ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 275

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

65. Jahrgang
18. Juli 2022


Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

567. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses – Videokonferenz über Interactio, 23.2.2022-24.2.2022

2022/C 275/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Tourismus und Verkehr — Folgestellungnahme (Initiativstellungnahme)

1

2022/C 275/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu den Auswirkungen von COVID-19 auf Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit in der EU und die Zukunft der Demokratie (Initiativstellungnahme)

11

2022/C 275/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Gesellschaftliche Herausforderungen im Zusammenhang mit der Ökologisierung des See- und Binnenschiffsverkehrs (Initiativstellungnahme)

18


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

567. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses – Videokonferenz über Interactio, 23.2.2022-24.2.2022

2022/C 275/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zu einem Pakt für Forschung und Innovation in Europa (COM(2021) 407 final — final 2021/230 (NLE))

24

2022/C 275/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über Europäische Missionen (COM(2021) 609 final)

30

2022/C 275/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 2001/20/EG und 2001/83/EG in Bezug auf Ausnahmen von bestimmten Verpflichtungen für bestimmte im Vereinigten Königreich bereitgestellte Humanarzneimittel in Bezug auf Nordirland sowie in Bezug auf Zypern, Irland und Malta (COM(2021) 997 final — 2021/0431 (COD)) und zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 zur Einführung einer Ausnahmeregelung in Bezug auf bestimmte Verpflichtungen betreffend Prüfpräparate, die im Vereinigten Königreich in Bezug auf Nordirland sowie in Zypern, Irland und Malta zugänglich gemacht werden (COM(2021) 998 final — 2021/0432 (COD))

36

2022/C 275/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Eine Unternehmensbesteuerung für das 21. Jahrhundert (COM(2021) 251 final)

40

2022/C 275/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2009/138/EG im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit, die Aufsichtsqualität, die Berichterstattung, langfristige Garantien, makroprudenzielle Instrumente, Nachhaltigkeitsrisiken, die Gruppenaufsicht und die grenzüberschreitende Aufsicht (COM(2021) 581 final — 2021/0295 (COD)) und zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen und zur Änderung der Richtlinien 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2009/138/EG, (EU) 2017/1132 und der Verordnungen (EU) Nr. 1094/2010 und (EU) Nr. 648/2012 (COM(2021) 582 final — 2021/0296 (COD))

45

2022/C 275/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Jahresbericht zum nachhaltigen Wachstum 2022 (COM(2021) 740 final)

50

2022/C 275/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen HERA: die neue Europäische Behörde für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen(COM(2021) 576 final)

58

2022/C 275/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen (Neufassung)(COM(2021) 734 final — 2021/0375 (COD)) und Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Transparenz und das Targeting politischer Werbung(COM(2021) 731 final — 2021/0381 (COD))

66

2022/C 275/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Neues Europäisches Bauhaus: attraktiv — nachhaltig — gemeinsam (COM(2021) 573 final)

73

2022/C 275/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Steigende Energiepreise — eine Toolbox mit Gegenmaßnahmen und Hilfeleistungen(COM(2021) 660 final)

80

2022/C 275/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bereitstellung bestimmter Rohstoffe und Erzeugnisse, die mit Entwaldung und Waldschädigung in Verbindung stehen, auf dem Unionsmarkt sowie ihre Ausfuhr aus der Union und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 995/2010 (COM(2021) 706 final — 2021/0366 (COD))

88

2022/C 275/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verbringung von Abfällen und zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1257/2013 und (EU) 2020/1056(COM(2021) 709 final — 2021/0367 (COD))

95

2022/C 275/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Fit für 55: auf dem Weg zur Klimaneutralität — Umsetzung des EU-Klimaziels für 2030 (COM(2021) 550 final)

101

2022/C 275/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2008/118/EG und der Richtlinie (EU) 2020/262 (Neufassung) bezüglich Tax-free-Verkaufsstellen im französischen Terminal des Kanaltunnels (COM(2021) 817 final — 2021/0418 (CNS))

108

2022/C 275/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der höchstzulässigen Abmessungen für bestimmte Straßenfahrzeuge im innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Verkehr in der Union sowie zur Festlegung der höchstzulässigen Gewichte im grenzüberschreitenden Verkehr (kodifizierter Text) (COM(2021) 769 final — 2021/0400 (COD))

109


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

567. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses – Videokonferenz über Interactio, 23.2.2022-24.2.2022

18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Tourismus und Verkehr — Folgestellungnahme

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 275/01)

Berichterstatter:

Panagiotis GKOFAS

Beschluss des Plenums

25.3.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

3.2.2022

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

185/2/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) würdigt die außerordentlichen gemeinsamen Anstrengungen der EU-Organe im Jahr 2021 und ihre politischen Vorschläge und Maßnahmen zur Stützung der wirtschaftlichen Erholung und zur Sicherung von Arbeitsplätzen in der europäischen Tourismus-, Verkehrs- und Reisebranche als den Ökosystemen, die von der COVID-19-Pandemie am stärksten betroffen waren (1). Die Auswirkungen der Pandemie und die Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft sind jedoch noch nicht in vollem Umfang erkennbar. Es müssen erhebliche Anstrengungen unternommen werden, damit in den kommenden Monaten weiterhin ein abgestimmtes Vorgehen in der EU besteht; dazu gehören eine deutliche Unterstützung für KMU im Hinblick auf Kredite und Finanzen, Informationen über Impfungen sowie Sicherheitsmaßnahmen, um für einen sicheren Tourismus, sicheres Reisen und einen sicheren Verkehr zu sorgen und die Touristenströme nach und nach wieder in Gang zu setzen (durch die Umsetzung des Europäischen Tourismusindikatorensystems (ETIS) und Sicherheit für den Tourismus (2)).

1.2.

Im Tourismus wird der Stand von vor der Pandemie nicht wieder erreicht werden: Neue Geschäftsmodelle werden von globalen Verflechtungen sowie einem umweltbewussteren und digital ausgerichteten Verbraucherverhalten bestimmt sein. Der EWSA empfiehlt folgende kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen auf Ebene der EU, der Mitgliedstaaten und der Regionen:

1.2.1.

Kurzfristig:

Angemessene Beachtung des Hotel- und Gaststättengewerbes und der Kleinstunternehmen des gesamten Tourismus-Spektrums, insbesondere Restaurants, in den Aufbauplänen der EU und der Mitgliedstaaten, um ihr Überleben zu sichern. Die EU und die nationalen Regierungen müssen dringende finanzielle Fördermaßnahmen, Direkthilfeinitiativen und den befristeten Rahmen für staatliche Beihilfen für die Zeit nach 2022 uneingeschränkt unterstützen.

Sicherung von Maßnahmen zur finanziellen Unterstützung von Kleinstunternehmen, insbesondere im Hotel- und Gaststättengewerbe, Verlängerung der EU- und nationalen Förderung so lange wie nötig, auch über Dezember 2022 hinaus. Dabei dürfen die Folgen des derzeitigen Personalmangels für das Tempo der Erholung nicht unterschätzt werden.

Verlängerung des Programms SURE bis 2022 durch eine Steuerstundung gegenüber den Behörden, auch der während der Pandemie aufgelaufenen Steuerschulden, insbesondere für Kleinstbetriebe im Hotel- und Gaststättengewerbe.

Einrichtung eines speziellen Tourismushaushalts im mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) und Verbesserung der Bedingungen und Angleichung der Verfahren für den Zugang zu Mitteln im Rahmen der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne (NARP): z. B. Digitalisierung und nachhaltiger Umbau der Infrastrukturen, Anwendung des Prinzips „Vorfahrt für KMU“ und des Grundsatzes der einmaligen Erfassung, Einbeziehung von Kleinstunternehmen bei geringem Verwaltungsaufwand und Einführung transparenter Ausschreibungen für Tourismusunternehmen und örtliche Tourismusbehörden (3).

Schaffung der Voraussetzungen für die Aufnahme von Kleinstunternehmen aus den Bereichen Tourismus und Verkehr in das Bankensystem und den Finanzierungssektor durch Garantiesysteme der EU und der EZB.

Verbesserung der Koordinierung in ganz Europa, bessere Abstimmung (KMU-freundlicher) Gesundheits- und Sicherheitsprotokolle, Erleichterung des Reisens von Bürgern und Geschäftsleuten aus der EU in Nicht-EU-Staaten, Offenhalten der Grenzen und Minimierung der Einschränkungen für Reisende sowie Erhöhung der Zahl der Koordinierungsstrategien und -pläne zwischen der EU und den nationalen Regierungen zur Wiederherstellung der internationalen Tourismusströme und der ausländischen Direktinvestitionen.

Aufruf an alle EU-Organe und -Einrichtungen, Sozialpartner, Organisationen der Zivilgesellschaft sowie Forschungs- und Hochschuleinrichtungen, zur Durchführung eines „Jahres des nachhaltigen Tourismus“ im Jahr 2022 und zur Förderung eines Netzes von Ausstellungen und Messen der EU zum nachhaltigen Tourismus und Verkehr auf internationalen Märkten beizutragen.

Einführung einer „Tourismus-Linie“ bei allen TEN-V-Projekten in europäischen Verkehrskorridoren.

Einführung eines harmonisierten Systems ermäßigter Mehrwertsteuersätze für den gesamten Gastgewerbe- und Tourismussektor, das KMU-freundlich sein und transparente Verfahren umfassen muss, sowie von Instrumenten und Verfahren für den Zugang zu Finanzmitteln (einzige Anlaufstelle, Online-Tools, Partnerschaftsprogramme mit repräsentativen KMU-Organisationen) und einer speziellen Haushaltslinie insbesondere für Kleinstunternehmen.

Einrichtung einer Ombudsperson/Ombudsstelle zur Überwachung der Umsetzung der EU-Aufbaumaßnahmen und des Zugangs zu Liquidität, insbesondere für Kleinst- und Kleinunternehmen im Tourismus- und Verkehrssektor, sowie weitere spezifische Aufgaben (4).

Entwicklung eines EU-Mechanismus zur Überwachung der Bereitstellung von Unterstützung für Kleinstunternehmen und KMU im aktuellen mehrjährigen Finanzrahmen (2021–2027).

1.2.2.

Mittelfristig:

Verhinderung einer Überschuldung und eines Bonitätsverlusts von Unternehmen (5).

Genehmigung einer Task-Force zur Überwachung der Umsetzung und der Auswirkungen der Aufbaumaßnahmen, insbesondere der auf Kleinst- und Kleinunternehmen im Tourismus- und Verkehrssektor ausgerichteten Maßnahmen.

Überwachung der NARP der Mitgliedstaaten unter dem Gesichtspunkt der Aufnahme tourismusbezogener Reformen.

Einrichtung eines EU-Mechanismus zur Überwachung der Bereitstellung von Unterstützung für Kleinstunternehmen und KMU im aktuellen mehrjährigen Finanzrahmen (2021–2027).

Einführung einer speziellen Haushaltslinie der EU für den Tourismus, in der die Bedeutung dieses Ökosystems und sein Bedarf nach der COVID-19-Krise zum Ausdruck kommen.

Schaffung einer starken „Europäischen Tourismusallianz“ zur Bündelung von Initiativen und für eine optimale Förderung. Der EWSA muss aktiv an dieser Allianz beteiligt werden.

1.2.3.

Langfristig:

Entwicklung eines langfristigen Strategieplans der EU für den Tourismus: Beschleunigung des Übergangs zu einem resilienteren und nachhaltigeren Geschäftsmodell für den Tourismus, z. B. Beteiligung von KMU in öffentlich-privaten Partnerschaften.

Priorisierung der beruflichen Aus- und Weiterbildung für KMU auf nationaler/regionaler Ebene, Verbesserung der Mobilitätsprogramme für Auszubildende im Tourismus- und Verkehrssektor und Schwerpunkt auf digitalen Kompetenzen und Kompetenzen im Bereich Nachhaltigkeit (6), insbesondere an neuen Reisezielen und in abgelegenen Gebieten.

Formulierung einer EU-Tourismus- und Verkehrspolitik „der nächsten Generation“, die Planungssicherheit gibt und Vertrauen in eine nachhaltige Erholung schafft.

Entwicklung neuer Formen der Finanzierung für Kleinstunternehmen, insbesondere im Hotel- und Gaststättengewerbe und für von Frauen geführte Unternehmen, die sich mit aktuellen Herausforderungen befassen (7), und Erholung von den Folgen der COVID-19-Pandemie sowie Prüfung von Möglichkeiten, wie diese Unternehmen am besten unterstützt werden können, entsprechend dem Vorschlag I. M. Königin Máxima der Niederlande und der GPFI (8).

1.3.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die meisten Empfehlungen aus seiner Stellungnahme vom 18. September 2020 zum Thema Tourismus und Verkehr im Jahr 2020 und darüber hinaus (9) weiterhin Gültigkeit haben und von der Europäischen Kommission in ihren Plänen und Konsultationen nicht ausreichend berücksichtigt wurden.

1.4.

Der EWSA würde bei der EU, den Mitgliedstaaten, regionalen Institutionen, Sozialpartnern und sonstigen Organisationen der Zivilgesellschaft gern die Bereitschaft sehen, Investitionen durch einen umfassenden Ansatz langfristig wieder anzukurbeln, um die Schaffung eines Rahmens für die blaue Wirtschaft und einer gemeinsamen Tourismusagenda für 2030/2050 zu unterstützen, geeignete Finanzierungsmöglichkeiten aufzuzeigen und Kredite zu gewähren, da KMU im Tourismussektor nach der Pandemie keinen Cashflow haben werden. Unter diesen Bedingungen können KMU erst wieder in die blaue Wirtschaft investieren, wenn sie sich erholt haben und ihre Verbindlichkeiten begleichen können.

1.5.

Es ist äußerst wichtig, neue Maßnahmen einzuführen, ausreichende Finanzmittel zur Rettung des Sektors bereitzustellen und eine langfristige, nachhaltige, kluge und verantwortungsvolle europäische Tourismuspolitik zu entwickeln. Zudem sieht es der EWSA als wichtig an, eine besondere europäische Haushaltslinie für Tourismus einzurichten und für eine angemessene Steuerung zu sorgen, um strategische politische Maßnahmen umzusetzen, u. a. die Einrichtung einer europäischen Tourismusagentur mit folgenden Aufgaben:

Schaffung eines europäischen gemeinsamen Datenraums, um mehr Daten verfügbar zu machen;

Einführung eines europäischen statistischen Programms, das Messgrößen für eine korrekte Verfolgung der Tourismuspolitik erfasst, und Förderung des Austauschs bewährter Verfahren und von Lehrangeboten der EU im Bereich des nachhaltigen Tourismus (z. B. eine EU-Akademie für KMU für nachhaltigen Tourismus);

Wiederbelebung der internationalen Zusammenarbeit der EU mit der UN-Weltorganisation für Tourismus (UNWTO), der OECD und der Arbeitsgruppe Tourismus der G20 sowie Einrichtung einer EU-Tourismusakademie speziell für KMU und von Programmen zur Ausbildung der Ausbilder entsprechend den Standards der genannten Organisationen.

1.6.

Der EWSA spricht sich für einen umfassenderen politischen Ansatz und die Suche nach nachhaltigen Lösungen aus, um die Zukunft des Tourismus und des Verkehrs zu sichern, gestützt auf die folgenden drei wesentlichen Voraussetzungen und Chancen:

Wiederherstellung des Vertrauens und Förderung des Aufbaus, um eine schrittweise Wiederaufnahme des Reiseverkehrs und der gemeinsamen Verkehrsverbindungen innerhalb der EU und mit Drittländern zu erleichtern;

Lehren aus der Pandemie und den angewendeten Verfahren ziehen, Einführung spezieller (KMU-freundlicher) Indikatoren und Harmonisierung von Daten zu den Folgen der Pandemie für den Tourismus und den Verkehrssektor sowie zu den pandemiebedingten Trends in diesem Bereich auf europäischer, regionaler und internationaler Ebene;

Priorisierung einer nachhaltigen Entwicklungsagenda als langfristige Richtschnur für den künftigen Tourismus in der EU und weltweit.

1.7.

Der EWSA schlägt vor, eine ständige Task-Force „Liquidität und Investitionen von Kleinst- und Kleinunternehmen“ mit hochrangigen Experten auf EU- oder nationaler Ebene einzurichten, in die auch die Ökosysteme Tourismus und Verkehr einbezogen sind und die die Umsetzung der Konjunkturmaßnahmen erleichtern und unterstützen könnte; außerdem könnte sie als EU-Überwachungsmechanismus mit den erforderlichen unabhängigen und transparenten Daten zu den Liquiditätsströmen von Kleinstunternehmen und deren Zugang zu Finanzmitteln fungieren.

1.8.

Der EWSA fordert die EU-Organe, die Mitgliedstaaten, Regionen und die Sozialpartner auf EU- und nationaler Ebene auf, gründlich umzudenken, gemeinsame Qualitätsprogramme und wirksamere rescEU-Instrumente und politische Instrumente zur Katastrophenvorsorge zu nutzen und bewährte Verfahrensweisen zur Einbeziehung der Zivilgesellschaft in das Krisenmanagement und die Verhinderung von Verlusten an Menschenleben und wirtschaftlichen Verlusten auszutauschen (10).

1.9.

Nach Ansicht des EWSA wird die Tourismus- und Reiseindustrie ohne das Vertrauen der Verbraucher beim allgemeinen Trend einer wirtschaftlichen Erholung nicht mithalten können. Entscheidend für die Wiederherstellung des Vertrauens ist ein starker Schutz der Verbraucherrechte im Rahmen der Richtlinie über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen (11); bei der Überarbeitung der Richtlinie sollte der Schwerpunkt darauf liegen, die während der Pandemie zutage getretenen Schwachstellen im EU-Recht über die Rechte von Reisenden zu beseitigen.

1.10.

Obwohl das EU-Reiserecht ein Recht von Reisenden auf finanzielle Rückerstattung vorsieht, haben zahlreiche Mitgliedstaaten nationale Sofortmaßnahmen ergriffen, die in direktem Widerspruch zu diesem Recht stehen, indem die Verbraucher gezwungen werden, Gutscheine zu akzeptieren, und/oder die gesetzlichen Fristen für die Rückerstattung verlängert werden. Es ist äußerst wichtig, dass das EU-Recht überwacht und durchgesetzt wird. Nach fast zwei Jahren Pandemie sind ihre finanziellen Folgen auch für die Tourismusunternehmen und insbesondere Kleinstunternehmen unmittelbar und katastrophal.

1.11.

Der EWSA fordert die Kommission daher auf, die Durchführbarkeit eines Vorschlags zur Anpassung der Richtlinie dahingehend zu prüfen, dass die Mitgliedstaaten bei künftigen Fällen höherer Gewalt oder bei Naturereignissen, z. B. einer Pandemie, im Interesse des wirtschaftlichen Überlebens von Tourismusunternehmen kollektive Garantiefonds auflegen können, wobei eine angemessene Entschädigung der Verbraucherinnen und Verbraucher zu garantieren ist.

2.   Einleitung und allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der europäische und der internationale Tourismus werden den Stand von vor der Pandemie nicht wieder erreichen. Die Auswirkungen der Pandemie und die Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft sind noch nicht in vollem Umfang erkennbar. Vor der COVID-19-Krise hatte der Tourismus direkt oder indirekt einen Anteil von knapp 10 % am BIP der EU, stellte etwa 22,6 Mio. Arbeitsplätze und machte die EU mit 563 Mio. internationalen Besuchern und 30 % der weltweiten Einnahmen im Jahr 2018 zum weltweit führenden Reiseziel. Mit 30 % der internationalen Besucher im Jahr 2018 war die EU das weltweit beliebteste Reiseziel. 2018 gab es in der EU-27 über 600 000 Beherbergungsbetriebe, die Buchungen für Übernachtungen beliefen sich auf insgesamt 1 326 049 994 Nächte.

2.2.

Die Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission (GFS) schätzte den Anteil der Tourismusindustrie an der Gesamtbeschäftigung in der EU auf über 6 %. In einigen Regionen liegt der Beitrag des Tourismus zur Beschäftigung deutlich höher, häufig ist er die einzige Form der Beschäftigung für geringqualifizierte Arbeitnehmer. Zum Beispiel liegt der Anteil des Tourismus an der regionalen Gesamtbeschäftigung auf Kreta (Griechenland), in Jadranska Hrvatska (Kroatien), Aostatal (Italien) und auf den Kanarischen Inseln (Spanien) bei über 30 %.

2.3.

Nach mehreren Pandemiewellen in den Jahren 2020 und 2021 sind das Ausmaß der Folgen von COVID-19 für die Beschäftigung und die verheerenden sozialen Auswirkungen auf den Tourismus- und den Verkehrssektor nun sichtbar: Ausbleiben internationaler Touristen, unzureichende und schwache Nachfrage nach tourismusbezogenen Waren/Dienstleistungen (aufgrund von Konsummustern und Verhaltensänderungen im Tourismus zu Zeiten von COVID-19), eine zunehmende Zahl von Unternehmensinsolvenzen und ein Anstieg der Verschuldung (die nicht nur auf Tourismusunternehmen begrenzt ist), Schwierigkeiten beim Zugang zu Liquiditätsmaßnahmen und unwirksame Reaktionen der öffentlichen Verwaltungen. Das Hin und Her bei Schließungs- und Wiederöffnungsmaßnahmen, der missbräuchliche Einsatz von Restriktionen im Zusammenhang mit dem „grünen Zertifikat“ und die Unfähigkeit unabhängiger Stellen, einheitliche Rechte für Touristen/Reisende und Unternehmen zu gewährleisten, die Komplexität und das häufige Fehlen zuverlässiger Informationen für Touristen über die aktuelle Gesundheits- und Sicherheitslage vor Ort sowie aufwändige Verwaltungsverfahren für die Mobilität innerhalb der EU-Binnengrenzen tragen ebenfalls nicht dazu bei, die grenzüberschreitende Mobilität wiederherzustellen und die wirtschaftliche Erholung zu fördern.

2.4.

Dem jüngsten Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments (EPRS) (12) zufolge sind die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf verschiedene Reiseziele in der Europäischen Union asymmetrisch und stark ortsabhängig.

2.5.

Wie die Abbildungen 1 und 2 des EPRS-Berichts zeigen, ging der Beitrag des Tourismus zu Beschäftigung und BIP während der Pandemie beträchtlich zurück. In Italien beispielsweise halbierte sich der Anteil des Tourismus am BIP im Jahr 2020 (gegenüber 2019) und sank von 13,1 % auf 7 %, 337 000 Arbeitsplätze gingen verloren. Im Vergleich zu den USA war in mehreren EU-Mitgliedstaaten (z. B. Deutschland, Italien und Frankreich) ein stärkerer Rückgang im Hinblick auf das BIP zu verzeichnen, bei der Beschäftigung war der Verlust jedoch geringer.

2.6.

21 Monate nach dem Ausbruch der Pandemie in Europa befinden sich die globalen Tourismus- und Verkehrsökosysteme weiterhin in einer beispiellosen Krise (13).

2.7.

In der EU sind auch „neue“ Mobilitäts- und Einkaufsmuster in städtischen Gebieten zu beobachten, die den staatlich auferlegten Reisebeschränkungen angepasst sind, wie z. B. eine Zunahme des Fußgänger-, Fahrrad- und Autoverkehrs sowie der Einkäufe im Internet zu Lasten der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. In vielen EU-Ländern konnten aufgrund der COVID-19-Beschränkungen insbesondere ältere Menschen nicht an der Nachfrage nach saisonabhängigem Tourismus und Verkehr teilnehmen.

2.8.

Bei Kreuzfahrten und Reisen mit Bahn, Schiff und Flugzeug waren Einbußen zu verzeichnen, die Nachfrage beim internationalen Tourismus ging um 70 % zurück, was zu Verlusten an Einnahmen und Arbeitsplätzen in der Verkehrs- und Tourismusbranche, aber auch in den von ihr abhängigen Sparten (z. B. Industrie und Einzelhandel) führte. Die Folgen für den Güterverkehr waren zwar bislang gering, es wird jedoch erwartet, dass der Sektor in den kommenden Jahren schrumpft, insbesondere, wenn sich die Wirtschaft in einer Rezession befindet. Daher sollten diese Sektoren in den Aufbauplänen der EU und der Mitgliedstaaten angemessen berücksichtigt werden.

2.9.

Ebenso wie diese Phänomene zeigten auch die jüngsten Brände in Südeuropa und die Überschwemmungen in nördlichen Teilen Europas — neben den tragischen Verlusten an Menschenleben und wirtschaftlichen Verlusten —, dass konventionelle Maßnahmen und der bestehende schwache rescEU-Mechanismus nicht zu den erwarteten Ergebnissen führen und für langfristige, nachhaltige Entwicklungsmodelle ungeeignet sind.

3.   Für eine EU-Tourismus- und -Verkehrspolitik der nächsten Generation

3.1.

Gebraucht wird ein neuer Ansatz der nächsten Generation, der stärker harmonisiert ist und auf den auf europäischer und nationaler Ebene festgelegten politischen Optionen für eine kurz-, mittel- und langfristige Resilienz und eine vollständige Erholung von Tourismus und Verkehr beruht. Wichtige, gemeinsame Grundsätze sollten im Mittelpunkt einer neuen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Agenda der EU stehen, um

das Vertrauen von Arbeitnehmern, Bürgern, Touristen/Reisenden sowie europäischen und internationalen, privaten und öffentlichen Investoren in die (hauptsächlich aus Kleinstunternehmen und Selbstständigen bestehenden) Tourismus- und Verkehrsökosysteme der EU wiederherzustellen;

dazu beizutragen, die bestehenden industriellen Ökosysteme der EU im Bereich Tourismus und Verkehr neu zu erdenken, um Resilienz und Aufbau im Hinblick auf einen „dreifachen“ (gesundheitlichen, digitalen und ökologischen) Wandel zu fördern;

wieder das Nachfrageniveau von vor der COVID-19-Krise zu erreichen und neue, für KMU erschwingliche Investitionen in nachhaltiges und langfristiges Wachstum in den Branchen über die Jahre 2021–2027 hinaus zu fördern.

3.2.

Das kürzlich von der Europäischen Kommission vorgelegte Paket „Fit für 55“ ermöglicht es der EU, die im Europäischen Klimagesetz verankerten Ziele für die Verringerung der Treibhausgasemissionen zu erreichen. Die Vorschläge dieses Pakets haben auch Folgen für den europäischen Verkehrs- und Tourismussektor. Bei der Konzipierung dieser Maßnahmen muss die richtige Richtung eingeschlagen werden, andernfalls werden die Vorschläge nicht zu einer EU-Tourismus- und -Verkehrspolitik „der nächsten Generation“ führen. Im Gegenteil: Die vorgeschlagenen Maßnahmen könnten zu einem erheblich höheren Regelungsaufwand für EU-Unternehmen (sowohl große als auch kleine) führen, ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Verkehrs- und Tourismusunternehmen mit Sitz in Drittländern an den EU-Grenzen beeinträchtigen und somit Arbeitsplätze in der EU in diesen Branchen gefährden. In hohem Maße vom Tourismus abhängige EU-Regionen wären davon besonders stark betroffen. Ein neuer Ansatz „der nächsten Generation“ sollte daher der Kostenwirkung dieses Legislativpakets für europäische Verkehrs- und Tourismusunternehmen Rechnung tragen und darf ihre (internationale) Wettbewerbsfähigkeit nicht beeinträchtigen. Nur so können Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit in Europa gesichert, die Verlagerung von CO2-Emissionen vermieden und der Erfolg des neuen Ansatzes „der nächsten Generation“ garantiert werden.

4.   Ein guter Beginn: ein neues Bewusstsein in der EU

4.1.

Die Flexibilität des befristeten Rahmens für staatliche Beihilfen sollte bis Ende 2022 vollständig garantiert sein, das wichtige Programm „SURE“ zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit sollte für den gleichen Zeitraum bestehen bleiben. Soziale Akteure und Organisationen von KMU sollten jedoch stärker eingebunden werden, damit das Paket die Erwartungen im Hinblick auf Wirkung und Effektivität erfüllt.

4.2.

Im Hinblick auf die Liquiditäts-, Finanz- und Rekapitalisierungsprogramme für Kleinbetriebe und KMU im Hotel- und Gaststättengewerbe müssen allerdings weiterhin dringend politische Maßnahmen ergriffen werden, um diese Maßnahmen und Programme bis Ende 2022–2023 zu verlängern.

4.3.

Die eingereichten NARP und der neue mehrjährige Finanzrahmen (2021–2027) erfordern insgesamt ein verstärktes und harmonisiertes System für den Austausch gemeinsamer Methoden und Verfahrensweisen (einschließlich des Europäischen Semesters), um die notwendige symmetrische Erholung der EU-Wirtschaft, einen fairen Wettbewerb zwischen öffentlichen und privaten Akteuren (insbesondere Restaurants und KMU im Hotel- und Gaststättengewerbe) auf nationaler/regionaler/lokaler Ebene sowie soziale Konvergenz und Inklusion zu gewährleisten.

4.4.

Mit den NARP wird festgelegt, wie die Mittel innerhalb bestehender Fristen zugewiesen und ausgegeben werden. Abhängig vom jeweiligen Mitgliedstaat gelten für den Tourismus entweder tourismusspezifische Maßnahmen zur Modernisierung des Sektors oder horizontale Maßnahmen, die für alle Sektoren relevant sind. Aus diesen Gründen hat der Ausschuss einen kurz- bis mittel-/langfristigen Rahmen mit vier tragenden Säulen entwickelt, auf die er sich in seinen endgültigen Schlussfolgerungen und Empfehlungen stützt:

4.5.   SÄULE I: Liquidität, Erholung am Arbeitsmarkt und Wiederherstellung des Vertrauens der Wirtschaft

4.5.1.

In Ermangelung eindeutiger und aktueller Informationen dazu, wie sich die finanzielle Unterstützung, die mit dem Aufbauprogramm der Europäischen Kommission im Rahmen des Europäischen Investitionsfonds (EIF) bereitgestellt wird, auf Kleinstunternehmen und KMU auswirkt, bringt der EWSA seine Besorgnis zum Ausdruck und schlägt Folgendes vor:

Einrichtung einer Task-Force zur Überwachung der Umsetzung der Aufbaumaßnahmen, insbesondere der auf Kleinst- und Kleinunternehmen im Tourismus- und Verkehrssektor ausgerichteten Maßnahmen;

Überwachung der NARP der Mitgliedstaaten, um zu prüfen, ob darin tourismusbezogene Reformen vorgesehen sind;

Einrichtung eines EU-Mechanismus zur Überwachung der Bereitstellung von Unterstützung für Kleinstunternehmen und KMU im aktuellen mehrjährigen Finanzrahmen (2021–2027);

Einführung einer speziellen EU-Haushaltslinie für den Tourismus, in der die Wichtigkeit dieses Ökosystems und sein Bedarf nach der COVID-19-Krise zum Ausdruck kommen;

Einführung von Systemen der „zweiten Chance“ und von Frühwarnsystemen für Tourismus- und kleine Verkehrsunternehmen und neue, leicht anzuwendende Solvabilitätsprogramme für KMU.

Diese verschiedenen Initiativen und Vorschläge sollten in einer „Europäischen Tourismusallianz“ gebündelt werden, die sich gezielt mit Problemen, Lösungen und Finanzierung befasst. Der EWSA wird gern dazu beitragen, wenn er in die Diskussionen und die Arbeit dieser Allianz eingebunden wird.

4.6.   SÄULE II: Daten- und Wissensnetze und Vorsorge, Gesundheit und Sicherheit, Risikominderung

4.6.1.

Der Tourismus wirkt sich auf die Wirtschaft, die natürliche und die bebaute Umgebung, die lokale Bevölkerung an den besuchten Orten und auf die Besucher selbst aus. Maßnahmen, um den Tourismus nachhaltiger zu gestalten und sein Potenzial zur Verwirklichung der Ziele der nachhaltigen Entwicklung zu nutzen, werden durch fehlende Statistiken zur Nachhaltigkeit des Tourismus behindert. Soll Nachhaltigkeit im Tourismus Priorität haben, muss auch deren Messung Vorrang erhalten.

4.6.2.

Die Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) unterstützt zusammen mit der Statistikabteilung der Vereinten Nationen (UNSD) führende Staaten und Institutionen dabei, einen statistischen Rahmen für die Messung der Nachhaltigkeit des Tourismus zu entwickeln. Internationale Stellen unterstreichen, dass es immer wichtiger wird, die Nachhaltigkeit von Tourismus in all ihren Aspekten — wirtschaftlich, sozial und ökologisch — zu messen; die EU könnte mit den Erfahrungen ihrer Mitgliedstaaten dazu beitragen und harmonisierte Standards in diesem Zusammenhang festlegen.

4.7.   SÄULE III: Mittel- bis langfristige Wege für den Übergang:

4.7.1.

Mit der Industriestrategie der EU müssen der grüne und der digitale Übergang weiter beschleunigt und die Resilienz der industriellen Ökosysteme der EU, bei denen Kleinstunternehmen und KMU insbesondere im Bereich Tourismus und Verkehr eine wesentliche Rolle spielen, verstärkt werden. Für die gemeinsame Gestaltung der Wege für den Übergang des Tourismus durch Organisationen der Zivilgesellschaft, Sozialpartner sowie alle staatlichen Stellen und Regulierungsbehörden muss es ein umfassendes Konzept geben, damit nachhaltige Szenarien verglichen und politische Lösungen für Tourismus, Hotel- und Gaststättengewerbe und Verkehr auf EU-, nationaler und regionaler Ebene neu bedacht werden können.

4.8.

SÄULE IV: Governance und Ressourcen: die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen in der nachhaltigen Tourismus- und Verkehrspolitik der nächsten Generation (NARP).

4.9.

Die Europäische Kommission hat sieben Leitinitiativen festgelegt, zu denen die EU-Staaten Investitionen und Reformen vorschlagen sollen. Mehrere dieser Leitinitiativen, wie die nachstehend genannten, können zu Investitionen in den Tourismus führen:

Renovieren: Renovierung der Tourismusinfrastruktur zur Verbesserung ihrer Energieeffizienz (Niedrigstenergiegebäude), der Zugänglichkeit und des Ressourcenmanagements sowie zur Entwicklung von Kreislaufwirtschaftsmodellen (z. B. für Lebensmittel und Abfallbewirtschaftung) und nachhaltiger ausländischer/EU-Direktinvestitionen;

Umschulen und Weiterbilden: Angebot von Schulungen für Touristikunternehmer, insbesondere Kleinstunternehmen, Arbeitnehmer und Destinationsmanager, zur Unterstützung des grünen und des digitalen Übergangs;

Modernisieren: Unterstützung der Digitalisierung der für Tourismuspolitik zuständigen staatlichen Stellen und Förderung des Datenaustauschs zwischen staatlichen Stellen, Destinationsmanagern und Unternehmen;

Aufladen und Betanken: Investitionen in umweltfreundliche Mobilität und eine bessere Anbindung von Reisezielen, insbesondere Tourismus-Hotspots (z. B. Verkehr auf Wasserwegen, Busse, öffentlicher Verkehr).

Die Einführung einer speziellen „Tourismus-Linie“ in TEN-V-Vorhaben (europäische Verkehrskorridore) wird es ermöglichen, deren Besonderheiten Rechnung zu tragen.

4.10.

Die Mitgliedstaaten und die EU-Organe werden einen starken Rahmen für die Partnerschaft mit europäischen, nationalen und regionalen Partnern und den Sozialpartnern (sozialer Dialog) benötigen. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen der EU und der Mitgliedstaaten sowie weitere Interessenträger werden aufgerufen sein, proaktiv zu handeln und auf allen Ebenen einen Mehrwert zu schaffen (über ihre umfassende Einbeziehung in das Europäische Semester, die Marktüberwachung usw. hinaus); dafür muss es gemeinsame langfristige Ziele, gemeinsame Zeitrahmen und eine neue wirtschaftliche Konvergenz geben, mit der die soziale Inklusion gewährleistet wird. Es ist dringend notwendig, vorauszuplanen und durch eine gründliche Neubewertung, eine konkrete gemeinsame politische Agenda und nationale Zusagen Maßnahmen zu ergreifen, um ein nachhaltigeres, attraktiveres und stärker vernetztes Geschäftsmodell für Tourismus und Verkehr zu entwickeln, das der Nachfrage des neuen globalen Marktes und den veränderten Lebensweisen gerecht wird.

Brüssel, den 23. Februar 2022.

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Mitteilung der Kommission Die Stunde Europas — Schäden beheben und Perspektiven für die nächste Generation eröffnen (COM(2020) 456 final), Fördermaßnahmen im Rahmen der Kohäsionspolitik 2021–2027 und ein Paket von Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen, wie die Impfpolitik, das digitale COVID-19-Zertifikat der EU, der Mindeststandard des europäischen COVID-19-Sicherheitslabels für den Tourismus und andere.

(2)  https://s3platform.jrc.ec.europa.eu/digitalisation-and-safety-for-tourism?p_l_back_url=%2Fsearch%3Fq%3Dtourism.

(3)  Schwerpunktthemen beim „Wandel des Tourismus“ für Organisationen von Kleinstunternehmen und sonstige Interessenträger sind: ein umweltfreundlicherer Tourismus (kreislauforientierter Tourismus, barrierefreier Tourismus für alle, CO2-neutrale Mobilität, Nachhaltigkeitswissen, nachhaltiger Verbrauch), Digitalisierung (Datenanalytik und Steuerung von Echtzeiterlebnissen, digitaler „Never-ending“-Tourismus und virtuelle Erlebnisse, technologiegestützte Destinationen, Transformation der gemeinsamen Wertschöpfung, digitale Befähigung und Kenntnisse von Tourismusanbietern und Verbrauchern) und Resilienz (Fähigkeit zur Anpassung an die sich verändernde Welt des Tourismus, Weiterbildung und Gewährleistung hochwertiger Arbeit im Tourismus, Steuerung von Destinationen zur Unterstützung des Wohlergehens aller, Eigenkapitalunterstützung, Barrierefreiheit und soziale Folgen des Tourismus für Klimawandel, Alterung und digitale Kluft).

(4)  Weitere Aufgaben der Ombudsperson oder Ombudsstelle wären: Überwachung der Tätigkeiten der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit ihren nationalen Aufbau- und Resilienzplänen, um zu bewerten, ob tourismusbezogene Reformen kohärent durchgeführt wurden, Überwachung der „zweiten Chance“ und „Frühwarnsysteme“ für Tourismus und kleine Verkehrsunternehmen sowie eines neuen, einfach zu nutzenden Solvabilitätsprogramms für KMU und Schaffung der Voraussetzungen für eine spezifische Haushaltslinie für den Tourismus, die sowohl der Bedeutung dieses Ökosystems als auch seinen Bedürfnissen nach der COVID-19-Krise Rechnung trägt.

(5)  Maßnahmen: Umstrukturierung des Fremdkapitals, Stärkung der Aggregations- und Cluster-Kapazitäten von Kleinstunternehmen, Förderung von Eigenkapital und Schaffung steuerlicher Anreize für private Investoren sowie Unterstützung von Frühwarnmechanismen für insolvenzgefährdete Kleinunternehmen.

(6)  Empfehlung des Rates vom 15. März 2018 zu einem Europäischen Rahmen für eine hochwertige und nachhaltige Lehrlingsausbildung (ABl. C 153 vom 2.5.2018, S. 1).

(7)  I. M. Königin Máxima hielt in ihrer Eigenschaft als Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für finanzielle Inklusion und Entwicklung (UNSGSA) eine Rede beim G20-Gipfeltreffen am 31. Oktober 2021 in Rom, www.unsgsa.org.

(8)  Die Globale Partnerschaft für finanzielle Inklusion ist eine inklusive Plattform aller G20-Staaten.

(9)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 219.

(10)  UN-Sendai-Rahmen für Katastrophenvorsorge 2015-2030; SME knowledge network and preparedness demonstrative centres (KMU-Wissensnetz und Demonstrationszentren für Vorsorge) https://www.europeansmeacademy.eu/news/improving-preparednes-response-to-eu-natural-and-man-made-disasters/.

(11)  Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen (ABl. L 326 vom 11.12.2015, S. 1).

(12)  Think Tank Europäisches Parlament: Wiederbelebung von Verkehr und Tourismus in der EU nach COVID-19, Februar 2021.

(13)  Davon sind Kleinunternehmen und Selbstständige in den jeweiligen Wertschöpfungs- und Lieferketten am stärksten betroffen, ebenso Arbeitnehmer und Gesellschaften und deren Widerstandsfähigkeit.


ANHANG

Die folgenden Textstellen der Stellungnahme der Fachgruppe wurden angenommen und die Änderungsanträge vom Plenum abgelehnt, auf sie war jedoch mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen entfallen:

ÄNDERUNGSANTRAG 3

INT/949

Tourismus und Verkehr — Folgestellungnahme

Ziffer 2.1

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

2.1

Der europäische und der internationale Tourismus werden den Stand von vor der Pandemie nicht wieder erreichen. Die Auswirkungen der Pandemie und die Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft sind noch nicht in vollem Umfang erkennbar. Vor der COVID-19-Krise hatte der Tourismus direkt oder indirekt einen Anteil von knapp 10 % am BIP der EU, stellte etwa 22,6  Mio. Arbeitsplätze und machte die EU mit 563 Mio. internationalen Besuchern und 30 % der weltweiten Einnahmen im Jahr 2018 zum weltweit führenden Reiseziel. Mit 30 % der internationalen Besucher im Jahr 2018 war die EU das weltweit beliebteste Reiseziel. 2018 gab es in der EU-27 über 600 000 Beherbergungsbetriebe, die Buchungen für Übernachtungen beliefen sich auf insgesamt 1 326 049 994 Nächte.

2.1

Der europäische und der internationale Tourismus werden den Stand von vor der Pandemie nicht sofort wieder erreichen. Die Auswirkungen der Pandemie und die Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft sind noch nicht in vollem Umfang erkennbar. Vor der COVID-19-Krise hatte der Tourismus direkt oder indirekt einen Anteil von knapp 10 % am BIP der EU, stellte etwa 22,6  Mio. Arbeitsplätze und machte die EU mit 563 Mio. internationalen Besuchern und 30 % der weltweiten Einnahmen im Jahr 2018 zum weltweit führenden Reiseziel. Mit 30 % der internationalen Besucher im Jahr 2018 war die EU das weltweit beliebteste Reiseziel. 2018 gab es in der EU-27 über 600 000 Beherbergungsbetriebe, die Buchungen für Übernachtungen beliefen sich auf insgesamt 1 326 049 994 Nächte.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

72

Nein-Stimmen:

84

Enthaltungen:

21

ÄNDERUNGSANTRAG 1

INT/949

Tourismus und Verkehr — Folgestellungnahme

Ziffer 1.2

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Im Tourismus wird der Stand von vor der Pandemie nicht wieder erreicht werden : Neue Geschäftsmodelle werden von globalen Verflechtungen sowie einem umweltbewussteren und digital ausgerichteten Verbraucherverhalten bestimmt sein. Der EWSA empfiehlt folgende kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen auf Ebene der EU, der Mitgliedstaaten und der Regionen:

Trotz guter Aussichten ist nicht zu erwarten, dass der Tourismus den Stand von vor der Pandemie wieder erreicht: Neue Geschäftsmodelle werden von globalen Verflechtungen sowie einem umweltbewussteren und digital ausgerichteten Verbraucherverhalten bestimmt sein. Der EWSA empfiehlt folgende kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen auf Ebene der EU, der Mitgliedstaaten und der Regionen:

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

77

Nein-Stimmen:

91

Enthaltungen:

20


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/11


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu den Auswirkungen von COVID-19 auf Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit in der EU und die Zukunft der Demokratie

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 275/02)

Berichterstatter:

José Antonio MORENO DÍAZ

Berichterstatter:

Cristian PÎRVULESCU

Beschluss des Plenums

25.3.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

10.2.2022

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

205/7/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist tief besorgt darüber, wie sich COVID-19 auf das Leben, die Sicherheit, das Wohlergehen und die Würde aller in der EU lebenden Menschen auswirkt. Er ist ebenfalls sehr besorgt über die Auswirkungen von COVID-19 auf Einzelpersonen und Gemeinschaften weltweit, insbesondere in Ländern, in denen es keine ausreichenden Gesundheits-, Sozial- und Bildungsinfrastrukturen zur Bewältigung der Pandemie gibt.

1.2.

Die EU und die Mitgliedstaaten müssen sich angesichts der zunehmenden Mobilität und einer höheren Wahrscheinlichkeit gefährlicher Zoonosen mit den systemischen Schwächen der Gesundheitsinfrastruktur Europas auseinandersetzen. Zudem sollte parallel zu den Bemühungen um die Bekämpfung der Pandemie ein angemessenes System für soziale und wirtschaftliche Unterstützung eingerichtet werden, um die Beeinträchtigungen durch die Pandemie abzufedern.

1.3.

Wie der EWSA bereits erklärt hat, fußt die Europäische Union auf gemeinsamen europäischen Werten, die unter keinen Umständen verhandelbar sind: Wahrung der Menschenwürde und der Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit (1). Diese Werte dürfen auch dann nicht missachtet werden, wenn die EU und ihre Mitgliedstaaten mit einer Notlage und den sich daraus ergebenden wirtschaftlichen, sozialen und bildungspolitischen Herausforderungen konfrontiert sind. Sicherlich bedarf es einer raschen Reaktion auf die derzeitige Krise, die bestimmte außerordentliche und zeitlich begrenzte Maßnahmen rechtfertigt. Diese dürfen aber weder gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen noch die Demokratie, die Gewaltenteilung und die Grundrechte der Unionsbürgerinnen und -bürger infrage stellen (2).

1.4.

Die EU sollte ihre Maßnahmen, Strategien und Programme anpassen, um eine gerechte und umfassende Erholung von der Krise zu ermöglichen und eine Aufwärtskonvergenz bei medizinischen, sozialen, wirtschaftlichen und demokratischen Standards zu erreichen. Angesichts der mit dem Instrument NextGenerationEU unternommenen Anstrengungen zur Beseitigung der unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Schäden, die durch die Coronavirus-Pandemie verursacht wurden, bekräftigt der EWSA seine Unterstützung für den Vorschlag der Kommission für eine Verordnung zur Schaffung eines neuen Instruments. Damit können wirtschaftliche Abhilfemaßnahmen gegenüber einem Mitgliedstaat ergriffen werden, der schwerwiegende und anhaltende Verletzungen der Werte nach Artikel 2 begeht (3). Außerdem muss der Begriff Rechtsstaatlichkeit weiter gefasst werden, sodass er sich auch auf die Achtung der Grundrechte und Garantien zum Schutz der pluralistischen Demokratie erstreckt. Die Rechtsstaatlichkeit bildet mit den Grundrechten und der Demokratie ein eng verwobenes und untrennbares Dreieck.

1.5.

Die EU-Organe und die Regierungen der Mitgliedstaaten sollten die bestehenden Einrichtungen für den sozialen und zivilgesellschaftlichen Dialog nutzen. Es gilt, die Organisationen der Zivilgesellschaft und die Sozialpartner umfassend in die Schaffung eines pluralistischen demokratischen Raums einzubinden, in dem unterschiedliche Sichtweisen und Kritik willkommen sind und Schutzmechanismen die Verbreitung von Falschmeldungen und unbegründeten, durch nichts zu rechtfertigenden, extremistischen, menschenrechtsfeindlichen und verschwörungstheoretischen Äußerungen begrenzen.

1.6.

Die Regierungen sollten die Rechtsgrundlage für ihre Maßnahmen eindeutig festlegen. Bei jeder Reform bestehender Gesetze über den Gesundheitsnotstand und damit zusammenhängender Bestimmungen oder bei der Einführung neuer Gesetze, auch zur Vorbereitung auf künftige Pandemien, sollten klare Grenzen und Bedingungen festgelegt werden. Zudem sollte eine parlamentarische und gerichtliche Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und ihrer Vereinbarkeit mit nationalen und internationalen Menschenrechtsstandards ausdrücklich vorgesehen werden.

1.7.

Bestimmungen und Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 sollten so klar, kohärent und konsistent wie möglich sein. Dabei ist es erforderlich, Informationen rechtzeitig bereitzustellen, die Zivilgesellschaft (einschließlich der Sozialpartner) im Hinblick auf die Entwicklung von Vorschriften und Maßnahmen einzubeziehen und zu konsultieren und dies evidenzbasiert zu begründen. Das Prinzip der Klarheit sollte auch für die Einrichtung vorhersehbarer Mechanismen einschließlich aller erforderlichen demokratischen, inhaltlichen und verfahrenstechnischen Garantien gelten, um auf mögliche künftige Pandemien, Gesundheitskrisen oder Naturkatastrophen in geordneter Weise reagieren zu können. Damit zusammenhängende Vorschriften, Maßnahmen und wichtige Informationen sollten für alle Bevölkerungsgruppen, einschließlich sprachlicher Minderheiten, zugänglich sein. Müssen Änderungen der Politik vorgenommen werden, sollten sie über verschiedene offizielle und öffentliche Kanäle rechtzeitig angekündigt werden, damit sich die Bürgerinnen und Bürger vorbereiten und ihr Verhalten entsprechend anpassen können.

1.8.

Die für die Einführung von Pandemiemaßnahmen zuständigen Minister sollten dem Parlament regelmäßig Bericht erstatten müssen. Die Parlamente der Mitgliedstaaten sollten Ausschüsse, Kommissionen oder Gruppen einrichten, die COVID-19-Maßnahmen kontrollieren und den Parlamenten und Versammlungen kommunaler und regionaler Mandatsträger regelmäßige Berichte vorlegen. Eine parlamentarische Debatte über diese Berichte und entsprechende Antworten der Regierung sollten ebenfalls zur Auflage gemacht werden, damit eine Kontrolle des staatlichen Handelns stattfinden kann. Die Staaten sollten den Zugang zur Justiz sicherstellen, indem sie für eine unabhängige Judikative sorgen, die Online- und Telearbeit von Gerichten ermöglichen und darüber hinaus Unterstützung für schutzbedürftige Prozessparteien, Zeugen oder an Straf- oder Zivilverfahren beteiligte Personen anbieten.

1.9.

Die Grundrechte, das Rechtsstaatsprinzip und die Wahrung der Demokratie sind in den EU-Verträgen, der Europäischen Charta der Grundrechte sowie in völkerrechtlichen Verpflichtungen festgelegt, die alle EU-Mitgliedstaaten auf hoheitlicher Basis eingegangen sind. Gemäß dem Völkerrecht ist jeder Staat verpflichtet, die Menschenrechte zu achten, zu schützen und zu verteidigen. Diese Werte haben grundlegende Bedeutung, sind eng miteinander verbunden und verstärken sich gegenseitig. Es geht dabei um internationale Verpflichtungen und nicht um eine Ideologie. Diskussionen über die Verfahren zur bestmöglichen Umsetzung der Menschenrechte sind daher sinnvoll; der Grundsatz der Achtung der Menschenrechte sollte jedoch nicht Gegenstand politischer Debatten sein. Die Behörden sind ebenfalls verpflichtet, auf Krisen im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu reagieren. Sie müssen sicherstellen, dass ihre Maßnahmen Gegenstand einer angemessenen demokratischen Debatte, einer öffentlichen Konsultation und einer parlamentarischen Kontrolle sind. Dabei müssen ebenfalls Falschmeldungen (auch solche, die zur Schwächung eines politischen Gegners eingesetzt werden) bekämpft werden, die eine wirksame Reaktion auf eine pandemische Notlage unterminieren können.

1.10.

Der EWSA betont, dass trotz bester Absichten beim Aufbauinstrument NextGenerationEU und den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen und trotz der Bereitschaft der Europäischen Kommission, zivilgesellschaftliche Organisationen, Sozialpartner und Interessenträger einzubeziehen, die tatsächliche Beteiligung noch höchst unzureichend ist und die Verfahren es nicht erlauben, die Standpunkte der zivilgesellschaftlichen Organisationen genügend zur Geltung zu bringen (4). Selbst wenn der Plan erfolgreich umgesetzt wird, besteht die Gefahr, dass zwar Fortschritte beim grünen und digitalen Wandel erreicht werden und das Wachstum mittel- und langfristig gefördert wird, die schwierige Situation der Menschen angesichts von Arbeitslosigkeit, Einkommensverlusten, sich verschlechternden Gesundheits-, Lebens- und Arbeitsbedingungen und wachsender Ungleichheit jedoch nicht verbessert wird. Die Resilienzpläne sollten umgehend einer Verteilungsfolgenabschätzung unterzogen werden und die Ergebnisse sollten mit Organisationen der Zivilgesellschaft, Sozialpartnern und Interessenträgern auf nationaler und europäischer Ebene erörtert werden.

1.11.

Der EWSA hebt die Zusammenhänge zwischen dem Schutz von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten und der Entwicklung und Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte hervor. Wie bereits dargelegt, sollten das Wohlergehen und die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger auf einem gemeinsamen und kohärenten Sozialmodell beruhen, das flexibel genug ist, um im Einklang mit den Werten, Grundsätzen und Zielen des Vertrags, der Säule und ihrem erneuerten und zukunftsorientierten Konsens den unterschiedlichen nationalen Traditionen und Erfahrungen Rechnung zu tragen (5). Bei der Überwachung der Umsetzung des Aktionsplans zur europäischen Säule sozialer Rechte sollten die weitreichenden nachteiligen Folgen der Pandemie berücksichtigt werden.

1.12.

Die Pandemie ist eine globale Krise, die zweifellos dauerhafte, aber unterschiedliche Folgen für die einzelnen Bevölkerungsgruppen haben wird. Die Unterstützung schutzbedürftiger Gruppen sollte entsprechend dem Grundsatz „niemanden zurückzulassen“ Vorrang haben. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf schutzbedürftigen Arbeitnehmern und der Einhaltung von Grundsatz 14 der europäischen Säule sozialer Rechte zum Mindesteinkommen liegen. Auch die von der Pandemie betroffenen Unternehmen sollten verstärkt unterstützt werden — insbesondere jene, die unverhältnismäßig stark in Mitleidenschaft gezogen wurden und jene, die Schwierigkeiten haben, den Betrieb aufrechtzuerhalten, beispielsweise KMU. Die Folgen für Unternehmen der Sozialwirtschaft, die stark unter der Krise gelitten haben, sollten ebenfalls berücksichtigt werden (6).

1.13.

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Aktionsplan für Demokratie in Europa eine breit angelegte Initiative zur Förderung der Demokratie- und Grundrechtebildung einschließen sollte, die für den Schutz der demokratischen Werte und der aktiven Bürgerschaft von entscheidender Bedeutung ist. Die Initiative sollte inklusiv sein und sich an alle Bürgerinnen und Bürger und insbesondere an junge Menschen richten.

2.   Rechtsstaatlichkeit

2.1.

Die Übereinstimmung staatlicher Maßnahmen mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit kann anhand eindeutiger Kriterien bewertet werden; diese Grundsätze müssen in normalen Zeiten, vor allem aber in Notlagen eingehalten werden. Die betreffenden Kriterien sind Rechtmäßigkeit, Rechtssicherheit, Verbot der willkürlichen Ausübung exekutiver Gewalt sowie die Rechenschaftspflicht von Regierungen gegenüber dem Gesetz, die durch gerichtliche und parlamentarische Kontrolle gewährleistet wird (7). Die Ausübung von Notstandsbefugnissen muss erforderlich, verhältnismäßig und zeitlich begrenzt sein. Dabei müssen stets nicht nur die Grenzen des Verfassungsrechts eines Landes, sondern auch die durch das europäische Recht und das Völkerrecht festgelegten Normen beachtet werden.

2.2.

Durch die COVID-19-Pandemie haben sich komplexe Herausforderungen für die Rechts-, Politik-, Sozial-, Gesundheits- und Bildungssysteme aller Mitgliedstaaten ergeben. In diesem schwierigen Umfeld mag ein hohes Maß an Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit als unerreichbares Ziel erscheinen. Neue Erkenntnisse innerhalb und außerhalb Europas deuten jedoch darauf hin, dass Staaten, in deren Politik- und Gesetzgebungsprozessen die Rechtsstaatlichkeit gewahrt blieb, die gesundheitliche Notlage besser bewältigt haben und niedrigere Sterblichkeits- und Infektionsraten verzeichnen, aber auch ein hohes Maß an öffentlichem Vertrauen in die Regierung aufweisen, was für eine möglichst wirksame Reaktion auf Krisen wesentliche Bedeutung hat (8). Jede demokratische Regierung sollte sich von den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit leiten lassen, um rechtmäßig und wirksam auf die derzeitige Gesundheitskrise und mögliche ähnliche Krisen in der Zukunft zu reagieren.

2.3.

Hinsichtlich der Reaktionen der Mitgliedstaaten auf die Pandemie wurden Bedenken bei drei Grundprinzipien geäußert, die zentrale Bedeutung für die Rechtsstaatlichkeit haben: (1) Grundsatz der Rechtmäßigkeit, (2) Grundsatz der Rechtssicherheit und (3) Grundsatz der Verantwortlichkeit gegenüber dem Gesetz (9).

2.4.

In Bezug auf die Rechtmäßigkeit wurden bei staatlichen Maßnahmen auf nationaler und subnationaler Ebene eine Reihe von Problemen festgestellt. Dazu gehörten Maßnahmen, die ohne Rechtsgrundlage oder gesetzliche Ermächtigung ergriffen wurden, die Ausrufung und/oder Verlängerung eines „Ausnahmezustands“ in offensichtlichem Widerspruch zu den nationalen Verfassungsbestimmungen, eine nicht vorgesehene Verwendungsweise von Rechtsgrundlagen durch die Exekutive sowie Einschränkungen der Grundrechte unter offensichtlicher Verletzung verfassungsrechtlicher oder internationaler Menschenrechtsbestimmungen.

2.5.

Im Hinblick auf die Rechtssicherheit ergeben sich Probleme mit nationalen Maßnahmen, wenn restriktive Maßnahmen mit ungenauer Auslegung ergriffen werden, Widersprüche zwischen der Regierungspolitik und den zugrunde liegenden rechtlichen Maßnahmen bestehen und Rechtsvorschriften so häufig geändert werden, dass es für Durchschnittsbürger außerordentlich schwierig ist, nachzuvollziehen, was erlaubt ist und was nicht. In einer Notlage nehmen Risiken und Unsicherheit zu, und die Öffentlichkeit erwartet von der Regierung — und den Behörden im Allgemeinen — klare Leitlinien dafür, wie sie sich gesetzeskonform verhalten.

2.6.

Was die Verantwortlichkeit gegenüber dem Gesetz betrifft, so zeigen sich die Probleme bei der parlamentarischen und gerichtlichen Kontrolle staatlicher Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 in der Marginalisierung der Parlamente. Bis Februar 2021 hatte weniger als die Hälfte der EU-Mitgliedstaaten spezielle parlamentarische Ausschüsse eingerichtet, Berichte veröffentlicht oder regelmäßige Debatten über Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 angesetzt; und in weniger als einem Drittel der Fälle waren Maßnahmen der Regierung (z. B. durch eine Debatte oder Abstimmung im Parlament) kontrolliert oder durch Parlamente geändert worden (10). Durch gerichtliche Überprüfung stellen die Gerichte sicher, dass die Regierungen rechtmäßig handeln. Sie sind in Krisenzeiten, in denen die Grundrechte erheblich eingeschränkt werden können, besonders wichtig. Bedenken gegenüber der Wirksamkeit der gerichtlichen Überprüfung und dem Zugang zur Justiz im Zusammenhang mit COVID-19-Maßnahmen wurden in der gesamten EU geäußert (11). Die Schließung von Gerichten oder die Beschränkung des Zugangs zu Gerichten auf bestimmte Arten von Verfahren haben sich nachteilig auf die Möglichkeiten der Bürger zur Streitbeilegung ausgewirkt und den Zugang zur Justiz insbesondere in Fällen erschwert, in denen die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft unverhältnismäßig stark von Maßnahmen betroffen waren, die in Reaktion auf die Pandemie ergriffen wurden. Die Justizsysteme in den meisten Mitgliedstaaten waren schlecht auf die Krise vorbereitet, da sie einen geringen Digitalisierungsgrad aufwiesen und einige Teile der Gesellschaft, insbesondere schutzbedürftige Gruppen, nicht ausreichend über das Funktionieren der Justiz informiert waren und daher keinen Zugang zur Gerichtsbarkeit hatten.

2.7.

Insgesamt kann der Schluss gezogen werden, dass Maßnahmen zur Bewältigung von Notlagen im Bereich der öffentlichen Gesundheit die größte Wirkung entfalten, wenn sie auf dem Rechtsstaatsprinzip beruhen (12). Rechtsstaatlichkeit stellt nicht nur in normalen Zeiten, sondern auch — und vielleicht sogar noch mehr — in Krisenzeiten einen wesentlichen Wert dar. Angesichts der mit dem Instrument NextGenerationEU unternommenen Anstrengungen zur Beseitigung der unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Schäden, die durch die COVID-19-Pandemie verursacht wurden, bekräftigt der EWSA seine Unterstützung für den Vorschlag der Kommission für eine Verordnung zur Schaffung eines neuen Instruments, das es ermöglicht, wirtschaftliche Abhilfemaßnahmen gegenüber einem Mitgliedstaat zu ergreifen, der schwerwiegende und anhaltende Verletzungen der Werte nach Artikel 2 begeht (13).

3.   Grundrechte

3.1.

Die COVID-19-Pandemie hat alle Institutionen und Infrastrukturen, die die Grundrechte in der EU unterstützen und schützen, unter gewaltigen Druck gesetzt. Die sich rasch verschlechternde medizinische Versorgung und die weitreichende soziale und wirtschaftliche Krise haben Leben, Gesundheit und Wohlergehen der meisten Menschen in Europa bedroht und Armutsrisiken erhöht. Besonders betroffen waren bestimmte Gruppen, die bereits unter den konkreten und kontinuierlichen Störungen der sozialen Dienste aufgrund ihrer langjährigen Unterfinanzierung und mangelnden Krisentauglichkeit litten. In diesem Zusammenhang wiederholt der EWSA seine Forderung nach einem verbindlichen europäischen Rahmen für ein angemessenes Mindesteinkommen in Europa (14).

3.2.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten eine umfassende gesellschaftliche Reflexion über die Ursprünge der Krise und die Frage einleiten, warum die meisten europäischen Gesundheitssysteme aufgrund der Pandemie an den Rand des Zusammenbruchs geraten sind. Eine jahrelange Sparpolitik hat zu einem allgemeinen Investitionsrückgang im Gesundheitssektor und bei anderen wichtigen sozialen Dienstleistungen (Hilfe für abhängige und schutzbedürftige Personen, Pflegeheime usw.) geführt. Dadurch wurde eine Zeitbombe gelegt, die angesichts der großen Herausforderungen im Gesundheitsbereich explodiert ist. Im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas sollten alle Beteiligten ermutigt werden, Lehren aus dieser Krise zu ziehen, um die Grundlagen für den Wiederaufbau des Wohlfahrtsstaates zu schaffen. Resilienz ist ein bedeutungsloses Wort, wenn nicht alle Anstrengungen auf den Aufbau eines erneuerten europäischen Gesellschaftsmodells gerichtet werden, bei dem die Menschen im Mittelpunkt stehen. Die EU muss für künftige Krisen gewappnet sein, was Entscheidungsprozesse, transparente Verfahren, politische Maßnahmen und finanzielle Mittel angeht.

3.3.

Der Schutz der in der Charta der Grundrechte verankerten Rechte wurde durch die Ausbreitung der Krise und die Reaktionen der Politik infrage gestellt. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die Gesundheitsversorgung, die Nichtdiskriminierung, die Gleichstellung der Geschlechter, die Rechte des Kindes, die Rechte älterer Menschen und die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie gerechte Arbeitsbedingungen, soziale Sicherheit und Sozialhilfe. Im Hinblick auf die Geschlechtergleichstellung waren Frauen in den Ad-hoc-Entscheidungsstrukturen zur Bewältigung von COVID-19 bedauerlicherweise unterrepräsentiert, und bei vielen Folgenabschätzungen fehlte ein geschlechtsspezifischer Ansatz. Zudem muss ausdrücklich anerkannt werden, dass die Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen unverhältnismäßige geschlechtsspezifische Auswirkungen hatten.

3.4.

Die Rechte von Kindern, insbesondere hinsichtlich des Zugangs zu Bildung und sozialer Unterstützung, haben für den Ausschuss einen hohen Stellenwert. Wie der EWSA bereits vorgeschlagen hat, sollte den Auswirkungen von COVID-19 auf die Rechte, das Wohlergehen sowie die intellektuelle und emotionale Entwicklung von Kindern besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden (15).

3.5.

Der EWSA wiederholt die in seiner Stellungnahme „Neue Strategie zur Umsetzung der Charta der Grundrechte“ ausgesprochene Empfehlung, dass sich die Kommission in ihrem Bericht im Jahr 2022 auf die Auswirkungen von COVID-19 auf die Grundrechte, insbesondere die Folgen für das sozioökonomische Wohlergehen, konzentrieren sollte (16).

3.6.

Der EU kommt bei der Förderung und dem Schutz der Menschenrechte weltweit große Verantwortung zu. Der EWSA ist vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie ferner der Ansicht, dass die EU mehr tun könnte, um weltweit bei der Bewältigung der Pandemie zu helfen. Der EWSA begrüßt und unterstützt die Bemühungen der EU bei Soforthilfemaßnahmen zur Deckung des humanitären Bedarfs, zur Verbesserung des Gesundheitswesens sowie der Wasser- und Sanitärversorgung und zur Abfederung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie.

3.7.

Kurzfristig sollten mehr Mittel bereitgestellt werden, um den umfassenden und gerechten Zugang zu Impfstoffen zu sichern. Die von der EU zugesagten 100 Mio. Impfdosen reichen bei Weitem nicht aus, um den dringenden Bedarf der meisten Länder in der Welt zu decken (17). Die EU muss als Hauptexporteur von Impfstoffen weltweit bereit sein, ihr Vorgehen zu ändern. Impfstoffe müssen in einem größeren Umfang und in höherer Zahl hergestellt werden, damit Nicht-EU-Staaten ein ausreichendes Impfniveau erreichen. Im Rahmen des bereits erwähnten notwendigen Aufbaus eines neuen europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells sollten alle europäischen Akteure umfassende Überlegungen zu den obersten Zielen des Binnenmarktes und der damit verbundenen Maßnahmen anstellen. Im Mittelpunkt dieser Überlegungen sollte der Mensch stehen. Dabei sollten der Begriff der öffentlichen Güter und der kollektiven Gesundheit sowie alternative Möglichkeiten der Messung von Wohlstand (auch auf der Grundlage der von den Sozialpartnern vorgelegten Vorschläge) berücksichtigt werden (18).

3.8.

Es sollte mehr für die Förderung und den Schutz der grundlegenden sozialen Rechte unternommen werden, um den nachteiligen gesundheitlichen, sozialen, wirtschaftlichen und bildungspolitischen Folgen der Pandemie unmittelbar und wirksam zu begegnen. Die europäische Säule sozialer Rechte sollte als natürliche politische Entwicklung zum Schutz der grundlegenden sozialen Rechte betrachtet werden.

3.9.

Das Mandat der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte und der Geltungsbereich der Berichte der Kommission über die Rechtsstaatlichkeit sollten ausgeweitet werden und eine angemessene Überwachung der Wahrung dieser grundlegenden sozialen Rechte ermöglichen.

3.10.

Der EWSA hebt die Zusammenhänge zwischen dem Schutz von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten und der Entwicklung und Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte hervor. Wie bereits dargelegt, sollten das Wohlergehen und die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger auf einem gemeinsamen und kohärenten Sozialmodell beruhen, das flexibel genug ist, um im Einklang mit den Werten, Grundsätzen und Zielen des Vertrags, der Säule und ihrem erneuerten und zukunftsorientierten Konsens den unterschiedlichen nationalen Traditionen und Erfahrungen Rechnung zu tragen (19). Bei der Überwachung der Umsetzung des Aktionsplans zur europäischen Säule sozialer Rechte sollten die weitreichenden nachteiligen Folgen der Pandemie berücksichtigt werden.

4.   Die Zukunft der Demokratie

4.1.

Die Pandemie ist ein Phänomen von globaler Tragweite — und dies gilt auch für ihre politischen und demokratischen Folgen. Einer aktuellen Studie zufolge hat sie gravierende Auswirkungen auf die Demokratie, wie z. B.: die Zahl der Länder, in denen autoritäre Tendenzen zunehmen, übersteigt die Zahl der Länder, die sich hin zu einer Demokratie entwickeln; in einer Reihe der größten Länder gibt es Rückschritte im Bereich der Demokratie; die Integrität des Wahlprozesses wird in mehreren Ländern infrage gestellt; die Aushöhlung der Demokratie findet oft die Unterstützung durch die Bevölkerung; in nichtdemokratischen Regimen wächst der Autoritarismus; und durch die anhaltende Gesundheitskrise werden Beschränkungen der Grundfreiheiten zur Normalität (20). Die EU sollte diese globalen Trends, die sich auf ihre eigene globale und regionale Politik auswirken, berücksichtigen und ein weltweites Vorbild in Sachen Demokratie sein.

4.2.

Die Zukunft der Demokratie und die Zukunft der EU sind eng miteinander verknüpft. Die EU wurde als Instrument des Friedens und der Zusammenarbeit und vor allem als Instrument der Demokratie geschaffen — und dies in jeder Phase. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die durch die Pandemie entstandenen Herausforderungen und Spannungen nicht auf die Qualität und Leistungsfähigkeit unserer demokratischen Systeme und, was ebenso wichtig ist, auf die Verpflichtung auswirken, eine integrierte, demokratische, soziale und prosperierende Union aufzubauen. Dazu gehört unter anderem, dass europäische Rechtsvorschriften im Einklang mit den Verträgen Vorrang vor nationalen Rechtsvorschriften haben sollten.

4.3.

Seit Anfang des Jahres 2020, als COVID-19 mit seinen verheerenden Folgen nach Europa gelangte, wurde eine Vielzahl politischer Instrumente zur Bekämpfung der Pandemie eingesetzt. In den meisten Fällen wurden die medizinischen Maßnahmen sowie Notfall- und Verwaltungsmaßnahmen im Rahmen von Ausnahmeregelungen ergriffen, die sich in Inhalt und Dauer unterschieden.

4.4.

In mehreren EU-Mitgliedstaaten wurden erhebliche Bedenken gegenüber den Begründungen und Auswirkungen dieser Ausnahmeregelungen vorgebracht. Dazu gehörten die fehlende Einbindung von parlamentarischen und lokalen/regionalen Versammlungen, die mangelnde Kontrolle von Maßnahmen der Exekutive, Einschränkungen bei der Information der Öffentlichkeit, ein Mangel an Transparenz, sozialem Dialog und Teilhabe, nicht überprüfte Ausgaben und unzureichende Unterstützung der am stärksten betroffenen Personen, einschließlich des medizinischen Personals. In Ländern, die bereits deutliche Demokratiemängel aufwiesen, haben die Ausnahmeregelungen zur Beschleunigung bestehender Tendenzen beigetragen (21). In Ländern mit stabilen demokratischen Systemen wurden die Fähigkeit zur Anpassung an neue Gegebenheiten und die Wirksamkeit der ergriffenen Maßnahmen infrage gestellt.

4.5.

Die politischen Reaktionen lösten auch ein beispielloses Maß an Desinformation und Widerstand hinsichtlich der Gesundheitsmaßnahmen — von Ausgangsbeschränkungen über Behandlungsmethoden hin zu Impfstoffen — aus. Die EU hat zwar die Erforschung, Beschaffung und Verteilung von Impfstoffen im Allgemeinen erfolgreich unterstützt. Sie hat es aber versäumt, dies der gesamten europäischen Bevölkerung klar zu vermitteln, was zur Verbreitung von Falschmeldungen, insbesondere durch Gruppen von Impfgegnern, beigetragen hat. Diese Narrative erhielten in den sozialen Medien so viel Aufmerksamkeit, dass sie das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Gesundheitssystem und seine Fachkräfte erschütterten und die Unzufriedenheit mit Forschern, Politikern, Wissenschaftlern und führenden Vertretern der Zivilgesellschaft schürten, die die von der WHO befürwortete Bewältigungsstrategie unterstützten. Sie äußerten sich in der Regel in einer Mischung aus verschwörungstheoretischen Überzeugungen und einem starken Misstrauen gegenüber Medizinwissenschaft und Medizintechnik, vor allem Impfstoffen. Der OECD zufolge hat die COVID-19-Krise insgesamt den allgemeinen Vertrauensverlust der Öffentlichkeit in Institutionen beschleunigt, was zu Desinformation, Polarisierung und mangelnder Bereitschaft zur Einhaltung der öffentlichen Maßnahmen geführt hat.

4.6.

In mehreren Ländern haben diese Einstellungen dazu beigetragen, dass rechtsextreme und euroskeptische Parteien und Organisationen ihre Wählerschaft weiter vergrößern konnten. Mit dem Anhalten der medizinischen und sozioökonomischen Krise werden die Mobilisierung und der Einfluss dieser Parteien weiter zunehmen (22).

4.7.

In allen Ländern bergen die Spannungen infolge der Gesundheits- und Wirtschaftskrise das erhebliche Risiko einer Spaltung zwischen verschiedenen Bevölkerungs- und Gesellschaftsgruppen. Nach einer aktuellen Studie hat die Pandemie unterschiedliche Folgen gezeigt — für junge und ältere Menschen, für Menschen, die angeben, dass sie wirtschaftlich betroffen sind, und solche, die COVID-19 hauptsächlich als Krise des Gesundheitswesens einschätzen, sowie für Menschen, die den Staat als Schützer ansehen, und für solche, die ihn als Unterdrücker betrachten (23).

4.8.

Die EU und die Mitgliedstaaten sollten sich der Gefahren bewusst sein, die eine länger andauernde Krise mit sich bringt. Die größte Herausforderung für die EU-Institutionen und die Regierungen der Mitgliedstaaten besteht darin, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte angesichts von Hinterfragung und Kritik während der Pandemie zu stärken. Eine Demokratiestrategie sollte nicht darauf abzielen, die politischen und staatlichen Eliten zu legitimieren, sondern für wirksame Reaktionen zu sorgen und gleichzeitig den demokratischen Pluralismus, eine angemessene gegenseitige Kontrolle und eine sinnvolle, konstruktive und zivilgesellschaftliche Kritik zu fördern.

4.9.

In dieser Hinsicht sollten die EU-Organe und die Regierungen der Mitgliedstaaten die bestehenden Institutionen des sozialen und zivilgesellschaftlichen Dialogs nutzen, um die Organisationen der Zivilgesellschaft, Sozialpartner und Interessenträger in die Schaffung eines pluralistischen, demokratischen Raums einzubinden, in dem unterschiedliche Standpunkte und Kritik willkommen sind. Der EWSA betont, dass trotz bester Absichten beim Instrument NextGenerationEU und den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen und trotz der Bereitschaft der Europäischen Kommission, zivilgesellschaftliche Organisationen, Sozialpartner und Interessenträger einzubeziehen, die tatsächliche Beteiligung noch höchst unzureichend ist und die Verfahren es nicht erlauben, die Standpunkte der zivilgesellschaftlichen Organisationen genügend zur Geltung zu bringen.

4.10.

Wie der Ausschuss in seiner Stellungnahme zum Europäischen Aktionsplan für Demokratie empfiehlt, sollten zur Förderung der europäischen Demokratie — neben den bereits im Aktionsplan vorgesehenen Bereichen — die Unterstützung der demokratischen Teilhabe auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene, die Einbeziehung der Zivilgesellschaft und die Demokratie in all ihren Facetten und Bereichen, darunter auch die Demokratie in der Arbeitswelt, gehören. Der EWSA hält es auch für notwendig, mehr Gewicht auf den zivilgesellschaftlichen Dialog zu legen, der eine wesentliche Voraussetzung für die bestmögliche Entscheidungsfindung und Eigenverantwortung in jeder Demokratie im Sinne von Artikel 11 EUV ist (24).

4.11.

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Aktionsplan für Demokratie in Europa eine breit angelegte Initiative zur Förderung der Demokratie- und Grundrechtebildung einschließen sollte, die für den Schutz der demokratischen Werte und der aktiven Bürgerschaft von entscheidender Bedeutung ist. Die Initiative sollte inklusiv sein und sich an alle Bürgerinnen und Bürger und insbesondere an junge Menschen richten.

Brüssel, den 23. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV); Erklärung von Luca Jahier, Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, und José Antonio Moreno Díaz, Vorsitzender der Gruppe Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit (GGR), 15. April 2020.

(2)  Erklärung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, Reaktion der Europäischen Union auf die COVID-19-Pandemie und Notwendigkeit beispielloser Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, 6. April 2020.

(3)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 173.

(4)  EWSA Entschließung zum Thema „Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne — was funktioniert und was nicht?“, 25.2.2021, (ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 1).

(5)  ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 38.

(6)  Social Economy Europe, The Impact of COVID-19 on Social Economy Enterprises, Juni 2020.

(7)  Europarat, Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission), Respect for Democracy, Human Rights and the Rule of Law during States of Emergency: Reflections, Straßburg, 19. Juni 2020, CDL-AD(2020)014.

(8)  Siehe beispielsweise die globalen vergleichenden Studien und Datenbanken: CompCoRe mit Zusammenfassung in: Jasanoff, Sheila, Hilgartner, Stephen: A Stress Test for Politics: Insights from the Comparative Covid Response Project (CompCoRe) 2020 (Verfassungsblog, 11. Mai 2021) und Power and the COVID-19 Pandemic, Verfassungsblog Symposium, mit Zusammenfassung in: J. Grogan: Power, Law and the COVID-19 Pandemic: Part I und Part II zum Abschluss des Symposiums Power and the COVID-19 Pandemic des Verfassungsblogs (2021).

(9)  J. Grogan, Extraordinary or extralegal responses? The rule of law and the COVID-19 crisis (Democracy Reporting International, Mai 2021).

(10)  Ebd.

(11)  Ebd.

(12)  J. Grogan und N. Weinberg: Principles to Uphold the Rule of Law and Good Governance in Public Health Emergencies (RECONNECT Policy Brief, August 2020): https://reconnect-europe.eu/wp-content/uploads/2020/08/RECONNECTPB_082020B.pdf.

(13)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 173.

(14)  ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 1. Zu dieser Stellungnahme des EWSA wurde eine Gegenstellungnahme erarbeitet, die abgelehnt wurde, aber mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen erhielt.

(15)  ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 50.

(16)  ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 50.

(17)  Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zu COVID-19, 25. Mai 2021.

(18)  Supplementing GDP as a welfare measure: proposed joint list by the European social partners, 3. März 2021.

(19)  ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 38.

(20)  International Institute for Democracy and Electoral Assistance (International IDEA), The Global State of Democracy Report 2021.

(21)  Siehe Petra Guasti: The Impact of the COVID-19 Pandemic in Central and Eastern Europe. The Rise of Autocracy and Democratic Resilience, Democratic Theory, Band 7, Ausgabe 2, Winter 2020, S. 47.

(22)  Siehe beispielsweise José Javier Olivas Osuna und José Rama: COVID-19: „A Political Virus? VOX’s Populist Discourse in Times of Crisis“, Frontiers in Political Science, 18. Juni 2021.

(23)  Ivan Krastev und Mark Leonard, Europe’s Invisible Divides: How COVID-19 is Polarizing European Politics, ECFR Policy Brief, September 2021.

(24)  ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 56.


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/18


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Gesellschaftliche Herausforderungen im Zusammenhang mit der Ökologisierung des See- und Binnenschiffsverkehrs“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 275/03)

Berichterstatter:

Pierre Jean COULON

Beschluss des Plenums

25.3.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

2.2.2022

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

207/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bekräftigt die Schlussfolgerungen und Empfehlungen aus seinen Stellungnahmen zu den Themen „FuelEU Maritime“ (1) und „NAIADES III“ (2).

1.1.1.

In diesen Bereichen kann das angestrebte Ziel „letztlich nur durch eine enge Zusammenarbeit mit allen Interessenträgern und Beteiligten der maritimen Wirtschaft und ihrer Lieferketten erreicht werden“.

1.1.2.

Dies gilt auch für das erforderliche „Interesse an der Schaffung intermodaler Terminals“, die dazu beitragen könnten, dass „der Ausbau der Binnenschifffahrt in Städten zu einer besseren Lebensqualität beiträgt“.

1.2.

Der EWSA sieht in der Gesundheit und Lebensqualität der Anwohner von Schifffahrtswegen und Häfen zentrale Aspekte, die bei der Ökologisierung des See- und Binnenschiffsverkehrs zu beachten sind.

1.3.

Die Hafenbehörden, die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften und die Verkehrsakteure sollten sich deshalb zusammensetzen, um das Verhältnis von Stadt, Häfen und Verkehrsakteuren neu zu bestimmen.

1.4.

Der grüne Wandel wird nicht ohne angemessene Schulungen der Beschäftigten auskommen.

1.5.

Diese Empfehlungen müssen umfassend umgesetzt werden, um künftig Nutzen aus der blauen Wirtschaft zu ziehen.

2.   Einleitung

2.1.

Mit der am 24. Juni 2021 veröffentlichten Mitteilung der Europäischen Kommission „NAIADES III“ über die Modernisierung der Binnenschifffahrt in Europa und dem am 14. Juli 2021 veröffentlichten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Nutzung erneuerbarer Kraftstoffe im Seeverkehr („FuelEU Maritime“) wird die Senkung der CO2-Emissionen in diesen Branchen angestoßen.

2.2.

Ziel des Aktionsplans „NAIADES III“ ist es, die Binnenschifffahrt durch 35 Maßnahmen zu stärken. Ausgangspunkt ist eine naheliegende Feststellung der für Verkehr zuständigen Kommissarin Adina Vălean: Die Binnenschifffahrt gehört zu den Verkehrsträgern mit dem geringsten CO2-Ausstoß, und die Binnenwasserstraßen können einen entscheidenden Beitrag zur Senkung der verkehrsbedingten CO2-Emissionen leisten. Obwohl das Binnenwasserstraßennetz insgesamt 41 000 Kilometer umfasst, werden bisher nur 6 % der Güter in der EU über Flüsse und Kanäle befördert.

2.3.

Anliegen der Mitteilung ist, dass mehr Güter auf Flüssen und Kanälen in Europa transportiert werden und dass die Umstellung auf emissionsfreie Schiffe bis 2050 erleichtert wird.

2.4.

Die Kommission schlägt deshalb vor, die Richtlinie über den intermodalen Verkehr von 1992 (3) zu überarbeiten, das einzige Rechtsinstrument der EU, das die Umstellung des Güterkraftverkehrs auf Verkehrsträger mit weniger Emissionen (Binnenschifffahrt, Seeverkehr, Schiene) direkt fördern soll, das durch die unzureichende Umsetzung in den Mitgliedstaaten jedoch kaum Wirkung entfaltet hat. Ein Hauptgrund für diese mangelhafte Umsetzung ist, dass im Mobilitätspaket von 2018 ein Konflikt zwischen dem Ziel eines fairen Wettbewerbs zwischen Unternehmen und Beschäftigten im Kraftverkehr im Binnenmarkt (durch Beschränkung der Kabotage von und zu intermodalen Terminals) und der Verlagerung vom modalen auf den intermodalen Verkehr durch Senkung der Kosten besteht.

2.5.

Der Vorschlag für eine Verordnung über den Seeverkehr ist Teil des politischen und legislativen Pakets „Fit für 55“‚ mit dem die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 % gesenkt werden sollen. Er dient in erster Linie der Emissionsreduktion und sieht vor, dass die Schifffahrtsunternehmen über den eingesetzten Schiffstyp und die verwendeten Kraftstoffe Bericht erstatten müssen. Er bringt deshalb kaum Belastungen mit sich. Der Grund dafür ist, dass der Seeverkehr nach Angaben der Europäischen Kommission allgemein nur 10 % der verkehrsbedingten Emissionen in der EU verursacht.

2.6.

Der EWSA kann die von der Europäischen Kommission verfolgte Politik der Ökologisierung des See- und Binnenschiffsverkehrs nur unterstützen.

2.7.

Dies hat er in seinen kürzlich verabschiedeten Stellungnahmen zu den Themen „FuelEU Maritime“ (4) und „NAIADES III“ (5) betont. Außerdem möchte der EWSA die Gelegenheit zu einigen Überlegungen über die gesellschaftlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Ökologisierung des See- und Binnenschiffsverkehrs nutzen und die Aufmerksamkeit der Zivilgesellschaft auf die Tatsache lenken, dass die Ökologisierung des See- und Binnenschiffsverkehrs auch eine maritime Raumplanung voraussetzt, damit der Verkehr vor dem Hintergrund der blauen Wirtschaft an den Klimawandel angepasst werden kann (6).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die Initiativstellungnahme gliedert sich in zwei Abschnitte, in denen es jeweils um unterschiedliche Themen geht: erstens um das Wesen der Binnenschifffahrt und der Binnenhäfen und zweitens um soziale Fragen, die die Beschäftigten im See- und Binnenschiffsverkehr betreffen. Der EWSA betont, dass die Schifffahrt ein branchenspezifischer Markt ist, der vom lokalen Fährverkehr auf Flüssen und über kurze Seeverkehrswege, mit dem Städte und Inselgruppen bedient werden, bis hin zu Langstreckenverbindungen mit Fähren, Massengutfrachtern, Containerschiffen sowie Kreuzfahrtschiffen reicht.

In dieser Stellungnahme soll es nicht um alle diese Aspekte gehen, sondern es soll die gesellschaftliche Dimension im Zusammenhang mit dem Nah- und Regionalverkehr untersucht werden.

3.2.

Die Ökologisierung des Binnenschiffs- und des Seeverkehrs erfordert einen integrierten Ansatz, da die künftige Verkehrsinfrastruktur auch den gesundheitlichen Belangen der Anwohner und der Arbeitnehmer in den jeweiligen Gebieten Rechnung tragen muss.

3.3.

Für diese Initiativstellungnahme zu den gesellschaftlichen Herausforderungen der Ökologisierung des See- und Binnenschiffsverkehrs erscheint es dem EWSA wichtig, dass die Kommission über verlässliche Untersuchungen über die gesundheitlichen Auswirkungen des Betriebs von Fluss- und Seehäfen verfügt. Diese Untersuchungen sollten eine Analyse von groß angelegten Umweltmanagementsystemen sowie Empfehlungen für den Betrieb von Binnen- und Seehäfen unter Berücksichtigung gesundheitlicher Aspekte enthalten.

3.4.

Die Seekabotage ist, insbesondere für Inselgebiete, von großer Bedeutung für den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt. Sie kommt einer Politik entgegen, die auf die Senkung des CO2-Ausstoßes abzielt, verringert die Umweltauswirkungen und entspricht dem Grundsatz der Multimodalität.

3.5.

Die Verbesserung der Luftqualität in den Häfen und deren Folgen für die Gesundheit der Anwohner sind ein heikles Thema. Der Ausbau der landseitigen Stromversorgung in Binnen- und Seehäfen, wie es der Hafen von Rotterdam vormacht, damit Schiffe jedweder Größe ihre Motoren am Liegeplatz abschalten können, ist aus Sicht des EWSA sinnvoll, da dies zum Schutz der Gesundheit der Anwohner und der Arbeitnehmer beiträgt. Dies gilt auch für Kreuzfahrtschiffe, die in Häfen oft an zentraler Stelle anlegen.

3.6.

Die durch den Seehafenbetrieb verursachte Lärmbelastung darf nicht außer Acht gelassen werden, da es dabei zum einen um die Lebensqualität der Anwohner und zum anderen um die Gesundheit der Arbeitnehmer geht. Das Gleiche gilt für die Anwohner im Hinterland entlang von Binnenwasserstraßen. Die Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Binnenschiffsverkehrs geht mit der sozioökonomischen Entwicklung des Hinterlands einher, doch darf diese Entwicklung nicht zu Lasten der Lebensqualität der dort lebenden Bevölkerung gehen, auch wenn der Binnenschiffsverkehr weniger Belastungen mit sich bringt als der Straßenverkehr.

3.7.

Die Ökologisierung des Binnenschiffs- und des Seeverkehrs kann nur gelingen, wenn auch Fragen im Zusammenhang mit der Ausbildung der Beschäftigten, den Beschäftigungsperspektiven und der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in diesen Branchen angegangen werden und die gesellschaftlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit den tiefgreifenden Veränderungen infolge der Digitalisierung und Automatisierung der Berufe nicht außer Acht gelassen werden.

3.8.

Die Erneuerung der Flotte ist unerlässlich, um die Abhängigkeit der Binnenschifffahrt von fossilen Brennstoffen zu verringern. Diese Branche besteht nämlich mehrheitlich aus Partikulieren und KMU, die gegenwärtig mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben (Umsatzeinbußen von rund 2,7 Mrd. EUR, Rückgang der Personenbeförderung um mindestens 70 %). Die soziale Akzeptanz der notwendigen Flottenerneuerung setzt folglich die Mitwirkung der Partikuliere voraus, die sich nur erreichen lässt, wenn man durch langfristige Investitionen und eine langfristige finanzielle Unterstützung ihr Vertrauen gewinnt.

3.9.

Die Umstellung auf einen quasi CO2-freien Binnenschiffsverkehr erfordert deshalb nicht nur die finanzielle Unterstützung der vorhandenen Partikuliere, sondern auch verstärkte Bemühungen um die Ausbildung der derzeitigen und künftigen Besatzungen. Der Erfolg der Ökologisierung des Binnenschiffs- und Seeverkehrs hängt auch von der Fähigkeit der Branche ab, die Veränderungen in der Arbeitswelt und bei den Qualifikationen zu meistern.

4.   Besondere Bemerkungen

Häfen

4.1.

Im Bereich des Seeverkehrs bedeutet eine Politik der Ökologisierung, dass das Verhältnis zwischen Stadt und Hafen neu gedacht werden muss. Die Gestaltung der Häfen auf der Grundlage einer vollständig auf Erdöl beruhenden Wirtschaft und der globale Siegeszug der Container in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben dazu geführt, dass die Häfen die Städte verlassen haben, weil es nicht mehr genug Platz gab, und dass Industrie- und Hafengebiete an der Peripherie entstanden sind. Ein großes Hafen- oder Stadtentwicklungsprojekt erfordert jedoch eine nahezu einhellige Akzeptanz, weshalb häufig ein ganzer Komplex von Aspekten berücksichtigt und sowohl öffentliche als auch private Interessen in Einklang gebracht werden müssen. Solche Forderungen von Bürgern und Gesellschaft sind in der jahrtausendealten Beziehung von Stadt und Hafen recht neu.

4.2.

Die Hafenbehörde und die Kommunen können an einem Strang ziehen oder auf Konfrontation gehen, wenn es um gesellschaftliche und umweltbezogene Fragen geht, die künftig nicht mehr ignoriert werden können (7). In Hafenstädten, in denen Schiffe mit Anwohnern, Unternehmen, Geschäften und touristischen Aktivitäten koexistieren, werden Umweltqualität und Belästigungsquellen zu Faktoren, die die Anwohner aktiv werden lassen. Beispielsweise ist die Luftverschmutzung ein tägliches Problem für die Anwohner zahlreicher europäischer Häfen, weil die Schiffe ihre Motoren Tag und Nacht laufen lassen.

4.3.

Fracht- und Fahrgastschiffe sowie die Fähren zahlreicher Linien emittieren Gas und Feinstaub. Auch der Motorenlärm ist eine unerträgliche Belästigung, da es sich um ein ständiges Geräusch handelt, das in der Nacht weithin zu hören ist.

4.4.

Das Problem rührt daher, dass nur ein Teil der Liegeplätze in den Häfen mit einem Landstromanschluss ausgerüstet ist. Einige Schiffe müssen deshalb auf ihre eigenen Stromgeneratoren zurückgreifen.

4.5.

Die Verbesserung der Luftqualität in den Häfen und deren Auswirkungen auf die Gesundheit der Anwohner sind ein wichtiges Thema. Die Forderungen der Gesellschaft, insbesondere in den sozialen Medien, nach Maßnahmen zur Prävention und zur Verbesserung der Luftqualität in der Umgebung von Häfen werden immer lauter.

4.6.

Dasselbe gilt für die Lärmbelästigung durch den Hafenbetrieb. Nach Ansicht des EWSA muss die Ökologisierung des See- und Binnenschiffsverkehrs mit einer Bestandsaufnahme und Analyse der Umweltauswirkungen von Häfen, insbesondere in den Schnittstellenzonen zwischen Stadt und Hafen, einhergehen. Dies sollte ein erster Schritt vor der Annahme von Maßnahmen sein und ein intelligentes Umweltmanagement der Schnittstelle Stadt/Hafen ermöglichen, zu dem die Entwicklung der Binnenhäfen beitragen könnte.

4.7.

Die Ökologisierung des Seeverkehrs und der Binnenschifffahrt erfordert eine vorherige Prüfung der Ausbreitung von Schiffsemissionen, selbst wenn es CO2-arme Emissionen sind, des topografischen Profils des Hafengebiets, der Verteilung der Bevölkerung in den Hafeneinzugsgebieten, des Vorhandenseins meteorologischer Stationen, da das Wetter die Verteilung oder Stagnation von Gasen in der Luft beeinflusst, und von Messgeräten, die die Verschmutzung und die Lärmbelästigung messen.

Arbeitnehmer im Seeverkehr

4.8.

Auch eine weitere wichtige gesellschaftliche Herausforderung darf nicht unberücksichtigt bleiben: die Beschäftigung und die Ausbildung der Seeleute in neuen Berufen. Trotz des Mangels an verfügbaren, exakten und vergleichbaren Daten zu Seeleuten herrscht allgemein Einigkeit darüber, dass es in der Schifffahrt an Fachkräften mangelt und dass es schwierig ist, Stellen zu besetzen und Seeleute zu halten.

4.9.

Die mangelnde Attraktivität dieser Berufssparten ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Seeschifffahrt nicht mehr als Möglichkeit wahrgenommen wird, die Welt zu sehen, da das Reisen billiger und leichter geworden ist. Laut einer unabhängigen, im Auftrag der Europäischen Kommission erstellten Studie gilt die Arbeit in der Branche als unvereinbar mit einem als normal zu bezeichnenden Sozial- und Familienleben und hat schlechte Arbeitsbedingungen und Karriereaussichten zu bieten, und das trotz des Seearbeitsübereinkommens (MLC) von 2006, in dem Mindestanforderungen für die Arbeits- und Lebensbedingungen von Seeleuten der Welthandelsflotte festgelegt sind (8).

4.10.

Einige Aussagen in einem Bericht des Verbands der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft deuten jedoch auch darauf hin, dass die Seeschifffahrt in einigen gesellschaftlichen Schichten als prestigeträchtig und achtbar angesehen wird, insbesondere dank öffentlicher Informationskampagnen über die Branche, Stipendien usw.

Anteil weiblicher Beschäftigter im Verkehrssektor

4.11.

Frauen sind im Seeverkehr nach wie vor unterrepräsentiert, ihre Zahl ist relativ niedrig, und es gibt kaum Anzeichen, dass sich dies im Laufe der Zeit verbessern würde. Abgesehen von einigen skandinavischen Ländern und den Niederlanden haben Frauen hier geringere Qualifikationen erfordernde und schlechter bezahlte Arbeitsplätze als Männer.

4.12.

Der EWSA ist in der europäischen Plattform vertreten, die sich für die Integration und Förderung von Frauen in Verkehrsberufen allgemein, darunter auch im Seeverkehr und in der Binnenschifffahrt, einsetzt. Aus einer Online-Umfrage der Europäischen Transportarbeiter-Föderation, die zwischen dem 7. Oktober und dem 29. November 2019 durchgeführt wurde, geht hervor, dass nur 22 % der Beschäftigten im Verkehrssektor (alle Bereiche zusammengenommen) Frauen sind (9). Die Studie hat auch ergeben, dass die Ungleichheit der Geschlechter und geschlechtsbezogene Stereotypen nach wie vor für zahlreiche Hindernisse in der Branche sorgen. Der Seeverkehr ist seit jeher männlich dominiert, und der EWSA hält es für nötig, dies zu ändern und die gesellschaftlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Stellung von Frauen in der Branche anzugehen.

4.13.

Die Ökologisierung des Seeverkehrs könnte Gelegenheit dazu bieten. Der EWSA ist der Auffassung, dass der technische Fortschritt infolge der Ökologisierung insofern zu einer dynamischen Beschäftigungsentwicklung und einer anderen Wahrnehmung des Seeverkehrs führen dürfte, als sich die traditionellen Arbeitsplätze auf See zu Arbeitsplätzen mit hoher Wertschöpfung an Land weiterentwickeln werden, die zunehmend mit Frauen besetzt werden können.

4.14.

Gut ausgebildete Seeleute sind wichtig für eine ebenso sichere wie umweltfreundliche Schifffahrt. Die Tragfähigkeit dieser dynamischen Branche hängt davon ab, ob auch künftig ausreichend gute Arbeitnehmer gewonnen und erfahrene Seeleute gehalten werden können, einschließlich Frauen und weitere unterrepräsentierte Gruppen.

4.15.

Der EWSA ist der Auffassung, dass alle Interessenträger einschließlich der Sozialpartner einbezogen werden müssen, um sinnvolle und tragfähige Lösungen für die Ökologisierung des Seetransports zu finden (10).

Seeleute

4.16.

Allerdings könnte die Automatisierung der Schiffe zur Verkleinerung der Besatzungen und des schiffsführenden Personals führen, was eine sinkende Nachfrage nach Seeleuten und gleichzeitig eine höhere Arbeitsbelastung und mehr Verantwortung für die derzeit Beschäftigten mit sich bringen wird. Die Aussicht auf Arbeitslosigkeit oder Umschulung dürfte wohl kaum auf Akzeptanz in der Gesellschaft stoßen.

4.17.

Darüber hinaus können Digitalisierung und Automatisierung die Arbeitsbedingungen des hochqualifizierten und in IT und Elektrotechnik geschulten nautisch-technischen Personals verbessern. Sie können auch den Verwaltungsaufwand verringern, der häufig als Belastung für die Besatzungen genannt wird, und zur Entwicklung quasi-autonomer Betriebssysteme führen, was sich auf die Arbeitszeiten und die Attraktivität der Seefahrt auswirkt.

4.18.

Die Digitalisierung und Automatisierung, die mit der Ökologisierung des Seeverkehrs einhergehen, werden die Branche tiefgreifend verändern. Dies wird sich allerdings nicht auf kurze Sicht realisieren lassen, zumal die Reeder noch nicht wirklich darauf eingestellt sind. Vielmehr werden die neuen Technologien den vorhandenen Schiffen implantiert. Auch die Kosten der Flottenerneuerung sind eine Ursache für dieses zögerliche Herangehen.

4.19.

Es muss auch bedacht werden, dass sich der neu entstehende Qualifikationsbedarf negativ auf die Beschäftigung auswirken könnte, wenn manche Seeleute außer Acht gelassen oder die Seeleute von morgen nicht angemessen ausgebildet werden. Dies ist eine große Herausforderung für nautische Ausbildungseinrichtungen, die nur von denen bewältigt werden wird, die eng mit der Schifffahrtsbranche zusammenarbeiten, um sich auf deren Erfordernisse einzustellen.

4.20.

Darüber hinaus ist die ständige Weiterbildung von Seeleuten unerlässlich, um ihre Kompetenzen auf dem neuesten Stand zu halten und den Übergang von Arbeitsplätzen auf See zu Arbeitsplätzen an Land zu erleichtern, womit die Ökologisierung des Seeverkehrs wahrscheinlich einhergehen wird. Dies ist unerlässlich, damit positive Auswirkungen auf die Gesellschaft insgesamt erzielt werden.

4.21.

Besser geschultes Personal bedeutet allerdings auch höhere Arbeitskosten, die Gefahr von Sozialdumping zulasten geringer qualifizierter Arbeitnehmer und unlauteren Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt, was wiederum heißt, dass die Arbeitsplätze europäischer Seeleute geschützt werden müssen. Die Studie „Seafarers and digital disruption“ von 2018 ist in dieser Hinsicht aufschlussreich (11). Angesichts ihrer offenbar rückläufigen Zahl und ihres zunehmenden Alters stellt sich aber die Frage, ob sie im Vergleich zu außereuropäischen Seeleuten überhaupt wettbewerbsfähig sind. Dies ist ein Thema für sich, doch sollte es in dieser Initiativstellungnahme zumindest angeschnitten werden.

4.22.

Die Sozialpartner spielen deshalb eine entscheidende Rolle bei der Wahrung oder gar Anhebung der Arbeitsstandards im Seeverkehr. Wenn es an Kommunikation, Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den verschiedenen für die Überwachung der Arbeitsbedingungen zuständigen Behörden mangelt, können sich Tarifverhandlungen jedoch als schwierig erweisen, weil an Bord jeweils unterschiedliche arbeitsrechtliche Regelungen anzuwenden sind und sich eine weitere Komplikation durch die Anwendung des Arbeitsrechts in Grenzgebieten ergibt.

Binnenschifffahrt

4.23.

Einige dieser Erwägungen in Bezug auf die Beschäftigten im Seeverkehr lassen sich teils auf den Binnenschiffsverkehr übertragen, wobei der Arbeitsmarkt in der Binnenschifffahrt allerdings aufgrund eines Zusammenspiels sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Faktoren überwiegend aus unabhängigen Betreibern zunehmend höheren Alters besteht (12). Allerdings betrifft die Überalterung auch die Arbeitnehmer, da junge Menschen eine Arbeit an Land bevorzugen, mit regelmäßigen Arbeitszeiten und der Möglichkeit, die Wochenenden zu Hause zu verbringen. Dieser Faktor ist beispielsweise in Westeuropa von großer Bedeutung, wo rund 80 % der Unternehmen in der Binnengüterschifffahrt unabhängige Partikuliere mit unregelmäßigen Arbeitszeiten sind. Dies führt zu einem Arbeitskräftemangel in der Binnenschifffahrt, sowohl in der Binnenpassagierschifffahrt als auch in der Binnengüterschifffahrt, der insbesondere bei qualifiziertem Personal auf Führungsebene und qualifizierten Schiffsführern im Flüssiggütersegment zu beobachten ist.

4.24.

Der EWSA stellt fest, dass der Arbeitskräftemangel auch auf technische Faktoren zurückzuführen ist. Da die Arbeit der Crewmitglieder technisch immer anspruchsvoller wird, suchen Binnenschiffsunternehmen spezialisierte Profile, doch diese sind schwer zu finden.

4.25.

Um die Attraktivität der Binnenschifffahrt zu erhöhen, insbesondere für die jüngere Generation, sind grundlegende Maßnahmen vor allem soziokultureller und gesellschaftlicher Natur nötig, etwa die Entwicklung von Genossenschaften, um wirtschaftliche Notwendigkeiten (Effektivität, Profitabilität, hohe Arbeitsbelastung) besser auf soziale, kulturelle und gesellschaftliche Aspekte (Privat- und Sozialleben, Familie usw.) der Binnenschifffahrtsbeschäftigten auszurichten

4.26.

Abschließend weist der EWSA darauf hin, dass sich die bereits jetzt spürbaren Auswirkungen der COVID-19-Krise in den kommenden Jahren deutlich zeigen werden, zumal sich der Arbeitsmarkt in der Binnenschifffahrt aufgrund der Ökologisierung des Sektors noch weiter verändern wird.

Brüssel, den 23. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „FuelEU Maritime“ (ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 145).

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „NAIADES III“ (ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 102).

(3)  Richtlinie 92/106/EWG des Rates vom 7. Dezember 1992 über die Festlegung gemeinsamer Regeln für bestimmte Beförderungen im kombinierten Güterverkehr zwischen Mitgliedstaaten (ABl. L 368 vom 17.12.1992, S. 38).

(4)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „FuelEU Maritime“ (ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 145).

(5)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „NAIADES III“ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 102).

(6)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Neuen Ansatz für eine nachhaltige blaue Wirtschaft in der EU“, Berichterstatter Simo Tiainen (ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 108), und Stellungnahme des EWSA zum Thema „Innovation in der blauen Wirtschaft“, Berichterstatter: Séamus Boland (ABl. C 12 vom 15.1.2015, S. 93).

(7)  Daudet, B., und Alix, Y.: „Gouvernance des territoires ville-port: empreintes locales, concurrences régionales et enjeux globaux“, Organisations et Territoires, 2012.

(8)  Coffey, Consultores em Transportes Inovacāo e Sistemas, Oxford Research und World Maritime University: Study on social aspects within the maritime transport sector. Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, 2020.

(9)  https://www.etf-europe.org/make-transport-fit-for-women-to-work-in-etf-sounds-alarm-over-industrys-growing-gender-divide/

(10)  https://www.ecsa.eu/index.php/etf-ecsa-declaration-enhanced-participation-women-european-shipping

(11)  https://www.ics-shipping.org/wp-content/uploads/2018/10/ics-study-on-seafarers-and-digital-disruption.pdf

(12)  „Der Arbeitsmarkt im europäischen Binnenschifffahrtssektor“. Zentralkommission für die Rheinschifffahrt. Februar 2021.


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

567. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses – Videokonferenz über Interactio, 23.2.2022-24.2.2022

18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/24


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zu einem Pakt für Forschung und Innovation in Europa

(COM(2021) 407 final — final 2021/230 (NLE))

(2022/C 275/04)

Berichterstatter:

Paul RÜBIG

Mitberichterstatter:

Panagiotis GKOFAS

Befassung

Europäische Kommission, 2.5.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 182 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

3.2.2022

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

219/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt, dass im „Pakt für Forschung und Innovation in Europa“ gemeinsame Werte und Grundsätze für Forschung und Innovation (FuI) festgelegt werden. Zudem werden auf globaler, allgemeiner Ebene diejenigen Bereiche benannt, in denen die Mitgliedstaaten gemeinsam vorrangige Maßnahmen entwickeln werden. Der Pakt unterstützt somit den neuen Europäischen Forschungsraum (EFR), wobei zu berücksichtigen ist, dass FuI weitgehend in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen.

1.2.

Die Empfehlung des Rates behandelt in mehreren Abschnitten folgende Hauptpunkte:

1.

Werte und Grundsätze,

2.

Prioritätsbereiche für gemeinsame Maßnahmen,

3.

Priorisierung von Investitionen in Forschung und Entwicklung (FuE),

4.

politische Koordinierung, Überwachung und Berichterstattung.

1.3.

Europa muss in Zukunft dafür sorgen, dass die Ergebnisse europäischer FuE in Wertschöpfung, Geschäftsmöglichkeiten und gute Arbeitsplätze münden. Ein sehr wichtiges Instrument, um die Ergebnisse europäischer FuE in Europa in Geschäftsmöglichkeiten, Gewinne und Arbeitsplätze umzumünzen, sind die Rechte des geistigen Eigentums (Intellectual Property Rights, IPR). Die große Bedeutung von IPR und Patenten sollte in den Abschnitt über Wertschöpfung aufgenommen werden, und im Rahmen des Pakts für den neuen EFR sollte eine klare IPR-Strategie für Europa entwickelt werden. Diese aktive und passive Patentpolitik und -strategie der EU sollte durch eine aktive und passive Lizenzstrategie sowie ein transparentes Monitoringsystem flankiert werden, mit dem das globale Verhältnis von Patenten und Lizenzen überwacht wird.

1.4.

Der EWSA begrüßt die im Pakt enthaltenen klaren Forderungen nach einer Vertiefung des EFR, d. h. nach einem Übergang von der Koordinierung der nationalen Strategien zu ihrer besseren Verflechtung, sowie nach einer Beschleunigung des grünen und des digitalen Wandels. In der EU der 27 werden FuI bis heute immer noch vorwiegend parallel und getrennt voneinander durchgeführt. Diese getrennten Bereiche müssen nun umfassend durch „Verbindungsleitungen“ miteinander verknüpft werden, die nach Ansicht des EWSA eines der wichtigsten Ziele des Pakts sein müssen.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU angesichts der massiven Investitionen, die in Asien (China, Südkorea usw.) in Forschung, Technologie und Innovation (RTI) fließen, und der Tatsache, dass die EU hier zurückliegt, worauf in COM(2020) 628 final deutlich hingewiesen wird, ihre Anstrengungen im Bereich FuI erheblich beschleunigen muss, insbesondere angesichts der Geschwindigkeit, mit der die Ergebnisse von FuE in innovative Produkte und Dienstleistungen umgesetzt werden.

1.6.

Der EWSA weist darauf hin, dass FuI in der EU beschleunigt werden müssen und der digitale Wandel schnell vollzogen werden muss. Aus einem kürzlich veröffentlichten Bericht der Europäischen Kommission, dem „EU-Anzeiger für FuE-Investitionen der Industrie 2021“, geht hervor, dass die FuE-Investitionen von 2020 bis 2021 in China um 18,1 % und in den USA um 9,1 % erhöht wurden, während die EU-27 ihre FuE-Investitionen um 2,2 % verringert hat. Diese Veränderungen müssen fair und gerecht ablaufen, sodass kein Teil der Gesellschaft zurückgelassen wird. Das gilt insbesondere für schutzbedürftige Bürger, Einwohner abgelegener Regionen der EU und die Sozialpartner.

1.7.

Die EU braucht, wie es mit Blick auf den neuen EFR und im Pakt hervorgehoben wird, tatsächlich eine neue Vision, nämlich einen Neuen Deal für den EFR der EU. Mit einer Fortsetzung der alten RTI-Strategie allein wird die EU im Bereich FuI nur noch weiter hinter die USA und Asien (China, Korea usw.) zurückfallen.

1.8.

Bislang war nur ein geringer Anteil der EU-Bevölkerung (die „üblichen Verdächtigten“ aus dem Bereich FuI) in die FuI-Strategien der EU eingebunden. In der zeitgenössischen sozioökonomischen Forschung wird jedoch klar darauf hingewiesen, wie wichtig die Verbindung zwischen Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft für starke Akteure im FuI-Bereich ist. Um einen konkreten Beitrag zur Verwirklichung des Ziels einer stärkeren EU in der Welt zu leisten, fordert der EWSA, zivilgesellschaftliche Organisationen sowie Sozial- und Wirtschaftspartner (insbesondere Organisationen, die KKMU vertreten) auf europäischer und nationaler Ebene angemessen in die von der Europäischen Kommission durchgeführte Überwachung der bereits im Jahr 2022 vom neuen EFR-Forum getroffenen Maßnahmen und damit zusammenhängender Initiativen (bspw. die neuen europäischen Bürgerforen im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas) einzubeziehen. Das sogenannte Wissensdreieck (Hochschulbildung, Grundlagen- und angewandte Forschung, Vermarktung neuer Technologien durch die Industrie), auf das erfreulicherweise auch im FuI-Pakt der Kommission Bezug genommen wird, ist ein wichtiges Konzept zur Förderung von FuI. Im Rahmen des Konzepts zur Einbindung der europäischen Zivilgesellschaft muss sichergestellt werden, dass auch die Arbeitskräfte in den Unternehmen und schutzbedürftige Bürgerinnen und Bürger der EU eingebunden werden.

1.9.

Im Rahmen des neuen FuI-Pakts muss die EU den Boden für eine stärkere unternehmerische Kultur bereiten, in der Risikobereitschaft sowie innovative Unternehmen, sowohl KKMU als auch Start-ups, gefördert werden. Der im Englischen gängige Spruch „no risk, no fun“ („ohne Risiko kein Spaß“) lautet mit Bezug auf die Innovation „no risk, no new business, no new quality jobs“ („ohne Risiko keine neuen Unternehmen und keine neuen guten Arbeitsplätze“).

1.10.

Es gibt zahlreiche Kommissionsdokumente und -programme zu FuI. Der EWSA würde es deshalb begrüßen, wenn die Kommission die Verknüpfungen zwischen all diesen Dokumenten zum Thema FuI genauer erläutern würde, darunter auch zwischen dem Pakt für FuI, dem neuen EFR, den Europäischen Missionen, dem Aufbau- und Resilienzplan der EU sowie Horizont Europa im Allgemeinen.

1.11.

Nicht zuletzt möchte der EWSA darauf hinweisen, dass der EU-Pakt für FuI sowie der neue EFR im Einklang mit den 17 Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung konzipiert und umgesetzt werden sollten, nach denen vorgesehen ist, dass bis 2030 ein menschenwürdiges Leben für alle auf einem gesunden Planeten gewährleistet wird.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Das Kerndokument der Kommission, auf das sich der Pakt stützt und bezieht, ist COM(2020) 628 final „Ein neuer EFR für Forschung und Innovation“.

2.2.

Im März 2021 veröffentlichte der EWSA seine Stellungnahme (1)„Ein neuer EFR für Forschung und Innovation“ (2). Viele der darin enthaltenen Schlussfolgerungen, Empfehlungen und allgemeinen Bemerkungen gelten auch für den Pakt, und einige werden in diesem Dokument wieder aufgegriffen.

2.3.

Die Zusammenführung dieser FuI-Elemente in einem Rechtsakt wird die politische Verpflichtung der Mitgliedstaaten bekräftigen, ihre FuI-Politik auf die Herausforderungen auszurichten, vor denen Europa heute steht:

a.

der doppelte Wandel (digitaler Wandel und Grüner Deal)

b.

die Erholung nach der Pandemie

c.

der immer schärfere globale Wettbewerb in RTI, insbesondere mit Asien (China, Korea usw.).

Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen muss fair und gerecht vorgegangen und niemand darf zurückgelassen werden, insbesondere keine schutzbedürftigen Unionsbürgerinnen und -bürger.

2.4.

Weltweite RTI-Ranglisten und Studien zeigen, dass die EU der 27 im globalen Wettbewerb gegenüber den USA und Asien, insbesondere China und Korea, ins Hintertreffen geraten ist, besonders im Hinblick auf neue Schlüsseltechnologien (Key Emerging Technologies, KET) (Künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen, Robotik, digitale Geschäftsmodelle usw.) Die Herausforderungen a) und b) werden in der Mitteilung der Kommission COM(2021) 407 behandelt. Die Herausforderung c) „globaler Wettbewerb im Bereich RTI, insbesondere mit Asien (China, Korea usw.)“ wurde vom EWSA bewusst hinzugefügt, da er der Ansicht ist, dass die EU Millionen qualifizierter Arbeitsplätze an Asien verlieren würde und damit der Wohlstand und die Lebensqualität der Bevölkerung sinken würden, wenn sie diese Herausforderung nicht erfolgreich bewältigt. RTI sind die wesentliche Grundlage für die Entstehung hochwertiger Arbeitsplätze. Wenn sich die technologische Führungsrolle in vielen Wirtschaftszweigen nach Asien verlagert, werden sich auch hochwertige Arbeitsplätze nach Asien verlagern.

2.5.

Auch der Europäische Forschungsrat hat bereits eine Stellungnahme zum Pakt und zum neuen EFR abgegeben und sehr deutlich betont, dass die EU im Bereich RTI hinter Asien, insbesondere China, zurückfällt: „The pact for R&I may be the EU’s last chance to finally meet the goals of the original ERA to cement Europe’s position as a leader in research and innovation“ (3) [Der Pakt für FuI könnte die letzte Chance der EU sein, doch noch die Ziele des ursprünglichen EFR zu erreichen, um Europas Führungsposition in Forschung und Innovation zu festigen].

2.6.

China hat die EU nicht nur mit Blick auf FuE und die Zahl der erteilten Patente überholt, sondern verteidigt seit etwa fünf Jahren sehr aggressiv auch seine weltweite Führungsposition bei der Festlegung technologischer Industrienormen. Viele Jahrzehnte lang wurden Industrienormen ausschließlich in den USA und Europa festgelegt. Global ist die Festlegung technologischer Industrienormen für RTI sehr wichtig, da der Staat, der diese Standards festlegt, einen Wettbewerbsvorteil hat. Der EWSA empfiehlt der Kommission daher nachdrücklich, im Pakt klare Maßnahmen vorzusehen, um die starke Position Europas bei der Festlegung weltweiter technologischer Industrienormen zu verteidigen.

2.7.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU angesichts der massiven Investitionen, die in Asien (China, Südkorea usw.) in RTI fließen, ihre Anstrengungen im Bereich FuI erheblich beschleunigen muss, insbesondere angesichts der Geschwindigkeit, mit der die Ergebnisse von FuE in innovative Produkte und Dienstleistungen umgesetzt werden. Aus einem kürzlich veröffentlichten Bericht der Europäischen Kommission, dem „EU-Anzeiger für FuE-Investitionen der Industrie 2021“, geht hervor, dass die FuE-Investitionen von 2020 bis 2021 in China um 18,1 % und in den USA um 9,1 % erhöht wurden, während die EU-27 ihre FuE-Investitionen um 2,2 % verringert hat. Die Maßnahmen der EU zur Beschleunigung von FuI müssen sich an multinationale Konzerne mit Sitz in der EU sowie an KKMU richten, da auch letztere durch die Konkurrenz aus China bedroht sind und das Beschäftigungswachstum in Europa größtenteils auf KKMU und Start-ups und nicht auf große Unternehmen zurückzuführen ist.

2.8.

Der EWSA begrüßt die im Pakt enthaltenen klaren Forderungen nach einer Vertiefung des EFR, d. h. den Übergang von der Koordinierung der nationalen Strategien zu ihrer besseren Verflechtung, sowie nach einer Beschleunigung des grünen und des digitalen Wandels. In der EU der 27 werden FuI nach wie vor vorwiegend parallel und getrennt voneinander durchgeführt. Diese getrennten Bereiche müssen nun umfassend durch „Verbindungsleitungen“ miteinander verknüpft werden, die nach Ansicht des EWSA eines der wichtigsten Ziele des Pakts sein müssen. Kommunikation und Zusammenarbeit zählen zu den wichtigsten Triebkräften für FuI.

2.9.

Die EU braucht, wie es mit Blick auf den neuen EFR und im Pakt hervorgehoben wird, tatsächlich eine neue Vision, nämlich einen Neuen Deal für den EFR der EU. Mit einer Fortsetzung der alten RTI-Strategie allein wird die EU im Bereich FuI nur noch weiter hinter den USA und Asien (China, Korea usw.) zurückfallen.

2.10.

Viele Studien kommen zu dem Schluss, dass der Wissenstransfer im Bereich FuI in erster Linie über Fachkräfte, d. h. über eine intensive Jobrotation zwischen FuI-Organisationen sowie zwischen EU-Mitgliedstaaten funktioniert. Der EWSA empfiehlt, den Wissenstransfer über Fachkräfte in der EU-27 — über Stellenrotation und Mobilitätsprogramme für Wissenschaftler — massiv auszuweiten. Der Wissenstransfer in FuI kann auch mit umfangreichen Dokumenten nicht bewältigt werden: Die Erkenntnisse aus der fünfjährigen FuE-Tätigkeit eines Forschers können nicht in einem 500-seitigen FuE-Bericht zusammengefasst werden.

2.11.

In dem Pakt wird auf die Technologie-Fahrpläne für den EFR Bezug genommen. Nach derzeitigem Kenntnisstand des EWSA liegt ein Technologie-Fahrplan für den EFR für den Zeitraum 2015–2020 vor, dem EWSA ist jedoch kein EFR-Technologie-Fahrplan über das Jahr 2020 hinaus bekannt. Da neue Technologien lange Entwicklungszeiten haben, müssen Technologiestrategien langfristig geplant werden. Technologiefahrpläne benötigen eine Vorlaufzeit von mindestens zehn Jahren. Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, nach der Veröffentlichung des neuen EFR mittelfristige (2020–2030) und langfristige (2020–2050) Technologiefahrpläne auszuarbeiten.

2.12.

Der EWSA begrüßt den Verweis auf die große Bedeutung des sogenannten Wissensdreiecks (Hochschulbildung, Grundlagen- und angewandte Forschung, Vermarktung neuer Technologien durch die Industrie). (4)

2.13.

Der EWSA ist der Auffassung, dass Forschung und (höhere) Bildung zwar wichtige Triebkräfte für die Schaffung von Wissen, aber nicht für Innovation sind. Innovation bedeutet per Definition die Umsetzung von Ergebnissen aus FuE in innovativen Produkten und Geschäftsideen. Es ist nicht die Aufgabe von Hochschulen oder Forschungsinstituten, innovative Produkte und Geschäftsideen zu entwickeln. Unternehmen, insbesondere Start-ups und Unternehmer, werden im Text übersehen. Ihre wichtige Rolle im Innovationsprozess muss Berücksichtigung finden. In diesem Zusammenhang spielen der Europäische Innovationsrat (EIC), die Wissens- und Innovationsgemeinschaften des Europäischen Innovations- und Technologieinstituts (EIT KIC) und andere Innovationsprogramme eine wichtige Rolle.

2.14.

Der berühmten Ansoff-Matrix zufolge mündet letztlich nur ein geringer Anteil der FuE-Projekte (weniger als ca. 25 %) in Produkten, die auf dem Markt erfolgreich sind. Ein wichtiger Schwerpunkt des FuI-Pakts und der Strategie der EU muss daher auf der Wirksamkeit und Effizienz von FuI liegen. Könnte mit intelligenten Mitteln zur Sicherstellung der Wirksamkeit und Effizienz von FuI die Erfolgsquote von 25 % auf z. B. 28 % erhöht werden, wäre dies ein enormer Erfolg für Europa. Die Wirksamkeit und Effizienz der FuI unter Aufrechterhaltung des Exzellenzanspruchs der EU im Bereich Forschung könnten auch zu einer dringend notwendigen erheblichen Beschleunigung der europäischen FuI führen.

2.15.

In Bezug auf die Werte und Grundsätze teilt der EWSA zwar die Ansicht, dass die in diesem Kapitel aufgeführten Werte wichtig sind. Er ist gleichwohl der Auffassung, dass im globalen FuI-Wettbewerb ein weiteres Zurückfallen der EU hinter die USA und Asien nur durch weitere Grundsätze zu verhindern ist. In dem neuen EFR ist vorgesehen, dass die EU die Umsetzung der Ergebnisse aus FuE in innovative Produkte und Dienstleistungen für die Weltmärkte beschleunigen muss. Für diese dringend gebotene Beschleunigung ist neben anderen Werten und Kompetenzen unternehmerisches Denken erforderlich. Viele globale Studien deuten darauf hin, dass die EU beim Unternehmertum (z. B. in Bezug auf innovative digitale Geschäftsmodelle) erheblich hinter den USA und Asien hinterherhinkt.

2.16.

In Bezug auf die Wertschöpfung teilt der EWSA voll und ganz die Auffassung, dass es außerordentlich wichtig ist, dass „Wissen“ (d. h. Ergebnisse aus FuE) seinen Niederschlag in innovativen, nachhaltigen Produkten und Dienstleistungen findet. In dem Pakt wird auf die wichtige Rolle der Grundlagenforschung beim Hervorbringen von bahnbrechenden Entdeckungen und Wissen verwiesen. Für die Wertschöpfung für Europa sind jedoch mehr als bahnbrechende Entdeckungen erforderlich: Es gibt bedauerlicherweise zahlreiche Beispiele für bahnbrechende FuE-Entdeckungen europäischer Forscherinnen und Forscher, die dann von Unternehmern und innovativen Unternehmen in den USA und Asien als Geschäftsidee aufgegriffen und zu Geld gemacht wurden. Die Arbeitsplätze gingen von Europa in die USA und nach Asien. Europa darf so etwas nicht wieder geschehen lassen.

2.17.

Europa muss in Zukunft dafür sorgen, dass die Ergebnisse europäischer FuE in Wertschöpfung, Geschäftsmöglichkeiten und gute Arbeitsplätze münden. Ein sehr wichtiges Instrument, um die Ergebnisse europäischer FuE in Europa in Geschäftsmöglichkeiten, Gewinne und Arbeitsplätze umzumünzen, sind Patente. Die große Bedeutung der Rechte des geistigen Eigentums (Intellectual Property Rights, IPR) sollte in den Abschnitt über Wertschöpfung aufgenommen werden, und im Rahmen des Pakts für den neuen EFR sollte eine klare IPR-Strategie für Europa entwickelt werden. Diese aktive und passive Patentpolitik und -strategie der EU sollte durch eine aktive und passive Lizenzstrategie sowie ein transparentes Monitoringsystem flankiert werden, mit dem das globale Verhältnis von Patenten und Lizenzen überwacht wird.

2.18.

In Artikel 2 des Vorschlags für eine Empfehlung des Rates (5) werden die Prioritätsbereiche der FuI der EU aufgeführt. Folgende Prioritätsbereiche für FuI-Themen werden auch in COM(2020) 628 final genannt:

Künstliche Intelligenz

Mikroelektronik

Quantencomputer

5G

erneuerbare Energien

Wasserstofftechnologien

Emissionsfreie und intelligente Mobilität

2.19.

Der EWSA weist darauf hin, dass ungeachtet der unbestritten grundlegenden Bedeutung dieser sieben prioritären Bereiche (6) noch die folgenden Schlüsseltechnologien und -sektoren hinzugefügt werden sollten:

Weltraumtechnologie

Sauberes Wasser und Sanitärversorgung

Neue Hochtechnologiematerialien mit viel künftigem Potenzial für die EU, zum Beispiel Graphen

Technologien für die Herstellung von Waren und Lebensmitteln

Klinische Forschung, Pharmaindustrie und Biotechnologie

Digitale Geschäftsmodelle im Allgemeinen

Technologien (Hardware und Software) für die Notfallvorsorge (Stromausfälle, Unterbrechung der digitalen Kommunikation etwa durch Cyberkriminalität usw.)

2.20.

Leider ist in der EU-27 eine erhebliche Abwanderung hochqualifizierter Forscher in die USA und zunehmend auch nach Asien zu beobachten. Diese Abwanderung muss gestoppt und umgekehrt werden. Unter anderem sind die folgenden Grundsätze für exzellente, weltweit führende und schnelle Leistungen im FTI-Bereich äußerst wichtig:

Anerkennung und angemessene Vergütung für hochqualifizierte Forscherinnen und Forscher in der EU-27, insbesondere für Forscherinnen (mit Blick auf das sehr unausgewogene Geschlechterverhältnis im Bereich FTI in der EU-27).

Effiziente Kommunikation, gemeinschaftliches Handeln und Zusammenarbeit sind die drei zentralen Faktoren für Innovation.

Mehr europäische und nationale Fördermittel für Forschungszentren und Hochschulen auf der Grundlage von Ausschreibungsverfahren, damit sichergestellt ist, dass die Mittel für Forschung an die „Besten der Besten“ gehen (keine Förderung nach dem Gießkannenprinzip, bei dem die Fördermittel auf alle Forschungszentren verteilt werden).

2.21.

Eines der wichtigsten Ziele des neuen EFR der EU ist die Wertschöpfung. Der EWSA hält daher den Absatz „Valorisierung von Wissen“ für äußerst wichtig. Dort wird die Bedeutung der Zusammenarbeit und der Vernetzung zwischen sämtlichen Akteuren in Forschung und Innovation hervorgehoben. Wenngleich notwendig, ist dies für die „Valorisierung von Wissen“ nicht hinreichend.

2.22.

Für die Wertschöpfung in Europa gleichermaßen wichtige Themen sind:

die Gewährleistung einer raschen Umsetzung von FuE in innovative Produkte und Dienstleistungen und letztlich in Wertschöpfung, Geschäftsmöglichkeiten und gute Arbeitsplätze. Dazu bedarf es in Europa u. a. mehr Unternehmergeist sowie einer positiven Einstellung zum Risiko, denn die rasche Vermarktung innovativer Produkte birgt immer auch Risiken.

Der im Englischen gängige Spruch „no risk, no fun“ („ohne Risiko kein Spaß“) lautet mit Bezug auf die Innovation „no risk, no business, no new jobs“ („ohne Risiko keine Unternehmen und keine neuen Arbeitsplätze“);

ein klarer Technologiefahrplan, insbesondere in Bezug auf Schlüsseltechnologien (Key Enabling Technologies — KET) sowie künftige und sich abzeichnende Technologien (Future and Emerging Technologies — FET);

eine klare IPR-Strategie für den neuen EFR.

2.23.

Die „Vertiefung eines wirklich funktionierenden Binnenmarkts für Wissen“ ist zweifellos von enormer Bedeutung, da das 21. Jahrhundert das Jahrhundert des Wissens ist. Darüber hinaus ist es jedoch auch sehr wichtig, der Produktion aller Arten von Hardware in Europa neue Impulse zu verleihen. Vor 20 Jahren war die EU der Ansicht, dass die Produktion von Waren nach Asien ausgelagert werden könnte, solange die produktionsrelevante FuE in Europa verbleibt. Dies stellte sich als Fehler heraus. FuE folgt früher oder später immer der Produktion. Die EU muss deshalb große Anstrengungen unternehmen, wenigstens einen Teil der Produktion und der damit verbundenen Arbeitsplätze von Asien wieder zurück nach Europa zu holen. Dies wäre auch ein großer Schritt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die in einigen südlichen Ländern der EU ein enormes Problem darstellt.

2.24.

Eine weitere Lehre, die Europa aus der Corona-Pandemie ziehen kann, ist, dass sich die Herstellung fast aller grundlegenden Medikamente und Impfstoffe im Laufe der letzten 20 bis 30 Jahre von Europa nach Asien verlagert hat. Europa hat in Bezug auf zahlreiche wichtige Produkte und Arzneimitteln seine Souveränität verloren. Mikrochips sind ein weiteres Beispiel, bei dem die europäische Industrie und insbesondere die Automobilindustrie derzeit unter massivem Druck stehen. Weitere Beispiele für Bereiche, in denen Europa leider fast vollständig von Asien abhängig ist, sind Batterien für Elektrofahrzeuge und Wasserstofftechnologien. (Während die europäischen Automobilhersteller nach wie vor mit Prototypen von wasserstoffbetriebenen Autos experimentieren, produzieren Toyota, Honda und Hyundai diese bereits in Serie und verkaufen sie ganz normal.) Zudem liegt Asien bei optischen Technologien, 5G-Kommunikationstechnologie, Künstlicher Intelligenz, maschinellem Lernen, Robotik und vielen anderen KET und FET deutlich vorne. Im Pakt für FuI muss Europa die Wiedererlangung der Souveränität bei Schlüsseltechnologien zu einer klaren Priorität machen.

2.25.

Die Herausforderungen, mit denen Europa gegenwärtig zu kämpfen hat, sind zum einen die hohe Jugendarbeitslosigkeit, insbesondere in einigen südeuropäischen Ländern. Zum anderen besteht ein Mangel an hochqualifizierten Absolventen in den Bereichen Naturwissenschaft, Technik, Ingenieurswesen, Mathematik (Science, Technology, Engineering, Mathematics, STEM). Vor allem fehlen Ingenieure in sämtlichen Bereichen der IKT und der Digitalisierung, der E-Mobilität und in Technologien für erneuerbare Energien. Es wird häufig außer Acht gelassen, dass es vor allem Ingenieure sind, die die von Forschern erzielten Ergebnisse der FuE in technischen Produkten umsetzen. Aufgrund des demografischen Wandels unserer alternden Gesellschaft und der Tatsache, dass es den meisten europäischen Ländern nicht gelingt, mehr Studentinnen für Ingenieurstudiengänge zu gewinnen, wird sich dieses Problem in naher Zukunft verschärfen. Natürlich müssen in der EU die Maßnahmen, die darauf abzielen, mehr Frauen für ein Ingenieurstudium zu gewinnen, massiv verstärkt werden. Zusätzlich müssen im Rahmen des Pakts für FuI intelligente Programme aufgelegt werden, um hochqualifizierte Ingenieurinnen und Ingenieure aus Drittstaaten in die EU zu holen. Der globale RTI-Wettbewerb wird immer mehr zu einem globalen Konkurrenzkampf um Talente werden, und bislang hat die EU dabei etwa im Vergleich zu den USA schlecht abgeschnitten.

2.26.

Nicht zuletzt möchte der EWSA darauf hinweisen, dass der EU-Pakt für FuI sowie der neue EFR im Einklang mit den 17 Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung konzipiert und umgesetzt werden sollten, nach denen vorgesehen ist, dass bis 2030 ein menschenwürdiges Leben für alle auf einem gesunden Planeten gewährleistet wird.

Brüssel, den 23. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ein neuer EFR für Forschung und Innovation“ (ABl. C 220 vom 9.6.2021, S. 79).

(2)  COM(2020) 628 final.

(3)  Quelle: https://erc.europa.eu/news/pact-research-innovation-foundations-european-research-area-still-valid-and-unavoidable

(4)  Wie es auch unter Punkt 2 Buchstabe h des Vorschlags für eine Empfehlung des Rates (COM(2021) 407 final) hervorgehoben wird. Dort heißt es: „Forschung und Innovation sowie (höhere) Bildung sind wesentliche Triebkräfte für Innovation und die Schaffung, Verbreitung und Nutzung von Wissen.“

(5)  COM(2021) 407 final.

(6)  Vgl. COM(2020) 628 final.


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/30


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über Europäische Missionen

(COM(2021) 609 final)

(2022/C 275/05)

Berichterstatter:

Paul RÜBIG

Mitberichterstatterin:

Małgorzata Anna BOGUSZ

Befassung

Europäische Kommission, 1.12.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

3.2.2022

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

214/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) kann nachvollziehen, dass die in der Mitteilung vorgestellten fünf Missionen für die EU vorrangig sind, erachtet aber auch die nachstehend aufgeführten fünf Herausforderungen und Ziele als sehr wichtig für Europa.

Entwicklung und Umsetzung von Missionen und Maßnahmen, um

1.

im globalen Wettbewerb in den Bereichen Forschung, Technologie und Innovation (RTI) mit den USA und Asien Schritt zu halten,

2.

die Herausforderungen der alternden Gesellschaft in der EU zu bewältigen,

3.

Strategien zur erfolgreichen Integration der hohen Zahl von Migranten, die in die EU kommen, festzulegen,

4.

die Krisenvorsorge zu verbessern,

5.

den Bedürfnissen der von der COVID-19-Pandemie betroffenen Patienten mit nichtübertragbaren Krankheiten und insbesondere mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen gerecht zu werden.

1.2.

In der Mitteilung werden fünf wesentliche EU-Missionen aufgelistet und beschrieben:

1.

Anpassung an den Klimawandel,

2.

Krebs,

3.

Wiederbelebung unserer Ozeane und Gewässer bis 2030, einschließlich Sanitärversorgung,

4.

100 klimaneutrale und intelligente Städte sowie intelligente Dörfer bis 2030,

5.

Ein „Boden-Deal“ für Europa.

1.3.

Der EWSA befürwortet nachdrücklich das Vorhaben, 150 Regionen in ganz Europa in ihren Bemühungen um Klimaresilienz zu unterstützen. Hierfür sind jedoch enorme FuE-Mittel erforderlich. Der EWSA empfiehlt deshalb nachdrücklich, die für FuE vorgesehenen regionalen EU-Haushaltsmittel von derzeit 5 % auf mindestens 10 % zu erhöhen.

1.4.

Der EWSA begrüßt, dass die EU einen Schwerpunkt auf den Kampf gegen Krebs als einem der gravierendsten Gesundheitsprobleme legt, und fordert die EU-Organe auf, vergleichbare Schritte für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die die Todesursache Nummer 1 in Europa und weltweit sind, zu unternehmen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Die EU-Missionen werden dadurch ihre Wirkung entfalten, dass sie im Rahmen des Programms „Horizont Europa“ eine neue Rolle für Forschung und Innovation vorsehen, die mit einem koordinierten, ganzheitlichen Ansatz sowie einem neuen Verhältnis zu den Bürgerinnen und Bürgern kombiniert wird. Sie werden öffentliche und private Akteure wie die EU-Mitgliedstaaten, regionale und lokale Behörden, Forschungsinstitute, Unternehmer sowie öffentliche und private Investoren in vollem Umfang mobilisieren und einbinden, um eine echte und dauerhafte Wirkung zu erzielen.

2.2.

Der EWSA betont, dass die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie für die Erfüllung der EU-Missionen sehr wichtig ist. Er begrüßt deshalb den Verweis auf die erneuerte Agenda für industrielle Wettbewerbsfähigkeit. Zugleich unterstreicht der EWSA, dass die Auswirkungen auf die EU-Bürgerinnen und Bürger berücksichtigt werden müssen, und fordert die Kommission auf, ihre Tätigkeiten eng mit der Sozialpolitik und der europäischen Säule sozialer Rechte zu verknüpfen und dabei insbesondere den spezifischen Bedürfnissen älterer und schutzbedürftiger EU-Bürgerinnen und -Bürger Rechnung zu tragen.

2.3.

Der EWSA betont, dass die europäischen Missionen durch eine neue und größere Rolle für Forschung und Innovation zwar primär Wirkung für die EU erzielen sollen, jedoch die wirtschaftliche Dimension (globaler Wettbewerb, hochwertige Arbeitsplätze usw.) sowie die soziale Dimension im Rahmen der Missionen ebenfalls gebührend berücksichtigt werden müssen. Hinsichtlich der sozialen Dimension betont der EWSA, dass neben der Bedeutung der sozialen Rechte sowie der Wahrung der sozialen Sicherheit und fairer Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmer den spezifischen Bedürfnissen schutzbedürftiger Gruppen in der EU (ältere Menschen, Kranke usw.) besondere Aufmerksamkeit gelten muss.

2.4.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich, dass FuI eindeutig als Kernthema des Dokuments über die EU-Missionen angesehen wird. Er ist überzeugt, dass künftige komplexe Herausforderungen der EU in erster Linie durch FuI bewältigt werden können.

2.5.

Der EWSA hat im März 2021 die Stellungnahme „Ein neuer EFR für Forschung und Innovation“ (1), im Februar 2022 eine Stellungnahme zu dem „Pakt für Forschung und Innovation in Europa“ (2) sowie eine Stellungnahme zu dem „Aktionsplan für geistiges Eigentum zur Förderung von Erholung und Resilienz der EU“ (3) verabschiedet. Die vorliegende Stellungnahme sollte in engem Zusammenhang mit diesen drei jüngsten Stellungnahmen des EWSA gesehen werden.

2.6.

Der EWSA teilt uneingeschränkt die Auffassung, dass „[den] Status quo beizubehalten […] keine Option“ ist. Europa benötigt „eine neue Art von Forschungs- und Innovationspolitik“: Wenn die EU ihre alte FuI-Politik unverändert fortsetzt, dann wird sie die enormen Herausforderungen, vor denen sie steht, insbesondere die harte Konkurrenz aus Asien, nicht bewältigen können. Der EWSA hat dies in seiner Stellungnahme „Ein neuer EFR für Forschung und Innovation“ sehr deutlich herausgestellt.

2.7.

Zu Unternehmen heißt es in der Mitteilung, dass die EU-Missionen durch die Mobilisierung und Einbeziehung öffentlicher und privater Interessenträger (EU-Mitgliedstaaten, regionale und lokale Behörden, Forschungseinrichtungen, Unternehmer und öffentliche und private Investoren, EU-Bürgerinnen und Bürger sowie Zivilgesellschaft) eine echte und dauerhafte Wirkung entfalten und dabei Industrie und Unternehmen, insbesondere KMU, berücksichtigen.

2.8.

Die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Industrie in Bezug auf Technologien zur Dekarbonisierung der Stromerzeugung und weiterer CO2-intensiver Industriezweige ist ein entscheidender Faktor für die Erfüllung der EU-Mission 1 „Anpassung an den Klimawandel“. Sollte die EU hier scheitern, dann wird sie Millionen Arbeitsplätze in diesen Industriezweigen verlieren.

2.9.

Darüber hinaus teilt der EWSA uneingeschränkt die Auffassung, dass die EU-Missionen voll und ganz im Einklang mit den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung stehen müssen.

2.10.

Der EWSA kann nachvollziehen, dass die fünf Missionen für die EU vorrangig sind, erachtet jedoch auch die in Kapitel 4 aufgeführten zusätzlichen fünf Herausforderungen und Missionen als sehr wichtig für Europa.

2.11.

Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission, auch denjenigen Missionen und Maßnahmen Vorrang einzuräumen, mit denen neue, hochwertige Arbeitsplätze, Unternehmen, Einkommen, Wohlstand sowie eine hohe Lebensqualität für die Bürgerinnen und Bürger der EU geschaffen werden, wie etwa die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Technologieprodukte gegenüber dem immer härteren globalen Wettbewerb (insbesondere mit China, Südkorea usw.).

2.12.

Ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze und des Wohlstands Europas beruht auf dem Export europäischer technologischer Produkte (Autos, Maschinen, Materialien usw.). Darüber hinaus tragen KKMU, innovative Start-ups, Scale-ups und Hochschulbildung maßgeblich zur Schaffung neuer Arbeitsplätze in Europa bei.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.   Mission 1 — Anpassung an den Klimawandel

3.1.1.

Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen für die Menschheit im 21. Jahrhundert. Die politischen Entscheidungsträger müssen die bevorstehenden Veränderungen antizipieren, um die am stärksten gefährdeten Sektoren und Gruppen zu schützen, und dabei auch die Beschäftigung berücksichtigen.

3.1.2.

Fast alle Maßnahmen des Grünen Deals werden einen Anstieg der Preise etwa für Strom, Brennstoff und Heizung für die Haushalte in der EU bewirken. Dies wirkt sich besonders stark auf die Hunderte Millionen Menschen mit niedrigem oder mittlerem Einkommen und generell auf schutzbedürftige, oftmals einkommensschwache EU-Bürgerinnen und Bürger in den EU-Mitgliedstaaten aus. Folglich haben alle Maßnahmen des Grünen Deals erhebliche soziale Auswirkungen und müssen mit Vorsicht umgesetzt werden. Es gilt hierbei, den Wohlstand zu steigern und nicht etwa diejenigen Menschen zu vernachlässigen, die bei der Bewältigung des Wandels Unterstützung benötigen.

3.1.3.

Beispiele für neue Technologien, die sicherlich eine sehr wichtige Rolle bei der Verringerung der CO2-Emissionen spielen werden:

Dekarbonisierung der Stromerzeugung,

Dekarbonisierung der CO2-emittierenden Industrien, z. B. der Stahlindustrie, der Zementindustrie,

CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS), z. B. Abwasserbehandlungsanlagen,

sehr großflächige Stromspeicherung zu geringen spezifischen Kosten,

E-Mobilität,

intelligente Netze und Hochspannungsnetze,

intelligente Städte usw.

3.1.4.

Diese Technologien lassen sich leicht auflisten, aber angesichts der für alle 27 EU-Mitgliedstaaten und weltweit erforderlichen Größenordnung stellt ihre Umsetzung zweifellos eine große Herausforderung dar.

3.1.5.

Ein zentrales Problem des globalen Wettbewerbs hinsichtlich neuer Technologien wird die Verfügbarkeit einer großen Zahl an Forschern und Ingenieuren darstellen. Dies ist auf jeden Fall eine große Herausforderung für Europa. Asiatische Länder haben die Zahl der Studierenden in Physik, IKT und Ingenieurwesen in den letzten 20 Jahren massiv erhöht, während die entsprechenden Zahlen in Europa mehr oder weniger stagnieren. Es reicht nicht, wenn die EU durch die europäischen Missionen eine Zunahme dieser Studierenden fördert, sondern sie sollte sich auch dafür einsetzen, dass aus dem derzeitigen Braindrain ein Braingain für die EU wird.

3.1.6.

Der EWSA empfiehlt der Kommission nachdrücklich, Maßnahmen zu beschließen, um die Grundkompetenzen deutlich zu verbessern und die Zahl der Studierenden in Physik, IKT und Ingenieurwesen sowie in Medizin und Pharmakologie in Europa in den nächsten 20 Jahren zu erhöhen. Ohne diese Fachkräfte wird Europa bei sämtlichen zur Bekämpfung des Klimawandels benötigten Technologien weiter zurückfallen.

3.2.   Mission 2 — Krebs

3.2.1.

Die Zahl der Krebserkrankungen in der EU-27 nimmt stetig zu. Die EU-27 muss zusammenarbeiten, um Diagnose, Therapie, Zugang zu personalisierter Medizin, Behandlung und Prävention zu verbessern, wie bereits in der Stellungnahme EWSA zum „Europäischen Plan zur Krebsbekämpfung“ (4) vom Juni 2021 betont wurde. Der EWSA begrüßt deshalb, dass die Forschung zur Krebsvorsorge und -behandlung als eine der fünf EU-Missionen genannt wird.

3.2.2.

Der EWSA betont ausdrücklich, dass eine der größten Herausforderungen darin bestehen wird, die Unterschiede beim Zugang zur Krebsbehandlung zwischen den einzelnen Ländern zu verringern. Der EWSA empfiehlt, einen besonderen Schwerpunkt auf schutzbedürftige Gruppen innerhalb der EU zu legen.

3.2.3.

Wie bereits in der Stellungnahme des EWSA zum „Europäischen Plan zur Krebsbekämpfung“ dargelegt, sind der Zugang zu den innovativsten Therapien und die Einführung von Impfkampagnen, mit denen die Zahl der durch Virusinfektionen verursachten Krebserkrankungen verringert werden kann, außerordentlich wichtig.

3.2.4.

Der EWSA betont, dass ein aktiverer Ansatz zur Prävention berufsbedingter Krebserkrankungen notwendig ist. Wie bereits in seiner Stellungnahme zum „Europäischen Plan zur Krebsbekämpfung“ betont wurde, fordert der EWSA, die Exposition gegenüber Karzinogenen, Mutagenen und endokrinen Disruptoren am Arbeitsplatz und die Ursachen für berufsbedingte Krebserkrankungen weiter zu erforschen.

3.2.5.

Der EWSA betont, dass die Sozialpartner, die Patientenorganisationen und die zivilgesellschaftlichen Organisationen unverzichtbar für die Verbreitung bewährter Verfahren sowie für die Bereitstellung einschlägiger Informationen über die Ursachen von Krebs und spezifische Probleme, z. B. in Zusammenhang mit Genderfragen und schutzbedürftigen Gruppen, sind.

3.3.   Mission 3 — Wiederbelebung unserer Ozeane und Gewässer bis 2030

3.3.1.

Sauberes Wasser ist für die EU-Bürgerinnen und Bürger, die Landwirtschaft und die Fischwirtschaft von großer Bedeutung. Auch bei dieser Mission sind der Schlüssel Forschung und Technologien für sauberes Wasser, darunter die Gewinnung von Ressourcen aus Abwasser, Sanitärversorgung und Abwasserbehandlung.

3.3.2.

Darüber hinaus ist der Zugang zu sauberem Wasser für viele Menschen nach wie vor ein Problem. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Menschenrechte auf Wasser und Sanitärversorgung rechtlich umzusetzen.

3.4.   Mission 4 — 100 klimaneutrale und intelligente Städte bis 2030

3.4.1.

Über 65 % der Weltbevölkerung leben in Großstädten, und dieser Anteil nimmt weiter zu. Großstädte verursachen immer größere Herausforderungen in Bezug auf Infrastrukturen (Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, Verkehr, Energieversorgung usw.) und Lebensqualität. Diese können zum großen Teil nur mit Forschung und Hightech-Lösungen bewältigt werden. Künftig werden wesentlich mehr hochqualifizierte Ingenieure benötigt, um intelligente High-Tech-Städte und Dörfer zu planen.

3.4.2.

Der Anteil älterer Menschen in Städten nimmt rasch zu (alternde Gesellschaft). Ältere und schutzbedürftige Menschen haben andere Bedürfnisse als junge Menschen: Sie brauchen eine umfassendere medizinische Versorgung, Sozialfürsorge usw. Aufgrund des demografischen Wandels in der Gesellschaft wird es in naher Zukunft nicht mehr genug junge Menschen geben, die diese Dienstleistungen erbringen, sodass einige Leistungen für ältere Menschen durch intelligente Lösungen (z. B. von Robotern) übernommen werden müssen.

3.4.3.

Viele Notsituationen der letzten Jahre haben gezeigt, dass moderne Gesellschaften relativ anfällig sind, weshalb der Ausbau der Krisenvorsorge durch FuE sehr wichtig ist:

die Katastrophen in den Kernkraftwerken Fukushima, Tschernobyl, Three Mile Island usw.,

Strom- und Kommunikationsausfälle,

Engpässe und starke Preiserhöhungen für alle Energiequellen, einschließlich Erdgas,

Gewitter und massive Überschwemmungen, bei denen viele Hunderte Menschen ums Leben kamen,

Pandemien wie COVID-19, Zika und künftige Pandemien,

Cyberangriffe (durch die massiv zunehmende Digitalisierung aller Bereiche des öffentlichen Lebens, des Privatlebens und der Wirtschaft nimmt die Bedrohung durch Cyberangriffe rasch zu).

3.4.4.

Ost- und Südeuropa entgingen am 8. Januar 2021 nur ganz knapp einem gravierenden Blackout. Die eigentliche Ursache für die zunehmende Anfälligkeit der europäischen Energieversorgung ist der wachsende Anteil unvorhersehbarer und nicht planbarer erneuerbarer Energiequellen wie Windkraftanlagen und Sonnenenergie. Europa ist auf Stromausfälle nicht besonders gut vorbereitet: Bei einem Stromausfall bricht die Energieversorgung der Haushalte und der Industrie unverzüglich, die Kommunikation innerhalb von Minuten oder Stunden und die Trinkwasserversorgung innerhalb kurzer Zeit zusammen usw. Die Wiederherstellung der Versorgung ist keine leichte Aufgabe.

3.5.   Mission 5 — Ein „Boden-Deal“ für Europa

3.5.1.

Neben sauberem Wasser, wie bereits erwähnt, sind auch gesunde Böden für den Anbau der Grundstoffe für Lebensmittel eine der wichtigsten Voraussetzungen für Leben — für Mensch und Tier. Die Weltbevölkerung wächst: Bis zum Ende des Jahrhunderts müssen wir rund 10 Mrd. Menschen nachhaltig ernähren. Konventionelle Lebensmittel und Landwirtschaft sind eine der wichtigen Quellen der Treibhausgase CO2 und Methan. Somit ist viel FuE erforderlich, um eine klimaneutrale Landwirtschaft für die nachhaltige Erzeugung von Lebensmitteln für die 10 Mrd. Menschen auf der Erde zu erforschen und entwickeln. Derzeit werden etwa 10 % des EU-Haushalts für Landwirtschaft und Landbau für FuE ausgegeben; der EWSA empfiehlt, diesen Anteil auf mindestens 20 % zu erhöhen, um die FuE für neue, nachhaltige landwirtschaftliche Technologien, darunter insbesondere Robotik in der Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion auszubauen.

4.   Fünf zusätzliche Missionen

4.1.

Der EWSA erachtet die fünf in der Mitteilung aufgeführten Missionen zwar als dringende Prioritäten für die EU, hält jedoch auch die nachstehend beschriebenen fünf Herausforderungen und Aufgaben für äußerst wichtig für Europa:

4.2.   Zusätzliche EU-Mission 1 — Mit den USA und Asien im globalen Wettbewerb im Bereich RTI mithalten

4.2.1.

Damit die EU in den Bereichen Forschung, Technologie, Innovation (RTI) und Patente nicht hinter Asien, vor allem nicht hinter China und Südkorea, zurückfällt, müssen Missionen und Maßnahmen entwickelt und umgesetzt werden. Es ist eine Tatsache, dass die EU in Bezug auf RTI seit ca. dem Jahr 2000 immer mehr hinter China und Südkorea zurückfällt (5).

4.2.2.

Wenn die EU im Bereich RTI weiterhin hinter die USA und Asien zurückfällt, wird Europa langfristig (über 20 bis 50 Jahre) Millionen Arbeitsplätze und erheblichen Wohlstand einbüßen. Das Defizit der EU-27 ist tatsächlich kritisch, insbesondere bei neuen Schlüsseltechnologien (KET) sowie künftigen und sich abzeichnenden Technologien (FET) wie künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen, Deep Learning, Robotik, Gentechnik, Kommunikationstechnologien (z. B. 5G), Herstellung von Computerchips, Herstellung von Schlüsselkomponenten für die E-Mobilität (z. B. Batterien, Brennstoffzellen und Wasserstoff) usw. Neue Materialien sind seit jeher ein Motor für Innovationen: So bieten beispielsweise Innovationen bei der Herstellung und Nutzung von Graphen und seine breite Verwendung in der Industrie Potenzial für Forschung und Innovation in Europa.

4.3.   Zusätzliche EU-Mission 2 — Bewältigung der Herausforderungen der alternden Gesellschaft in der EU

4.3.1.

Die Gesellschaft in der EU altert rasch, wodurch neue Herausforderungen für alle EU-Mitgliedstaaten entstehen.

4.3.2.

Ältere und schutzbedürftige Menschen haben andere Bedürfnisse als junge Menschen: Sie brauchen mehr und neuartige Arzneimittel (gegen Demenz, Alzheimer usw.), mehr medizinische Versorgung, mehr soziale Betreuung, mehr speziell für ältere und schutzbedürftige Menschen konzipierte Bildungsmaßnahmen usw.

4.3.3.

Forschung und Innovation (Medizin, Arzneimittel, Sozial- und Ingenieurwissenschaften, spezifische Bildungsmaßnahmen usw.) werden zweifellos eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der alternden Gesellschaft der EU spielen.

4.3.4.

Die Gesellschaft als Ganzes braucht eine ehrgeizige europäische Pflegestrategie.

4.4.   Zusätzliche EU-Mission 3 — Strategien zur erfolgreichen Integration der hohen Zahl von Migranten, die in die EU kommen

4.4.1.

Die EU muss Missionen und Maßnahmen zur Integration der hohen Zahl von Migranten in den EU-Mitgliedstaaten entwickeln. Als rasch alternde Gesellschaft benötigt die EU mehr junge, gut ausgebildete Menschen. Daher sind innovative Konzepte für die Aus- und Weiterbildung von Migranten erforderlich. Die sozioökonomische Forschung kann zu einem besseren Verständnis darüber beitragen, wie diese Millionen Menschen erfolgreich integriert werden können.

4.5.   Zusätzliche EU-Mission 4 — Krisenvorsorge

4.5.1.

Zur Krisenvorsorge gehört auch die Entwicklung und Umsetzung von Missionen und Maßnahmen zur Sicherung einer stabilen Energieversorgung und zur Vermeidung von Stromausfällen bei gleichzeitiger Dekarbonisierung des Energiesystems der EU. Siehe hierzu Ziffer 3.4.4, in der die Frage der Krisenvorsorge behandelt wird, insbesondere in Bezug auf Strom- und Kommunikationsausfälle. Auch hier sind Forschung und Innovation (vor allem in den Ingenieurwissenschaften) der Schlüssel zur Bewältigung der Herausforderungen.

4.5.2.

Weitere Herausforderungen, die zu Krisen führen können, sind Überschwemmungen, Dürren, Pandemien, aber auch wirtschaftliche Notlagen wie der Ausfall globaler Lieferketten (z. B. die Blockade des Suezkanals im Jahr 2021 usw.).

4.6.   Zusätzliche EU-Mission 5 — Den Bedürfnissen der von der COVID-19-Pandemie betroffenen Patienten mit nichtübertragbaren Krankheiten und insbesondere mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen gerecht werden, die die Todesursache Nummer 1 in Europa und weltweit sind.

4.6.1.

Nach der Pandemie müssen nichtübertragbare Krankheiten stärker in den Blickpunkt rücken. In der EU leben 60 Mio. Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die die Todesursache Nummer 1 in Europa sind. In den Jahren vor COVID-19 waren Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Ursache vermeidbarer Todesfälle in der EU. Während der Pandemie wurden diese Krankheiten bei vielen Patienten zu spät diagnostiziert oder konnten gar nicht diagnostiziert werden.

4.6.2.

Wir sollten uns näher mit dem Aspekt der Gesundheitsgerechtigkeit in der EU befassen und folglich den Abbau von Ungleichheiten im Gesundheitsbereich, darunter Aspekte der Gendermedizin, fördern. Trotz des Schwerpunkts dieser Initiative auf der Förderung und Prävention sollten damit auch bessere Kenntnisse und Daten, Screening und Früherkennung, Diagnose- und Behandlungsmanagment sowie die Lebensqualität der Patienten unterstützt werden. Ein weiteres Ziel sollte darin bestehen, die EU-Länder bei der Übernahme bewährter Verfahren, der Entwicklung von Leitlinien und der Einführung innovativer Ansätze usw. zu unterstützen. Folglich sollte die EU eine weitere europäische Mission beschließen: analog zu den Maßnahmen der Mission Krebs die Schaffung von Gesundheitssystemen, die hinsichtlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen resilienter gegenüber Pandemien sind; dabei sollten also auch die beiden nichtübertragbaren Krankheiten bekämpft werden, welche die europäische Bevölkerung am stärksten belasten. Darüber hinaus sollten wir uns auch mit anderen und insbesondere mit solchen Krankheiten auseinandersetzen, die sich erheblich auf das europäische BIP auswirken, z. B. Muskel-Skelett-Erkrankungen.

Brüssel, den 23. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 220 vom 9.6.2021, S. 79.

(2)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Empfehlung des Rates zu einem Pakt für Forschung und Innovation in Europa (COM(2021) 407 final — final 2021/230 (NLE)) (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 24).

(3)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 59.

(4)  ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 76.

(5)  Einzelheiten sind z. B. in den Berichten des OECD-Anzeigers für Wissenschaft, Technologie und Industrie 2015 und 2017 zu finden.


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/36


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 2001/20/EG und 2001/83/EG in Bezug auf Ausnahmen von bestimmten Verpflichtungen für bestimmte im Vereinigten Königreich bereitgestellte Humanarzneimittel in Bezug auf Nordirland sowie in Bezug auf Zypern, Irland und Malta

(COM(2021) 997 final — 2021/0431 (COD))

und zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 zur Einführung einer Ausnahmeregelung in Bezug auf bestimmte Verpflichtungen betreffend Prüfpräparate, die im Vereinigten Königreich in Bezug auf Nordirland sowie in Zypern, Irland und Malta zugänglich gemacht werden

(COM(2021) 998 final — 2021/0432 (COD))

(2022/C 275/06)

Berichterstatter:

Martin SCHAFFENRATH

Befassung

a)

Europäisches Parlament, 20.1.2022

b)

Rat, 3.2.2022

Rechtsgrundlage

a)

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

b)

Artikel 114 und Artikel 168 Absatz 4 Buchstabe c des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

3.2.2022

Verabschiedung im Plenum

24.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

180/0/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die kontinuierliche Versorgung mit qualitativ hochwertigen, wirksamen und sicheren Humanarzneimitteln ist entscheidend für die Sicherstellung des Zugangs für Patientinnen und Patienten zur Gesundheitsversorgung. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt deshalb das am 17. Dezember 2021 von der Europäischen Kommission vorgelegte Maßnahmenpaket mit dem Ziel, einerseits langfristig die ununterbrochene Lieferung von Arzneimitteln aus dem Vereinigten Königreich nach Nordirland zu gewährleisten sowie andererseits die teils durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union noch bestehenden Lieferengpässe in Zypern, Irland und Malta zeitnah zu beseitigen.

1.2.

Der EWSA erkennt an, dass besonders die kleineren EU-Mitgliedstaaten Zypern, Irland und Malta historisch stark von der Versorgung mit Arzneimitteln und Prüfpräparaten aus dem Vereinigten Königreich abhängen.

1.3.

Die Änderungen des Maßnahmenpakets zur Einführung von Ausnahmeregelungen in Bezug auf bestimmte Verpflichtungen betreffend Arzneimittel und Prüfpräparate, die im Vereinigten Königreich in Bezug auf Nordirland sowie in Zypern, Irland und Malta bereitgestellt werden, sind nach Meinung des EWSA aufgrund des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU und der damit zusammenhängenden Rahmenbedingungen sinnvoll und werden daher vollumfänglich vom EWSA unterstützt.

1.4.

Der EWSA betont besonders die zentrale Rolle eines funktionierenden, fairen sowie effizienten Binnenmarkts. Oberste Priorität muss dabei die Einhaltung der für Arzneimittel und Prüfpräparate relevanten EU-Rechtsvorschriften, insbesondere im Hinblick auf die Qualität und die Sicherheit der betroffenen Produkte sein. Gleichzeitig begrüßt der EWSA auch die im Maßnahmenpaket enthaltenen Verpackungsvorschriften für Produkte aus dem Vereinigten Königreich, um eine zusätzliche Umverpackung zu vermeiden, was aufgrund der zusätzlich anfallenden Kosten und Komplexität des Vorgangs zu einer Rücknahme von Arzneimitteln vom Markt in Nordirland führen könnte.

1.5.

Im Hinblick auf die zeitlich beschränkten Ausnahmeregelungen für Zypern, Irland und Malta verweist der EWSA jedoch auf die Notwendigkeit einer zeitnahen nachhaltigen Lösung, die im Rahmen der europäischen Arzneimittelstrategie erarbeitet werden sollte, um langfristig die Versorgung der Patientinnen und Patienten in den oben genannten Mitgliedstaaten mit in der EU zugelassenen Arzneimitteln zu gewährleisten.

2.   Kontext der Kommissionsvorschläge

2.1.

Gemäß dem Protokoll zu Irland/Nordirland des Austrittsabkommens (1) des Vereinigten Königreichs müssen Arzneimittel, die in Nordirland in Verkehr gebracht werden, über eine gültige Genehmigung für das Inverkehrbringen verfügen, die von der Kommission (EU-weite Genehmigungen) oder dem Vereinigten Königreich für Nordirland erteilt wurde. Diese nationalen Genehmigungen müssen den EU-Rechtsvorschriften für Arzneimittel entsprechen. Auch ist für die Einfuhr von Prüfpräparaten aus Drittländern in die Union oder nach Nordirland der Besitz einer Erlaubnis zur Herstellung und Einfuhr erforderlich. Diese müssen den Anforderungen des EU-Besitzstandes für klinische Prüfungen entsprechen.

2.2.

Zypern, Irland, Malta und Nordirland sind seit jeher auf die Lieferung von Arzneimitteln, einschließlich Prüfpräparaten, aus oder über andere Teile des Vereinigten Königreichs als Nordirland angewiesen, und die Lieferketten für diese Märkte wurden noch nicht vollständig an das EU-Recht und die veränderte Situation durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union angepasst.

2.3.

Die Bekanntmachung der Kommission vom 25. Januar 2021 (2) sieht eine Karenzzeit von einem Jahr (bis Ende Dezember 2021) für die Aufrechterhaltung der Chargenprüfung und der Herstellung/Logistik in anderen Teilen des Vereinigten Königreichs als Nordirland vor, um die unterbrechungsfreie Lieferung von Arzneimitteln nach Nordirland, Zypern, Irland und Malta zu gewährleisten. Diese Bekanntmachung ist auch auf Einfuhranforderungen für Prüfpräparate anzuwenden, um eine unterbrechungsfreie Versorgung von Nordirland, Zypern, Irland und Malta mit Arzneimitteln zu gewährleisten.

2.4.

Trotz des Übergangszeitraums erweist es sich für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer, die derzeit in anderen Teilen des Vereinigten Königreichs als Nordirland ansässig sind, immer noch als sehr schwierig, sich den im Protokoll vorgesehenen Anforderungen anzupassen. Die Hauptgründe dafür sind die im Verhältnis zur geringen Größe des nordirischen Marktes, der 3 % des Gesamtmarkts des Vereinigten Königreichs repräsentiert, zu hohen Kosten einer solchen Anpassung und die komplexe Logistik, für die keine nachhaltigen alternativen Logistikzentren in Nordirland gefunden wurden.

2.5.

Ziel dieser Vorschläge ist es, einerseits die Probleme im Zusammenhang mit Humanarzneimitteln zu lösen, Engpässe bei Arzneimitteln zu vermeiden und einen angemessenen Schutz der öffentlichen Gesundheit in Nordirland, Zypern, Irland und Malta zu gewährleisten. Ebenso sind die Probleme im Zusammenhang mit Prüfpräparaten anzugehen, um eine Beeinträchtigung beim Zugang zu diesen und damit bei der Durchführung von gemäß der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates (3) genehmigten klinischen Prüfungen in Nordirland, Zypern, Irland und Malta zu verhindern.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt daher das vorliegende Maßnahmenpaket. Die Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln sowie der Schutz der öffentlichen Gesundheit sind grundlegende Anliegen des Ausschusses.

3.2.

Der EWSA hält den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU für ein sehr komplexes und schwieriges Unterfangen. Mit dem Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich (4) sowie dem dazugehörigen Protokoll zu Irland/Nordirland (5) wird zwar der Großteil der künftigen Beziehung zwischen den beiden Vertragspartnern geregelt. Da sich der vorgesehene Übergangszeitraum von einem Jahr für die nötige Anpassung an die neuen Vorgaben, um eine unterbrechungsfreie Lieferung von Arzneimitteln und Prüfpräparaten nach Nordirland, Zypern, Irland und Malta sicherzustellen, als nicht ausreichend erwiesen hat, muss nun gezielt und rasch gehandelt werden, um die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen abzufedern.

3.3.

Kernpunkte des Maßnahmenpakets, die es nach Meinung des EWSA besonders hervorzuheben gilt, sind:

ununterbrochene Versorgung Nordirlands mit Arzneimitteln aus dem Vereinigten Königreich, solange diese den EU-Rechtsvorschriften entsprechen;

weitere Anerkennung der Chargenprüfung durch eine im Vereinigten Königreich außer Nordirland ansässige sachkundige Person, die für die Chargenprüfung und die Pharmakovigilanz zuständig ist, um auch zukünftig Doppelarbeit zu vermeiden;

Erhalt der Möglichkeit, Packungen für Nordirland und das Vereinigte Königreich beizubehalten und gleichzeitig eine Zulassung über das dezentralisierte oder das nationale Zulassungsverfahren beantragen zu können;

angemessene Maßnahmen zur Anpassung der Anforderungen der sog. Fälschungsschutz-Richtlinie 2011/62/EU (6) zur weiteren Gewährleistung der Sicherheit von Arzneimitteln in Nordirland und Verhinderung der Verbreitung dieser Arzneimittel in den Rest der EU.

3.4.

Der EWSA betont im Zusammenhang mit dem EU-Binnenmarkt, dass bei der Umsetzung des Maßnahmenpakets unter allen Umständen sichergestellt werden muss, dass betroffene Arzneimittel und Prüfpräparate aus dem Vereinigten Königreich in Nordirland verbleiben und nicht in anderen Teilen des Binnenmarkts in den Handel gelangen, es sei denn, sie wurden von einer nationalen zuständigen Behörde in Übereinstimmung mit den EU-Rechtsvorschriften zugelassen. Gleiches gilt für die Übergangszeit von drei Jahren für Zypern, Irland und Malta. Oberstes Prinzip muss hier sein, dass diese Arzneimittel und Prüfpräparate nur der Versorgung der in diesen Ländern ansässigen Patientinnen und Patienten dient.

3.5.

Besonders begrüßt der EWSA in diesem Zusammenhang auch den Grundsatz der Transparenz durch die Verpflichtung der zuständigen Behörden in Nordirland und den betroffenen EU-Mitgliedstaaten zur Erstellung und Veröffentlichung einer Liste relevanter Arzneimittel und Prüfpräparate, um den Schutz der Gesundheit in der Union zu gewährleisten sowie zu verhindern, dass diese Arzneimittel in andere Mitgliedstaaten gelangen.

3.6.

Weiters befürwortet der EWSA insbesondere auch die vorgeschlagenen Ausnahmeregelungen im Hinblick auf die sog. Fälschungsschutz-Richtlinie 2011/62/EU, die es den Herstellern ermöglichen sollen, weiterhin die für die Union erforderlichen individuellen Erkennungsmerkmale von Arzneimitteln beizubehalten, auch wenn diese von anderen EU-Mitgliedstaaten über das Vereinigte Königreich nach Nordirland sowie für einen Zeitraum von drei Jahren nach Zypern, Irland und Malta eingeführt werden. Ebenso unterstützt der EWSA den vorgesehenen Mechanismus, durch den Apotheker und Krankenhäuser in der Union (außer Nordirland, Zypern, Irland und Malta) über das Arzneimittelverifizierungssystem (sog. European Medicines Verification System) informiert werden, sobald ein im Vereinigten Königreich für Nordirland zugelassenes Arzneimittel gescannt wird. Dadurch können Endverbraucher eindeutig darauf hingewiesen werden, dass eine solche Arzneimittelpackung ggf. nicht für die Abgabe in der Union bestimmt ist.

3.7.

Im Hinblick auf allfällige Übergangslösungen, die gewährleisten sollen, dass Patientinnen und Patienten in Nordirland jenen im Rest des Vereinigten Königreichs gleichstellt sind, begrüßt der EWSA ebenso die vorgeschlagene Ausnahmeregelung einer temporären Einfuhr neuer, patentgeschützter Arzneimittel, die im Vereinigten Königreich zugelassen sind, bis auch die Union eine Marktzulassung erteilt hat.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Nach Ansicht des EWSA wurden alle Bedenken von Seiten der betroffenen Akteure umfassend berücksichtigt, um die ununterbrochene Versorgung Nordirlands und anderer kleinerer, damit in Verbindung stehender Mitgliedstaaten mit Arzneimitteln und Prüfpräparaten zu gewährleisten. Jedoch schlägt der EWSA im Folgenden einige wenige Klarstellungen vor, die in begleitende Leitlinien aufgenommen werden können.

4.2.

Hervorzuheben ist besonders Erwägungsgrund 7 des Richtlinienvorschlags, der eine wichtige Klarstellung enthält, was den Verbleib der regulatorischen Anforderungen an Chargenprüfung und Pharmakovigilanz im Vereinigten Königreich für die Ausfuhr nach Nordirland betrifft. Dabei muss deutlich dargelegt werden, dass jede im Vereinigten Königreich außer Nordirland verortete Regulierungsfunktion im Zusammenhang mit der Genehmigung für das Inverkehrbringen im Vereinigten Königreich in Nordirland sowohl für aktuelle wie auch zukünftige nationale Zulassungen sowie Zulassungen über das dezentralisierte Verfahren bzw. das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung genutzt werden kann. Dies muss sowohl im Richtlinienvorschlag als auch in entsprechenden Leitlinien fest verankert sein.

4.3.

Der EWSA verweist besonders auf den von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Artikel 2 des Richtlinienvorschlags (Einführung eines Artikel 5a in die Richtlinie 2001/83/EG) in Bezug auf Ausnahmen von bestimmten Verpflichtungen für bestimmte im Vereinigten Königreich bereitgestellte Humanarzneimittel. Unter allen Umständen muss sichergestellt werden, dass betroffene, aus dem Vereinigten Königreich nach Nordirland (und für den Übergangszeitraum von drei Jahren nach Zypern, Irland und Malta) ausgeführte Arzneimittel in diesen Märkten verbleiben und nicht in anderen Teilen des Binnenmarkts in den Handel gelangen.

4.4.

Eine weitere nötige Klarstellung sieht der EWSA in Bezug auf die in Artikel 2 Absatz 4 des Richtlinienvorschlags vorgesehene Qualitätsprüfung (Änderung Artikel 20 der Richtlinie 2001/83/EG), wenn es um Arzneimittel geht, die über das zentralisierte Verfahren der Union zugelassen wurden, jedoch anstatt in einem EU-Mitgliedstaat im Vereinigten Königreich (außer Nordirland) hergestellt werden und von dort direkt nach Nordirland eingeführt werden.

4.5.

Weiterführende Erläuterungen empfiehlt der EWSA auch im Hinblick auf Artikel 2 Absatz 5 des Richtlinienvorschlags (Änderung Artikel 40 der Richtlinie 2001/83/EG) bezüglich der Notwendigkeit einer Großhandelserlaubnis für eine in einem anderen Teil des Vereinigten Königreichs als Nordirland ansässigen Unternehmens für den Export/Import nach Nordirland. Festzuhalten ist hier, dass die Möglichkeit, mit einer von einer Behörde des Vereinigten Königreichs ausgestellten Großhandelserlaubnis Arzneimittel vom Standort im Vereinigten Königreich nach Nordirland einzuführen, weiterhin gewährleistet sein sollte.

4.6.

Unterstützt wird ebenfalls Artikel 2 Absatz 9, der es Unternehmen ermöglicht, dass sich die sachkundige Person für die Chargenprüfung und die Pharmakovigilanz auch weiterhin in anderen Teilen des Vereinigten Königreichs als Nordirland befinden kann. Jedoch fordert der EWSA weitere Klarstellung, ggf. in anhängigen Leitlinien, zur konkreten Umsetzung dieser Regelung in der Praxis.

4.7.

Abschließend betont der EWSA, dass es besonders wichtig ist, deutlich zwischen der Bekanntmachung der Kommission vom 25. Januar 2021 (7), die den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern temporär die weitere Versorgung Nordirlands mit Arzneimitteln und Prüfpräparaten ermöglicht, und den Bestimmungen im vorliegenden Maßnahmenpaket zu unterscheiden. Die Union wird aufgefordert, ein hohes Maß an Rechtssicherheit für Zulassungsinhaber, Großhändler und Apotheker in diesem Übergangszeitraum zwischen o. g. Ausnahmeregelung und der Annahme sowie Umsetzung der Änderungen durch den Richtlinien- bzw. Verordnungsvorschlag zu gewährleisten.

Brüssel, den 24. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. L 29 vom 31.1.2020, S. 7.

(2)  Bekanntmachung der Kommission — Anwendung des Besitzstands der Union im Arzneimittelbereich auf Märkte, die in der Vergangenheit von der Arzneimittelversorgung aus oder über Großbritannien abhängig waren, nach Ablauf des Übergangszeitraums (ABl. C 27 vom 25.1.2021, S. 11).

(3)  Verordnung (EU) Nr. 536/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG (ABl. L 158 vom 27.5.2014, S. 1).

(4)  Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits (ABl. L 444 vom 31.12.2020 S. 14).

(5)  ABl. L 29 vom 31.1.2020, S. 7.

(6)  ABl. L 174 vom 1.7.2011, S. 74.

(7)  Bekanntmachung der Kommission — Anwendung des Besitzstands der Union im Arzneimittelbereich auf Märkte, die in der Vergangenheit von der Arzneimittelversorgung aus oder über Großbritannien abhängig waren, nach Ablauf des Übergangszeitraums (ABl. C 27 vom 25.1.2021, S. 11).


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/40


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Eine Unternehmensbesteuerung für das 21. Jahrhundert

(COM(2021) 251 final)

(2022/C 275/07)

Berichterstatter:

Krister ANDERSSON

Befassung

Europäische Kommission, 1.7.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Plenums

8.6.2021

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

8.2.2022

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

216/00/07

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die lange erwartete Initiative der Kommission für die Strategie zur Unternehmensbesteuerung im 21. Jahrhundert. Er unterstützt und begrüßt nachdrücklich, dass die Kommission ihre Arbeit an den internationalen Gesprächen und Vereinbarungen ausrichtet.

1.2.

Der EWSA hebt hervor, dass grenzüberschreitende Investitionen erleichtert und die Befolgungskosten der Unternehmen gesenkt werden müssen. Gleichzeitig muss die europäische Wirtschaft grüner und besser digitalisiert werden.

1.3.

Der EWSA legt der Kommission nahe, ihren Aktionsplan für eine faire und einfache Besteuerung zur Unterstützung der Aufbaustrategie (1) weiterzuverfolgen und dabei die Stellungnahme des EWSA zum „Paket für eine faire und einfache Besteuerung“ (2) zu berücksichtigen.

1.4.

Der EWSA begrüßt, dass die Finanzminister der G20 die Vereinbarung gebilligt haben, die am 8. Oktober 2021 von 136 der 140 am Inklusiven Rahmen beteiligten Länder unterzeichnet wurde. Damit soll eine globale und auf einem Konsens beruhende Paketlösung zur Aufteilung der Besteuerungsrechte unter den Ländern erreicht werden. Gleichzeitig betont der EWSA, dass solche ehrgeizigen Ziele komplexe Auswirkungen haben, die eine einheitliche und global koordinierte Umsetzung der Säulen 1 und 2 (das Paket) erfordern.

1.5.

Der EWSA betont, dass die Umsetzung des Steuerpakets sowohl in der EU als auch gleichzeitig in den wichtigsten Handelspartnerländern erfolgen muss. Wird Säule 1 nicht gleichzeitig in den USA und von anderen wichtigen Handelspartnern umgesetzt, entsteht unter Umständen ein Wettbewerbsnachteil für europäische Unternehmen.

1.6.

Der EWSA hebt hervor, dass in Bezug auf Säule 2 und die effektive Mindestkörperschaftsteuer die Regeln in Europa genau den vereinbarten komplexen Regeln entsprechen müssen, die im Rahmen der globalen Vereinbarung ausgearbeitet wurden. Die Mitgliedstaaten sollten daher ausreichend Zeit einräumen, damit ein abschließend vereinbarter Text zur Verfügung steht, bevor eine Richtlinie verabschiedet wird.

1.7.

Über die Berechnung des effektiven Steuersatzes soll ermittelt werden, ob der effektive Steuersatz einer bestimmten multinationalen Unternehmensgruppe in Bezug auf das betroffene Gebiet über oder unter dem Mindeststeuersatz liegt. Der EWSA hebt hervor, dass Anforderungen zur Berechnung des effektiven Steuersatzes dem vereinbarten globalen Ansatz entsprechen müssen, damit sich die Verwaltungskosten nicht erhöhen.

1.8.

Der EWSA befürwortet die Initiative der Kommission, gegenüber den Mitgliedstaaten eine Empfehlung auszusprechen, dass Einbußen über einen Verlustrücktrag ausgeglichen werden können.

1.9.

Der EWSA unterstützt die Kommission bei der Bekämpfung der missbräuchlichen Nutzung von Briefkastenfirmen zum Zweck der Geldwäsche, der aggressiven Steuerplanung durch Einzelpersonen und Unternehmen und der Steuerhinterziehung. Der EWSA sieht der Gelegenheit zur Stellungnahme zu einem konkreten Vorschlag zur Eindämmung der missbräuchlichen Nutzung von Briefkastenfirmen erwartungsvoll entgegen.

1.10.

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission, einen Freibetrag als Anreiz gegen eine Bevorzugung der Fremd- gegenüber der Eigenkapitalfinanzierung (DEBRA) einzurichten. Investitionen in neue grünere Technologie sind mit hohen Risiken für den Investor verbunden. In solchen Situationen ist die Eigenkapitalfinanzierung besonders wichtig und die Anreize gegen eine Eigenkapitalfinanzierung aufgrund der Steuersysteme müssen beseitigt werden.

1.11.

Der EWSA begrüßt den „Rahmen für die Unternehmensbesteuerung“ (BEFIT) mit einem einzigen Regelwerk für die Körperschaftsteuer und sieht der Möglichkeit, einen ausführlichen Vorschlag zu prüfen, erwartungsvoll entgegen.

1.12.

Der EWSA legt der Kommission nahe, grenzüberschreitende Situationen mit Fernarbeit als einen integralen Bestandteil der Strategie zur Unternehmensbesteuerung anzugehen.

1.13.

Ein weiterer Bereich, der überprüft werden muss, ist der Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer. Ausnahmen und Schlupflöcher sorgen für Komplexität und führen zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen sowie zu Steuerausfällen. Der EWSA legt der Kommission nahe, die Anwendung des Mehrwertsteuersystems zu überprüfen.

2.   Vorschlag der Kommission

2.1.

Die Mitteilung der Kommission zur Unternehmensbesteuerung für das 21. Jahrhundert hat das Ziel, mehrere wichtige Herausforderungen, die sich im Laufe der Jahre ergeben haben, zusammen mit dem Ausbruch von COVID-19 anzugehen.

2.2.

Die EU benötigt einen robusten, effizienten und fairen Besteuerungsrahmen, der den Bedürfnissen der öffentlichen Hand gerecht wird und gleichzeitig den Aufbau, den Übergang zu einer grünen Wirtschaft und die Digitalisierung fördert. Es gilt, ein Umfeld zu schaffen, das einem fairen, nachhaltigen und inklusiven Wachstum zuträglich ist und Investitionen fördert, damit sich konkrete Beschäftigungsmöglichkeiten ergeben.

2.3.

Die Besteuerung soll zu allgemeinen politischen Maßnahmen der EU beitragen, beispielsweise zum europäischen Grünen Deal, zur Digitalen Agenda der Kommission, zur neuen Industriestrategie für Europa und zur Kapitalmarktunion. Über die Besteuerung muss auch die Digitalisierung erleichtert werden, indem für digitale Unternehmen ein wachstumsfreundliches Umfeld geschaffen wird.

2.4.

In der Kommissionsmitteilung werden die Ergebnisse des Projekts zur Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (Base Erosion and Profit Shifting, BEPS) berücksichtigt. Sie geht auch auf die Reform des internationalen Rahmens zur Unternehmensbesteuerung ein, bei der die OECD federführend ist und die von den G20 gefordert wurde. Das Reformpaket besteht aus zwei Säulen. Säule 1 hat das Ziel, die internationalen Steuervorschriften an die neuen Geschäftsmodelle anzupassen, die es Unternehmen ermöglichen, Geschäfte ohne physische Präsenz zu tätigen (3).

2.5.

Mit Säule 2 hingegen wird dem Steuersenkungswettlauf Einhalt geboten, indem ein effektiver Mindestkörperschaftsteuersatz von 15 Prozent festgelegt wird (4).

2.6.

Wie im Rahmen eines multilateralen Übereinkommens vereinbart, wird die Anwendung des Pakets verbindlich sein und die Kommission wird eine Richtlinie für seine Umsetzung in der EU vorschlagen.

2.7.

Die Kommission wird außerdem einen neuen Vorschlag für die jährliche Veröffentlichung der effektiven Körperschaftsteuer von Großunternehmen mit Sitz in der EU, die in den Geltungsbereich von Säule 2 fallen, vorlegen. Dabei kommt die Methodik zum Einsatz, die für die Berechnungen von Säule 2 vereinbart wurde.

2.8.

Die EU wird als Teil ihrer Transparenzagenda über eine Gesetzgebungsinitiative, mit der die aggressive Steuerplanung, Steuerhinterziehung oder Geldwäsche durch Einzelpersonen und Unternehmen verhindert werden soll, auch weiter die missbräuchliche Nutzung von Briefkastenfirmen zu Steuerzwecken bekämpfen. Dies sind Unternehmen mit keiner oder einer minimalen substanziellen Präsenz und realen Wirtschaftstätigkeit.

2.9.

Mit der Strategie der Kommission wird auch das Problem der Bevorzugung der Fremd- gegenüber der Eigenkapitalfinanzierung bei der Besteuerung der Unternehmen angegangen. Mit Eigenkapital finanzierte Investitionen sollen durch ein System mit einem Freibetrag für die Finanzierung mit neuem Kapital (DEBRA) weniger benachteiligt werden.

2.10.

Die Kommission ist im Begriff, ihre ausstehenden Vorschläge für eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) (5) zurückzuziehen, sobald ein neuer Vorschlag zur Stärkung des Binnenmarkts vorliegt. Es wird ein neuer Rahmen für die Unternehmensbesteuerung in Europa sein, kurz BEFIT (Business in Europe: Framework for Income Taxation).

2.11.

Der BEFIT-Vorschlag wird auf Säule 1 und Säule 2 aufbauen. Die Kommission wird bei der Ausarbeitung dieses Vorschlags eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten und dabei auch das Europäischen Parlaments hören und Konsultationen mit Gruppen des Unternehmenssektors und der Zivilgesellschaft durchführen.

2.12.

Die Strategie der Kommission umfasst eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten, über einen Verlustrücktrag den Ausgleich von Einbußen zu ermöglichen, damit für alle Unternehmen in der Union möglichst gleiche Wettbewerbsbedingungen entstehen. Die Empfehlung gilt für die Steuerjahre 2020 und 2021.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt die lang erwartete Initiative der Kommission für die Strategie einer Unternehmensbesteuerung für das 21. Jahrhundert. Er unterstützt und begrüßt nachdrücklich, dass die Kommission ihre Arbeit an den internationalen Gesprächen und Vereinbarungen ausrichtet.

3.2.

Der EWSA befürwortet das Ziel der Kommission, darauf hinzuarbeiten, dass die Besteuerungsagenda zu dem allgemeinen Ziel beiträgt, ein faires und nachhaltiges Wachstum zu ermöglichen, indem die umfassenden politischen Maßnahmen der EU unterstützt werden, beispielsweise der europäische Grüne Deal, die Digitale Agenda der Kommission, die Industriestrategie für Europa und die Kapitalmarktunion.

3.3.

Der EWSA hebt hervor, dass grenzüberschreitende Investitionen erleichtert und die Befolgungskosten der Unternehmen gesenkt werden müssen. Gleichzeitig muss die europäische Wirtschaft grüner und besser digitalisiert werden.

3.4.

Der EWSA ist besorgt über die Steuerlücke, obwohl die Körperschaftsteuereinnahmen in Verhältnis zum BIP über die letzten zehn Jahre stabil waren bzw. in der EU und den OECD-Ländern sogar gestiegen sind.

3.5.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass die Maßnahmen der Regierungen zur Bekämpfung der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung zu einem Flickenteppich geführt hat, der die bestehende Komplexität noch weiter verstärkt. Der EWSA fordert einen robusten, effizienten und fairen Besteuerungsrahmen, der den bestehenden Anreizen für eine Aushöhlung der Bemessungsgrundlage und eine Gewinnverlagerung entgegenwirkt.

3.6.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die Auswirkungen der verschiedenen Rechtsvorschriften zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung, die in den letzten sechs Jahren umgesetzt wurden, zu bewerten.

3.7.

Der EWSA legt der Kommission nahe, ihren Aktionsplan für eine faire und einfache Besteuerung zur Unterstützung der Aufbaustrategie (6) weiterzuverfolgen und dabei seine Stellungnahme zum „Paket für eine faire und einfache Besteuerung“ (7) zu berücksichtigen. Er ist der Ansicht, dass die Produktivität der europäischen Wirtschaft unbedingt verbessert werden muss, damit sie zumindest den Stand der Volkswirtschaften ihrer Wettbewerber erreicht. Steuern sind nur ein — wenngleich ein sehr wichtiger — Faktor der vielen Parameter, die die Produktivität beeinflussen (8).

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA begrüßt, dass die Finanzminister der G20 die Vereinbarung gebilligt haben, die am 8. Oktober 2021 von 136 der 140 am Inklusiven Rahmen beteiligten Länder unterzeichnet wurde. Damit soll eine globale und auf einem Konsens beruhende Paketlösung zur Aufteilung der Besteuerungsrechte unter den Ländern erreicht werden. (9) Gleichzeitig betont der EWSA, dass solche ehrgeizigen Ziele komplexe Auswirkungen haben, die eine einheitliche und global koordinierte Umsetzung der Säulen 1 und 2 erfordern. In diesem Zusammenhang müssen die Kommissionsvorschläge den besonderen Anforderungen des EU-Rechts wie der Niederlassungsfreiheit und dem Diskriminierungsverbot Rechnung tragen.

4.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass weitaus mehr Arbeit erforderlich ist, um eine ausführliche Vereinbarung zu erreichen. Es ist von vorrangigem Interesse, dass Vereinbarungen auf vielen technischen Aspekten aufbauen. Wenn Regeln auf EU-Ebene umgesetzt werden, dürfen Unternehmen mit Hauptsitz in der EU keinem Wettbewerbsnachteil gegenüber ihren entsprechenden Wettbewerbern unterliegen, die in anderen wichtigen Gebieten ansässig sind (10).

4.3.

Der EWSA betont, dass die Umsetzung des Steuerpakets nicht nur in der EU, sondern gleichzeitig auch in den wichtigen Handelspartnerländern erfolgen muss. Wird Säule 1 nicht gleichzeitig in den USA und bei anderen wichtigen Handelspartnern umgesetzt, entsteht unter Umständen ein Wettbewerbsnachteil für europäische Unternehmen. Daher ist sowohl bei der Umsetzung als auch bei der Anwendung des multilateralen Übereinkommens eine Koordinierung mit den Handelspartnern erforderlich.

4.4.

Der EWSA hebt hervor, wie wichtig die Umsetzung ist. Zudem müssen in Bezug auf eine Richtlinie zu Säule 2 und einen effektiven Körperschaftsteuer-Mindestsatz die Regeln in Europa genau den vereinbarten komplexen Regeln entsprechen, die im Rahmen des globalen Übereinkommens ausgearbeitet wurden. Die Mitgliedstaaten sollten daher ausreichend Zeit einräumen, damit ein abschließend vereinbarter Text zur Verfügung steht, bevor eine Richtlinie verabschiedet wird (11).

4.5.

Der EWSA befürwortet die Initiative der Kommission, gegenüber den Mitgliedstaaten eine Empfehlung auszusprechen, dass ein Ausgleich über einen Verlustrücktrag erfolgen kann. Solche Regeln sind jedoch nicht nur in der Situation einer Pandemie, sondern auch unter normalen Umständen erforderlich. Der Nettogewinn eines Unternehmens im Verlauf der Zeit sollte einer Körperschaftsteuer unterliegen.

4.6.

Der EWSA unterstützt die Kommission bei der Bekämpfung der missbräuchlichen Nutzung von Briefkastenfirmen zum Zweck der Geldwäsche, der aggressiven Steuerplanung durch Einzelpersonen und Unternehmen und der Steuerhinterziehung. Der EWSA sieht der Gelegenheit zur Stellungnahme zu einem konkreten Vorschlag zur Eindämmung der missbräuchlichen Nutzung von Briefkastenfirmen erwartungsvoll entgegen.

4.7.

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission, einen Freibetrag als Anreiz gegen eine Bevorzugung der Fremd- gegenüber der Eigenkapitalfinanzierung einzurichten. Investitionen in neue grünere Technologie sind mit hohen Risiken für den Investor verbunden. In solchen Situationen ist die Eigenkapitalfinanzierung besonders wichtig und die Anreize gegen eine Eigenkapitalfinanzierung aufgrund der Steuersysteme müssen beseitigt werden (12).

4.8.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Benachteiligung der Eigenkapitalfinanzierung auf Ebene der Unternehmen und der Gesellschafter abgebaut werden sollten. Es ist wichtig, dass die Besteuerung nicht dazu führt, das Finanzmittel von einer Ebene auf die andere verschoben werden.

4.9.

Darüber hinaus sei angemerkt, dass der Wert des Zinsabzugs steigt, wenn sich der gesetzlich vorgeschriebene Körperschaftsteuersatz erhöht, und Investitionen über Kredite für ein Unternehmen somit wirtschaftlich zweckmäßiger werden. Eine höhere Inflationsrate und/oder höhere Zinssätze hätten eine ähnliche Wirkung, wodurch die aktuelle Bevorzugung der Fremdkapitalfinanzierung verstärkt wird (13). Da eine solche Entwicklung nicht ausgeschlossen werden kann, ist die bevorstehende Initiative der Kommission umso begrüßenswerter und wichtiger.

4.10.

Der EWSA begrüßt die BEFIT-Ziele und sieht der Möglichkeit, einen ausführlichen Vorschlag zu prüfen, erwartungsvoll entgegen. Bei diesem Vorschlag sollten die spezifischen rechtlichen Regelungen, die für bestimmte Arten von Genossenschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften gelten und in der Vergangenheit von verschiedenen Mitgliedstaaten erlassen wurden, berücksichtigt werden. Der EWSA legt der Kommission nahe, Interessenträger und die Zivilgesellschaft in die Beratungen einzubeziehen, damit Fortschritte erzielt werden können und die Maßnahmen auch akzeptiert werden.

5.   Einige zusätzliche Bereiche der Steuerpolitik des 21. Jahrhunderts, die angegangen werden müssen

5.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Pandemie den Arbeitsplatz für viele Menschen so verändert haben könnte, dass in den kommenden Jahren häufiger von der Telearbeit Gebrauch gemacht wird. Die steuerlichen Konsequenzen der grenzüberschreitenden Telearbeit (oder Fernarbeit) werfen steuerliche Fragen sowohl für die Unternehmen als auch für Einzelpersonen auf. Für ein Unternehmen könnte unbeabsichtigt eine permanente Betriebsstätte mit steuerlichen Konsequenzen entstehen. Einzelpersonen könnten Besteuerungsansprüchen aus mehreren Ländern ausgesetzt sein, während Sozialversicherungsleistungen und Sozialschutz beeinträchtigt werden könnten. Auch die Rentenansprüche könnten beeinträchtigt werden.

5.2.

Der EWSA legt der Kommission nahe, grenzüberschreitende Arbeitssituationen als einen integralen Bestandteil der Strategie zur Unternehmensbesteuerung anzugehen.

5.3.

Ein weiterer Bereich, der überprüft werden muss, ist der Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer. Ausnahmen und Schlupflöcher sorgen für Komplexität und führen zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen sowie zu Steuerausfällen. Der EWSA legt der Kommission nahe, die Anwendung des Mehrwertsteuersystems zu überprüfen.

Brüssel, den 23. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  COM(2020) 312 final.

(2)  ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 8.

(3)  In den Anwendungsbereich fallen multinationale Unternehmen mit einem weltweiten Umsatz von mehr als 20 Mrd. EUR und einer Rentabilität von über 10 % (d. h. Gewinn vor Steuern/Bruttoumsatzrendite). Die Berechnung erfolgt mit einem Mechanismus zur Durchschnittswertbildung, bei dem die Umsatzschwelle auf 10 Mrd. EUR reduziert wird und der von einer erfolgreichen Umsetzung unter anderem der Steuersicherheit abhängig ist. Sieben Jahre, nachdem die Vereinbarung in Kraft tritt, wird eine einschlägige Überprüfung durchgeführt, die innerhalb eines Jahres abgeschlossen sein muss. Rohstoffe und regulierte Finanzdienstleistungen sind ausgenommen. https://www.oecd.org/tax/beps/statement-on-a-two-pillar-solution-to-address-the-tax-challenges-arising-from-the-digitalisation-of-the-economy-october-2021.pdf

(4)  Säule 2 besteht aus: a) zwei miteinander verflochtenen innerstaatlichen Vorschriften (zusammen mit den globalen Regeln zur Bekämpfung der Aushöhlung der Bemessungsgrundlage): (i) eine Regel zur Einnahmenberücksichtigung, mit der gegenüber Muttergesellschaften eine zusätzliche Steuer im Zusammenhang mit den gering versteuerten Einnahmen einer Geschäftseinheit erhoben wird, und (ii) eine Regel zur Unterbesteuerung, mit der Abzüge untersagt werden oder eine entsprechende Anpassung in dem Ausmaß erforderlich wird, in dem die geringen Steuereinnahmen einer Geschäftseinheit nicht der Besteuerung im Rahmen der Regel zur Einnahmenberücksichtigung unterliegen; und b) einer vertraglich vereinbarten Regelung (Rückfallregelung), die es Herkunftsländern erlaubt, auf bestimmte Zahlungen an nahe stehende Unternehmen und Personen, die einer Besteuerung unter dem Mindestsatz unterliegen, eine eingeschränkte Quellensteuer zu erheben. Die Steuern aus der Rückfallregelung sind im Rahmen der Regeln zur Bekämpfung der Aushöhlung der Bemessungsgrundlage als verdeckte Steuern anrechenbar. Diese Regeln gelten für multinationale Unternehmen, die den gemäß Maßnahme 13 des BEPS-Projekts (länderbezogene Berichterstattung) ermittelten Schwellenwert von 750 Mio. EUR überschreiten. Den Ländern steht es frei, die Regel zur Einnahmenberücksichtigung auf multinationale Unternehmen mit Hauptsitz in ihrem Land anzuwenden, selbst wenn sie den Schwellenwert nicht erreichen. Der Mindeststeuersatz zum Zweck der Regel zur Einnahmenberücksichtigung und der Regel zur Unterbesteuerung liegt bei 15 %. https://www.oecd.org/tax/beps/statement-on-a-two-pillar-solution-to-address-the-tax-challenges-arising-from-the-digitalisation-of-the-economy-october-2021.pdf

(5)  COM(2016) 685 final und COM(2016) 683 final.

(6)  COM(2020) 312 final.

(7)  ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 8.

(8)  In zahlreichen Berichten wird der Schluss gezogen, dass Unternehmenssteuern für Wachstum und Produktivität besonders schädlich sind. Die OECD zog bereits mehrfach diesen Schluss, siehe z. B. Tax and Economic Growth, OECD Economics Department Working Paper Nr. 620 oder Tax Policy Reform and Economic Growth, OECD (2010). Die Abwälzung der Körperschaftsteuer auf Arbeitnehmer, insbesondere auf gering qualifizierte Arbeitskräfte und die negativen Auswirkungen auf Investitionen sind für die Schlussfolgerung von besonderer Bedeutung. Auch andere Steuern, wie die Steuern auf Arbeitseinkommen, können das Wachstum und die Produktivitätsentwicklung bremsen.

(9)  Die Steuervorschriften gelten für alle Unternehmen, die einen Schwellenwert überschreiten, unabhängig davon, in welchen Wirtschaftszweigen sie tätig sind. Sie gelten nicht nur für die sog. digitalen Geschäftsmodelle oder für verbraucherorientierte Unternehmen.

(10)  Ist keine Regel zur Unterbesteuerung vorhanden und kommt die Regel zur Einnahmenberücksichtigung für inländische Situationen nicht zur Anwendung, würden ausländische multinationale Unternehmensgruppen, einschließlich Konzerne aus den USA, in grenzüberschreitenden Situationen nur den effektiven Mindeststeuersatz erheben. Folglich würden sie ihre inländischen Tochterunternehmen weiter vor dem effektiven Mindeststeuersatz schützen: In diesem Zusammenhang würden die gering besteuerten inländischen Tochterunternehmen eines Hauptsitzes in den USA oder im Ausland weiter von z. B. Steuergutschriften für Forschung und Entwicklung profitieren. Sie würden Steuern unterhalb des vereinbarten Mindestsatzes zahlen, während die Steuergutschriften für Forschung und Entwicklung eines Hauptsitzes in der EU und seiner inländischen Tochterunternehmen über die zusätzliche Steuer neutralisiert würden, wenn sie ihren eigenen inländischen effektiven Mindeststeuersatz unter den vereinbarten Mindestsatz senken.

(11)  Sind zum Zeitpunkt der Einigung der Mitgliedstaaten auf eine Richtlinie noch nicht alle Bestimmungen des inklusiven Rahmenübereinkommens der OECD bekannt, müsste ein Verfahren zur Änderung der Richtlinie eingeleitet werden, um eine Umsetzung des globalen Übereinkommens in einen EU-Rechtsakt zu erreichen. Einige Mitgliedstaaten könnten eine solche Änderung der Richtlinie ablehnen. Im Sinne einer ordnungsgemäßen und vollständigen Umsetzung muss das globale Übereinkommen daher vollständig entwickelt und bekannt sein, bevor eine Richtlinie vereinbart wird.

(12)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zur Rolle der Körperschaftsteuer bei der Unternehmensführung und -kontrolle (ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 13).

(13)  Siehe The Taxation of Income from Capital, Mervyn King und Don Fullerton, The University of Chicago Press und NBER (1984).


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/45


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2009/138/EG im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit, die Aufsichtsqualität, die Berichterstattung, langfristige Garantien, makroprudenzielle Instrumente, Nachhaltigkeitsrisiken, die Gruppenaufsicht und die grenzüberschreitende Aufsicht

(COM(2021) 581 final — 2021/0295 (COD))

und zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen und zur Änderung der Richtlinien 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2009/138/EG, (EU) 2017/1132 und der Verordnungen (EU) Nr. 1094/2010 und (EU) Nr. 648/2012

(COM(2021) 582 final — 2021/0296 (COD))

(2022/C 275/08)

Berichterstatter:

Jörg Freiherr FRANK VON FÜRSTENWERTH

Mitberichterstatter:

Christophe LEFÈVRE

Befassung

Europäisches Parlament, 22.11.2021

Rat der Europäischen Union, 26.11.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 114 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

8.2.2022

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

169/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) teilt die Einschätzung der Europäischen Kommission, dass sich das auf drei Säulen (quantitative Vorgaben Eigenmittel; Geschäftsorganisation, Aufsicht; Berichterstattung, Transparenz) beruhende Solvabilität II-Regelwerk bewährt hat. Gleichwohl gebieten die Erfahrungen aus der Staatsschuldenkrise, die Niedrigzinspolitik, die ersten Auswirkungen der noch keineswegs beendeten Covid-19-Pandemie und das Wissen darüber, dass sich andere Krisen ereignen werden, Anpassungen des regulatorischen Rahmens.

1.2.

Der EWSA begrüßt es außerordentlich, dass sich die Europäische Kommission der Frage der systemischen Risiken im Versicherungssektor widmet. Das Risikoprofil der Versicherer ändert sich. Angesichts der Klimakrise ist der Versicherungssektor insbesondere bei der Versicherung gegen die Auswirkungen des Klimawandels und neuer Umweltrisiken (Beispiel Biodiversität) besonders gefordert. Auch bestehen höhere Risiken der Versicherer in ihrer Rolle als Investoren. Insbesondere werden Sach-, Haftungs- und Übergangsrisiken im Zusammenhang mit dem Klimawandel nicht angemessen bewertet.

1.3.

Der EWSA unterstützt die Europäische Kommission in ihrem Ziel, einen regulatorischen Rahmen zu schaffen, in dem der Versicherungssektor eine (noch) größere Rolle als Investor in der Finanzierung des Übergangs in eine nachhaltige Wirtschaft und in der Bekämpfung der COVID-19-Folgen und des Klimawandels einnimmt. Der EWSA betont aber zugleich das hohe Interesse der Zivilgesellschaft an der Stabilität des Finanzsektors und fordert, eine solide Eigenkapitalunterlegung und Risikovorsorge im Versicherungssektor zu gewährleisten. Instabilitäten des Versicherungssektors würden die Bemühungen zur Bewältigung der Klimakrise und zur Überwindung der Pandemie deutlich zurückwerfen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.   Der Ansatz der Europäischen Kommission

2.1.1.

Der EWSA teilt die Einschätzung der Europäischen Kommission, dass sich das auf drei Säulen (quantitative Vorgaben Eigenmittel; Geschäftsorganisation, Aufsicht; Berichterstattung, Transparenz) beruhende Solvabilität II-Regelwerk bewährt hat. Es hat den Europäischen Versicherungssektor gut durch die Turbulenzen der Staatsschuldenkrise, die allerdings noch andauernde Niedrigzinspolitik und die ersten Auswirkungen der noch keineswegs beendeten COVID-19-Pandemie geleitet. Der EWSA hält es für sinnvoll und notwendig, vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Anwendung der Regeln die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Dies betrifft insbesondere Fragen der Verhältnismäßigkeit und die Vorschriften zur Eigenkapitalausstattung und zur Risikovorsorge. Gerade die letztgenannten Punkte sind entscheidend für den Kapitalbedarf der Unternehmen und damit für die Rolle, die Versicherungen als Produktgeber und als Investor für die Wirtschaft wahrnehmen können.

2.2.   Kohärenz mit anderen Politikbereichen der EU

2.2.1.

Die Umsetzung des europäischen Grünen Deals und die Überwindung der Folgen der COVID-19-Pandemie sind eine absolut vorrangige Politik, deren Umsetzung den Einsatz großer Summen öffentlichen und privaten Kapitals erfordert. Als Langfristinvestoren mit einem Kapitalanlagenbestand des Europäischen Versicherungssektors von über 10 Billionen Euro in 2020 könnte der Europäische Versicherungssektor zur Finanzierung des Übergangs in eine klimaneutrale Wirtschaft wie auch für Infrastrukturprojekte und bezahlbaren Wohnraum einen wesentlich höheren Beitrag als heute leisten. Die Fähigkeit hierzu wird maßgeblich von den Vorschriften über die Eigenkapitalausstattung und die Risikovorsorge im Solvabilität II-System bestimmt.

2.2.2.

Der EWSA unterstützt die Europäische Kommission in ihrem Ziel, einen regulatorischen Rahmen zu schaffen, in dem der Versicherungssektor eine (noch) größere Rolle als Investor in der Finanzierung des Übergangs in eine nachhaltige Wirtschaft und in der Bekämpfung der COVID-19-Folgen einnimmt. Der EWSA betont dabei zugleich die Notwendigkeit, die Schutzziele des Solvabilität II-Systems, nämlich der Schutz der Versicherten und der Begünstigten und die Wahrung der Finanzstabilität, nicht zu gefährden. Dies aber könnte drohen, wenn zur Unterstützung des europäischen Grünen Deals von der strikten Risikobewertung der Investitionen der Versicherer abgewichen werden würde. Die verbraucherschützenden Vorschriften des Solvabilität II-Systems sollten Investitionen und Aktivitäten des Versicherungssektors in den Sektoren einbeziehen, in denen Versicherer aufgrund von Forderungen der Behörden oder der Regierung investieren. Diese Investitionen können dann entsprechend belohnt oder bestraft werden. In jedem Fall aber muss jede Investition unter dem europäischen Grünen Deal oder — als Beispiel — NextGenerationEU derselben Risikoeinschätzung unterliegen wie jede andere Investition auch. Eine nachhaltige Versicherungsaufsicht erfordert eine faktenbasierte Risikoeinschätzung und eine daraus abgeleitete Kapitalbemessung. Der EWSA begrüßt uneingeschränkt den Ansatz der Europäischen Kommission, die bestehenden Regeln zur Eigenkapitalunterlegung daraufhin zu überprüfen, wo sie zu einer nicht adäquaten Eigenkapitalunterlegung (überhöht oder unzureichend) geführt haben. Die Vorschläge der Europäischen Kommission zeigen, welche Spielräume allein schon daraus erwachsen können. Gleichwohl, wo die Kapitalanforderungen zu gering sind (Beispiel: Risiken im Zusammenhang mit dem Klimawandel), müssen sie zur Sicherung der Stabilität des Sektors heraufgesetzt werden.

2.2.3.

Der EWSA unterstützt die Anstrengungen der Europäischen Kommission, einen weiteren wesentlichen Beitrag zur Realisierung der Kapitalmarktunion zu leisten. Die Schaffung des Binnenmarktes würde sowohl die Finanzierung der Wege aus der COVID-19-Pandemie als auch die Finanzierung des europäischen Grünen Deals erleichtern. Dies schon allein dadurch, dass die Verbraucher und Verbraucherinnen weitere Fortschritte in der Schaffung eines echten Binnenmarktes der Finanzmärkte wahrnehmen könnten, wiewohl dem noch viele rechtliche und tatsächliche Hindernisse der Realisierung der Kapitalmarktunion entgegenstehen.

2.2.4.

Der EWSA begrüßt den Ansatz, dass der Versicherungssektor bei der Finanzierung des grünen Übergangs verstärkt eine Rolle spielen soll. Auch sollte der Versicherungssektor anstreben, alle negativen ökologischen und sozialen Auswirkungen seiner Kapitalanlagen und Versicherungsaktivitäten zu mindern. Eine Verknüpfung zur EU-Taxonomie ist sinnvoll. Der EWSA plädiert dafür, dass auch soziale Nachhaltigkeitsziele systematisch berücksichtigt werden. Denn schließlich kann auch die Missachtung von Arbeitnehmer- und Menschenrechten zu einem erhöhten Risiko führen.

2.2.5.

Die Vorschläge sehen an verschiedenen Stellen Vereinfachungen des komplexen Solvabilität II-Systems vor. Dies ist zu begrüßen. Nicht nachvollziehbar und abzulehnen ist, dass Anwender von internen Modellen nunmehr zusätzlich auch Berichterstattungen vorzulegen haben, als würden sie die Standardformel nutzen. Doppelte Berichterstattungen müssen ausgeschlossen werden.

2.3.   Delegierte Rechtsakte

2.3.1.

Dem EWSA ist bewusst, dass die Europäische Kommission berechtigt ist, bestimmte, vor allem technische Regeln durch delegierte Rechtsakte festzulegen. Sie kündigt eine Vielzahl von Vorschlägen an, die sie durch delegierte Rechtsakte umsetzen möchte. Diesen Vorschlägen kommen ein großes Gewicht und eine große wirtschaftliche Bedeutung zu. Zu erwähnen sind etwa die Volatilitätsanpassung, die Matching-Anpassung und die Extrapolation ebenso wie die zutiefst politische Entscheidung, in welchem Umfang und mit welchen Einschränkungen in der Risikobewertung der Investitionen die Finanzierung des Grünen Deals erleichtert werden soll. Der EWSA spricht sich hier wie auch an anderer Stelle dafür aus, wichtige wirtschaftspolitische Materien in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unter Beteiligung des Parlaments und mit Anhörung der Zivilgesellschaft und nicht als delegierte Rechtsakte zu verabschieden. Vor der Annahme des Solvabilität II-Pakets sollten das Europäische Parlament, die Europäische Kommission wie auch der EWSA ein klares Bild über Inhalt und Auswirkungen der delegierten Rechtsakte haben.

2.4.   Evaluierung der Neukalibrierungen — Folgenabschätzung: Wettbewerbsfähigkeit

2.4.1.

Der EWSA schlägt vor, in den nächsten Jahren eine vollständige Evaluierung der Logik des Solvabilität II-Regelwerks vorzunehmen. Die Rahmenbedingungen haben sich inzwischen vielfältig geändert und werden sich weiter ändern, so dass eine Evaluierung unabweisbar ist. In diesem Zusammenhang könnte ein Wettbewerbscheck nützlich sein, um die Auswirkungen der geänderten Vorschriften auf die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Versicherungssektors auf dem Weltmarkt zu ermitteln.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.   Verhältnismäßigkeit und Schwellenwerte

3.1.1.

Der EWSA begrüßt den von der Europäischen Kommission angestrebten Ansatz, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu stärken. Eine Vereinfachung des sehr komplexen und aufwendigen Regelwerks ist insbesondere für kleinere und weniger risikoexponierte Versicherer, die ein wichtiger Teil der regionalen Vielfalt sind, wichtig. Es ist richtig, dass die Anforderungen von Solvabilität II beim Risikomanagement und bei der Berichterstattung regelbasiert überprüft und angepasst werden sollen. Bedauerlich ist jedoch, dass nach wie vor allein die Unternehmensgröße und nicht der Abgleich des Umfangs der aufsichtsrechtlichen Anforderungen mit den tatsächlichen Risiken des Versicherers in dessen Geschäftsmodell erfolgt.

3.1.2.

Eine wichtige Stärke des europäischen Versicherungsmarkts ist die Vielfalt von großen und kleinen Versicherern. Von solchen, die international tätig sind und solchen, die in der Region stark sind. Ebenso wie die Vielfalt von Rechtsformen als Aktiengesellschaft oder Genossenschaft. Diese Vielfalt darf nicht dadurch gefährdet werden, dass die Versicherer mit einem Übermaß an Bürokratie belastet werden.

3.2.   Langfristige Garantien

3.2.1.

Der EWSA unterstützt die Absicht der Europäischen Kommission, dem Versicherungssektor zu ermöglichen, sich durch eine sachgerechtere Kapitalunterlegung in stärkerem Maße an der Finanzierung der Umsetzung des europäischen Grünen Deals, an der Bekämpfung des Klimawandels und seiner Folgen und der Bekämpfung der Folgen der COVID-19-Pandemie zu engagieren. Die Umsetzung des europäischen Grünen Deals darf nicht an der Finanzierung des Umbaus in eine nachhaltige Wirtschaft scheitern, und Nachhaltigkeitsziele dürfen nicht durch unzureichende Kapitalanforderungen gefährdet werden, die stark umweltbelastende Aktivitäten künstlich als Investition rentabel machen. Die Überarbeitung der Regeln über die notwendige Eigenkapitalunterlegung wird der Schlüssel sein, diese Punkte anzugehen. Der EWSA hält es für zwingend, dass eine Modifizierung der Solvabilität II-Regeln nur so weit erfolgen darf, wie die Aufsichtsziele des Schutzes der Versicherten und der Begünstigten sowie das Ziel der Finanzstabilität nicht gefährdet werden. Ziel muss ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den Anreizen für Investitionen der Versicherer in Aktivitäten, die an den sozialen und ökologischen Zielen ausgerichtet sind, einerseits und den aufsichtsrechtlichen Anforderungen andererseits sein. Dies ist noch nicht gewährleistet.

3.2.2.

Der EWSA unterstützt die Vorschläge der Kommission, die Volatilität aus langfristigen Anlagen durch die vorgeschlagene Volatilitätsanpassung zu dämpfen. Zugleich erhöht sie aber die Volatilität durch den Wechsel zu einer relativen Risikokorrektur (prozentualer Abzug von den Spreads). Dass ist kontraproduktiv. Es ist nicht ersichtlich, warum es nicht bei der geltenden Risikokorrektur bleiben soll.

3.2.3.

Die Vorschläge der Europäischen Kommission zu Modifizierung der Risikomarge (Beispiele: Kapitalkosten-Satz von 5 % und Nichtberücksichtigung des Liquiditätsfaktors), das Zinsrisiko und die Korrelation zwischen Spread- und Zinsrisiko sind zielführend, ohne die Schutzziele von Solvabilität II zu gefährden. Besondere Aufmerksamkeit muss aber den Level 2-Texten gewidmet werden, weil die zu einer allgemeinen Verbesserung führenden Vorschläge auch schädliche Auswirkungen auf die Anlageportfolios kleiner und mittlerer Versicherer haben können.

3.2.4.

Der EWSA begrüßt grundsätzlich die Vorschläge der Europäischen Kommission zur Überarbeitung der Zulassungskriterien für die Anlageklasse der langfristigen Eigenkapitalanlagen unter gleichzeitiger Sicherung der finanziellen Stabilität. Diese wird es den Versicherungen erleichtern, von einer bevorzugten Kapitalbehandlung zu profitieren, wenn sie der Wirtschaft langfristige Kapitalmittel zur Verfügung stellen, vorausgesetzt dieses Kapital wird entsprechend den sozialen und ökologischen Zielen investiert. Eine zu große Komplexität der Regeln muss vermieden werden. Eine endgültige Bewertung ist auch hier nur in Kenntnis der Level 2-Vorschläge möglich.

3.2.5.

Die Europäische Kommission kündigt an, eine neue Extrapolationsmethode vorlegen zu wollen. Die Extrapolation ist eine Rechenmethode, die es möglich macht, Rückstellungen für Versicherungsverträge zu bilden, deren Laufzeiten weiter in die Zukunft reichen als zuverlässige Kapitalmarktinformationen über risikofreie Zinsen. Diese Methode ist ein wesentlicher Faktor in der Bemessung der Rückstellungen und damit des Bedarfs an Eigenmitteln. Die Extrapolation ist für die Lebensversicherung besonders wichtig, aber nicht nur dort. Die Europäische Kommission räumt in ihrer Mitteilung COM(2021) 580 final selbst ein, dass sich der Vorschlag, den sie in einem späteren delegierten Rechtsakt konkretisieren wird, „an mehreren Märkten signifikant auf das Kapital der Versicherer auswirken wird“. Diese signifikante Auswirkung wird auf der Grundlage der bisherigen Vorstellungen in der Nichtlebensversicherung einen Kapitalmehrbedarf von über 10 % bedeuten und damit den potenziellen Effekten zur Freisetzung von Kapital der Versicherer zuwiderlaufen. Der EWSA ist der Auffassung, dass derart weitreichende Eingriffe in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu entschieden sind.

3.3.   Klimaszenarioanalysen und Mandat für EIOPA (1) bezüglich Nachhaltigkeitsrisiken

3.3.1.

Der EWSA unterstützt voll und ganz, dass Versicherer jede materielle Exposition gegenüber Risiken des Klimawandels identifizieren und die mittel- und langfristigen Auswirkungen auf ihr Geschäft bewerten müssen. Der EWSA empfiehlt, diese Szenarioanalyse auf alle Umweltrisiken auszudehnen und auf diese Anforderungen den Begriff der doppelten Wesentlichkeit anzuwenden. Versicherer sollten auch verpflichtet sein, die Auswirkungen, die ihre Geschäftstätigkeit auf den Klimawandel und die Umwelt im weiteren Sinne haben, zu bewerten und gegebenenfalls zu mindern.

3.3.2.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission, die EIOPA damit zu beauftragen, nach Konsultation des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken in einem Bericht bis zum 28. Juni 2023 mögliche Anpassungen der Kapitalanforderungen in Bezug auf Nachhaltigkeitsrisiken vorzuschlagen. Es ist richtig, derartig weitreichende Themen auf einer empirischen Grundlage zu diskutieren. Der EWSA hält allerdings die Frist für die Vorlage des Berichts für zu wenig ambitiös. Die Eindämmung der Folgen des Klimawandels erfordert schnelles Handeln. Der EWSA weist bereits jetzt darauf hin, dass die Ableitung von Erkenntnissen aus diesen Vorschlägen grundlegende Fragen der Finanzierung des europäischen Grünen Deals betreffen werden. Sie werden daher nicht technischer, sondern politischer Natur sein und müssen nach Auffassung des EWSA in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unter Beteiligung des Europäischen Parlaments behandelt werden.

3.4.   Gruppenaufsicht

3.4.1.

Die Aufsichtspraxis hat regulative Schwächen in der Gruppenaufsicht offengelegt. Der EWSA unterstützt die Vorschläge der Europäischen Kommission, Versicherungsholdingsgesellschaften und gemischte Finanzholdinggesellschaften in den unmittelbaren Anwendungsbereich des EU-Aufsichtsrahmens zu bringen. Aus Verbrauchersicht muss sichergestellt sein, dass die Außendarstellung einer Gruppe in Bezug auf ihrer Haftungsverhältnisse transparent ist.

3.5.   Die Rolle von Versicherungen in Pandemiezeiten und vor dem Hintergrund sonstiger Ereignisse, die wirtschaftliche Störungen in großem Umfang nach sich ziehen

3.5.1.

Der EWSA teilt die Einschätzung der Europäischen Kommission, derzufolge die Pandemie gezeigt hat, dass insbesondere in Bezug auf Betriebsunterbrechungen und Reiseversicherungen klarere und einfachere Informationen über die Bedingungen des Versicherungsschutzes und Garantien für Verbraucher erforderlich sind, insbesondere in Bezug auf Betriebsunterbrechungs- und Reiseversicherungen und dass kontinuierlich sichergestellt werden muss, dass die Versicherungsprodukte auch weiterhin den Bedürfnissen der Verbraucher entsprechen. Ebenso wichtig ist es, dass die Verbraucher ihre Ansprüche auch durchsetzen können. Offensichtlich hat die bisherige Praxis der Aufsicht über Versicherungsprodukte nicht hinreichend funktioniert. Der EWSA fordert die Kommission auf, EIOPA zur Vorlage von konkreten Vorschlägen aufzufordern, wie das beschriebene, schon länger bekannte Problem besser gelöst werden kann.

3.5.2.

Die Pandemie, die Auswirkungen des Klimawandels, die wir in Europa mit Waldbränden, Dürre, Waldsterben, Starkregen und Überschwemmungen in bisher nicht gekanntem Ausmaß erleben, und neue großen Risiken wie die Cyberrisiken stellen die Frage nach der Verfügbarkeit von Versicherungsschutz für derartige Ereignisse, die nicht singulär bleiben werden. Der EWSA unterstützt die Europäische Kommission nachdrücklich in ihrem Plan, bis 2022 einen Dialog zum Thema Klimaresilienz ins Leben zu rufen, der Versicherer, Rückversicherer, öffentliche Stellen und andere relevante Interessenträger zusammenbringen soll. Der EWSA regt an, von Anfang an Vertreter der Zivilgesellschaft in diesen Dialog einzubeziehen.

3.6.   Sicherungssysteme für Versicherungen (IGS), Sanierung und Abwicklung und neue Aufsichtsmaßnahmen

3.6.1.

Die Europäische Kommission legt keinen Vorschlag zur Harmonisierung des bunten Fleckenteppichs der IGS in Europa vor. Sie unterlässt dies, obwohl die IGS den Versicherten und Begünstigen einen wichtigen Schutz in letzter Instanz bieten. Ein europaweites System der IGS, das zugleich die Art der Produkte und damit die Schutzwürdigkeit der Verbraucher berücksichtigt, würde das Vertrauen in einen europäischen Versicherungsbinnenmarkt deutlich steigern. Der EWSA hält — wie dies auch EIOPA vorschlägt — zumindest eine Harmonisierung einer Reihe von Mindestgrundsätzen der IGS für dringlich. Andererseits sieht der EWSA auch — worauf die Europäische Kommission hinweist –, dass dies für Versicherungsmärkte in einigen Mitgliedstaaten, die noch keine IGS Systeme haben, zu einer erheblichen finanziellen Belastung führen würde, die ihnen zum jetzigen Zeitpunkt der Erholung nach der COVID-19-Krise nicht zumutbar erscheint. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, in einem ersten Schritt zügig einen Vorschlag zu einem Mindestrahmen für IGS vorzulegen, der mit einer entsprechende Übergangsfrist das Thema angeht, ohne die Märkte zu überlasten.

3.6.2.

Mit dem Vorschlag zu Sanierung und Abwicklung (2) erweitert die Europäische Kommission die aufsichtsrechtlichen Instrumente, die den Aufsichtsbehörden im Fall einer Unternehmenskrise und vor allem einer sich abzeichnenden Krise ein schnelleres und effizienteres Einschreiten ermöglichen sollen. Zu diesen Instrumenten zählen auch Maßnahmen wie eine präventive Sanierung und ein Abwicklungsplan, und zwar jeweils auch unter Einbeziehung der Gruppenebene. Die Instrumente und Befugnisse bezüglich der Abwicklung werden definiert. Dabei fehlt allerdings eine klare Abgrenzung zu den bestehenden Solvabilität II-Aufsichtsmaßnahmen. Insgesamt wird die durchaus bewährte sog. Interventionsleiter an vielen Stellen in Frage gestellt, da neue Eingriffsbefugnisse bereits vor einem Bruch der Solvenzkapitalanforderungen (SCR) greifen sollen. Der EWSA hält es für unverzichtbar, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen widerspruchsfrei mit den Regeln der Interventionsleiter in Einklang zu bringen sind. Die Abwicklungsregeln sollten einen harmonisierten Ansatz auf Gruppenebene erleichtern, insbesondere bei gemischten Finanzgruppen.

3.6.3.

Gegen die Vorschläge wird angeführt, dass die COVID-19-Pandemie und vor allem die Niedrigzinspolitik gezeigt hätten, dass das Solvabilität II-Instrumentarium ausgereicht habe, die schwierigen Situationen zu meistern. Auch wenn dies weitgehend der Fall war, macht sich der EWSA diese Argumentation nicht zu eigen. Der EWSA hält es vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus den Finanzkrisen der Vergangenheit für dringend notwendig, auf Unternehmensebene auch schon vor einer Unterschreitung der Mindestkapitalanforderungen mit abgestuften Maßnahmen der Krisenintervention zu beginnen, sofern klare Zeichen auf eine Verschlechterung der Situation hinweisen. Der EWSA weist darauf hin, dass es in der konkreten Ausgestaltung und Umsetzung der Regeln sehr darauf ankommen wird, die Aufgaben der EIOPA und der nationalen Aufsichtsbehörden eindeutig zu definieren und klar abzugrenzen.

Brüssel, den 23. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA).

(2)  COM(2021) 582 final.


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/50


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Jahresbericht zum nachhaltigen Wachstum 2022

(COM(2021) 740 final)

(2022/C 275/09)

Berichterstatterin:

Judith VORBACH

Befassung

Europäische Kommission, 21.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

8.2.2022

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

140/5/38

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die EU war schon lange vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie mit ungünstigen Entwicklungen und Krisen konfrontiert. 2020 trat sie in die tiefste wirtschaftliche Rezession ihrer Geschichte ein, während die bestehenden Herausforderungen bei Weitem noch nicht gelöst waren. Sie hat beispiellose Unterstützungsmaßnahmen ergriffen, um die negativen Auswirkungen abzufedern und die Situation zu stabilisieren. Die Pandemie kann jedoch nur länderübergreifend bekämpft werden. Deshalb fordert der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) eine vorausschauende Zusammenarbeit bei der Gesundheitspolitik in der EU, eine Steigerung des Impfniveaus und die Annahme eines Gesamtkonzepts, um auf EU-Ebene eine offene Debatte über eine vorübergehende und freiwillige Aussetzung des TRIPS-Übereinkommens zu führen.

1.2.

Der EWSA plädiert für eine wohlstandsorientierte Politik und unterstützt die EU-Agenda für „wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit“. Den vier Komponenten dieser Agenda — ökologische Nachhaltigkeit, Produktivität, Gerechtigkeit und gesamtwirtschaftliche Stabilität — sowie der Wettbewerbsfähigkeit sollte der gleiche Stellenwert eingeräumt werden, um die angestrebten Verstärkungseffekte zu erreichen und den Wandel erfolgreich zu bewältigen. So hängt z. B. die Wettbewerbsfähigkeit entscheidend von der Gerechtigkeit und sozialen Nachhaltigkeit ab und umgekehrt. Je schwächer die Einbindung von Parlamenten, Sozialpartnern und anderen Organisationen der Zivilgesellschaft, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Unterschiede zunehmen und die Akzeptanz insbesondere im Hinblick auf die Umstellung der Wirtschaft auf Klimaneutralität abnimmt.

1.3.

Eine der Herausforderungen liegt darin, wirtschaftlichen Wohlstand so weit wie möglich von Umweltzerstörung zu entkoppeln. Auch hier ist ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich, der allen Arten von Umweltschäden Rechnung trägt. Verpflichtungen zum Schutz des sozialen Wohlergehens dürfen keine leeren Worte sein. Es ist von zentraler Bedeutung, eine gerechte Verteilung der mit dem Übergang verbundenen Anstrengungen und Vorteile sicherzustellen. Der EWSA betont, dass in Europa verlässliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen gewährleistet und starke industrielle Wertschöpfungsketten erhalten werden müssen. Er fordert eine führende Rolle der europäischen Industrie bei der Erreichung der Nachhaltigkeit. Es muss ein wirksames CO2-Grenzausgleichssystem konzipiert werden, und staatliche Beihilfen sollten mit der Schaffung guter Arbeitsplätze und der Achtung der Arbeitnehmerrechte und der steuerlichen Verpflichtungen verknüpft werden. Schließlich betont der EWSA, dass die Einführung einer Umweltsteuer nicht zu regressiven Verteilungseffekten oder Energiearmut führen darf.

1.4.

Der EWSA begrüßt die Vorschläge der Kommission zu Reformen und Investitionen sowie zur Förderung eines fairen Binnenmarkts, um eine starke wirtschaftliche Basis zu gewährleisten. Maßnahmen zur Stärkung des Binnenmarkts und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen sind für die Förderung von Innovation und Produktivität von großer Bedeutung. Dazu gehört auch ein gerechter Produktivitätsansatz als entscheidende Triebkraft für langfristige Wettbewerbsfähigkeit und Aufwärtskonvergenz. Sozial- und Arbeitsmarktrechte sind von grundlegender Bedeutung, gehören aber nicht zu den verfassungsrechtlich geschützten Freiheiten des Binnenmarkts. Der EWSA fordert geeignete Vorschläge, um den nicht im Vertrag verankerten nationalen Bestimmungen angemessen Rechnung zu tragen. Der EWSA empfiehlt Maßnahmen, um die negativen Auswirkungen der steigenden Energiepreise auf Produktion und Vertrieb abzufedern. Er begrüßt eine genauere Überwachung der sich aus der Klimakrise ergebenden Finanzmarktrisiken. Die Vertiefung der Kapitalmarktunion und der Bankenunion sollte zur Konsolidierung der Finanzierungskanäle, Förderung von Investitionen und Stärkung der Resilienz beitragen.

1.5.

Der EWSA betont, dass Maßnahmen für einen fairen und gerechten grünen und zugleich digitalen Wandel nachhaltige soziale Bedingungen erfordern und eine Grundlage für künftigen Wohlstand und künftige Resilienz bilden. Gut konzipierte arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Sozialschutzsysteme sind die Grundlage für Resilienz und integratives Wachstum. Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass sich die Mitgliedstaaten stärker für die Verbesserung der Lernergebnisse in ihren Systemen der allgemeinen und beruflichen Bildung einsetzen sollten. Dabei gilt es, den Zugang zu Möglichkeiten des lebenslangen Lernens zu gewährleisten. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Verteilungseffekte der Zahlungen aus dem Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) und NextGenerationEU (NGEU) genau zu prüfen und sicherzustellen, dass die Mittel zur Entwicklung einer umweltfreundlicheren und digitalisierten Wirtschaft sowie zur sozialen Aufwärtskonvergenz beitragen.

1.6.

Die wirtschaftliche Erholung und ein stabiles inklusives Wachstum sind für tragfähige öffentliche Haushalte unerlässlich. Die Politik muss weiterhin Unterstützung leisten und jederzeit auf länger währende Turbulenzen reagieren können. Der EWSA begrüßt die Beibehaltung der allgemeinen Ausweichklausel. Bei einer Aufhebung dieser Klausel muss auf jeden Fall der Stand der Wirtschaftstätigkeit, Beschäftigung und Armut im Vergleich zum Vorkrisenniveau berücksichtigt werden. Der EWSA fordert die Kommission überdies auf, Leitlinien für einen Übergangszeitraum vorzulegen, bevor überarbeitete Rahmenbestimmungen in Kraft treten. Der EWSA warnt davor, Strategien voranzutreiben, mit denen die laufenden Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsausgaben gekürzt werden, und fordert auf faire Einkommen bezogene Maßnahmen. Zudem fordert der EWSA auch eine genaue Beobachtung der sozialen Ungleichgewichte, da bei der Überwachung im Rahmen des Verfahrens bei einem makroökonomischen Ungleichgewicht (MIP) die Wechselwirkungen zwischen neuen wirtschaftlichen Herausforderungen nicht ausreichend berücksichtigt werden.

1.7.

Der EWSA sieht den Beginn einer neuen Phase der Wirtschaftspolitik, und das weiterentwickelte Europäische Semester 2022 ist eine Chance, die wirtschaftliche, ökologische und soziale Nachhaltigkeit zu verbessern. Der ausgewogene Ansatz der Agenda für wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit sollte sich in den bevorstehenden länderspezifischen Empfehlungen niederschlagen. Eine stärkere Einbeziehung der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft ist dabei längst überfällig. Wird die Einhaltung der angekündigten Reformen zur Bedingung für die Auszahlung von Zuschüssen aus der Aufbau- und Resilienzfazilität gemacht, erhalten die länderspezifischen Empfehlungen mehr politisches Gewicht. Die stärkere Fokussierung auf die Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte ist durchaus zu begrüßen. Doch es bleibt unklar, inwieweit sie sich tatsächlich in den länderspezifischen Empfehlungen und den Aufbau- und Resilienzplänen widerspiegelt. Die wirtschaftspolitische Steuerung muss so in den Prozess des Europäischen Semesters integriert werden, dass die demokratische Einbeziehung der Parlamente, der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft gewährleistet wird.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Die EU war bereits vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie mit ungünstigen sozioökonomischen Entwicklungen und Krisen konfrontiert. Nach einer langen Phase des wirtschaftlichen Abschwungs nach der Finanzmarktkrise im Jahr 2008 erholte sich die EU-Wirtschaft schließlich 2014 und erlebte dann eine Phase des Wachstums und der steigenden Beschäftigungsquoten. Die öffentlichen Investitionen waren jedoch unter das Niveau gefallen, das erforderlich ist, um den Anteil des öffentlichen Kapitals am BIP stabil zu halten. Ungeachtet des relativen Wohlstands der EU im globalen Vergleich bestanden weiter Unterschiede zwischen den Ländern bzw. und Regionen sowie Ungleichheiten und ein geschlechtsspezifisches Gefälle in unseren Gesellschaften. Die Bedrohung durch die Klimakrise und die Herausforderungen aufgrund des technologischen Wandels waren bereits deutlich geworden.

2.2.

Im März 2020 haben die COVID-19-Pandemie und die zu ihrer Eindämmung ergriffenen Maßnahmen die Lage dramatisch verändert. Die EU trat in die tiefste Wirtschaftskrise ihrer Geschichte ein (1), während die bestehenden Herausforderungen bei Weitem noch nicht gelöst waren. Nicht nur die Pandemie und ihre Auswirkungen waren allerdings beispiellos, sondern auch die von der EU zur Abfederung der Krise ergriffenen Maßnahmen der Solidarität, einschließlich der Aktivierung der allgemeinen Ausweichklausel und des SURE-Instruments (2). Der EWSA begrüßt vor allem, dass es der EU gelungen ist, angesichts einer so schweren Krise eine derart weitreichende Initiative wie NGEU zu konzipieren und zu verabschieden. Diese Initiative sollte nicht nur zur Überwindung der Krise, sondern auch zu Recht zur Bewältigung des Übergangsprozesses beitragen. Die vertrauensbildende Wirkung des insgesamt unterstützenden und kohärenten politischen Ansatzes konnte die sozioökonomischen Folgen der Krise abfedern. Diese hätten andernfalls zu einer wirtschaftlichen und politischen Destabilisierung führen können.

2.3.

Der enge Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Pandemie zeigte sich u. a. in der wirtschaftlichen Erholung aufgrund der Verbesserung der epidemiologischen Lage Mitte 2021. In der Herbstprognose 2021 wird von einem Übergang von der Erholung zur Expansion und einer Wachstumsrate von 4,3 % im Jahr 2022 ausgegangen, wobei die Arbeitsmarktlage diesem Trend ebenfalls folgen dürfte (3). Vor dem Hintergrund der neuen Pandemie-Welle und der Omikron-Variante werden diese positiven Prognosen jedoch möglicherweise nicht eintreten. Der EWSA weist auf das hohe Maß an Unsicherheit und die erheblichen Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaftstätigkeit hin.

2.4.

Auf nationaler Ebene allein ist es jedoch nicht möglich, die Pandemie zu bekämpfen und neue Virusvarianten zu verhindern. Vielmehr ist ein transnationaler Ansatz erforderlich. Der EWSA fordert eine enge und vorausschauende Zusammenarbeit bei der EU-Gesundheitspolitik, die nicht nur zur Überwindung der Gesundheitskrise, sondern auch zur Abfederung ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen beiträgt. Der EWSA empfiehlt, der Erhöhung der Impfquoten weiterhin oberste Priorität einzuräumen, und spricht sich dabei für einen globalen Ansatz aus. Dies nicht zuletzt, weil die weltweite ausreichende Versorgung mit Impfstoffen auch im eigenen Interesse der EU liegt. Der EWSA fordert deshalb die Kommission auf, eine offene Debatte auf EU-Ebene über eine vorübergehende und freiwillige Aussetzung des TRIPS-Übereinkommens für COVID-19-Impfstoffe, -Behandlungen und -Tests zu führen (4).

2.5.

Der EWSA begrüßt den multidimensionalen Ansatz der im Jahreswachstumsbericht skizzierten Agenda für „wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit“. Dies steht im Einklang mit einem wohlstandsorientierten Politikansatz, für den sich der EWSA bereits in früheren Stellungnahmen ausgesprochen hat. Der Ausschuss fordert, dabei mehreren Zielen Rechnung zu tragen: ökologische und soziale Nachhaltigkeit, nachhaltiges und integratives Wachstum, Vollbeschäftigung und qualitative Arbeit, gerechte Verteilung, Gesundheit und Lebensqualität, Finanzmarktstabilität, Preisstabilität, ausgewogener Handel auf Basis einer fairen und wettbewerbsfähigen Industrie- und Wirtschaftsstruktur sowie stabile öffentliche Finanzen. Diese Ziele entsprechen den in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union verankerten Zielen und sind eng miteinander verbunden. So ist z. B. ein Ansatz für ein nachhaltiges Wachstum, der neben dem bloßen BIP-Wachstum auch andere Ziele verfolgt, entscheidend für das Erreichen einer klimaneutralen Wirtschaft bis 2050.

2.6.

Darüber hinaus hängen die vier Komponenten der Agenda für wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit (ökologische Nachhaltigkeit, Produktivität, Gerechtigkeit und gesamtwirtschaftliche Stabilität) eng miteinander zusammen und sind von ihrer Wichtigkeit her gleichwertig. Sie alle sind Bauteile eines großen Ganzen, und keines von ihnen kann ohne die anderen existieren, d. h., kein Ziel ist einem anderen untergeordnet. Die Kommission betont zu Recht, dass diese vier Komponenten sich gegenseitig verstärken sollten. Der EWSA begrüßt dies, weist aber auch auf die Gefahr kontraproduktiver Auswirkungen hin. Je weniger die Parlamente, Sozialpartner und andere Organisationen der Zivilgesellschaft einbezogen werden, desto wahrscheinlicher sind Ungleichgewichte zwischen diesen vier Komponenten.

2.7.

Der EWSA weist ferner darauf hin, dass die vier Komponenten nicht nur untereinander verflochten sind, sondern auch mit der Wettbewerbsfähigkeit als gleichrangiges Ziel sowie mit einem ausgewogenen Handel als ein zentrales wirtschaftliches Ziel zusammenhängen. So hängt z. B. die Wettbewerbsfähigkeit entscheidend von der Gerechtigkeit und sozialen Nachhaltigkeit ab und umgekehrt. Das europäische Sozialmodell und insbesondere die europäische Säule sozialer Rechte sind zentrale Bestandteile der Wettbewerbsfähigkeit der EU. Und auch umgekehrt ist ein ausgewogener Handel auf der Basis einer fairen und wettbewerbsfähigen Industrie- und Wirtschaftsstruktur eine wichtige Voraussetzung für inklusives Wachstum, Gerechtigkeit und soziale Nachhaltigkeit in der EU.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.   Ökologische Nachhaltigkeit

3.1.1.

Eine der größten Herausforderungen dieses Jahrhunderts besteht darin, wirtschaftlichen Wohlstand weitestgehend von der Gefährdung oder Zerstörung der Umwelt zu entkoppeln. Der EWSA teilt voll und ganz die Auffassung der Kommission, dass Klimawandel und Umweltzerstörung sofortiges Handeln erfordern. Während der EWSA das Ziel der Bekämpfung der Klimakrise uneingeschränkt unterstützt, spricht er sich für einen ganzheitlichen Ansatz aus, bei dem allen Arten von Umweltschäden, wie Gefahren für die biologische Vielfalt, Wasser und Boden, Luftverschmutzung sowie nukleare und andere giftige Abfälle gleichermaßen Rechnung getragen wird.

3.1.2.

Zu Recht verweist die Kommission auf die soziale und wirtschaftliche Dimension dieses Wandels und unterstreicht, dass es wichtig ist, den Wohlstand und das Wohlergehen zu sichern. Der EWSA betont, dass diese Beteuerungen keinesfalls nur Lippenbekenntnisse bleiben dürfen. Er fordert die Kommission auf, eine detaillierte Kartierung und Analyse der Auswirkungen des Wandels auf die Beschäftigung und die Kompetenzen vorzunehmen (5). Es ist auch von zentraler Bedeutung, eine gerechte Verteilung der mit dem Übergang verbundenen Anstrengungen und Vorteile sicherzustellen. Der EWSA unterstreicht in diesem Zusammenhang die maßgebliche Rolle des sozialen Dialogs, der uneingeschränkten Wahrung der Autonomie der Sozialpartner, der Stärkung der Tarifverhandlungen, einer guten Unternehmensführung mit Mitbestimmung der Arbeitnehmer (6) und der Einbeziehung der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft in die Politikgestaltung. Dies gewährleistet nicht nur Eigenverantwortung, sondern ist vor allem auch unerlässlich, um einen ausgewogenen und inklusiven Übergang sicherzustellen.

3.1.3.

Eine solche Teilhabe muss insbesondere im Rahmen des Pakets „Fit für 55“ verstärkt werden, das eine Vielzahl weitreichender politischer Vorschläge enthält. Der EWSA betont, dass es wichtig ist, starke industrielle Wertschöpfungsketten in Europa zu erhalten und fordert eine führende Rolle der europäischen Industrie bei der Erreichung der ökologischen Nachhaltigkeit. Das vorgeschlagene CO2-Grenzausgleichssystem kann die Beschäftigung in klimafreundlichen umgestalteten Unternehmen robuster machen. Es ist deshalb von entscheidender Bedeutung und muss wirksam konzipiert werden. Im Zuge der Verlagerung der Besteuerung auf den Faktor Umwelt, z. B. von umweltschädlichen Tätigkeiten, müssen regressive Verteilungseffekte und Energiearmut unbedingt verhindert werden. In diesem Zusammenhang muss auch die hohe steuerliche Belastung des Faktors Arbeit angegangen werden.

3.1.4.

Die Kommission weist darauf hin, dass die Verwirklichung der ehrgeizigen EU-Agenda für den Grünen Deal erhebliche Investitionen in Höhe von schätzungsweise knapp 520 Mrd. EUR jährlich erfordert. In Bezug auf Arbeitsmarktübergänge wird es weiterer Investitionen bedürfen. In diesem Zusammenhang verweist der EWSA auf den zusätzlichen Investitionsbedarf aufgrund des digitalen Wandels sowie in den Bereichen Gesundheit, allgemeine und berufliche Bildung, Sozialschutz und Forschung und Entwicklung. Um ein ausreichendes Investitionsniveau zu gewährleisten, ist es nach Ansicht des EWSA von entscheidender Bedeutung, sowohl private als auch öffentliche Investitionen neu auszurichten und zu erhöhen. Das Erreichen ökologischer Nachhaltigkeit stellt jedoch ein öffentliches Gut dar, das dem Risiko eines Marktversagens unterliegt.

3.1.5.

Die private Investitionstätigkeit spielt im Wirtschaftskreislauf eine entscheidende Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Private Investitionen und insbesondere Innovationen sind für das Erreichen des Ziels der ökologischen Nachhaltigkeit erforderlich, z. B. in den Bereichen neue Autobatterien und CO2-freie Stahlproduktion. Der EWSA betont die Notwendigkeit guter Rahmenbedingungen für die Unternehmen und begrüßt die Bestrebungen, private Mittel gemäß der neuen EU-Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen (7) in die Klimaresilienz und ökologische Nachhaltigkeit zu lenken. Der EWSA unterstützt auch die Rolle des öffentlichen Sektors, insbesondere InvestEU und die entsprechenden NGEU-Maßnahmen, bei der Hebelung privater Investitionen durch gezielte Unterstützung unter uneingeschränkter Einhaltung von Artikel 107 AEUV. Der EWSA fordert allerdings, dass staatliche Beihilfen an die Schaffung guter Arbeitsplätze und die Achtung der Arbeitnehmerrechte, der Umweltnormen und der steuerlichen Verpflichtungen gekoppelt werden.

3.2.   Produktivität

3.2.1.

Bei Produktivität geht es um die Effizienz der wirtschaftlichen Produktion. Sie wird im Wesentlichen durch das Verhältnis zwischen Input und Output bestimmt. Ein gerechtes und nachhaltiges Produktivitätswachstum trägt langfristig zu Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand und Aufwärtskonvergenz bei. Werden jedoch beim Streben nach Produktivität Ungerechtigkeit und Nichtnachhaltigkeit in Kauf genommen, könnte das letztlich Arbeitnehmer und Arbeitgeber stärker unter Druck setzen, die ökologische Nachhaltigkeit beeinträchtigen, den Wettbewerb verzerren, die Ungleichheit verstärken und den Übergangsprozess behindern. Der EWSA begrüßt daher den Ansatz der Kommission, die Produktivität auf wohlstandsorientierte Art und Weise zu steigern und dafür fortschrittliche Technologien und Innovation zu fördern, die Kompetenzen der Menschen durch verstärkte allgemeine und berufliche Bildung sowie den Wissenstransfer und die Nutzbarmachung von Wissen zu stärken und die Ressourceneffizienz zu erhöhen. Der EWSA betont insbesondere, dass soziale Nachhaltigkeit auch ein wichtiges Element eines gerechten Produktivitätsansatzes ist.

3.2.2.

Der EWSA betont die Notwendigkeit neuer Investitionen im Allgemeinen und insbesondere im digitalen Sektor und unterstützt nachdrücklich die Forderung der Kommission, die Aufbau- und Resilienzpläne auch auf den Aufbau und den Einsatz modernster digitaler Kapazitäten auszurichten. Die Aufbau- und Resilienzfazilität kann und sollte die Mitgliedstaaten bei Investitionen und Reformen unterstützen, die unter anderem Fortschritte in den Bereichen künstliche Intelligenz, Hochleistungsrechnen, Cybersicherheit, mikroelektronische und elektronische Komponenten und sichere Konnektivität ermöglichen. Dadurch werden nicht nur die digitalen Kompetenzen auf allen Ebenen gefördert, sondern auch eine solide Grundlage für die Steigerung von Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit geschaffen und somit langfristig eine starke wirtschaftliche Basis und Wohlstand gefördert.

3.2.3.

Ein fairer und gut funktionierender Binnenmarkt fördert nachhaltiges und inklusives Wachstum und Beschäftigung. Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass Rechtsstaatlichkeit, hochwertige und effiziente Justizsysteme, wirksame Strukturen für die Bekämpfung von Korruption, effiziente öffentliche Verwaltung einschließlich Steuerverwaltung, sowie Strukturen zur Bekämpfung von Geldwäsche und Betrug wichtige Voraussetzungen für ein besseres Unternehmensumfeld und die Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs zwischen Unternehmen sind. Leider besteht zwischen den wirtschaftlichen Freiheiten und den Sozial- und Arbeitsmarktrechten nach wie vor ein Ungleichgewicht. Sozial- und Arbeitsmarktrechte sind von grundlegender Bedeutung, gehören aber nicht zu den verfassungsrechtlich geschützten Freiheiten des Binnenmarkts. Nationale Arbeitnehmerschutzrechte werden mitunter als administrative Markthindernisse angesehen. Infolgedessen nehmen viele Arbeitnehmer den Binnenmarkt als Bedrohung wahr. Der EWSA fordert geeignete Vorschläge, um dieses Ungleichgewicht zu beheben und den nicht im Vertrag verankerten nationalen Bestimmungen angemessen Rechnung zu tragen. Darüber hinaus empfiehlt der EWSA nachdrücklich, die Anstrengungen im Rahmen der Beyond-GPD-Initiative („über das BIP hinaus“) (8) konsequent fortzusetzen.

3.2.4.

Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen und Verteilungseffekte der steigenden Energiepreise anzugehen. Dieser Preisanstieg ist möglicherweise auf die starke Wiederaufnahme der Wirtschaftstätigkeit und Lieferausfälle zurückzuführen. Bei einer stabileren Wirtschaftsentwicklung könnten sich die Preise wieder normalisieren. Der Preisanstieg stellt jedoch eine unmittelbare Belastung für die Produktionsseite und die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie dar. Zudem ist davon auszugehen, dass sich die Großhandelspreise für Energie auf die Einzelhandelspreise auswirken, wodurch die Lebensmittelpreise weiter in die Höhe getrieben werden. Selbst wenn dies vorübergehend sein sollte, könnten sie die Kaufkraft der Löhne und Gehälter mindern, sodass einkommensschwachen Haushalten Armut drohen könnte. Der EWSA unterstützt die Bemühungen, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken.

3.3.   Fairness

3.3.1.

Probleme im Zusammenhang mit einem schwachen Sozialschutz sowie Ungleichgewichten und Ungleichheiten bestanden bereits lange vor der COVID-19-Krise. Angesichts der Tatsache, dass weit mehr als 20 % der Unionsbürgerinnen und -bürger von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind, sprach die EZB bereits 2016 von einer starken Schieflage bei der Verteilung des Nettovermögens (9). Laut dem Weltarmutsbericht der Weltbank (2018) (10) wurden in den letzten dreißig Jahren etwas mehr als eine Milliarde Menschen aus absoluter Armut befreit, was vor allem auf die Verringerung der Armut in China zurückzuführen ist. Die Pandemie hat diese positive Entwicklung verlangsamt. Der Wohlstand konzentriert sich indes immer noch an der Spitze, und die Reichen haben in den letzten 25 Jahren noch mehr Vermögen erworben (11). Die Kommission weist zu Recht auf zunehmende Ungleichheiten aufgrund der Pandemie hin. Ungleichheit ist nicht nur ein Problem an sich. Sie behindert auch die wirtschaftliche Entwicklung, weil sie die private Nachfrage dämpft und ein Nährboden für soziale Spannungen ist. Deshalb sind bessere Arbeitsplätze, anständige Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen, Arbeitsplätze für benachteiligte Gruppen und das Recht auf Tarifverhandlungen von entscheidender Bedeutung. Der EWSA betont, dass die nationalen Arbeitsbeziehungen und die Autonomie der Sozialpartner bei der Förderung solcher Maßnahmen unbedingt zu achten sind.

3.3.2.

Der EWSA begrüßt die Feststellung der Kommission, dass bei der Erholung Fairness im Zentrum stehen muss. Angesichts der problematischen Ungleichheit, erschreckender Armutszahlen und politischer Spannungen sind soziale Nachhaltigkeit, Geschlechtergleichstellung, Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung sowie eine gerechte Verteilung wichtige Ziele an sich. Daher empfiehlt der EWSA nachdrücklich, sich nicht nur auf den ökologischen und digitalen Wandel, den so genannten „zweifachen Übergang“, zu konzentrieren, sondern sich auch um soziale Nachhaltigkeit zu bemühen. Der EWSA betont, dass Maßnahmen für einen fairen und gerechten grünen und zugleich digitalen Wandel nachhaltige soziale Bedingungen erfordern und eine Grundlage für künftigen Wohlstand und künftige Resilienz bilden.

3.3.3.

Gut konzipierte aktive Maßnahmen zur Förderung des Arbeitsmarkts, öffentliche Arbeitsvermittlungsdienste und Sozialschutzsysteme, die den Menschen helfen, in Zeiten wirtschaftlicher Turbulenzen und auch bei besonderen individuellen Bedürfnissen ihren Lebensstandard zu erhalten, sind die Grundlage für Resilienz und integratives Wachstum. Die Umsetzung von Maßnahmen zur Erhaltung von Arbeitsplätzen, wie Kurzarbeitsregelungen, hat entscheidend dazu beigetragen, die negativen Auswirkungen der Krise auf die Arbeitsmärkte abzufedern. Auch wenn einkommensunterstützende Maßnahmen und soziale Sicherheitsnetze einen starken Einkommensrückgang verhindern konnten, hat die COVID-19-Pandemie auch Lücken beim Zugang zum Sozialschutz offenbart. Der EWSA fordert eine soziale Aufwärtskonvergenz, die zur allgemeinen Krisenfestigkeit der EU beiträgt.

3.3.4.

Besondere Aufmerksamkeit muss auch den sozialen Auswirkungen des digitalen Wandels geschenkt werden, nicht zuletzt, weil die Pandemie diesen Prozess beschleunigt hat. Der EWSA begrüßt, dass die Kommission unter anderem auf den ungleichen Zugang zum Online-Lernen verweist, der langfristige Folgen, wie beispielsweise ein niedrigeres Grundkompetenzniveau, haben und die bestehenden Bildungsungleichheiten noch verschärfen könnte. Der EWSA stimmt voll und ganz zu, dass die Mitgliedstaaten ihre Anstrengungen verstärken sollten, um die Lernergebnisse quer durch ihre allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme hinweg zu verbessern. Um dem Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage beizukommen und eine zunehmende soziale Kluft zu verhindern, muss das Recht auf lebenslanges Lernen anerkannt und der Zugang dazu gewährleistet werden. Dies muss mit öffentlichen Mitteln unterstützt werden, damit verantwortungsvolle Unternehmen eine hochwertige lebenslange Ausbildung durchführen können. Zwecks Verringerung der digitalen Kluft sollte der Zugänglichkeit digitaler Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

3.3.5.

Der neue mehrjährige Finanzrahmen (MFR) und NGEU, insbesondere die Aufbau- und Resilienzfazilität, belaufen sich auf 1 824 Billionen Euro, die den Mitgliedstaaten als Unterstützung bei der Bewältigung der derzeitigen Herausforderungen zur Verfügung stehen. Der EWSA fordert die Kommission auf, zu prüfen, ob die angekündigten politischen Maßnahmen auch ordnungsgemäß umgesetzt werden, damit die Ziele des ökologischen und des digitalen Wandels durch die Zuweisung der Mittel maßgeblich gefördert werden. Vor allem sollten bereits geplante Ausgaben nicht als Teil der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne akzeptiert werden. Dadurch könnten auch steigende nationale Beiträge oder Kürzungen bei den Ausgaben aus dem EU-Haushalt vermieden werden.

3.3.6.

Darüber hinaus müssen die Verteilungseffekte der Auszahlungen der Fonds und ihre sozialen Auswirkungen ebenfalls sorgfältig überwacht werden, um sicherzustellen, dass sie zur sozialen Aufwärtskonvergenz beitragen. Die Kommission verweist zu Recht auf die verschiedenen Aspekte der asymmetrischen Auswirkungen der Krise auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, Branchen und Regionen. Der EWSA fordert daher besondere Anstrengungen zum Schutz von Haushalten mit niedrigem und mittlerem Einkommen sowie von schutzbedürftigen Menschen, die von der Krise und vom Wandel am stärksten betroffen sind. Investitionen sollten nur dann finanziert werden, wenn sie zum Nettozuwachs an Arbeitsplätzen führen und die Arbeitnehmerrechte gewahrt werden. Alles in allem ist es wichtig, dass die heutigen Ausgaben den künftigen Generationen zugutekommen.

3.4.   Gesamtwirtschaftliche Stabilität

3.4.1.

Der Pandemieschock hat nicht nur bereits bestehende Probleme verschärft und zu Rückschlägen beim Abbau der Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten geführt, sondern auch die Unsicherheit verstärkt. Deshalb müssen die wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen nicht nur weiterhin Unterstützung bieten, sondern auch flexibel sein, auf sämtliche Turbulenzen oder Schocks vorbereiten und die Resilienz der EU sicherstellen. Aus diesem Grund begrüßt der EWSA die Beibehaltung der allgemeinen Ausweichklausel. Bei jeder Aufhebung müssen das Niveau der Wirtschaftstätigkeit und die Zahlen zu Beschäftigung und Armut im Vergleich zum Vorkrisenniveau berücksichtigt werden. Die haushaltspolitischen Maßnahmen auf nationaler und europäischer Ebene sowie die finanzpolitischen Maßnahmen sollten umsichtig koordiniert werden, damit sich die beabsichtigten unterstützenden und stabilisierenden Auswirkungen gegenseitig verstärken.

3.4.2.

Der EWSA fordert, wie er in verschiedenen Stellungnahmen (12) darlegt, eine Umstellung auf eine wohlstandsorientierte wirtschaftspolitische Steuerung. Deshalb war die Wiederaufnahme der durch die Pandemie ins Stocken geratenen Überprüfung des Rahmens der wirtschaftspolitischen Steuerung überfällig, um eine angemessene Haushaltspolitik in guten wie in schlechten Zeiten zu fördern. Die Mängel des derzeitigen haushaltspolitischen Rahmens lagen bereits 2020 auf der Hand, und die Krise hat die Herausforderungen noch verschärft. Laut einer Analyse wird in 23 Mitgliedstaaten das Defizitkriterium und in 13 Mitgliedstaaten das Schuldenstandskriterium nicht erfüllt werden können.

3.4.3.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass von der Einleitung eines Defizitverfahrens gegen einen Mitgliedstaat abgesehen werden sollte. Er stimmt auch der Empfehlung der Kommission zu, dass Mitgliedstaaten weiterhin fiskalische Unterstützung leisten, dabei aber die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen nicht aus dem Auge verlieren sollten. Dies steht im Einklang mit der Forderung des EWSA, ein nachhaltiges Wachstum zu fördern und damit die öffentlichen Finanzen zu stärken (13). Nach Ansicht des EWSA gilt es jedoch auch anzuerkennen, dass die Investitionstätigkeit dringend intensiviert werden muss, um den Übergangsprozess zu bewältigen. Bevor der überarbeitete Rahmen in Kraft tritt, sollte die Kommission außerdem Leitlinien für einen Übergangszeitraum vorlegen, während dessen kein Defizitverfahren eingeleitet und die Möglichkeit geschaffen werden sollte, die „Klausel betreffend außergewöhnliche Ereignisse“ auf länderspezifischer Basis anzuwenden (14).

3.4.4.

Der EWSA stimmt der Kommission zu, dass bei den Überprüfungen im Rahmen des Verfahrens bei einem makroökonomischen Ungleichgewicht die Wechselwirkungen zwischen neuen wirtschaftlichen Herausforderungen, insbesondere Umweltbelastungen, nicht ausreichend berücksichtigt wurden (15). Darüber hinaus müssen soziale Ungleichgewichte überwacht werden, um die Vorrangstellung haushaltspolitischer und makroökonomischer Anforderungen auszugleichen (16). Da soziale und beschäftigungsbezogene Ungleichgewichte sich grenzüberschreitend negativ auswirken, müssen sie frühzeitig erkannt und korrigiert werden. Abschließend begrüßt der EWSA die Arbeit der Kommission zur umweltgerechten Haushaltsplanung.

3.4.5.

Die wirtschaftliche Erholung und ein stabiles inklusives Wachstum sind für tragfähige öffentliche Haushalte und die Bildung von Haushaltspuffern unerlässlich. Da einzelstaatlich finanzierte öffentliche Investitionen weiterhin eine Schlüsselrolle spielen, ist die Anwendung der „goldenen Regel“ — ohne die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen und des Wertes des Euro zu gefährden — für einen erfolgreichen Wandel von entscheidender Bedeutung. Angesichts der zahlreichen Unsicherheiten warnt der EWSA jedoch auch davor, die derzeitigen Ausgaben im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich zu kürzen. Gut funktionierende automatische Stabilisatoren sind zur Vermeidung sozialer Härten und zur Stabilisierung der Nachfrage und der Krisenfestigkeit ausschlaggebend. Auf der anderen Seite gefährden unfaire Steuerpolitiken sowie Steuerbetrug und aggressive Steuerplanung den haushaltspolitischen Spielraum, der erforderlich ist, um auf Schocks zu reagieren und den Wandel zu bewältigen. Deshalb begrüßt der EWSA den Standpunkt der Kommission in Bezug auf die Einnahmenseite. Dies gilt auch für die im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität vorgeschlagenen Reformen zur Erhöhung der Effizienz der Steuerverwaltungen, um so die Steuererhebung zu verbessern und die Befolgungskosten für Unternehmen und Einzelpersonen zu senken.

3.4.6.

Ein wichtiger Aspekt der gesamtwirtschaftlichen Stabilität ist die Stabilität der Finanzmärkte. Die Vollendung der Kapitalmarktunion und der Bankenunion sollte in erster Linie die Finanzierungskanäle stärken und private Investitionen stimulieren. In diesem Zusammenhang fordert der EWSA ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Risikoteilung und Risikominderung und begrüßt insbesondere die Bemühungen um eine verstärkte Überwachung der systemischen Risiken, die sich aus der Klimakrise ergeben. Darüber hinaus ist es wichtig, endlich soziale Nachhaltigkeitsrisiken zu berücksichtigen, die durch das Auseinanderklaffen der Verteilungsschere den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. Im Rahmen der Finanzmarktregulierung sollte auch der Effizienz Vorrang vor der Komplexität eingeräumt und ein hohes Verbraucherschutzniveau gewährleistet werden.

3.5.   Das Europäische Semester in Bewegung

3.5.1.

Der EWSA betont, dass die EU mit NGEU eine neue Phase der Wirtschaftspolitik erreicht hat und einen entscheidenden Schritt hin zu Solidarität unternimmt. Das weiterentwickelte Europäische Semester 2022 bietet die Chance, die wirtschaftliche, ökologische und soziale Nachhaltigkeit zu verbessern. Der EWSA fordert ein starkes Engagement für die Förderung des nachhaltigen und integrativen Wachstums, der Vollbeschäftigung und der Schaffung guter Arbeitsplätze sowie für eine entschlossenere demokratische Haltung. Darüber hinaus ist eine stärkere Einbeziehung der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft in den Semesterprozess längst überfällig.

3.5.2.

Die Verwaltung und Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität im Rahmen des Europäischen Semesters verleiht dem Prozess eine größere Bedeutung. Auch die Tatsache, dass die Auszahlung der Tranchen an die Umsetzung der in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen festgelegten Reformen geknüpft wird, die in hohem Maße auf den länderspezifischen Empfehlungen beruhen, verleiht diesen länderspezifischen Empfehlungen ein größeres politisches Gewicht. Die Einbeziehung der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft in die Entwicklung und Umsetzung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne ist unabdingbar. Der EWSA fordert die Festlegung von Mindeststandards für diese Konsultation (17). Die strengen Regeln der Kohäsionspolitik für die Konsultation der Interessenträger und insbesondere das Partnerschaftsprinzip sollten zumindest als Konzept für die Verfahren im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität dienen (18).

3.5.3.

In einer Reihe empirischer Studien wird betont, dass sich die meisten länderspezifischen Empfehlungen auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte konzentriert haben. Der EWSA fordert die Kommission auf, den ausgewogenen Ansatz der Agenda für wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit in den nächsten länderspezifischen Empfehlungen zu verwenden. Besonderes Augenmerk sollte auf die Empfehlung von Reformen gelegt werden, wie aktive und inklusive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Programme des lebenslangen Lernens, einschließlich Umschulungsprogramme und Programme zur Unterstützung der beruflichen Neuorientierung, auch für benachteiligte Gruppen wie Menschen mit Behinderungen oder ältere Menschen.

3.5.4.

Er begrüßt insbesondere die Ergebnisse des Sozialgipfels von Porto, d. h., dass das überarbeitete sozialpolitische Scoreboard dazu beitragen sollte, die Fortschritte bei der Umsetzung der Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte zu überwachen und diese Überwachung in den Prozess des Europäischen Semesters zu integrieren. Deshalb ist zu begrüßen, dass im Gemeinsamen Beschäftigungsbericht 2022 ein stärkerer Fokus auf die Grundsätze der Säule gelegt wird und dass darin die Kernziele für 2030 und die Leitindikatoren des überarbeiteten sozialpolitischen Scoreboards in die Analyse aufgenommen werden. Es bleibt jedoch unklar, inwieweit diese Schlussfolgerungen in den länderspezifischen Empfehlungen und den Aufbau- und Resilienzplänen berücksichtigt werden. Darüber hinaus sollten die Ziele für nachhaltige Entwicklung als Bezugspunkte dienen.

3.5.5.

Der EWSA fordert ferner Reformen, die eine wirksame Ausschöpfung der EU-Mittel gewährleisten, beispielsweise durch den Aufbau technischer Kapazitäten in den öffentlichen Verwaltungen für Investitionsvorhaben. Er fordert öffentliche Beschaffungssysteme, die auf dem Grundsatz des wirtschaftlich günstigsten anstatt des billigsten Angebots beruhen, d. h. die auch arbeitsspezifische, soziale und ökologische Aspekte berücksichtigen. Er fordert zudem Reformen zur Beseitigung anderer nichtmonetärer Hindernisse für eine wirksame Investitionspolitik. Vor allem fordert der EWSA die Kommission auf, jeglichem Missbrauch von Geldern und der Korruption vorzubeugen.

3.5.6.

Die wirtschaftspolitische Steuerung und insbesondere die Vorschriften des haushaltspolitischen Rahmens müssen so in das Verfahren des Europäischen Semesters integriert werden, dass die demokratische Beteiligung des Europäischen Parlaments, der nationalen Parlamente, der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft gewährleistet ist. Darüber hinaus sollten sie reformiert werden, um einen multilateralen und demokratischen Dialog über die makroökonomischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen zu fördern und die politische Koordinierung zu unterstützen.

Brüssel, den 23. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Europäische Kommission, Frühjahrswirtschaftsprognose 2020.

(2)  Europäisches Instrument zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Notlage.

(3)  Herbstprognose 2021.

(4)  Stellungnahme des EWSA Gestärkt aus der Pandemie hervorgehen — Erste Lehren aus der COVID-19-Pandemie (SOC/700) (ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 116).

(5)  Stellungnahme des EWSA Fit für 55: Auf dem Weg zur Klimaneutralität — Umsetzung des EU-Klimaziels für 2030 (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 101).

(6)  Stellungnahme des EWSA „Sozialer Dialog als wichtiger Pfeiler wirtschaftlicher Nachhaltigkeit und Resilienz von Volkswirtschaften“ (ABl. C 10 vom 11.1.2021, S. 14).

(7)  Stellungnahme des EWSA Eine erneuerte Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen (ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 97).

(8)  Background — Beyond GDP, Europäische Kommission.

(9)  Europäische Zentralbank, The Household Finance and Consumption Survey: results from the second wave, Nr. 18, Dezember 2016.

(10)  Weltbankgruppe: Poverty and shared prosperity 2018. Piecing together the poverty puzzle. Overview, Abbildung 01; S. 2.

(11)  Der World Inequality Report 2022 enthält die aktuellsten und vollständigsten Daten zur Ungleichheit weltweit.

(12)  Siehe Stellungnahmen des EWSA „Überprüfung der wirtschaftspolitischen Steuerung 2020“ (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 227), und „Neugestaltung des haushaltspolitischen Rahmens der EU für einen nachhaltigen Aufschwung und einen gerechten Übergang“ (ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 11).

(13)  Stellungnahme des EWSA „Überprüfung der wirtschaftspolitischen Steuerung 2020“ (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 227).

(14)  Stellungnahme des EWSA „Neugestaltung des haushaltspolitischen Rahmens der EU für einen nachhaltigen Aufschwung und einen gerechten Übergang“ (ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 11).

(15)  COM(2021) 662 final.

(16)  Stellungnahme des EWSA „Europäische Säule sozialer Rechte“ (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 13).

(17)  Entschließung des EWSA „Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne — was funktioniert und was nicht?“ (ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 1).

(18)  Stellungnahme des EWSA „Kohäsionspolitik bei der Bekämpfung von Ungleichheiten — Komplementaritäten/Überschneidungen mit der Aufbau- und Resilienzfazilität“ (ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 1).


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/58


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen HERA: die neue Europäische Behörde für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen“

(COM(2021) 576 final)

(2022/C 275/10)

Berichterstatter:

Ioannis VARDAKASTANIS

Befassung

Europäische Kommission, 28.10.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständiges Arbeitsorgan

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

10.2.2022

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

230/3/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, dass die Europäische Union (EU) und ihre Mitgliedstaaten eine bessere Koordinierung benötigen, um Krisen im Bereich der öffentlichen Gesundheit vor, während und nach ihrem Eintreten zu bewältigen. Die Menschen in Europa haben Lücken bei der Vorsorge und der Reaktion auf die Pandemie auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene festgestellt. Als sich die Pandemie in ganz Europa ausbreitete, waren die Organe und Einrichtungen der EU nicht gerüstet, Maßnahmen mit den Mitgliedstaaten angemessen zu koordinieren und rasch und effizient zum Schutz des Lebens der Bevölkerung zu handeln.

1.2.

Durch die Einrichtung der Europäischen Behörde für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA) und dadurch, dass die öffentliche Gesundheit und der Gerechtigkeitsaspekt zum zentralen Anliegen ihres Handelns erklärt wurden, können die EU und ihre Mitgliedstaaten eine bessere Vorsorge treffen und besser auf aktuelle und künftige grenzüberschreitende Gesundheitskrisen reagieren.

1.3.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die rasche Einrichtung von HERA durch die Europäische Kommission, die auf dem im Februar 2021 aufgelegten Plan zur Vorsorge gegen biologische Gefahren, dem HERA-Inkubator, aufbaut (1). Es musste schnell gehandelt werden, um auf die Ausbreitung und die Folgen der COVID-19-Pandemie mit ihren vielen Infektionswellen und hohen Hospitalisierungszahlen zu reagieren, die alle Mitgliedstaaten getroffen haben und immer noch nicht überwunden sind.

1.4.

Rasche Maßnahmen dürfen allerdings nicht zulasten der Demokratie und der Gleichheit in gesundheitlichen Belangen gehen. Die Schaffung einer neuen, ständigen Struktur der EU von einer solchen Bedeutung und einem großen, aus öffentlichen Mitteln gespeisten Budget sollte nicht auf Ausnahmeklauseln beruhen, die in akuten Krisen gelten. Der EWSA blickt sehr skeptisch auf die untergeordnete Rolle, die dem Europäischen Parlament, regionalen Behörden, Krankenversicherungen und Organisationen der Zivilgesellschaft, darunter Sozialpartner wie die Gewerkschaften der Arbeitnehmer im Gesundheitswesen, sowie Organisationen der öffentlichen Gesundheit, Patienten- und Gleichstellungsorganisationen, Dienstleistern, gemeinnützigen Infrastrukturen und nichtkommerziellen Forschungseinrichtungen im Zusammenhang mit der HERA zugewiesen wird. Der EWSA ist der Auffassung, dass diesen Interessenträgern eine aktive Rolle in Bezug auf die Arbeit der HERA zugewiesen werden muss. Der EWSA verweist nachdrücklich auf den herausragenden Einsatz der Arbeitnehmer an vorderster Front, insbesondere der Beschäftigten im Gesundheitswesen und der Freiwilligen, bei der Pandemiebekämpfung.

1.5.

Der EWSA erkennt die Bedeutung der Industrie bei der Bewältigung von gesundheitlichen Notlagen an, doch muss für ein ausgewogenes Verhältnis gesorgt werden, damit die öffentliche Gesundheit und die Interessen schutzbedürftiger Gruppen bei der Vorsorge und der Reaktion der EU im Mittelpunkt stehen. Der EWSA appelliert an die Kommission, das Europäische Parlament, die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft wirksam in das HERA-Board und den Beirat einzubinden. Der EWSA fordert die Einrichtung einer Untergruppe des Beirats, die dem Gemeinsamen Forum für industrielle Zusammenarbeit gleichgestellt ist. Der EWSA und der Ausschuss der Regionen sollten dieser Untergruppe angehören.

1.6.

Besonders besorgt ist der EWSA über den Mangel an Transparenz und Offenheit in der derzeitigen Struktur der HERA. Die Kommission ist im Begriff, die während der Pandemie ergriffenen Ad-hoc-Maßnahmen zu verstetigen, doch ohne dabei mehr Transparenz in ihrem Entscheidungsprozess walten zu lassen. Ein transparenter Umgang mit öffentlichen Mitteln und privaten Kooperationspartnern ist entscheidend für das Vertrauen bei der Bewältigung von Gesundheitskrisen. Der EWSA empfiehlt vollständige Transparenz bezüglich der Einnahmen und Ausgaben der HERA, eine offene Auftragsvergabe sowie die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Kontrolle der finanziellen Aspekte dieser Behörde.

1.7.

Auch weitere Maßnahmen sind wichtig, damit Vorsorge-, Reaktions- und medizinische Gegenmaßnahmen in den Mitgliedstaaten zu Ergebnissen führen. Der EWSA meint, dass die HERA eine bessere Koordinierung der Kommunikationskampagnen zur Prävention und Reaktion auf Notlagen im Bereich der öffentlichen Gesundheit sicherstellen sollte. Dabei sollten unter anderem die Risikogruppen und die Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden im Mittelpunkt stehen, auch in Bezug auf die Aus- und Weiterbildung in Sachen Wissenschaft und Impfung.

1.8.

Ebenfalls gilt es, die internationale Dimension grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren zu berücksichtigen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die HERA eine wichtige Rolle bei der globalen Bekämpfung grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren und Pandemien spielen muss, insbesondere durch COVAX, neue potenzielle Medikamente und Therapien sowie die Stärkung und Unterstützung der Strukturen der globalen Gesundheitssicherheit. Die HERA sollte mit globalen Akteuren wie etwa der Weltgesundheitsorganisation zusammenarbeiten, Erkenntnisse austauschen und die globale Versorgung mit Impfstoffen und anderen medizinischen Gütern unterstützen. Der EWSA appelliert an die Europäische Kommission, eine offene europäische Debatte über eine vorübergehende freiwillige Aussetzung des TRIPS-Übereinkommens anzustoßen. Dies würde COVID-19-Impfstoffe, -Medikamente und -Tests betreffen und dazu dienen, die Impfstoffproduktion weltweit hochzufahren und eine Senkung der Kosten zu ermöglichen, sodass die gesamte Weltbevölkerung versorgt werden kann.

1.9.

Die HERA wird als flexible Struktur präsentiert, die bei Bedarf angepasst werden kann — 2025 ist eine eingehende Überprüfung geplant. Entscheidend ist, dass den Bedenken hinsichtlich der Struktur, der Funktionsweise und der Kontrolle der HERA so bald wie möglich Rechnung getragen wird und dass die Auswirkungen der von der Behörde ergriffenen Maßnahmen mit Blick auf die derzeitige Pandemie fortlaufend überwacht werden. Der EWSA empfiehlt der Kommission, bei der Überprüfung 2025 in Erwägung zu ziehen, die HERA in eine unabhängige Behörde außerhalb der Kommission umzuwandeln. Dies sollte nach Konsultation der Organisationen der Zivilgesellschaft, einschließlich der Sozialpartner, im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens geschehen, an dem das Europäische Parlament als Mitgesetzgeber beteiligt ist.

1.10.

Abschließend fordert der EWSA die Kommission auf, sicherzustellen, dass die Finanzierung der HERA nicht zulasten anderer Ziele des Programms EU4Health geht, und denkt dabei vor allem an den Plan zur Krebsbekämpfung. Nach Jahren der Sparpolitik hat sich in der Gesundheitspolitik und in den Gesundheitssystemen ein erheblicher Investitionsbedarf angestaut, der noch geraume Zeit fortbestehen dürfte.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der EWSA unterstützt das Engagement und die Initiativen der EU-Organe, darunter auch der Kommission, die auf eine Europäische Gesundheitsunion abzielen und das nachhaltige Wohlergehen der Unionsbürger gewährleisten sollen. Ein bevölkerungsbezogener, übergreifender und ganzheitlicher Ansatz für Gesundheit ist ein zentrales Anliegen bei der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte, ihres Aktionsplans, des Aktionsplans für die Sozialwirtschaft und im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas.

2.2.

Der EWSA begrüßt die rasche Schaffung der HERA durch die Kommission sowie die Tatsache, dass die neue Behörde schnell einsatzbereit sein soll. Die HERA soll Europa besser befähigen, grenzüberschreitende Gesundheitskrisen zu verhüten, zu erkennen und rasch auf sie zu reagieren. Schwerpunktmäßig geht es dabei um die Entwicklung, Herstellung, Beschaffung und entsprechende Verteilung wichtiger Arzneimittel und medizinischer Maßnahmen.

2.3.

Die COVID-19-Pandemie und ihre sukzessiven Wellen haben deutlich gemacht, dass Europa besser in die Lage versetzt werden muss, grenzüberschreitende Gesundheitskrisen zu verhindern, zu erkennen und rasch zu bekämpfen, und dass dabei schwerpunktmäßig auf die Entwicklung, Herstellung, Beschaffung und die entsprechende gerechte Verteilung wichtiger Arzneimittel und medizinischer Güter gesetzt werden muss. Der EWSA stellt fest, dass neben den unmittelbar sichtbaren Pandemiefolgen auch eine stille Pandemie wütet: Behandlungen nicht übertragbarer Krankheiten (darunter Krebs) müssen verschoben werden, die soziale Ungleichheit im Gesundheitsbereich verschärft sich, die psychische Gesundheit ist bedroht. Und auch der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Umwelt aus ökosystemorientierter Sicht (das Konzept „Eine Gesundheit“) sollte im Auge behalten werden.

2.4.

Der EWSA stellt fest, dass Millionen Menschen seit Beginn der COVID-19-Pandemie gestorben sind und dass weitere Millionen von Menschen nach wie vor von ihr betroffen sind. Er würdigt die wichtige Rolle der Arbeitnehmer an vorderster Front und insbesondere der Beschäftigten und Freiwilligen im Gesundheitswesen, der regionalen und lokalen Behörden, der Krankenkassen und der Organisationen der Zivilgesellschaft, einschließlich Sozialpartner, Dienstleister und Gleichstellungsorganisationen, bei der raschen Reaktion und der Gewährleistung von Gleichheit in gesundheitlichen Belangen.

2.5.

Die HERA ist eines der Instrumente zur konsolidierten und verstärkten europäischen und internationalen Zusammenarbeit, Koordinierung und Solidarität. Sie muss in einen Multi-Stakeholder- und Multi-Level-Governance-Rahmen eingebettet werden. Eine nachhaltige und tragfähige Kooperation im Rahmen der HERA kann nur durch die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf Unionsebene erreicht werden, die auf die Verhinderung künftiger Pandemien durch schnelle Entscheidungen und die Aktivierung von Notfallmaßnahmen ausgerichtet ist. Gleichzeitig müssen diverse andere Akteure einbezogen werden, u. a. das Europäische Parlament, die regionalen Behörden, Krankenkassen und die organisierte Zivilgesellschaft, darunter Sozialpartner wie die Gewerkschaften der Arbeitnehmer im Gesundheitswesen, die öffentlichen Gesundheits- und Patienten- sowie Gleichstellungsorganisationen, Dienstleister, gemeinnützige Infrastrukturen ebenso wie gemeinnützige Forschungseinrichtungen.

2.6.

Der EWSA hat seine Position in einer im April 2021 verabschiedeten Stellungnahme zum Thema „Schaffung einer europäischen Gesundheitsunion“ zum Ausdruck gebracht und Empfehlungen zur Einrichtung einer Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen abgegeben (2). Der EWSA fordert Maßnahmen im Nachgang zu den Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom Donnerstag, den 16. Dezember 2021, betreffend die Stärkung der kollektiven Vorsorge, der Reaktion und der Resilienz gegenüber künftigen Krisen, die eine wichtige übergreifende politische Priorität der EU ist. Der Rat sprach sich dafür aus, „die Krisenreaktion und -vorsorge der EU im Rahmen eines gefahrenübergreifenden Ansatzes zu stärken“ und „Resilienz aufzubauen und zu überwachen und unsere Schwachstellen anzugehen“ (3).

3.   Überprüfung des institutionellen und operativen Rahmens der HERA

3.1.

Im September 2021 kündigte die Kommission die Einrichtung der HERA an, die sofort einsatzbereit sein soll. Die neue Behörde wird innerhalb der Kommission eingerichtet und drei Kernaufgaben haben: (a) Stärkung der Koordinierung der Gesundheitssicherheit innerhalb der Union bei der Krisenvorsorge und -reaktion, Bündelung der gemeinsamen Bemühungen von Mitgliedstaaten, Industrie und einschlägigen Interessenträgern, (b) Angehen von Schwachstellen und strategischen Abhängigkeiten innerhalb der Union in Bezug auf die Entwicklung, Herstellung, Beschaffung, Bevorratung und Verteilung medizinischer Gegenmaßnahmen und (c) Beitrag zur Stärkung der globalen Strukturen der Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen.

3.2.

Der EWSA betont, dass die aus Dringlichkeitsgründen getroffene Entscheidung der Kommission, diese Behörde als interne Struktur innerhalb der Kommission anzusiedeln, anstatt eine Agentur zu gründen, nicht endgültig sein sollte bzw. die Umgestaltung zu einer unabhängigen Behörde oder sogar zu einer europäischen Agentur nicht ausschließen sollte. Die jährlichen Überprüfungen und die eingehende Überprüfung im Jahr 2025 sollten sich auf diesen Punkt konzentrieren.

3.3.

Ein Aspekt der HERA sind ihre unterschiedlichen Aufgaben in Zeiten der Vorsorge und während einer Krise. In Zeiten der Vorsorge soll sie Investitionen und Maßnahmen zur Stärkung der Prävention, Vorsorge und Bereitschaft für neue Notlagen im Bereich der öffentlichen Gesundheit steuern. In Krisenzeiten soll sie sich auf umfassendere Befugnisse zur raschen Beschlussfassung und Umsetzung von Sofortmaßnahmen stützen können. In beiden Phasen zielen ihre Arbeiten darauf ab, den raschen Zugang zu sicheren und wirksamen medizinischen Gegenmaßnahmen im benötigten Umfang zu gewährleisten. Vorsorge- und Pandemieprogramme sollten gemeinsam mit den Mitgliedstaaten durchgeführt werden, da sie ein gemeinsames Anliegen sind und für die HERA einen Kernaspekt der vollumfänglichen Erfüllung ihres Handlungsauftrags darstellen.

3.4.

Sicherlich war die Schaffung einer Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion im Gesundheitsbereich durch die EU und die Herstellung ihrer Einsatzbereitschaft eine überfällige Maßnahme zur unverzüglichen Bekämpfung der nach wie vor in Europa und in der Welt grassierenden COVID-19-Pandemie. Allerdings muss sichergestellt werden, dass die HERA auch so ausgestattet ist, dass die Koordinierung von Vorsorge und Reaktion wirksam gestärkt wird und die Gesundheit und das Leben der Menschen in der EU in gesundheitlichen Notlagen auch angemessen geschützt werden können. Damit dies gelingt, müssen die Struktur und die Funktionsweise der HERA transparent und überprüfbar sein, wozu auch ein Monitoring der Auswirkungen der Arbeit der Behörde auf die öffentliche Gesundheit gehört. Transparente Verwaltungs- und Entscheidungsprozesse sind von entscheidender Bedeutung für die öffentliche Kontrolle, das Vertrauen in Forschung und Entwicklung sowie die Rechenschaftspflicht.

3.5.

Der EWSA stellt fest, dass die „Gesundheitsdemokratie“ eine der Maßgaben für den Austausch zwischen den europäischen und nationalen Ausschüssen und der Konferenz zur Zukunft Europas sein sollte. Angesichts der komplexen Probleme im Zusammenhang mit gesundheitlichen Notlagen und der Resilienz der Gesundheitssysteme empfiehlt der EWSA die Einführung eines obligatorischen Konsultationsmechanismus als Voraussetzung für die Beschlussfassung. Alle Interessenträger sollten so eng wie möglich in den Entscheidungsprozess im Gesundheitswesen einbezogen werden.

3.6.

Der EWSA hält es für wichtig, dass die Arbeit der HERA eine Stärkung und Ergänzung der Maßnahmen anderer EU-Einrichtungen darstellt, darunter der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und der Europäischen Umweltagentur (EUA).

4.   Mandat der HERA und Umsetzungsmodalitäten

4.1.

Der EWSA begrüßt insbesondere die Koordinierungsfunktion der HERA bei der Entwicklung, Herstellung, Beschaffung, Lagerung und gerechten Verteilung medizinischer Güter. Hier wird die HERA eine wichtige Lücke im EU-Rahmen für Gesundheit schließen. Die Entwicklung und Herstellung medizinischer Güter wird erhebliche Investitionen erfordern. Die Bevorratung setzt eine angemessene Planung und großes Fachwissen voraus, um den künftigen Schutz der EU-Bürger und die wirtschaftliche Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Die Gefahr der Verschwendung — mit eindeutig negativen wirtschaftlichen Folgen — ist stets gegeben. Wichtig ist auch, ein Verzeichnis der für die Herstellung von Arzneimitteln in der EU erforderlichen Wirkstoffe aufzustellen, um Arzneimittelsicherheit und -unabhängigkeit zu gewährleisten.

4.2.

Der EWSA verweist auf die Kommissionsmitteilung „Erste Lehren aus der COVID-19-Pandemie“ (4), in der erörtert wird, welche Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene verstärkt werden sollten. Eine solche Analyse sollte unter Federführung der HERA zweimal jährlich in erweiterter Form durchgeführt und systematisiert werden. Im Hinblick auf die Erweiterung müssen im Vorfeld Konsultationen mit mehreren Interessenträgern durchgeführt werden, um einen vollständigen Überblick zu gewinnen.

4.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass das derzeitige Mandat der HERA nicht weit genug geht. Innerhalb des bestehenden Rahmens kann die HERA den Allgemeinwohlauftrag nicht ausreichend wahrnehmen und weder in Zeiten der Vorsorge noch bei der Reaktion auf Krisen eine gleiche Behandlung garantieren. Die Kommission hat zwar angekündigt, dass die HERA über Kapazitäten für die Erhebung, Analyse und gemeinsame Nutzung von Daten verfügen wird, allerdings wurde nicht dafür gesorgt, dass besser aufgeschlüsselte Daten über Risikogruppen erhoben werden können. Solche Daten sind jedoch eine Voraussetzung für die Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheiten; sie werden derzeit nicht vom Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) erhoben. Weiterhin ist die HERA nicht verpflichtet, bei medizinischen Gegenmaßnahmen auf Nichtdiskriminierung und Gleichheit zu achten. Der EWSA hat bereits in seiner Stellungnahme „Schaffung einer europäischen Gesundheitsunion“ betont, wie wichtig Nichtdiskriminierung bei der Reaktion der EU auf künftige Pandemien und die Rolle der HERA in dieser Hinsicht sind (5).

4.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die HERA über zusätzliche Maßnahmen dafür sorgen muss, dass ihre Arbeit zur Gleichstellung in gesundheitlichen Notlagen, einschließlich grenzüberschreitender gesundheitlicher Notlagen, beiträgt. In Anbetracht des Fehlens koordinierter und öffentlichkeitswirksamer Kommunikationskampagnen während der COVID-19-Pandemie könnte die HERA auch an einer besseren Koordinierung von Kommunikationskampagnen im Zusammenhang mit der Prävention und Reaktion auf grenzüberschreitende Gesundheitskrisen mitwirken, die insbesondere auf Hochrisikogruppen und schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen abzielen. Die HERA sollte sich auch mit der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung bei Pandemien und anderen grenzüberschreitenden Notlagen befassen. Freizügigkeit ist ein Grundprinzip der Union, das auch für Patienten im Sinne einer verstärkten Gleichbehandlung in der Gesundheitsversorgung garantiert sein sollte.

4.5.

Weitere Maßnahmen sollten auch im Zusammenhang mit der grenzübergreifenden Dimension der HERA in Betracht gezogen werden, damit die globalen Strukturen für die Krisenvorsorge und -reaktion im Gesundheitsbereich gestärkt wird. In der Mitteilung über die HERA gibt es keine Verpflichtung zum Austausch von Wissen, Daten und Technologien, die mithilfe öffentlicher Forschungsmittel gewonnen bzw. entwickelt wurden, und auch eine Klausel über eine angemessene Preisgestaltung fehlt. Besonders wichtig ist die internationale Dimension der HERA, die sich von der Vorsorge bis hin zur Reaktion auf grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren erstreckt. Die derzeitige COVID-19-Krise zeigt, dass grenzüberschreitende Gesundheitskrisen nur durch eine rasche und wirksame internationale Reaktion bewältigt werden können, wozu auch die Bereitstellung persönlicher Schutzausrüstungen und Impfungen gehören. Die HERA sollte sich ebenfalls für die Zusammenarbeit mit globalen Akteuren engagieren, Erkenntnisse austauschen und den weltweiten Zugang zu Impfstoffen und anderen medizinischen Gütern unterstützen.

4.6.

Sofern sich die HERA auf die Verbesserung der Gesundheitssicherheit konzentriert und einer Rechenschaftspflicht unterliegt, können die Mitgliedstaaten die Widerstandsfähigkeit ihrer Gesundheitssysteme und ihre Reaktionsfähigkeit bei Gesundheitskrisen erheblich erhöhen. Die nationalen Regierungen und die Kommission sollten sich daher für eine Stärkung der Struktur der HERA und die Ausdehnung ihres Mandats in Zukunft bemühen.

4.7.

Der EWSA sieht nach wie vor das Risiko möglicher Überschneidungen mit der Arbeit anderer Gremien wie der EMA und dem ECDC. In einigen Bereichen, darunter Krisenvorsorge, Forschung, Daten, koordinierte Verteilung von Arzneimitteln und Medizinprodukten, bleibt der Mehrwert angesichts der Vorschläge zur Erweiterung des Mandats des ECDC und der EMA sowie der Verordnung zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren unklar. So hat der EWSA beispielsweise in seiner Stellungnahme „Schaffung einer europäischen Gesundheitsunion“ (6) festgestellt, dass unklar ist, ob im Falle der Feststellung einer die EU betreffenden epidemischen Lage die Empfehlungen der HERA Vorrang vor denen der EMA haben sollen. Somit liegt ein offenkundiger Koordinierungsbedarf vor, um Kompetenzüberschneidungen zu vermeiden und den europäischen Werten Rechnung zu tragen, indem eine Zusammenarbeit auf der Grundlage der Grundsätze Transparenz, Rechenschaftspflicht und Integrität verankert wird.

4.8.

Das HERA-Board soll sicherstellen, „dass Überschneidungen mit anderen wichtigen Strukturen wie dem Gesundheitssicherheitsausschuss, dem Lenkungsausschuss für Impfstoffe und einschlägigen Ausschüssen, die an der Verwaltung von EU-Programmen beteiligt sind, vermieden werden, wofür enge Kontakte erforderlich sind“ (7). Der EWSA bezweifelt, dass dies ausreicht, um Überschneidungen mit der Arbeit der diversen EU-Strukturen zu vermeiden.

4.9.

Weiterhin plädiert der EWSA für eine Präzisierung des Aufgabenbereichs der HERA in Bezug auf antimikrobielle Resistenzen (AMR), eine globale Gesundheitsbedrohung, die sich ungeachtet des zunehmenden Bewusstseins für die Schwere und das Ausmaß des Problems immer weiter verschärft. Antimikrobielle Resistenzen sind ein komplexes und übergreifendes Thema, bei dem unklare Handlungsaufträge die Verantwortlichkeiten zu verwischen drohen und den politischen Initiativen ihre Wirksamkeit nehmen. Sie sind auch ein zentraler Aspekt des Konzepts „Eine Gesundheit“.

5.   Arbeitsweise und Kontrolle der HERA

5.1.

Der EWSA bemängelt die Struktur und die fehlende Unabhängigkeit der HERA, die ursprünglich als unabhängige und autonome Behörde nach dem Vorbild der US-amerikanischen Agentur BARDA (Biomedical Advanced Research and Development Authority) konzipiert worden war (8). Stattdessen wurde die HERA aber als Struktur im Zuständigkeitsbereich der Kommission eingerichtet. Die HERA scheint in erster Linie eine technische Behörde zu sein, der immer noch eine strategische, zukunftsorientierte (vorausschauende) Komponente zur Bewältigung der bestimmenden Faktoren grenzüberschreitender Bedrohungen fehlt.

5.2.

Der EWSA beanstandet die mangelnde Konsultation und Beteiligung des Europäischen Parlaments vor und während der Einrichtung der HERA. Zudem ist er besorgt darüber, dass die Rolle des Europäischen Parlaments in der derzeitigen Struktur auf bloße Haushaltsentscheidungen und eine Beobachterrolle im HERA-Board beschränkt ist. Die Kommission hat zwar einen regelmäßigen Austausch mit dem Europäischen Parlament über die Arbeit der HERA zugesagt; dieser ist allerdings nicht verpflichtend, und weitere Anhaltspunkte sind in der Kommissionsmitteilung nicht zu finden. Der EWSA weist darauf hin, dass die demokratische Kontrolle für gesundheitspolitische Maßnahmen von wesentlicher Bedeutung ist und dass das Europäische Parlament bei der Arbeit der HERA eine aktive Rolle spielen muss.

5.3.

Die Organisationen der Zivilgesellschaft, die Sozialpartner und insbesondere die Gewerkschaften der Arbeitnehmer in den betreffenden Bereichen sowie die Organisationen der öffentlichen Gesundheit, Patientenorganisationen, Gleichstellungsorganisationen und Dienstleister, sind wichtig, um die Allgemeinwohlorientierung bei den Strategien und Maßnahmen für die öffentliche Gesundheit zu verankern, welche die EU und ihre Mitgliedstaaten zur Krisenprävention und -reaktion ergreifen. Insbesondere kann die Zivilgesellschaft Rückmeldungen zur Akzeptanz von Maßnahmen der öffentlichen Gesundheit und Informationen über die Bedürfnisse schutzbedürftiger Gruppen geben. Der EWSA ist insbesondere besorgt darüber, dass die organisierte Zivilgesellschaft und die Sozialpartner nicht in die Struktur und die Funktionsweise der HERA einbezogen werden. In der derzeitigen Struktur kann die organisierte Zivilgesellschaft nur über andere externe Interessenträger wie die Industrie und Hochschulen zur Arbeit im HERA-Beirat beitragen. So ist die Zivilgesellschaft nicht im HERA-Board und im Gesundheitskrisenstab vertreten, der in einer Krisenphase die Notfallmaßnahmen koordinieren soll.

5.4.

Der Industrie hingegen wurde bei der HERA eine wichtigere Rolle eingeräumt. Die Mitteilung der Kommission über die HERA sieht eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Industrie in Bezug auf die Erkennung von Gefahren und die Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Industrie innerhalb und außerhalb der EU vor. Ferner wurde die Einrichtung eines Gemeinsamen Forums für industrielle Zusammenarbeit als Untergruppe des Beirats angekündigt, dem Vertreter der Industrie angehören werden. Der EWSA bezweifelt nicht, dass die Industrie für die Bewältigung gesundheitlicher Notlagen sehr wichtig ist. Dennoch ist er in Sorge, dass die derzeitige Struktur der HERA nicht gewährleistet, dass die öffentliche Gesundheit und die Interessen der Risikogruppen im Mittelpunkt der Vorsorge und der Reaktion der EU stehen, sondern dass stattdessen die Belange der Industrie einen höheren Stellenwert haben. Auf jeden Fall muss eine nachhaltige Industriepolitik mit den Zielen der HERA im Einklang stehen und alle relevanten Interessenträger proaktiv einbeziehen. Im Gemeinsamen Forum für industrielle Zusammenarbeit müssen deshalb nicht nur die Industrie, sondern auch Gewerkschaften vertreten sein, um die Beteiligung der Arbeitnehmer zu verbessern (9).

5.5.

Der EWSA empfiehlt die Einrichtung einer Untergruppe des Beirats, die dem Gemeinsamen Forum für industrielle Zusammenarbeit gleichgestellt ist. In dieser Untergruppe sollten Organisationen der Zivilgesellschaft vertreten sein, das heißt Patientenorganisationen, Organisationen und Einrichtungen der öffentlichen Gesundheit, Krankenkassen, Sozialpartner einschließlich der Gewerkschaften des Gesundheitssektors sowie gemeinnützige Infrastrukturen und Forschungseinrichtungen. Auch der EWSA und der Ausschuss der Regionen sollten dieser Untergruppe angehören.

5.6.

Transparenz ist ein weiterer Punkt, der in der derzeitigen Struktur der HERA kritisch zu sehen ist. So mangelt es etwa an der Transparenz in Bezug auf die Vergabe öffentlicher Mittel oder die Beschaffungsverträge, die Einzelheiten der Verträge oder die begünstigten Unternehmen, einschließlich z. B. Impfstoffpreise. Ein transparenter Umgang mit öffentlichen Mitteln und privaten Kooperationspartnern ist entscheidend für das Vertrauen bei der Bewältigung von Gesundheitskrisen. Der EWSA empfiehlt, dass mehr Wert auf eine vollständige Transparenz bezüglich der Einnahmen und Ausgaben der HERA, eine offene Auftragsvergabe sowie die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Kontrolle der finanziellen Aspekte dieser Behörde gelegt wird (10).

5.7.

Der EWSA begrüßt die Mittelausstattung in Höhe von 6 Mrd. EUR bis 2027 aus dem Mehrjährigen Finanzrahmen und NextGenerationEU sowie die weiteren 24 Mrd. EUR, die im Rahmen anderer EU-Programme wie der Aufbau- und Resilienzfazilität, REACT-EU und Kooperationsinstrumenten investiert werden. Allerdings sind nach Auffassung des EWSA mehr Kontrolle und Demokratie nötig, damit diese Investitionen ihre Wirkung entfalten können.

5.8.

Der EWSA fordert, dass diese finanziellen Anstrengungen für die HERA nicht zulasten anderer Ziele des Programms EU4Health gehen, und denkt dabei vor allem an den Plan zur Krebsbekämpfung. Die Empfehlungen, die der EWSA in seiner Stellungnahme zum Programm EU4Health ausgesprochen hat, gelten unverändert. Nach Jahren der Sparpolitik hat sich in der Gesundheitspolitik und in den Gesundheitssystemen ein erheblicher Investitionsbedarf angestaut.

6.   Die HERA in der Zukunft

6.1.

Die HERA wurde mit einer flexiblen und bei Bedarf anzupassenden Struktur konzipiert. Eine Überprüfung der Umsetzung und Arbeitsweise der HERA, einschließlich der Struktur und der Verwaltung der Behörde, ist für 2025 vorgesehen.

6.2.

Der EWSA meint, dass die Verwaltung der HERA so bald wie möglich überprüft werden sollte, um eine bessere Kontrolle und Repräsentanz zu gewährleisten. Wichtig ist insbesondere,

die Rolle des Europäischen Parlaments zu stärken,

die Rolle der Organisationen der Zivilgesellschaft, einschließlich der Sozialpartner, zu stärken und die Zusammenarbeit mit ihnen auszubauen,

dafür zu sorgen, dass die Industrie eine ausgewogene Rolle spielt und dass dies auch überprüft wird.

6.3.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, die Umwandlung der HERA in eine unabhängige Behörde außerhalb der Kommission zu erwägen (11), und dies über ein Gesetzgebungsverfahren vorzunehmen, an dem das Europäische Parlament als Mitgesetzgeber beteiligt ist. Darüber hinaus muss die organisierte Zivilgesellschaft bei allen künftigen Debatten über die Struktur und das Mandat der HERA und auch während der eingehenden Überprüfung im Jahr 2025 beteiligt werden.

6.4.

Nach der Überprüfung muss der Schwerpunkt der HERA stärker auf öffentliche Gesundheit, Vorsorge und Krisenreaktion im Dienste der EU-Bürger gelegt werden. Der EWSA ist der Auffassung, dass die HERA ein Werkzeug gegen die Ungleichheit im Gesundheitsbereich bei grenzüberschreitenden Gesundheitskrisen sein muss und dazu beitragen soll, die Auswirkungen von Gesundheitskrisen auf besonders gefährdete soziale Gruppen sowie auf Gesundheits- und Pflegekräfte zu mildern, und zwar durch:

6.4.1.

eine bessere Einbeziehung der Zivilgesellschaft: Die Struktur der HERA muss überprüft werden, um die Organisationen der Zivilgesellschaft, die Organisationen der öffentlichen Gesundheit, Patienten, Gleichstellungsorganisationen, Arbeitnehmer und deren Gewerkschaften vertreten, in die einschlägigen Entscheidungsgremien und -prozesse einzubeziehen. Beispielsweise könnte die HERA zusätzlich zu der vorgeschlagenen Untergruppe des Beirats eine spezielle Taskforce einrichten, die sich speziell auf gefährdete Bevölkerungsgruppen und Risikogruppen konzentriert.

6.4.2.

die Erhebung aufgeschlüsselter Daten: Da die Erhebung besser aufgeschlüsselter Daten über schutzbedürftige Gruppen und Statistiken über die Fachkräfte im Gesundheitswesen eine Voraussetzung für die Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheiten bzw. für die adäquate und bedarfsgesteuerte Personalausstattung des Gesundheitswesens sind, sollte die HERA nach Dafürhalten des EWSA in die Datenerhebung und -aufarbeitung investieren.

6.4.3.

die Koordinierung von Kommunikationskampagnen bei grenzüberschreitenden Gesundheitskrisen: Der EWSA bekräftigt seinen Vorschlag, dass die HERA Kommunikationskampagnen in gesundheitlichen Notlagen durchführt, um die Bürger besser darüber zu informieren, wie sie sich schützen können bzw. im Alltag anpassen müssen, um geschützt zu bleiben, ob und wann Behandlungsangebote zur Verfügung stehen und wie sie wahrgenommen werden können. In der Vorsorgephase könnte die HERA auch für die Aufklärung über die Pandemieprävention sorgen und die EU-Bürger auf künftige Gesundheitsgefahren vorbereiten.

6.4.4.

die Entwicklung zuverlässiger, verifizierter und fachlich aufbereiteter Informationen zur Sensibilisierung und Aufklärung der Bevölkerung durch die einzelstaatlichen Gesundheitsbehörden und die Gesundheitsakteure (Zivilgesellschaft, Sozialwirtschaft, einschließlich Krankenkassen). Das Vertrauen in die Wissenschaft und die Akzeptanz von Impfungen soll nicht nur in einer Pandemie, sondern auch in einer endemischen Lage verbessert werden. Die HERA sollte ferner ein spezifisches EU-Schulungsprogramm für Beamte des Gesundheitswesens und Angehörige der Gesundheitsberufe erwägen, um eine allgemeine Kultur der Aneignung wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Bewältigung aktueller und künftiger Gesundheitsgefahren zu fördern und zu unterstützen.

6.4.5.

Im Hinblick auf die Erarbeitung halbjährlicher europäischer Berichte und jährlicher nationaler Berichte sollen im Vorfeld Organisationen, die ein breites Spektrum von Interessenträgern vertreten, konsultiert werden.

6.5.

Kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die sich auf Arzneimittel und Medizinprodukte spezialisiert haben, müssen bei künftigen Pandemien eine wesentliche Rolle spielen; im Kontext der HERA sollte für Anreize und Protokolle gesorgt werden, um ihnen die Instrumente und Finanzmittel zu geben, die sie bei allen Aspekten der Bekämpfung künftiger Pandemien und Epidemien, die zu Pandemien werden könnten, benötigen.

6.6.

Ein echter wirtschaftlicher Anreiz für KMU könnte dadurch gesetzt werden, sie an der strategischen Planung 2020–2024 und insbesondere am Programm „InvestEU“ (2021–2027) zu beteiligen, mit dem nachhaltige Investitionen, Innovationen, digitaler Wandel und die Schaffung von Arbeitsplätzen in Europa zusätzlich angekurbelt werden sollen.

6.7.

Die Herstellung von über 1,3 Mrd. Impfdosen war ausreichend, um mehr als 75 % der Erwachsenen (12) zu impfen und die Hälfte der Produktion zur Bekämpfung der weltweiten Pandemie (13) zu exportieren. Die Impfung des derzeit noch ungeimpften Viertels der Bevölkerung bleibt entscheidend für die Rettung von Menschenleben. Außerdem sollte die HERA die Initiative bei den globalen Maßnahmen gegen grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren und Pandemien übernehmen, wozu auch die globale Impfstoffversorgung gehört. Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU weiterhin kohärent und global auf die Krise reagieren sollte, insbesondere durch COVAX und neue Arzneimittel und Therapien, und die globalen Strukturen für Gesundheitssicherheit stärken und unterstützen sollte. So muss auch die Rolle der EU in der Weltgesundheitsorganisation gestärkt werden. In diesem Zusammenhang und als Reaktion auf den dringenden Bedarf insbesondere der Entwicklungsländer bekräftigt der EWSA seine Forderung an die Europäische Kommission, eine offene europäische Debatte über eine vorübergehende freiwillige Aussetzung des TRIPS-Übereinkommens anzustoßen. Dies würde COVID-19-Impfstoffe, -Medikamente und -Tests betreffen und dazu dienen, die Impfstoffproduktion weltweit hochzufahren und eine Senkung der Kosten zu ermöglichen, sodass die gesamte Weltbevölkerung versorgt werden kann (14).

6.8.

Wirksame Instrumente für eine globale Versorgung mit Impfstoffen und Therapien, die mit öffentlichen Mitteln entwickelt wurden, sind jetzt und künftig entscheidend, um die derzeitige globale Impfungleichheit zu beheben: Etwa 60 % der Menschen aus Ländern mit hohem Einkommen haben mindestens eine Impfung erhalten, hingegen nur 24 % aus Ländern mit mittlerem Einkommen und weniger als 2 % aus Ländern mit niedrigem Einkommen. Die EU muss der wissenschaftlich fundierten Erkenntnis folgen: „Niemand sicher ist, solange nicht alle sicher sind.“

Brüssel, den 23. Februar 2022.

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  COM(2021) 78 final, 12. Februar 2021.

(2)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 109.

(3)  https://www.consilium.europa.eu/media/53575/20211216-euco-conclusions-en.pdf.

(4)  https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/communication150621.pdf.

(5)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 109.

(6)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 109.

(7)  https://ec.europa.eu/health/sites/default/files/preparedness_response/docs/hera_2021_comm_en.pdf.

(8)  https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_20_1655.

(9)  Siehe beispielsweise den Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte, in dem die Kommission eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer fördert.

(10)  Der EWSA hatte in seiner Stellungnahme „Neugestaltung des haushaltspolitischen Rahmens der EU für einen nachhaltigen Aufschwung und einen gerechten Übergang“ betont: „Transparenz bei den Einnahmen und Ausgaben, eine offene Auftragsvergabe und die ständige Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Überwachung der öffentlichen Finanzverwaltung sind für tragfähige öffentliche Finanzen ebenfalls erforderlich.“ (ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 11).

(11)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 109.

(12)  https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/coronavirus-response/safe-covid-19-vaccines-europeans_de.

(13)  https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/coronavirus-response/safe-covid-19-vaccines-europeans/global-response-coronavirus_de#covax.

(14)  Stellungnahme des EWSA „Gestärkt aus der Pandemie hervorgehen“, verabschiedet auf der EWSA-Plenartagung vom 8.12.2021 (ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 116).


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/66


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen (Neufassung)“

(COM(2021) 734 final — 2021/0375 (COD))

und „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Transparenz und das Targeting politischer Werbung“

(COM(2021) 731 final — 2021/0381 (COD))

(2022/C 275/11)

Berichterstatter:

Andris GOBIŅŠ

Mitberichterstatter:

Carlos Manuel TRINDADE

Befassung

Europäisches Parlament, 13.12.2021

Rat der Europäischen Union, 15.12.2021 und 21.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 114 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

10.2.2022

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

222/4/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Ziele und die Motivation des europäischen Wahlpakets. Er ist sich der großen Herausforderungen und Gefahren für die demokratischen Prozesse bewusst und schlägt vor, die Verordnungen ehrgeiziger zu gestalten und so bald wie möglich umzusetzen.

1.2.

Die Ermöglichung und Förderung einer bewussten politischen Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger sind ebenso entscheidend wie die Gewährleistung transparenter, zugänglicher und integerer politischer Tätigkeiten und einer klaren und aktiven Rolle der Zivilgesellschaft. In dieser Stellungnahme werden mehrere Änderungen der Verordnungen und eine Reihe einschlägiger zusätzlicher Maßnahmen vorgeschlagen.

1.3.

Der EWSA befürwortet, im Wahlpaket sämtliche Aspekte im Zusammenhang mit politischen Kampagnen zu berücksichtigen. Die Bekämpfung von Desinformation muss eine größere Rolle spielen, da diese zunehmend auf Wahlen und Aspekte der Transparenz einwirkt. Faktenprüfung und Medienkompetenz reichen weder aus, um der Flut polarisierender und irreführender Inhalte, denen die Bürger ausgesetzt sind, zu begegnen, noch um die Frage zu beantworten, warum manche Menschen sich überhaupt von solchen Inhalten angesprochen fühlen.

1.4.    In Bezug auf die Transparenz und das Targeting politischer Werbung unterbreitet der EWSA die folgenden konkreten Verbesserungsvorschläge (siehe Ziffer 3.1):

i.

Verwendung einer weit gefassten, aber klaren Definition des Begriffs „politischer Werbung“, die über offiziell vergütete Tätigkeiten hinausgeht, einschließlich der Einflussnahme durch „Bots“ und „Trolle“ und/oder manipulative Informationen;

ii.

Ausweitung des Anwendungsbereichs der Sanktionen im Falle von Verstößen;

iii.

Ausweitung der Rechtsgrundlage auf alle juristischen und natürlichen Personen;

iv.

Beschränkung der Einflussmöglichkeiten von Akteuren aus Drittstaaten;

v.

Bereitstellung unmittelbar sichtbarer Informationen (keine Links) zu Hauptaspekten der Transparenz;

vi.

Gewährleistung zugänglicher und transparenter Informationen;

vii.

Gewährleistung des Prinzips „gleiche Regeln für alle“;

viii.

Schaffung der Möglichkeit, sich nicht nur bei der betreffenden Online-Plattform zu beschweren, sondern auch unmittelbar bei den zuständigen nationalen Behörden;

ix.

uneingeschränkte Bereitstellung von Informationen für alle Bürger;

x.

Verbot gezielter politischer Werbung, die auf der allgegenwärtigen Nachverfolgung und der Verarbeitung von Daten über das On- oder Offline-Verhalten einer Person beruht;

xi.

Beschränkung oder Verhinderung von Verfahren zum Targeting und Amplifizieren im Rahmen politischer Werbung, in denen personenbezogene Daten verarbeitet werden, aufgrund der Risiken im Zusammenhang mit der eingeschränkten Einwilligungserteilung;

xii.

vollständiges Verbot von Targeting auf der Grundlage besonderer Kategorien sensibler personenbezogener Daten;

xiii.

Gewährleistung vollständiger Transparenz in Bezug auf Targeting-Verfahren, auch wenn sie in keinem unmittelbarem Zusammenhang mit einer bestimmten Kampagne stehen;

xiv.

Erwägung besonderer Rechtsvorschriften für Länder, in denen die Unabhängigkeit der öffentlichen Medien nicht angemessen gewährleistet ist.

1.5.    In Bezug auf das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen (Neufassung) unterbreitet der EWSA die folgenden spezifischen Vorschläge (siehe Ziffer 3.2):

i.

Stärkung der Standards für eine ausgewogene Vertretung der Geschlechter;

ii.

Bekämpfung von Diskriminierung und Förderung der Menschenrechte;

iii.

Beschränkung der Parteispenden aus Drittstaaten;

iv.

Festsetzung des allgemeinen Grenzwerts für Spenden von Bürgern auf 18 000 EUR pro Jahr;

v.

Regulierung externer Dienstleister;

vi.

Beschränkung der Beteiligung von EU-Parteien an Kampagnen für nationale Referenden;

vii.

Senkung des Grenzwerts für anonyme Spenden auf 1 000 EUR;

viii.

Erhaltung des Kofinanzierungssystems für europäische politische Parteien.

1.6.    In Bezug die Resilienz und die Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft in Wahlprozessen (siehe Ziffer 3.3):

i.

Gewährleistung eines wirklichen Mitspracherechts der Bürgerinnen und Bürger bei der Gestaltung der Zukunft der EU in Bezug auf Fragen, die über Wahlen hinausgehen bzw. die gesamte Legislaturperiode betreffen;

ii.

Organisation einer jährlichen Veranstaltung zum Austausch bewährter Verfahren und Erstellung eines Jahresplans zur Stärkung von Demokratie, Teilhabe und zivilgesellschaftlichem Dialog sowie zur Umsetzung von Artikel 11 EUV;

iii.

Schaffung eines Finanzierungsinstruments für die Durchführung unparteiischer und inklusiver Kampagnen zur Erhöhung der Wahlbeteiligung;

iv.

Schaffung eines Finanzierungsprogramms für Journalisten, Forscher, Faktenprüfer und Beobachtungsorganisationen;

v.

Unterstützung der Zusammenarbeit von Fachleuten und der Arbeit in den Bereichen Wahlkampffinanzierung, Online-Forensik, Bekämpfung von Desinformation und Cybersicherheit;

vi.

Beseitigung der verbleibenden Hindernisse und Gewährleistung einer inklusiven Teilnahme an Wahlen;

vii.

Unterstützung mobiler Bürger;

viii.

Gewährleistung barrierefreier Wahlen für EU-Bürger mit Behinderungen;

ix.

Ermutigung von Einzelpersonen zur Mitgliedschaft in einer europäischen Partei;

x.

Gewährleistung des Rechts der Bürger zu wissen, welche politischen Parteien auf nationaler Ebene Verbindungen zu europäischen Parteien haben oder planen;

xi.

Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Bedingungen für die Wahl zum Europäischen Parlament (Wahlalter, Wahltag, Anforderungen für Wahlbezirke, Kandidaten, politische Parteien und ihre Finanzierung) und Förderung der Bedeutung der Bildung.

2.   Hintergrund und allgemeine Bemerkungen

2.1.    Hintergrund der Stellungnahme und des betreffenden Legislativvorschlags

2.1.1.

Das Paket „Stärkung der Demokratie und Integrität der Wahlen“ wurde von der Europäischen Kommission am 25. November 2021 vorgelegt. Es war zuvor in den politischen Leitlinien der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und in dem im Dezember 2020 angenommenen Europäischen Aktionsplan für Demokratie angekündigt worden. Das Paket hat folgende Bestandteile, wobei der EWSA nur um Stellungnahme zu den Punkten i und ii ersucht wurde:

i.

die Überarbeitung der Verordnung über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen;

ii.

ein Vorschlag für eine Verordnung über die Transparenz und das Targeting politischer Werbung;

iii.

die Überarbeitung von zwei Richtlinien über das Wahlrecht von „mobilen EU-Bürgern“ (EU-Bürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen);

iv.

ein Vorschlag für einen gemeinsamen Mechanismus zur Stärkung der Resilienz bei Wahlen.

2.2.    Allgemeine Bemerkungen

2.2.1.

Der EWSA hebt folgende Aspekte hervor:

i.

Der EWSA begrüßt die Aktualisierungen des Pakets zu Wahlen von 2018 (1).

ii.

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung von Maßnahmen auf EU-Ebene zur Förderung der demokratischen Debatte.

iii.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass „den Bürgerinnen und Bürgern […] klar sein [muss], dass sie politische Inhalte erhalten und von wem sie stammen. Es sollte angemessene Transparenz geben, um eine öffentliche Kontrolle und Rechenschaftspflicht der einschlägigen Akteure zu ermöglichen und die Inklusivität und Vielfalt unserer Gesellschaften widerzuspiegeln.“ (2)

iv.

Insbesondere in Bezug auf Fragen der Ermöglichung der Bürgerbeteiligung und der Inklusivität und Vielfalt unserer Gesellschaften bedarf es mehr und besserer Vorschläge und eines gemeinsamen Handelns der EU. Mehrere einschlägige Fragen werden in der EWSA-Stellungnahme zum Aktionsplan für Demokratie behandelt. (3)

v.

Der EWSA hebt die Gefahren der Desinformation für die Demokratie in der EU hervor und betont, dass eine starke und entschlossene Reaktion erforderlich ist, um zu verhindern, dass die Objektivität der Wahlen und die Bürgerbeteiligung untergraben werden.

vi.

Die digitale Revolution hat die demokratische Politik verändert. Online-Tools, die ein breites Spektrum abdecken, sind in politischen Kampagnen von zentraler Bedeutung. Einige dieser Kampagnen zielen darauf ab, Misstrauen und Frustration zu schüren sowie das Denken und Verstehen zu manipulieren. Der EWSA stimmt mit der Kommission darin überein, dass sich die Digitalisierung politischer Kampagnen trotz beispielloser Möglichkeiten, die Menschen zu erreichen, negativ auf die Demokratie auswirken kann. Laut einer Eurobarometer-Umfrage war die Hälfte der Europäerinnen und Europäer im Internet Desinformation und polarisierenden Inhalten ausgesetzt. Darüber hinaus hatte es ein Drittel der Befragten mit Inhalten zu tun, die sie nicht eindeutig als politische Werbung identifizieren konnten. (4)

vii.

Der EWSA unterstützt den Standpunkt, dass die EU ihre Rolle bei der Stärkung der Demokratie auf globaler Ebene wahrnehmen sollte, d. h. durch ihr auswärtiges Handeln, so wie in COM(2021) 730 final festgestellt wird.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.    Vorgeschlagene Änderungen am Vorschlag für eine Verordnung über die Transparenz und das Targeting politischer Werbung

3.1.1.

Der EWSA befürwortet eine weit gefasste, aber klare Definition des Begriffs „politische Werbung“ und empfiehlt, auch entsprechende Maßnahmen in Bezug auf verschiedene Mittel im Rahmen von Kampagnen/bezahlter Einflussnahme auf politische Prozesse, wie z. B. die Einflussnahme durch „Bots“ und „Trolle“ und/oder manipulative Informationen, vorzusehen. Es können Probleme entstehen, wenn eine unklare Definition zu einem übermäßigen Spielraum oder zu Unterschieden bei der Umsetzung auf den verschiedenen Plattformen führt.

3.1.2.

Der EWSA hält die derzeitige Liste möglicher Sanktionen für sehr begrenzt und schlägt vor, in Artikel 15 Absatz 5 einen neuen Buchstaben d) mit folgendem Wortlaut einzufügen: „Maßnahmen mit dem Ziel der Anwendung strafrechtlicher Sanktionen, z. B. bei schweren Betrugsfällen, zu ergreifen“. Zudem fordert der EWSA, gemeinsame europäische Kriterien für Sanktionen auf nationaler Ebene festzulegen.

3.1.3.

Derzeit ist die gewählte Rechtsgrundlage zu begrenzt, denn die Verordnung betrifft in erster Linie die von Wirtschaftsakteuren erbrachten sowie bezahlten Dienstleistungen. Die Rechtsgrundlage sollte erweitert werden, und die Vorschriften über politische Werbung müssen für alle juristischen und natürlichen Personen gelten, die de facto politische Werbung erstellen und veröffentlichen (die Vorschriften über natürliche Personen sollten präzisiert werden, damit sie nicht für Personen gelten, die ihre politischen Ansichten rein privat äußern). Die negativen Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft und ihr Engagement und ihre Mitwirkung bei der Entscheidungsfindung sollten durch einen eingehenden Dialog mit den relevanten Organisationen angegangen werden.

3.1.4.

In Erwägungsgrund 14 heißt es, dass Werbung, „die in Gänze von Diensteanbietern außerhalb der Union ausgearbeitet, platziert oder veröffentlicht wird, sich jedoch an Einzelpersonen in der Union richtet“ in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt und daher grundsätzlich zulässig ist. Die Gefahr einer ausländischen Einflussnahme auf Wahlen ist jedoch eine übermäßige Bedrohung der Demokratie in der EU. Es müssen besondere Bestimmungen ausgearbeitet werden, um zu verhindern, dass politische Werbung oder andere Kampagnen, die direkt oder indirekt von Einrichtungen außerhalb der EU finanziert werden, in der EU Verbreitung finden.

3.1.5.

Aus Gründen der Transparenz sollte in Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe c) des Verordnungsentwurfs der Passus „oder einen klaren Hinweis darauf, wo sie leicht abgerufen werden kann“ gestrichen werden und folgendermaßen lauten: „eine Transparenzbekanntmachung, die es ermöglicht, den breiteren Kontext der politischen Anzeige und ihre Ziele zu verstehen“. Erwägungsgrund 40 sollte entsprechend geändert werden.

3.1.6.

Aus Gründen der Transparenz sollte in Artikel 7 des Verordnungsentwurfs auch die Veröffentlichung des für die Werbung und die damit verbundene Kampagne aufgewendeten Betrags vorgeschrieben werden. Bestehende bewährte Verfahren der Mitgliedstaaten, die Transparenz bei den für alle politischen Kräfte gleichermaßen geltenden Preisen für Wahlwerbung und -dienstleistungen vorschreiben, sollten unterstützt und in die Verordnung aufgenommen werden. Es sollte ein diesbezügliches Überwachungssystem eingerichtet werden.

3.1.7.

Das Recht der Bürger auf transparente Informationen über politische Werbung sollte Vorrang haben vor dem Verwaltungsaufwand, der sich aus den Berichtspflichten für die Dienstleister ergibt. Dementsprechend muss Artikel 8 des Verordnungsentwurfs („Regelmäßige Berichterstattung über politische Werbedienstleistungen“) für alle Herausgeber von Werbung gelten, einschließlich derjenigen, die als Kleinst-, kleine und mittlere Unternehmen eingestuft sind. Zu diesem Zweck sollte Artikel 8 Absatz 2 („Absatz 1 gilt nicht für Unternehmen, die unter Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 2013/34/EU fallen“) gestrichen werden.

3.1.8.

Artikel 9 des Verordnungsentwurfs („Hinweis auf möglicherweise unzulässige politische Anzeigen“) sollte geändert werden. Die Weiterbehandlung der Beschwerden von Einzelpersonen gegen eine bestimmte Anzeige, die nicht der Verordnung entspricht, darf nicht den Herausgebern von Werbung überlassen bleiben. Vielmehr muss es auch möglich sein, unmittelbar bei den zuständigen nationalen Behörden Beschwerde einzureichen. Andernfalls kann dies zu einem Interessenkonflikt führen, wenn ein Herausgeber eine bestimmte Werbekampagne aus Furcht vor Einnahmeverlusten nicht unterbrechen möchte.

3.1.9.

Informationen über politische Werbung müssen allen interessierten Stellen kostenlos zur Verfügung stehen. Der EWSA ist deshalb der Ansicht, dass eine Eingrenzung der Kategorien von Personen, die Informationen von Anbietern politischer Werbedienstleistungen anfordern können — wie in Artikel 11 Absatz 2 des Verordnungsentwurfs dargelegt — nicht gerechtfertigt ist. Darüber hinaus sollten die Absätze 4 bis 7 dieses Artikels gestrichen werden. Die entsprechenden Informationen sollten leicht zugänglich und nutzerfreundlich sein.

3.1.10.

Der EWSA empfiehlt nachdrücklich das Verbot gezielter politischer Werbung, die auf der allgegenwärtigen Nachverfolgung (pervasive tracking) und der Verarbeitung von Daten über das On- oder Offline-Verhalten einer Person beruht. Es sei daran erinnert, dass personenbezogene Daten, die an sich nicht sensibel sind, in Verbindung mit anderen nicht personenbezogenen bzw. personenbezogenen nicht sensiblen Daten indirekt die gleichen vertraulichen Einblicke ermöglichen, vor denen die Kommission zu schützen versucht. Zu dieser Frage sollte ein eigener Artikel in die Verordnung aufgenommen werden.

3.1.11.

Der Verordnungsentwurf erlaubt die Nutzung von Verfahren zum Targeting und Amplifizieren im Rahmen politischer Werbung, in denen sensible personenbezogene Daten „auf der Grundlage der ausdrücklichen Einwilligung der betroffenen Person oder auf der Grundlage geeigneter Garantien durch eine politisch, weltanschaulich oder religiös oder gewerkschaftlich ausgerichtete Stiftung, Vereinigung oder sonstige Organisation ohne Gewinnerzielungsabsicht im Rahmen ihrer rechtmäßigen Tätigkeiten“ verarbeitet werden. Der Begriff „ausdrückliche Einwilligung“ erscheint in diesem Zusammenhang jedoch insofern äußerst problematisch, als es keine Möglichkeit gibt, mit einem hohen Maß an Zuverlässigkeit sicherzustellen oder zu verifizieren, dass Personen, die Ziel von Verfahren zum Targeting und Amplifizieren sind, sich tatsächlich die Zeit nehmen, um sich mit diesen Techniken vertraut zu machen, das damit verbundene Risiko gänzlich verstehen und die Einwilligung wirklich in Kenntnis der Sachlage erteilen. Angesichts des hohen Risikos für die Demokratie in der EU durch den Einsatz von Verfahren zum Targeting und Amplifizieren auf der Grundlage sensibler Daten im Rahmen politischer Werbung sollten eben diese Verfahren vollständig verboten werden.

3.1.12.

Was die Transparenz der Targeting-Verfahren angeht, so sollten auch die Informationen, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit einer bestimmten Kampagne stehen, klar und deutlich sein. Die Informationen darüber, warum jemand eine bestimmte Werbung sieht, müssen sichtbar und nutzerfreundlich sein, wobei die Möglichkeit bestehen sollte, die potenzielle Einwilligung zu dieser Art der gezielten Werbung schnell zu widerrufen.

3.1.13.

Für Länder, in denen die Unabhängigkeit der öffentlichen Medien nicht angemessen gewährleistet ist, sollten besondere Vorschriften in Betracht gezogen werden. Darüber hinaus sollten die Schlupflöcher und Probleme angegangen werden, die sich aus der fehlenden Regulierung themenbezogener Werbung ergeben.

3.2.    Vorgeschlagene Änderungen am Vorschlag für eine Verordnung über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen (Neufassung)

3.2.1.

Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe j des Verordnungsvorschlags („ihre internen Vorschriften über die ausgewogene Vertretung der Geschlechter“) muss gestärkt werden, indem Mindeststandards für eine ausgewogene Vertretung der Geschlechter, z. B. entsprechende Quoten in Bezug auf die Zusammensetzung aller Mitglieder und Führungspositionen, und die Pflicht zu ihrer Einhaltung vorgesehen werden.

3.2.2.

Artikel 4 Absatz 2 sollte geändert werden und vorsehen, dass die Satzung einer europäischen politischen Partei auch Bestimmungen über den Ansatz der Partei zur Bekämpfung von Diskriminierung und zur Förderung der Menschenrechte im Einklang mit den EU-Normen enthält.

3.2.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass potenzielle Zuwendungen oder Spenden aus Drittstaaten, die politischen Parteien oder Stiftungen in der EU zugutekommen, ein übermäßiges Risiko für die Unabhängigkeit der Empfänger und damit auch für das demokratische System bergen können. Zu diesem Zweck sollte Artikel 23 Absatz 9 und Absatz 10 des Verordnungsentwurfs geändert werden, um unbedingt sicherzustellen, dass nur Zuwendungen von politischen Parteien aus Mitgliedsländern des Europarates zulässig sind, in denen die gemeinsamen Werte der EU keinen Beschränkungen unterliegen und frei propagiert werden können. Eine weitere Änderung zielt darauf ab, die zulässigen Beträge der Zuwendungen und Spenden erheblich zu senken. Dies sollte auch mögliche Darlehen und andere finanzielle Verpflichtungen einschließen.

3.2.4.

Aus Gründen der Transparenz sollte in Artikel 23 Absatz 11 folgender Wortlaut gestrichen werden: „Der Grenzwert gemäß Unterabsatz 1 gilt nicht, wenn das betreffende Mitglied außerdem ein Mitglied des Europäischen Parlaments, eines nationalen Parlaments oder eines regionalen Parlaments bzw. einer regionalen Versammlung ist.“ Der allgemeine Grenzwert für Spenden von Bürgern würde somit 18 000 EUR pro Jahr und Mitglied betragen.

3.2.5.

Im Einklang mit den vorstehenden Ausführungen sollten die Vorschriften über politische Werbung vollständig für alle Fälle gelten, in denen europäische politische Parteien politische Werbung betreiben, und nicht nur in den Fällen, in denen diese auf externe Dienstleister zurückgreifen. Artikel 5 des Verordnungsentwurfs sollte entsprechend geändert werden.

3.2.6.

Die Bestimmungen von Artikel 24 über die mögliche Finanzierung nationaler Kampagnen für Referenden durch europäische politische Parteien und europäische politische Stiftungen können problematische Situationen schaffen, weil sie durch Populisten oder radikale Kräfte missbraucht werden oder zur Behauptung einer „ausländischen Einmischung“ führen können. Diese Risiken sind in kleineren EU-Mitgliedstaaten besonders hoch, in denen wirkungsvolle Kampagnen mit relativ geringen Finanzmitteln und in kurzen Zeiträumen durchgeführt werden können. Andererseits nehmen Verfahren bezüglich der Rechtmäßigkeit der Finanzierung durch europäische politische Parteien oder Stiftungen möglicherweise viel Zeit in Anspruch. Dieser Vorschlag sollte nur im Einklang mit den einzelstaatlichen Bestimmungen über Referenden auf nationaler Ebene umgesetzt werden, wodurch die genannten Risiken gemindert werden. Zweckmäßig erscheinen in jedem Fall öffentliche Debatten mit politischen Entscheidungsträgern aus anderen EU-Mitgliedstaaten.

3.2.7.

Aus Gründen der Transparenz sollte Artikel 36 geändert werden und strengere Vorschriften für die Veröffentlichung von Spenden natürlicher Personen umfassen. Der Höchstbetrag jeder Spende, für die der Name des Spenders nicht veröffentlicht werden muss, sollte auf 1 000 EUR begrenzt werden. Dieser Betrag würde in einem angemesseneren Verhältnis zu den relativ niedrigen Einkommensniveaus in bestimmten EU-Mitgliedstaaten stehen.

3.2.8.

Die Kommission schlägt vor, Artikel 20 Absatz 4 zu ändern, um den Kofinanzierungssatz für europäische politische Parteien von 10 auf 5 % und im Jahr der Wahl zum Europäischen Parlament auf 0 % zu senken. Der EWSA unterstützt diesen Vorschlag nicht, denn selbst ein geringer Kofinanzierungssatz veranschaulicht das Engagement der Parteien für die von ihnen befürworteten Maßnahmen. Zudem weist der EWSA darauf hin, dass alle Geldflüsse zwischen nationalen und europäischen Parteien transparent sein müssen.

3.3.    Resilienz und besondere Aspekte hinsichtlich der Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft in Wahlprozessen

3.3.1.

Da populistische und nationalistische Parteien und Netze in Europa mit interner und externer Hilfe an Boden gewinnen, ist die Förderung der Bürgerbeteiligung am europäischen demokratischen Prozess nach Ansicht des EWSA — wie in seiner Stellungnahme zum Aktionsplan für Demokratie ausgeführt — wichtiger denn je. Dies sollte im Rahmen der Regulierung der Wahlprozesse thematisiert werden. Die Bürgerinnen und Bürger müssen ein wirkliches Mitspracherecht bei der Gestaltung der Zukunft der EU in Bezug auf Wahlen (wie beispielsweise nachstehend dargelegt) und auf Fragen, die über Wahlen hinausgehen bzw. die gesamte Legislaturperiode betreffen, erhalten (siehe EWSA-Stellungnahme zum Aktionsplan für Demokratie sowie Fahrplan für die Umsetzung von Artikel 11 EUV und der dazugehörige Aktionsplan (5)).

3.3.2.

Der EWSA bekräftigt seinen Vorschlag, alljährlich eine Veranstaltung durchzuführen. Dabei sollten die höchstrangigen Vertreter der EU-Institutionen und Vertreter der Organisationen/Verbände der Zivilgesellschaft sowie Sozialpartner, Vertreter der sektoralen und der lokalen, regionalen, nationalen und makroregionalen Dialoge (transnationale Dialoge und Dialoge im Rahmen der Nachbarschaftspolitik) zusammenkommen, um bewährte Verfahren auszutauschen und einen Jahresplan zur Stärkung von Demokratie, Teilhabe und zivilgesellschaftlichem Dialog und der Umsetzung von Artikel 11 EUV auszuarbeiten. Diese Veranstaltung könnte auch Synergien mit dem Paket zu Wahlen schaffen. Die Kommission und der EWSA sollten in diesem Prozess eine führende Rolle als Organisatoren spielen.

3.3.3.

Die Europäische Kommission muss ein spezielles Finanzierungsinstrument für die Durchführung unparteiischer und inklusiver Kampagnen der Zivilgesellschaft und unabhängiger Massenmedien vorsehen, die darauf abzielen, die Wahlbeteiligung zu erhöhen — vor allem in der großen Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten, in denen keine Wahlpflicht herrscht. Solche Kampagnen sollten insbesondere darauf abzielen, benachteiligte Gruppen wie Minderheiten, sozial oder wirtschaftlich schwache Personen usw. einzubinden.

3.3.4.

Für alle Aspekte des Pakets „Stärkung der Demokratie und Integrität der Wahlen“ sollte ein Finanzierungsprogramm für Journalisten, Forscher, Faktenprüfer und Beobachtungsorganisationen sowie für Kontrollen und Maßnahmen zur Bekämpfung von Desinformation aufgelegt werden. Es bedarf angemessener Finanzmittel, um die digitalen Kompetenzen der Bürger zu entwickeln und zu verbessern und auf Populismus/Radikalismus beruhenden Abkapselungstendenzen entgegenzuwirken, einschließlich derjenigen, die durch Desinformation und andere von den politischen Akteuren des betreffenden Mitgliedstaats verwendeten Verfahren ausgelöst werden.

3.3.5.

Mithilfe des geplanten gemeinsamen Mechanismus zur Stärkung der Resilienz bei Wahlen sollten die Finanzierung, Unterstützung und Bereitstellung von Instrumenten für die Zusammenarbeit von Fachleuten und die Arbeiten im Bereich der Wahlkampffinanzierung vorgesehen werden. Weitere zentrale Aspekte sind die Online-Forensik, die Bekämpfung von Desinformation und die Cybersicherheit von Wahlen.

3.3.6.

Es sollte mehr getan werden, um die verbleibenden Hindernisse zu beseitigen und eine inklusive Teilnahme an Wahlen sicherzustellen. Insbesondere sind größere Anstrengungen erforderlich, um die demokratische Teilhabe von Frauen, Personen mit Behinderungen, jüngeren Menschen und anderen Gruppen zu verbessern. Hindernisse für das Wahlrecht mobiler EU-Bürger in bestimmten Mitgliedstaaten sollten beseitigt werden. Die Stimmabgabe im Wohnsitzland oder, soweit nach nationalem Recht und EU-Recht möglich, im Herkunftsland sollte erleichtert werden und die Wahlbeteiligung mobiler EU-Bürger steigern. Es darf nicht vergessen werden, dass etwa 13,5 Millionen EU-Bürger nicht in ihrem Herkunftsmitgliedstaat leben.

3.3.7.

Der EWSA stellt fest, dass die Wahlregistrierung für Personen, die in einen anderen EU-Mitgliedstaat umgezogen sind, vereinfacht und vereinheitlicht werden sollte, z. B. durch eine gemeinsame/geteilte und (ggf.) in allen EU-Amtssprachen zur Verfügung stehende Wahlregistierungsplattform. Das Wahlrecht für EU-Bürger sollte auch auf regionaler Ebene gewährt werden; und es sollte ein Helpdesk für die grenzüberschreitende Wahlteilnahme eingerichtet werden.

3.3.8.

Der EWSA betont, dass Millionen von EU-Bürgerinnen und -Bürgern immer noch ein echtes Wahlrecht verwehrt wird. Im Informationsbericht des EWSA zum Thema „Die praktische Ausübung des Wahlrechts durch Menschen mit Behinderungen bei der Europawahl“ werden die zahlreichen rechtlichen oder technischen Hindernisse aufgezeigt, mit denen EU-Bürger mit Behinderungen in den einzelnen Mitgliedstaaten konfrontiert sind und die zur Folge haben, dass sie nicht wählen können, auch wenn sie dies tun möchten. Der EWSA bekräftigt die in seiner Stellungnahme vom 2. Dezember 2020 zum Thema „Die notwendige Gewährleistung der praktischen Ausübung des Wahlrechts durch Menschen mit Behinderungen bei der Wahl zum Europäischen Parlament“ geäußerte Forderung, dass dringend rechtliche Änderungen vorgenommen werden müssen, die gewährleisten, dass alle EU-Bürger ihr Stimmrecht in der Wahl zum Europäischen Parlament 2024 wirklich ausüben können.

3.3.9.

Einzelpersonen sollten zur Mitgliedschaft in einer europäischen Partei angeregt werden, weil sie so die Debatten auf EU-Ebene unmittelbar beeinflussen und bereichern können.

3.3.10.

Die Bürger sollten eindeutig nachvollziehen können, welche politischen Parteien auf nationaler Ebene Verbindungen zu europäischen Parteien haben oder planen. Dies ist vor Wahlen von besonderer Bedeutung.

3.3.11.

Der EWSA unterstützt mehrere Vorschläge des zweiten Bürgerforums der Konferenz zur Zukunft Europas, das sich mit den Themen Demokratie und Werte in Europa, Rechte, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit befasst (6), so etwa den Vorschlag, die Bedingungen für die Wahlen zum Europäischen Parlament (Wahlalter, Wahltag, Anforderungen für Wahlbezirke, Kandidaten, politische Parteien und ihre Finanzierung) zu harmonisieren und den Schwerpunkt stärker auf Bildung und Kompetenzen (z. B. Datenschutz, Demokratie sowie Ermittlung und Bekämpfung von Populismus) zu legen.

Brüssel, den 23. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  COM(2021) 730 final, Schutz der Integrität von Wahlen und Förderung der demokratischen Teilhabe.

(2)  COM(2021) 730 final, Schutz der Integrität von Wahlen und Förderung der demokratischen Teilhabe.

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Aktionsplan für Demokratie.

(4)  Special Eurobarometer 507: Democracy in the EU.

(5)  Aktionsplan zur Umsetzung von Artikel 11.

(6)  Forum 2 — Europäische Bürgerforen — Konferenz zur Zukunft Europas.


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/73


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Neues Europäisches Bauhaus: attraktiv — nachhaltig — gemeinsam

(COM(2021) 573 final)

(2022/C 275/12)

Berichterstatter:

Pierre Jean COULON

Mitberichterstatter:

Rudolf KOLBE

Befassung

Europäische Kommission, 28.10.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

2.2.2022

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

202/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die von der Europäischen Kommission angenommene Mitteilung, in der das Konzept des „Neuen Europäischen Bauhauses“ (im Folgenden: NEB) ins Leben gerufen wird, um insbesondere in Reaktion auf die Klimakrise für alle zugängliche und erschwingliche „attraktive, nachhaltige und inklusive Orte und Lebensweisen zu schaffen“.

1.2.

Der EWSA unterstützt uneingeschränkt den ganzheitlichen und interdisziplinären Ansatz der Kommission, der darin besteht, eine grünere und gerechtere gemeinsame Zukunft für Europa aufzubauen und diese „neue Lebensweise“ zu fördern, die „Nachhaltigkeit mit Stil“ verbindet. Diese beschleunigt gleichzeitig den ökologischen Wandel in vielen Bereichen des täglichen Lebens der Europäerinnen und Europäer — ihrer Stadt und Region, ihres Wohn- und Arbeitsplatzes, ihrer Mobilität und ihres Umfelds. Es handelt sich um ein partizipatives Projekt im Geiste des 1919 geschaffenen historischen Bauhauses und der daraus entstandenen weltweiten kulturellen Bewegung.

1.3.

Der EWSA begrüßt insbesondere die kulturelle Dimension des NEB als „Projekt der Hoffnung und der Perspektiven“ und seine kreative Dimension als Schlüsselelement des europäischen Grünen Deals und der damit verbundenen Gebäuderenovierungswelle, die eine entscheidende Voraussetzung für den ökologischen Wandel ist. Mit dieser Kulturbewegung soll allen Bürgerinnen und Bürgern an ihrem Wohnort und am Arbeitsplatz sowie in öffentlichen Gebäuden und Wohngebäuden Zugang zu kreislauffähigen Waren mit geringerer CO2-Intensität gegeben werden, und zwar durch konkrete Erfahrungen, die möglichst bürgernah in städtischen und ländlichen Gebieten und in den jeweiligen Wohnvierteln gefördert werden sollten.

1.4.

Der EWSA schließt sich der Auffassung der Kommission an, dass innovativen, naturbasierten, nachhaltig und in CO2-armen Verfahren hergestellten Materialien größte Bedeutung zukommt. Ebenso stimmt er den „drei zentralen, untrennbaren Werten“ Nachhaltigkeit, Ästhetik und Inklusion im Sinne der Gleichheit aller, der Zugänglichkeit und der Erschwinglichkeit zu (1).

1.5.

Der EWSA begrüßt die innovative Vorgehensweise der Kommission mit einer Vorphase der „gemeinsamen Gestaltung“, in der eine „Gemeinschaft“ von Einzelpersonen und als „offizielle Partner“ agierenden Organisationen, Vertretern der Zivilgesellschaft und Interessenträgern mit sehr unterschiedlichem Hintergrund und aus verschiedensten Bereichen mobilisiert wurden. Es handelt sich um eine völlig neuartige partizipative Phase der gemeinsamen Gestaltung, die es ermöglicht hat, den Entwurf für das NEB-Konzept und Vorschläge für die nächsten Schritte seiner Umsetzung gemeinsam festzulegen. Der EWSA begrüßt insbesondere die Absicht der Kommission, diesen partizipativen Ansatz mit Methoden wie dem Labor des Neuen Europäischen Bauhauses (NEB-Labor), in dem politische Maßnahmen vorbereitet werden sollen, zu vertiefen. Nach Auffassung des EWSA muss der Ansatz auch über die derzeitige Mandatsperiode der Organe hinaus Bestand haben.

1.6.

Der EWSA begrüßt vor allem, dass das NEB bereits mit der Einleitung der Phase der gemeinsamen Gestaltung eine globale Dimension erlangt hat und im April 2021 erfolgreiche weltweite Gespräche geführt wurden, an denen rund 8 000 Personen online teilnahmen. Zudem ist er über den Erfolg der erstmaligen Verleihung des NEB-Preises und der Verbreitung des einschlägigen Newsletters erfreut.

1.7.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Kommission, die bestehenden Initiativen der Europäischen Union mit einer Reihe neuer Aktionen und Finanzierungsformen für das NEB zu verknüpfen, um politische Maßnahmen und Instrumente zum „Aufbau eines besseren Lebensalltags“ möglichst nah vor Ort — im Wohn- und Lebensraum der europäischen Bürgerinnen und Bürger — zu erproben. Er betont, dass es für einen breiten Zugang zu Finanzmitteln wichtig sein wird, auch leicht zugängliche Mikrofinanzierungsmöglichkeiten wie z. B. Crowdfunding und besondere Unterstützungsmaßnahmen denjenigen zu bieten, die nicht selbst Finanzmittel beantragen können. Dies betrifft vor allem Kleinunternehmen, Handwerker und Vereinigungen, die auch an dem Verfahren beteiligt werden müssen.

1.8.

Der EWSA will sich aktiv an dem von der Kommission geförderten partizipativen Ansatz und an der Schaffung einer NEB-Bewegung beteiligen, um den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern sowie der Zivilgesellschaft aufrechtzuerhalten und so ihre Alltagsprobleme zu lösen und ihre Lebensqualität zu verbessern. Der EWSA wird sich an diesem partizipativen Projekt beteiligen. Dafür wird er im Rahmen des von der Kommission vorgeschlagenen jährlichen Festivals eine Konferenz über das NEB und die Zivilgesellschaft veranstalten und eine Plattform der Zivilgesellschaft mit Vorschlägen und Unterstützung einrichten.

1.9.

Nach Ansicht des EWSA sollte das Konzept des NEB vor allem dazu dienen, den Bürgerinnen und Bürgern sowie den städtischen und ländlichen Gebieten mittels einer angemessenen Kommunikation, lokaler Initiativen und Maßnahmen, die es umzusetzen gilt, und einer Erprobung im alltäglichen Lebens-, Wohn- und Arbeitsumfeld die EU näher zu bringen.

1.10.

Der EWSA unterstützt die drei Hauptgrundsätze, die sich aus dem Prozess der gemeinsamen Gestaltung ergeben haben: Kombination der globalen und lokalen Dimension, Partizipation und Transdisziplinarität. Sie setzen bei den in den Stadtvierteln, Dörfern und Städten durchgeführten Projekten und Initiativen einen ortsbezogenen Ansatz voraus, um die Städte und ihre Peripherie zu vernetzen und das Stadtkonzept unter globalen und territorialen Gesichtspunkten zu überarbeiten, wobei zugleich der weltweiten Dimension des Klimawandels und des ökologischen Wandels Rechnung getragen werden muss.

1.11.

Der EWSA fordert, für eine echte Synergie zwischen der NEB-Bewegung und den künftigen Entwicklungen bei den Rechtsvorschriften zur Umsetzung des europäischen Grünen Deals durch „günstige Rahmenbedingungen“ zu sorgen, die allen diesbezüglichen Legislativvorschlägen und der Umsetzung vorausgehen würden.

1.12.

Der EWSA betont, dass die Suche nach nachhaltigen, inklusiven und ästhetischen Lösungen für die bauliche Umwelt in hohem Maße davon abhängen wird, ob ein qualitätsorientierter Rechtsrahmen für die Vergabe öffentlicher Aufträge garantiert wird, und fordert die Kommission auf, dies bei der nächsten Überarbeitung der Vergaberichtlinien zu berücksichtigen. Mit Blick auf die öffentliche Auftragsvergabe und die staatlichen Beihilfen muss ein NEB-Gütesiegel festgelegt, eingeführt und umgesetzt werden.

1.13.

Der EWSA unterstreicht, dass das NEB aktiv zur Förderung langfristiger Investitionen in die lokale und soziale Infrastruktur beitragen muss, insbesondere im Rahmen des neu gestalteten Europäischen Semesters und der wirksamen Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte.

1.14.

Der EWSA schlägt vor, im Rahmen des NEB auch die in den Regionen angebotenen interdisziplinären Ausbildungsmaßnahmen für neue Berufe zu fördern und zu finanzieren, womit das Konzept der angemessenen Arbeit in die Praxis umgesetzt werden könnte.

2.   Zusammenfassung

2.1.

Das NEB ist Ausdruck des Bestrebens der EU, attraktive, nachhaltige und inklusive Orte, Produkte und Lebensformen zu schaffen. Es dient der Förderung einer neuen Lebensweise, in der sich Nachhaltigkeit mit Lebensstil verbindet, um so den ökologischen Wandel nicht nur in verschiedenen Branchen unserer Wirtschaft (etwa Baugewerbe, Möbel und Mode), sondern auch in unseren Gesellschaften oder auch in anderen Bereichen unseres täglichen Lebens zu beschleunigen. Alle sollen Zugang zu kreislauffähigen Waren mit geringerer CO2-Intensität haben, die die Regeneration der Natur und den Schutz der biologischen Vielfalt unterstützen.

2.1.1.

Das NEB ist ein Projekt der Hoffnung und der Perspektiven. Es verleiht dem europäischen Grünen Deal eine kulturelle und kreative Dimension, welche für mehr Nachhaltigkeit bei Innovationen und Technologien sowie allgemein in der Wirtschaft sorgen wird. Es macht die Vorteile des ökologischen Wandels durch konkrete Erfahrungen auf lokaler Ebene sichtbar und sorgt für Verbesserungen in unserem Alltag.

2.1.2.

Zu seiner Durchführung kombiniert die Kommission einschlägige EU-Initiativen und schlägt eine Reihe neuer Maßnahmen und Finanzierungsmöglichkeiten vor. Diese decken beispielsweise Folgendes ab:

Schaffung des NEB-Labors, in dem die NEB-Gemeinschaft aufgebaut und politische Maßnahmen vorbereitet werden sollen;

Anschubfinanzierung für transformative NEB-Projekte;

Finanzierung für Projekte des sozialen Wohnungsbaus im Einklang mit den Werten des NEB;

Neuausrichtung der Gebäudestrategie der Kommission;

gemeinsame Ausarbeitung von Wegen zum ökologischen Übergang im Bau- und im Textilgewerbe;

Aufrufe an Start-ups und Bürgerinitiativen;

ein jährliches Festival und einen Preis des Neuen Europäischen Bauhauses;

eTwinning und DiscoverEU 2022 zum Thema NEB.

2.1.3.

Das NEB wird einen Raum schaffen, in dem politische, finanzielle und sonstige Instrumente zur Gestaltung und zum Aufbau eines besseren Lebensalltags für alle Generationen erforscht und erprobt werden können.

2.2.   Gemeinsame Gestaltung als Grundlage: ein Projekt des Wandels von allen für alle

2.2.1.

In den Prozess der gemeinsamen Gestaltung wurden interessierte Personen, Organisationen, politische Einrichtungen und Unternehmen einbezogen, um Veranstaltungen, Gespräche und Workshops zu organisieren. Der erste NEB-Preis wurde im Rahmen der Phase der gemeinsamen Gestaltung ausgerufen, um inspirierende Beispiele und Ideen junger Talente eine Bühne zu bieten.

2.3.   Gestalt des Neuen Europäischen Bauhauses

2.3.1.

Von der historischen Bewegung zum NEB — drei zentrale Werte:

Nachhaltigkeit, von Klimazielen bis hin zu Kreislaufwirtschaft, Schadstofffreiheit und Artenvielfalt;

Ästhetik, Qualität von Erfahrung und Stil, über Funktionalität hinaus;

Inklusion, Aufwertung der Vielfalt, Gleichheit aller, Zugänglichkeit und Erschwinglichkeit.

2.3.2.

Das NEB sollte von drei Hauptgrundsätzen, die sich aus dem Prozess der gemeinsamen Gestaltung ergaben und die übernommen wurden, geleitet werden:

ein Mehrebenenansatz: von der globalen bis zur lokalen Ebene;

ein partizipativer Ansatz;

ein transdisziplinärer Ansatz.

2.3.3.

Thematische Schwerpunkte des Wandels:

Rückbesinnung auf die Natur;

Wiedererlangung des Zugehörigkeitsgefühls;

Vorrang für Orte und Menschen, die Unterstützung am stärksten benötigen;

das Erfordernis eines langfristigen Lebenszyklusdenkens in den industriellen Ökosystemen.

2.4.   Realisierung des Neuen Europäischen Bauhauses

Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für das NEB:

2.4.1.

Arbeiten mit der Gemeinschaft des NEB: das NEB-Labor

Kennzeichnungsstrategie;

innovative Finanzierung;

Untersuchung und Erprobung des Rechtsrahmens;

wesentliche Leistungsindikatoren.

2.4.2.

Ein dreifacher Wandel — drei Ansatzpunkte für die Förder- und Finanzierungsinstrumente:

eine Veränderung an bestimmten Stellen vor Ort bewirken;

die Notwendigkeit, bei der Verwirklichung von Innovationen anders vorzugehen, auch durch die Verbesserung unserer Fähigkeiten und Verfahrensweisen, und

die Notwendigkeit, die Absichten und die Denkweise, die hinter unseren Maßnahmen stehen, anzupassen.

2.4.3.

Die Kommission wird ein jährliches „Festival des Neuen Europäischen Bauhauses“ veranstalten, und zwar erstmals im Frühjahr 2022:

direkte Transformation von Orten;

Umgestaltung des günstigen Umfelds für Innovation;

Verbreitung neuer Konzepte.

2.5.   Nächste Schritte

Mobilisierung von Akteuren in Europa und darüber hinaus;

Zusammenarbeit des Europäischen Parlaments, des Rates, des Europäischen Ausschusses der Regionen (AdR) und des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) zur Sensibilisierung und Förderung der Debatte in den von ihnen vertretenen Gebieten, um die Bürgerinnen und Bürger zu mobilisieren;

Mitarbeit der Mitgliedstaaten und der Behörden auf internationaler, nationaler, regionaler und lokaler Ebene einschließlich der Einbindung der Zivilgesellschaft;

die Mitgliedstaaten werden zunächst aufgefordert, eine Einrichtung als Kontaktstelle für die Initiative des NEB zu benennen, um sich zu vernetzen und die Bemühungen in ihrem jeweiligen Land zu koordinieren und sich an einem EU-weiten informellen Netz für den Informations- und Erfahrungsaustausch zu beteiligen;

die Europäische Kommission wird im Jahr 2022 über die Fortschritte der Initiative berichten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA betont, dass das Arbeiten mit der Gemeinschaft des NEB, das NEB-Labor, ein wichtiger Ansatz ist, mit dem der partizipative Ansatz der NEB-Initiative weiterverfolgt und vertieft wird.

3.2.

Der EWSA begrüßt, dass die Untersuchung und Erprobung des Rechtsrahmens eine Priorität des NEB ist, und betont, dass eine wesentliche Voraussetzung für eine bessere Umsetzung seiner Ziele die Anpassung des Rechtssystems ist.

3.3.

Der EWSA unterstreicht, dass nachhaltige, inklusive und ästhetische Lösungen für die bauliche Umwelt in hohem Maße davon abhängen, ob ein angepasster qualitätsorientierter Rechtsrahmen für die Vergabe öffentlicher Aufträge garantiert wird. Im Mittelpunkt des Labors sollte demnach eine Reform des Rahmens für die Vergabe öffentlicher Aufträge stehen. In diesem Zusammenhang sollte auch für den Privatsektor diskutiert werden, welche Rolle Anreize zur Entwicklung einer klimafreundlichen Architektur und der „Baukultur“ für eine neue Renovierungskultur mittels offener Ausschreibungen, der Verleihung von Auszeichnungen und der Gewährung von Zuschüssen spielen.

3.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass sich die Untersuchung des Rechtsrahmens auch auf das Normungssystem konzentrieren sollte. Innovation erfordert in allen Bereichen (Technik und Wissenschaft) die Fähigkeit, dem Stand der Technik zu entsprechen, und zwar nicht nur durch die Befolgung einer häufig aufgrund der raschen technologischen Entwicklung ohnehin bereits überholten Norm, sondern auch durch den Einsatz „gleichwertiger Alternativlösungen“. Der Einsatz gleichwertiger Alternativlösungen — und damit die Nichteinhaltung einer Norm — kann im Rahmen von Gerichtsverfahren zu ernsten Haftungsproblemen führen; es lässt sich nach wie vor sehr schwer vor Gericht nachweisen, dass die jeweiligen „Alternativlösungen“ gleichwertig (oder häufig besser) sind. Zudem sollte hinsichtlich harmonisierter Normen, insbesondere für Baumaterialien, unbedingt geprüft werden, wie innovative Alternativlösungen besser unterstützt werden können.

3.5.

Der EWSA hält die neuen Finanzierungsmöglichkeiten für maßgeblich, um die Bauhaus-Ziele zu verwirklichen und die Dynamik der Initiative und die Begeisterung vieler Interessenträger aufrechtzuerhalten. Da das Finanzierungssystem der EU — aufgrund komplizierter Finanzierungs- und Zuteilungskriterien und zahlreicher anderer Anforderungen (einschließlich der Vorfinanzierung) — extrem schwer zugänglich ist und nur ein relativ niedriger Finanzierungssatz erreicht wird, besteht die Gefahr, dass diese Maßnahmen nur die üblichen Kreise erreichen, die Erfahrung mit der Einreichung europäischer Projekte haben, und nicht deutlich größere Zielgruppen. Dieses Problem betrifft nicht nur das NEB. In diesem Zusammenhang ist es äußerst wichtig, weiterzugehen und auch leicht zugängliche Mikrofinanzierungsmöglichkeiten sowie besondere Finanzierungsmaßnahmen denjenigen zu bieten, die keine Finanzierung beantragen können. Dies erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten, der Kommission, den Handels- und Berufskammern, den Bildungseinrichtungen und anderen einschlägigen Interessengruppen. Es muss sichergestellt werden, dass die nationalen Finanzierungsmöglichkeiten für das NEB (ebenfalls) auf den oben genannten Grundsätzen beruhen und in allen Mitgliedstaaten verfügbar sind.

3.6.

Der EWSA hält es für wichtig, gezielte interdisziplinäre Maßnahmen der Erstausbildung und Weiterbildung für eine nachhaltige und inklusive Planung in Hochschulen und anderen Tertiärbildungseinrichtungen und regelmäßige Schulungseinheiten in Berufsverbänden anzubieten. Es muss vor allem möglich sein, das Konzept der angemessenen Arbeit durch reskilling und upskilling (Umschulung und Weiterbildung) in die Praxis umzusetzen.

3.7.   Anmerkungen zu den thematischen Schwerpunkten des Wandels

3.7.1.

Der EWSA begrüßt, dass der Schwerpunkt auf der nachhaltigen, inklusiven und ästhetischen städtischen und ländlichen Entwicklung und der Stadtplanung im weitesten Sinne liegt, da dies ein wichtiger Faktor für die Umsetzung der Prioritäten des NEB ist. Er betont, dass das Augenmerk auf folgende Aspekte gelegt werden muss:

ein verstärktes Engagement für Raumplanung, -ordnung und -politik, um die Bodenversiegelung und die Landnutzung(sänderung) zu verringern, wobei umfassende Transparenz durch die Beteiligung aller Interessenträger gewährleistet wird;

eine kohärente Förderung der Entwicklung in Städten, Kleinstädten und Dörfern (qualitätsabhängige erneute Nutzung vernachlässigter Gebiete) auf europäischer und nationaler Ebene, um eine intakte Kampagne für die Entwicklungsplanung zu konzipieren;

eine nachhaltige Modernisierung der städtischen und dörflichen Strukturen in Anbetracht des sich abzeichnenden Klimawandels, einer Gesellschaft nach der Öl-Ära und des Informationszeitalters;

die Erhaltung und Erneuerung des Gebäudebestands als wesentlicher Beitrag zur Kreislaufwirtschaft und zur Bewahrung des kulturellen Erbes. Dabei sollte insbesondere Sozialwohnungen, Arbeitervierteln und öffentlichen Gebäuden Vorrang gegeben und zugleich das Verständnis der unterschiedlichen Wechselwirkungen zwischen der baulichen Umwelt, dem sozialen Raum verbessert werden. Dies betrifft auch die technischen und grünen Infrastrukturen, deren Planung im Rahmen einer gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachbranchen durchgeführt werden könnte.

3.7.2.

Der EWSA begrüßt, dass der Akzent auf der gemeinsamen Ausarbeitung von Wegen für den ökologischen Wandel im Baugewerbe mit seinen extrem hohen CO2-Emissionen gelegt wird. Die Entwicklung neuer Bauprodukte und -verfahren in Zusammenarbeit mit Planern, Bauproduktherstellern und der Bauindustrie im Wege der Konzipierung neuer Kooperationsmodelle (Lebensdauer, Rezyklierbarkeit, geringere Umweltauswirkungen, erneuerbare Energien usw.) wird ein wichtiger Faktor für den Erfolg dieses Wandels sein und muss gefördert werden, wobei das aktuelle Normungssystem überdacht werden sollte. Die Renovierungswelle ist ein wesentlicher Bestandteil des Grünen Deals, da die Gebäudeinstandhaltung in den Mittelpunkt gestellt werden muss. Hierbei handelt es sich sogar um die wichtigste Maßnahme zur Erhaltung der Ressourcen und Vermeidung von Bauabfällen. Es müssen neue Techniken und Verfahren für das Recyceln von Bauabfällen, aber auch für die Wiederverwendung von Bestandteilen oder die Einführung besserer neuer Baumaterialien (Upcycling) entwickelt werden.

3.7.3.

Der EWSA begrüßt die von der Kommission angenommene Mitteilung, in der das Konzept des NEB ins Leben gerufen wird, um in Reaktion auf die Klimakrise für alle Unionsbürgerinnen und -bürger „attraktive, nachhaltige und inklusive Orte, Produkte und Lebensweisen zu schaffen“.

3.7.4.

Der EWSA unterstützt den Ansatz der Kommission, der darin besteht, eine grünere und gerechtere gemeinsame Zukunft für Europa aufzubauen und diese „neue Lebensweise“ zu fördern, die „Nachhaltigkeit mit Stil“ verbindet und gleichzeitig in vielen Bereichen des täglichen Lebens der Europäerinnen und Europäer — am Wohnort und am Arbeitsplatz, im Zusammenhang mit der Mobilität und in ihrem alltäglichen Lebensumfeld — den ökologischen Wandel beschleunigt. Es handelt sich um ein partizipatives Projekt im Geiste des 1919 geschaffenen historischen Bauhauses und der daraus entstandenen weltweiten kulturellen Bewegung.

3.7.5.

Der EWSA begrüßt insbesondere die kulturelle Dimension des NEB als „Projekt der Hoffnung und der Perspektiven“ und seine kreative Dimension als Schlüsselelement des europäischen Grünen Deals und der damit verbundenen Gebäuderenovierungswelle (2). Mit dieser Kulturbewegung muss allen Bürgerinnen und Bürgern im Alltag an ihrem Wohnort und am Arbeitsplatz sowie in öffentlichen Gebäuden und Wohngebäuden Zugang zu kreislauffähigen Waren mit geringerer CO2-Intensität gegeben werden, und zwar durch konkrete Erfahrungen, die möglichst gebietsnah und unmittelbar in den Wohnvierteln gefördert werden sollten.

3.7.6.

Der EWSA schließt sich der Auffassung der Kommission an, dass innovativen, naturbasierten, nachhaltig und in CO2-armen Verfahren hergestellten Materialien größte Bedeutung zukommt. Ebenso stimmt er den „drei zentralen, untrennbaren Werten“ Nachhaltigkeit, Ästhetik und Inklusion im Sinne der Gleichheit aller, der Zugänglichkeit und der Erschwinglichkeit zu.

3.7.7.

Der EWSA begrüßt den innovativen Ansatz der Kommission zur Einleitung einer Vorphase der „gemeinsamen Gestaltung“, in der eine „Gemeinschaft“ von Einzelpersonen und als „offizielle Partner“ agierenden Organisationen, Vertretern der Zivilgesellschaft und Interessenträgern mit sehr unterschiedlichem Hintergrund und aus verschiedensten Bereichen auf transdisziplinäre Weise mobilisiert wurden — eine völlig neuartige partizipative Phase der gemeinsamen Gestaltung. Dadurch konnten der Entwurf für das Konzept des NEB und die Vorschläge für die nächsten Schritte seiner Umsetzung gemeinsam festgelegt werden.

3.7.8.

Der EWSA begrüßt vor allem, dass das NEB bereits mit der Einleitung der Phase der gemeinsamen Gestaltung eine globale Dimension erlangt hat und im April 2021 erfolgreiche weltweite Gespräche geführt wurden, an denen rund 8 000 Personen online teilnahmen. Zudem ist er über den Erfolg der erstmaligen Verleihung des NEB-Preises und der Verbreitung des einschlägigen Newsletters (3) erfreut.

3.7.9.

Nach Ansicht des EWSA sollte das NEB-Konzept dazu dienen, den Bürgerinnen und Bürgern sowie den Kommunen und Regionen mittels einer angemessenen Kommunikation, Initiativen und Maßnahmen, die es mit ihrer Beteiligung umzusetzen gilt, und einer lokalen Erprobung im alltäglichen Lebens-, Wohn- und Arbeitsumfeld die EU näher zu bringen.

3.7.10.

Mit Interesse bemerkt der EWSA die Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen bezüglich Demonstrationsvorhaben für sozialen, erschwinglichen und nachhaltigen Wohnraum in Stadtgebieten in einem ersten Schritt und dann als Teil der Europäischen Städteinitiative im Rahmen der Kohäsionspolitik 2021-2027 sowie die Einführung eines speziellen Finanzierungsinstruments für die Stadtentwicklung.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Kommission, die bestehenden Initiativen der Europäischen Union mit einer Reihe neuer Maßnahmen und Finanzierungen für das NEB zu verknüpfen. Es gilt, politische Maßnahmen und Instrumente zum „Aufbau eines besseren Lebensalltags“ möglichst nah vor Ort — im Wohn- und Lebensraum der europäischen Bürgerinnen und Bürger und für alle erschwinglich und zugänglich — zu erproben. Mobilitätsfragen müssen durchgängig berücksichtigt werden.

4.2.

Diese Maßnahmen und neuen Finanzierungsformen der EU für das NEB müssen hinsichtlich ihrer Vorschriften und Funktionsweise vereinfacht werden, damit sie ebenfalls im Sinne der gemeinsamen Gestaltung und möglichst nahe an den Unionsbürgerinnen und -bürgern sowie ihrem Wohnort und Stadtviertel von lokalen Verbänden und Gemeinschaften mobilisiert werden können. Es muss ein NEB-Crowdfunding konzipiert werden, wobei der Zugang der lokalen Akteure zu diesen Finanzmitteln durch eine zentrale NEB-Anlaufstelle in jedem Mitgliedstaat zu gewährleisten ist.

4.3.

Es bedarf der aktiven Mitwirkung an dem von der Europäischen Kommission geförderten partizipativen Ansatz und an der Schaffung einer Bewegung des NEB, um im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern sowie der Zivilgesellschaft Alltagsprobleme zu lösen und die Lebensqualität zu verbessern.

4.4.

Der EWSA möchte sich aktiv an diesem partizipativen Projekt und dieser Bewegung beteiligen. Dazu wird er im Rahmen des von der Kommission vorgeschlagenen jährlichen Festivals des NEB eine jährliche Konferenz veranstaltet, in der es um das NEB und die — von ihm vertretene — Zivilgesellschaft geht. Dazu sollte eine NEB-Plattform der Zivilgesellschaft eingerichtet werden.

4.5.

Der EWSA empfiehlt, die drei Grundprinzipien, die sich im Prozess der gemeinsamen Gestaltung — Kombination der globalen und lokalen Dimension, Partizipation, einschließlich seitens benachteiligter Gruppen, und Transdisziplinarität — herauskristallisiert haben, zu unterstützen, und zwar durch einen ortsbezogenen Ansatz für Projekte und Initiativen in Vierteln, Dörfern und Städten. Dabei muss die globale Dimension des Klimawandels und des ökologischen Wandels berücksichtigt werden.

4.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass auch die thematischen Schwerpunkte, die in der Phase der gemeinsamen Gestaltung ermittelt wurden, unterstützt werden sollten, nämlich die Rückbesinnung auf die Natur, die Wiedererlangung des Zugehörigkeitsgefühls, die Priorisierung der schutzbedürftigsten Menschen durch für alle erschwingliche und zugängliche Lösungen (insbesondere in Bezug auf Wohnraum) sowie ein langfristiges Lebenszyklusdenken in den industriellen Ökosystemen und langfristige Überlegungen zur Lebensdauer von Gebäuden und Wohnungen.

4.7.

Der EWSA fordert echte Synergien zwischen der NEB-Bewegung und den künftigen Entwicklungen bei den Rechtsvorschriften zur Umsetzung des europäischen Grünen Deals. Es geht darum, diese Bewegung zu konkretisieren und die notwendigen „günstigen Rahmenbedingungen“ zu schaffen, insbesondere in puncto öffentliche Auftragsvergabe und staatliche Beihilfen. Der EWSA schlägt die Schaffung eines NEB-Gütesiegels vor.

4.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass im Rahmen des Europäischen Semesters und der wirksamen Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte besonderes Augenmerk auf die langfristigen Investitionen in lokale und soziale Infrastrukturen gelegt werden muss, die für eine erfolgreiche Umsetzung des NEB erforderlich sind.

4.9.

Nach Auffassung des EWSA müssen auch die interdisziplinären Maßnahmen der Erstausbildung und Weiterbildung für die neuen Berufe, die in den Regionen entwickelt werden sollen, durch das NEB im Rahmen der europäischen Aktionen und Programme gefördert werden.

Brüssel, den 23. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 93.

(2)  ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 73.

(3)  https://ec.europa.eu/newsroom/neb/newsletter-archives/view/service/2137


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/80


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Steigende Energiepreise — eine ‚Toolbox‘ mit Gegenmaßnahmen und Hilfeleistungen“

(COM(2021) 660 final)

(2022/C 275/13)

Berichterstatter:

Thomas KATTNIG, Alena MASTANTUONO, Lutz RIBBE

Befassung

Europäische Kommission, 1.12.2021

Rechtsgrundlagen

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

2.2.2022

Verabschiedung im Plenum

24.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

193/10/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Analyse der Kommission zeigt, dass der extreme Anstieg der Energiepreise in erster Linie auf die weltweit rasant zunehmende Nachfrage nach Gas zurückzuführen ist und zudem von der Erholung der Wirtschaft, der Verknappung der Lieferungen in die EU, fehlenden Investitionen aufgrund der Sparpolitik nach der Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der verzögerten Instandhaltung der Infrastruktur infolge der Pandemie befeuert wurde. Außerdem stiegen die Strompreise auch aufgrund saisonaler Wetterphänomene (Wassermangel und wenig Wind im Sommer), sodass in Europa weniger Energie aus erneuerbaren Quellen erzeugt werden konnte. Das Emissionshandelssystem (EHS) hat nur in begrenztem Maße zum Preisanstieg beigetragen.

1.2.

Die EU arbeitet daran, ihre Klimaziele für 2030 umzusetzen, die bis 2050 zu einer klimaneutralen Wirtschaft führen sollen. Für die Klimawende sind nicht nur enorme Investitionen erforderlich, sondern es muss das gesamte Energieökosystem angepasst werden. Die immer stärkere Abkehr von fossilen Energieträgern und in einigen Mitgliedstaaten von der Kernenergie führt zu einer geringeren Bandbreite an verfügbaren Energiequellen und einer stärkeren Abhängigkeit von den wenigen verbleibenden. Dies macht das europäische Energiesystem verwundbarer, vor allem mit Blick auf Preisschwankungen, und erfordert eine rasche Reaktion zur Herstellung stabiler und berechenbarer Rahmenbedingungen in Bezug auf die Energiepreise.

1.3.

Die aktuelle Energiepreiskrise würde die europäischen Bürger und Unternehmen weniger hart treffen, wenn Europa nicht so stark von der Einfuhr fossiler Brennstoffe abhängig wäre. Bestimmte Länder machen sich diese Abhängigkeit für geopolitische Zwecke zunutze. Leidtragende sind die europäischen Unternehmen und Verbraucher. Den meisten Mitgliedstaaten ist es immer noch nicht gelungen, diese Abhängigkeit zu verringern, auch wenn die Kommission dies als eines der strategischen Ziele der Energieunion definiert, wie u. a. auch das Ziel, die Verbraucher in den Mittelpunkt des Energiesystems zu stellen. In beiden Punkten fällt die europäische Energiepolitik weit hinter ihre eigenen Ansprüche zurück.

1.4.

Aufgrund des zunehmenden Bedarfs an elektrischem Strom, der allgemein als wesentliches Instrument für die angestrebte Senkung der CO2-Emissionen in Europa betrachtet wird, benötigt die EU erhebliche Investitionen in nachhaltige CO2-freie und CO2-arme Energiequellen. Dadurch wird umso deutlicher, dass größtmögliche Anstrengungen unternommen werden müssen, um den Anteil erneuerbarer Energien zu erhöhen, was zu sinkenden Preisen führen könnte und sicher zur Steigerung der Energieautonomie der EU beiträgt (weniger Abhängigkeit von Regimen, die Energieträger als geopolitisches Faustpfand einsetzen).

1.5.

Die nationalen Regulierungsbehörden müssen eine aktive Rolle bei der Behandlung von Verbraucheranliegen aller Art übernehmen und die Verbraucher in der aktuellen Hochpreislage proaktiv über ihre Rechte informieren. Ebenso müssen die Anbieter bei der Festlegung der Tarife dazu angehalten werden, weiterhin stabile Verbraucherpreise und nicht nur sogenannte Float-Tarife anzubieten, die an die Börsenentwicklung gekoppelt sind.

1.6.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) teilt die Auffassung der Kommission, dass Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Anstieg der Energiepreise nicht dazu führen dürfen, dass Klimaschutzanstrengungen untergraben werden. Die von Preiserhöhungen Betroffenen sollten deshalb unbedingt unterstützt und dazu etwa in die Lage versetzt werden, Energiesparmaßnahmen umzusetzen, sich allein oder als Teil einer Gemeinschaft an der Erzeugung und Nutzung erneuerbarer Energien zu beteiligen und auf diese Weise von niedrigeren Preisen CO2-freier und CO2-armer Energieträger zu profitieren.

1.7.

Der EWSA begrüßt die direkte finanzielle Unterstützung und die steuerbasierten Instrumente als wirksamste und unmittelbar verfügbare Maßnahme zur Unterstützung benachteiligter Bevölkerungsgruppen. Zugleich unterstützt er die Entwicklung konkreter Lösungen in den Mitgliedstaaten, mit denen auf die tatsächlichen Gegebenheiten in den einzelnen Ländern reagiert wird, etwa im Hinblick auf die Verhinderung von Unterbrechungen bei der Energieversorgung in der kalten Jahreszeit, langfristige Ratenzahlungspläne und den Einsatz verschiedener steuerpolitischer Instrumente im Rahmen dieser Pläne.

1.8.

Der EWSA unterstützt nicht nur die Sofortmaßnahmen zur Vermeidung drastischer sozialer Folgen, sondern spricht sich auch nachdrücklich für Marktbewertungen aus, mit denen das Verhalten der Akteure auf dem Energiemarkt analysiert wird. Er weist dabei auf die gemeinsamen Werte der Union in Bezug auf Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Artikel 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hin, die im Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse, das dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) als Anhang beigefügt ist, niedergelegt sind. Damit könnte für mehr Effizienz gesorgt und Marktversagen verhindert werden. Die Märkte müssen wirksamer von den Behörden kontrolliert werden. In diesem Zusammenhang sollte geprüft werden, ob ein gemeinsamer Einkauf von Gas und Öl durch die EU-Mitgliedstaaten eine denkbare Option ist, insbesondere vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in der Ukraine, die gezeigt haben, dass die EU ihre Fähigkeit zur Sicherung ihrer Energieversorgung im Falle geopolitischer Krisen stärken muss.

1.9.

Nötig sind auch Verbesserungen im Fernleitungsnetz durch den Ausbau von Verbindungsleitungen und eine besser entwickelte Speicherinfrastruktur.

1.10.

Es sind Anreize erforderlich, um Privathaushalte und Unternehmen dazu zu motivieren, energiesparende Produkte und Technologien zu erwerben und selbst Energie zu erzeugen. Direkte Unterstützungsleistungen für Hilfsbedürftige müssen gezielt erfolgen und nicht nach dem Gießkannenprinzip. Sie müssen die soziale Dimension widerspiegeln und dürfen den ökologischen Wandel nicht behindern. So könnte ein zeitlich begrenzter Zuschuss (z. B. für die ersten 300 kWh Strom pro Person und Haushalt) bis zu einer festzulegenden Einkommensgrenze erwogen werden. Es sollte auch direkte Unterstützung geleistet werden, wenn das Einkommen unter einer bestimmten Grenze liegt, sofern unter den konkreten Umständen keine erschwinglichen Alternativlösungen verfügbar sind.

1.11.

Die derzeitige Preiskrise bietet auch Chancen, da Investitionen in die Gewinnung erneuerbarer Energien und Energiesparmaßnahmen in Europa dadurch attraktiver werden. Viele Bürgerinnen und Bürger können sich solche Investitionen jedoch nicht leisten. Erforderlich sind maßgeschneiderte Förderprogramme auf europäischer, nationaler sowie regionaler/kommunaler Ebene, damit die Bürger ihrer Rolle als aktive Verbraucher, wie im Paket „Saubere Energie“ vorgesehen, nachkommen können und von den sinkenden Kosten für Energie aus erneuerbaren Quellen profitieren.

1.12.

Der EWSA betont die wichtige Rolle der Energieversorger als Schlüsselakteure für die Verfügbarkeit von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten aufgrund der Umgestaltung des Energiemarkts in den letzten 20 Jahren auf weniger politische Instrumente zurückgreifen können, um steigenden Energiekosten zu begegnen. Die derzeitige Gestaltung des Energiemarkts führt offenbar dazu, dass nicht ausreichend auf Preisschwankungen reagiert werden kann und Kleinerzeuger erneuerbarer Energie sowie Verbraucher generell nicht optimal von Vorteilen profitieren können. Der EWSA fordert die Europäische Kommission deshalb auf, einen Vorschlag vorzulegen, mit dem diese Schwachstellen wirksam angegangen werden und gleichzeitig dem ökologischen Wandel Rechnung getragen wird.

2.   Hintergrund, Fakten und Kontext (wie in der Mitteilung der Kommission dargelegt)

2.1.

Die Europäische Kommission hat eine Mitteilung vorgelegt, in der es um die Frage geht, wie den steigenden Energiepreisen begegnet werden kann. Hintergrund dieser Veröffentlichung in Form einer „Toolbox“ ist der massive kurzfristige Anstieg der Energiepreise, der sich negativ auf den Wiederaufbau nach der Covid-Krise und das Wohlergehen der EU-Bevölkerung auswirkt.

2.2.

In der Mitteilung zu den Energiepreisen werden verschiedene Maßnahmen zum Vorgehen der EU und der Mitgliedstaaten in dieser schwierigen Zeit aufgezeigt. Es werden Sofortmaßnahmen, kurzfristige und mittelfristige Maßnahmen vorgeschlagen, die sowohl Soforthilfe- und Ausgleichsmaßnahmen als auch Investitionen sowie institutionelle und verfahrenstechnische Änderungen umfassen; die wichtigsten Zielgruppen sind Privathaushalte sowie kleine und mittlere Unternehmen. Die „Toolbox“ ermöglicht einen koordinierten Ansatz zum Schutz der am stärksten gefährdeten Gruppen.

2.3.

Von 2019 bis September 2021 sind die Großhandelspreise für Gas und Strom im EU-Durchschnitt um 429 % bzw. 230 % gestiegen. Der Anstieg der Endkundenpreise war bisher wesentlich moderater (14 % bzw. 7 %); die kurzfristige Prognose für den kommenden Winter zeigt jedoch, dass auch diese Preise möglicherweise den Großhandelspreisen folgen werden. Eine solche Entwicklung würde die Finanzen der Privathaushalte stark erschüttern und stabile Zahlungsströme erheblich beeinträchtigen, sodass legitime politische Maßnahmen erforderlich sind, auch wenn Prognosen darauf hindeuten, dass sich der Gasmarkt voraussichtlich bis etwa April 2022 und der Strommarkt bis 2023 stabilisieren wird.

2.4.

Die großen Preisunterschiede sind jedoch weitgehend marktbedingt. Dies gilt teilweise auch für das EHS, wo ähnliche sprunghafte Preissteigerungen zu beobachten waren. Im Zeitraum Januar 2020 bis November 2021 ist der Preis der EUA-Zertifikate von etwa 20 EUR/Tonne auf etwa 75 EUR/Tonne gestiegen.

2.5.

Die Analyse der Kommission zeigt, dass der Preisanstieg größtenteils auf die weltweit rasant zunehmende Nachfrage nach Gas und nur in geringem Maße auf die Entwicklung des EU-EHS zurückzuführen ist. Die höhere Nachfrage nach Gas wurde durch die Aufwärtskonjunktur, Versorgungsengpässe in der EU, und eine verzögerte Instandhaltung der Infrastruktur aufgrund der Pandemie angekurbelt. Außerdem stiegen die Strompreise auch aufgrund saisonaler Wetterphänomene (Wassermangel und wenig Wind im Sommer), sodass in Europa weniger Energie aus erneuerbaren Quellen erzeugt werden konnte.

2.6.

Die Kommission geht davon aus, dass die Energiepreissteigerungen „vorübergehend“ sein werden und untermauert dies mit einer triftigen Analyse. Sie stellt ferner fest, dass die Trends bei erneuerbaren Energieträgern und bei fossilen Brennstoffen genau gegenläufig sind, da die Kosten bei ersteren seit Jahren ständig sinken.

2.7.

Es gibt keine Patentlösung. Die Energiepreise sind in der EU sehr unterschiedlich. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Mitgliedstaaten momentan sehr unterschiedlich in die Märkte eingreifen, etwa durch Steuern und Abgaben, Befreiungen oder Belastungen, die häufig nur bestimmte Verbraucher betreffen. In einigen Mitgliedstaaten basieren die Energiepreise der meisten Privathaushalte auf den Börsenpreisen für Strom und Erdgas (variable Energiepreise).

2.8.

Wie derzeit deutlich wird, stellt die hohe Abhängigkeit von Einfuhren fossiler Brennstoffe auch eine Bedrohung für die Versorgungssicherheit in Europa dar. Das hohe Versorgungsniveau hat zur Entleerung der Gasspeicher geführt, und die in Europa gespeicherten Gasmengen sind auf ein historisch niedriges Niveau gesunken. Die Europäische Kommission sollte Maßnahmen ergreifen, um ihre starke Verhandlungsposition als großer und für Russland strategisch wichtiger Abnehmer erheblicher Mengen zu nutzen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die EU arbeitet daran, ihre Klimaziele für 2030 umzusetzen, die bis 2050 zu einer klimaneutralen Wirtschaft führen sollen. Für die Klimawende sind nicht nur enorme Investitionen erforderlich, sondern es muss das gesamte Energieökosystem angepasst werden. Die immer stärkere Abkehr von fossilen Energieträgern und in einigen Mitgliedstaaten von der Kernenergie führt zu einer geringeren Bandbreite an verfügbaren Energiequellen und einer stärkeren Abhängigkeit von den wenigen verbleibenden. Dies macht das europäische Energiesystem verwundbarer, vor allem mit Blick auf Preisschwankungen, und erfordert eine rasche Reaktion zur Herstellung stabiler und berechenbarer Rahmenbedingungen in Bezug auf die Energiepreise. Der EWSA begrüßt die rasche Reaktion der Europäischen Kommission auf den Anstieg der Energiepreise und stimmt dem Inhalt der Mitteilung sowie den meisten darin vorgeschlagenen Instrumenten zu. Er fordert die Mitgliedstaaten auf, diese Instrumente rasch zu nutzen, um die negativen Auswirkungen des Preisanstiegs auf die am stärksten benachteiligten Verbraucher abzufedern.

3.2.

Der EWSA stellt fest, dass die vorgeschlagenen Sofortmaßnahmen stärker darauf ausgerichtet sind, die negativen Folgen der Entwicklung auf dem Energiemarkt zu beseitigen, während die mittelfristigen Maßnahmen auf ursächliche Lösungen abzielen.

3.3.

Der EWSA unterstützt die Sofortmaßnahmen und ihr Format, bei dem die am stärksten gefährdeten Gruppen im Mittelpunkt sehen. Unter Energiearmut leidende Haushalte sowie Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen sind am stärksten betroffen, da sie einen deutlich größeren Teil ihres Einkommens für Energie aufwenden müssen. Doch auch Unternehmen, vor allem KMU und energieintensive Branchen, bekommen die Folgen erheblich zu spüren. Die Auswirkungen der hohen Energiepreise machen sich nicht in allen Branchen in gleicher Weise bemerkbar und tragen erheblich zum Anstieg der Inflation bei.

3.4.

Es sei auch darauf hingewiesen, dass die Großhandelspreise für Gas 2021 nicht erheblich höher waren als 2008 oder 2012; dieser Markt unterliegt großen Schwankungen. Die großen Preisunterschiede sind jedoch weitgehend marktbedingt. Die Analyse der Kommission zeigt, dass der extreme Anstieg der Energiepreise in erster Linie auf die weltweit rasant zunehmende Nachfrage nach Gas zurückzuführen ist und zudem von der Erholung der Wirtschaft, der Verknappung der Lieferungen in die EU, fehlenden Investitionen aufgrund der Sparpolitik nach der Finanz- und Wirtschaftskrise sowie durch saisonale Wetterphänomene (Wassermangel und wenig Wind im Sommer), die zu geringeren Erzeugungsmengen aus erneuerbaren Energiequellen in Europa geführt haben, befeuert wurde.

3.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Gesellschaft durch Anreize, finanzielle Unterstützung, insbesondere für einkommensschwache und sonstige benachteiligte Gruppen, und unabhängige Beratung dazu motiviert werden sollte, von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energieträger umzustellen, die nicht nur durch relativ hohe Anfangsinvestitionskosten, sondern auch niedrige Erzeugungs- und Betriebskosten gekennzeichnet sind.

3.6.

Ein weiterer wichtiger Anreiz ist der schrittweise Abbau von Subventionen für Energie aus fossilen Quellen. Zwischen 2015 und 2019 sind die Subventionen für fossile Brennstoffe in der EU um 4 % gestiegen und 2020 messbar zurückgegangen. Im Energiesektor war ein Rückgang dieser Subventionen um 10 % und in der Industrie um 4 % zu verzeichnen, während sie im Verkehrssektor um 25 % und bei den Privathaushalten in Form von Subventionen für Heizöl und Erdgas um 13 % zunahmen (1). Subventionen spielen eine wichtige Rolle im sozialen Bereich, da durch sie gewährleistet wird, dass der Wandel in Richtung einer klimaneutralen Wirtschaft gerecht vonstatten geht.

3.7.

Der EWSA hat sich immer dafür ausgesprochen, dass die Energiepreise die Realität widerspiegeln, dass also alle externen Kosten mit dem Preis abgedeckt sein müssen. Deshalb ist davon auszugehen, dass höhere Preise für fossile Brennstoffe marktorientierte Anreize für die Einsparung von Energie und den Umstieg auf erneuerbare Energieträger mit sich bringen werden. Zudem wird die Abschaffung umweltschädlicher Subventionen für fossile Energieträger zum Preisanstieg beitragen. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der steigenden Energiepreise müssen dennoch sorgfältig analysiert werden.

3.8.

Aufgrund des zunehmenden Bedarfs an elektrischem Strom, der allgemein als wesentliches Instrument für die angestrebte Senkung der CO2-Emissionen in Europa betrachtet wird, benötigt die EU erhebliche Investitionen in nachhaltige CO2-freie und CO2-arme Energiequellen. Die Förderung von FuE und Innovationen im Energiebereich, etwa in Form von Energiespeicherlösungen, muss beschleunigt werden. Der EWSA betont ferner, dass die Energieerzeugung durch sogenannte Energiegemeinschaften gefördert werden muss, damit Energie dort verbraucht wird, wo sie erzeugt wird, und die Versorgungssicherheit in bestimmten Gebieten gewährleistet werden kann. Die gemeinsame Nutzung von Energie in Form von Energiegemeinschaften ermöglicht es den Beteiligten, einschließlich benachteiligter Energieverbraucher und KMU, die nicht selbst in erneuerbare Energiequellen investieren können, von den Vorteilen sinkender Kosten für erneuerbare Energieträger zu profitieren.

3.9.

Auch die Verringerung der starken Abhängigkeit Europas von Importen würde zur Senkung der Energiepreise beitragen. Einige Drittstaaten nutzen diese Abhängigkeit für geopolitische Zwecke aus. Leidtragende sind die europäischen Unternehmen und Verbraucher. Es ist deshalb richtig, dass die Kommission die Reduzierung der Importe von Energierohstoffen bereits vor Jahren zum strategischen Ziel erklärt hat, etwa im strategischen Rahmen der Energieunion. Es reicht jedoch nicht aus, Ziele zu verkünden; die Erfolge sind bislang mehr als bescheiden (siehe die Stellungnahme TEN/724). Angezeigt sind konkrete Maßnahmen, die aber bisher ausgeblieben sind.

3.10.

Bei den Energieträgern der Zukunft wie Wasserstoff besteht die Gefahr, dass die Abhängigkeit von Importen noch wächst. Aktuell werden viele Stimmen für angeblich „billige“ Wasserstoffimporte laut, wobei außer Acht gelassen wird, dass dies Europa noch anfälliger für Preismanipulationen durch Drittstaaten mit geopolitischen Interessen machen würde und letztlich die Verbraucher die Rechnung zahlen müssten. Hier handelt es sich um ein altbekanntes Problem, das sich schon zur Zeit der Ölkrise 1973 gezeigt hat. Seitdem hat sich trotz aller Versprechen, die etwa im strategischen Rahmen der Energieunion abgegeben wurden, fast nichts in die richtige Richtung bewegt.

3.11.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Gesellschaft durch Anreize, finanzielle Unterstützung und unabhängige Beratung dazu motiviert werden sollte, von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energieträger umzustellen, die nicht nur durch relativ hohe Anfangsinvestitionskosten, sondern auch niedrige Erzeugungs- und Betriebskosten gekennzeichnet sind. Leider sind einige erneuerbare Energieträger keine stabile Quelle. Deshalb sollte darauf hingewiesen werden, dass Speichertechnologien erforderlich sind und in einer Übergangsphase auf Quellen wie Gas sowie sichere und nachhaltige CO2-freie und -arme Energieträger zurückgegriffen werden sollte, um die Energieversorgung zu sichern. Vor diesem Hintergrund sollte die Europäische Kommission eine Kampagne zur besseren Aufklärung über die Vorteile sauberer Energie einleiten. Der EWSA sollte einen Beitrag zu dieser Kampagne leisten und sein Fachwissen zur Verfügung stellen.

3.12.

Für die Endverbraucher gibt es zwei Möglichkeiten zur sofortigen Senkung ihrer Energierechnung: a) Energie einsparen und b) erneuerbare Energien lokal nutzen. Das Problem besteht darin, dass für beide Optionen Anfangsinvestitionen notwendig sind (z. B. in Wärmedämmung, sparsamere neue Geräte, Photovoltaiksysteme usw.). Die am stärksten unter den hohen Energiepreisen leidenden Bevölkerungsgruppen können sich diese Investitionen in der Regel nicht leisten. Staatliches Energie-Contracting könnte hier eine Lösung darstellen: Der Staat finanziert solche Investitionen vor, und die Verbraucherinnen und Verbraucher nutzen einen Teil der einsparten Energiekosten für Zins- und Tilgungszahlungen. Resteinsparungen dürfen von den Verbrauchern einbehalten werden. Dieses Modell hat sich in Entwicklungsländern bewährt und könnte leicht auf Europa übertragen werden. Es ist wichtig, dass Mindeststandards des Verbraucherrechts wie eine transparente Rechnungslegung und Kündigungsoptionen eingehalten werden. Eine weitere Option sind direkte Investitionszuschüsse.

3.13.

Die Ausgleichsmaßnahmen müssen gezielt erfolgen und nicht nach dem Gießkannenprinzip; sie müssen die soziale Dimension widerspiegeln und dürfen den ökologischen Wandel nicht behindern. So könnte ein zeitlich begrenzter Zuschuss (z. B. für die ersten 300 kWh Strom pro Person und Haushalt) bis zu einer festzulegenden Einkommensgrenze erwogen werden. Dringend erforderlich sind wahrscheinlich Subventionen für benachteiligte Gruppen, sofern in ihrer Situation keine erschwinglichen alternativen Wärmeversorgungs- oder Beförderungslösungen zur Verfügung stehen.

3.14.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, technische Hindernisse für den Einsatz erneuerbarer Energieträger zu beseitigen, wie z. B. langwierige Planungsgenehmigungen für die Errichtung von Windkraftanlagen. Des Weiteren fordert er die Mitgliedstaaten auf, die Nutzung von 5G im Zuge des ökologischen Wandels so weit wie möglich zu erwägen, um den Energieverbrauch und die Einsparungen zu optimieren. In diesem Zusammenhang begrüßt er die Absicht der Kommission, dieses Thema im Jahr 2022 anzugehen.

3.15.

Der EWSA fordert mehr Autonomie hinsichtlich der Energiequellen, da sich die hohe Importabhängigkeit auf die Energiepreise niederschlägt. Die Europäische Kommission hat die Verringerung der Einfuhren von Energieressourcen zu einem strategischen Ziel erklärt. Hier sind konkrete Maßnahmen erforderlich, und für künftige Energieträger wie Wasserstoff muss eine Importabhängigkeit vermieden werden.

3.16.

Der EWSA unterstützt nicht nur die Sofortmaßnahmen zur Vermeidung drastischer sozialer Folgen, sondern spricht sich auch nachdrücklich für Marktbewertungen aus, mit denen das Verhalten der Akteure auf dem Energiemarkt analysiert wird. Er weist dabei auf die gemeinsamen Werte der Union in Bezug auf Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Artikel 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hin, die im Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse, das dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) als Anhang beigefügt ist, niedergelegt sind. Damit könnte der Energiemarkt optimiert, seine Effizienz verbessert und Marktversagen verhindert werden. Die Märkte müssen wirksamer von den Behörden kontrolliert werden.

3.17.

Der EWSA appelliert an die Europäische Kommission, die außergewöhnliche Lage auf dem Energiemarkt ständig zu beobachten, die Ergebnisse täglich zu bewerten und die Intensität der ergriffenen Maßnahmen an die Entwicklung der Lage anzupassen.

3.18.

Der EWSA hat zwar stets die Auffassung vertreten, dass ein starkes EHS für die Bepreisung negativer externer Effekte erforderlich ist, es ist jedoch zu berücksichtigen, dass Unternehmen, die Zertifikate benötigen, in Konkurrenz zu Finanzinstituten und -vermittlern stehen, wenn sie im Produktionsprozess CO2 emittieren. Der Emissionshandel ist ein Instrument zur Bepreisung externer Effekte wie Klimaschäden, sollte aber nicht zu einem Markt für Finanzspekulationen werden. Die Europäische Kommission sollte untersuchen, welche Möglichkeiten der Europäischen Union zur Gestaltung von Marktstrukturen zur Verfügung stehen, mit denen solche für die Verbraucher, Versorgungsunternehmen und Investoren äußerst ungesunden Entwicklungen verhindert werden können.

3.19.

Der EWSA betont die wichtige Rolle der Energieversorger als Schlüsselakteure für die Verfügbarkeit von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten aufgrund der Umgestaltung des Energiemarkts in den letzten 20 Jahren auf weniger politische Instrumente zurückgreifen können, um steigenden Energiekosten zu begegnen. Die derzeitige Gestaltung des Energiemarkts führt anscheinend dazu, dass nicht ausreichend auf Preisschwankungen reagiert werden kann und Kleinerzeuger erneuerbarer Energie sowie Verbraucher nicht optimal von Vorteilen profitieren können. Der EWSA fordert die Europäische Kommission deshalb auf, einen Vorschlag vorzulegen, mit dem diese Schwachstellen wirksam angegangen werden und gleichzeitig dem ökologischen Wandel Rechnung getragen wird.

3.20.

Der EWSA betont, dass die mittelfristigen Maßnahmen unbedingt weitergeführt werden müssen, um die Belastbarkeit und Zukunftsfähigkeit des EU-Energiemarkts und seiner Produkte zu erschwinglichen Preisen zu unterstützen. Besonders wichtig ist es, den Umfang der Investitionen in erneuerbare Energiequellen zu erhöhen (da viele der derzeitigen konventionellen Kapazitäten bald nicht mehr verfügbar sein werden) und somit die Angebotsseite des Marktes zu stützen. Zugleich ist es ebenso wichtig, die Vernetzung und Sicherheit der Energieversorgung in der gesamten EU zu verbessern und öffentliche Investitionen in die Netzinfrastruktur zu lenken. Andernfalls wird sich die Überzeugung der Europäischen Kommission, dass die beste Garantie für die Stabilität und Dauerhaftigkeit der Energiepreise die Erschließung neuer erneuerbarer Energiequellen ist, nicht bewahrheiten.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA ist überzeugt, dass neue, präzisere und strengere Vorschriften für Energieversorgungsunternehmen angenommen werden sollten, die Produkte für Endverbraucher anbieten. Seiner Ansicht nach haben einige dieser Energieversorgungsunternehmen nicht kompetent gehandelt. Mit anderen Worten sollten die Versorgungsunternehmen in der Lage sein, Preisschwankungen auf dem Markt standzuhalten und Verträge mit Verbrauchern nicht sofort kündigen zu müssen. Zu diesem Zweck sollten sie bspw. über ausreichende Kapitalrücklagen verfügen oder bestimmte Bedingungen erfüllen. Es sollte auch Aufgabe der nationalen Regulierungsbehörden sein, regelmäßig und eingehend die Rechenschaftspflicht der Marktteilnehmer zu prüfen.

4.2.

Die nationalen Regulierungsbehörden müssen eine aktive Rolle bei der Behandlung von Verbraucheranliegen aller Art übernehmen und die Verbraucher in der aktuellen Hochpreislage proaktiv über ihre Rechte informieren. Dazu gehören die Bereitstellung von Informationen über den Wechsel von Versorgungsunternehmen und Stornierungsoptionen oder unabhängige Vergleichsportale, auf denen unterschiedliche Tarife und Tarifbedingungen verglichen werden können, aber auch Unterstützung in Streitfällen und die Durchführung von Schiedsverfahren. Ebenso müssen die Anbieter bei der Festlegung der Tarife dazu angehalten werden, weiterhin stabile Verbraucherpreise und nicht nur sogenannte Float-Tarife anzubieten, die an die Börsenentwicklung gekoppelt sind.

4.3.

Der EWSA schlägt proaktivere Maßnahmen für den Verbraucherschutz zur Aufklärung der Verbraucher und eine bessere Krisenvorsorge bei den Versorgungsunternehmen vor, einschließlich einer obligatorischen Absicherung gegen das Problem steigender Großmarktpreise.

4.4.

Die Verbraucher brauchen besseren Schutz, transparente Vertragsbedingungen, eine wirksame Preiskontrolle, unabhängige Beratung und einfache rechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten, vor allem im Bereich der Wärme- und Kälteversorgung. Es muss klar zwischen Energiespar-Contracting und Energieliefer-Contracting unterschieden werden. Außerdem sollte rechtlich festgelegt werden, dass Mieter nur die „tatsächlichen“ Betriebskosten für die Energieversorgung tragen sollten. Bei der Wärmeerzeugung im Gebäude sind dies ausschließlich die Kosten der genutzten Energiequelle zuzüglich angemessener Kosten für die Wartung und technische Unterstützung der Heizungsanlage. Vertragliche und finanzielle Risiken, die sich aus Vertragsvereinbarungen ergeben, sollten von denjenigen getragen werden, die solche Basisverträge abschließen, z. B. Bauträger und Vermieter.

4.5.

Der EWSA begrüßt die direkte finanzielle Unterstützung und die steuerbasierten Instrumente als wirksamste und unmittelbar verfügbare Maßnahme zur Unterstützung benachteiligter Bevölkerungsgruppen. Zugleich unterstützt er die Entwicklung konkreter Lösungen in den Mitgliedstaaten, mit denen auf die tatsächlichen Gegebenheiten in den einzelnen Ländern reagiert wird, etwa im Hinblick auf die Verhinderung von Unterbrechungen bei der Energieversorgung in der kalten Jahreszeit, langfristige Ratenzahlungspläne und den Einsatz verschiedener steuerpolitischer Instrumente im Rahmen dieser Pläne. Auch müssen die Mitgliedstaaten spezifische Instrumente und Programme umsetzen, mit denen vor allem einkommensschwache Haushalte bei der Umsetzung von Energieeffizienzmaßnahmen unterstützt werden.

4.6.

In Bezug auf die Besteuerung empfiehlt die Kommission in ihrer „Toolbox“, Steuern auf Energieerzeugnisse auf die in den einschlägigen Richtlinien (Energiebesteuerungsrichtlinie, MwSt.-Richtlinie) festgelegten Mindestsätze zu reduzieren. Um den Zugang zu grüner Energie, insbesondere zu Strom aus erneuerbaren Quellen, zu fördern, ist beim Steuersatz je nach Umweltauswirkung der jeweiligen Energiequelle zu differenzieren, wie die Kommission im Rahmen der Änderung der Energiebesteuerungsrichtlinie vorgeschlagen hat (COM 2021 (563)).

4.7.

Der EWSA weist darauf hin, dass lokale und regionale Behörden bzw. Akteure bei der Unterstützung der von Energiearmut betroffenen Haushalte eine wichtige Rolle spielen. Häufig fallen spezifische Maßnahmenpakete, z. B. der Heizkostenzuschuss zur Förderung der Erschwinglichkeit von Heiz- und Warmwasserkosten in Österreich, in die Zuständigkeit der Regionen und Kommunen. Solche Unterstützungsleistungen sollten in den nationalen Energie- und Klimaplänen aufgeführt werden, um Vergleichbarkeit zwischen den Mitgliedstaaten und damit wechselseitiges Lernen zu ermöglichen.

4.8.

Der Zugang zu erschwinglicher Energie ist eine zentrale Voraussetzung für soziale Teilhabe und menschenwürdige Lebensbedingungen, da Energie die Versorgung mit Licht und Wärme sowie Mobilität und Kommunikation überhaupt erst möglich macht. Menschen, die von Energiearmut betroffen sind, können dieses Gut nicht unbesorgt in Anspruch nehmen, weshalb sie in ihrem täglichen Leben massiv beeinträchtigt sind. Hier muss mit energischen Maßnahmen gegengesteuert und der Energiearmut nachhaltig der Kampf angesagt werden.

Brüssel, den 24. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  COM(2021) 950 final.


ANHANG

Der folgende abgelehnte Änderungsantrag erhielt mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 3.12

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Für die Endverbraucher gibt es zwei Möglichkeiten zur sofortigen Senkung ihrer Energierechnung: a) Energie einsparen und b) erneuerbare Energien lokal nutzen. Das Problem besteht darin, dass für beide Optionen Anfangsinvestitionen notwendig sind (z. B. in Wärmedämmung, sparsamere neue Geräte, Photovoltaiksysteme usw.). Die am stärksten unter den hohen Energiepreisen leidenden Bevölkerungsgruppen können sich diese Investitionen in der Regel nicht leisten. Staatliches Energie-Contracting könnte hier eine Lösung darstellen: Der Staat finanziert solche Investitionen vor, und die Verbraucherinnen und Verbraucher nutzen einen Teil der einsparten Energiekosten für Zins- und Tilgungszahlungen. Resteinsparungen dürfen von den Verbrauchern einbehalten werden. Dieses Modell hat sich in Entwicklungsländern bewährt und könnte leicht auf Europa übertragen werden. Es ist wichtig, dass Mindeststandards des Verbraucherrechts wie eine transparente Rechnungslegung und Kündigungsoptionen eingehalten werden. Eine weitere Option sind direkte Investitionszuschüsse.

Für die Endverbraucher gibt es zwei Möglichkeiten zur sofortigen Senkung ihrer Energierechnung: a) Energie einsparen und b) erneuerbare Energien lokal nutzen. Das Problem besteht darin, dass für beide Optionen Anfangsinvestitionen notwendig sind (z. B. in Wärmedämmung, sparsamere neue Geräte, Photovoltaiksysteme usw.). Die am stärksten unter den hohen Energiepreisen leidenden Bevölkerungsgruppen können sich diese Investitionen in der Regel nicht leisten.

Begründung

Der letzte Teil der Ziffer sollte gestrichen werden, da er unverständlich und die vorgeschlagene Lösung unklar ist. Außerdem es ist nicht richtig, Lösungen von Entwicklungsländern auf Europa zu übertragen, ohne sie vorher gründlich zu prüfen.

Ergebnis der Abstimmung:

Ja -Stimmen:

44

Nein -Stimmen:

120

Enthaltungen:

51


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/88


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bereitstellung bestimmter Rohstoffe und Erzeugnisse, die mit Entwaldung und Waldschädigung in Verbindung stehen, auf dem Unionsmarkt sowie ihre Ausfuhr aus der Union und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 995/2010

(COM(2021) 706 final — 2021/0366 (COD))

(2022/C 275/14)

Berichterstatter:

Arnold PUECH D’ALISSAC

Mitberichterstatter:

Florian MARIN

Befassung

Europäisches Parlament, 17.1.2022

Rat, 17.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 192 Absatz 1 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

9.2.2022

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

225/3/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Kommission für eine Verordnung. Die Rechtsetzungsinitiative der Kommission kommt zur rechten Zeit und ist sehr relevant.

1.2.

Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass die Europäische Kommission ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einfacher Umsetzung und Effizienz herstellen will, ist aber dennoch der Auffassung, dass der Anwendungsbereich der Verordnung ausgeweitet werden sollte:

Die Verordnung sollte sich nicht nur auf Entwaldung und Waldschädigung erstrecken. Produkte und Rohstoffe, deren Erzeugung zur Zerstörung wertvoller, schützenswerter Ökosysteme wie Savannen, Feuchtgebiete, Torfflächen, Mangroven oder Uferzonen geführt hat, sollten ebenfalls von einem Verbot erfasst werden, um ihr Inverkehrbringen auf dem europäischen Markt zu verhindern.

Wichtige Waldrisiko-Waren wie Mais, Zucker und Kautschuk sollten bereits bei Inkrafttreten der Verordnung in deren Anwendungsbereich aufgenommen sein. Darüber hinaus sollte die Liste der Folgeprodukte erweitert werden, und die Verordnung sollte sich auf Erzeugnisse von Tieren erstrecken, die mit Waldrisiko-Waren gefüttert wurden, um Verlagerungseffekte und unlauteren Wettbewerb zu vermeiden.

Die Verordnung muss sich neben der Entwaldung und Waldschädigung auch auf andere sehr wichtige soziale und ökologische Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der betreffenden Erzeugnisse beziehen. Dies gilt erst recht für Menschenrechtsfragen, die gerechte Behandlung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerrechtsfragen. Die im Vorschlag vorgesehene Forderung nach Legalität nur im Erzeugerland ist aus genau denselben Gründen nicht ausreichend: sie genügt nicht, um Entwaldung zu verhindern.

1.3.

Die Effizienz und Wirksamkeit der vorgeschlagenen Rechtsvorschriften hängt sowohl von der Priorität, die sie in den Mitgliedstaaten erhält, als auch von der operativen Leistungsfähigkeit der zuständigen Behörden in jedem Mitgliedstaat ab. Mit hoher Priorität ist sicherzustellen, dass alle Mitgliedstaaten eine effiziente, wirkungsvolle Kontrolle durchführen, die erforderlichen Mittel für die Initiative bereitstellen und entsprechende Systeme vor dem Inkrafttreten der Verordnung eingeführt haben.

1.4.

Bei vielen Rohstoffen ist Europa bei weitem nicht der größte Abnehmer. Bei diesen Rohstoffen hätten isolierte nachfrageseitige Maßnahmen der EU nur eine begrenzte Wirkung auf die Entwaldung. Die politische Zusammenarbeit mit anderen wichtigen Einfuhrländern und die Abstimmung mit ihnen über nachfrageseitige Initiativen sollten eine hohe Priorität erhalten.

1.5.

Die Erfüllung der europäischen Dokumentationsanforderungen wird für Erzeugerländer und -regionen, vor allem für Bauern und Kleinerzeuger, eine schwierige Aufgabe sein. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kosten der vorgeschlagenen Verordnung nicht auf Kleinbauern abgewälzt werden dürfen, die sich mit ihrem Einkommen nur knapp über Wasser halten können.

Europa muss mit den Erzeugerländern in Dialog treten und seine Unterstützung und Zusammenarbeit bei der Umsetzung der Maßnahmen anbieten, die erforderlich sind, um den europäischen Anforderungen gerecht zu werden. Die Kommission sollte die potenzielle Rolle von Kleinerzeugern, einschließlich Frauen, als Akteure des Wandels anerkennen und auf ihre wirksame, freie, sinnvolle und informierte Beteiligung achten. Erzeuger in armen Ländern sollten genügend Zeit zur Anpassung erhalten.

Die Rolle der Zertifizierung und die Wirkung der vorgeschlagenen Verordnung auf Landwirte einschließlich Kleinerzeuger und die lokale Bevölkerung müssen im Voraus abgeschätzt werden, und die Schlussfolgerungen dieser Einschätzung müssen in die Verordnung einfließen, bevor sie in Kraft tritt.

1.6.

Sanktionen sollten abschreckend sein. Gleichzeitig dürfen Strafen und Null-Toleranz nicht zu einer Risikovermeidung führen. Wenn Einkäufer für den europäischen Markt Gebiete mit nicht unerheblichem Entwaldungsrisiko gänzlich vermeiden, besteht die Gefahr, dass Bauern und Kleinerzeuger in abgelegenen Gebieten erst recht ins Hintertreffen geraten. Darüber hinaus würde Europa die Chance verpassen, bei der Umstellung auf nachhaltigere Produktionsmuster in den Gebieten mitzuhelfen, in denen es am meisten darauf ankommt.

1.7.

In Europa herrscht eine strukturelle Proteinknappheit. Sie muss derzeit durch importierte proteinreiche Futtermittel ausgeglichen werden, die jedoch zum Teil aus entwaldungsbedrohten Gebieten stammen.

Europa muss seinen Selbstversorgungsgrad mit pflanzlichem Eiweiß erhöhen. Darüber hinaus sollte die Europäische Union eine konkrete Strategie erarbeiten, die mit Horizont Europa und dem EU-Innovationsfonds verknüpft wird, um neue Proteinquellen zu entwickeln, ihre Produktion zu erhöhen und sie marktfähig zu machen. Dies könnte eine umweltfreundliche Bioraffinierung von perennierendem Gras und die großflächige Produktion von Proteinen durch methangefütterte Mikroalgen umfassen.

1.8.

Ausnahmen für KMU und vereinfachte Sorgfaltspflichten im Rahmen des Länder-Benchmarking-Systems dürfen keine Lücken im System entstehen lassen, welche die Wirksamkeit der Verordnung untergraben könnten. Gleichzeitig sollte die Verordnung keinen unnötigen Verwaltungs- und Kostenaufwand verursachen. Die Kommission sollte sorgfältig prüfen, ob die Bestimmungen über die Geolokalisierung bis zu einzelnen Parzellen und gewisse Nachweispflichten in Ländern mit geringem Risiko verhältnismäßig oder notwendig sind.

1.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft eine aktive Rolle bei der Überwachung einer wirksamen Verringerung der Entwaldung zukommen sollte. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Europäische Ausschuss der Regionen sollten als Mitglieder in die Multi-Stakeholder-Plattform der Kommission berufen werden. Die Plattform sollte eine zentrale Rolle bei der Überwachung der Rechtsumsetzung erhalten. Die an der Plattform beteiligten Interessenträger sollten mit Satellitendaten unterstützt werden, wobei zu beachten ist, wem die Daten gehören. Die Mitgliedstaaten müssen die Gesundheit und den Zustand der Wälder nach einem gemeinsamen Ansatz ermitteln.

1.10.

Die Verordnung muss mit den von der EU und ihren Handelspartnern getroffenen Abkommen im Einklang stehen. Als wichtiger Importeur und größter Exporteur hat die EU ein großes Interesse an einem gut funktionierenden, gerechten und nachhaltigen Welthandelssystem.

2.   Hintergrund

2.1.

Am 17. November 2021 veröffentlichte die Europäische Kommission ihren Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bereitstellung bestimmter Rohstoffe und Erzeugnisse, die mit Entwaldung und Waldschädigung in Verbindung stehen, auf dem Unionsmarkt sowie ihre Ausfuhr aus der Union und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 995/2010.

2.2.

Die Initiative wird in der im Juli 2019 veröffentlichten Mitteilung der Kommission über die Intensivierung der EU-Maßnahmen zum Schutz und zur Wiederherstellung der Wälder in der Welt erwähnt. Der Vorschlag ist Teil des europäischen Grünen Deals, der EU-Biodiversitätsstrategie und der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“. Der Vorschlag spiegelt auch wichtige Teile der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22. Oktober 2020 mit Empfehlungen an die Kommission für einen EU-Rechtsrahmen zur Eindämmung und Umkehrung der von der EU verursachten weltweiten Entwaldung wider.

2.3.

Ziel der Verordnung ist die Eindämmung der Entwaldung und Waldschädigung, die durch Verbrauch und Produktion in der EU hervorgerufen wird. Dies wiederum dürfte die Treibhausgasemissionen und den weltweiten Verlust an biologischer Vielfalt verringern. Die Initiative zielt darauf ab, den Verbrauch von Produkten aus Lieferketten, die mit einer nach dem 31. Dezember 2020 aufgetretenen Entwaldung oder Waldschädigung in Verbindung gebracht werden, zu minimieren und die Nachfrage der EU nach legalen und „entwaldungsfreien“ Rohstoffen und Produkten zu erhöhen.

2.4.

In der vorgeschlagenen Verordnung werden die Begriffsbestimmungen für „Wald“, „Entwaldung“, „durch Pflanzung entstandener Wald“ und „Plantagenwald“ festgelegt, die sich auf die FAO-Definitionen dieser Begriffe stützen, jedoch mit einigen bedeutsamen Änderungen. Die Definition des Begriffs „Waldschädigung“ weicht erheblich von der entsprechenden FAO-Definition ab. Relevante Rohstoffe und Erzeugnisse dürfen nur dann auf dem Binnenmarkt in Verkehr gebracht oder bereitgestellt oder ausgeführt werden, wenn alle folgenden Bedingungen erfüllt sind:

die Erzeugnisse oder Rohstoffe sind entwaldungsfrei;

sie wurden gemäß den einschlägigen Rechtsvorschriften des Erzeugerlandes hergestellt; und

sie sind Gegenstand eines Sorgfaltsprüfungsberichts.

2.5.

Die „relevanten“ Rohstoffe und Erzeugnisse — der Anwendungsbereich der Verordnung — sind in Artikel 1 aufgeführt: Rinder, Kakao, Kaffee, Palmöl, Soja und Holz. Darüber hinaus bezeichnet Anhang 1 unter Bezugnahme auf den HS-Code des Erzeugnisses bestimmte „relevante Erzeugnisse“, die die betreffenden Rohstoffe enthalten, mit ihnen gefüttert wurden oder unter Verwendung dieser Rohstoffe hergestellt wurden.

Der Anwendungsbereich der Verordnung wurde nach einer Einschätzung der Parameter festgelegt, anhand derer der Beitrag der Union zur rohstoff- und produktbedingten Entwaldung und Waldschädigung am wirksamsten verringert werden kann, sowie in Anbetracht der (möglicherweise nicht gegebenen) Fähigkeit der Kommission, die etwaige Wirkung der Anwendung der Verordnung auf alle Folgeerzeugnisse zu untersuchen.

Der Anwendungsbereich für die in Anhang I aufgeführten Folgeerzeugnisse wird spätestens zwei Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung überprüft. Die Kommission kann delegierte Rechtsakte erlassen, um zusätzliche „relevante Erzeugnisse“ aufzunehmen.

2.6.

Die Sorgfaltspflicht für Akteure umfasst die Zusammenstellung von Informationen, Unterlagen und Daten sowie Maßnahmen zur Risikobewertung und Risikominderung. Zu den Informationen, die zur Erfüllung der Anforderungen der Verordnung erforderlich sind, gehören die Lieferanteninformationen, die Identifizierung des Erzeugerlandes und die Geolokalisierungskoordinaten aller Flächen, auf denen die relevanten Rohstoffe und Erzeugnisse hergestellt werden, sowie Datum und Zeitspanne der Produktion. KMU als Händler unterliegen weniger strengen Sorgfaltspflichten.

2.7.

Die Sorgfaltspflichtregelung ist ergebnisorientiert und verpflichtet die Marktteilnehmer, sich zu vergewissern, dass entweder kein oder nur ein „vernachlässigbares“ Risiko besteht, dass Rohstoffe und Produkte nicht legal und/oder entwaldungsfrei sind. Wenn Marktteilnehmer dieser Verpflichtung nicht nachkommen, dürfen sie die betreffenden Rohstoffe und Erzeugnisse weder auf dem Binnenmarkt in Verkehr bringen noch von dort ausführen.

2.8.

Mit der vorgeschlagenen Verordnung wird ein Länder-Benchmarking-System eingeführt, wodurch die Kommission Länder oder Landesteile unterhalb der Staatsebene je nach den Methoden der Entwaldung, die mit den betreffenden Produkten zusammenhängen, kategorisieren kann. Es gibt drei Risikostufen: gering, normal oder hoch. Die Pflichten der Marktteilnehmer und der einzelstaatlichen Behörden sind je nach Risikostufe des Erzeugerlandes oder der Erzeugerregion unterschiedlich. Die „vereinfachte Sorgfaltspflicht“ gilt für Länder oder Regionen mit geringem Risiko, während für die zuständigen Behörden bei Einfuhren aus Hochrisikoländern erhöhte Prüfungsanforderungen gelten.

2.9.

Die Verordnung verpflichtet die Mitgliedstaaten, durch ihre zuständigen Behörden wirksame Rohstoff- und Produktkontrollen zu gewährleisten, wozu auch die Aufstellung eines Plans gehört, der auf einem risikobasierten Ansatz beruht. Ebenso müssen die zuständigen Behörden Kontrollen der Marktteilnehmer durchführen. Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass die zuständigen Behörden über ausreichende Befugnisse und Mittel verfügen, um ihren Pflichten nachzukommen.

2.10.

In seiner Stellungnahme zu dem Verordnungsvorschlag will der EWSA die Haltung der Zivilgesellschaft zu dieser Verordnung wiedergeben.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission für eine Verordnung. Ein Großteil der weltweiten Entwaldung ist mit der Ausweitung landwirtschaftlicher Flächen und der Nachfrage nach Waren wie Rindfleisch, Holz, Palmöl und Soja verbunden. Die EU ist ein wichtiger Verbraucher dieser Produkte, von denen einige nicht nachhaltig produziert werden, was zu Entwaldung führt. Die Legislativinitiative der Kommission kommt daher zur rechten Zeit und ist sehr zweckdienlich.

3.2.

Der Ausschuss erwartet, dass eine EU-Verordnung ein starkes Signal an den Markt sendet und einen starken Anreiz für Lieferketten, in denen die EU ein wichtiger internationaler Käufer ist, schafft, die Produktion entwaldungsfrei zu machen und dies zu dokumentieren. Darüber hinaus werden durch gemeinsame EU-Vorschriften gleiche Wettbewerbsbedingungen im EU-Binnenmarkt geschaffen.

3.3.

Bei einigen Rohstoffen ist Europa bei weitem nicht der größte Importeur und hat weniger Einfluss auf die Organisation und Logistik der Lieferketten in den Erzeugerländern. Es sollte klar zwischen kleinen und großen Unternehmen unterschieden werden, was die Entwaldung betrifft. Der Einfluss der großen Unternehmen in der Lieferkette ist enorm.

Die politische Zusammenarbeit und Abstimmung mit anderen wichtigen Einfuhrländern zugunsten von entwaldungsfreien, nachfrageseitigen Initiativen sollten eine Hauptpriorität sein. Die bevorstehende COP27 könnte eine Gelegenheit bieten, zu einer politischen Einigung zu gelangen.

3.4.

Die Zusammenarbeit mit den Erzeugerländern ist umso wichtiger, um sie bei der Bekämpfung der Ursachen der Entwaldung zu unterstützen. Die Verringerung der Armut, die Schaffung und Verbesserung von Chancen auf ein gutes, würdevolles Leben einschließlich guter Arbeitsplätze sowie Investitionen in die Entwicklung ländlicher Gebiete wirken sich unmittelbar auf die Entwaldung aus. Beim Bemühen um eine Verringerung der Entwaldung ist der kulturellen Bedeutung des Waldes insbesondere für die Landbevölkerung und vom Wald abhängige Bevölkerungsgruppen Rechnung zu tragen. In Bezug auf die Gewinnung von Holz sollte die EU darum bemüht sein, nachhaltige Waldbewirtschaftungsformen implementieren zu helfen.

3.5.

In manchen Ländern wird ein Teil der Entwaldung von Bauern und Landbewohnern verursacht, die Holz als Brennstoff sowie zum Heizen verwenden oder kleine Parzellen für den Ackerbau und eine extensive Beweidung roden. Größtenteils ist die Entwaldung jedoch auf die Umwandlung von Wäldern für Zwecke der gewerblichen Landwirtschaft zurückzuführen. Die vorgeschlagene Verordnung würde nicht für Fälle gelten, in denen örtliche Bewohner Waldstücke, die ihnen gehören oder auf denen sie sich niedergelassen haben, roden, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, sofern dies nicht dazu führt, dass auf diesen Flächen angebaute Erzeugnisse in der EU in Verkehr gebracht werden. Allerdings werden Unterstützungsregelungen, einschließlich finanzieller Hilfe und Zusammenarbeit mit diesen Gruppen, für die weitere Verringerung der Entwaldung ebenfalls wichtig sein. Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass die Kosten, die durch die vorliegende Verordnung entstehen, nicht auf Kleinerzeuger abgewälzt werden dürfen, deren Einkommen kaum für den Lebensunterhalt reicht. Dabei ist es gleichgültig, ob ihre Erzeugnisse in den Export gehen oder nicht.

3.6.

Priorität muss es sein, insbesondere großflächige Praktiken oder die Praktiken einer großen Zahl kleiner und mittelgroßer Marktteilnehmer, bei denen der Wald für die Zwecke der gewerblichen Landwirtschaft oder andere industrielle Zwecke gefällt wird (z. B. Bergbau, Ausbeutung natürlicher Ressourcen oder damit zusammenhängende Infrastruktur), zu unterbinden. Sensibilisierung in der EU und in den Erzeugerländern für die Rolle und Bedeutung der Wälder bei der Bekämpfung des Klimawandels und bei der Kohlenstoffbindung ist wichtig und erfordert die finanzielle Unterstützung der Union. Weltweit bedarf es der Übertragung bewährter Verfahren, thematischer Brücken und zentraler Anlaufstellen auf Online-Plattformen. Allgemeine und berufliche Bildung und qualifizierte Arbeitskräfte sind von wesentlicher Bedeutung, um die Entwaldung langfristig zu verringern. Technische Unterstützungsprogramme zur Steigerung der Produktivität sollten als Alternative zu einem zunehmenden Flächenverbrauch für die Landwirtschaft in Betracht gezogen werden.

3.7.

Der EWSA fordert einen Schnellreaktionsmechanismus zur Unterstützung von Menschen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich inner- und außerhalb der EU für den Schutz der Wälder einsetzen. Der Schutz der Umwelt, der Wälder und Lebensräume sowie der Schutz vor drohenden Erdrutschen sind für die örtliche und indigene Bevölkerung mit hohen Risiken verbunden, denn Menschen werden getötet, weil sie sich für ihren Schutz und ihre Erhaltung einsetzen, sowohl außerhalb der EU als auch in einigen EU-Mitgliedstaaten.

3.8.

Die überwiegende Mehrheit der Bauern und Kleinerzeuger ist nicht an illegalen Praktiken oder Entwaldung beteiligt, und eine wachsende Zahl von ihnen arbeitet mit lokalen, europäischen und internationalen Partnern in der Dokumentation verantwortungsvoller Praktiken im Rahmen von Zertifizierungsprogrammen oder Landschaftsinitiativen zusammen.

Diesen Menschen dürfen daraus keine Nachteile erwachsen. Europa muss sich mit den Erzeugerländern zusammentun und seine Zusammenarbeit bei der Umsetzung der Maßnahmen anbieten, damit die vorgeschlagenen Anforderungen an die Rückverfolgbarkeit der Lieferkette erfüllt und nationale Systeme zur Rückverfolgbarkeit von Waren entwickelt werden können, sofern sie derzeit fehlen. Den Erzeugerländern sollte die Zeit eingeräumt werden, die für die Anpassung erforderlich ist.

3.9.

Bei der vorgeschlagenen Verordnung geht es nicht um eine „Ökologisierung“ der Lieferketten in der EU, bei der die eigentlichen Triebkräfte der Entwaldung ausgeklammert werden. Eine mögliche Folge des vorgeschlagenen Rechtsakts ist, dass sich einige europäische Marktteilnehmer dafür entscheiden können, ihre Erzeugnisse/Rohstoffe aus „sichereren“ Ländern (soweit möglich) zu beziehen, um die Gefahr zu vermeiden, dass sie mit Entwaldung oder Rechtswidrigkeit in Verbindung gebracht werden. In diesem Fall könnte der Umfang des EU-Handels mit Waldrisiko-Waren aus besonders risikobehafteten Ländern zurückgehen. Dies würde aber auch die Möglichkeiten der EU, Einfluss auf die Waldpolitik dieser Länder zu nehmen, verringern. Europa darf nicht die Chance verpassen, bei der Umstellung auf nachhaltigere Produktionsmuster in den Gebieten, in denen es am meisten darauf ankommt, mitzuhelfen, wenn Einkäufer für den europäischen Markt Gebiete mit nicht unerheblichem Entwaldungsrisiko gänzlich vermeiden.

3.10.

Die Verpflichtungen aus der Verordnung sollten auch auf den Finanzsektor ausgedehnt werden. Dadurch soll sichergestellt werden, dass Finanzdienstleistungen und Investitionen im Zusammenhang mit der Herstellung, der Verarbeitung, dem Handel oder dem Inverkehrbringen relevanter Rohstoffe und Erzeugnisse nicht mit Entwaldung, Waldschädigung oder einem Verstoß gegen nationale Rechtsvorschriften und internationale Menschenrechtsnormen in Verbindung stehen.

3.11.

Der europäische Grüne Deal, die Gemeinsame Agrarpolitik und die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ könnten künftig zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion in der EU führen (1). Die Ökologisierung Europas darf aber nicht zur Auslagerung der Umweltauswirkungen der Produktion führen. Europa muss in eine landwirtschaftliche Produktion investieren, die in der Lage ist, ihr Niveau zu halten oder noch einen Schlag zuzulegen und gleichzeitig grüner und nachhaltiger zu werden. Der nichtproduktive Bereich der GAP 2023 wird den Produktionsbedarf in der Welt und somit das Risiko der Entwaldung erhöhen.

3.12.

In Europa herrscht eine strukturelle Proteinknappheit. Sie muss derzeit durch importierte proteinreiche Futtermittel ausgeglichen werden, die jedoch zum Teil aus entwaldungsbedrohten Gebieten stammen.

Eine wachsende Weltbevölkerung und eine weltweit wachsende Mittelschicht treiben die globale Nachfrage zusätzlich in die Höhe. Europa muss nicht nur seine Eigenversorgungsquote an Pflanzen- und Futterproteinen erhöhen, sondern auch in Technologien investieren, die eine größere und zugleich flächenschonende Produktion von Protein gestatten.

Die EU sollte eine spezielle Strategie erarbeiten, möglicherweise in Verbindung mit Horizont Europa und dem EU-Innovationsfonds, um neue, alternative Proteinquellen zu entwickeln, ihre Produktion zu erhöhen und sie marktfähig zu machen. Dies könnte die Bioraffinierung von perennierendem Gras und die großflächige Produktion von Proteinen durch methangefütterte Mikroalgen umfassen.

3.13.

Die Landwirtschaft in Europa ist mit rasch steigenden Preisen für Betriebsmittel konfrontiert, was wahrscheinlich zu höheren Nahrungsmittelpreisen führen wird. Dies kommt zu den derzeit hohen Energiepreisen noch hinzu — mit Folgen für den Geldbeutel der Menschen in der EU. Bei der Wahl der Maßnahmen und des Zeitplans für die Umsetzung der Verordnung sollte darauf geachtet werden, dass die Lieferketten Zeit zur Anpassung erhalten, um abrupte Preissprünge zu vermeiden.

3.14.

Die Nachfrage nach Waldrisiko-Erzeugnissen dürfte mit dem Wachstum der Weltbevölkerung und der globalen Mittelschicht noch zunehmen. Verbraucherseitig sollte über die Bedeutung nachhaltiger, gesunder und ausgewogener Verbrauchsmuster aufgeklärt werden, wie in der Stellungnahme NAT/755 dargelegt (2).

3.15.

Die Verordnung muss mit den von der EU und ihren Handelspartnern getroffenen Abkommen im Einklang stehen. Als wichtiger Importeur und größter Exporteur ist ein gut funktionierendes, gerechtes und nachhaltiges Welthandelssystem im ureigenen Interesse der EU. Aus verwaltungsökonomischen Gründen sollte die Einhaltung der Anforderungen an Erzeugnisse, die von der gegenständlichen Verordnung erfasst werden, bei deren Einführung in die EU geprüft werden. Wenn Erzeugnisse einmal zugelassen wurden, sollten sie frei in der EU verkehren können, ohne dass zusätzliche Kontrollen notwendig sind.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Andere Ökosysteme wie Savannen, Feuchtgebiete, Torflandschaften, Mangroven oder Uferzonen haben einen hohen Erhaltungswert, doch ihr Zustand droht sich in vielen Fällen zu verschlechtern. Diese erhaltungswürdigen Schutzgebiete sollten in die Verordnung aufgenommen werden. Die EU und die Mitgliedstaaten sollten die Rettung der Primärwälder durch ihre Aufnahme in den Unesco-Schutz in Erwägung ziehen.

4.2.

Bestimmte wichtige Waldrisiko-Waren wie Mais, Zucker und Kautschuk fehlen im Anwendungsbereich der Verordnung. Die Liste der Folgeprodukte ist auf nur wenige beschränkt, was die Wirkung der Verordnung schmälert. Damit die Verordnung wirklich etwas nützt, müssen alle Erzeugnisse, die mit Entwaldung, Waldschädigung oder der Zerstörung wertvoller, schützenswerter Gebiete zusammenhängen, in den Anwendungsbereich der Verordnung aufgenommen werden. Ein besonderer Schwerpunkt muss auf Kautschuk, Mais, Bananen, Zuckerrohr und Fleisch von mit Soja gefütterten Tieren (z. B. Schweine- und Geflügelfleisch) liegen. Der EWSA fordert nachdrücklich eine Bestandsaufnahme der Holzmasse auf EU-Ebene. Diese Frage sollte in naher Zukunft geklärt werden. Wichtige Definitionen innerhalb dieser Verordnung (z. B. „entwaldungsfrei“ oder „Waldschädigung“) sollten mit den Definitionen der FAO im Einklang sein. Angepasste Definitionen oder Definitionen, die nur teilweise auf den FAO-Definitionen beruhen, schaffen lediglich Raum für Interpretationen und könnten damit zu Rechtsunsicherheit bei den Wirtschaftsteilnehmern führen.

4.3.

Für die Durchsetzung der Verordnung werden die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten verantwortlich sein. Die Effizienz der vorgeschlagenen Rechtsvorschriften hängt daher von der Prioritätensetzung und der operativen Leistungsfähigkeit der Behörden in den einzelnen Mitgliedstaaten ab. Die Bereitstellung der erforderlichen Mittel und der Aufbau der nötigen Systeme in allen Mitgliedstaaten müssen hohe Priorität erhalten. Besondere Investitionen in IT-Infrastruktur, personelle Ressourcen und die Verbesserung der operativen Kapazitäten der Behörden in jedem Mitgliedstaat für eine wirksame und angemessene Überwachung sowie Benchmarks und Risikobewertung sind wichtig. In diesem Zusammenhang empfiehlt sich der Einsatz künstlicher Intelligenz. Ein transparentes Monitoring-System (einschließlich der Veröffentlichung der Sorgfaltsprüfungsberichte in einer Form, die vertrauliche Geschäftsinformationen nicht beeinträchtigt) sollte von den Einrichtungen, für die die Verordnung gilt, umgesetzt werden. Der Stichtag muss ein Datum in der Vergangenheit sein, um eine weitere Entwaldung zu vermeiden.

4.4.

Die Verordnung konzentriert sich auf Entwaldung und Waldschädigung im Zusammenhang mit der Produktion und dem Verbrauch ausgewählter Rohstoffe und Produkte in Europa. Andere, sehr wichtige soziale und umweltbezogene Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der erfassten Produkte werden jedoch nicht angesprochen. Insbesondere stützt sich der gewählte Ansatz für den Schutz der Menschenrechte ausschließlich auf die in den nationalen Rechtsordnungen geltenden Gesetze. Dadurch gibt es große Lücken beim Schutz der Bodenrechte indigener Völker und örtlicher Bewohner und bei anderen internationalen Menschenrechtsstandards.

Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Ergänzung ihres Vorschlags durch Leitlinien für die Durchführung der Sorgfaltspflichten und von Risikobewertungen in den Lieferketten der einzelnen Rohstoffgruppen in Erwägung zu ziehen. Die Leitlinien sollten mögliche Informationsquellen enthalten, die die jeweiligen verantwortlichen Wirtschaftsteilnehmer konsultieren könnten, wie z. B. Zertifizierungssysteme, die bestimmte Mindeststandards erfüllen. Ziel sollte es sein, ein kohärentes System für verantwortungsvolle und entwaldungsfreie Lieferketten zu schaffen, beruhend auf einigen der wichtigen Ergebnisse, die in einer Reihe bestehender Zertifizierungssysteme erzielt wurden.

4.5.

Spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung wird die Kommission eine Bewertung der Auswirkungen auf die Landwirte, insbesondere auf Kleinerzeuger, indigene Völker und lokale Bevölkerungsgruppen durchführen und einschätzen, ob eventuell eine zusätzliche Unterstützung nötig ist. Der Vorschlag sieht auch eine Bewertung der Notwendigkeit und Durchführbarkeit zusätzlicher Instrumente zur Handelserleichterung vor, um die Verwirklichung der Ziele der Verordnung durch die Anerkennung von Zertifizierungssystemen zu unterstützen.

Der Ausschuss ist jedoch der Auffassung, dass die Rolle der Zertifizierung und ihr Nutzen für die Landwirte, einschließlich Kleinerzeuger und lokale Bevölkerungsgruppen, von wesentlicher Bedeutung für das Funktionieren der vorgeschlagenen Verordnung und ihre — beabsichtigte oder unbeabsichtigte — Wirkung sind. Sie müssen durch Ex-ante-Bewertungen abgedeckt werden, und die Schlussfolgerungen aus diesen Bewertungen müssen in die Verordnung einfließen, bevor sie in Kraft tritt.

4.6.

Ausnahmen für KMU und vereinfachte Sorgfaltspflichten im Rahmen des Länder-Benchmarking-Systems dürfen keine Lücken im System entstehen lassen, welche die Wirksamkeit der Verordnung untergraben könnten. Gleichzeitig sollte die Verordnung keinen unnötigen Verwaltungs- und Kostenaufwand verursachen. Eine öffentliche EU-Ratingagentur (3) für Menschen- und Umweltrechte im wirtschaftlichen Kontext kann kleine und mittelständische Unternehmen darin unterstützen, ihren Pflichten nachzukommen. Die Kommission sollte sorgfältig prüfen, ob die vorgeschlagenen Bestimmungen für die Geolokalisierung bis hin zu einzelnen Parzellen und Nachweispflichten in Ländern mit geringem Risiko verhältnismäßig oder notwendig sind. Manche Vorgaben würden in der EU nicht nur zu Konflikten mit den Mitgliedstaaten in Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip führen, sondern vor allem auch mit einer unverhältnismäßigen Belastung für Kleinerzeuger einhergehen, die in der EU einen bedeutenden Anteil an der Versorgung leisten. Im Sinne der Transparenz müssen die genauen Kriterien für die Einstufung veröffentlicht werden. Kleine Waldbesitzer inner- und außerhalb der EU müssen darin unterstützt werden, die nachhaltige Waldbewirtschaftung zu verbessern, Zugang zu nachhaltigen Finanzmitteln zu erhalten und nachhaltige waldbasierte Erzeugnisse anzubieten.

4.7.

Die Artikel 22 und 24 enthalten Bestimmungen über die Rücknahme vom Markt und die mögliche Vernichtung von Rohstoffen oder Erzeugnissen, die der Verordnung nicht entsprechen. Dies stünde in den meisten Fällen im Widerspruch zu anderen wichtigen politischen Grundsätzen und Zielen der EU, einschließlich der Vermeidung von Lebensmittelverschwendung. Der EWSA empfiehlt der Kommission daher, diese Bestimmungen zu überdenken, um die Zerstörung wertvoller Ressourcen zu vermeiden. Gemäß dem Verordnungsentwurf (Artikel 3) dürfte Holz aus einer rechtmäßigen (bewilligten) Waldrodung zum Zwecke der Schaffung einer landwirtschaftlichen Nutzfläche nicht in Verkehr gebracht werden. Es wäre an geeigneter Stelle klarzustellen, dass Holz aus bestimmten bewilligten Rodungsverfahren, in welchen die gesellschaftliche Notwendigkeit der Landnutzungsänderung festgestellt wird, nicht automatisch vom Vermarktungsverbot umfasst ist. Diese Bestimmungen sollten sich auf Bestimmungen stützen, die es im Forstrecht vieler Mitgliedstaaten gibt, und denen zufolge eine Umwandlung unter außergewöhnlichen Umständen auf der Grundlage von Kriterien wie Aufforstungsraten, Waldbewirtschaftung und Ausgleich durch Neuanpflanzungen zulässig ist.

4.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass ein gemeinsamer Ansatz der Mitgliedstaaten erforderlich ist, der sich auf EU-Leitlinien für finanzielle oder nichtfinanzielle Sanktionen stützt und gleichzeitig strafrechtliche Sanktionen für die schwerwiegendsten Rechtsverletzungen vorsieht. Außerdem müssen transparente Kriterien für die Festlegung der Sanktionen eingeführt und gefördert werden. Zusätzlich zu Geldstrafen und Sanktionen sollte die Verordnung vorsehen, dass Wirtschaftsbeteiligte nach nationalem Recht für Verstöße gegen die Bestimmungen der Verordnung haftbar gemacht werden können.

4.9.

Der von der Kommission erwähnte Begriff der Legalität ist zu weich, um die Menschenrechtslage anzugehen. Der EWSA ist der Auffassung, dass in diesen Rechtsvorschriften wirkungsvollere Instrumente, wie z. B. zivilrechtliche Haftung und Versicherung, erforderlich sind. Bei Einfuhren in die EU sollte es Überprüfungskriterien für die Arbeitsbedingungen, die Vereinigungsfreiheit und die gerechte Behandlung der Arbeitnehmer geben. Die Rechte der Arbeitnehmer, Gesundheit und Sicherheit, Gender-Fragen, ein planbarer beruflicher Werdegang, ein gerechtes Rentensystem und gute Arbeitsplätze für Arbeitnehmer in der Holzindustrie, für die vom Wald lebenden Bewohner und die indigene Bevölkerung müssen neben den Kriterien für nachhaltige Waldbewirtschaftung und Entwaldung berücksichtigt werden. Gerechte Grundbesitzverhältnisse und der Zugang zu Land sollten vorrangig sein. International anerkannte Menschenrechte sollten Teil der Sorgfaltspflichten, der Anforderungen an das Inverkehrbringen und der Benchmarking-Kriterien sein. Bei Zwangs- und Kinderarbeit ist besondere Wachsamkeit geboten — sie müssen beseitigt werden. Artikel 3 Buchstabe b sollte neben den nationalen Rechtsvorschriften auch international relevante Sozialklauseln und Menschenrechtskriterien berücksichtigen, die auf den Kernübereinkommen der IAO beruhen, insbesondere C 169 — Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker, 1989 (Nr. 169) und C 184 — Übereinkommen über den Arbeitsschutz in der Landwirtschaft, 2001 (Nr. 184) und andere internationale Menschenrechtsinstrumente (4). Dies sollte auch in Artikel 10 Absatz 2 des Vorschlags festgeschrieben werden.

4.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft eine aktive Rolle bei der Überwachung einer wirksamen Verringerung der Entwaldung zukommen sollte. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Europäische Ausschuss der Regionen sollten als Mitglieder in die Multi-Stakeholder-Plattform der Kommission berufen werden, der bei der Überwachung der Rechtsumsetzung eine zentrale Rolle zugewiesen werden sollte. Die an der Plattform beteiligten Interessenträger sollten mit Satellitendaten unterstützt werden, wobei zu beachten ist, wem die Daten gehören. Die Mitgliedstaaten müssen zur Ermittlung der Gesundheit und des Zustands der Wälder gemeinsam handeln.

Brüssel, den 23. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  https://publications.jrc.ec.europa.eu/repository/handle/JRC121368

(2)  Initiativstellungnahme des EWSA „Förderung einer gesunden und nachhaltigen Ernährung in der EU“ (ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 9).

(3)  Siehe Ziffer 1.15 der Initiativstellungnahme des EWSA „Ein verbindliches UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte“ (ABl. C 97 vom 24.3.2020, S. 9).

(4)  z. B. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Europäische Sozialcharta, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Leitlinien der FAO für eine verantwortungsvolle Verwaltung der Besitz- und Nutzungsrechte von Land, Fischereien und Wäldern im Kontext der nationalen Ernährungssicherheit.


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/95


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verbringung von Abfällen und zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1257/2013 und (EU) 2020/1056“

(COM(2021) 709 final — 2021/0367 (COD))

(2022/C 275/15)

Berichterstatter:

Anastasis YIAPANIS

Befassung

Europäisches Parlament, 22.11.2021

Rat, 1.12.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 192 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

9.2.2022

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

160/2/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Kommission für eine neue Verordnung und die dazugehörige Mitteilung und hält den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt für eine Hauptpriorität der EU. Soweit technisch möglich, sollten in der Union erzeugte Abfälle auch in der Union auf umweltgerechte, wirtschaftlich tragfähige und sozialverträgliche Weise recycelt werden.

1.2.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, das System für den elektronischen Datenaustausch (EDI) so bald wie möglich anzunehmen, sich auf die Annahme harmonisierter Kriterien für Verfahren der Vorabzustimmung zu einigen und die Kommission zu ermächtigen, delegierte Rechtsakte für eine gemeinsame Abfalleinstufung zu erlassen. Es sollten unverzüglich Mittel und technische Hilfe für den Ausbau der operativen Kapazitäten bereitgestellt werden.

1.3.

Es ist dringend eine Umstellung auf neue Geschäftsmodelle erforderlich, die dem Planeten mehr zurückgeben, als sie ihm nehmen. Die menschliche Gesundheit, die Sicherheit und die Arbeitsbedingungen müssen gut geschützt und überwacht werden. Der EWSA fordert Investitionen in die Ausbildung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durch eine spezifische Zuweisung im Rahmen des ESF+.

1.4.

Der EWSA fordert bessere Finanzierungsmöglichkeiten für die Einrichtung und/oder Modernisierung der Recyclinganlagen der EU und die Erforschung innovativer Technologien für die Wiederverwendung und das Recycling von Abfällen. Die Stärkung der Recyclingkapazitäten innerhalb der EU-Grenzen wird zur Verringerung des CO2- und ökologischen Fußabdrucks beitragen und zu erhöhter Beschäftigung in diesem Sektor führen.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine harmonisierte Berechnung der Sicherheitsleistungen natürlich alle Risiken der Abfallverbringung abdecken sollte, aber die Unternehmen, insbesondere die KMU, nicht übermäßig belasten darf.

1.6.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission für Überprüfungen durch Dritte, die von in der EU niedergelassenen oder (durch von der EU benannte Stellen) zugelassenen Prüfern mit entsprechender Qualifikation sowohl auf Anlagen- als auch auf Länderebene durchgeführt werden, und vertritt die Auffassung, dass die Sozialpartner und die einschlägigen NRO die Verfahren beobachten sollten. Ein fester Überwachungs-, Beschwerde- und Sanktionsmechanismus sollte eingerichtet werden.

1.7.

Der EWSA spricht sich für einen Übergangszeitraum von höchstens zwei Jahren nach Annahme der Verordnung aus. Darüber hinaus sollte die Frist, innerhalb derer die für die Durchfuhr zuständigen Behörden gültige Einwände gegen eine geplante Verbringung zur Verwertung erheben können, auf 10 Tage verkürzt werden, und Einwände gegen dieselbe Verbringung sollten nur einmal möglich sein.

1.8.

Der Ausschuss fordert die Ausweitung des EDI-Systems auf alle Abfallverbringungen, die für die Ausfuhr, Einfuhr und Durchfuhr bestimmt sind. Das System sollte so bald wie möglich, bereits vor Ablauf der von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen zweijährigen Frist, einsatzbereit sein. Daher sind angemessene personelle und technische Ressourcen erforderlich.

1.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Ausfuhr hochwertiger recycelbarer Abfälle, insbesondere die Ausfuhr von Abfällen mit einem hohen Gehalt an kritischen Rohstoffen, die Nachhaltigkeit der EU beeinträchtigt und ihre globale Wettbewerbsfähigkeit untergräbt. Es muss in die Abfallbewirtschaftungsinfrastruktur investiert werden, insbesondere in den Ländern, in denen Verfahren wegen Verstößen gegen die Verordnung eingeleitet wurden. Eine grundlegende Bewertung der Ausfuhrmengen von Abfällen sollte durchgeführt werden, um Veränderungen der Abfallverbringung zu erkennen und somit die EU zu schützen und die Verwirklichung der im Grünen Deal und im Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft beschriebenen Ziele der EU zu unterstützen.

1.10.

Alle OECD-Mitgliedstaaten und Nicht-OECD-Staaten sollten die gleichen strengen Kriterien in Bezug auf Umweltverpflichtungen erfüllen, wie sie in der EU gelten, und es sollte nachgewiesen werden, dass alle Empfängerstaaten die im Inland anfallenden Abfälle bereits auf umweltgerechte, den Standards in der EU ähnliche Weise sowie unter Beachtung der Kernübereinkommen und Arbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) bewirtschaften.

1.11.

Der EWSA unterstützt die Durchsetzung der Inspektions- und Untersuchungsverfahren und fordert eine uneingeschränkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und mit der Union sowie ein einheitliches System wirksamer und den Verstößen angemessener Sanktionen. Nichtvertrauliche Daten sollten öffentlich zugänglich sein und allen Interessenträgern, einschließlich Sozialpartnern, Nichtregierungsorganisationen, Gemeinden und Bürgerinnen und Bürgern, zur Verfügung gestellt werden.

1.12.

Die Hersteller müssen Anreize erhalten, ihre Produkte so zu gestalten, dass sie für Wiederverwendung und Recycling geeignet sind. Es sind nationale und europäische Strategien, an denen die Sozialpartner, KMU-Vertreter und zivilgesellschaftliche Organisationen beteiligt sind, erforderlich, die über kollaborative Plattformen gefördert werden müssen. Die Europäische Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft (1) ist diesbezüglich ein hervorragendes Beispiel.

1.13.

Der EWSA ersucht die Europäische Kommission, die Möglichkeit zu prüfen, eine Marktbeobachtungsstelle für Sekundärrohstoffe mit beratender Funktion für die Europäische Kommission einzurichten, die Strategien für die Entwicklung der Branche sowie Wege dafür analysieren und empfehlen kann, die bestehenden Engpässe zu beseitigen und wertvolle Sekundärrohstoffe in der EU zu halten.

1.14.

Schließlich fordert der Ausschuss die Durchführung einer gründlichen Folgenabschätzung zur Umsetzung der Verordnung fünf Jahre nach ihrem Inkrafttreten.

2.   Einführung und allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der Verbrauch von Materialien wie Metallen, Mineralien, Biomasse und fossilen Brennstoffen wird sich voraussichtlich bis 2060 verdoppeln (2), was wiederum bis 2050 zu einem Anstieg des jährlichen Abfallaufkommens um 70 % führen wird (3). Länder mit hohem Einkommen sind weltweit die größten Ausführer von Abfällen, während die Entwicklungsländer die größten Einführer sind (4).

2.2.

Herstellungsunternehmen geben rund 40 % der gesamten Produktionskosten für Rohstoffe aus. Heute stammen nur 12 % der in der EU-Industrie eingesetzten Materialressourcen aus recycelten Produkten und rückgewonnenen Materialien (5). Das größte Hindernis für den Einsatz von Sekundärrohstoffen ist ihr hoher Preis im Vergleich zu neuen Rohstoffen.

2.3.

Am 17. November 2021 veröffentlichte die Europäische Kommission den Vorschlag für eine Verordnung über die Verbringung von Abfällen und zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1257/2013 (6) und (EU) 2020/1056 (7) (Verordnung). Sie ersetzt infolge von Forderungen des Europäischen Parlaments (8) und des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (9) nach einer Überarbeitung die 15 Jahre alte Abfallverbringungsverordnung (EG) Nr. 1013/2006 (10) und baut auf den im europäischen Grünen Deal (11) und im Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft angekündigten Zielen (12) auf.

2.4.

Wachsende Abfallmengen und die wirtschaftliche Entwicklung haben zu einer Zunahme der Ausfuhren von Abfällen aus der EU in Drittländer geführt, was sich wiederum in den Bestimmungsländern negativ auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit ausgewirkt hat. Die Verordnung zielt darauf ab, die Verfahren für Verbringungen innerhalb der EU zur Wiederverwendung und zum Recycling zu vereinfachen und zu beschleunigen, klare Vorschriften für die Aus-, die Ein- und die Durchfuhr von Abfällen einzuführen und den derzeitigen EU-Rahmen für die Bekämpfung illegaler Verbringungen durchzusetzen.

2.5.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission für eine neue Verordnung und die dazugehörige Mitteilung und hält den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt für eine oberste Priorität der EU. Die EU sollte als Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel in der Lage sein, das Abfallaufkommen in ihrem Hoheitsgebiet zu bewältigen, anstatt die Abfälle in andere Länder zu exportieren. Es ist dringend eine Umstellung auf neue Geschäftsmodelle erforderlich, die dem Planeten mehr zurückgeben, als sie ihm nehmen. Hinzukommen müsste ein nachhaltiges Verhalten aller Beteiligten. Investitionen in umweltgerechte Abfallbewirtschaftungsinfrastrukturen sollten auch weiterhin Priorität haben, insbesondere in den Ländern, in denen Verfahren wegen Verstößen gegen die Verordnung eingeleitet wurden.

2.6.

Auf wirtschaftlicher Seite können Abfälle einen erheblichen Wert durch die Verwertung von Sekundärrohstoffen haben, wodurch sie einen Beitrag zur Kreislaufwirtschaft der EU leisten und die Abhängigkeit von bestimmten Primärrohstoffen verringern und gleichzeitig einen geringeren Energieverbrauch bei der Gewinnung von Primärrohstoffen in Europa und eine Verringerung der CO2-Emissionen bewirken. Darüber hinaus ist der EWSA der Auffassung, dass die Ausfuhr hochwertiger recycelbarer Abfälle, insbesondere die Ausfuhr von Abfällen mit einem hohen Gehalt an kritischen Rohstoffen, die Nachhaltigkeit der EU beeinträchtigt und ihre globale Wettbewerbsfähigkeit untergräbt, da externen Wettbewerbern wertvolle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.

3.   Verbringung von Abfällen innerhalb der EU

3.1.

Die von der Kommission durchgeführte Konsultation der Interessenträger hat die Notwendigkeit

der Digitalisierung der Notifizierungsverfahren;

einer Aktualisierung der beschleunigten Verfahren;

von gemeinsamen und transparenten Vorschriften für die Einstufung von Abfällen und die Berechnung der Sicherheitsleistungen;

einer Abstimmung auf den Grundsatz der Nähe und die Abfallhierarchie deutlich gemacht.

3.2.

Eine fragmentierte Umsetzung der Verordnung von 2006 in der gesamten EU hat zu langwierigen Verfahren für die Verbringung von Abfällen innerhalb der EU und zu einer kontinuierlichen Bürokratie geführt. Dies bringt für die Wirtschaftsbeteiligten Verzögerungen und finanzielle Verluste mit sich, was sie von der Verbringung von Abfällen zur stofflichen Verwertung innerhalb der EU abhält.

3.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass in der Union erzeugte Abfälle, soweit technisch möglich, auf umweltgerechte, wirtschaftlich tragfähige und sozialverträgliche Weise innerhalb der Union recycelt werden sollten, wobei stets die Umwelt-, Gesundheits- und Sicherheitsstandards zu beachten sind. Ein größeres Volumen an intern verbrachten Abfällen und schnellere Verfahren werden zu einer stärkeren Kreislaufwirtschaft in der Union führen, zur Wettbewerbsfähigkeit und strategischen Autonomie der EU beitragen und die Grundlage für neue Arbeitsplätze schaffen.

3.4.

Die Stärkung der Recyclingkapazitäten innerhalb der EU-Grenzen ist von größter Bedeutung und wird dazu beitragen, den CO2- und ökologischen Fußabdruck zu verringern. Sie könnte auch zu mehr Beschäftigung in diesem Sektor führen; die von der Europäischen Kommission vorgelegten Zahlen, wonach zwischen 9 000 und 23 000 neue Arbeitsplätze in den Bereichen Recycling und Wiederverwendung geschaffen werden, sind vielversprechend und könnten bei einem angemessenen Ausbau der Recyclingkapazitäten sogar noch höher ausfallen.

3.5.

Der Ausschuss hält es für völlig inakzeptabel, dass sich einige Mitgliedstaaten nach wie vor auf papiergestützte Verfahren stützen und manchmal sogar Regionen ein und desselben Mitgliedstaats die Durchsetzungsverfahren unterschiedlich auslegen. Daher fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, so bald wie möglich die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen digitalen Lösungen einzuführen und für einen reibungslosen Übergang zu einem harmonisierten und transparenten europäischen Rahmen zu sorgen, sich auf die Annahme harmonisierter Kriterien für Vorabzustimmungsverfahren zu einigen und die Kommission zu ermächtigen, delegierte Rechtsakte für eine gemeinsame Abfalleinstufung zu erlassen. Es sollten unverzüglich Mittel und technische Hilfe für den Ausbau der operativen Kapazitäten bereitgestellt werden.

3.6.

Die Kommission schlägt vor, das Verfahren zur Berechnung der Sicherheitsleistungen für die Verbringung von Abfällen zu harmonisieren. Der EWSA begrüßt, dass dies die Planungssicherheit der Unternehmen verbessern wird, fordert jedoch eine angemessene Berechnung dieser Beträge in einer Weise, die für die Wirtschaftsteilnehmer keine zusätzliche Belastung bedeutet. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Sicherheitsleistungen natürlich alle Risiken der Abfallverbringung abdecken sollten, die Unternehmen jedoch nicht übermäßig belasten dürfen, zumal viele KMU mit begrenzter Liquidität betroffen sind.

3.7.

Schließlich fordert der EWSA von der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten bessere Finanzierungsmöglichkeiten für die Einrichtung und/oder Modernisierung der Recyclinganlagen in der EU und für die Erforschung innovativer Technologien für die Wiederverwendung und das Recycling von Abfällen. Es gilt, unverzüglich Endmärkte für durch Recycling gewonnene Rohstoffe zu entwickeln, um einen voll funktionsfähigen Sekundärrohstoffmarkt zu schaffen, der Altprodukte in neue Rohstoffe für die Produktion umwandelt. Die EU sollte darüber hinaus die Verfügbarkeit und Qualität von Rezyklaten verbessern und dabei den Schwerpunkt darauf legen, dass sich ein Werkstoff dazu eignet, seine inhärenten Eigenschaften nach dem Recycling beizubehalten und Primärrohstoffe in künftigen Anwendungen zu ersetzen. Dies führt zu einer Erhöhung der Verarbeitungskapazität in der Union und zu neuen hochwertigen und grünen Arbeitsplätzen und macht es möglich zu ermitteln, welche Art von Rohstoffen keinen verwertbaren Abfall erzeugt, und diese auf lange Sicht zu beseitigen oder zu ersetzen.

4.   Ausfuhr, Einfuhr und Durchfuhr von Abfallverbringungen

4.1.

In den letzten 17 Jahren ist die Menge der in Drittländer ausgeführten Abfälle um 75 % auf etwa 33 Mio. Tonnen/Jahr gestiegen (13), wobei sehr oft wenig oder gar nicht berücksichtigt wurde, wie die Bestimmungsanlagen funktionieren und Abfälle behandeln. In die EU eingeführte Abfälle belaufen sich auf 16 Mio. Tonnen/Jahr, während 70 Mio. Tonnen Abfall innerhalb der EU gehandelt werden.

4.2.

Die EU ist Vertragspartei von mehr als 80 Freihandelsabkommen (FHA), wobei rund 40 anhängig sind oder noch ausgehandelt werden. Der EWSA hält es für äußerst unangemessen, dass in nur zwei von ihnen ausdrücklich die Kreislaufwirtschaft erwähnt wird (14), und fordert, in allen bestehenden und künftigen Freihandelsabkommen mehr Gewicht auf die Stärkung der Kapitel über nachhaltige Entwicklung zu legen und deren wirksame Umsetzung sicherzustellen.

4.3.

Die erst vor relativ kurzer Zeit von China, Indien, Thailand, Vietnam und Malaysia verhängten Beschränkungen für den Handel mit Kunststoffabfällen haben die übermäßige Abhängigkeit der EU von der Behandlung von Abfällen in Drittländern deutlich gemacht. Die inakzeptable Abhängigkeit von Abfallausfuhren macht die EU-Wirtschaft anfällig für Unterbrechungen in den Lieferketten.

4.4.

Bei der Ausfuhr von Abfällen sollten vollständige Transparenzvorschriften eingehalten und öffentlich zugängliche Informationen über die umweltgerechten Bewirtschaftungsstandards im Bestimmungsland bereitgestellt werden. Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, externe Abfallentsorgungsanlagen durch Dritte überprüfen zu lassen, und ist der Auffassung, dass darin detaillierte Bestimmungen über den ökologischen Fußabdruck und die Arbeitsbedingungen aufgenommen werden sollten. Bei Produkten, die zur Wiederverwendung verbracht werden, sollte das Verursacherprinzip beibehalten werden, und die Gebühren für die erweiterte Herstellerverantwortung sollten an das Produkt gebunden sein, da sie von den Verbrauchern gezahlt wurden, um die Abfallphase mitabzugelten, unabhängig davon, wo sie sich vollzieht. Darüber hinaus sollten die Sozialpartner und die einschlägigen NRO in die Überprüfungen einbezogen werden, während offene Dateninfrastrukturen finanziert und zur Verfügung gestellt werden müssen. NRO und anderen einschlägigen Interessenträgern sollte ein besserer Zugang zu Beschwerdemechanismen gewährt werden.

4.5.

Der EWSA empfiehlt, dass in der EU niedergelassene oder zugelassene Prüfer (durch von der EU benannte Stellen und mit entsprechender Qualifikation) Überprüfungen auf Anlagen- und Länderebene durchführen, um dafür zu sorgen, dass die Gesundheits-, Umwelt- und Sozialstandards der EU-Staaten im Abfall-Bestimmungsland eingehalten werden. Es sind detailliertere Überprüfungsverfahren erforderlich, und die Überwachungskriterien, die Vorgehensweise bei Beschwerden und die Sanktionen sind festzulegen. Außerdem ist es erforderlich, die (mengenmäßigen und risikobasierten) Bedingungen zu benennen, die eine Überprüfung auslösen.

4.6.

Der Ausschuss fordert die KMU auf, Anlagen in Drittländern über Organisationen zur Herstellerverantwortung (PRO) überprüfen zu lassen, da so die finanzielle Belastung durch solche Verfahren verringert werden dürfte. Die menschliche Gesundheit, die Sicherheit und die Arbeitsbedingungen müssen gut geschützt und überwacht werden. Investitionen in die Ausbildung und das Know-how der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollten durch eine spezifische Zuweisung im Rahmen des ESF+ abgedeckt werden.

4.7.

Der EWSA erkennt an, dass die Behörden und die Wirtschaftsakteure für die Umsetzung und Einhaltung der neuen Vorschriften eine gewisse Anpassungszeit benötigen. Er hält die vorgeschlagene Dreijahresfrist nach Inkrafttreten der Verordnung allerdings nicht für ehrgeizig genug und spricht sich für einen Übergangszeitraum von höchstens zwei Jahren aus.

4.8.

Die Europäische Kommission hat eine Frist von 30 Tagen vorgeschlagen, innerhalb derer die für die Durchfuhr zuständigen Behörden gültige Einwände gegen eine geplante Verbringung zur Verwertung erheben können. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Frist auf 10 Tage verkürzt werden sollte, um den Betriebsablauf zu sichern und unnötige Verzögerungen zu vermeiden. Darüber hinaus fordert der EWSA, diesen Behörden klare Einschränkungen aufzuerlegen, damit sie nicht mehr als einmal gegen dieselbe Verbringung Einspruch erheben.

4.9.

Der Ausschuss fordert die Ausweitung des EDI-Systems auf alle Abfallverbringungen, die für die Ausfuhr, Einfuhr und Durchfuhr bestimmt sind. Dies ist die einzige Möglichkeit, die Rückverfolgbarkeit und Transparenz dieser Prozesse so zu gewährleisten, dass dieselben Regeln wie bei internen Verbringungen eingehalten werden. Die Kommission und die Mitgliedstaaten müssen alles daransetzen, dieses System so bald wie möglich, bereits vor Ablauf der vorgeschlagenen Frist von zwei Jahren, einzuführen. Dazu fordert der EWSA angemessene personelle und technische Ressourcen.

4.10.

Die Tatsache, dass bestimmte Bestimmungsländer unter Umständen nicht nachweisen müssen, inwieweit sie die wichtigsten Voraussetzungen in Bezug auf den Schutz der menschlichen Gesundheit und den Umweltschutz erfüllen, nur weil sie Mitglieder der OECD sind, steht im Widerspruch zum Geist der Reform und könnte das gesamte System untergraben. Der EWSA fordert, dass OECD-Mitgliedstaaten und Nicht-OECD-Staaten für die Zwecke der Ausfuhr von Abfällen denselben strengen Kriterien in Bezug auf Umweltverpflichtungen unterliegen sollten, wie sie in der EU gelten. Darüber hinaus fordert der EWSA Nachweise dafür, dass alle Empfängerstaaten die im Inland anfallenden Abfälle bereits auf umweltgerechte, den Verfahrensweisen in der EU ähnliche Weise bewirtschaften und die Kernübereinkommen und Arbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) einhalten.

5.   Illegaler Abfallhandel

5.1.

Die in den einzelnen Mitgliedstaaten angewandten unterschiedlichen Verfahren zur Durchsetzung der Verordnung von 2006 haben zu einer Zunahme der illegalen Abfallverbringung geführt. Ihr Umfang ist schwer zu beziffern, aber es wird davon ausgegangen, dass 30 % aller Abfallverbringungen in Europa illegal sind und sich ihr Wert auf rund 9,5 Mrd. EUR jährlich beläuft (15).

5.2.

Die Konsultation der Interessenträger hat ergeben, dass sie strengere Verfahren zur Bekämpfung der illegalen Verbringung von Abfällen nachdrücklich unterstützen. Für die Bekämpfung der Umweltkriminalität sowie des illegalen Abfallhandels ist eine verstärkte Kontrolle der Ausfuhren, Einfuhren und Durchfuhren von Abfällen erforderlich. Der EWSA begrüßt und unterstützt die Durchsetzung der Inspektions- und Untersuchungsverfahren und fordert eine uneingeschränkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und mit der Union im Einklang mit der neuen EU-Strategie zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität 2021-2025 (16). Durch die Einbeziehung des OLAF lässt sich der in einigen Mitgliedstaaten bestehende Personalmangel ausgleichen und ein wirksamerer Rahmen für die Zusammenarbeit gewährleisten.

5.3.

Illegaler Abfallhandel ist nach wie vor eine der schwersten Umweltstraftaten und gilt als eine sehr gewinnträchtige Tätigkeit ohne großes Risiko, aber mit verheerenden Folgen für die menschliche Gesundheit und die Umwelt. Der Europäische Rechnungshof hat festgestellt, dass nach wie vor wenig Fälle illegalen Abfallhandels aufgedeckt werden und die Strafverfolgungsquote niedriger als bei anderen Arten von Straftaten ist und dass die verhängten Sanktionen nicht verhältnismäßig und abschreckend sind (17). Dies liegt vor allem daran, dass die Abfallverbringungsketten sehr komplex sind und sich nur schwer beweisen lässt, dass sich die Beteiligten der illegalen Tätigkeit bewusst waren, zumal Abfälle mehrere Male die Eigentümer und Länder wechseln können, bevor sie illegal entsorgt werden.

5.4.

Die Interessenträger aus der Wirtschaft und die NRO sind in der Lage, mögliche illegale Abfallverbringungen zu verfolgen und zu melden, sobald sie Zugang zu Daten haben. Der EWSA fordert daher, dass nichtvertrauliche Daten allen Interessenträgern, einschließlich Sozialpartnern, Nichtregierungsorganisationen, Gemeinden und Bürgerinnen und Bürgern, zugänglich gemacht werden. Der EWSA ist der Ansicht, dass eine umfassende Datenerhebung und mehr Transparenz zu einer verstärkten Kontrolle und einer Verringerung der illegalen Verbringung von Abfällen führen werden.

5.5.

Der EWSA hält es jedoch für erforderlich, klar zu unterscheiden zwischen den ermittelten illegalen Händlern und den Marktteilnehmern, die — wie bereits in der Vergangenheit geschehen — eines menschlichen Fehlers bei der Dokumentation, insbesondere in Bezug auf Anhang VII (18), für schuldig befunden wurden. Der EWSA fordert ein harmonisiertes Sanktionssystem, das wirkungsvoll ist und in einem angemessenen Verhältnis zum Verstoß steht.

6.   Schlussbemerkungen

6.1.

Mittlerweile dürfte jedem bewusst sein, dass wir zu viel Abfall produzieren, wozu noch der Mangel an neuen natürlichen Ressourcen kommt. Der EWSA fordert einen Rechtsrahmen, der Anreize für die Verwendung von recycelten Materialien schafft, was wiederum dazu beitragen wird, die CO2-Emissionen zu senken und zu verhindern, dass wertvolle Abfälle auf Deponien landen. Die Nutzung von Abfällen als Ressource ist ein Schlüsselelement des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft, und der EWSA hat bereits erklärt: „Um die wirtschaftliche Entwicklung vom Verbrauch natürlicher Ressourcen und den daraus resultierenden Umweltauswirkungen abzukoppeln, muss sich die Union ehrgeizigere Ziele für eine effizientere Ressourcennutzung in den Produktionssystemen setzen.“ (19)

6.2.

Im Einklang mit den Grundsätzen der Kreislaufwirtschaft fordert der Ausschuss Legislativvorschläge, die den Herstellern Anreize dafür bieten, ihre Produkte so zu gestalten, dass sie für Wiederverwendung und Recycling geeignet sind, und kreislauforientierte Geschäftsmodelle zu entwickeln. Unter Einbeziehung der Sozialpartner, von KMU-Vertretern und von Organisationen der Zivilgesellschaft müssen europäische und nationale Strategien und Rechtsrahmen konzipiert werden, mit denen Anreize für diese Umstellung geschaffen werden und gegen die vorzeitige Obsoleszenz von Produkten angegangen werden kann. Der Übergang zur Kreislaufwirtschaft bedeutet, einerseits den Wert der Produkte länger in der Wirtschaft zu halten und andererseits den Einsatz von Sekundärrohstoffen zu erhöhen. Daher ist unbedingt ein besserer Zugang zu innovativen Lösungen für die Umwandlung von Abfällen in Sekundärrohstoffe sicherzustellen, der über Online-Plattformen (wie die Europäische Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft) und den Austausch bewährter Verfahren gefördert werden muss.

6.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Einführung des EDI absolut notwendig ist und mit der digitalen Strategie der EU (20) im Einklang steht, und fordert eine rasche Umsetzung, da sie wirtschaftliche Verluste für Unternehmen verringern und schnellere Verfahren und eine Qualitätsüberwachung gewährleisten kann. Seines Erachtens wird mit dem elektronischen System zudem für größere Transparenz und höhere Effizienz gesorgt, die Rückverfolgbarkeit der Daten verbessert, ein Rahmen für eine intensive Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten geschaffen und die Entwicklung robuster Abfallmärkte gefördert. Ferner schlägt er vor, moderne Technologien für die Verkehrsüberwachung (IoT und Satelliten) sowie die Blockchain-Technologie für die Datensicherheit einzusetzen.

6.4.

Es muss klar zwischen Abfallverbringungen zur Wiederverwendung und zum Recycling und Verbringungen für weniger hochwertige Verwertungsformen wie Verbrennung unterschieden werden. Es ist unbedingt notwendig, die Verbringung von Abfällen unter falschen Angaben von Anfang an mit den richtigen Untersuchungsinstrumenten und klaren Kriterien zu unterbinden.

6.5.

Der Ausschuss ersucht die Europäische Kommission, die Möglichkeit zu prüfen, eine Marktbeobachtungsstelle für Sekundärrohstoffe einzurichten, die Strategien für die Entwicklung der Branche und Wege zur Beseitigung der bestehenden Engpässe analysieren und empfehlen kann. Die Beobachtungsstelle sollte alle einschlägigen europäischen Interessenträger einbeziehen und für die Kommission beratend tätig sein.

6.6.

Schließlich ist der EWSA der Auffassung, dass die Europäische Kommission fünf Jahre nach dem Inkrafttreten der Verordnung eine gründliche Folgenabschätzung zu ihrer Umsetzung vornehmen sollte.

Brüssel, den 23. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  https://circulareconomy.europa.eu/platform/en.

(2)  OECD (2018), Global Material Resources Outlook to 2060.

(3)  World Bank: A Global Snapshot of Solid Waste Management to 2050.

(4)  The Institute for European Environmental policy: EU circular economy and trade.

(5)  Eurostat — Circular Economy in the EU.

(6)  ABl. L 330 vom 10.12.2013, S. 1.

(7)  ABl. L 249 vom 31.7.2020, S. 33.

(8)  Europäisches Parlament: Abfallverbringungsverordnung Überarbeitung der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 über die Verbringung von Abfällen.

(9)  Stellungnahme des EWSA zur Widerstandsfähigkeit der EU bei kritischen Rohstoffen (ABl. C 220 vom 9.6.2021, S. 118).

(10)  ABl. L 190 vom 12.7.2006, S. 1.

(11)  COM(2019) 640 final.

(12)  COM(2020) 98 final.

(13)  Mitteilung: Unser Abfall — unsere Verantwortung.

(14)  Die FHA mit Mexiko und Neuseeland.

(15)  Fragen und Antworten zu den neuen EU-Vorschriften über die Verbringung von Abfällen.

(16)  EU-Strategie zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität 2021-2025.

(17)  Analyse Nr. 4/2020: EU-Maßnahmen zur Lösung des Problems der Kunststoffabfälle.

(18)  Anhang VII — Mitzuführende Informationen für die Verbringung von Abfällen.

(19)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Umsetzung des EU-Umweltrechts in den Bereichen Luftqualität, Wasser und Abfall“, ABl. C 110 vom 22.3.2019.

(20)  Die europäische Digitalstrategie — Gestaltung der digitalen Zukunft Europas.


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/101


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: „Fit für 55“: auf dem Weg zur Klimaneutralität — Umsetzung des EU-Klimaziels für 2030

(COM(2021) 550 final)

(2022/C 275/16)

Berichterstatter:

Cillian LOHAN und Stefano MALLIA

Befassung

Europäische Kommission, 13.9.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

9.2.2022

Verabschiedung im Plenum

24.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

198/2/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Für die Umstellung auf eine klimaneutrale Gesellschaft müssen wir ein Modell wählen, das zu einer florierenden Wirtschaft führt. Wenn wir wollen, dass die EU Vorreiter ist und alle übrigen Länder ihrem Beispiel folgen, sollten wir uns um ein möglichst erfolgreiches Modell bemühen, ein Modell, das wirtschaftlich, sozial und ökologisch gerecht und nachhaltig ist. Ein Modell, das nicht zu Wachstum auf der Grundlage nachhaltiger Entwicklung führt, würde die EU auf internationaler Ebene isolieren und es anderen globalen Konkurrenten ermöglichen, die Führung zu übernehmen. Die EU-Klimadiplomatie wird erheblich dazu beitragen, den europäischen Ansatz bekannt zu machen und für einen fairen Wettbewerb zwischen der EU und den konkurrierenden Kontinenten zu sorgen.

1.2.

Die Umsetzung der überarbeiteten Ziele für 2030, wie in dem Paket „Fit für 55“ vorgeschlagen, wird sich in unterschiedlicher Weise auf die einzelnen Branchen, Regionen, Gemeinwesen und einzelnen Menschen in ganz Europa auswirken. Um diesbezüglichen Bedenken entgegenzuwirken, empfiehlt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) der Europäischen Kommission, eine detaillierte Bestandsaufnahme und Analyse der Auswirkungen des Übergangs auf die Beschäftigung und die Kompetenzen in den verschiedenen Ländern, Regionen und Branchen vorzunehmen, auch in Bezug auf Unterauftragnehmer und nachgelagerte Wertschöpfungsketten. Ein Patentrezept für alle gibt es nicht, deshalb müssen die Maßnahmen zur Förderung des Übergangs maßgeschneidert sein und den verschiedenen Gegebenheiten in ganz Europa Rechnung tragen, wobei zu bedenken ist, dass gleiche Rahmenbedingungen herrschen und die unterschiedlichen Ausgangssituationen in den Mitgliedstaaten berücksichtigt werden müssen.

1.3.

Die EU-Organe sollten zusätzliche Vorschläge erarbeiten, wie erhebliche öffentliche und private Investitionen auf europäischer und nationaler Ebene mobilisiert werden können, die die Umstellung in jenen Branchen und Regionen unterstützen, die zur Senkung ihrer Treibhausgasemissionen grundlegend umgestaltet werden müssen. Diesbezüglich ist der EWSA der festen Überzeugung, dass Umfang und Anwendungsbereich des Fonds für einen gerechten Übergang erheblich ausgeweitet werden sollten, um den anstehenden Herausforderungen gerecht zu werden.

1.4.

Der EWSA fordert die EU-Organe und die Mitgliedstaaten auf, einen neuen Governance-Rahmen vorzuschlagen, mit dem Veränderungen im Zusammenhang mit dem ökologischen Wandel in der Arbeitswelt antizipiert und bewältigt werden können. Dieser Rahmen sollte die Mitgliedstaaten zudem dazu anhalten, dreigliedrige Ausschüsse für den gerechten Übergang einzurichten, in deren Rahmen die regionalen Gebietskörperschaften, die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft an der Umsetzung nationaler und regionaler Pläne für einen gerechten Übergang mitwirken können.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU auf das Ziel der Klimaneutralität (Treibhausgasneutralität) hinarbeiten und zugleich für Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit der Energieversorgung zu einem für Unternehmen und Bürger erschwinglichen Preis sorgen sollte. Bei der Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit der EU ist sicherzustellen, dass alle Wettbewerber der EU die höchsten Umwelt- und Sozialstandards einhalten. Ein besserer Schutz vor der Verlagerung von CO2-Emissionen mit Blick auf die Importe aus Drittstaaten ist von entscheidender Bedeutung, um die Umweltintegrität und die gesellschaftliche Akzeptanz der EU-Klimapolitik zu gewährleisten.

1.6.

Der EU-Rechtsrahmen muss gewährleisten, dass die wettbewerbsfähigsten Unternehmen in den kommenden Jahrzehnten Vorreiter für nachhaltige und CO2-arme Geschäftsmodelle sein werden. Der EWSA ist deshalb der festen Überzeugung, dass die Entwicklung und Markteinführung neuer Technologien durch gesetzliche Regelungen erleichtert werden muss, auch durch nachfrageseitige Maßnahmen zur Schaffung von Leitmärkten und Anreizen für den Konsum von Produkten mit günstiger CO2-Bilanz. Alle im Rahmen von „Fit für 55“ vorgelegten Legislativvorschläge sollten einer Prüfung in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit gemäß den Grundsätzen der Nachhaltigkeitsziele unterzogen werden, um Klarheit hinsichtlich der Auswirkungen auf die Unternehmen zu schaffen.

1.7.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass den Branchen besondere Aufmerksamkeit gelten sollte, in denen KKMU sehr präsent sind. KKMU haben das Potenzial, Innovationen bei Produkten und Lösungen zur Senkung der CO2-Emissionen der europäischen Wirtschaft zu beschleunigen.

1.8.

Angesichts des engen Zusammenhangs zwischen der Klima- und der Biodiversitätskrise ist dringend eine kohärente Politik erforderlich. Die Verringerung des Energie- und Materialverbrauchs im Rahmen der Kreislaufwirtschaft wird eine Ergänzung zu neuen Technologien darstellen. Sektorspezifische Strategien und Fördermodelle sollten im Einklang mit dem Paket „Fit für 55“ stehen und beispielsweise vorsehen, dass diejenigen, die die Flächen besitzen, verwalten oder bewirtschaften, für die Speicherung von Kohlenstoff im Boden entschädigt werden, und dass umweltschädliche Beihilfen abgeschafft werden.

1.9.

Wichtig ist vor allem, dass klar und ehrlich über die Kosten und den Nutzen der drastischen und umfassenden Maßnahmen informiert wird, die nötig sind, um bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen. Diese Veränderungen werden sich auf alle Branchen und Regionen auswirken, und die Vorteile werden nicht in jedem Fall sofort zu spüren sein. Um eine breite Unterstützung zu erzielen, ist ein bislang beispielloses Maß an Verständnis und Engagement aller Mitglieder der Gesellschaft erforderlich.

2.   Grund der Erarbeitung und Gliederung der Stellungnahme

2.1.

Ziel der vorliegenden Stellungnahme ist es, die übergreifende Sicht des EWSA auf das am 14. Dezember 2021 von der Kommission vorgelegte Paket „Fit für 55“ darzulegen. Betont werden soll, dass mit dem Paket für einen sozial gerechten, wettbewerbsfähigen und grünen Wandel gesorgt werden muss. Der EWSA wird gesonderte Stellungnahmen zu allen relevanten Legislativvorschlägen des Pakets erarbeiten.

2.2.

Der EWSA betont, dass das Paket „Fit für 55“ mit der Agenda 2030 der Vereinten Nationen und den Zielen für nachhaltige Entwicklung verknüpft werden muss, die der EWSA bereits in früheren Stellungnahmen unterstützt hat. Die Nachhaltigkeitsziele sind besonders wichtig, da sie global ausgelegt sind und nicht nur die drängende Klimaproblematik abdecken, die dem Kommissionspaket zugrunde liegt, sondern auch andere notwendige Ziele für wirtschaftliche und soziale Nachhaltigkeit, die umgesetzt werden müssen, damit das Paket erfolgreich sein kann. Die Stellungnahme ist deshalb in ihrer Struktur an den drei Hauptelementen der UN-Nachhaltigkeitsziele ausgerichtet.

3.   Kernprinzipien — Spezifische Positionen des EWSA zum Kommissionsdokument

Ein sozial gerechter Übergang

3.1.

In seiner Entschließung zur Konferenz zur Zukunft Europas „schlägt der EWSA ein neues Narrativ für Europa vor, das die fernere und jüngere Vergangenheit Europas mit der Gegenwart verbindet, und zeichnet eine Vision für die Zukunft, die auf der Zusammenarbeit über Grenzen hinweg beruht und so die Menschen in Europa zusammenrücken lässt. Dieses Narrativ beruht auf den Werten der Solidarität, der sozialen Gerechtigkeit, der Zusammenarbeit über Generationengrenzen hinweg, der Gleichstellung der Geschlechter, nachhaltigem Wohlstand und einer gerechten Ökowende und Digitalisierung. Diese Werte bedürfen dringend der Unterstützung durch die Öffentlichkeit, um unsere Wachstums- und Governance-Modelle auf Nachhaltigkeit auszurichten, eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen und die Organisationen der Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt des Wiederaufbaus und der Erholung zu rücken.“ (1) Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass eine gut durchdachte Umsetzung des Pakets „Fit für 55“ dazu beitragen wird, dieses Narrativ in die Realität umzusetzen.

3.2.

Der EWSA stellt auch fest, dass der Schwerpunkt auf einem gerechten und nachhaltigen Wiederaufbau nach der COVID-19-Krise liegen muss, der den Weg zu einer inklusiveren Gesellschaft ebnet, langfristig für Wettbewerbsfähigkeit sorgt und die Rahmenbedingungen für Zusammenarbeit schafft, wobei die einander bedingenden Krisen in den Bereichen Gesellschaft, Wirtschaft, Demokratie, Demografie und Klima in den EU-Mitgliedstaaten, die erforderliche Ökowende und Digitalisierung sowie der längerfristige Strukturwandel, der von der Pandemie angestoßen wurde, umfassend zu berücksichtigen sind (2). Oberstes Ziel der EU muss es sein, unser Modell der sozialen Marktwirtschaft zu stärken, bei dem eine nachhaltige und wettbewerbsfähige Wirtschaft mit einer gut entwickelten Sozialpolitik Hand in Hand geht. Daraus folgt, dass die Verwirklichung des europäischen Grünen Deals, den der EWSA von Beginn an unterstützt hat, der Weg ist, den wir gehen müssen. Der Grüne Deal ist die neue europäische Wachstumsstrategie, in deren Mittelpunkt Wohlstand, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit stehen. Eine gerechte Umstellung auf eine klimaneutrale Lebensweise, die Förderung von guten Arbeitsplätzen sowie nachhaltigem Unternehmertum und Innovation, einschließlich der Kreislaufwirtschaft und der Sozialwirtschaft, werden für ein florierendes Europa von entscheidender Bedeutung sein (3).

3.3.

Das Paket „Fit für 55“ ist ein Grundstein für eine klimaneutrale europäische Wirtschaft im Jahr 2050. Diese Umstellung wird eine gründliche Prüfung der Art und Weise erfordern, wie wir leben, arbeiten und uns verhalten. Angesichts der Tatsache, dass es kein Patentrezept für alle gibt, müssen die Maßnahmen zur Förderung der Umstellung maßgeschneidert sein und den verschiedenen Gegebenheiten in Europa Rechnung tragen, wobei zu bedenken ist, dass gleiche Rahmenbedingungen herrschen müssen und die unterschiedlichen Ausgangssituationen in den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen sind.

3.4.

Die Umsetzung der überarbeiteten Ziele für 2030, wie in dem Paket „Fit für 55“ vorgeschlagen, wird sich in unterschiedlicher Weise auf die einzelnen Branchen, Regionen, Gemeinwesen und einzelnen Menschen in ganz Europa auswirken. Es steht außer Frage, dass die rasche Umstellung auf eine CO2-arme Wirtschaft massive Herausforderungen für die Bürger, Arbeitnehmer, Unternehmen und Regionen mit sich bringen wird, insbesondere jene, die am meisten auf CO2-intensive Branchen und Industriebereiche angewiesen sind. Es darf nicht vergessen werden, dass auch die Mitgliedstaaten in Randlage mit erheblichen Herausforderungen in Bezug auf die Abkehr von fossilen Brennstoffen konfrontiert sind. Wenn diesen Herausforderungen nicht entschieden genug begegnet wird, kann dies zu wachsender Ungleichheit und massiven Umstrukturierungen sowie zu Arbeitslosigkeit und Deindustrialisierung ganzer Gebiete und Länder führen. Dies könnte wiederum einen Mangel an gesellschaftlicher Akzeptanz bewirken und die EU-Bürgerinnen und -Bürger zu politischen Gegenreaktionen gegen den europäischen Grünen Deal bewegen.

3.5.

Um diesbezüglichen Bedenken Rechnung zu tragen, fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, zusätzliche Maßnahmen vorzuschlagen, um die soziale und beschäftigungspolitische Dimension des europäischen Grünen Deals zu stärken. Die Legislativvorschläge der Kommission sind derzeit darauf ausgelegt, die Klimaziele für 2030 zu erreichen, was unbedingt erforderlich ist, umfassen jedoch keine ausreichenden Maßnahmen, um einen gerechten Übergang für die europäischen Arbeitnehmer und Haushalte mit geringem Einkommen sicherzustellen. Die im Paket vorgeschlagenen Klimaziele sind nur dann sozial akzeptabel, wenn sie mit entsprechenden sozialen Zielen einhergehen, gemäß der jüngsten Erklärung von Porto des EU-Rates, der europäischen Säule sozialer Rechte und den Leitlinien der IAO für einen gerechten Übergang.

3.6.

Zur Stärkung der sozialen Dimension des Pakets fordert der EWSA die EU-Organe konkret auf,

3.6.1.

eine detaillierte Bestandsaufnahme und Analyse der Auswirkungen des Übergangs auf die Beschäftigung und die Kompetenzen in den verschiedenen Ländern, Regionen und Branchen vorzunehmen, auch in Bezug auf Unterauftragnehmer und nachgelagerte Wertschöpfungsketten. Außerdem müssen die Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen, die Handelsströme und die Verbraucher geprüft werden. Diese genaue Erfassung würde die Gesamtperspektive der vorangegangenen Folgenabschätzungen der Kommission ergänzen und die notwendigen Informationen liefern, um angemessene beschäftigungs- und sozialpolitische sowie regionale Maßnahmen zu entwickeln;

3.6.2.

zusätzliche Vorschläge zu erarbeiten, wie erhebliche öffentliche und private Investitionen auf europäischer und nationaler Ebene mobilisiert werden können, die die Umstellung in jenen Branchen und Regionen unterstützen, die zur Senkung ihrer Treibhausgasemissionen grundlegend umgestaltet werden müssen. Beim Eintreten für solche Investitionen sollte auch berücksichtigt werden, dass in einigen Mitgliedstaaten ungünstige Skaleneffekte auftreten, Konnektivitätsprobleme herrschen und ein geringes Potenzial zur Senkung der Emissionen besteht. Dazu sollten Umfang und Anwendungsbereich des Fonds für einen gerechten Übergang erheblich ausgeweitet werden, um den anstehenden Herausforderungen gerecht zu werden;

3.6.3.

sicherzustellen, dass die nationalen Energie- und Klimapläne Strategien für einen gerechten Übergang umfassen. Die Mitgliedstaaten sollten aufgefordert werden, in den aktualisierten Fassungen ihrer nationalen Energie- und Klimapläne 2023 systematisch die voraussichtlichen sozialen Herausforderungen des Pakets „Fit für 55“ zu ermitteln sowie detaillierte Maßnahmen und Ressourcen aufzuführen, die zu ihrer Bewältigung erforderlich sind. Solche Strategien für einen gerechten Übergang werden nötig sein, um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Umstellung zu unterstützen, angemessene Schulungs-, Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen sicherzustellen und die Schaffung alternativer guter Arbeitsplätze in denselben Regionen zu fördern. Die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft sollten im Rahmen des sozialen Dialogs und zivilgesellschaftlicher Plattformen angemessen in die Entwicklung von Kompetenzstrategien und aktiven Arbeitsmarktstrategien eingebunden werden;

3.6.4.

einen neuen Governance-Rahmen vorzuschlagen, um die Veränderungen in Bezug auf den grünen Wandel der Arbeitswelt zu antizipieren und zu bewältigen. Dieser Rahmen sollte das Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Unterrichtung und Anhörung bei der Erarbeitung von Plänen für einen gerechten Übergang an ihrem Arbeitsplatz und in ihrer Region sicherstellen. Auf der Grundlage der Durchsetzung geltender Rechte sollte er zudem den sozialen Dialog sowie den Dialog mit der Zivilgesellschaft generell stärken;

3.6.5.

eine angemessene Einbeziehung der bestehenden europäischen Strukturen für den sozialen Dialog, etwa des Dreigliedrigen Sozialgipfels, der Ausschüsse für den sektoralen sozialen Dialog oder der europäischen Betriebsräte, in die Konzipierung und Überwachung der Maßnahmen zur Umsetzung des europäischen Grünen Deals und die Entwicklung von Wegen für den Übergang für industrielle Ökosysteme und Aufbaupläne sicherzustellen;

3.6.6.

die Mitgliedstaaten aufzufordern, dreigliedrige Ausschüsse für den gerechten Übergang einzurichten, in deren Rahmen die regionalen Gebietskörperschaften, die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft Empfehlungen abgeben und nationale und regionale Pläne für einen gerechten Übergang aushandeln können. Die Beiträge der Mitgliedstaaten, Regionen, Sozialpartner und der Zivilgesellschaft sind von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, dem Versprechen, dass niemand zurückgelassen wird, Glaubwürdigkeit zu verleihen und Taten folgen zu lassen.

3.7.

Alle Bürgerinnen und Bürger werden die Auswirkungen der künftigen Klimapolitik erheblich zu spüren bekommen, insbesondere in Bezug auf die Instrumente für die Bepreisung von CO2. Es steht außer Frage, dass die Einhaltung der Ziele für 2030 finanzielle Belastungen mit sich bringen wird, insbesondere für die Verbraucherinnen und Verbraucher mit den geringsten Einkommen. Diese Belastungen müssen richtig erläutert werden. Es müssen besondere/soziale Maßnahmen ergriffen werden, um die schwächsten Bürger zu schützen und zu unterstützen, da sie am meisten unter den Folgen der zusätzlichen Kosten leiden werden. Solche Maßnahmen sind von entscheidender Bedeutung, um die für eine reibungslose Umstellung erforderliche Unterstützung der Bürger sicherzustellen.

3.8.

Der EWSA hat eine gesonderte Stellungnahme erarbeitet, in der er die Einrichtung des vorgeschlagenen Klima-Sozialfonds begrüßt, mit dem die negativen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der neuen CO2-Bepreisung gemindert und den Mitgliedstaaten Mittel zur Verfügung gestellt werden sollen, um ihre Maßnahmen zur Bewältigung der sozialen Auswirkungen des Emissionshandels auf finanziell schwächere Haushalte, Kleinstunternehmen und Verkehrsnutzer zu unterstützen. In dieser Stellungnahme (TEN/759) fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, die Synergien des Klima-Sozialfonds mit anderen verfügbaren Finanzmitteln zu nutzen und ihn so effizient wie möglich einzusetzen (4).

3.9.

Zugleich stellt der EWSA fest, dass es mit Marktinstrumenten gelingen kann, die Union erfolgreich auf den Weg zu einem langfristigen nachhaltigen Wandel zu bringen und dabei wirtschaftliche Entwicklung bei ausgewogener Berücksichtigung der sozialen und ökologischen Bedürfnisse im Zuge der Umstellung sicherzustellen. Diese Instrumente müssen begleitet werden von einem kulturellen Wandel und Verhaltensänderungen sowie systemischen Veränderungen in den einzelnen Branchen, und umweltschädliche Beihilfen müssen eingestellt werden (5).

3.10.

Der Ausschuss verweist auch darauf, dass die großen Herausforderungen, vor denen wir alle stehen, und der für eine wirklich nachhaltige Welt unabdingbare tiefgreifende Wandel in unserer Wirtschaft, in unserem Umgang mit Natur und Umwelt sowie in unserem Alltag nur unter aktiver Beteiligung der Bürger, der Arbeitnehmer und ihrer Organisationen gelingen kann (6).

Ein wettbewerbsorientierter Übergang

3.11.

Die Wirtschaft stellt sich der Herausforderung des Klimawandels voll und ganz und ist willens, die erforderlichen Maßnahmen für die Umsetzung des Ziels einer Reduzierung von 55 % zu ergreifen. Der Privatsektor ist bereit, seinen Teil beizutragen, massiv in die erforderliche Infrastruktur und die nötigen Technologien zu investieren und gute Arbeitsplätze zu schaffen. All dies erfordert jedoch einen verlässlichen Rechtsrahmen für Investitionen. Alle im Rahmen von „Fit für 55“ vorgelegten Legislativvorschläge sollten einer Prüfung in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit gemäß den Grundsätzen der Nachhaltigkeitsziele unterzogen werden, um Klarheit hinsichtlich der Auswirkungen auf die Unternehmen zu schaffen.

3.12.

Der Grüne Deal bietet uns die einzigartige Gelegenheit, eine stärkere und nachhaltigere Zukunft aufzubauen, und die europäischen Unternehmen müssen untrennbarer Bestandteil aller diesbezüglichen Lösungen sein. Die EU sollte auf das Ziel der Klimaneutralität (Treibhausgasneutralität) hinarbeiten und zugleich für Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit der Energieversorgung zu einem für Unternehmen und Bürger erschwinglichen Preis sorgen.

3.13.

Bei der Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit der EU ist sicherzustellen, dass alle Wettbewerber sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU die höchsten Umwelt- und Sozialstandards einhalten. Dies sollte sich auch in den Handelsabkommen der EU mit Drittstaaten niederschlagen. Der Rechtsrahmen muss so angelegt sein, dass die wettbewerbsfähigsten Unternehmen in den kommenden Jahrzehnten Vorreiter für nachhaltige und CO2-arme Geschäftsmodelle sein werden. Wettbewerbsfähigkeit darf nicht als Vorwand dafür herhalten, dass Unternehmen auf dem globalen Markt in Sachen umweltfreundliche Standards nur die Mindestvorgaben einhalten. Hier ist eine kohärente Strategie zur Steigerung der Exporte von Gütern und Dienstleistungen mit guter CO2-Bilanz aus der EU in Drittstaaten wichtig.

3.14.

Allerdings erfordern Technologien mit geringen CO2-Emissionen kurzfristig erhebliche Investitionen und bringen in den meisten Fällen höhere Betriebsaufwendungen und technische Risiken mit sich als traditionelle Technologien. Unternehmen, die neue Geschäftsmodelle als erste anwenden, sollten unterstützt werden, damit ihnen ihre Innovationsfreude nicht zum Wettbewerbsnachteil gereicht. Diese Unterstützung muss unter Einhaltung des Grundsatzes des gleichberechtigten Zugangs zu KMU-Finanzierungsinstrumenten und ausschließlich auf der Grundlage der Klimaziele erfolgen.

3.15.

Um die erforderlichen erheblichen Investitionen in eine CO2-freie Stromerzeugung zu fördern, muss für Sichtbarkeit gegenüber langfristigen Marktsignalen und -instrumenten gesorgt werden. Eines der wichtigsten Hindernisse für die Umsetzung von Projekten im Bereich der erneuerbaren Energien sind die langwierigen und komplexen Genehmigungsverfahren. Der EWSA unterstützt nachdrücklich die entsprechenden Bestrebungen der Kommission.

3.16.

In unmittelbarer Zukunft müssen Investitionsentscheidungen zur Umsetzung der Ziele für 2030 getroffen werden, das heißt zu einer Zeit, da die europäische Wirtschaft immer noch dabei ist, sich von der Wirtschaftskrise infolge der COVID-19-Pandemie zu erholen. Die EU muss deshalb für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Grünen Deal und der Aufbau- und Resilienzfazilität sorgen, um Investitionen in zukunftsorientierte Technologie und Verfahren voranzutreiben. Die politischen Entscheidungsträger der EU sollten auch sicherstellen, dass das Paket „Fit für 55“ und das Aufbauinstrument NextGenerationEU genutzt werden, um gute Arbeitsplätze zu schaffen und das Beschäftigungspotenzial der für den grünen Wandel strategisch wichtigen Branchen auszuschöpfen.

3.17.

Mit den Legislativvorschlägen muss sichergestellt werden, dass die Verringerung der Treibhausgasemissionen durch die Förderung von auf den Wandel ausgerichteten Investitionen in Europa erzielt wird. Dies würde die Führungsposition der EU in den internationalen Verhandlungen über den Klimawandel stärken.

3.18.

Die Industriepolitik der EU und der Mitgliedstaaten sollte den Herausforderungen im Zusammenhang mit den Anstrengungen zur Senkung der CO2-Emissionen Rechnung tragen. Die Industrie und die Arbeitnehmer müssen bei der Umstellung auf eine CO2-arme Wirtschaft unterstützt werden, insbesondere in den „hard-to-abate“-Sektoren, die dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, etwa in energieintensiven Branchen oder der Landwirtschaft. Deshalb sollten Maßnahmen ergriffen werden, um einer Verlagerung von Produktionsstätten und dem Import von Gütern mit einer ungünstigen CO2-Bilanz wirksam entgegenzuwirken. Solange Drittländer keine gleichwertigen Verpflichtungen eingehen, erfordern höher gesteckte EU-Klimaziele einen besseren Schutz vor der Verlagerung von CO2-Emissionen, nicht nur zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, sondern auch zur Sicherung der Umweltwirksamkeit sowie der sozialen Akzeptanz der EU-Klimapolitik.

3.19.

Wie bereits erwähnt, sollten im Rahmen des sozialen Dialogs Strategien für einen gerechten Übergang entwickelt werden, um eine angemessene Umschulung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den betroffenen Branchen sowie einen Stellenwechsel zu gewährleisten. Dabei werden ein angemessener Sozialschutz und gut funktionierende öffentliche Dienste wichtig sein, um die Arbeitnehmer bei ihrem Arbeitsplatzwechsel zu unterstützen und zu begleiten.

3.20.

Besondere Aufmerksamkeit sollte auch den Branchen gelten, in denen KMU sehr präsent sind. KMU haben das Potenzial, Innovationen bei Produkten und Lösungen zur Senkung der CO2-Emissionen der europäischen Wirtschaft zu beschleunigen. Zugleich benötigen sie Unterstützung beim Zugang zu Technologien zur Dekarbonisierung ihrer Produktions-, Verarbeitungs-, Wiederaufarbeitungs- und Vertriebsverfahren.

3.21.

Die EU verursacht zwar nur 8 % aller Emissionen, hat jedoch zu Recht die Führung bei den Maßnahmen zur Verwirklichung einer klimaneutralen Wirtschaft bis 2050 übernommen. Dabei muss sichergestellt werden, dass das entwickelte Modell erfolgreich dazu beiträgt, dass Unternehmen wachsen und gute Arbeitsplätze schaffen, die Gesellschaft floriert und sich die Umwelt erholt. Ein erfolgreiches Modell garantiert der EU eine weltweite Führungsposition, während ein nur teilweise erfolgreiches Modell bedeutet, dass sie hinter andere Länder wie die USA oder China zurückfällt. Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass die EU über beträchtliches Fachwissen verfügt, das es ihr ermöglicht, im Rahmen einer grünen Wirtschaft eine führende Position in der Industrie zu übernehmen. Die Außenpolitik bzw. die Klimadiplomatie der EU werden eine wichtige Rolle bei der Förderung hoher Umweltstandards auf dem Weltmarkt spielen.

3.22.

Europa muss seine derzeitige Stellung als Vorreiter beim Klimawandel nutzen, indem es als Innovationskatalysator fungiert. Es sollten noch größere Anstrengungen unternommen und Ressourcen für die Unterstützung von Forschungs-, Entwicklungs- und Einführungsprogrammen sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene eingesetzt werden, ohne dass jedoch zu früh entschieden wird, wer Favorit ist, da das Spektrum der Technologien und Energiequellen, die die Umstellung auf eine CO2-arme Wirtschaft begünstigen, breit gefächert ist. Dazu wäre es sinnvoll, das derzeitige System der Bildungs- und Forschungsförderung zu analysieren und dann Lösungen vorzuschlagen, die es Europa ermöglichen, wirksamer mit Amerika und Asien zu konkurrieren.

3.23.

Eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Umstellung der verarbeitenden Industrie ist der Zugang zu CO2-armen Energiequellen wie Strom und Wasserstoff zu weltweit wettbewerbsfähigen Preisen. Hierfür ist ein unterstützender Rechtsrahmen und der rechtzeitige Ausbau einer passenden Infrastruktur erforderlich.

3.24.

Wie die Internationale Energieagentur festgestellt hat, ist die weltweite Verringerung der CO2-Emissionen bis 2030 größtenteils mit Technologien möglich, die bereits heute vorhanden sind. Die bis 2050 vorgesehene Verringerung müsste jedoch fast zur Hälfte auf Technologien beruhen, die sich derzeit noch in der Demonstrations- oder Prototypphase befinden. In der Schwerindustrie und im Fernverkehr ist der Anteil der Verringerung der Emissionen aufgrund von Technologien, die sich noch in der Entwicklungsphase befinden, noch höher. Deshalb ist es wichtig, die Entwicklung und Markteinführung neuer Technologien durch gesetzliche Regelungen zu erleichtern.

3.25.

Zumindest in der Anfangsphase des Übergangs werden auch nachfrageseitige Maßnahmen erforderlich sein, um Leitmärkte und Anreize für den Konsum von Produkten mit günstiger CO2-Bilanz zu schaffen, da sie in Bezug auf die Kosten in der Regel weniger wettbewerbsfähig sind als herkömmliche Produkte.

3.26.

Der EWSA betont, dass der ökologische Wandel nur gelingen kann, wenn die EU über die qualifizierten Arbeitskräfte verfügt, die für die Erhaltung ihrer Wettbewerbsfähigkeit benötigt werden. Zugleich fordert der EWSA die Kommission auf, die bereits für das Paket „Fit für 55“ durchgeführten Folgenabschätzungen zu aktualisieren und so sicherzustellen, dass sie die aktuellsten und aussagekräftigsten Daten enthalten und ein möglichst genaues Bild der erwarteten Auswirkungen liefern.

Ein ökologischer Wandel

3.27.

Die Klima- und die Biodiversitätskrise müssen gemeinsam angegangen werden. Klimalösungen, die sich negativ auf die biologische Vielfalt und die Lebensräume auswirken, dürfen nicht Teil eines Pakets zur Verringerung der Emissionen sein. Das Paket „Fit für 55“ muss mit den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen verknüpft werden und mit den bereits vereinbarten Verpflichtungen in der Agenda 2030 und mit der europäischen Säule sozialer Rechte im Einklang stehen.

3.28.

Die von Wissenschaftlern ermittelten neun Belastungsgrenzen unseres Planeten (7) müssen ein Leitprinzip bei der Überwachung der Auswirkungen der menschlichen Tätigkeit, der Wirtschaftspolitik und der Klimamaßnahmen sein.

3.29.

Die Wiederherstellung der Natur und die Förderung der dringend notwendigen Erholung der biologischen Vielfalt müssen Teil des auf einen ökologischen Wandel ausgerichteten legislativen Besitzstands sein und im Mittelpunkt des künftigen EU-Gesetzes zur Wiederherstellung der Natur stehen. Der Schutz und die Erhaltung existierender Lebensräume mit großer biologischer Vielfalt sollten nicht außer Acht gelassen werden.

3.30.

Die Nutzung natürlicher Ökosysteme zur CO2-Abscheidung und -Speicherung sollte mit einer angemessenen öffentlichen Finanzierung in Form von Beihilfen sowie neuen grünen Geschäftsmodellen einhergehen, und es ist wichtig, dass diese Mittel an diejenigen gehen, die die Flächen besitzen, verwalten bzw. bewirtschaften. Die CO2-Speicherung sowie der Schutz und die Wiederherstellung der biologischen Vielfalt sind öffentliche Güter. Dieser Grundsatz muss in der anstehenden Initiative für klimaeffiziente Landwirtschaft zum Ausdruck kommen.

Nach der Veröffentlichung einer neuen Bodenstrategie ist dringend ein Vorschlag für eine Bodenrichtlinie vorzulegen. Für den Schutz der biologischen Vielfalt und die natürliche Kohlenstoffspeicherung ist es entscheidend, den Boden ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.

Gewährleistung des Übergangs mit Instrumenten, die eine breite Akzeptanz und Unterstützung durch die breite Öffentlichkeit fördern

3.31.

Entscheidend ist, dass Bürger und Interessengruppen dabei unterstützt werden, aktiv an der Umstellung auf eine Gesellschaft mit geringen CO2-Emissionen mitzuwirken. Die Ängste und Bedenken, die die Herausforderungen des Übergangs hervorrufen, können durch die Zusammenarbeit mit Interessenträgern aller Art beseitigt werden. Es sollte eine koordinierte Initiative für Klimadiplomatie ins Leben gerufen werden, die ein zivilgesellschaftliches Netz für Klimadiplomatie umfasst.

3.32.

Im Rahmen eines Konsultationsverfahrens sollten nationale Verteilungsmechanismen der einzelnen Mitgliedstaaten für den Klima-Sozialfonds präzise festgelegt werden, um sicherzustellen, dass die Kosten des Übergangs gleichmäßig verteilt werden und die finanzielle Unterstützung diejenigen erreicht, die sie am dringendsten benötigen. Der EWSA könnte mit seinem Netz von etwa 100 Mio. Bürgerinnen und Bürgern einen Beitrag zur Gestaltung dieser Instrumente leisten.

3.33.

Klare Botschaften über die Vorteile einer Verringerung der Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen und die vielschichtigen Vorteile einer CO2-neutralen Gesellschaft sollten kohärent vermittelt werden, um falsche Narrative zu bekämpfen, die populistischen Parolen Vorschub leisten.

3.34.

Die Umsetzung von „Fit für 55“ erfordert starke Governance-Strukturen, damit alle Interessenträger in die Gestaltung von Anpassungsmaßnahmen einbezogen werden können. Die Verwirklichung dieses Ziels muss als generationenübergreifende Herausforderung anerkannt und als Gelegenheit genutzt werden, um geschlechtsspezifische Ungleichgewichte am Arbeitsplatz, bei den Löhnen und Gehältern und bei den Chancen anzugehen.

3.35.

Eine klare Ausrichtung auf die Verteilung der Ziele ist wichtig. In den strengen Verpflichtungen, wie sie etwa im Klimagesetz niedergelegt sind, sollte festgelegt werden, wer was zu tun hat, und es sollte ein auf nationaler Ebene festgelegtes verbindliches Ziel für die einzelnen Branchen bestimmt werden.

3.36.

Es sollte ein Forum geschaffen werden, in dem die Finanzierungsströme für Industrie und KMU zusammengeführt und ermittelt werden, um die Mobilisierung von Finanzmitteln zu erleichtern.

Brüssel, den 24. Februar 2022.

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Ein neues Narrativ für Europa — Entschließung des EWSA zur Konferenz zur Zukunft Europas, Ziffer 2.1 (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 1).

(2)  Ein neues Narrativ für Europa — Entschließung des EWSA zur Konferenz zur Zukunft Europas, Ziffer 2.1 (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 1).

(3)  Ein neues Narrativ für Europa — Entschließung des EWSA zur Konferenz zur Zukunft Europas, Ziffer 2.4 (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 1).

(4)  TEN/759 Klima-Sozialfonds, Stellungnahme des EWSA, verabschiedet auf der Plenartagung vom 8./9. Dezember 2021, Ziffern 1.1 und 1.2 (ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 158).

(5)  Der Internationale Währungsfonds hat berechnet, dass sich die direkten und indirekten Subventionen für fossile Brennstoffe weltweit auf rund 6 Billionen USD pro Jahr belaufen (Veröffentlichung vom September 2021).

(6)  Entschließung zum Beitrag des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Arbeitsprogramm 2022 der Europäischen Kommission auf der Grundlage der Arbeit der Ad-hoc-Gruppe „Beitrag des EWSA zum Arbeitsprogramm 2022 der Kommission“ (ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 1).

(7)  https://www.stockholmresilience.org/research/planetary-boundaries/the-nine-planetary-boundaries.html


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/108


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2008/118/EG und der Richtlinie (EU) 2020/262 (Neufassung) bezüglich Tax-free-Verkaufsstellen im französischen Terminal des Kanaltunnels

(COM(2021) 817 final — 2021/0418 (CNS))

(2022/C 275/17)

Befassung

Rat der Europäischen Union, 20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 113 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

214/0/8

Da der Ausschuss dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2008/118/EG und der Richtlinie (EU) 2020/262 (Neufassung) bezüglich Tax-free-Verkaufsstellen im französischen Terminal des Kanaltunnels zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 567. Plenartagung am 23./24. Februar 2022 (Sitzung vom 23. Februar) mit 214 Stimmen bei 8 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 23. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


18.7.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 275/109


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der höchstzulässigen Abmessungen für bestimmte Straßenfahrzeuge im innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Verkehr in der Union sowie zur Festlegung der höchstzulässigen Gewichte im grenzüberschreitenden Verkehr (kodifizierter Text)

(COM(2021) 769 final — 2021/0400 (COD))

(2022/C 275/18)

Befassung

Europäisches Parlament, 13.12.2021

Rat der Europäischen Union, 17.12.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 91 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Verabschiedung im Plenum

23.2.2022

Plenartagung Nr.

567

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

214/1/6

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags vorbehaltlos zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 567. Plenartagung vom 23./24. Februar 2022 (Sitzung vom 23. Februar) mit 214 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 6 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 23. Februar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG