheidender Bedeutung. Dies gilt auch für den Energiebereich. Gleichzeitig haben auch internationale Märkte erhebliche Auswirkungen auf das Energiesystem der EU, insbesondere in Bezug auf die Brennstoffmärkte. Geopolitische Entwicklungen haben gezeigt, dass sich die EU um eine verbesserte strategische Autonomie im Energiebereich und bei energiebezogenen Rohstoffen bemühen muss. Das Ziel einer geringeren Abhängigkeit der EU von unzuverlässigen Drittländern erfordert eine engere Zusammenarbeit und verdeutlicht die gegenseitige Abhängigkeit der Mitgliedstaaten. Einerseits ist es wichtig, dass die EU ihre eigenen verfügbaren Ressourcen und Kapazitäten optimal nutzt. Andererseits ist es aber auch unrealistisch und nicht förderlich, sich von den internationalen Märkten abzuschotten. Stattdessen sollte eine wertvolle Zusammenarbeit mit zuverlässigen Partnern angestrebt werden.

2.5.

Gut funktionierende Märkte lassen sich nur mit ordnungsgemäßen Grundlagen erreichen: Der EWSA betont, dass eine angemessene Energieinfrastruktur eine notwendige Grundlage für jedes Energiesystem ist und zum Funktionieren der Energiemärkte insgesamt beiträgt, einschließlich der Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit von Energie. Die Beseitigung von Hindernissen für den Energiefluss ist daher eine Schlüsselmaßnahme für besser funktionierende Märkte. Eine weitere Voraussetzung für einen gut funktionierenden Markt ist eine angemessene Marktregelung, die u. a. Wettbewerbsregeln umfasst. Dadurch werden die Transparenz erhöht und gleiche Wettbewerbsbedingungen geschaffen und gestärkt.

2.6.

Investitionen in die Energieinfrastruktur sind für eine Entwicklung und wirksame Reaktion der Energiesysteme und des Energiemarkt auf aktuelle Trends unabdingbar. Dazu gehören Elektrifizierung, Lokalisierung, Digitalisierung und Steigerung der Erzeugung und Nutzung erneuerbarer Energien. Zur Erleichterung dieser Investitionen müssen politische Entscheidungsträger und die zuständigen Behörden die Genehmigungs- und Verwaltungsverfahren beschleunigen und gleichzeitig eine angemessene Konsultation der einschlägigen Interessenträger sicherstellen. Neben Transport- und Verteilernetzen muss eine moderne und zukunftsfähige Infrastruktur auch Stromspeicherkapazitäten und digitale Systeme umfassen, die für „intelligente“ Energiesysteme erforderlich sind. Gleichzeitig müssen Lock-ins vermieden werden, die zu verlorenen Vermögenswerten führen.

2.7.

Der EWSA hält es für sinnvoll, bei der Suche nach Lösungen und Verbesserungen der derzeitigen Situation zwischen kurz- und langfristigen Maßnahmen zu unterscheiden. Viele Maßnahmen, insbesondere größere Investitionen, dauern in ihrer Umsetzung länger. Einige Maßnahmen erfordern mehr Zeit, damit sie ordnungsgemäß geplant werden können und ihre Durchführbarkeit und Vereinbarkeit mit den grundlegenden Energiezielen sichergestellt werden kann. Dadurch lässt sich vermeiden, dass sich kurzfristige Maßnahmen möglicherweise langfristig als kontraproduktiv erweisen.

2.8.

Die Notwendigkeit einer langfristigen Planung gilt auch für die Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit und der Vorsorge für außergewöhnliche Situationen und Störungen auf den Märkten. Dies zeigt, wie wichtig vorausschauendes Handeln ist, um Risiken zu ermitteln und den Weg für eine stärkere Resilienz und für die Bewältigung der Risiken zu ebnen, auch im Rahmen von Notfallplänen.

2.9.

Darüber hinaus ist der EWSA der Auffassung, dass gewisse Kapazitätsmechanismen dazu beitragen können, die Versorgungssicherheit insbesondere in Spitzenverbrauchssituationen zu gewährleisten und gleichzeitig übermäßige Marktverzerrungen im Einklang mit den Gestaltungsgrundsätzen der Verordnung über den Elektrizitätsbinnenmarkt zu vermeiden.

2.10.

Der EWSA ruft die politischen Entscheidungsträger auf, kontinuierlich und konsequent an allen grundlegenden Zielen eines nachhaltigen Energiesystems festzuhalten. Gleichzeitig fordert er auch, verstärkt die Ursachen der Probleme anzugehen. Ohne einen solchen Ansatz besteht die große Gefahr, dass akute Symptome mit Maßnahmen angegangen werden, die entweder ineffizient sind oder im schlimmsten Fall die grundlegenden Ziele konterkarieren. In diesem Fall sollten die politischen Entscheidungsträger den Zeitrahmen für diese Art von Notfallszenario genau festlegen.

2.11.

Der EWSA betont, dass alle Maßnahmen, sei es auf Ebene der Mitgliedstaaten oder der EU, auf fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen, einer soliden Faktengrundlage und gründlichen Folgenabschätzungen beruhen sollten. In Bezug auf Strategien und Maßnahmen sollten eingehende Konsultationen der einschlägigen Interessenträger durchgeführt werden, zu denen auch die Zivilgesellschaft gehört.

2.12.

Alles in allem sollte bei der Entwicklung der Energiemärkte nach der Krise zunehmend auf Innovation und Wettbewerb gesetzt werden und nicht auf Subventionen und Handelshemmnisse. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass auf dem EU-Energiemarkt jede Intervention Auswirkungen auf den Rest des Marktes haben könnte. Deshalb müssen die Maßnahmen in den Mitgliedstaaten zielgerichtet und befristet sein und möglichst geringe verzerrende Auswirkungen auf den EU-Markt haben.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Jeder Eingriff in die Energiemärkte sollte mit Blick auf die grundlegenden Ziele bewertet werden, um zu gewährleisten, dass dadurch die Integrität des Binnenmarkts und die fairen Wettbewerbsbedingungen nicht untergraben oder Unsicherheiten verursacht werden, die das Investitionsumfeld schwächen. Darüber hinaus dürfen die Dekarbonisierungs- und Energieeffizienzbemühungen nicht beeinträchtigt werden.

3.2.

Dies ist eine hohe Anforderung, da jede Intervention auf dem Energiemarkt auch negative Folgen nach sich ziehen kann. Zumeist könnte es sich dabei um Marktverzerrungen, Haushaltskosten, Versorgungsunterbrechungen oder negative Auswirkungen auf Investitionen bzw. auf das Verbraucherverhalten handeln. Der EWSA betont deshalb, dass jeder Eingriff auf einer sorgfältigen Analyse der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Folgen beruhen muss.

3.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine direkte finanzielle Unterstützung zur Abfederung der Auswirkungen der gestiegenen Energiepreise für all jene, die Hilfe benötigen, als Notfallmaßnahme in einer Krisensituation zweifellos die realistischste Option ist. Mögliche Fördermaßnahmen zur Abfederung der Krise sollten jedoch befristet und gezielt auf die am stärksten Betroffenen ausgerichtet sein, seien es Bürger, KMU oder energieintensive Branchen.

3.4.

Der EWSA fordert die politischen Entscheidungsträger auf, von kontinuierlichen Entlastungszahlungen abzusehen und die Menschen stattdessen dazu zu bewegen, dabei zu unterstützen und dazu zu befähigen, Energieprosumenten zu werden und lokale Energiegemeinschaften zu schaffen, um ihre Unabhängigkeit von den Preisen des gemeinsamen Marktes zu fördern. Verstärkte Anstrengungen sollten auch darauf gerichtet werden, die Bürger und kleine Unternehmen bei ihren Energiespar- und Energieeffizienzmaßnahmen sowie dabei anzuleiten und zu unterstützen, auf die variable Energiegewinnung mit einer flexiblen Nachfrage zu reagieren. Aus ausführlichen Analysen des EWSA geht hervor, dass insbesondere schutzbedürftige Verbraucherinnen und Verbraucher, die am stärksten unter den hohen Energiepreisen leiden, die schlechtesten, und in vielen Fällen gar keine Chancen haben, Prosumenten zu werden. Sowohl die Europäische Kommission als auch die Mitgliedstaaten müssen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene Programme auf den Weg bringen, um diesen Verbrauchern bei der Überwindung der vielfältigen Hindernisse, mit denen sie konfrontiert sind, zu helfen (z. B. Informations- und Aktivierungskampagnen, Finanzmittel, Zugang zu Kapital, Zugang zu Boden- und Dachflächen für die Installation von Solar- und Windenergieanlagen usw.).

3.5.

Der EWSA stimmte in seiner früheren Stellungnahme (2) den Schlussfolgerungen des jüngsten Berichts der ACER (3) zu, dass sich der Strommarkt in Krisenzeiten bewährt hat, da Beschränkungen der Stromversorgung und sogar Stromausfälle in bestimmten Gebieten verhindert werden konnten. Aus der Bewertung der ACER geht ferner hervor, dass die Preisvolatilität wesentlich höher gewesen wäre, wenn ein Land isoliert gehandelt hätte. Der Ausschuss ist sich jedoch darüber im Klaren, dass die Gaspreise angesichts der aktuellen Marktgestaltung, bei der das Merit-Order-Prinzip den Preis bestimmt, die Energiepreise in die Höhe treiben. Er verweist dabei auf die gemeinsamen Werte der Union in Bezug auf Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Artikel 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), die im Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse, das dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) als Anhang beigefügt ist, niedergelegt sind (4).

3.6.

Generell muss auch anerkannt werden, dass bei der Integration der EU-Energiemärkte in den letzten Jahrzehnten sehr viel erreicht wurde. Die Integration hat bemerkenswerte Vorteile in Bezug auf die Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit von Energie gebracht, die häufig als selbstverständlich angesehen werden. Ohne die Zusammenarbeit und Integration der Märkte wären die Kosten für die Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit und für die Ökologisierung des Energiesystems viel höher.

3.7.

Die positive Entwicklung der Integration der Energiemärkte sollte fortgesetzt werden. Das Interesse und die Vorteile einer grenzüberschreitenden Vernetzung der Strommärkte rücken mit der zunehmenden Abhängigkeit von erneuerbaren Energien immer stärker in den Vordergrund. Der Ausbau der Inlands- und grenzüberschreitenden Verbindungen trägt zur Versorgungssicherheit, aber auch zum Preisausgleich bei. Kurzfristig könnte dies Nachteile für jene bringen, die im Rahmen der Bandbreite unterschiedlicher Preise in den Genuss der niedrigeren Preisen kommen, langfristig wird es jedoch zur Senkung und Stabilisierung der Preise beitragen.

3.8.

Die ACER kommt zu dem Schluss, dass die derzeitige Marktgestaltung beibehalten werden sollte. Der EWSA teilt jedoch die Auffassung der Kommission, dass es einige Bereiche gibt, in denen die Gestaltung des EU-Strommarkts angepasst werden muss, damit die Dekarbonisierungsziele der EU zu geringeren Kosten bei gleichzeitiger Gewährleistung der Versorgungssicherheit erreicht werden können, insbesondere aufgrund der zunehmenden Erzeugung und Nutzung erneuerbarer Energien und der Gewährleistung von Stabilität und Erschwinglichkeit der Preise.

3.9.

Der EWSA schlägt vor, u. a. zu prüfen, ob die jetzige Marktgestaltung einschließlich ihres Rechtsrahmens ausreichend Anreize für Investitionen in Flexibilitätsoptionen bietet (wie Speicherung, Lastverschiebung und grüner Wasserstoff). Auch ohne eine Änderung des Ausschreibungsverfahrens, die mit erheblichen Risiken verbunden wäre, gibt es viele Möglichkeiten, die Anreize für systemfreundliche Technologien bieten könnten, u. a. das Netznutzungsentgelt, das eine genau an den Bedarf angepasste Stromerzeugung und einen entsprechenden Stromverbrauch honoriert.

3.10.

Darüber hinaus hält es der EWSA für erforderlich, unverzüglich die politische Debatte darüber aufzunehmen, wie sich im Rahmen einer künftigen Marktgestaltung Investitionen in und die Refinanzierung von Kapazitäten für erneuerbare Energien in der fernen Zukunft gewährleisten lassen, wenn der gesamte Strombedarf durch erneuerbare Energien gedeckt wird und der Marktpreis regelmäßig gleich null oder sogar negativ sein könnte.

3.11.

Im Rahmen der Debatte über die hohen Strompreise ist sehr deutlich zum Ausdruck gebracht worden, dass es notwendig ist, das derzeitige Grenzkostenprinzip durch eine andere Art von System zu ersetzen, da Gas oftmals ein Grenzprodukt ist und somit den Strompreis insgesamt bestimmt. In diesem Zusammenhang verweist der Ausschuss auf die Erklärung der EWSA-Präsidentin und der Vorsitzenden der Fachgruppe TEN im EWSA vom 8. September 2022, in der es heißt, dass der EWSA gemeinsame Maßnahmen der EU zur Sicherstellung stabiler Strompreise, eine unverzügliche Reform des Energiemarktes, eine schnellere Vollendung des Binnenmarktes und eine Verbesserung der Infrastruktur fordert.

3.12.

Die Preiserhöhungen sind im Wesentlichen auf unerwartete externe Faktoren wie den Krieg zurückzuführen, die die Marktstrompreise zusammen mit dem Merit-Order-Prinzip auf ein Rekordniveau getrieben haben. Da Gas die Hauptursache für die derzeitigen hohen Energiepreise ist, bestünde die Ideallösung für das Problem darin, die Nutzung von Gas zu minimieren und die Erzeugung und Nutzung nichtfossiler Energie so weit zu steigern, dass der Energiebedarf gedeckt ist.

3.13.

Fossile Energie wirkt sich auf die Strompreise auch über die Emissionszertifikate aus, deren Preis erheblich gestiegen ist. Im Vergleich zu den Gaspreisen sind deren Auswirkungen allerdings nach wie vor begrenzt. Darüber hinaus machen unterschiedliche Steuern einen hohen Anteil des Strompreises für die Verbraucher aus.

3.14.

Es sollte zwischen Preisschocks, die durch außergewöhnliche Situationen wie den Krieg verursacht werden, und regelmäßigeren Preisschwankungen unterschieden werden. Schwankungen hängen von vielen Faktoren im Zusammenhang mit Energieangebot und -nachfrage ab. Angesichts des massiven Anstiegs der Erzeugung von Strom aus fluktuierenden erneuerbaren Energiequellen dürfte die Preisvolatilität bei Strom noch zunehmen. Der Markt muss daher angemessene Preissignale aussenden, um dem Flexibilitätsbedarf gerecht zu werden.

3.15.

Der EWSA betont, dass Preisobergrenzen oder andere Eingriffe in die Energiegroßhandelsmärkte auf dem derzeit überlasteten Energiemarkt oftmals notwendig sind, aber die Versorgungssicherheit, das Investitionsumfeld und Energieeinsparungen beeinträchtigen können. Der EWSA ist sich dabei bewusst, dass marktgestützte Preissignale zwar erforderlich sind, um Investitionen in die Energieerzeugung zu fördern, der Preis jedoch auch ein Anreiz für Energieeinsparungen und Energieeffizienz ist. Befristete zielgerichtete Entlastungszahlungen für jene, die unter den Energiepreisen am stärksten leiden (sei es Haushalte oder Unternehmen) ist jedoch erforderlich, um die Auswirkungen des drastischen Anstiegs der Energiepreise abzufedern.

3.16.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, die Überprüfung des REMIT-Rahmens zu erwägen, um durch verbesserte Markttransparenz und bessere Qualität der Marktdaten die Risiken von Marktmissbrauch zu mindern. Darüber hinaus spricht sich der EWSA dafür aus, Maßnahmen zur Eindämmung der wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen von möglichem Marktmissbrauch und Spekulationen auf die Festsetzung der Gaspreise zu prüfen, um negative Folgen für Unternehmen, Haushalte und Gesellschaft zu vermeiden.

3.17.

Der EWSA weist darauf hin, dass die nationalen Klima- und Energiepläne unter den sich ändernden Umständen überarbeitet werden müssen, um eine koordinierte Reaktion zur Deckung des langfristigen Strombedarfs zu ermöglichen.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 275,vom 18.7.2022, S. 80, ABl. C 323, vom 26.8.2022, S. 123, ABl. C 443, vom 22.11.2022, S. 140.

(2)  ABl. C 443, vom 22.11.2022, S. 140.

(3)  ACER’s Final Assessment of the EU Wholesale Electricity Market Design (Abschließende Bewertung der Gestaltung des EU-Großhandelsmarkt für Strom durch die ACER).

(4)  ABl. C 275, vom 18.7.2022, S. 80.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/190


Stellungnahme des Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Geänderten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Leitlinien der Union für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes, zur Änderung der Verordnung (EU) 2021/1153 und der Verordnung (EU) Nr. 913/2010 sowie zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1315/2013“

(COM(2022) 384 final/2 — 2021/0420 (COD))

(2023/C 75/28)

Hauptberichterstatter:

Stefan BACK

Befassung

Europäisches Parlament, 3.10.2022

Rat der Europäischen Union, 6.10.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 172 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Verabschiedung im Plenum

27.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

155/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) weist darauf hin, dass er in seiner Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine Überarbeitung der TEN-V-Verordnung und der Verordnung über Schienengüterverkehrskorridore (1) (nachstehend „TEN-V-Vorschlag“ (2)) die stärkere Fokussierung auf Verbindungen zu Nachbarländern einschließlich Partner- und Beitrittsländern begrüßt hat.

1.2.

Der TEN-V-Vorschlag wurde im Dezember 2021 veröffentlicht; kurz danach, im Februar 2022, begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der EWSA stimmt der in dem geänderten Vorschlag enthaltenen Einschätzung zu, dass dadurch die geopolitische Landschaft neu definiert und deutlich gemacht wurde, wie anfällig die EU für unvorhergesehene Störungen jenseits ihrer Grenzen ist, und dass der Binnenmarkt der EU und ihr Verkehrsnetz bei der Gestaltung der Unionspolitik nicht isoliert betrachtet werden können.

1.3.

Diese Situation hat natürlich die Dringlichkeit einer Unterstützung der Ukraine vor Augen geführt, unter anderem durch die Verbesserung der Verkehrsverbindungen mit der EU, um die Mobilität und den Güterverkehr zwischen der Ukraine und der EU aufrechtzuerhalten und zu verbessern. Insbesondere ist es dringend notwendig, den Transport von Getreide aus der Ukraine zu erleichtern, da die von Russland blockierten Schwarzmeerhäfen nicht zur Verfügung stehen.

1.4.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die rasche Einrichtung alternativer Logistikrouten unter Nutzung aller Verkehrsträger, die die EU mit der Ukraine verbinden, für die ukrainische Wirtschaft und ihre wirtschaftliche Erholung sowie für die Stabilisierung der Welternährungsmärkte und die Ernährungssicherheit von größter Wichtigkeit ist.

1.5.

Der EWSA befürwortet auch den in der Mitteilung über Solidaritätskorridore dargelegten Aktionsplan für den Ausbau grenzüberschreitender Verbindungen (Straße-Straße, Schiene-Straße und Schiene-Schiene) zwischen der EU und der Ukraine, einschließlich zusätzlicher Grenzübergangsstellen, und zur Bewertung der Ausweitung der TEN-V-Kernnetzkorridore in die Ukraine.

1.6.

Der EWSA begrüßt ferner, dass der Aktionsplan auch Aufforderungen zur Einreichung von Vorschlägen im Rahmen der Fazilität „Connecting Europe“ vorsieht, die es möglich machen werden, die Unterstützung insbesondere auf Projekte zur Verbesserung der Interoperabilität und Anbindung des EU-Verkehrsnetzes mit der Ukraine zu lenken.

1.7.

Der EWSA unterstützt deshalb uneingeschränkt die Ausweitung der TEN-V auf die Ukraine und die Republik Moldau gemäß den indikativen Karten in Anhang IV des geänderten Vorschlags. Dieser Vorschlag kommt im richtigen Moment und könnte sich im Laufe der Zeit als sinnvoll erweisen, insbesondere durch die Verbesserung der Möglichkeiten für die Schaffung reibungs- und nahtloser Verkehrsströme zwischen der Ukraine und der EU.

1.8.

Der EWSA steht ohne Abstriche hinter der klaren politischen Botschaft, die durch die Einordnung der Verkehrsverbindungen mit der Ukraine in die oberste TEN-V-Priorität, d. h. die europäischen Verkehrskorridore, ausgesandt wird. Hinzu kommt ein starkes Umsetzungssystem in Form von Koordinatoren, Arbeitsplänen, verschiedenen Arbeitsgruppen und die Verpflichtung im Rahmen des TEN-V-Vorschlags, den Arbeitsplänen durch einen Durchführungsrechtsakt Rechtskraft zu verleihen.

1.9.

Leider scheinen jedoch weder die allgemeinen Bestimmungen über die Zusammenarbeit mit Drittländern noch die Bestimmungen über die Umsetzung des Instruments der europäischen Verkehrskorridore und der horizontalen Prioritäten eine Rechtsgrundlage für die Ausweitung der Anwendung der Korridorprioritäten oder ihres Umsetzungssystems, einschließlich der Koordinatoren, der Leitungsstrukturen, des Arbeitsplans des Europäischen Koordinators oder des Durchführungsrechtsakts, auf Drittländer zu bieten.

1.10.

Der EWSA fordert deshalb ein robustes und glaubwürdiges Umsetzungssystem für diejenigen Verbindungen, die als Teil der europäischen Verkehrskorridore zu betrachten sind, möglicherweise durch die Stärkung der Arbeitsgruppen für die Zusammenarbeit mit Drittländern und die Schaffung neuer Arbeitsgruppen.

1.11.

Im derzeitigen politischen Kontext erscheint es auch angemessen und steht im Einklang mit den verhängten Sanktionen, indikative TEN-V-Verbindungen mit Russland und Belarus zu streichen.

1.12.

Es verwundert den EWSA, dass der geänderte Vorschlag eine ausdrückliche Zusage enthält, Verbindungen in Belarus sowie Verbindungen zwischen Belarus und EU-Mitgliedstaaten wiederherzustellen, falls es in dem Land zu einer Demokratisierung kommt, während eine ähnliche Aussage in Bezug auf Russland unterbleibt. Der EWSA meint, dass derartige Zusagen für die Zukunft vermieden werden sollten.

1.13.

Der EWSA stellt fest, dass die Streichung der Verbindungen von Mitgliedstaaten zu Russland offenbar einige Mitgliedstaaten vor Probleme stellt, da einige dieser Anschlüsse für die Verkehrsverbindungen in dem betreffenden Mitgliedstaat selbst nach wie vor wichtig sind. Der EWSA empfiehlt, der möglichen innereuropäischen Bedeutung solcher Verbindungen gebührend Rechnung zu tragen.

1.14.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass natürlich auch die Frage der unterschiedlichen Spurweiten in der EU und der Ukraine angegangen werden muss, auch wenn Änderungen dieser Art einige Zeit in Anspruch nehmen dürften und daher kaum eine Lösung für unmittelbare und dringende Effizienzprobleme sind.

1.15.

Der EWSA schlägt vor, die geforderte Umstellung auf die EU-Regelspurweite von 1 435 mm auf die europäischen Verkehrskorridore zu beschränken, damit die Umstellung kohärent und gut koordiniert vonstattengehen kann, da sich die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Erstellung eines Umstellungsplans auf diese Korridore beschränkt.

1.16.

Der EWSA warnt, dass der Vorschlag, jede neue Eisenbahninfrastruktur im TEN-V-Kernnetz oder im Gesamtnetz mit der EU-Regelspurweite von 1 435 mm zu bauen, Mitgliedstaaten mit anderer Spurweite vor sehr komplexe interne Probleme in Bezug auf die Kompatibilität stellen könnte.

2.   Allgemeine Bemerkungen — Hintergrund

2.1.   Verbindungen zur Ukraine und nach Moldau sowie Streichung bzw. Herabstufung der Verbindungen in und nach Russland und Belarus

2.1.1.

Anlass für den am 27. Juli 2022 vorgelegten Vorschlag zur Änderung des TEN-V-Vorschlags, den die Kommission im Dezember 2021 unterbreitet hatte (3) (nachstehend „geänderter Vorschlag“), war der russische Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Lieferketten, was die Bedeutung der TEN-V-Verbindungen zu benachbarten Partnerländern aufgezeigt hat.

2.1.2.

Artikel 9 des Vorschlags der Kommission vom Dezember (TEN-V-Vorschlag) sieht eine Zusammenarbeit mit Drittländern vor, um das transeuropäische Verkehrsnetz mit deren Infrastrukturnetzen zu verbinden und so das nachhaltige Wirtschaftswachstum und die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Zu den hervorgehobenen Punkten gehören die Ausdehnung des TEN-V auf Drittländer, Grenzkontrollverfahren und Überwachung zur Ermöglichung einer nahtlosen Abwicklung der Verkehrsflüsse, die Fertigstellung einschlägiger Infrastrukturverbindungen, die Interoperabilität, die Erleichterung des Schiffsverkehrs und die Entwicklung von IKT-Systemen. Auf den entsprechenden Karten wird der Status mit Blick auf das Kern- bzw. Gesamtnetz gemäß den Kriterien der TEN-V-Verordnung (4) dargelegt.

2.1.3.

Für die europäischen Verkehrskorridore werden spezielle Kriterien aufgestellt, die sich von denen für das Kern- und Gesamtnetz unterscheiden. Korridore sind die strategisch wichtigsten Teile des TEN-V (Artikel 7 des TEN-V-Vorschlags), für die andere allgemeine Prioritäten als für das Kern- und Gesamtnetz (Artikel 12 und 13) und spezifische Durchführungsvorschriften (Kapitel V, Artikel 50 bis 54) gelten.

2.1.4.

In der Mitteilung der Kommission über Solidaritätskorridore zwischen der EU und der Ukraine (5) wird eine Reihe von Herausforderungen im Bereich der Infrastruktur genannt, die die EU und ihre Nachbarländer bewältigen müssen, um die Wirtschaft und den Wiederaufbau der Ukraine zu unterstützen und Fragen der Versorgung und Verkehrsanbindung zwischen der EU, der Ukraine und den Weltmärkten anzugehen. Die Kommission schlägt vor, die Ausdehnung der europäischen Verkehrskorridore auf die Ukraine und auf Moldau zu prüfen, um Ein- und Ausfuhren, einschließlich der Ausfuhr pflanzlicher Erzeugnisse aus der Ukraine, zu sichern. Im Mai 2022 wurde eine Vereinbarung auf hoher Ebene über indikative Karten des TEN-V-Netzes in der Ukraine unterzeichnet.

2.1.5.

Am 14. Juli 2022 erließ die Kommission eine delegierte Verordnung mit indikativen Karten für das TEN-V-Netz in der Ukraine und in Moldau, mit der die TEN-V-Standards auf Nachbarländer ausgeweitet wurden, um nahtlose Verbindungen zu ermöglichen. Diese Karten sind nun Teil des geänderten Vorschlags, der auch Karten enthält, auf denen mehrere TEN-V-Korridore in die Ukraine und nach Moldau ausgedehnt werden.

2.1.6.

In dem geänderten Vorschlag werden auch die indikativen TEN-V-Verbindungen in Russland und Belarus herausgenommen.

2.1.7.

Darüber hinaus wurden die Verbindungen zwischen dem Netz der Mitgliedstaaten und den indikativen TEN-V-Verbindungen in Russland und Belarus herabgestuft, sodass sie nun Teil des Gesamtnetzes sind.

2.2.   Die Spurweite

2.2.1.

In der Mitteilung über Solidaritätskorridore zwischen der EU und der Ukraine werden auch Engpässe aufgrund der Divergenz zwischen der ukrainischen Spurweite von 1 520 mm und der EU-Spurweite von 1 435 mm festgestellt. Dies verursacht Probleme, weil die Umladekapazitäten zurzeit noch unzureichend sind.

2.2.2.

Mit dem geänderten Vorschlag soll die Spurweite im Kern- und im Gesamtnetz in der EU angeglichen werden, um schließlich auf eine gemeinsame Spurweite von 1 435 mm zu kommen. Neue Eisenbahninfrastrukturen müssen mit dieser Spurweite gebaut werden, und Mitgliedstaaten mit einer anderen Spurweite in ihrem Schienennetz oder in Teilen davon haben binnen zwei Jahren nach Inkrafttreten der Verordnung einen Plan für die Umstellung bestehender Bahnstrecken in den europäischen Verkehrskorridoren auf 1 435 mm Spurweite zu erstellen. Die Pläne werden mit den betroffenen Nachbarmitgliedstaaten abgestimmt.

2.2.3.

In den Umstellungsplänen sind diejenigen Eisenbahnstrecken anzugeben, die nicht umgestellt werden, und sie müssen eine Kosten-Nutzen-Analyse, einschließlich der Auswirkungen auf die Interoperabilität, zur Begründung dieser Entscheidung enthalten.

2.2.4.

Die Prioritäten für die Infrastruktur- und Investitionsplanung für Umstellungspläne sollen Teil des ersten Arbeitsplans der Europäischen Koordinatoren für diejenigen europäischen Verkehrskorridore sein, die Güterverkehrsstrecken mit einer anderen als der europäischen Regelspurweite umfassen.

2.2.5.

Irland ist von der Verpflichtung zur Angleichung der Spurweite ausgenommen (Artikel 15 und 16 des TEN-V-Vorschlags).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA weist darauf hin, dass er in seiner Stellungnahme zum TEN-V-Vorschlag die stärkere Fokussierung auf Verbindungen zu Nachbarländern einschließlich der Partner- und Beitrittsländer begrüßt hat.

3.2.

Der TEN-V-Vorschlag wurde im Dezember 2021 veröffentlicht; kurz danach, im Februar 2022, begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der EWSA stimmt der in dem geänderten Vorschlag enthaltenen Einschätzung zu, dass dadurch die geopolitische Landschaft neu definiert und deutlich gemacht wurde, wie anfällig die EU für unvorhergesehene Störungen jenseits ihrer Grenzen ist, und dass der Binnenmarkt der EU und ihr Verkehrsnetz bei der Gestaltung der Unionspolitik nicht isoliert betrachtet werden können.

3.3.

Diese Situation hat natürlich die Dringlichkeit einer Unterstützung der Ukraine vor Augen geführt, unter anderem durch die Verbesserung der Verkehrsverbindungen mit der EU, um die Mobilität und den Güterverkehr zwischen der Ukraine und der EU aufrechtzuerhalten und zu verbessern. Insbesondere ist es dringend notwendig, den Transport von Getreide aus der Ukraine zu erleichtern, da die von Russland blockierten Schwarzmeerhäfen nicht zur Verfügung stehen.

3.4.

Der Handlungsbedarf zur Gewährleistung angemessener Mobilitäts- und Verkehrsströme zwischen der EU und der Ukraine wurde erstmals in der genannten Mitteilung über Solidaritätskorridore zwischen der EU und der Ukraine angesprochen. Seitdem wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen, unter anderem zur Förderung einer angemessenen Infrastrukturentwicklung durch die Ukraine und eine indikative Ausdehnung der TEN-V-Verbindungen in die Ukraine im Einklang mit den Bestimmungen des TEN-V-Vorschlags über die Zusammenarbeit mit Drittländern.

3.5.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die rasche Einrichtung alternativer Logistikrouten unter Nutzung aller Verkehrsträger, die die EU mit der Ukraine verbinden, für die ukrainische Wirtschaft und ihre wirtschaftliche Erholung sowie für die Stabilisierung der Welternährungsmärkte und die Ernährungssicherheit von größter Wichtigkeit ist.

3.6.

Der EWSA stellt ferner fest, dass die Kapazität der entsprechenden Terminals und Grenzübergänge, z. B. an Stellen mit Doppelspur, dringend verbessert werden muss, wie in der Mitteilung über Solidaritätskorridore dargelegt wird.

3.7.

Der EWSA befürwortet auch den in der Mitteilung über Solidaritätskorridore dargelegten Aktionsplan für den Ausbau grenzüberschreitender Verbindungen (Straße-Straße, Schiene-Straße und Schiene-Schiene) zwischen der EU und der Ukraine, einschließlich zusätzlicher Grenzübergangsstellen, und zur Bewertung der Ausweitung der TEN-V-Kernnetzkorridore in die Ukraine, um durch den Ausbau von EU-Normalspurstrecken in die Ukraine und nach Moldau eine bessere Anbindung zu bieten, und zur Verbesserung der Konnektivität und der Schiffbarkeit im Rhein-Donau-Korridor zur Gewährleistung eines effizienteren Verkehrs.

3.8.

Der EWSA begrüßt ferner, dass der Aktionsplan auch Aufforderungen zur Einreichung von Vorschlägen im Rahmen der Fazilität „Connecting Europe“ vorsieht, die es möglich machen werden, die Unterstützung insbesondere auf Projekte zur Verbesserung der Interoperabilität und Anbindung des EU-Verkehrsnetzes mit der Ukraine zu lenken.

3.9.

Der EWSA unterstützt deshalb uneingeschränkt die Ausweitung der TEN-V auf die Ukraine und die Republik Moldau gemäß den indikativen Karten in Anhang IV des geänderten Vorschlags. Dieser Vorschlag kommt im richtigen Moment und könnte sich im Laufe der Zeit als sinnvoll erweisen, insbesondere durch die Verbesserung der Möglichkeiten für die Schaffung reibungs- und nahtloser Verkehrsströme zwischen der Ukraine und der EU.

3.10.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass in den indikativen Karten der ukrainischen TEN-V-Infrastruktur in Anhang IV des geänderten Vorschlags Verbindungen, Terminals, Häfen und Flughäfen gemäß Artikel 9 Absatz 2 des TEN-V-Vorschlags als Teil des Kern- oder Gesamtnetzes eingestuft werden.

3.11.

Die indikativen Verbindungen innerhalb der Ukraine sind auch als Teil der europäischen Verkehrskorridore eingestuft worden, wodurch der Nordsee-Ostsee-Korridor, der Skandinavien-Mittelmeer-Korridor, der Ostsee-Adria-Korridor, der Rhein-Donau-Korridor und der Ostsee-Schwarzmeer-Korridor in die Ukraine durch Karten erweitert werden, die in Anhang III des geänderten Vorschlags enthalten sind.

3.12.

Der EWSA steht ohne Abstriche hinter der klaren politischen Botschaft, die durch die Einordnung der Verkehrsverbindungen in der Ukraine in die oberste TEN-V-Priorität, d. h. die europäischen Verkehrskorridore, ausgesandt wird. Hinzu kommt ein starkes Umsetzungssystem in Form von Koordinatoren, Arbeitsplänen, verschiedenen Arbeitsgruppen und die Verpflichtung im Rahmen des TEN-V-Vorschlags, den Arbeitsplänen durch einen Durchführungsrechtsakt Rechtskraft zu verleihen.

3.13.

Leider scheinen jedoch weder die allgemeinen Bestimmungen über die Zusammenarbeit mit Drittländern noch die Bestimmungen über die Umsetzung des Instruments der europäischen Verkehrskorridore und der horizontalen Prioritäten eine Rechtsgrundlage für die Ausweitung der Anwendung der Korridorprioritäten oder ihres Umsetzungssystems, einschließlich der Koordinatoren, der Leitungsstrukturen, des Arbeitsplans des Europäischen Koordinators oder des Durchführungsrechtsakts, auf Drittländer zu bieten. Nur Artikel 52 Absatz 3 Buchstabe f über die Leitung der Korridore sieht die Einsetzung von Arbeitsgruppen für die Zusammenarbeit mit Drittländern vor. Am Anwendungsbereich der Bestimmungen über transeuropäische Korridore ändert dies aber offenbar nichts.

3.14.

Der EWSA fordert deshalb ein robustes und glaubwürdiges Umsetzungssystem für diejenigen Verbindungen, die als Ausdehnung der europäischen Verkehrskorridore zu betrachten sind, möglicherweise durch die Stärkung der Arbeitsgruppen für die Zusammenarbeit mit Drittländern und die Schaffung neuer Arbeitsgruppen.

3.15.

Im derzeitigen politischen Kontext erscheint es auch angemessen und steht im Einklang mit den verhängten Sanktionen, indikative TEN-V-Verbindungen mit Russland und Belarus zu streichen.

3.16.

Es verwundert den EWSA, dass der geänderte Vorschlag eine ausdrückliche Zusage enthält, Verbindungen in Belarus sowie Verbindungen zwischen Belarus und EU-Mitgliedstaaten wiederherzustellen, falls es in dem Land im Einklang mit einem diesbezüglichen EU-Plan zu einer Demokratisierung kommt, während eine ähnliche Aussage in Bezug auf Russland unterbleibt. Auch wenn es wohl keinen speziellen EU-Plan für ein demokratisches Russland gibt, ist die Unterschiedlichkeit der Ansätze kaum nachvollziehbar. Der EWSA empfiehlt daher, derartige Zusagen für die Zukunft zu vermeiden.

3.17.

Der EWSA stellt fest, dass die Streichung der Verbindungen von Mitgliedstaaten zu Russland offenbar einige Mitgliedstaaten vor Probleme stellt. So kritisierte der finnische Verkehrsminister den allgemeinen Charakter dieser Maßnahmen, da einige dieser Anschlüsse für die Verkehrsverbindungen in dem betreffenden Mitgliedstaat selbst nach wie vor wichtig sind. Der EWSA empfiehlt, der möglichen innereuropäischen Bedeutung solcher Verbindungen gebührend Rechnung zu tragen.

3.18.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass natürlich auch die Frage der unterschiedlichen Spurweiten in der EU und der Ukraine angegangen werden muss, auch wenn Änderungen dieser Art einige Zeit in Anspruch nehmen dürften und daher kaum eine Lösung für unmittelbare und dringende Effizienzprobleme sind.

3.19.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Pflicht zur Umstellung auf eine Spurweite von 1 435 mm durch die vorgeschlagenen Änderungen der Artikel 15 und 16 und den neuen Artikel 16a ausgeweitet und die Möglichkeit der Beibehaltung anderer Spurweiten eingeschränkt wurde. Da die Umstellung auf 1 435 mm Spurweite schwerpunktmäßig die europäischen Verkehrskorridore betrifft (denn die von allen Mitgliedstaaten zu erstellenden Umstellungspläne sind auf diese Korridore beschränkt), stimmt die allgemeine Verpflichtung, alle neuen Strecken mit einer Spurweite von 1 435 mm zu bauen, offensichtlich nicht mit dem Hauptanliegen von Artikel 16a überein, nämlich Kohärenz sicherzustellen und einen nahtlosen Schienenverkehr in den transeuropäischen Korridoren zu gewährleisten.

3.20.

Der EWSA schlägt daher vor, die geforderte Umstellung auf die europäischen Verkehrskorridore zu beschränken, damit die Umstellung kohärent und gut koordiniert vonstattengehen kann.

3.21.

Der EWSA ist verwundert über die in dem vorgeschlagenen Artikel 16a Absatz 1 enthaltene allgemeine Verpflichtung, dass jede neue Eisenbahninfrastruktur die europäische Regelspurweite von 1 435 mm aufweisen muss, offenbar unabhängig von der Gestalt des übrigen Schienennetzes, denn diese Verpflichtung könnte in Mitgliedstaaten mit anderer Spurweite sehr komplexe interne Probleme in Bezug auf die Kompatibilität und Engpässe verursachen.

3.22.

Es ist anzumerken, dass die Verringerung der Ausnahmen für andere Spurweiten auf Bedenken stößt, beispielsweise in Finnland, wo die Verhältnismäßigkeit des Vorschlags in dieser Hinsicht infrage gestellt wurde.

Brüssel, den 27. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 290 vom 29.7.2022, S. 120.

(2)  COM(2021) 812 final.

(3)  COM(2022) 384 final.

(4)  Verordnung (EU) Nr. 1315/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2013 über Leitlinien der Union für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes und zur Aufhebung des Beschlusses Nr. 661/2010/EU (ABl. L 348 vom 20.12.2013, S. 1).

(5)  COM(2022) 217 final.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/195


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Spezifische Bestimmungen zum Umgang mit Beeinträchtigungen der Programmdurchführung bei aus dem Europäischen Nachbarschaftsinstrument und im Rahmen des Ziels ‚Europäische territoriale Zusammenarbeit‘ unterstützten Kooperationsprogrammen des Zeitraums 2014-2020“

(COM(2022) 362 final — 2022/0227(COD))

(2023/C 75/29)

Hauptberichterstatter:

Andris GOBIŅŠ

Befassung

Europäisches Parlament, 27.9.2022

Rat der Europäischen Union, 17.8.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Außenbeziehungen

Verabschiedung im Plenum

27.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

117/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt den Ansatz der Europäischen Kommission, des Parlaments und des Rates, alles Erforderliche zu unternehmen, um die vorgesehene Verordnung möglichst bald anzunehmen, und fordert nachdrücklich, dass sie spätestens Anfang November 2022 in Kraft tritt.

1.2.

Da eine rasche Annahme der Verordnung geboten ist, wird sie in einem ersten Schritt wahrscheinlich ohne Änderungen angenommen. Deshalb schlägt der EWSA vor, in einem zweiten Schritt eine Überarbeitung unter Berücksichtigung der nachstehenden Verbesserungsvorschläge in Erwägung zu ziehen. Die vorgeschlagenen Änderungen sollten auch die Erörterung und die Ausarbeitung von Änderungen in den einschlägigen künftigen Verordnungen und Programmen bereichern.

1.3.

Der EWSA begrüßt das rasche Handeln der EU-Organe und die erforderliche Flexibilität in Bezug auf die Durchführung von Projekten unmittelbar nach dem grundlosen und ungerechtfertigten Krieg Russlands gegen die Ukraine. Rasches Handeln war vor dem Hintergrund der Werte und Grundsätze der EU das einzig Richtige.

1.4.

Der EWSA unterstützt das Ziel, Flexibilität in Bezug auf die Änderung des Zwecks laufender Projekte zuzulassen, um neuen Erfordernissen Rechnung zu tragen. Den Verwaltungsbehörden wird dabei die nötige Flexibilität eingeräumt und die Rechtssicherheit gegeben, dass die Projekte regelkonform verwaltet und durchgeführt werden und dass es bei der Prüfung keine großen Einschränkungen gibt. Dies ist von besonderer Bedeutung, da die Verordnung rückwirkend ab Kriegsbeginn gelten soll.

1.5.

Der EWSA weist auf die in den letzten Monaten des Krieges gegen die Ukraine eingetretenen neuen Gegebenheiten hin. Angesichts des Status der Ukraine als EU-Beitrittskandidat und des wachsenden Bedarfs an Wiederaufbau und Vorbereitung auf den Winter in der Ukraine sollte, wie in den vorgeschlagenen Änderungen der Verordnung vorgesehen, eine noch größere Flexibilität bei den förderfähigen Tätigkeiten und eine umfassendere Definition grenzüberschreitender/regionaler Kooperationsmaßnahmen für laufende und geplante Projekte vorgesehen werden (siehe Vorschläge unten).

1.6.

In Anbetracht der Aussetzung von Finanzmitteln für die Russische Föderation und für Belarus sowie der damit verbundenen Aussetzung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation und Belarus schlägt der EWSA vor, alle möglichen Schritte zu unternehmen, um die ursprünglich für diese Kooperationsprogramme vorgesehenen Mittel in die Zusammenarbeit mit der Ukraine zu lenken.

1.7.

Da der Zivilgesellschaft beim Wiederaufbau der Ukraine und bei der Vorbereitung des Landes auf den EU-Beitritt eine zentrale Rolle zukommt, sollte der Zuweisung von Mitteln für die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen (einschließlich der Weitervergabe von Mitteln) besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der EWSA unterstützt die Ziele des Vorschlags und begrüßt die Absicht, einen flexiblen Ansatz für Kooperationsprogramme im Rahmen des Europäischen Nachbarschaftsinstruments (ENI) vorzusehen, um den infolge des grundlosen und ungerechtfertigten militärischen Angriffs Russlands auf die Ukraine entstandenen Bedürfnissen, den Auswirkungen dieses Krieges auf die Europäische Union (EU) und insbesondere auf mehrere ihrer östlichen Regionen sowie den weitreichenden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die EU insgesamt Rechnung zu tragen.

2.2.

Der EWSA würdigt die enormen Anstrengungen, die die nationalen Regierungen, die lokalen Gebietskörperschaften und die Zivilgesellschaft in den angrenzenden EU-Mitgliedstaaten, der Republik Moldau und der Ukraine unternommen haben, um den Massenstrom der vor der russischen Invasion flüchtenden Menschen aus der Ukraine zu bewältigen, und begrüßt die Unterstützung durch maßgeschneiderte Nutzung von Programmen der grenzübergreifenden Zusammenarbeit zur Deckung des jeweiligen Bedarfs an humanitärer Hilfe.

2.3.

Der EWSA weiß um die besonderen Herausforderungen, mit denen die ukrainischen Behörden auf allen Ebenen konfrontiert sind: sie müssen sowohl die militärische Verteidigung ihres Landes als auch die Aufrechterhaltung der Wirtschaftstätigkeit sicherstellen, es gibt eine große Zahl von Opfern, Zerstörung von Häusern und Infrastrukturen, Flucht eines erheblichen Teils der Bevölkerung, unterbrochene Produktions- und Verkehrssysteme, einen beispiellosen Druck auf den Haushalt und viele andere durch die russische Aggression verursachte Probleme. Die Programme der grenzübergreifenden Zusammenarbeit mit der Ukraine sollten das Land entlasten und den Begünstigten die Möglichkeit bieten, auf die Bedürfnisse in Kriegszeiten einzugehen.

2.4.

Der EWSA begrüßt, dass der Ukraine und der Republik Moldau unlängst der Status eines EU-Beitrittskandidaten zuerkannt wurde, und betont, dass diese Länder auf die Integration in die EU gerichtete Reformen umsetzen und zugleich die Last des Krieges in der Ukraine zu tragen haben und daher umfassend von der EU unterstützt werden müssen. Im Rahmen der Aktivitäten der Programme der grenzübergreifenden Zusammenarbeit sollten gegebenenfalls die gestärkten EU-Integrationsziele der Ukraine und der Republik Moldau optimiert werden, u. a. durch die Weitergabe einschlägiger Reformerfahrungen der EU-Nachbarstaaten. Dies muss die Vorbereitungen auf lokaler und regionaler Ebene und eine starke Rolle der Organisationen der Zivilgesellschaft einschließlich der Sozialpartner umfassen.

2.5.

In Anbetracht der Aussetzung von Finanzmitteln für die Russische Föderation und für Belarus sowie der damit verbundenen Aussetzung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation und Belarus schlägt der EWSA vor, alle möglichen Schritte zu unternehmen, um die ursprünglich für diese Kooperationsprogramme vorgesehenen Mittel in die Zusammenarbeit mit der Ukraine zu lenken. Angesichts der großen Symbolkraft und des gestiegenen Bedarfs lohnt sich der zeitliche und fachliche Aufwand für die Ermittlung und Ausarbeitung der Rechtsgrundlagen für ein solches Vorgehen. Die starke emotionale und wertebasierte Verbundenheit kann als eine Art der „Nachbarschaft“ mit der Ukraine angesehen und dahingehend ausgelegt werden, dass sie den Zielen des Programms in diesen außergewöhnlichen Zeiten entspricht.

2.6.

Der EWSA betont die außergewöhnliche finanzielle Belastung der angrenzenden Gebietskörperschaften, die zahlreiche ukrainische Flüchtlinge aufnehmen, und begrüßt deshalb die Absicht, bei fünf grenzübergreifenden ENI-Programmen mit der Republik Moldau und der Ukraine die Verpflichtung zur nationalen Kofinanzierung aufzuheben.

2.7.

Der EWSA betont, dass die russische Aggression und der daraus resultierende Zustrom von Flüchtlingen erneut die Schlüsselrolle der Zivilgesellschaft unter Beweis gestellt haben und dem zivilgesellschaftlichen Engagement sowohl in der Ukraine als auch in den benachbarten EU-Ländern einen erheblichen Auftrieb gegeben haben. So wurden im Rahmen von hunderten landesweiten und lokalen Freiwilligenaktionen vor Ort Lebensmittel und Unterkünfte aber auch andere humanitäre Hilfe bereitgestellt. Deshalb sollte der Unterstützung der Arbeit der Zivilgesellschaft im Rahmen der grenzübergreifenden Programme ein besonderer Stellenwert eingeräumt werden. Der organisierten Zivilgesellschaft wird auch beim Wiederaufbau der Ukraine und ihrer Regionen sowie bei den Vorbereitungen auf den EU-Beitritt weiterhin eine große Bedeutung zukommen.

2.8.

Vor dem Hintergrund der anhaltenden Energiekrise erinnert der EWSA an die Notwendigkeit, den grünen Wandel zu beschleunigen und die Energieeffizienz weiter zu stärken. Die Programme für die grenzübergreifende Zusammenarbeit sollten den Begünstigten die Möglichkeit bieten, die bevorstehenden Herausforderungen der kalten Jahreszeit abzufedern und gleichzeitig weiterhin nachhaltig zu handeln.

2.9.

Der EWSA bedauert, dass die Interessenträger bei der Ausarbeitung der vorgeschlagenen Änderungen nicht konsultiert wurden. Ordnungsgemäß durchgeführte Konsultationen sind keine Zeitverschwendung, sondern verbessern in den meisten Fällen die Qualität der Entscheidungen.

2.10.

Die Anwendung der bewährten Verfahren des Europäischen Verhaltenskodex für das Partnerschaftsprinzip kann zum Erfolg der im Rahmen der geänderten Verordnung durchgeführten Projekte beitragen.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Der EWSA betont, dass die EU umfassende Maßnahmen zur Unterstützung von Flüchtlingen aus der Ukraine durchführt, so z. B. im Rahmen von CARE, der flexiblen Unterstützung der Gebiete (FAST-CARE) oder der Änderungen in der Kohäsionspolitik. Doppelfinanzierungsrisiken sollten dabei verringert werden. Die Europäische Nachbarschaftsinitiative sollte weiterhin vornehmlich auf ihr Hauptziel ausgerichtet sein, d. h. auf die Zusammenarbeit zwischen der EU und den östlichen Partnerländern. Angesichts der zu erwartenden längeren Unterbrechung der Programme mit Russland und Belarus sowie des wachsenden Bedarfs und Interesses an einer Zusammenarbeit mit der Ukraine und der Republik Moldau sollte beispielsweise in Artikel 9, aber auch in den Artikeln 5, 6 und 8 die Rechtsgrundlagen für die Verlagerung auf diese beiden Länder und die Zusammenarbeit mit ihnen gelegt werden.

3.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass die russische Invasion in der Ukraine neben der Ankunft von Flüchtlingen auch weitere tiefgreifende Auswirkungen auf die Zusammenarbeit zwischen der EU, der Ukraine und ihren Nachbarländern hat. Infolge der russischen Blockade ukrainischer Seehäfen und der Unterbrechung der Transportwege in der Ostukraine wird ein großer Teil des ukrainischen Handels, unter anderem mit Getreide, über die Grenzen des Landes zur EU umgeleitet, was zu einer erheblichen Belastung der grenzüberschreitenden Infrastruktur führt. Da die ukrainischen Ausfuhren von Getreide und anderen Erzeugnissen von entscheidender Bedeutung sind, um eine weltweite Nahrungsmittelkrise zu verhindern, sollten im Rahmen der grenzübergreifenden Programme die neuen logistischen Probleme angegangen werden, um die maximale Kapazität des Warenflusses zu gewährleisten, unter anderem durch bessere grenzübergreifende Steuerung, Schaffung von Lagermöglichkeiten in Grenznähe und andere einschlägige Maßnahmen. Für diese Vorhaben wären möglicherweise flexiblere Fristen erforderlich als derzeit in Artikel 6 Absatz 2 vorgesehen.

3.3.

Höhere Kosten, die auf die außerordentlich hohe Inflation infolge des russischen Kriegs zurückzuführen sind, sollten bei allen Projekten berücksichtigt werden, und nicht nur bei jenen, die in Artikel 6 Absatz 3 genannt werden.

3.4.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, angesichts der außergewöhnlichen Umstände die Verwaltung der grenzübergreifenden Programme unter anderem durch Zulassung von Änderungen der Programmaktivitäten zu erleichtern. Gleichzeitig betont er, dass Vorkehrungen gegen einen möglichen Missbrauch von Mitteln getroffen werden müssen, und schlägt vor, die Beteiligung der Zivilgesellschaft (einschließlich der Sozialpartner) an der Entscheidungsfindung und Überwachung grenzüberschreitender Programmaktivitäten auszubauen. Diese Aspekte könnten in Artikel 7 und/oder 15 hervorgehoben werden.

3.5.

Die einseitige Aussetzung gemäß Artikel 10 Absatz 2 sollte mit einer Begründung unter Verweis auf diese Verordnung einhergehen.

3.6.

Wie in den Ziffern 1.7 und 2.5 dargelegt, schlägt der EWSA vor, in Fällen, in denen die ursprünglich vorgesehenen Partner ausfallen, neue Partner aus der Zivilgesellschaft (einschließlich der Möglichkeit zur Weitervergabe von Finanzmitteln) und aus der Ukraine einzubinden. Artikel 10 Absatz 3 sollte entsprechend geändert werden. Darüber hinaus könnte die prodemokratische belarussische und russische Diaspora in Ausnahmefällen als Partner in Erwägung gezogen werden.

3.7.

Weitere Maßnehmen müssen in Betracht gezogen werden, um Betrug zu verhindern bzw. um Unregelmäßigkeiten anzugehen, die bei der Umsetzung auftreten können. Die Rolle der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner sollte auch in Bezug auf diese Prozesse sowie in den Begleitausschüssen gestärkt werden (Artikel 14 Absatz 3).

Brüssel, den 27. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/198


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufhebung der Richtlinie 89/629/EWG des Rates“

(COM(2022) 465 final — 2022/0282(COD))

(2023/C 75/30)

Befassung

Europäisches Parlament, 3.10.2022

Rat der Europäischen Union, 26.9.2022

Europäische Kommission, 16.9.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 100 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Plenums

26.10.2022

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

169/0/03

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/199


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Vorschriften für einen Freibetrag zur Reduzierung der steuerlichen Begünstigung von Fremd- gegenüber Eigenkapitalfinanzierungen und für die Begrenzung der Abzugsfähigkeit von Zinsen für Körperschaftsteuerzwecke

(COM(2022) 216 final — 2022/0154 (CNS))

(2023/C 75/31)

Berichterstatter:

Petru Sorin DANDEA

Ko-Berichterstatter:

Krister ANDERSSON

Befassung

Rat der Europäischen Union, 8.6.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 115 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

6.10.2022

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

187/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Mit dem Vorschlag der Kommission für einen Freibetrag zur Reduzierung der steuerlichen Begünstigung von Fremd- gegenüber Eigenkapitalfinanzierungen (DEBRA) soll gegen steuerliche Verschuldungsanreize für die Unternehmen in der EU vorgegangen werden. Dazu werden Vorschriften eingeführt, die die steuerliche Abzugsfähigkeit von fiktiven Zinsen auf Eigenkapitalerhöhungen ermöglichen und die steuerliche Abzugsfähigkeit der Zinsaufwendungen beschränken.

1.2.

Zu diesem Zweck hat die Kommission gezielte Vorschriften vorgelegt, die einen Freibetrag für Eigenkapital und eine Begrenzung der Abzugsfähigkeit von Zinsen vorsehen. Finanzunternehmen sind von den Maßnahmen ausgenommen, da sie regulatorischen Eigenkapitalanforderungen unterliegen, die eine zu geringe Ausrichtung auf Eigenkapital verhindern.

1.3.

Der von der Kommission vorgeschlagene Freibetrag für Eigenkapital wird berechnet als Freibetragsgrundlage x fiktiver Zinssatz. Die Freibetragsgrundlage entspricht der Differenz zwischen dem Eigenkapital am Ende des Steuerjahres und dem Eigenkapital am Ende des vorangegangenen Steuerjahres, d. h. dem Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Aufseiten des Fremdkapitals wird eine anteilsmäßige Begrenzung die Abzugsfähigkeit von Zinsen auf 85 % der Zinsaufwendungen (gezahlte Zinsen abzüglich erhaltener Zinsen) beschränken.

1.4.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt die von der Kommission mit ihrem Vorschlag verfolgten Ziele insoweit, als damit ein wichtiges und seit Langem diskutiertes Problem der Unternehmensbesteuerung angegangen wird, nämlich die steuerliche Begünstigung von Fremd- gegenüber Eigenkapitalfinanzierungen. Die Struktur und der Inhalt des Vorschlags sind jedoch von entscheidender Bedeutung, um diese Ziele auch effektiv zu verwirklichen.

1.5.

Vor diesem Hintergrund vertritt der der EWSA die Auffassung, dass die Entscheidung der Kommission, Eigenkapital gegenüber Fremdkapital zu begünstigen und dazu nicht nur einen Steuerfreibetrag auf die sukzessiven Eigenkapitalerhöhungen eines Unternehmens zu gewähren, sondern auch die Abzugsfähigkeit der Fremdkapital-Finanzierungskosten von Unternehmen um 15 % zu senken, den europäischen Unternehmern, insbesondere den KMU und Kleinstunternehmen, schaden wird.

1.6.

Der EWSA ist besorgt, dass die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen KMU und Kleinstunternehmen und damit das Rückgrat der europäischen Wirtschaft finanziell schwächen könnten. Diese Unternehmen haben Schwierigkeiten beim Zugang zu den Kapitalmärkten, weshalb die Beschränkung der Abzugsfähigkeit ihrer Zinskosten Investitionen, Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen in ganz Europa gefährden könnte.

1.7.

Nach Ansicht des EWSA sollte die Förderung der Eigenkapitalfinanzierung für Klein- und Kleinstunternehmen nämlich in erster Linie oder sogar ausschließlich durch Steuerfreibeträge auf Eigenkapital erfolgen, ohne die Abzugsfähigkeit der Fremdkapitalkosten zu beschränken.

1.8.

Der EWSA hält den im Kommissionsvorschlag vorgesehenen Risikoaufschlag von 1 % bzw. 1,5 % für marktfern und unzureichend, um den Verlust der Abzugsfähigkeit der Zinskosten auszugleichen. Die Marktrisikoprämie (oder Risikoaufschlag) lag 2021 in allen Mitgliedstaaten bei über 5 % und liegt weiter in dieser Größenordnung.

1.9.

Der EWSA befürchtet, dass die Nichtabzugsfähigkeit von Zinsaufwendungen, die ja legitime Geschäftskosten sind, die europäischen Unternehmen im Wettbewerb mit den Unternehmen in anderen großen Handelsblöcken benachteiligen könnte.

1.10.

Der EWSA stellt fest, dass eine Abschaffung der Abzugsfähigkeit von Zinsaufwendungen dazu führen könnte, dass die europäischen Unternehmen lieber Leasingverträge abschließen, anstatt direkt in Maschinen und Anlagen zu investieren. Darüber hinaus würde die konzerninterne Finanzierung innerhalb großer Unternehmensgruppen mit zentraler Treasury-Funktion erschwert und beeinträchtigt, was die Finanzierung von Investitionen verteuern und letztendlich zu einem Rückgang der Investitionen führen würde.

1.11.

Der EWSA möchte seine Bedenken konstruktiv und umfassend geltend machen und schlägt daher vor, dass die Kommission ihren Vorschlag gründlich überarbeitet und dabei u. a. eine vollständige oder zumindest teilweise Ausnahme von den DEBRA-Vorschriften insbesondere für KMU und Kleinstunternehmen vorsieht.

2.   Vorschlag der Kommission

2.1.

Mit dem Vorschlag der Kommission für die DEBRA-Richtlinie (1) soll gegen steuerliche Verschuldungsanreize für die Unternehmen in der EU vorgegangen werden. Dazu werden Vorschriften eingeführt, die die steuerliche Abzugsfähigkeit von fiktiven Zinsen auf Eigenkapitalerhöhungen ermöglichen und die steuerliche Abzugsfähigkeit der Zinsaufwendungen beschränken.

2.2.

Der Vorschlag steht im Einklang mit der Mitteilung der Kommission über die Unternehmensbesteuerung für das 21. Jahrhundert (2). Darin wird auf die steuerrechtliche Bevorzugung von Fremdkapitalfinanzierungen als relevantes Problem hingewiesen, das von den europäischen Institutionen angegangen werden muss, um ein faires und effizientes Steuersystem sicherzustellen.

2.3.

In ihrer Mitteilung weist die Kommission darauf hin, dass Unternehmen derzeit „Zinsen für eine Fremdkapitalfinanzierung, nicht jedoch die mit der Eigenkapitalfinanzierung verbundenen Kosten wie beispielsweise die Ausschüttung von Dividenden von der Steuer absetzen [können], was sie dazu veranlassen kann, Investitionen eher mit Fremd- als mit Eigenkapital zu finanzieren. Dies kann zu einer übermäßigen Verschuldung mit negativen Ausstrahlungseffekten auf die gesamte EU führen, wenn einige Länder mit hohen Insolvenzwellen konfrontiert sind. Auch die Finanzierung von Innovationen durch Eigenkapital wird durch diese verschuldungsfreundliche Besteuerung benachteiligt.“

2.4.

Die Kommission folgt mit ihrem Vorschlag überdies der Forderung des Europäischen Parlaments, das Problem der Begünstigung von Fremd- gegenüber Eigenkapitalfinanzierungen anzugehen und dabei zugleich wirksame Vorschriften zur Bekämpfung der Steuerumgehung vorzusehen, um den Rückgriff auf Eigenkapitalfreibeträge als neues Mittel zur Aushöhlung der Bemessungsgrundlage zu verhindern (3).

2.5.

Dem Vorschlag der Kommission ging eine umfassende Konsultation der Interessenträger voraus, an der Wissenschaftler, Behörden, NRO, Wirtschaftsverbände und Unternehmen teilnahmen. Der Konsultation zufolge hält eine überwältigende Mehrheit der Interessenträger eine Initiative für erforderlich, um die Vorzugsbehandlung von Fremd- gegenüber Eigenkapital zu verringern.

2.6.

Die Kommission hat überdies mit den sechs Mitgliedstaaten zusammengearbeitet, die bereits Vorschriften zur Reduzierung der Begünstigung von Fremd- gegenüber Eigenkapitalfinanzierungen erlassen haben, um aus erster Hand spezifische Erkenntnisse über die Wirkung solcher Vorschriften zu gewinnen (4).

2.7.

Zur Ausgestaltung ihres Vorschlags hat die Kommission fünf verschiedene Optionen geprüft: Option 1: Einführung eines für unbestimmte Dauer geltenden Freibetrags auf den Bestand des Eigenkapitals von Unternehmen; Option 2: Einführung eines Freibetrags, aber nur für neues Eigenkapital und nur für zehn Jahre; Option 3: Freibetrag auf Gesellschaftskapital (d. h. Eigenkapital und Fremdkapital) bei gleichzeitiger Abschaffung der derzeitigen Abzugsfähigkeit von Zinszahlungen; Option 4: vollständige Abschaffung der Abzugsfähigkeit von Zinsaufwendungen; Option 5: Freibetrag auf fiktive Zinsen auf neues Eigenkapital von Unternehmen für zehn Jahre in Verbindung mit einer teilweisen Beschränkung der steuerlichen Abzugsfähigkeit für alle Unternehmen.

2.8.

Option 5 ist die bevorzugte Option, weshalb der Vorschlag der Kommission konkret gezielte Vorschriften sowohl für einen Freibetrag für Eigenkapital als auch für eine Beschränkung der steuerlichen Abzugsfähigkeit für Zinsaufwendungen enthält. Finanzunternehmen sind ausdrücklich von den Maßnahmen ausgenommen, da sie bereits regulatorischen Eigenkapitalanforderungen unterliegen, die eine zu geringe Eigenkapitalausstattung verhindern.

2.9.

Der von der Kommission vorgeschlagene Freibetrag für Eigenkapital wird konkret wie folgt berechnet: Freibetragsgrundlage x fiktiver Zinssatz. Die Freibetragsgrundlage ihrerseits entspricht der Differenz zwischen dem Eigenkapital am Ende des Steuerjahres und dem Eigenkapital am Ende des vorangegangenen Steuerjahres, d. h. dem Anstieg gegenüber dem Vorjahr.

2.10.

Ist die Freibetragsgrundlage eines Steuerpflichtigen, dem bereits ein Freibetrag für Eigenkapital gewährt wurde, in einem bestimmten Steuerzeitraum negativ (Eigenkapitalminderung), so wird für zehn aufeinanderfolgende Steuerzeiträume und bis zum Gesamtanstieg des Nettoeigenkapitals, für den der Freibetrag gewährt wurde, ein anteiliger Betrag steuerbar, sofern der Steuerpflichtige nicht nachweisen kann, dass dies auf während des Steuerzeitraums entstandene Verluste oder auf eine rechtliche Verpflichtung zurückzuführen ist.

2.11.

Der Vorschlag enthält spezifische Vorschriften für die jeweils anzusetzenden fiktiven Zinsen und sieht angesichts der Schwierigkeiten von KMU beim Zugang zu Finanzmitteln einen höheren fiktiven Zinssatz für KMU vor, ohne dass die Mitgliedstaaten Ausnahmeregelungen vorsehen können. Um Missbrauch zu verhindern, wurde die Abzugsfähigkeit des Freibetrags bereits durch das Projekt zur Bekämpfung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS) und die Umsetzung auf EU-Ebene mittels der ATAD-Richtlinie (5) auf höchstens 30 % des EBITDA (6) des Steuerpflichtigen für jedes Steuerjahr beschränkt. Es wird vorgeschlagen, die beiden Beschränkungen aufeinander abzustimmen.

2.12.

Aufseiten des Fremdkapitals wird eine anteilsmäßige Begrenzung die Abzugsfähigkeit von Zinsen auf 85 % der Zinsaufwendungen (gezahlte Zinsen abzüglich erhaltener Zinsen) beschränken. Nach Ansicht der Kommission ermöglicht es dieser Ansatz, gegen die steuerliche Begünstigung von Fremd- gegenüber Eigenkapitalfinanzierungen sowohl auf der Eigenkapital- als auch auf der Fremdkapitalseite vorzugehen. Eigenkapitalerhöhungen aufgrund unternehmensinterner Transaktionen oder Neubewertungen von Vermögenswerten sind jedoch nicht enthalten.

2.13.

Die Rechtsgrundlage für den Vorschlag ist Artikel 115 AEUV, wonach Maßnahmen zur Angleichung von Vorschriften in Form einer Richtlinie erfolgen. Der Kommission zufolge steht der Richtlinienvorschlag mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang. Die Umsetzung muss bis Anfang 2024 erfolgen. Die Mitgliedstaaten, die bereits Vorschriften zur Begünstigung von Fremd- gegenüber Eigenkapitalfinanzierungen erlassen haben, können die derzeit geltenden Freibeträge für die verbleibende Dauer des Freibetrags nach nationalem Recht, höchstens jedoch zehn Jahre, beibehalten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA unterstützt die Ziele, die die Kommission mit ihrem Vorschlag verfolgt, da damit ein wichtiges und seit Langem diskutiertes Problem der Unternehmensbesteuerung angegangen wird: die steuerliche Begünstigung von Fremd- gegenüber Eigenkapitalfinanzierungen. Nach Ansicht des EWSA werden angemessene und gut durchdachte Vorschriften in diesem Bereich europäische Unternehmen aller Größen erheblichen Nutzen bringen, da sie den Wettbewerb auf dem Binnenmarkt verbessern.

3.2.

Der EWSA verweist auf seine Stellungnahme zur „Bedeutung der Unternehmenssteuern für die Corporate Governance“ (7). Darin wird eine Lösung für das Problem der Begünstigung der Fremd- gegenüber der Eigenkapitalfinanzierung gefordert und dabei nachdrücklich auf die Risiken im Zusammenhang mit unangemessener Verschuldung hingewiesen: „Das Problem der Bevorzugung der Fremd- gegenüber der Eigenkapitalfinanzierung bei der Unternehmensbesteuerung schlägt sich in den sozioökonomischen Kosten, aber auch in der Unternehmensverschuldung und Unternehmensführung nieder“ (8).

Der EWSA hat auch darauf hingewiesen, dass eine Lösung des Problems der steuerlichen Begünstigung von Fremd- gegenüber Eigenkapitalfinanzierungen zur ehrgeizigen Agenda der Kommission für eine nachhaltigere und stärker digitalisierte europäische Wirtschaft beitragen könnte (9): „Eine übermäßige Fremdfinanzierung gefährdet die Verwirklichung der Ziele der Europäischen Kommission, da Unternehmen dadurch finanziell geschwächt werden und dies die Möglichkeiten für neue und riskante umweltorientierte Investitionsvorhaben beeinträchtigt.“ Die anzuwendenden Vorschriften müssen jedoch die DEBRA-Problematik angemessen berücksichtigen. Der EWSA ist insbesondere der Auffassung, dass die von der Kommission vorgelegten Vorschläge KMU und vor allem Kleinstunternehmen schaden und sie finanziell schwächen würden.

3.3.

Die Beschränkung der Abzugsfähigkeit von Zinskosten bremst Investitionen, Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen. In der von Zinserhöhungen geprägten derzeitigen wirtschaftlichen Situation ist die Wahrscheinlichkeit solcher nachteiligen Auswirkungen sogar noch größer.

3.4.

Der EWSA stellt fest, dass eine Maßnahme auf EU-Ebene gegenüber mehreren nicht abgestimmten Initiativen der Mitgliedstaaten vorzuziehen ist. Da jedoch in sechs Mitgliedstaaten bereits nationale Rechtsvorschriften über Freibeträge für Eigenkapitalfinanzierungen gelten, ist darauf hinzuweisen, dass die Investitionskosten in der gesamten EU durch die Kombination aus einem Freibetrag für Eigenkapital und der Abschaffung der Abzugsfähigkeit von Zinszahlungen nicht vollständig harmonisiert werden, selbst wenn die hier geprüfte Richtlinie angenommen wird.

3.5.

Der EWSA begrüßt die von der Kommission eingeleitete umfassende und ausführliche Konsultation zum DEBRA-Vorschlag, dank der viele verschiedene Interessenträger (Unternehmensverbände, einzelne Unternehmen, Behörden und Vertreter der Wissenschaft) ihre Standpunkte zu diesem für die Unternehmensbesteuerung und die Unternehmensführung in der EU so wichtige Frage darlegen konnten.

3.6.

Der EWSA begrüßt überdies die gezielte Konsultation, die die Kommission gemeinsam mit den sechs Mitgliedstaaten durchgeführt hat, die bereits Vorschriften zum Problem der steuerlichen Begünstigung von Fremd- gegenüber Eigenkapitalfinanzierungen erlassen haben. Dadurch konnten die von den nationalen Gesetzgebern und Steuerbehörden auf diesem Gebiet gesammelten Erfahrungen berücksichtigt werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Entscheidung der Kommission, Eigenkapital gegenüber Fremdkapital zu begünstigen und dazu nicht nur einen Steuerfreibetrag auf das von den Unternehmen im Laufe der Zeit erhöhte Eigenkapital zu gewähren, sondern auch die Abzugsfähigkeit der Fremdkapital-Finanzierungskosten von Unternehmen um 15 % zu senken, den europäischen Unternehmern und insbesondere den KMU und Kleinstunternehmen schaden wird. Für die zuletzt genannten Unternehmen sollte die Förderung der Eigenkapitalfinanzierung daher in erster Linie oder sogar ausschließlich durch Steuerfreibeträge auf Eigenkapital ohne eine Beschränkung der Abzugsfähigkeit von Fremdkapitalkosten erfolgen.

4.2.

Der EWSA hält es für riskant, die Abzugsfähigkeit von Zinsaufwendungen zu begrenzen, insbesondere für KMU und Kleinstunternehmen und gerade in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage, die durch die doppelte negative Wirkung der anhaltenden Inflation und der steigenden Zentralbankzinsen zur Inflationskontrolle gekennzeichnet ist. In vielen Unternehmen ist die Verschuldung während der Pandemie weiter gestiegen. Die Beschränkung der steuerlichen Abzugsfähigkeit könnte daher für viele Klein- und Kleinstunternehmen die Fremdkapitalfinanzierung erschweren.

4.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in seiner Auslegung durch den Gerichtshof die EU-Institutionen bei der Rechtsetzung dazu verpflichtet, geeignete Vorschriften zu erarbeiten, mit denen sich die angestrebten Regulierungsziele unter möglichst geringen Opfern für die Adressaten erreichen lassen. In Hinblick auf diesen Aspekt weist der EWSA darauf hin, dass eine erhebliche Verringerung der Abzugsfähigkeit der Kosten für Fremdkapitalfinanzierungen unbeabsichtigte Folgen für KMU und insbesondere für Kleinstunternehmen haben könnte. Sie könnte zum Beispiel zu einer schlechteren Schuldentragfähigkeit der Unternehmen, Entlassungen und einer ernsthaften Beeinträchtigung der finanziellen Gesamtstabilität im gesamten Binnenmarkt führen.

4.4.

Der EWSA stellt fest, dass eine Abschaffung der Abzugsfähigkeit von Zinsaufwendungen dazu führen würde, dass Unternehmen lieber Leasingverträge abschließen, anstatt direkt in Maschinen und Anlagen zu investieren. Diese Art von „Anreizen“ ist alles andere als wünschenswert; zumindest sollte im Vorfeld eine gründliche Analyse durchgeführt werden.

4.5.

Viele Unternehmen nutzen konzerninterne Finanzierungen und zentrale Treasury-Funktionen, um Investitionen auf kosteneffiziente Weise zu finanzieren. Die vorgeschlagenen Vorschriften würden im Grunde genommen von jedem Unternehmen der Gruppe verlangen, seine Investitionen selbst zu finanzieren. Dadurch werden die Finanzierungskosten steigen und somit die Investitionen bedauerlicherweise zurückgehen. Nach Ansicht des EWSA muss dieses Problem angegangen werden, damit weiterhin eine effiziente Finanzierung von Investitionen möglich ist.

4.6.

Der EWSA empfiehlt, die Befolgungskosten für europäische Unternehmen, die den neuen Freibetrag für Eigenkapital in Anspruch nehmen wollen, zu begrenzen. Dazu muss ein ausreichendes Maß an Rechtssicherheit und Berechenbarkeit der neuen Vorschriften erreicht werden, damit keine Ungewissheit und Auslegungsprobleme entstehen, die zu langwierigen Verhandlungen oder gar Rechtsstreitigkeiten zwischen den Steuerbehörden und den Unternehmen führen könnten.

4.7.

Der EWSA schlägt daher unter Berücksichtigung der vorstehenden Argumente aus konstruktiver Sicht vor, dass die Kommission ihren Vorschlag gründlich überarbeitet und dabei u. a. eine vollständige oder zumindest teilweise Ausnahme von den DEBRA-Vorschriften für KMU und Kleinstunternehmen vorsieht.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Vorschriften für einen Freibetrag zur Reduzierung der steuerlichen Begünstigung von Fremd- gegenüber Eigenkapitalfinanzierungen und für die Begrenzung der Abzugsfähigkeit von Zinsen für Körperschaftsteuerzwecke (COM(2022) 216 final).

(2)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Eine Unternehmensbesteuerung für das 21. Jahrhundert“ (COM(2021) 251 final).

(3)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Februar 2022 zu den Auswirkungen der einzelstaatlichen Steuerreformen auf die Wirtschaft in der EU (2021/2074(INI)) (ABl. C 342 com 6.9.2022, S. 14).

(4)  Mitgliedstaaten, in denen es Vorschriften gibt, die einen Freibetrag auf Eigenkapitalerhöhungen vorsehen, können die Anwendung der Bestimmungen dieser Richtlinie für die Dauer bereits in nationalen Vorschriften verankerter Rechte verschieben (Bestandsschutz). Steuerpflichtige, die am [1. Januar 2024] nach nationalem Recht (in Belgien, Italien, Malta, Polen, Portugal und Zypern) einen Freibetrag auf Eigenkapital in Anspruch nehmen, werden für einen Zeitraum von bis zu zehn Jahren weiterhin diesen Freibetrag nach nationalem Recht in Anspruch nehmen können.

(5)  Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts (ABl. L 193 vom 19.7.2016, S. 1).

(6)  EBITDA: Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen.

(7)  ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 13.

(8)  ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 13, Ziffer 4.1 bis 4.7.

(9)  ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 13.


28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/204


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 1108/70 des Rates zur Einführung einer Buchführung über die Ausgaben für die Verkehrswege des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs und der Verordnung (EG) Nr. 851/2006 der Kommission zur Festlegung des Inhalts der verschiedenen Positionen der Verbuchungsschemata des Anhangs I der Verordnung (EWG) Nr. 1108/70 des Rates

(COM(2022) 381 final)

(2023/C 75/32)

Befassung

Europäisches Parlament, 12.9.2022

Rat der Europäischen Union, 12.8.2022

Rechtsgrundlagen

Artikel 91 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Verabschiedung im Plenum

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

170/0/0

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags vorbehaltlos zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG