ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 364

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

63. Jahrgang
28. Oktober 2020


Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

ENTSCHLIEßUNGEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

553. Hybrid-Plenartagung am 15./16. Juli 2020

2020/C 364/01

Entschließung zum Beitrag des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Arbeitsprogramm 2021 der Europäischen Kommission auf der Grundlage der Arbeit der Ad-hoc-Gruppe Beitrag des EWSA zum Arbeitsprogramm 2021 der Kommission

1

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

553. Hybrid-Plenartagung am 15./16. Juli 2020

2020/C 364/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Förderung einer inklusiveren und nachhaltigeren Bankenunion durch Verbesserung des Beitrags von gemeinschaftsorientierten Banken zur lokalen Entwicklung und zum Aufbau eines sozial verantwortlichen internationalen und europäischen Finanzsystems (Initiativstellungnahme)

14

2020/C 364/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Besteuerungsverfahren zur Verringerung der CO2-Emissionen (Initiativstellungnahme)

21

2020/C 364/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Stärkung eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums in der EU (Initiativstellungnahme)

29

2020/C 364/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Förderung von Wettbewerbsfähigkeit, Innovation, Wachstum und Beschäftigung durch eine verstärkte globale Zusammenarbeit in Regulierungsfragen, durch die Unterstützung eines erneuerten multilateralen Handelssystems und durch die Verringerung marktverzerrender Beihilfen (Initiativstellungnahme)

37

2020/C 364/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die industrielle Dimension der Sicherheitsunion (Initiativstellungnahme)

43

2020/C 364/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Einführung von Schutzmaßnahmen für Agrarerzeugnisse in Handelsabkommen (Initiativstellungnahme)

49

2020/C 364/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Ein neues Modell multilateraler Beziehungen: eine drängende Frage nach der COVID-19-Krise (Initiativstellungnahme)

53

2020/C 364/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Besteuerung der kollaborativen Wirtschaft — Berichterstattungspflichten (ergänzende Stellungnahme)

62

2020/C 364/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Europäischen Klimapakt (Sondierungsstellungnahme)

67


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

553. Hybrid-Plenartagung am 15./16. Juli 2020

2020/C 364/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Gleichstellungsstrategie (COM (2020) 152 final)

77

2020/C 364/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Weißbuch zur Künstlichen Intelligenz — ein europäisches Konzept für Exzellenz und Vertrauen(COM(2020) 65 final)

87

2020/C 364/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein neuer Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft für ein saubereres und wettbewerbsfähigeres Europa(COM(2020) 98 final)

94

2020/C 364/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Gestaltung der digitalen Zukunft Europas(COM(2020) 67 final)

101

2020/C 364/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine neue Industriestrategie für Europa(COM(2020) 102 final)

108

2020/C 364/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: a) Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Langfristiger Aktionsplan zur besseren Umsetzung und Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften(COM(2020) 94 final), b) Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Hindernisse für den Binnenmarkt ermitteln und abbauen(COM(2020) 93 final)

116

2020/C 364/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen Die Stunde Europas — Schäden beheben und Perspektiven für die nächste Generation eröffnen(COM(2020) 456 final) — Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen Der EU-Haushalt als Motor für den Europäischen Aufbauplan(COM(2020) 442 final) — Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Schaffung eines Aufbauinstruments der Europäischen Union zur Unterstützung der Erholung nach der COVID-19-Pandemie(COM(2020) 441 final/2 — 2020/0111 (NLE)) — Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2021 bis 2027(COM(2020) 443 final — 2018/0166 (APP)) — Geänderter Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union(COM(2020)445 final — 2018/0135 (CNS)) — Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1311/2013 zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2014-2020(COM(2020) 446 final — 2020/0109 (APP)) — „Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Rahmenprogramm für Forschung und Innovation Horizont Europa sowie über die Regeln für die Beteiligung und die Verbreitung der Ergebnisse, Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über das Spezifische Programm zur Durchführung des Rahmenprogramms für Forschung und Innovation Horizont Europa, Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung des Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit, Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit Vorschriften für die Unterstützung der von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik zu erstellenden und durch den Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) zu finanzierenden Strategiepläne (GAP-Strategiepläne) und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EU) Nr. 1307/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (COM(2020) 459 final — 2018/0224 (COD))

124

2020/C 364/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung einer Fazilität für Wiederaufbau und Resilienz(COM (2020) 408 final — 2020/0104 (COD)) — Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Instruments für technische Unterstützung(COM (2020) 409 final — 2020/0103 (COD))

132

2020/C 364/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufstellung des Programms InvestEU(COM(2020) 403 final — 2020/0108 (COD)) — Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2015/1017 und zur Schaffung eines Solvenzhilfeinstruments(COM(2020) 404 final — 2020/0106 (COD))

139

2020/C 364/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung des Rahmens für die Verwirklichung der Klimaneutralität und zur Änderung der Verordnung (EU) 2018/1999 (Europäisches Klimagesetz)(COM(2020) 80 final — 2020/0036 (COD))

143

2020/C 364/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Europäisches Jahr der Schiene (2021)(COM(2020) 78 final)

149

2020/C 364/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Maßnahmen für einen nachhaltigen Eisenbahnmarkt in Anbetracht der COVID-19-Pandemie(COM(2020) 260 final — 2020/0127 (COD))

158

2020/C 364/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Umsetzung von Freihandelsabkommen 1. Januar 2018-31. Dezember 2018(COM(2019) 455 final)

160


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

ENTSCHLIEßUNGEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

553. Hybrid-Plenartagung am 15./16. Juli 2020

28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/1


Entschließung zum „Beitrag des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Arbeitsprogramm 2021 der Europäischen Kommission auf der Grundlage der Arbeit der Ad-hoc-Gruppe ‚Beitrag des EWSA zum Arbeitsprogramm 2021 der Kommission‘“

(2020/C 364/01)

Berichterstatter:

Petr ZAHRADNÍK

Stefano PALMIERI

Jan DIRX

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner Plenartagung am 15./16. Juli 2020 (Sitzung vom 16. Juli) mit 140 gegen 15 Stimmen bei 17 Enthaltungen folgende Entschließung:

1.   Einleitung

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt und unterstützt nachdrücklich die Vorschläge der Europäischen Kommission, den „Next Generation EU“-Plan und den langfristigen EU-Haushalt für 2021-2027, wie er bereits in seiner Entschließung zu den „Vorschlägen des EWSA für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung nach der Covid-19-Krise“ (1) betont hat. Der Ausschuss hofft und erwartet, dass die von der Kommission in diesen Plänen dargelegte Marschroute für die notwendige Erholung und den Wiederaufbau nach der Coronavirus-Krise in ihrem Arbeitsprogramm für 2021 umfassend und konkret weiterentwickelt wird.

1.2.

Nach Auffassung des EWSA sollte sich das Arbeitsprogramm auf die Neustrukturierung und Verbesserung unserer Wirtschaft und Gesellschaft auf der Grundlage folgender Prinzipien konzentrieren: Schutz der Menschenrechte und der sozialen Rechte, der demokratischen Werte und der Rechtsstaatlichkeit, Erschließung des vollen Potenzials des Binnenmarkts, Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele, Schaffung einer Kreislaufwirtschaft und einer klimaneutralen EU bis spätestens 2050 sowie Gewährleistung eines verantwortungsvollen Regierungshandelns und demokratischer Rechenschaftspflicht.

1.3.

Der EWSA betont, dass die von der Kommission gewählten sechs Kernziele (europäischer Grüner Deal, ein Europa für das digitale Zeitalter, eine Wirtschaft im Dienste der Menschen, ein stärkeres Europa in der Welt, Förderung unserer europäischen Lebensweise und neuer Schwung für die Demokratie in Europa) einen wirksamen Rahmen für die Ausarbeitung des Arbeitsprogramms für 2021 bieten. Eventuell sollte der Schwerpunkt, auch mit Blick auf die gegenwärtig ergriffenen Maßnahmen, dezidierter auf Investitionen und auf die Tatsache gelegt werden, dass sie beschleunigt werden müssen. Einige Einzelheiten zum künftigen Arbeitsprogramm sind in der Mitteilung der Kommission über den EU-Aufbauplan (2) zu finden, und neue Vorschläge werden in der Rede der Kommissionspräsidentin von der Leyen zur Lage der Union im September und der Absichtserklärung an das Europäische Parlament und den Rat enthalten sein. Der EWSA begrüßt auch das angepasste Arbeitsprogramm für 2020, das der COVID-Krise Rechnung trägt und Hinweise auf die Entwicklung in naher Zukunft geben könnte.

1.4.

Der EWSA begrüßt, dass die Europäische Kommission als Reaktion auf die Coronavirus-Pandemie ihr Arbeitsprogramm für 2020 überarbeitet hat und auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas abstellt. Sie hat ihre Arbeit neu ausgerichtet und den Schwerpunkt auf die Maßnahmen gelegt, die erforderlich sind, um den Wiederaufbau und die Resilienz Europas zu fördern, und ist zugleich nach wie vor entschlossen, ihre Leitinitiativen, den europäischen Grünen Deal und die Digitale Strategie, umzusetzen, da sie von entscheidender Bedeutung für die Wiederbelebung der europäischen Wirtschaft und den Aufbau eines resilienteren, nachhaltigeren, gerechteren und wohlhabenderen Europas sind. Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass neun Initiativen auf 2021 vertagt wurden.

1.5.

Gerade jetzt, da wir erleben, wie wichtig die Zusammenarbeit zwischen den Ländern in diesen Krisenzeiten ist, hofft der EWSA, dass die bevorstehende Konferenz zur Zukunft Europas zur Stärkung und Vertiefung des institutionellen Gefüges der EU und zu einer echten Erneuerung des EU-Projekts führen wird, das für die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte gerüstet sein muss. Die Kommission kann deshalb auf die uneingeschränkte Unterstützung des Ausschusses zählen.

1.6.

Der EWSA ist überzeugt, dass der Prozess der Erholung und des Wiederaufbaus von Wirtschaft und Gesellschaft nur unter aktiver Beteiligung der Organisationen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner möglich sein wird.

1.7.

In den folgenden Abschnitten und Ziffern formuliert er konkrete Vorschläge für das Arbeitsprogramm 2021 zu den sechs Kernzielen der Kommission.

2.   Ein europäischer Grüner Deal

2.1.   Der Grüne Deal

2.1.1.

Der Grüne Deal der EU kann auch als wirksames Instrument zur nachhaltigen Wiederbelebung der Wirtschaft durch massive Investitionen zur Unterstützung der notwendigen strukturellen Veränderungen, mit denen Europa konfrontiert ist, angesehen werden. Unter diesem Gesichtspunkt ließe er sich als Chance zur Unterstützung einer längerfristigen wirtschaftlichen Erholung begreifen. Ausreichende öffentliche und private Finanzierungsquellen für dieses Ziel zu bündeln und eine neue Governance zu schaffen, um den Grünen Deal erfolgreich in die Praxis umzusetzen, erfordert einen neuen Konsens in Europa.

2.1.2.

Der EWSA setzt sich nachdrücklich für die Umstellung auf eine Kreislaufwirtschaft ein. Über sein Engagement für die Europäische Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft tritt er zudem energisch für ehrgeizige politische Maßnahmen in diesem Bereich ein. Zu seinen seit Langem an die Kommission gerichteten Forderungen nach Ressourceneffizienz gehört auch die Forderung nach einer Überprüfung der Rechtsvorschriften über die umweltgerechte Gestaltung von Produkten und generell der einschlägigen Rechtsvorschriften über Produkte, nach einer schrittweisen Einbeziehung verbindlicher Anforderungen an die Ressourceneffizienz bei der Produktgestaltung und nach neuen Verfahren für die Vergabe öffentlicher Aufträge, um kreislauforientierte Produkte und neue Geschäftsmodelle zu fördern. Dabei muss berücksichtigt werden, welche wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nach der COVID-19-Pandemie herrschen und welche Veränderungen tatsächlich realisierbar sind.

2.1.3.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Überarbeitung der Richtlinie über die Angabe nichtfinanzieller Informationen, durch die Qualität und Umfang der Offenlegung nichtfinanzieller Informationen, auch in Bezug auf Umweltaspekte wie die biologische Vielfalt, verbessert werden sollen, auf 2021 verschoben wurde. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Steuerpolitik generell im Einklang mit den Klimaschutzzielen reformiert werden sollte und dass sich die Umweltkosten, einschließlich des Verlusts an biologischer Vielfalt, in den Steuersystemen und der Preisgestaltung niederschlagen sollten. Damit sollen Änderungen der nationalen Steuersysteme angeregt werden, um die Steuerlast vom Faktor Arbeit auf Faktoren wie Umweltverschmutzung, unterpreisige Ressourcen und andere ökologische externe Effekte zu verlagern. Das Nutzerprinzip und das Verursacherprinzip müssen angewandt werden, um Umweltschäden zu verhindern und zu beseitigen.

2.1.4.

Der EWSA begrüßt, dass die biologische Vielfalt in allen Politikbereichen durchgängig berücksichtigt wird, wie in der Mitteilung zur Biodiversitätsstrategie bis 2030 (3) dargelegt. Der EWSA begrüßt, dass die Kommission einen neuen europäischen Governance-Rahmen im Bereich der Biodiversität schaffen wird. Dieser wird dazu beitragen, Verpflichtungen und Zusagen zu erfassen und einen Fahrplan für die Umsetzung aufzustellen. Dies käme sowohl der GAP als auch dem europäischen Lebensmittelsystem zugute und könnte damit einen weiteren Beitrag leisten, beide nachhaltiger zu machen. In diesem Rahmen wird die Kommission einen Überwachungs- und Überprüfungsmechanismus mit klaren vereinbarten Indikatoren einrichten, der eine regelmäßige Bewertung der Fortschritte und gegebenenfalls Korrekturmaßnahmen ermöglicht. Dieser Mechanismus muss in die Überprüfung der Umsetzung der Umweltpolitik einfließen und zum Europäischen Semester beitragen.

2.1.5.

Der EWSA begrüßt das Europäische Klimagesetz, das als rechtsverbindliches EU-weites gemeinsames Ziel festlegt, die Netto-Treibhausgasemissionen bis 2050 auf null zu senken, und einen Rahmen für die Verwirklichung dieses Ziels schafft. Der EWSA betrachtet das vorgeschlagene Europäische Klimagesetz deshalb als eines der Instrumente, die zu diesem erwünschten und notwendigen Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft beitragen können (4). Bis September 2020 will die Kommission das EU-Klimaziel für 2030 unter dem Gesichtspunkt der Klimaneutralität begutachten sowie Möglichkeiten für eine Anhebung der Emissionssenkungen auf 50-55 % gegenüber 1990 prüfen, um dann bis Mitte 2021 entsprechende Legislativvorschläge zu unterbreiten. Der EWSA drängt die Kommission, sich für eine Reduzierung von mindestens 55 % bis 2030 zu entscheiden und entsprechende Legislativvorschläge zu unterbreiten, damit die EU ihren Teil zu den notwendigen weltweiten Emissionssenkungsanstrengungen beiträgt (5).

2.1.6.

Die Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger über die Organisationen, Verbände und Netze der Zivilgesellschaft wird Reformen von Wirtschaft und Gesellschaft tatsächlich ermöglichen. Die Mitgliedstaaten und die EU müssen daher sicherstellen, dass bei diesen komplexen Veränderungen niemand zurückgelassen wird, vor allem nicht die Schwächsten.

2.1.7.

Die Maßnahmen für Erholung und Wiederaufbau müssen die EU aus einem kohlenstoffintensiven Zukunftsentwurf befreien und eine Verpflichtung auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit zugrunde legen.

2.1.8.

Mit dem neuen MFR müssen ausreichend Mittel bereitgestellt werden, um die erforderlichen Investitionen für eine echte und tief greifende Umstellung auf eine grüne Wirtschaft zu ermöglichen. Darüber hinaus ist es wichtig, auch künftig den Schwerpunkt auf weitere Umweltbelange wie den Schutz von Boden, Land und Meeren zu legen, die trotz der COVID-19-Krise und auch in der Zeit danach nicht hintangestellt werden dürfen.

2.1.9.

Die Energieversorgungssicherheit auf allen Ebenen und die Resilienz der Gesellschaft müssen weiter verbessert werden, beispielsweise durch Gebäuderenovierungsprogramme. Grenzüberschreitende Energiezusammenarbeit und EU-weite Verbundnetze sind nach wie vor wichtig, und es ist auch nötig, eine stärkere Diversifizierung der Versorgungsquellen zu fördern, etwa durch eine größere Auswahl an erneuerbaren Energieträgern und Energiespeicherlösungen.

2.1.10.

Eine Möglichkeit, die Verwirklichung des EU-Klimaneutralitätsziels zu beschleunigen, besteht darin, die Nutzung von regenerativ und CO2-arm erzeugtem Strom zu steigern und Branchen, die derzeit noch von fossilen Energieträgern abhängig sind, auf Elektroenergie umzustellen. Ein wichtiger Schritt zur Verwirklichung der Energieunion und des europäischen Grünen Deals sind die nationalen Energie- und Klimapläne.

2.1.11.

Ein besonderer Stellenwert für das im Europäischen Klimagesetz festgelegte Ziel einer klimaneutralen EU bis 2050 muss dem Verkehr zukommen. Die verkehrsbedingten CO2-Emissionen, die derzeit sogar noch zunehmen, müssen bis 2050 um 90 % gesenkt werden, um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen.

2.1.12.

Der EWSA fordert eine Aktualisierung der EU-Forststrategie nach 2020 im Rahmen des europäischen Grünen Deals. Die neue Strategie könnte sich auf den Zeitraum bis 2050 erstrecken. Die Bedeutung der Wälder, der Waldbewirtschaftung und der Holzverarbeitung für die Verwirklichung dieser Ziele sollte in allen Branchen anerkannt werden und zu einer optimierten branchenübergreifenden Zusammenarbeit führen.

2.1.13.

Nach Auffassung des EWSA könnten Anpassungsmaßnahmen erheblich zur gerechteren Gestaltung der Nachhaltigkeitswende und des Wiederaufbaus nach der COVID-19-Krise beitragen. Gemeinden und Regionen, die negativen Auswirkungen des Klimawandels in überdurchschnittlichem Maße ausgesetzt sind, sollten bei der Eindämmung der Auswirkungen und der wahrgenommenen Risiken unterstützt werden. Dies gilt insbesondere für die Gemeinden und Regionen, deren Treibhausgasemissionen seit jeher unter dem Durchschnitt liegen.

2.1.14.

Der EWSA begrüßt, dass der europäischer Grüne Deal im angepassten Arbeitsprogramm 2020 der Kommission ausreichend und gleichermaßen in allen Teilen berücksichtigt wird. Er betont insbesondere, dass der Schwerpunkt auf die Finanzierung des nachhaltigen Wandels gelegt wird, insbesondere auf das Investitionsprogramm für den europäischen Grünen Deal und den Fonds für einen gerechten Übergang. Auch die anderen im angepassten Arbeitsprogramm genannten Themenbereiche, etwa die nachhaltige und intelligente Mobilität, nachhaltige Produktion und nachhaltiger Verbrauch, Nachhaltigkeit der Lebensmittelsysteme oder Dekarbonisierung der Energie, sind für die Erreichung dieses Ziels von recht großer Bedeutung. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission ihr Hauptaugenmerk auch im Arbeitsprogramm 2021 auf diese Initiativen legen wird.

2.2.   Investitionsprioritäten

2.2.1.

Öffentliche Mittel, die in Konjunkturprogramme investiert werden, sollten nicht nur zum Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft beitragen, sondern im Wege der Förderung einer widerstandsfähigen, inklusiven und klimafreundlichen Wirtschaft (der sogenannten „Ökonomie des Wohlergehens“) auch zur wirksamen Eindämmung der Auswirkungen weiterer Schocks.

2.2.2.

Die EU-Taxonomie für ein nachhaltiges Finanzwesen sollte während der Phase der wirtschaftlichen Erholung als Richtschnur für öffentliche und private Investitionen dienen, um die Verlagerung weg von umweltschädlichen hin zu umweltverträglichen Branchen zu beschleunigen.

2.2.3.

Es muss sichergestellt werden, dass im neuen MFR umfangreiche Mittel für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele und Klimaschutzmaßnahmen vorgesehen und nicht-zweckdienliche Finanzierungen (etwa für fossile Brennstoffe) eingestellt werden.

2.2.4.

Die europäische Wirtschaft hat für den größten Teil des Jahrzehnts nach der Krise nach 2009 eine Investitionslücke verzeichnet, die geschlossen werden muss, um ausreichende Erfolge zu erzielen. Der EWSA begrüßt deshalb den Vorschlag für den Aufbauplan, der vor allem aus dem Instrument Next Generation EU und seinen Säulen besteht, sowie dem angepassten MFR 2021-2027. Next Generation EU kann als außerordentlicher, dabei jedoch notwendiger und dringender Schritt zur Verbesserung des Investitionsumfelds in der EU betrachtet werden. Dies wird beispielsweise in der EWSA-Stellungnahme ECO/523 (6) näher erläutert.

2.2.5.

Der EWSA stellt fest, dass Investitionen kein politisches Ziel der Kommission für die Mandatsperiode bis 2024 darstellen und dass sie auch bei den einzelnen Initiativen im angepassten Arbeitsprogramm 2020 nicht angemessen berücksichtigt werden. Der EWSA empfiehlt deshalb, die auf Investitionen beruhenden Initiativen in das Arbeitsprogramm 2021 aufzunehmen, einschließlich der Bemühungen um die Mobilisierung privater Investitionen zur Förderung der künftigen nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung der EU.

3.   Ein Europa für das digitale Zeitalter

3.1.

Die Coronakrise zeigt, dass die digitale Revolution ein wichtiges Element für eine größere Krisenresilienz unserer Gesellschaft ist. Investitionen in die Digitalisierung wesentlicher Dienstleistungen und die Verbesserung der Fähigkeit von Regierungen, gesetzgebenden Organen und öffentlichen Einrichtungen, ihre Dienste auch in einer Krise weiter zu erbringen, sind von größter Bedeutung. Gleichzeitig müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass digitale Technologien nicht das Endziel, sondern nur ein Hilfsmittel sind. Der Rahmen, in dem sich digitale Technologien bewegen, muss in öffentlicher Verantwortung nach hohen Nachhaltigkeitsstandards geregelt werden. Er muss starke demokratische und technische Schutzmaßnahmen umfassen, verbunden mit Maßnahmen zur Kostenstützung und Wissensförderung, die niemanden zurücklassen. Im Einklang mit dem EU-Rechtsakt über Barrierefreiheit muss daher sichergestellt werden, dass die digitale Revolution die Barrierefreiheit für die mehr als 100 Millionen Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen in der EU gewährleistet.

3.2.

Die Digitalisierung bietet sowohl Chancen als auch Risiken für die Konjunkturerholung. Im Innovationsbereich kann die EU eine Vorreiterrolle spielen, beispielsweise im Bereich Blockchain, wo die EU bereits führend ist. Die Blockchain-Technologie (ohne sie auf Bitcoins zu reduzieren) vermittelt demokratische Werte und bietet dabei Transparenz und verbesserte Steuerungsstrukturen. Die mit der Digitalisierung verbundenen Risiken wie zunehmende Arbeitslosigkeit, digitale Kluft und soziale Ausgrenzung müssen jedoch angegangen werden. Außerdem müssen Möglichkeiten gefunden werden, um die Chancen zu nutzen und diese gleichzeitig gegen die Risiken abzuwägen — und dies in einem Kontext, in dem die EU weltweit wettbewerbsfähig bleiben will.

3.3.

Es ist wichtig, das europäische Modell der Rechte, der Standards und der Verbraucherpolitik beizubehalten. All dies macht die EU einzigartig. Im Bereich der Digitalisierung zum Beispiel beruht der Ethikkodex der EU bezüglich der künstlichen Intelligenz (KI) auf dem Ansatz „human-in-command“ (Kontrolle durch den Menschen), wodurch sich der Standpunkt der EU von dem anderer Weltregionen unterscheidet. Dieser Ansatz, der auf Grundrechten und Grundfreiheiten fußt, ist Teil des EU-Modells und sollte trotz des gegenwärtig immer härteren Wettbewerbsklimas beibehalten werden.

3.4.

Der EWSA unterstreicht, wie wichtig die Digitalisierung in allen Bereichen der Gesellschaft ist, insbesondere durch Telearbeit und digitale Dienste einschließlich des elektronischen Geschäftsverkehrs und elektronischer Gesundheitsdienste.

3.5.

Die Pandemie hat gezeigt, dass bei der Digitalisierung in der Bildung keine gesellschaftsweite Chancengleichheit herrscht, was weitere Probleme bei den schulischen Leistungen und Bildungsmöglichkeiten hervorrufen könnte. Daher werden Maßnahmen zur Unterstützung benachteiligter Gruppen gebraucht, wodurch auch einer Segregation vorgebeugt würde.

3.6.

Der Rechtsrahmen für künstliche Intelligenz und Digitalisierung muss ständig aktualisiert werden, um mit dem technischen Fortschritt Schritt zu halten und insbesondere beim Thema Sicherheit der digitalen Kommunikation in Bezug auf Netze und Inhalte auf dem neuesten Stand zu bleiben.

3.7.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission den Legislativvorschlag zu den Folgemaßnahmen zum Weißbuch zur künstlichen Intelligenz, einschließlich Sicherheit, Haftung, Grundrechte und Daten, auf 2021 verschieben wird. Er ruft die Kommission auf, a) die Multidisziplinarität in der Forschung durch Einbeziehung anderer Disziplinen wie Recht, Ethik, Philosophie, Psychologie, Arbeitswissenschaften, Geisteswissenschaften, Wirtschaft usw. zu fördern, b) relevante Interessenträger (Gewerkschaften, Berufs- und Unternehmensverbände, Verbraucherorganisationen, NRO) in die Debatte über KI und als gleichberechtigte Partner in von der EU finanzierte Forschungsprojekte und andere Projekte wie die öffentlich-private Partnerschaft für KI, sektorale Dialoge, das Adopt-AI-Programm im öffentlichen Sektor und das Leitzentrum einzubeziehen und c) die breitere Öffentlichkeit über die Chancen und Herausforderungen der KI weiter aufzuklären und zu informieren. Ferner empfiehlt er der Kommission, die Auswirkungen der KI auf das gesamte Spektrum der Grundrechte und -freiheiten eingehender zu prüfen, u. a. auf das Recht auf ein faires Verfahren, auf faire und offene Wahlen, auf die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit sowie auf Nichtdiskriminierung. Der EWSA spricht sich nach wie vor gegen die Einführung jeglicher Formen der Rechtspersönlichkeit für KI aus. Dies würde die präventive Wirkung des Haftungsrechts aushöhlen, ein erhebliches Risiko der Schaffung von Fehlanreizen sowohl bei der Entwicklung als auch bei der Nutzung von KI bergen und Missbrauch ermöglichen (7).

3.8.

Aufgrund der zunehmenden Nutzung von Smartphones und der Einführung der 5G-Netze ist die Frage der EU-weiten Interoperabilität zwischen Anwendungen und Netzen insbesondere in Notlagen von großer Bedeutung.

3.9.

Angesichts der weiteren Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung und ihrer zunehmenden Auswirkungen auf das Privat-, Sozial- und Arbeitsleben sowie auf alle Sektoren sind die Vermittlung digitaler Kompetenzen und die Überwindung der digitalen Kluft für die Bürgerinnen und Bürger äußerst wichtig.

3.10.

Die Vorbereitung Europas auf das digitale Zeitalter zählt völlig zu Recht zu den wichtigsten Prioritäten, was auch im angepassten Arbeitsprogramm für 2020 deutlich zum Ausdruck kommt. Der EWSA begrüßt die erheblichen Anstrengungen der Europäischen Kommission in Bereichen wie der künstlichen Intelligenz, digitalen Dienste, der Cybersicherheit, digitalen Geräte und Lösungen für Verbraucher, aber auch der digitalen Finanzdienste. Insbesondere begrüßt er die starke digitale Ausrichtung im Rahmen der vorgeschlagenen neuen Industriestrategie für Europa. Die Digitalisierung kommt auch im Luftverkehrspaket zum Tragen. Der EWSA würdigt ferner, dass die Digitalisierung in den vorgeschlagenen Schwerpunktbereichen für den europäischen Forschungsraum ihren Widerhall findet.

4.   Eine Wirtschaft im Dienste der Menschen

4.1.

Wir müssen unsere wirtschaftspolitische Steuerung auf der Grundlage eines widerstandsfähigen, nachhaltigen und inklusiven europäischen Wirtschaftssystems neu ausrichten. Wir streben keine stereotype wirtschaftliche Erholung, sondern stattdessen eine qualitative Änderung der wirtschaftspolitischen Steuerung an.

4.2.

Noch haben wir kein klares Bild der gesamten Auswirkungen der Krise, fest steht jedoch, dass der Wiederaufbau und die Erholung erhebliche Anstrengungen erfordern werden. Daher müssen die Vorschläge vom Mai 2020 für ein Aufbauinstrument und einen verstärkten MFR dringend umgesetzt werden. Wir müssen auch bereit sein für weitere Maßnahmen und Änderungen der bereits angenommenen Maßnahmen, wenn die Entwicklung der Lage dies rechtfertigt.

4.3.

Die Kommission wird ersucht, das Semester weiterhin als Hebel für den Aufschwung auf der Grundlage der im Rahmen des Europäischen Semesters ermittelten Investitions- und Reformprioritäten zu nutzen. Der Ausschuss begrüßt den jüngsten Fokus auf einer besseren Einbeziehung sozialer Fragen und des europäischen Grünen Deals ebenso wie die Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität im Rahmen des Europäischen Semesters. Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets während des Europäischen Semesters dabei unterstützen, alle zur Stärkung von Konvergenz und Integration im Wirtschaftsbereich erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Dazu gehört auch ein aggregierter positiver fiskalischer Kurs für das Euro-Währungsgebiet als Ganzes zur Bewältigung der aktuellen Krise.

4.4.

Alle in den anderen genannten Politikbereichen dargelegten Prioritäten und Maßnahmen machen die Ausarbeitung eines neuen Rahmens für die wirtschaftspolitische Steuerung erforderlich, der den Herausforderungen der heutigen makroökonomischen Lage gerecht wird und die Umsetzung strategischer industrie-, wettbewerbs-, sozial-, umwelt- und handelspolitischer Maßnahmen durch die Union und ihre Mitgliedstaaten ermöglicht. Anfang 2020 leitete die Kommission eine umfassende öffentliche Konsultation zu diesem Thema ein, die jedoch aufgrund der Coronakrise und der Anwendung der allgemeinen Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts vorerst eingestellt wurde. Wir sollten nicht glauben, dass wir 2021 den Pakt einfach wieder automatisch anwenden können. Die Kommission sollte daher neue Initiativen zur Förderung einer Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts vorlegen, um Stabilität und Wachstum gleichzeitig zu garantieren.

4.5.

In diesem Zusammenhang fordert der EWSA eine stärker symmetrische makroökonomische Anpassung, die sowohl von Mitgliedstaaten mit Defiziten als auch von Mitgliedstaaten mit Überschüssen mitgetragen werden sollte. Alle Mitgliedstaaten müssen mehr in öffentliche Dienste investieren können, denn die Krise hat gezeigt, dass gerade sie eine entscheidende Rolle bei der Rettung von Menschenleben und der Eindämmung der Pandemie spielen. Daneben sollten die europäischen Staats- und Regierungschefs bei der Anwendung der Haushaltsvorschriften der EU wieder die „Goldene Regel“ berücksichtigen, so dass bestimmte öffentliche Investitionen von der Defizitberechnung ausgenommen werden und die Tragfähigkeit des bestehenden Schuldenstands berücksichtigt wird.

4.6.

Schließlich wird seit Langem ein ständiger fiskalischer Stabilisierungsmechanismus für das Euro-Währungsgebiet gefordert, da ein solcher Mechanismus die antizyklische Politik der Union im Falle künftiger Schocks maßgeblich unterstützen würde. Außerdem würde er zur langfristigen Stabilität und Tragfähigkeit der nationalen öffentlichen Finanzen beitragen und wäre der notwendige nächste Schritt zur Vertiefung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.

4.7.

Die Erholung nach der COVID-19-Krise wird entscheidend von der Fähigkeit der europäischen Finanzmärkte abhängen, ausreichende Liquidität zu gewährleisten. Um die Widerstandsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu stärken, müssen die Finanzmärkte ordnungsgemäß funktionieren und die Möglichkeiten, Finanzrisiken gemeinsam zu tragen, ausgebaut werden. Die weitere Harmonisierung und Integration der europäischen Finanzmärkte sollte daher ohne Verzögerungen fortgesetzt werden, einschließlich der Vollendung der Bankenunion und der Stärkung der Kapitalmarktunion. Bei der Überprüfung der Bankenaufsichtsvorschriften zur Umsetzung der verbleibenden Vereinbarungen der Baseler Rahmenvereinbarung müssen die Besonderheiten der EU-Bankenlandschaft berücksichtigt werden. Darüber hinaus muss dafür gesorgt werden, dass die Finanzmärkte die ökologische Wende und die Digitalisierung unterstützen können. Nach Auffassung des EWSA sind daher mehr Anstrengungen für mehr Nachhaltigkeit im gesamten Finanzsektor erforderlich, weswegen er die Absicht der Kommission begrüßt, ihre Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen zu erneuern.

4.8.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass im Rahmen der Digitalisierung der Wirtschaft etwaige Änderungen der Zuweisung der Gewinnbesteuerungsrechte zwischen den Staaten weltweit koordiniert werden müssen und begrüßt daher die enge Zusammenarbeit zwischen der Kommission, den Mitgliedstaaten und der OECD/G20 zur Unterstützung der Entwicklung einer internationalen Lösung. Kann eine internationale Lösung nicht gefunden werden, muss die EU einen Alleingang in Erwägung ziehen. Der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung sowie der Geldwäsche muss weiterhin höchste Priorität eingeräumt werden.

4.9.

Die Kohäsionspolitik wird eine Schlüsselrolle dabei spielen, wenn es darum geht, eine ausgewogene Erholung zu gewährleisten, Konvergenz zu fördern und sicherzustellen, dass niemand zurückgelassen wird. Bei den kohäsionspolitischen Programmen ist finanzielle Flexibilität besonders wichtig, die es den Mitgliedstaaten ermöglicht, die Mittel ihrem Bedarf entsprechend zur Bewältigung der Krise einzusetzen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die zeitliche Flexibilität realistisch gehandhabt werden sollte, damit die Mittel den Mitgliedstaaten so bald wie möglich zugewiesen werden. Die EU-Kohäsionspolitik sollte sich auch im Zeitraum 2021-2027 auf die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit durch Forschung und Innovation, die Digitalisierung sowie auf die Agenda des europäischen Grünen Deals und der nachhaltigen Entwicklung konzentrieren.

4.10.

Die durch den Ausbruch von COVID-19 verursachte Gesundheits- und Wirtschaftskrise hat die bestehenden Ungleichheiten bei Wohlstand und Einkommen verschärft und deutlich gezeigt, dass wir ein neues Gesellschaftsmodell brauchen, das zu mehr wirtschaftlichem und sozialem Zusammenhalt, Produktivitätssteigerungen und einer gerechteren Verteilung des Wohlstands beiträgt. Die Kommission muss nun dringend auf frühere Vorschläge des EWSA eingehen, die dazu beitragen würden, den Trend zunehmender Ungleichheit umzukehren, die zu einer Kluft zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten und gesellschaftlichen Gruppen führt und den Aufstieg extremer Bewegungen und Parteien begünstigt hat. Hierfür bedarf es entschlossener Maßnahmen der EU, die die Anstrengungen der Mitgliedstaaten ergänzen, um Investitionen in die soziale Infrastruktur (Bildung und lebenslanges Lernen, Gesundheitsversorgung, Langzeitpflege und Sozialfürsorge, erschwinglicher Wohnraum) anzukurbeln, öffentliches Vermögen zu entwickeln, um Lücken im Marktsystem auszugleichen, das Steueraufkommen allmählich zu verlagern, damit es weniger auf der Besteuerung von Arbeit als auf der Besteuerung von Vermögen beruht, ein transparentes Verfahren für die systematische Verfolgung und Konsolidierung der Daten über sämtliche Einkünfte und Vermögenswerte zu entwickeln und ein Finanzregister der Anteilseigner von Unternehmen auf europäischer Ebene zu erstellen usw.

4.11.

Vor dem Hintergrund der COVID-19-Krise sollte die Kommission auch frühere Initiativen weiterverfolgen, die die Stärkung und Förderung der Rolle Europas als globaler Wirtschaftsteilnehmer zum Ziel haben. Sie sollte weitere konkrete Mittel und Wege erforschen und vorschlagen, um die internationale Rolle des Euro zu stärken, Lieferketten zu diversifizieren und europäische Regeln und Standards in bestimmten strategischen Sektoren zu fördern, eine widerstandsfähigere europäische Reaktion auf extraterritoriale Sanktionen von Drittländern sicherzustellen und schrittweise auf eine einheitliche europäische Vertretung in den internationalen Finanzforen hinzuarbeiten.

4.12.

Wirtschaftlicher Wohlstand muss von Umweltzerstörung und sozialer Erschöpfung abgekoppelt werden. Modelle wie die Kreislaufwirtschaft, Gemeinwirtschaft und kollaborative Wirtschaft bieten neue Möglichkeiten für Beschäftigung, Eigentum und Innovation, und sie verändern die Beziehungen zwischen Herstellern, Händlern und Verbrauchern, wodurch alle Akteure krisenresistenter werden, eine angemessene Regulierung vorausgesetzt. Neben der ordnungsgemäßen Umsetzung des neuen Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft und der Fortführung der Europäischen Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft des EWSA/der Europäischen Kommission zählen zu den wichtigsten Prioritäten: die Förderung einer umfassenden Strategie für nachhaltigen Konsum, die Entwicklung neuer Indikatoren zur Ablösung des ungeeigneten BIP und die Einbeziehung der Aspekte der Nachhaltigkeit und des Wohlergehens in den Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU.

4.13.

Wir müssen eine Gesellschaft wiederaufbauen, in der die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse im Sinne von Artikel 14 AEUV zu den DAWI, dem dem AEUV beigefügten Protokoll Nr. 26 über DAI und insbesondere der europäischen Säule sozialer Rechte stärker entwickelt sind; nötig sind gleichfalls Gesundheits- und Sozialdienstleistungen, elektronische Kommunikation, öffentlicher Verkehr, Energie-, Wasser- und Abfallwirtschaft sowie ein flankierendes Investitionsprogramm.

4.14.

Moderne Konzepte für die Wirtschaftsentwicklung beziehen sich nicht nur auf die Kriterien Wohlstand, Rentabilität und Effizienz, sondern auch auf die Berücksichtigung sozialer und ökologischer Anforderungen und den Abbau aller Arten von negativen externen Effekten und Marktversagen. Eine Erkenntnis aus der jüngsten COVID-Krise muss lauten, dass die Wirtschaft auch widerstandsfähig und stark genug sein muss, um künftigen Schocks standhalten zu können. Hierfür ist es dringend angeraten, strukturelle Ungleichgewichte zu beseitigen.

4.15.

Die moderne Wirtschaft erfordert ferner ein reibungsloses Funktionieren aller Marktsegmente, auch der neuesten (virtuelle Wirtschaft, Sharing Economy, Kreislaufwirtschaft, digitale Wirtschaft). Daher muss auch für ein besseres Funktionieren der Finanzintermediation gesorgt werden, was im EU-Kontext insbesondere die Vertiefung der Kapitalmarktunion und die Vollendung der Bankenunion bedeutet. Um den Übergang zu einer nachhaltigeren Wirtschaft stärker zu unterstützen, müsste auch das Besteuerungssystem angepasst werden.

4.16.   Der Binnenmarkt

4.16.1.

Der Binnenmarkt ist der tragende Pfeiler des europäischen Projekts. Ein funktionierender Binnenmarkt fördert den Wettbewerb, steigert Effizienz und Qualität und trägt zu Preissenkungen bei. Der europäische Binnenmarkt ist sicherlich eine der größten Errungenschaften der EU. Daher muss unbedingt untersucht werden, wie das Funktionieren des Binnenmarkts die wirtschaftliche Erholung nach der Gesundheitskrise stimulieren oder aber behindern kann.

4.16.2.

Die Kohärenz und Einheit des Binnenmarkts wurden während der COVID-Pandemie auf eine harte Probe gestellt. In einigen Bereichen sind schwere Beeinträchtigungen bzw. eine vollständige Lähmung des Binnenmarkts aufgetreten, insbesondere im Bereich des freien Personenverkehrs. Auch die Kontinuität der grenzüberschreitenden Lieferketten hat gelitten. Das Volumen des grenzüberschreitenden Handels in der EU ging im Vergleich zum Vorjahr um Werte im zweistelligen Bereich zurück. Der Kern des Binnenmarkts blieb jedoch erhalten und hat überlebt. Die größte Herausforderung besteht jetzt in der Wiederherstellung aller EU-internen natürlichen grenzüberschreitenden Ströme und im Abbau der bestehenden Hindernisse für den Binnenmarkt, die in jüngster Zeit infolge einiger national ausgerichteter Strategien und Konzepte nach der letzten Krise sogar noch zunahmen.

4.16.3.

Es gibt eine Chance zur Förderung der sozialen Innovation als Modell für den Wiederaufbau durch gemeinsame Entwicklung, Gestaltung und Produktion. In einem komplexen sozialen Umfeld mit massiven gesellschaftlichen Herausforderungen besteht die einzige Möglichkeit darin, alle Ressourcen in der Gesellschaft zu mobilisieren und dabei bereichsübergreifend und multidisziplinär zu arbeiten, um Lösungen zu finden. Die organisierte Zivilgesellschaft ist ein Katalysator für soziale Innovation, aus der heraus Sozialsysteme entstanden sind, die neue Ansätze, Strukturen, Produkte, Dienstleistungen und Arbeitsmethoden hervorgebracht haben. Die Teilhabe der Zivilgesellschaft ist heute wichtiger denn je, doch kann es echte soziale Innovation nur geben, wenn die Zivilgesellschaft beteiligt wird.

4.16.4.

Die Binnenmarktstrategie steht im Mittelpunkt des europäischen Projekts. Sie ermöglicht den freieren Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr und eröffnet Chancen für europäische Unternehmen, Verbraucher und Arbeitnehmer. Es bedarf weiterer Maßnahmen, um das volle Binnenmarktpotenzial durch die Beseitigung von Hindernissen zu erschließen. Zudem muss sich der Binnenmarkt nach der Krise und im Kontext anderer Aspekte eines sich wandelnden Umfelds wie der Digitalisierung neuen Ideen und Unternehmensmodellen anpassen. Daher muss der Binnenmarkt als Aufbauinstrument wiederhergestellt, neu belebt und umgebaut werden. Zu den kurzfristigen Schritten gehört eine unverzügliche Öffnung der Grenzen. Darüber hinaus muss kurzfristig in zwei Bereichen gehandelt werden: Spannungen abbauen und die Wirtschaft ankurbeln und die Produktivität steigern.

4.16.5.

Die sich abzeichnenden „Schieflagen“ sind ein ernster Grund zur Sorge. Die Konjunkturpakete der Mitgliedstaaten sind sehr unterschiedlich und haben (ungeachtet der guten Absicht einer Abfederung des Nachfrageschocks) zu ungleichen Bedingungen unter den Mitgliedstaaten geführt. Zudem muss die Frage staatlicher Beihilfen erörtert und aus sektoraler Sicht analysiert werden. Dabei wird zu prüfen sein, inwieweit diese Maßnahmen den Wettbewerb und die Ausgangsbedingungen kurz- und langfristig verzerren.

4.16.6.

Wir brauchen Produktivität in der Realwirtschaft (d. h. Arbeitsplätze, Kaufkraft und grundlegende Produkte und Dienstleistungen). Produktivität äußert sich in unterschiedlicher Form und kann durch verschiedene Geschäftsmodelle erreicht werden, wir müssen aber in diesem Bereich handeln, wenn wir ein weiteres Aufgehen der Ungleichheitsschere verhindern wollen. Um neu durchzustarten, brauchen wir Unterstützungspakete und ein KMU- und industriefreundliches Umfeld. Als Rückgrat der europäischen Wirtschaft brauchen KMU eine besondere Unterstützung, die ihnen keinen Mehraufwand oder Bürokratie verursacht. Die KMU werden nur mit finanzieller Hilfe der EU und der Mitgliedstaaten wieder auf die Beine kommen. In dieser Hinsicht sind Zuschüsse, Kredite, die Sicherstellung der Liquidität, steuerliche Anreize, günstige Bedingungen für die Weiterbeschäftigung oder Neueinstellung von Mitarbeitern, eine Überarbeitung des Insolvenzrechts und andere Formen der Unterstützung wichtig. Im Bereich des Insolvenzrechts sollte die EU gesetzgeberisch tätig werden, damit kleine Betriebe, die aufgrund von COVID-19 bankrottgingen, rasch wieder neugegründet werden können. Diese Maßnahmen sollten zeitlich begrenzt sein.

4.17.   Industriestrategie

4.17.1.

Viele der vorstehend genannten Punkte gelten generell auch für die Industriestrategie. Anders als die Dienstleistungsbranche muss die europäische Industrie muss jedoch nicht nur die Verbesserung des Binnenmarkts, sondern auch einen fundamentalen Strukturwandel meistern, der vor allem den Kohlebergbau und die CO2-intensive Schwerindustrie betrifft.

4.17.2.

Im Mittelpunkt der neuen Industriestrategie für Europa steht die Suche nach Lösungen für eine Vereinbarkeit einer modernen und starken europäischen Industrie mit den klima- und umweltpolitischen Notwendigkeiten. Der EWSA ist überzeugt, dass eine solche Vereinbarkeit möglich ist und sie, wenn sie erfolgreich ist, Europa global einen komparativen Vorteil verschaffen kann. Andererseits ist sich der EWSA der hiermit verbundenen gigantischen Kosten durchaus und absolut bewusst, weswegen er sich dafür ausspricht, sie in angemessener Weise und unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Möglichkeiten einzudämmen und Ausgleiche zu schaffen.

4.18.   Gesundheitssysteme

4.18.1.

Nicht zuletzt lautet eine der wichtigsten Lehren aus der Coronakrise, dass die Gesundheitssysteme in fast allen europäischen Ländern gestärkt werden müssen, indem der Schwerpunkt in erster Linie auf Prävention gelegt wird. Die Auswirkungen des Coronavirus belasten die Gesundheitssysteme in ganz Europa enorm. Zwar fällt die Gesundheitsversorgung in die Zuständigkeit der einzelnen Länder, doch kennt die Ausbreitung des Virus keine Grenzen. Das Virus verbreitet sich in ganz Europa — sowohl innerhalb als auch außerhalb unserer Grenzen —, mit gesundheits-, sozial- und wirtschaftspolitischen Folgen, die gemeinsame Reaktionen auf europäischer Ebene erfordern.

4.18.2.

Die Coronakrise hat gezeigt, dass die EU von der Einfuhr von Medizinprodukten aus Drittstaaten abhängig ist. Die erforderlichen Investitionen in Gesundheitsschutz, Pflege (insbesondere Langzeitpflegedienstleistungen), Gesundheitsvorsorge sowie Maßnahmen für die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz müssen im Rahmen eines Lebenszyklusansatzes von den EU-Institutionen unterstützt werden.

4.18.3.

Die Coronakrise verdeutlicht, dass multinationale Pharmaunternehmen eine große Macht haben. Um die Unabhängigkeit der Pharmaindustrie zu stärken, muss auch ein großer europäischer Forschungsfonds für die Entwicklung neuer Arzneimittel und Impfstoffe eingerichtet werden. Die EU-Organe sollten über die erforderlichen Befugnisse verfügen, um die Bereitstellung, den Vertrieb und die Preise von grundlegenden medizinischen und dem Schutz dienenden Ausrüstungen im Binnenmarkt zu koordinieren.

4.18.4.

Der EWSA fordert eine Nachhaltigkeitsstrategie für Chemikalien, die den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt gewährleistet und gleichzeitig die Exposition gegenüber gefährlichen Chemikalien minimiert. Die neue Strategie muss vollumfänglich mit dem europäischen Grünen Deal in Einklang stehen.

4.18.5.

Es ist wichtig, das Vertrauen der Fahrgäste insbesondere in öffentliche Verkehrsmittel wiederherzustellen. Dazu sind unter anderem Maßnahmen erforderlich, um den Gesundheitsschutz der Fahrgäste zu verbessern (z. B. Klimaanlagen, Erkennung kranker Personen, Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen usw.). In diesem Zusammenhang müssen die Fahrgastrechte überdacht und sogar gestärkt werden (z. B. Erstattungen für abgesagte Reisen).

5.   Ein stärkeres Europa in der Welt

5.1.

Die EU muss ihre globale Position stärken und unterstützen, um sowohl in der Weltwirtschaft als auch in der internationalen Politik eine wichtigere strategische Rolle einzunehmen. In den letzten zehn Jahren ist diese Position schwächer geworden. Die EU-Wirtschaft verfügt über das Potenzial, ihre komparativen Vorteile auf dem globalen Handels- und Investitionsmarkt insbesondere in den Bereichen fortgeschrittene Fertigung und innovative Dienstleistungen besser zu nutzen und hat den Anspruch, weltweit führend zu sein. Neben diesem Bestreben sollte eine bessere und wirksamere Vertretung der EU in wichtigen internationalen Organisationen gewährleistet und sichergestellt werden, dass diese dort mit einer Stimme spricht. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, entsprechende Anstrengungen zu unternehmen, um die Notwendigkeit, die globale Position der EU zu stärken, in ihrem Arbeitsprogramm für 2021 deutlicher herauszustellen.

5.1.

In Bezug auf den Handel sollte die EU weiter einen multilateralen Ansatz unterstützen. Die Einbettung von Sozialstandards, Arbeitsnormen und Nachhaltigkeitsstandards (8) in die Regeln der WTO und anderer Einrichtungen der Vereinten Nationen könnte wesentlich zur Etablierung einer neuen, fairen Wirtschaftsordnung und einer gerechten und intelligenten Globalisierung beitragen. Gleichzeitig sollte sich die EU den Bestrebungen widersetzen, neue Hindernisse und Beschränkungen in der Weltwirtschaft einzuführen.

5.2.

Als eine der konkreten Lehren aus der COVID-19-Krise sollte die EU den Schutz ihrer strategischen Vermögenswerte und Investitionen genauer prüfen und die Kontrolle in jenen Bereichen verstärken, in denen das Risiko besteht, dass eine Investitionstransaktion in einer strategischen Branche politisch missbraucht wird.

5.3.

Nach dem Brexit sollte sich die EU nicht nur auf die Stärkung ihres Zusammenhalts und ihrer Einheit konzentrieren, sondern in einschlägigen Fällen auch den Erweiterungsprozess fortführen, der sich trotz einiger Fortschritte, insbesondere beim Beitritt einiger westlicher Balkanländer, in letzter Zeit etwas verzögert hat. Die Erweiterung könnte erheblich dazu beitragen, die politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten zu beseitigen und die Stabilität in diesem Teil Europas zu erhöhen.

5.4.

In den letzten zehn Jahren hat sich die geopolitische Lage verschlechtert, wovon auch näher an der EU-Außengrenze gelegene Gebiete betroffen sind. Um die Stabilität zu fördern und die Beziehungen mit der EU zu verbessern, sollte die Initiative für eine strategische Partnerschaft und eine inklusive Nachbarschaftspolitik fortgesetzt werden. Dabei sollte flexibel auf die neuen Gegebenheiten eingegangen und auf wechselseitigen Respekt sowie die Vorteile der Initiative für beide Seiten gesetzt werden.

5.5.

Aufgrund der sich wandelnden geopolitischen Lage und der Auswirkungen der jüngsten Migrationskrise sowie durch die Verschlechterung der internationalen Beziehungen mit der Entstehung vieler neuer Risiken hat sich auch der Fokus der EU-Entwicklungshilfe verschoben. Es ist davon auszugehen, dass die Finanzmittel für diesen Zweck im nächsten MFR erheblich aufgestockt und der Europäische Entwicklungsfonds in den Rahmen integriert wird. Der EWSA unterstützt diese Maßnahmen und betont, dass Afrika besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss, um dem Kontinent bei der Bewältigung der schwierigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Lage zu helfen.

5.6.

Die geopolitische und strategische Rolle der EU bei der Förderung von Friedensprozessen muss wiederbelebt werden, um neue Chancen für die wirtschaftliche Entwicklung in den EU-Nachbarländern zu schaffen: Westbalkan, Partner im Europa-Mittelmeerraum und in Osteuropa und andere Konfliktgebiete.

6.   Förderung unserer europäischen Lebensweise

6.1.   Soziale Maßnahmen

6.1.1.

Neben wirtschaftlichen und ökologischen Fragen muss das Arbeitsprogramm der EU für 2021 auch an sozialen Fragen ausgerichtet werden. Das bedeutet, dass dem Engagement für ein soziales und nachhaltiges Europa Priorität eingeräumt werden muss. Dabei spielen auch die Organisationen der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle. Es gibt eine Chance zur Förderung der sozialen Innovation als Modell für den Wiederaufbau durch gemeinsame Entwicklung, Gestaltung und Produktion. In einem komplexen sozialen Umfeld mit massiven gesellschaftlichen Herausforderungen besteht die einzige Möglichkeit darin, alle Ressourcen in der Gesellschaft zu mobilisieren und dabei bereichsübergreifend und multidisziplinär zu arbeiten, um Lösungen zu finden. Dabei ist die organisierte Zivilgesellschaft die Triebfeder für soziale Innovation.

6.1.2.

Es muss ein breiteres Verständnis des Begriffs „gerechter Übergang“ (über den Kohleausstieg hinaus) entwickelt werden, die europäische Säule sozialer Rechte muss vollständig umgesetzt werden und gleichzeitig müssen die Umverteilungssysteme reformiert und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben sowie die Geschlechtergleichstellung gefördert werden.

6.1.3.

Die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte auf europäischer Ebene und in allen Mitgliedstaaten ist ein wichtiger Schritt, um proaktiv einen Prozess der sozialen Aufwärtskonvergenz einzuleiten. In den politischen Leitlinien der Kommission wurde ein gerechter Übergang zu einer grünen sozialen Marktwirtschaft für alle versprochen. In diesem Zusammenhang hat die Kommission den Fahrplan „Ein starkes soziales Europa für einen gerechten Übergang“ vorgelegt, mit dem eine Debatte mit den EU-Mitgliedstaaten und Regionen sowie den Partnern über konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der Säule angestoßen wurde, um bis November 2020 Fortschritte auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene zu erzielen (9). Auf der Grundlage der eingegangenen Beiträge wird die Kommission Anfang 2021 einen Aktionsplan für die Umsetzung der Säule vorlegen. Weitere Vorschläge für 2021 sind im Anhang zum Fahrplan enthalten. Dazu gehören eine Kindergarantie, ein Aktionsplan für die Sozialwirtschaft, eine Strategie für Menschen mit Behinderungen und eine langfristige Vision für ländliche Gebiete (10).

6.1.4.

Im Zusammenhang mit dem Fahrplan hat die Kommission eine erste Phase und anschließend eine zweite Phase der Konsultation der Sozialpartner zu angemessenen Mindestlöhnen eingeleitet (11). Der EWSA sieht einer künftigen Rechtsinitiative der Kommission für einen angemessenen und gerechten Mindestlohn erwartungsvoll entgegen. Ziel einer solchen Initiative sollte es sein, sicherzustellen, dass die Mindestlöhne allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern überall in der EU einen angemessenen Lebensstandard sichern. Der EWSA begrüßt die Feststellung der Kommission, dass Maßnahmen der EU zur Förderung der Angemessenheit von Mindestlöhnen und der Ausweitung der Tarifbindung die Rolle von Tarifverhandlungen stärken könnten und dass die EU-Maßnahmen zu Mindestlöhnen auch die Unterstützung von Tarifverhandlungen, insbesondere auf Sektorebene, umfassen sollten (12).

6.1.5.

Die soziale Dimension der EU ist so komplex, dass ihre Stärkung die Schaffung von Governance-Mechanismen erfordert, die eine gemeinsame bereichsübergreifende Problemlösung durch verschiedene Akteure ermöglichen. Dem sozialen Dialog kommt entscheidende Bedeutung zu. Eine starke soziale Erholung impliziert auch einen besseren Zugang zu Gewerkschaften und besseren Schutz. Tarifverhandlungen und die Demokratie am Arbeitsplatz sollten unterstützt werden. Die EU und die Mitgliedstaaten müssen die Sozialpartner bei einer erheblichen Ausweitung der Tarifbindung unterstützen. Die Repräsentativität und die Autonomie des sozialen Dialogs müssen ebenso gestärkt werden wie die Verbindungen zwischen dessen europäischer und nationaler Ebene. Darüber hinaus müssen die Kapazitäten und die Beteiligung der Sozialpartner an der Politikgestaltung weiter verbessert und ein stabiler und ausgewogener Rahmen für die Arbeitsbeziehungen sichergestellt werden. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Europäische Kommission den EU-Qualitätsrahmen für die Antizipation von Veränderungen und Umstrukturierungen überarbeiten und, ohne in die nationalen Zuständigkeiten einzugreifen, eine Rechtsgrundlage mit spezifischen Rahmenbedingungen für die Arbeitnehmerbeteiligung vorschlagen sollte (13), um deren Mitwirkung an der Bewältigung der Herausforderungen des Grünen Deals und des digitalen Wandels zu verbessern.

6.1.6.

Der EWSA fordert die Kommission auf, die wirtschaftspolitische Steuerung der Europäischen Union zu reformieren. Dieser Paradigmenwechsel erfordert Änderungen a) im Governancebereich, d. h. die Entwicklung spezifischer Governancemechanismen, um dringende Probleme schneller zu lösen und komplexe Fragestellungen zu bewältigen. Durch diese Mechanismen würden die EU- und nationale Ebene verknüpft, nicht aber Maßnahmen auf diesen Ebenen ersetzt; b) bei der Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele im Rahmen der wirtschafts- und sozialpolitischen Überwachungs- und Haushaltsplanungsverfahren. Für das Europäische Semester könnten daher neue verbesserte quantifizierbare und sich ergänzende soziale, wirtschaftliche und ökologische Indikatoren entwickelt werden, um alle Aspekte und Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte sowie die 17 SDG zu überwachen und zu begleiten (14).

6.1.7.

Der EWSA begrüßt den für 2021 angekündigten Vorschlag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformarbeitern. Er bedauert jedoch, dass die viel umfassendere Herausforderung eines inklusiven und fairen Übergangs in der Kommissionsmitteilung nicht direkt angesprochen wird (15). Er betont, dass ein ehrgeiziger Aktionsplan gebraucht wird, der den Mitgliedstaaten den Rückhalt gibt, ihre Versprechen bezüglich der Proklamation der europäischen Säule sozialer Rechte auch einzulösen (16).

6.1.8.

In der Wiederaufbauphase nach der COVID-19-Krise ist die Neugestaltung der Arbeitswelt von entscheidender Bedeutung. Sowohl im privaten als auch im öffentlichen Gesundheits- und Pflegebereich war das Streben nach mehr Produktivität der Dienstleistungsqualität und den Arbeitsbedingungen abträglich. Das hatte während der Gesundheitskrise in den meisten EU-Ländern dramatische Folgen. Die Verlagerung hin zu Dienstleistungen würde zu einer arbeitsintensiveren Wirtschaft führen, was wiederum die Prekarität der Arbeitsplätze in diesen Branchen ausgleichen, die Beschäftigung ankurbeln und wieder mehr Arbeitsplätze in der Realwirtschaft entstehen lassen würde. Deshalb sind Strategien zur Förderung hochwertiger Arbeit in arbeitsintensiven Branchen, die hochwertige Dienstleistungen erbringen, von zentraler Bedeutung.

6.1.9.

Der EWSA ist weiter besorgt darüber, dass Armut im Allgemeinen sowie Erwerbsarmut in vielen Mitgliedstaaten nach wie vor ein erhebliches Problem darstellen. Neben der Verbesserung des Lohnniveaus bedarf es eines umfassenden Ansatzes auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten, einschließlich Maßnahmen zur Gewährleistung angemessener Mindesteinkommensregelungen, gemeinsamer Mindeststandards im Bereich der Arbeitslosenversicherung sowie wirksamer Verfahren für die aktive Eingliederung, die durch grundlegende und auf Qualifizierung abstellende soziale Dienstleistungen gefördert werden muss. Darüber hinaus sind gut funktionierende Arbeitsmärkte, öffentliche Arbeitsverwaltungen und aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen erforderlich (17).

6.1.10.

Der EWSA unterstützt die Strategie der Kommission für die Gleichstellung der Geschlechter 2020-2025 und empfiehlt dieser, in allen Programmplanungs- und Leitungsgremien Strategien für das Gender Mainstreaming sowie einen bereichsübergreifenden Ansatz für die Geschlechtergleichstellung zu verfolgen. Die Gleichstellungsstrategie sollte parallel zur Bewältigung der Auswirkungen von COVID-19 mithilfe maßgeschneiderter und gezielter politischer Maßnahmen umgesetzt werden. Der EWSA nimmt die Absicht der Kommission zur Kenntnis, eine Gesetzesinitiative für verbindliche Maßnahmen zur Lohntransparenz vorzuschlagen. Zur Bekämpfung des Lohngefälles und anderer geschlechtsspezifischer Unterschiede sollten jene Berufe und Branchen, in denen traditionell viele — oft unterbezahlte und wenig wertgeschätzte — Frauen beschäftigt sind, mehr soziale Anerkennung und wirtschaftlichen Wert erhalten.

6.1.11.

Wichtig ist auch, die sozioökonomischen Folgen der Pandemie, die in den Schlüsselbereichen Verkehr, Reisen und Tourismus außergewöhnlich stark sind, weiter zu bekämpfen und abzumildern.

6.2.   Migration und die Zeit nach COVID-19

6.2.1.

Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie, der daraus resultierenden gewaltigen Tragödie für die nationalen Gesundheitssysteme und dem wirtschaftlichen Kollaps in allen Ländern schien die Frage der Migration von der Tagesordnung zu verschwinden und zweitrangig zu werden, was mit einer gewissen Gleichgültigkeit seitens der Öffentlichkeit einherging. Wegen der derzeitigen Krise dürfen Asylsuchende aber nicht im Stich gelassen werden. Grundlegende Schutzrechte stehen im Zentrum der europäischen Werte und dürfen nicht aufgegeben werden, wenn die Zeiten dafür ungünstig sind.

7.   Neuer Schwung für die Demokratie in Europa

7.1.

Die Europäische Union fußt auf gemeinsamen Werten, die unter keinen Umständen verhandelbar sind: Wahrung der Menschenwürde und der Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Diese Werte dürfen auch dann nicht missachtet werden, wenn die EU und ihre Mitgliedstaaten mit einer Notlage und den sich daraus ergebenden wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen konfrontiert sind. Sicherlich bedarf es einer raschen Reaktion auf die derzeitige Krise, die bestimmte außerordentliche und zeitlich begrenzte Maßnahmen rechtfertigt. Diese dürfen aber weder gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen noch die Demokratie, die Gewaltenteilung und die Grundrechte der Unionsbürgerinnen und -bürger in Frage stellen. Der EWSA dringt darauf, dass alle in diesem Zusammenhang ergriffenen politischen Maßnahmen voll und ganz im Einklang mit unseren gemeinsamen Werten stehen müssen, wie sie in Artikel 2 EUV verankert sind.

7.2.

In diesem neuen Wiederaufbau- und Erholungsprozess hofft der EWSA, dass die bevorstehende Konferenz zur Zukunft Europas Gelegenheit bietet, die institutionelle Struktur der EU zu stärken und zu vertiefen und das EU-Projekt neu zu formulieren, um für die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte gewappnet zu sein.

7.3.

Die COVID-19-Krise hat die institutionellen Grenzen und Mängel der Europäischen Union in ihrer derzeitigen Form offenbart und gleichzeitig gezeigt, dass eine wirksame und effiziente Union dringend erforderlich ist. Die Europäische Union braucht ein neues Konzept, das über den EU-Binnenmarkt hinausgeht und zu einem stärker integrierten Europa mit einer echten Fiskalkapazität führt, dessen Hauptziel darin besteht, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Aus diesen Gründen ist der EWSA der Auffassung, dass die bestehenden Konjunkturinstrumente der EU und die bereits etablierte Solidarität im Zuge der Konferenz zur Zukunft Europas berücksichtigt und gleichzeitig für ökologische Nachhaltigkeit, wirtschaftliche Entwicklung, sozialen Fortschritt, Sicherheit und Demokratie gesorgt werden sollte. Der EWSA betont, dass das direkte Engagement der Organisationen der Zivilgesellschaft, der Sozialpartner und der gewählten Vertreter trotz der Pandemie eine Priorität der Konferenz bleiben muss, und sieht ihrem Beginn erwartungsvoll entgegen, um gemeinsam mit allen Unionsbürgerinnen und -bürgern eine demokratischere, wirksamere und widerstandsfähigere Union aufzubauen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission das Mandat der Konferenz in Bezug auf die möglichen Ergebnisse offenhalten sollte, einschließlich Legislativvorschlägen, der Einleitung einer Vertragsänderung oder sonstiger Maßnahmen.

7.4.

Desinformation gefährdet nach Auffassung des EWSA nicht nur unmittelbar die Fähigkeit der Menschen, fundierte politische Entscheidungen zu treffen, sondern auch das Projekt der europäischen Integration und damit die Einheit, den Wohlstand und den Einfluss der Europäischen Union in der Welt. Es liegt durchaus im Interesse einer Reihe ausländischer Mächte sowie extremistischer Gruppen, die gegen Zusammenarbeit und mehr Zusammenhalt in Europa sind, die demokratische Entscheidungsfähigkeit der EU zu schwächen. Der EWSA bringt seine entschiedene Unterstützung für die gegenwärtigen Anstrengungen der EU zur Bekämpfung von Desinformation (18), sowohl von außen als auch von innen, zum Ausdruck und fordert die Kommission auf, für die umfassende Einhaltung des Verhaltenskodexes für den Bereich Desinformation sowie der darauf aufbauenden ordnungspolitischen Maßnahmen sowie für die Weiterentwicklung des neu geschaffenen Frühwarnsystems und der Aufklärungseinheiten von StratCom und die Ausweitung der Maßnahmen des Europäischen Auswärtigen Dienstes gegen Desinformation zu sorgen. Zugleich sollten die Maßnahmen der EU gegen Desinformation aus der EU selbst erheblich aufgestockt werden.

7.5.

Der EWSA unterstützt nachdrücklich den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Erarbeitung eines Europäischen Aktionsplans für Demokratie, der umfassend und langfristig angelegt sein, Änderungen bewirken und durch finanzielle Unterstützung und interinstitutionelle Koordinierung abgesichert sein sollte. Der Europäische Aktionsplan für Demokratie und entsprechende künftige Initiativen sollten verstärkt auf folgende Aspekte abzielen: freie und pluralistische Medien und unabhängigen Qualitätsjournalismus, wirksame Regulierung der sozialen Medien, insbesondere zur Bekämpfung von Desinformation einschließlich Regulierung politischer Werbung im Internet und Haftung für Inhalte, ein moderneres Wahlverfahren und die Inklusion vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossener Gruppen, vor allem Menschen mit Behinderungen, sowie umfassende politische Bildung über die Europäische Union und ihre demokratischen Verfahren in allen Mitgliedstaaten. Der EWSA verweist auf seinen Vorschlag für eine ehrgeizige EU-Strategie für Kommunikation, Bildung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie (19).

7.6.

Weitere Maßnahmen sind erforderlich, um freie und pluralistische Medien und einen unabhängigen Qualitätsjournalismus zu gewährleisten sowie — insbesondere zur Bekämpfung von Desinformation — eine wirksame Regulierung der sozialen Medien einschließlich Bestimmungen zu politischer Werbung und zur Haftung für Inhalte im Internet sicherzustellen.

7.7.   Bessere Rechtsetzung und Vorausschau

7.7.1.

Der EWSA bekräftigt seine Forderung nach einer überarbeiteten Agenda für bessere Rechtsetzung, die auch eine „Nachhaltigkeitsprüfung“ umfasst, um sicherzustellen, dass alle Rechtsvorschriften und politischen Maßnahmen der EU zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele beitragen.

7.7.2.

Der EWSA ist entschlossen, zum Erfolg der neuen Plattform „Fit for Future“ (F4F) beizutragen, die die REFIT-Plattform ersetzt, und begrüßt die Aufwertung der Rolle des EWSA bei F4F in Bezug auf seine Beteiligung, Vertretung und Beiträge. Im Rahmen dieser neuen Plattform werden die Mitgliedstaaten und die Vertreter der Zivilgesellschaft in die Arbeiten zur Vereinfachung und Verringerung des unnötigen Verwaltungsaufwands sowie zur Vorbereitung Europas auf neue Herausforderungen wie die Digitalisierung einbezogen. Die COVID-19-Krise hat gezeigt, wie wichtig es ist, politische Maßnahmen zu konzipieren und Kapazitäten aufzubauen, um für die Unwägbarkeiten der Zukunft gerüstet zu sein.

7.7.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass eine bessere Rechtsetzung kein Ersatz für politische Entscheidungen sein kann und unter keinen Umständen zu einer Deregulierung oder zu einer Verringerung des Sozialschutzes, des Umwelt- und Verbraucherschutzes oder der Grundrechte führen darf. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Leitlinien und Kriterien des Instrumentariums für eine bessere Rechtsetzung zu überarbeiten, um die nachhaltige Entwicklung und die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 in die Bewertungsverfahren einzubeziehen. So sollte eine formelle „Nachhaltigkeitsprüfung“ in das Instrumentarium für eine bessere Rechtsetzung aufgenommen werden. Der EWSA bekräftigt seine Forderung nach einer Weiterentwicklung des europäischen „Ökosystems“ für Folgenabschätzung und Evaluierung, um die Qualität dieser Verfahren zu verbessern und die aktive Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft an der Gestaltung und Umsetzung der Rechtsvorschriften zu fördern (20).

7.7.4.

Der EWSA schlägt der Kommission vor, öffentliche Konsultationen aufgrund ihrer begrenzten Reichweite durch Ad-hoc-Diskussionsrunden mit relevanten Interessenträgern wie Sozialpartnern und Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft zu ergänzen, um die partizipative Demokratie zu stärken.

7.7.5.

Die Einbindung der Organisationen der Zivilgesellschaft in die Folgenabschätzungen und die strategische Vorausschau sollte gestärkt werden, um sicherzustellen, dass deren Sachverstand und vor Ort gewonnene Kenntnisse bei der Gestaltung künftiger Rechtsvorschriften und politischer Maßnahmen im neuen Kontext nach der COVID-19 berücksichtigt werden.

7.7.6.

Auch Organisationen der Zivilgesellschaft gehören zu den Opfern der Ungleichheiten und Schwächen des Systems. Ihre gegenwärtige und künftige Fähigkeit, auf Bedürfnisse zu reagieren, hängt von oftmals knappen und schwankenden Ressourcen ab. Dieses Problem sollte durch die Schaffung von Finanzierungsmechanismen für diese Organisationen angegangen werden. Das Arbeitsprogramm der Kommission für 2021, d. h. für eine Zeit nach der Krise, ist eine ausgezeichnete Gelegenheit, das Engagement der EU für die Organisationen der Zivilgesellschaft zu überprüfen, um ihnen eine im Vergleich zu projektbezogener Finanzierung nachhaltigere und strukturiertere finanzielle Unterstützung zu gewähren.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Entschließung zum Wiederaufbau und zur wirtschaftlichen Erholung nach der Covid-19-Krise (ABl. C 311 vom 18.9.2020, S. 1).

(2)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1590732521013&uri=COM:2020:456:FIN

(3)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1590574123338&uri=CELEX%3A52020DC0380.

(4)  EWSA-Stellungnahme NAT/784 „Europäisches Klimagesetz“ (siehe Seite 143 dieses Amtsblatts).

(5)  Siehe Fußnote 4.

(6)  Siehe Seite 124 dieses Amtsblatts.

(7)  EWSA-Stellungnahme INT/894 „Weißbuch zur künstlichen Intelligenz“ (siehe Seite 87 dieses Amtsblatts).

(8)  Siehe z. B. https://www.ilo.org/global/standards/lang--en/index.htm

(9)  https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/qanda_20_20

(10)  Ein starkes soziales Europa für einen gerechten Übergang.

(11)  https://ec.europa.eu/social/main.jsp?langId=de&catId=1226&futherNews=yes&newsId=9696

(12)  EWSA-Stellungnahme SOC/632 „Angemessene Mindestlöhne in ganz Europa“ (in Erarbeitung).

(13)  EWSA-Stellungnahme CCMI/124„Qualitätsrahmen der EU für die Antizipation von Veränderungen und Umstrukturierungen“ (ABl. C 19 vom 21.1.2015, S. 50).

(14)  https://www.eesc.europa.eu/de/documents/resolution/european-economic-and-social-committees-contribution-2020-commissions-work-programme-and-beyond

(15)  https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/communication-eu-industrial-strategy-march-2020_de.pdf

(16)  EWSA-Stellungnahme INT/897 „Industriepolitische Strategie“ (siehe Seite 108 dieses Amtsblatts).

(17)  EWSA-Stellungnahmen SOC/632 „Angemessene Mindestlöhnen in ganz Europa“ und SOC/583: https://www.eesc.europa.eu/en/our-work/opinions-information-reports/opinions/common-minimum-standards-field-unemployment-insurance-eu-member-states-concrete-step-towards-effective-implementation (ABl. C 97 vom 24.3.2020, S. 32) sowie SOC/584 „Für eine europäische Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen“ (ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 1).

(18)  EWSA-Stellungnahme SOC/630 „Einfluss von Kampagnen auf die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungsprozessen“ (ABl. C 311 vom 18.9.2020, S. 26).

(19)  ABl. C 282 vom 20.8.2019, S. 39 und Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat — Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union — Aktuelle Lage und mögliche nächste Schritte, 3. April 2019.

(20)  EWSA-Stellungnahme INT/886 „Bestandsaufnahme für eine bessere Rechtsetzung“, ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 72.


STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

553. Hybrid-Plenartagung am 15./16. Juli 2020

28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/14


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Förderung einer inklusiveren und nachhaltigeren Bankenunion durch Verbesserung des Beitrags von gemeinschaftsorientierten Banken zur lokalen Entwicklung und zum Aufbau eines sozial verantwortlichen internationalen und europäischen Finanzsystems“

(Initiativstellungnahme)

(2020/C 364/02)

Berichterstatter:

Giuseppe GUERINI

Beschluss des Plenums

20.2.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

24.6.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

205/6/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die in den letzten Jahren auf internationaler und europäischer Ebene erlassenen Vorschriften tragen den unterschiedlichen Geschäftsmodellen, die zur Bankenvielfalt in Europa beitragen, nicht immer in vollem Umfang Rechnung. Dies hat sich erheblich auf kleinere und regionale Banken ausgewirkt, die insbesondere in Mitgliedstaaten wie Italien und Spanien häufig die Form von Genossenschaften haben.

1.2.

Die nach der Finanzkrise ergriffenen Regulierungsmaßnahmen haben die verschiedenen Modelle, die dem europäischen Bankensystem seinen Pluralismus und seine Vielfalt verleihen, nicht in gleicher Weise beeinflusst. In einigen Fällen wurden die Banken, die am wenigsten zur Krise von 2008 beigetragen haben, am stärksten von den infolge dieser Krise erlassenen Vorschriften getroffen.

1.3.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) anerkennt zwar durchaus die Fortschritte, die die Kommission bei der Berücksichtigung kleinerer und weniger komplex strukturierter Bankinstitute in ihren jüngsten Regulierungsmaßnahmen erzielt hat. Er hält es indes für sinnvoll, die Verhältnismäßigkeit der Bankenvorschriften im Hinblick auf die Merkmale ihrer Adressaten weiter zu differenzieren, ohne die Wirksamkeit der Aufsichtsvorschriften zu beeinträchtigen. Gleichzeitig dürfen die allgemeinen Grundsätze und Ziele, die den seit der Finanzkrise ergriffenen Maßnahmen zugrunde liegen, nicht gefährdet oder untergraben werden, da sie sich sowohl als notwendig als auch als wirksam erwiesen haben. Sicherheit, Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Finanzsystems sind von größter Bedeutung.

1.4.

Der EWSA unterstützt die jüngste Entscheidung, die Umsetzung der Basel-III-Vereinbarung zu verschieben und ist der Auffassung, dass die neue Bestimmung über die Eigenkapitalanforderungen so umgesetzt werden sollte, dass der Vielfalt der Geschäftsmodelle der Banken in Europa und ihrem Beitrag zur Diversifizierung und Widerstandsfähigkeit in der Bankenunion angemessen Rechnung getragen wird.

1.5.

Der EWSA fordert eine stärkere Anerkennung der einzigartigen Rolle regionaler und kommunaler Banken für die privaten Haushalte und KMU auf lokaler Ebene und die in einigen Mitgliedstaaten wie Italien und Spanien häufig als Genossenschaften organisiert sind. In einigen Fällen sind sie die wichtigste, wenn nicht sogar die einzige Kreditquelle für Tausende europäischer Bürger und Unternehmen.

1.6.

Der EWSA fordert ferner eine angemessene Anerkennung des Beitrags der größeren Genossenschaftsbanken in Ländern wie Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Frankreich zum europäischen Bankensystem. Dort, wo sie zum systemischen Risiko beitragen, muss dies entsprechend bei Regulierung und Aufsicht berücksichtigt werden.

1.7.

Es muss auch auf die zentrale Rolle hingewiesen werden, die sie bei der Förderung der Wirtschaftsdemokratie spielen: sie fördern die Beteiligung ihrer Mitglieder, bei denen es sich nicht um bloße Anteilseigner oder Kunden handelt, sondern um Partner, die auf der Grundlage von pro Kopf abgegebenen Stimmen an den Managementrichtlinien teilnehmen können. Diese sind in der Tat stärker auf den Stakeholder Value statt auf den Shareholder Value ausgerichtet.

1.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die europäischen Banken, einschließlich der Regional- und Genossenschaftsbanken, nach der COVID-19-Krise eine Schlüsselrolle bei der wirtschaftlichen Erholung spielen und die Wirtschaft und die Beschäftigung unterstützen werden.

1.9.

Ein diversifiziertes, von einer Vielzahl von Beteiligten getragenes und in den Regionen und lokalen Gemeinschaften verwurzeltes Bankensystem ist auch eine wichtige Garantie für die Wahrung der geteilten und partizipativen sozialen Verantwortung der Bürger, KMU und der einzelnen Wirtschaftsakteure, die maßgeblich an der Realwirtschaft beteiligt sind.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Diese Initiativstellungnahme bildet den Beitrag des EWSA zu einer Bankenunion im Dienste der nachhaltigen Entwicklungsziele und der sozialen Inklusion, die vor dem Hintergrund zahlreicher globaler Herausforderungen Voraussetzungen für die künftige Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union sind. Der EWSA möchte in diesem Zusammenhang das Interesse der Zivilgesellschaft an einer inklusiven, diversifizierten und nachhaltigen Bankenunion geltend machen.

2.2.

Dieser Beitrag reiht sich ein in die bisherigen Stellungnahmen des EWSA zur Rolle der lokalen Banken und Genossenschaftsbanken (1) und erlangt angesichts der durch COVID-19 ausgelösten globalen Krise in den Bereichen Gesundheit, humanitäre Hilfe, Wirtschaft, Beschäftigung und Soziales noch größere Bedeutung.

2.3.

Im Rahmen der stetig zunehmenden und im Laufe der Jahre immer strikter gewordenen Bankenregulierung auf europäischer Ebene ist es nicht immer gelungen, den verschiedenen Bankenformen, die die Vielfalt des Sektors in Europa ausmachen, gebührend Rechnung zu tragen und auch für kleinere, regionale Banken geeignete verhältnismäßige Vorschriften zu entwickeln.

2.4.

Die nachstehend erörterten Punkte beziehen sich in erster Linie auf gemeinschaftsorientierte Banken, die oft klein sind und eine einfachere Verwaltungsstruktur aufweisen, sowie auf die Genossenschaftsbanken unterschiedlicher Art und Größe in Europa. Diese Banken sind in einigen Ländern wie Italien und Spanien klein, zahlreich und regional aktiv. In anderen Mitgliedstaaten dagegen wie Deutschland, Österreich und den Niederlanden sind sie wichtige Akteure, die sich allerdings, soweit sie als Genossenschaftsbanken tätig sind, dadurch auszeichnen, dass sie Stakeholder Value anstelle von (vorwiegend) Shareholder Value anstreben. Wenn Genossenschaftsbanken sich als börsennotierte Bankengruppe organisieren, müssen sie bestimmte Merkmale börsennotierter Unternehmen übernehmen.

2.5.

Um das Thema Bankenregulierung zu beleuchten, müssen sowohl die Ereignisse der Vergangenheit, die im Laufe der Jahre den europäischen Regulierungsrahmen geprägt haben, kritisch unter die Lupe genommen als auch eine klare Zukunftsvision entwickelt werden.

2.6.

Beim Blick in die Vergangenheit ist festzustellen, dass der derzeitige Rahmen weitgehend eine Reaktion auf die Krise von 2008 ist. Der europäische Gesetzgeber wollte die Vorschriften neu fassen, um die durch die Krise aufgedeckten Defizite zu beheben und vor allem dafür zu sorgen, dass die Banken besser aufgestellt und bei künftigen Krisen widerstandsfähiger sind.

2.7.

Die Ziele der umgesetzten Reformen waren und bleiben begrüßenswert, doch es besteht auch kein Zweifel daran, dass sich der bisherige Ansatz der Bankenaufsicht asymmetrisch auf die verschiedenen Teilsektoren des Bankensystems ausgewirkt hat.

2.8.

Die durchgeführten Reformen haben sich nicht in gleicher Weise auf die verschiedenen Geschäftsmodelle ausgewirkt, die die Vielfalt des europäischen Bankensystems ausmachen. In einigen Fällen trafen die Vorschriften diejenigen Unternehmensmodelle besonders hart, die am wenigsten zur Krise von 2008 beigetragen haben, wie die oft kleinen und in einigen Mitgliedstaaten genossenschaftlich organisierten lokalen Banken.

2.9.

Die kleinen bis mittleren Lokalbanken gerieten u. a. aufgrund von Vorschriften, die sie in mehrfacher Hinsicht unhaltbar belasten, unter zunehmenden regulatorischen Druck, sich zu größeren Gruppen zusammenzuschließen und zu fusionieren oder vom Markt verdrängt zu werden. Für das europäische Bankensystem bedeutete dies einen Verlust an Vielfalt.

3.   Regionalbanken und Bankenregulierung: allgemeine Erwägungen

3.1.

Die verschiedenen Vorschriften, die in den letzten Jahren zur Umsetzung internationaler Vereinbarungen und europäischer Regeln erlassen wurden, wirkten sich auf kleine und mittlere Institute, insbesondere Genossenschafts- und Regionalbanken und Banken auf Gegenseitigkeit in dreierlei Hinsicht nachteilig aus:

a)

hohe Befolgungskosten aufgrund umfangreicher, komplexer, sehr detaillierter und sich ständig verändernder Vorschriften;

b)

mangelnde Anerkennung der geringeren Systemrelevanz lokaler Banken in Bezug auf ihre Risiken;

c)

Bevorteilung großer systemrelevanter Banken bei den Finanzierungskosten.

3.2.

Nach Ansicht des EWSA sollte der Gesetzgeber daher umgehend eine größere strukturelle Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit der Bankenregulierung in Bezug auf die zu beaufsichtigenden Unternehmen sicherstellen. Der Gesetzgeber sollte dabei drei Ziele anstreben:

a)

Abbau künstlicher Wettbewerbsverzerrungen, die durch Vorschriften verursacht werden, die in Bezug auf die regulierten Banken, ihre Merkmale und Geschäftsziele unverhältnismäßig bzw. unangemessen sind;

b)

Sicherung der Vielfalt des europäischen Bankensektors, der dadurch künftige Finanz- und Wirtschaftskrisen besser bewältigen kann;

c)

Förderung (statt Abbau) der Kreditunterstützung für KMU als Schlüsselbereich der europäischen Wirtschaft.

3.3.

Der EWSA unterstützt die jüngste Entscheidung, die Frist für die Umsetzung der Basel-III-Vereinbarung zu verlängern, und empfiehlt, diese zum gegebenen Zeitpunkt in einer Form in EU-Recht umzusetzen, die der Vielfalt der in Europa tätigen Bankenmodelle Rechnung trägt.

3.4.

Im Hinblick auf die Umsetzung der in der Basler Vereinbarung vorgesehenen neuen Reformen hält es der EWSA für sinnvoll, auf die sieben vom Europäischen Ausschuss für Systemrisiken (ESRB) im Juni 2019, d. h. vor Einleitung der konsultativen Folgenabschätzung durch den ESRB aufgestellten Grundsätze hinzuweisen, die er unterstützt (2).

a)

Anpassungsfähigkeit : Die Regulierung des Finanzsektors sollte sich mit dem Finanzsystem weiterentwickeln können und nicht zu einem Innovationshemmnis werden. Dazu gehört auch, dass keine materiellen Zugangsschranken für neue Banken aufgebaut werden, dass die Vorschriften auf neu aufkommende Geschäftsmodelle nicht abschreckend wirken und dass etablierte alternative Bankenmodelle wie Genossenschaftsbanken erhalten bleiben.

b)

Diversität : Die Vielfalt der Finanzinstitute und Geschäftspraktiken muss gewahrt bleiben, weil sie wirksam vor systemischer Instabilität schützt. Es ist wichtig, eine übermäßige Homogenisierung der regulierten Unternehmen und Tätigkeiten zu vermeiden: die Fähigkeit, Abwehrkräfte zu entwickeln und vielfältige Formen der Reaktion/Resilienz gegenüber ungünstigen Konjunkturzyklen zu entwickeln, fördert beispielsweise generell die Stabilität des Finanzsektors und der Wirtschaft im Allgemeinen.

c)

Proportionalität : Der Regulierungsaufwand sollte in einem angemessenen Verhältnis zum Ausmaß der betreffenden Marktunvollkommenheit und zur systemischen Relevanz der beaufsichtigten Institute stehen.

d)

Abwicklungsfähigkeit : Die Regulierung sollte sicherstellen, dass unrentable Unternehmenseinheiten aus dem System ausscheiden können, ohne dass dies dessen Stabilität gefährdet. Es müssen jedoch Maßnahmen zur Verbesserung der internen Struktur und Komplexität der betroffenen Institute ergriffen werden.

e)

Systemische Perspektive : Die Finanzmarktregulierung sollte darauf abzielen, die kontinuierliche Verfügbarkeit elementarer Finanzdienstleistungen für die Gesellschaft sicherzustellen. Ein Regulierungsrahmen, der die Konzentration der Tätigkeiten auf eine begrenzte Zahl von Finanzinstituten begünstigt, kann aufgrund seiner Abhängigkeit vom Überleben dieser wenigen Finanzinstitute anfälliger sein.

f)

Verfügbarkeit von Informationen : der in den sektorspezifischen Vorschriften festgelegte Informationsfluss von den Banken zu den Regulierungsbehörden sollte eine rasche Ermittlung von Ansteckungskanälen und Schwachstellen ermöglichen.

g)

Nichtregulatorische Disziplin : Das Bestehen von regulatorischer Disziplin sollte Lösungen nicht ausschließen, die außerhalb eines rein regulatorischen Umfelds erprobt wurden.

4.   Vorschläge zur Umsetzung der neuen Vorschriften in den Rechtsrahmen der Bankenunion

4.1.

Es ist anzunehmen, dass die Europäische Kommission ihr Legislativprogramm für die europäische Legislaturperiode 2019-2024 nach der COVID-19-Krise überarbeiten wird. Bis das neue Programm bekannt ist, sollte die regulatorische Anpassung des europäischen Bankensystems nach Auffassung des EWSA auf folgenden zentralen Grundsätzen basieren.

4.2.

Die Basler Vereinbarung vom Dezember 2017 muss so umgesetzt werden, dass die Auslegungs- und Ermessensspielräume stärker genutzt werden, als dies beim Basel-II- und Basel-III-Rahmen der Fall war. Generell ist anzuerkennen, dass die Europäische Kommission einige Schritte in die richtige Richtung unternommen hat, um die Vorschriften in Bezug auf kleinere und nicht komplexe Bankinstitute in verschiedenen Bereichen wie Meldepflichten, Aufsichts- und Eigenkapitalanforderungen (Faktor zur Unterstützung von KMU) zu vereinfachen. Diese Entwicklung muss jedoch vorangetrieben und die Vorschriften müssen so weit wie möglich an die verschiedenen Geschäftsmodelle angepasst werden, ohne die Wirksamkeit der Aufsichtsvorschriften zu beeinträchtigen.

4.3.

Der EWSA anerkennt insbesondere die einzigartige Rolle der — in einigen Mitgliedstaaten wie Italien und Spanien häufig genossenschaftlich organisierten — regionalen und gemeinschaftsorientierten Banken für die privaten Haushalte und KMU. Der EWSA begrüßt den Beitrag größerer Genossenschaftsbanken z. B. in Deutschland, Österreich und den Niederlanden zum europäischen Bankensystem. Dort, wo sie zum systemischen Risiko beitragen, muss dies entsprechend bei Regulierung und Aufsicht berücksichtigt werden.

4.4.

Es wäre für die Wirtschaft und das Bankensystem Europas von Vorteil, die in Artikel 40 der Verordnung (EU) Nr. 468/2014 der Europäischen Zentralbank (3) enthaltene Gleichsetzung zu überwinden, wonach Banken, die Teil einer „bedeutenden“ Bankengruppe sind, selbst als „bedeutend“ eingestuft werden, obwohl sie in Bezug auf Größe, Funktion und Exposition gegenüber sogenannten Systemrisiken relativ klein bleiben. Dadurch könnten die im Mai 2019 von der CRD V und der CRR II (dem Bankenpaket) eingeführten Formen der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden. In Artikel 84 Absatz 4 der CRD 4 und Artikel 4 Absatz 1 (145) der CRR II wird der Begriff des „kleinen und nicht komplexen Instituts“ eingeführt, für das einige Anforderungen — insbesondere in Bezug auf die Offenlegung — eingeschränkt werden.

4.5.

Der EWSA erachtet den Begriff „kleines und nicht komplexes Institut“ als Grundlage für einen systematischen Ansatz in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit. Vereinfachte Anforderungen für kleine und nicht komplexe Institute sollten nicht auf die Offenlegungspflichten beschränkt sein. Diese Vereinfachung sollte auch auf andere Aufsichts- und Überwachungsanforderungen ausgeweitet werden können. So sollte beispielsweise ein kleines und nicht komplexes Institut nicht wie ein „bedeutendes“ Institut beaufsichtigt werden, wenn es einer „bedeutenden“ Gruppe angehört, für die eine solche Aufsicht nach nationalem Recht vorgeschrieben ist. Eine solche Situation könnte in Wirklichkeit zu einer doppelten Beaufsichtigung kleinerer Banken auf unterschiedlichen Ebenen führen — mit erheblichen negativen Auswirkungen sowohl in puncto Befolgungskosten für die Banken als auch auf Regulierungskosten für die Bankenaufsichtsbehörden.

4.6.

Der EWSA fordert ferner eine Überarbeitung der Regeln und Mechanismen für die Abwicklung und Liquidation von Banken, der Methode zur Berechnung der MREL (4) und der alternativen Maßnahmen, die von spezifischen Einlagensicherungsfonds (5) ergriffen werden können. Diese wurden von einigen regionalen oder genossenschaftlichen Bankengruppen auf der Grundlage des EuGH-Urteils in der Rechtssache Tercas vom 19. März 2019 (6) eingerichtet.

4.7.

Die neuen Grundverordnungen und die Aufsichtsvorschriften im Sinne tragfähiger Finanzen dürfen nicht zu weiteren Befolgungskosten und folglich zu Aufsichtsmodellen führen, die für kleine Banken und genossenschaftliche Rechtsformen nicht tragbar sind.

4.8.

Der EWSA unterstützt die Vorschläge des Ausschusses für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments von 2019 zur Einführung eines „grünen und sozialen Unterstützungsfaktors“, um die Kapitalabsorption bei Bankenfinanzierungen für Unternehmen der Sozialwirtschaft und für solche Unternehmen, die sich effektiv in Programmen der nachhaltigen und inklusiven Entwicklung engagieren, zu verringern. Da der Finanzsektor widerstandsfähig und stabil sein muss, sollte die Möglichkeit, einen grünen und sozialen Unterstützungsfaktor zu entwickeln, angemessen geprüft und bewertet werden.

4.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass in der neuen Verordnung über die Bankenunion Instrumente vorzusehen sind, um Bankinvestitionen in Tätigkeiten mit positiven sozialen und ökologischen Auswirkungen zu fördern. Diese Förderung sollte auch durch eine Vorzugsbehandlung im Hinblick auf die von der EBA geforderten aufsichtsrechtlichen Letztsicherungen erfolgen.

4.10.

Daten, aus denen das naturgemäß geringe Risiko von Investitionen sozialwirtschaftlicher Unternehmen hervorgeht, würden ein solches differenziertes regulatorisches Vorgehen untermauern. Sozialwirtschaftliche Unternehmen hatten nämlich in puncto notleidender Kredite fast keine nennenswerten negativen Auswirkungen auf das europäische Bankensystem.

4.11.

Die Mitgesetzgeber erzielten im Frühjahr 2019 einen Kompromiss, wonach die EBA (Artikel 501 der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (7), CRR) nach Konsultation des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken (ESRB) beauftragt wurde, auf der Grundlage der verfügbaren Daten und Ergebnisse der Hochrangigen Expertengruppe der Kommission für ein nachhaltiges Finanzwesen zu prüfen, ob eine spezielle aufsichtliche Behandlung von Risikopositionen im Zusammenhang mit Vermögenswerten oder Tätigkeiten, die im Wesentlichen mit ökologischen und/oder sozialen Zielen verbunden sind, gerechtfertigt wäre. Der EWSA geht davon aus, dass diese Bewertung sorgfältig sein und zu einem positiven Ergebnis kommen wird.

5.   Bankengruppen und Aufsicht

5.1.

Bezüglich der in der europäischen Verordnung vorgesehenen Einrichtung von genossenschaftlichen Bankengruppen, bei denen — insbesondere in bestimmten Ländern wie Italien und Spanien — gemeinschaftsorientierte und regionale Banken zusammengeschlossen werden, um eine größere kritische Masse für ihre Tätigkeiten zu erreichen, sollten regionale Banken in der Lage sein, die Kapitalabsorption der Anteile am Kapital der jeweiligen Mutterbanken angemessen abzuwickeln. Damit soll eine übermäßige Verdichtung des für Kredite verwendeten Kapitals vermieden werden.

5.2.

Derzeit basiert der Rechtsrahmen der europäischen Vorschriften über Bankengruppen auf drei Artikeln der CRR:

a)

Artikel 10: Bankengruppen, die von Banken gegründet werden, die ständig einer Zentralorganisation zugeordnet sind, mit gegenseitigen Garantien und Weisungs- und Koordinierungsbefugnissen (Italien, Niederlande, Finnland, Portugal und Luxemburg);

b)

Artikel 113 Absatz 6: Gruppen mit Weisungs- und Koordinierungsbefugnissen der Mutterbank oder in hohem Maße integrierte Systeme (Frankreich);

c)

Artikel 113 Absatz 7: Institutsbezogene Sicherungssysteme (Deutschland, Österreich, Spanien, Provinz Bozen-Südtirol/Italien).

5.3.

In der Praxis sind diese drei verschiedenen Ansätze aber nicht in der Lage, bestimmte Aspekte zu berücksichtigen, so charakteristische Tätigkeitsmerkmale derjenigen Genossenschaftsbanken, die sich nach der Schaffung der Bankenunion genossenschaftlichen Bankengruppen oder institutsbezogenen Sicherungssystemen anschließen mussten.

5.4.

Folgende Aspekte können nicht mit dem derzeitigen Regulierungsrahmen in Einklang gebracht werden: die Verpflichtung der Genossenschaftsbanken, gegenseitige Regeln einzuhalten und operationelle Regelungen zu entwickeln, die auf die Regionen beschränkt sind, in denen sie niedergelassen sind; ihre demokratische Governance; das Fehlen individueller Gewinnziele; die Grenzen für die Gewinnausschüttung und die Unteilbarkeit des Kapitals.

5.5.

Dies könnte ihre langjährige und wirksame Funktion als regionale Entwicklungsbanken mit nachgewiesener antizyklischer Funktion schwächen.

6.   Ein Rahmen für die Zeit nach der COVID-19-Krise

6.1.

Die dramatischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie liegen nun auf der Hand. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, mit einem deutlich höheren öffentlichen Schuldenstand zu leben. Um sicherzustellen, dass die Mittel rechtzeitig dorthin fließen, wo sie benötigt werden, muss das gesamte Finanzsystem von den Behörden und privaten Akteuren gemeinsam mobilisiert werden.

6.2.

Im Hinblick auf die Situation nach der COVID-19-Krise wurde von berufener Seite festgestellt, dass die europäischen Banken ein Instrument der öffentlichen Politik werden müssen, um die Wirtschaft und die Beschäftigung nach dieser gesundheitlichen Notlage zu unterstützen. Folglich sollte die Schaffung des für diesen Zweck erforderlichen Spielraums in den Bankbilanzen nicht durch Vorschriften oder Sicherheitsregelungen gehemmt werden (8).

6.3.

Es ist noch zu früh, um zu sagen, wie sich die COVID-19-Krise auf die Wirtschaft auswirken wird und welche Auswirkungen sie letztlich auf die Banken haben wird. Doch wir müssen die Frage vor dem Hintergrund des derzeitigen und künftigen Rahmens bedenken.

a)

Aus regulatorischer Sicht bestand das Hauptziel nach der Finanzkrise von 2008 in der Verringerung des Risikos in den Bankbilanzen. Nach der COVID-19-Pandemie und auf derzeit unbestimmte Zeit werden die Bilanzen der Banken jedoch nach Maßgabe der von den Staaten und der Realwirtschaft übernommenen Risiken anschwellen.

b)

Der SSM, die EBA und die ESMA haben eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die den ihnen durch den Regulierungsrahmen eingeräumten Spielraum nutzen, um bestimmte Aufgaben auszusetzen oder bestimmte Aufsichtsanforderungen zurückzufahren.

c)

Sollten die wirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen der Krise in den künftigen Bilanzen der Banken noch in erheblichem Maße sichtbar sein, müssen diese Auswirkungen bei der Umsetzung des Basler Abkommens vom Dezember 2017 in der EU berücksichtigt werden.

d)

Der Beschluss des Basler Ausschusses, die Umsetzung der Vereinbarung vom Dezember 2017 zu verschieben, ist zweifellos angemessen und notwendig, um die Banken in die Lage zu versetzen, die Folgen der Pandemie zu bewältigen und sowohl den Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die Finanzlage der Banken Rechnung zu tragen, als auch der Vielfalt der Banken in Europa besser gerecht zu werden.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Der EWSA hat bereits mehrere Stellungnahmen zur Bankenunion vorgelegt (so zum Thema „Die Bedeutung von Genossenschaftsbanken und Sparkassen für den territorialen Zusammenhalt“). Die darin enthaltenen Empfehlungen haben jedoch noch keine Berücksichtigung gefunden. Im Jahr 2014 legte der EWSA als Reaktion auf den Vorschlag für eine Verordnung über strukturelle Maßnahmen zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit von Kreditinstituten in der Union (COM(2014) 43 final — 2014/0020 (COD)) Empfehlungen zur Unterstützung der lokalen Wirtschaft und zur Notwendigkeit von Bankenvorschriften vor, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. 2018 veröffentlichte der EWSA eine Studie über europäische Modelle genossenschaftlicher Banken (Europe’s cooperative banking models, ISBN: 978-92-830-4024-8 Katalognummer: QE-01-18-233-EN-N), in der die Situation und die Aussichten für die Genossenschaftsbanken in Europa analysiert werden.

(2)  Berichte des Beratenden Wissenschaftlichen Ausschusses — Regulatory Complexity and the Quest for Robust Regulation, Nr. 8, Juni 2019.

(3)  ABl. L 141 vom 14.5.2014, S. 1.

(4)  MREL (Minimum Requirement for own funds and Eligible Liabilities — Mindestanforderung an Eigenmittel und berücksichtigungsfähigen Verbindlichkeiten) ist eine mit der Richtlinie über die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten (BRRD) eingeführte Anforderung. Sie soll die Wirksamkeit des Bail-in-Mechanismus durch Erhöhung der Verlustausgleichsfähigkeit der Bank sicherstellen.

(5)  Ein solcher Fonds zur Einlagensicherung wird vom Verband der italienischen Genossenschaftsbanken Banche Cooperative Italiane consorziate (BCC-CR) betrieben. Er ist ein gutes Beispiel für einen Mechanismus der Einlagensicherung, der vollständig aus Eigenmitteln der Banken finanziert wird und auf Verfahren der Gegenseitigkeit und des Genossenschaftsprinzips basiert. Der Fonds interveniert in folgenden Fällen: bei der Zwangsabwicklung von Mitgliedsbanken und von Tochtergesellschaften genossenschaftlicher Kreditbanken, die in Italien versichert sind und tätig sind, und nach Inanspruchnahme des staatlichen Garantiesystems; bei der Abwicklung einer Mitgliedsbank; bei Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Aufgabe von Aktivitäten, Einlagenverbindlichkeiten, Geschäftsbereichen, Vermögenswerten und gruppierten Rechtsgeschäften; um den Ausfall oder das Ausfallrisiko eines Mitglieds abzuwenden.

(6)  Mit diesem Urteil wird die Entscheidung der Kommission, wonach die Unterstützung eines privatrechtlichen Konsortiums für eines ihrer Mitglieder eine staatliche Beihilfe darstellt, praktisch aufgehoben.

(7)  ABl. L 176 vom 27.6.2013, S. 1.

(8)  Siehe bspw. die Argumente des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi in der Financial Times vom 26. März 2020.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/21


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Besteuerungsverfahren zur Verringerung der CO2-Emissionen“

(Initiativstellungnahme)

(2020/C 364/03)

Berichterstatter:

Krister ANDERSSON

Beschluss des Plenums

20.2.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

24.6.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

209/1/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Nach Meinung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) bestehen gute Gründe dafür, innerhalb der EU einheitliche Vorschriften zur Bekämpfung der Erderwärmung einzuführen und auf dieser Grundlage internationale Gespräche mit anderen Handelsblöcken aufzunehmen.

1.2.

Bisher ging es bei den Gesprächen hauptsächlich um Vorschriften und Umweltsteuern, insbesondere Steuern zur Verringerung von Emissionen. Nach Einschätzung des EWSA muss der Erderwärmung auf globale, umfassende und symmetrische Weise unter Berücksichtigung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre entgegengewirkt werden.

1.3.

Die Kommission stützt sich bei ihren Bemühungen um eine CO2-Verringerung vor allem auf das Emissionshandelssystem (EHS). Der EWSA ist der Ansicht, dass es zukünftig sinnvoll und notwendig sein könnte, auch neue steuerliche Maßnahmen, die das derzeitige EU-EHS ergänzen können, und nationale CO2-Steuern zu konzipieren, um einen wirksamen und symmetrischen politischen Handlungsrahmen für die Bekämpfung der zunehmenden CO2-Emissionen zu erreichen.

1.4.

Der EWSA begrüßt den Ansatz der Kommission, da er offenbar ein richtiger Schritt auf dem Weg zu einer wirkungsvolleren Bepreisung der CO2-Emissionen in der Wirtschaft ist. Ein derartiges Werkzeug sollte mit weiteren zusätzlichen Instrumenten koordiniert werden, beispielsweise einem neuen Ansatz für die Besteuerung im Binnenmarkt mit einheitlichen Rahmenbedingungen sowie weiteren ähnlichen Instrumenten, die in anderen Gebieten weltweit zum Einsatz kommen.

1.5.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, konkrete Initiativen für die Einführung vergleichbarer CO2-Steuern in den Mitgliedstaaten zu ergreifen, um die Anstrengungen für eine wirksame Verringerung der CO2-Emissionen zu harmonisieren. Ein ideales Ergebnis wäre die Schaffung einheitlicher Bedingungen bezüglich der zu besteuernden Emissionen/Verringerungen im gesamten Binnenmarkt und der Festlegung spezifischer Besteuerungsmethoden und -sätze für eine gleich starke Wirkung auf die CO2-Konzentration in der Atmosphäre.

1.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Erderwärmung vermutlich auch bei Einführung der neuen Steuern und zusätzlicher Maßnahmen anhalten wird, wenn es nicht gelingt, der Atmosphäre bereits ausgestoßenes CO2 wieder zu entziehen.

1.7.

Der EWSA befürwortet die Entwicklung von Technologien der CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS) sowie CO2-Abscheidung und -Nutzung (CCU) durch spezielle Investitionen auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten, da sie zu dem Ziel der Verringerung der Auswirkungen der CO2-Emissionen und generell zu den UN-Nachhaltigkeitszielen wie auch zu den Zielsetzungen des Klimaschutzübereinkommens von Paris beitragen.

1.8.

Insbesondere sollten die Mitgliedstaaten eine umfassende und symmetrische Umweltsteuerpolitik mit Blick auf die Auswirkungen von CO2 auf die Erderwärmung beschließen. Es müssen Steuern sowohl mit positiven als auch mit negativen Sätzen eingeführt werden. Die mit Hilfe der Steuern auf CO2-Emissionen erzielten Einnahmen sollten genutzt werden, um auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene Anreize für Verfahren zur CO2-Reduzierung zu finanzieren.

1.9.

Der EWSA verweist auf weitere politische Instrumente für die CO2-Reduzierung. Sie reichen von neuen Technologien bis zu Methoden der Flächenbewirtschaftung, die auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten gefördert und unterstützt werden sollten. Vor allem Wälder bauen CO2 auf natürliche Weise ab, und Bäume können besonders gut CO2 speichern, das der Atmosphäre durch Photosynthese entzogen wird. Mit einer Ausweitung, Wiederaufforstung und richtigen Bewirtschaftung von Wäldern lässt sich die Kraft der Photosynthese nutzen, um CO2 abzubauen.

1.10.

Zwar wird der Verkauf von forstwirtschaftlichen Erzeugnissen als Einkommen für den Besitzer besteuert, doch sollte bedacht werden, dass die Anpflanzung von Bäumen und der Zuwachs von Wäldern das CO2 in der Atmosphäre verringert und deshalb in einem symmetrischen Steueransatz zur Bekämpfung der Erderwärmung mit einer negativen CO2-Steuer gefördert werden sollte. Dies wäre eine wichtige Maßnahme zur Erreichung der Klimaziele.

1.11.

Der EWSA betont, dass die Umsetzung effizienter Maßnahmen in einer für alle sozialverträglichen Weise gestaltet werden muss.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Die Erderwärmung betrifft uns alle, und die Staaten suchen nach effizienten Methoden, um den weltweiten Temperaturanstieg zu begrenzen. Zur Erderwärmung tragen mehrere Faktoren bei, doch fällt der Ausstoß von Kohlendioxid (CO2) besonders ins Gewicht.

2.2.

CO2 ist das am häufigsten durch menschliche Tätigkeiten erzeugte Treibhausgas, und es trägt mit 64 % zur anthropogenen Klimaerwärmung bei (1). Die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre hat über mehrere Jahrzehnte erheblich zugenommen und ist heute um 40 % höher als zu Beginn der Industrialisierung.

2.3.

Die durchschnittliche Oberflächentemperatur der Erde ist seit Ende des 19. Jahrhunderts um 0,9 Grad Celsius gestiegen (2). Diese Veränderung ist auf den zunehmenden CO2-Ausstoß und andere vom Menschen verursachte Emissionen in die Atmosphäre zurückzuführen, die nach Ansicht vieler Forscher für den allgemeinen Anstieg der globalen Temperatur verantwortlich sind.

2.4.

Menschliche Aktivitäten verändern den Kohlenstoffzyklus, indem sie einerseits einen höheren CO2-Eintrag in die Atmosphäre bewirken — wodurch die Fähigkeit natürlicher Senken wie Wälder abnimmt, der Atmosphäre CO2 zu entziehen — und andererseits die Fähigkeit von Böden zur CO2-Speicherung beeinflussen. An erster Stelle der CO2 erzeugenden menschlichen Aktivitäten steht die Verbrennung fossiler Energieträger (Kohle, Erdgas und Erdöl) zu Energie- und Transportzwecken, gefolgt von bestimmten industriellen Prozessen und Landnutzungspraktiken.

2.5.

Asien ist derzeit der weltweit größte regionale Emittent mit 53 % der globalen Emissionen, wobei auf China 10 Mrd. t (und damit mehr als ein Viertel des globalen Gesamtaufkommens) entfallen; zweitgrößter Emittent ist Nordamerika (18 % der globalen Emissionen), dicht gefolgt von Europa mit 17 % (3).

2.6.

Die Auswirkungen von CO2-Emissionen auf die Erdtemperatur und den Klimawandel gewinnen in der öffentlichen Meinung und der Zivilgesellschaft wie auch bei den Parteien auf europäischer und nationaler Ebene zunehmend an Bedeutung.

2.7.

Die Europäische Kommission hat ihrerseits der Entwicklung konkreter Initiativen gegen den Klimawandel absolute Priorität auf ihrer politischen Agenda eingeräumt, z. B. dem Grünen Deal (4), bevor sie in den ersten Monaten des Jahres 2020 gezwungen war, sich vorrangig der Lage im Zusammenhang mit COVID-19 zu widmen.

2.8.

Der Grüne Deal (5) ist ein Eckpfeiler der politischen Agenda der neuen Europäischen Kommission. Mit ihm wird eine wirksame Reaktion auf die andauernden umweltpolitischen Herausforderungen angestrebt; er ist eine Wachstumsstrategie mit dem Ziel, bis 2050 in der EU Klimaneutralität zu erreichen.

2.9.

Der Grüne Deal umfasst große Sektoren der europäischen Wirtschaft, darunter Verkehr, Energie, Landwirtschaft und Gebäude, sowie spezifische Branchen wie die Stahl-, Zement-, IKT-, Textil- und Chemieindustrie. Die Kommission arbeitet derzeit am ersten europäischen Klimagesetz sowie an zusätzlichen konkreten Strategien und Investitionen zur Förderung eines ökologischen Wirtschaftswachstums. Der Fonds für einen gerechten Übergang ist wichtig, benötigt jedoch möglicherweise zusätzliche Mittel (6).

3.   Mögliche politische Instrumente zur Reduzierung der CO2-Emissionen (7)

3.1.

Viele Tätigkeiten können eine Verschmutzung der Umwelt nach sich ziehen, die sich wiederum auf andere Akteure in der Wirtschaft auswirkt. Diese Auswirkungen werden in den Entscheidungen, diese Tätigkeiten in Angriff zu nehmen, möglicherweise nicht berücksichtigt. D. h., es wird eine Tätigkeit ausgeführt, ohne die externen Effekte zu berücksichtigen, die sie hervorruft. Oder anders gesagt, ohne die wahren sozialen Kosten dieser Tätigkeit zu bedenken. Die sozialen Kosten von Umweltverschmutzung müssen in die Entscheidungsfindung unbedingt mit einbezogen werden. Eine Möglichkeit ist die Erhebung einer Steuer auf diese Tätigkeit. Der externe Effekt wird dann in die Entscheidung internalisiert, und die Umweltverschmutzung wird entsprechend der Kosten, die sie verursacht, verringert.

3.2.

Eine Tätigkeit kann aber auch einen Rückgang der Schadstoffwerte insgesamt und damit einen positiven externen Effekt bewirken. Für solche Tätigkeiten sollten Anreize geschaffen werden, um sie so weit auszubauen, dass die Vorteile vollständig kompensiert werden. Dies kann durch die Gewährung eines Zuschusses oder die Einführung einer negativen Steuer erfolgen.

3.3.

Da sich CO2-Emissionen weltweit auswirken, sollte für die Verursachung von Umweltverschmutzung überall der gleiche Preis für gleichwertige negative Auswirkungen gelten. Nur dann wird die Steuer kostenwirksam erhoben. Deshalb ist ein globaler Ansatz erforderlich (8).

3.4.

Allerdings ist es schwierig zu beurteilen, wieviel CO2 eine Aktivität jeweils genau verursacht, und es besteht kein Weltmarkt, auf dem eine einheitliche Steuer auf CO2-erzeugende Tätigkeiten erhoben werden könnte. Daher müssen die Länder auf punktuelle Maßnahmen zurückgreifen. Es kommt darauf an, die ergriffenen Maßnahmen auf größere Regionen und auf mehr umweltschädliche Tätigkeiten auszuweiten.

3.5.

Nach Meinung des EWSA bestehen gute Gründe dafür, innerhalb der EU einheitliche Vorschriften einzuführen und auf dieser Grundlage internationale Gespräche mit anderen Handelsblöcken aufzunehmen.

3.6.

Der Einsatz von Emissionszertifikaten in der EU und anderswo ist ein Weg, um der Notwendigkeit gerecht zu werden, einen Einheitspreis je emittierte Tonne CO2 festzulegen.

3.7.

Bisher ging es bei den Gesprächen jedoch hauptsächlich um Vorschriften und Umweltsteuern, insbesondere Steuern zur Verringerung von Emissionen. Nach Einschätzung des EWSA muss der Erderwärmung unter Berücksichtigung der derzeitigen CO2-Konzentration in der Atmosphäre auf umfassende und symmetrische Weise entgegengewirkt werden.

3.8.

Da mit einer Verringerung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre die Erderwärmung bekämpft wird, ist es ebenso sinnvoll, die CO2-Emissionen in einem gewissen Umfang zu reduzieren oder diese Menge an CO2 der Atmosphäre zu entziehen Daher sollte eine Erhöhung oder Verminderung der Konzentration symmetrisch behandelt werden. Das bedeutet, dass die Erhöhung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre (Verschmutzung) mit einem zusätzlichen Kostenfaktor (Steuer) belastet werden sollte, während für Aktivitäten, die zu einer Senkung der CO2-Konzentration führen, eine Subvention (negative Steuer) gewährt werden sollte.

3.9.

Bisher liegt der Schwerpunkt jedoch fast ausschließlich auf der Vermeidung weiterer Emissionen. Auch bei Einführung der neuen Steuern und zusätzlicher Maßnahmen wird die Erderwärmung vermutlich anhalten, wenn es nicht gelingt, bereits ausgestoßenes CO2 der Atmosphäre wieder zu entziehen. Der EWSA ist deshalb der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten symmetrische Maßnahmen einführen sollten.

3.10.

Der Zweck einer Steuer auf Kohlenstoffemissionen und einer negativen Steuer auf CO2-Reduktionen besteht darin, Verhaltensweisen zu beeinflussen und den externen Effekt der Erderwärmung zu internalisieren. Dabei wird sich die Steuer/Subvention jedoch auf die Produktions- und Beschäftigungsmöglichkeiten in allen Wirtschaftszweigen auswirken. Der positive und der negative Steuersatz müssen nicht von vornherein gleich hoch sein (9).

3.11.

Unbedingt erforderlich ist eine Koordinierung der verschiedenen Anreize zur Förderung nachhaltiger Investitionen, sofern ihre positiven externen Effekte nachgewiesen sind. Harmonisierte Methoden für die Ermittlung sogenannter Low-Carbon-Indizes sollten als Richtschnur für die Berechnung anderer Auswirkungen dienen.

3.12.

Um den Übergang zu einer Null-Emissions-Wirtschaft wirtschaftlich robuster und politisch glaubwürdiger zu gestalten, sollten möglichst bald Maßnahmen getroffen werden, um direkte und indirekte Subventionen für fossile Brennstoffe abzubauen, die für hohe Umweltkosten verantwortlich sind.

3.13.

Da der Finanzbedarf des europäischen Grünen Deals sehr groß ist und die gemeinsamen EU-Haushaltsmittel recht begrenzt sind, kommt dem Privatsektor eine bedeutende Rolle zu. Dies muss bei einer Einigung über den mehrjährigen Finanzrahmen berücksichtigt werden. CO2-Steuern sind jedoch keine Einnahmequelle, sondern ergeben sich in erster Linie aus der Notwendigkeit, das Verhalten von privaten Haushalten, Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen zu ändern. Der EWSA betont, dass die Umsetzung effizienter Maßnahmen in einer für alle sozialverträglichen Weise gestaltet werden muss.

4.   Emissionshandelssysteme

4.1.

Ein mögliches politisches Instrument zu Verringerung der CO2-Emissionen ist das europäische Emissionshandelssystem (EU-EHS) (10). Es basiert auf dem Prinzip des „Cap and Trade“ („Obergrenzen und Handel“). Bei diesem Prinzip wird eine Obergrenze für die Menge bestimmter Treibhausgase festgelegt, die von im System erfassten Anlagen insgesamt ausgestoßen werden darf. Die Obergrenze wird im Laufe der Zeit abgesenkt, wodurch die Gesamtemissionen zwangsläufig zurückgehen. Innerhalb der Obergrenzen erhalten oder kaufen im System erfasste Unternehmen Emissionszertifikate, die nach Bedarf handelbar sind (11).

4.2.

Laut der Mitteilung „Ein europäischer Grüner Deal“ (COM(2019) 640 final) wird die Kommission bis Juni 2021 mehrere einschlägige klimabezogenen Politikinstrumente prüfen, um die Treibhausgasemissionen zu reduzieren (12). Dazu werden das derzeitige EU-EHS, und zwar mit einer möglichen Ausweitung des bestehenden Systems auf neue Sektoren, sowie zusätzliche Interventionen in Bezug auf i) die Zielvorgaben der Mitgliedstaaten zur Verringerung von Emissionen außerhalb des EU-EHS und ii) die Verordnung über Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft gehören.

4.3.

Der EWSA begrüßt den Ansatz der Kommission, da er offenbar ein richtiger Schritt auf dem Weg zu einer wirkungsvolleren Bepreisung der CO2-Emissionen in der Wirtschaft ist. Ein derartiges Werkzeug sollte mit weiteren zusätzlichen Instrumenten koordiniert werden, beispielsweise einem neuen Ansatz für die Besteuerung im Binnenmarkt mit einheitlichen Rahmenbedingungen sowie weiteren ähnlichen Instrumenten, die in anderen Gebieten weltweit zum Einsatz kommen.

4.4.

Auf internationaler Ebene ist die Zahl der Emissionshandelssysteme weltweit gestiegen. Neben dem EU-EHS werden nationale oder regionale Systeme in China, Japan, Kanada, Neuseeland, der Schweiz, Südkorea und den USA bereits genutzt oder entwickelt.

4.5.

Der EWSA begrüßt regionale Initiativen, die auf eine deutliche CO2-Reduzierung abstellen, als notwendige Schritte, um wirksam auf den durch CO2-Emissionen ausgelösten Klimawandel zu reagieren. Diesbezüglich fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, ihre Anstrengungen, Europa zu einer führenden Region auf diesem Gebiet zu machen, fortzuführen und auszubauen.

5.   Steuern auf CO2-Emissionen

5.1.

Ein anderes mögliches politisches Instrument sind CO2-Steuern. Mit ihnen werden Emissionen vor allem auf zwei Wegen verringert: i) Anhebung der Kosten von Brennstoffen und Strom auf Kohlenstoffbasis und ii) dadurch Motivierung von Unternehmen zur Umstellung auf saubere Energie, beispielsweise Wasserkraft, Solar- oder Windenergie.

5.2.

Wenn Steuern auf CO2-Emissionen richtig konzipiert sind, dann stehen sie in Einklang mit dem Verursacherprinzip, wonach der Verursacher die Kosten für Maßnahmen zur Verringerung der Umweltverschmutzung entsprechend dem der Gesellschaft entstandenen Schaden tragen sollte, wie in der Rio-Erklärung der Vereinten Nationen (13) (1992) und in der Richtlinie 2004/35/EG über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden (14) dargelegt ist.

5.3.

Die Kommission stützt sich bei ihren Bemühungen um eine CO2-Verringerung vor allem auf das EU-EHS. Der EWSA ist der Ansicht, dass es zukünftig sinnvoll und notwendig sein könnte, auch neue steuerliche Maßnahmen, die das derzeitige EU-EHS ergänzen können, und nationale CO2-Steuern zu konzipieren, um einen wirksamen und symmetrischen politischen Handlungsrahmen für die Bekämpfung der zunehmenden CO2-Emissionen zu erreichen. Wie vom IWF ausführlich erläutert, kommt es ganz entscheidend darauf an, dass die Anstrengungen auf globaler Ebene koordiniert werden (15).

5.4.

In Europa haben einige Länder Energiesteuern bzw. teilweise auf dem Kohlenstoffgehalt basierende Energiesteuern eingeführt. Dies betrifft Dänemark, Finnland, die Niederlande, Norwegen, Schweden, die Schweiz, Slowenien und das Vereinigte Königreich (16).

5.5.

Schweden erhebt die höchste CO2-Steuer mit 112,08 EUR je Tonne CO2-Emissionen und konnte so seine Emissionen in den vergangenen 25 Jahren um 23 % reduzieren. Die schwedische CO2-Steuer wurde 1991 mit einem Satz entsprechend 250 SEK (23 EUR) je Tonne fossile Kohlendioxidemissionen eingeführt und bis 2020 schrittweise auf 1 190 SEK (110 EUR) erhöht; sie bleibt ein Eckpfeiler der schwedischen Klimapolitik (17).

5.6.

Die schwedische CO2-Steuer bot Anreize zur Senkung des Energieverbrauchs, Verbesserung der Energieeffizienz und Erhöhung des alternativen Einsatzes erneuerbarer Energieträger. Durch die schrittweise Anhebung des Steuersatzes erhielten die Beteiligten Zeit sich anzupassen, wodurch sich die politische Akzeptanz der Steuererhöhungen mit der Zeit verbesserte.

5.7.

Alles in allem zeigt die Erfahrung Schwedens, dass es möglich ist, Emissionen zu verringern, auch wenn dies eine tiefgreifende Umgestaltung der Wirtschaft erfordert. Im Zeitraum 1990-2017 stieg das BIP um 78 %, während die Treibhausgasemissionen des Landes gleichzeitig um 26 % sanken, womit Schweden im Global Competitive Index auf Rang acht steht.

5.8.

Im Jahr 1990 war Finnland das weltweit erste Land, das eine CO2-Steuer einführte. Ursprünglich bezog sich die Steuer nur auf den Kohlenstoffgehalt in Verbindung mit Wärme- und Stromerzeugung. Die Bemessungsgrundlage wurde dann ausgeweitet, so dass nun sowohl Kohlenstoff als auch Energie und zudem Kraftstoffe für den Verkehr besteuert werden.

5.9.

Dänemark führte 1992 eine CO2-Steuer auf alle fossilen Brennstoffe ein (Erdgas, Rohöl und Kohle). In Norwegen fallen bis zu 55 % aller Emissionen unter die CO2-Steuer; die übrigen sind im inländischen Emissionshandelssystem erfasst (18).

5.10.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, konkrete Initiativen für die Einführung gleichartiger CO2-Steuern in den Mitgliedstaaten zu ergreifen, um die Anstrengungen für eine wirksame Verringerung der CO2-Emissionen zu harmonisieren. Ein ideales Ergebnis wäre die Schaffung einheitlicher Bedingungen bezüglich der zu besteuernden Emissionen/Verringerungen im gesamten Binnenmarkt und der Festlegung spezifischer Besteuerungsmethoden und -sätze für eine gleich starke Wirkung auf die CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Ein solches Ergebnis kann jedoch je nach den länderspezifischen Erfordernissen Zeit in Anspruch nehmen.

5.11.

Die Einführung gleichartiger CO2-Steuern in den Mitgliedstaaten sollte genutzt werden, um Handelspartner zu ähnlichen Schritte zu bewegen, sodass die entsprechenden Anstrengungen weltweit ausgeweitet werden und die Folgen für die europäische Wettbewerbsfähigkeit begrenzt bleiben. Es bedarf einer globalen Lösung, um komplizierte Ausgleichsregelungen zu vermeiden.

5.12.

Zudem könnten Steuern, wenn sie richtig konzipiert sind, zum Wirtschaftswachstum beitragen, indem sie unter anderem produktive Investitionen in neue Technologien ermöglichen. Dies gilt besonders für die Entwicklung von Technologien zur Verringerung der derzeitigen CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre.

6.   Die CCS- und CCU-Technologien

6.1.

Ein weiteres mögliches politisches Instrument ist die Anwendung von Verfahren, mit denen die derzeitigen CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre verringert werden können. Solche Verfahren sind vermutlich zusätzlich zum EHS und zu CO2-Steuern notwendig. Benötigt wird ein symmetrischer Ansatz. Tätigkeiten zur Verringerung des bereits in der Atmosphäre befindlichen CO2 sind für die Begrenzung der Erderwärmung ebenso nützlich wie die Reduzierung von CO2-emittierenden Tätigkeiten.

6.2.

Die beiden wichtigsten Technologien zur Verringerung von CO2-Konzentrationen sind die CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS) sowie die CO2-Abscheidung und — Nutzung (CCU) (19). Mit beiden Technologien wird der Atmosphäre CO2 entzogen, das CO2 komprimiert und zu einem Speicherort transportiert. Die Technologien verfügen über ein erhebliches Potenzial zur Abschwächung des Klimawandels (20). Es gibt noch weitere Technologien, und es wird davon ausgegangen, dass in naher Zukunft viele neue Technologien entwickelt werden.

6.3.

Der Unterschied zwischen der CCS und der CCU liegt im endgültigen Bestimmungsort des abgeschiedenen CO2. Bei der CCS wird das CO2 zur dauerhaften Speicherung an einen geeigneten Ort transportiert, während bei der CCU das abgeschiedene CO2 in kommerzielle Produkte umgewandelt wird.

6.4.

Die CCU umfasst die Abscheidung und Nutzung von CO2 als Rohstoff für die Herstellung von Mineralstoffen, chemischen Bausteinen, synthetischen Kraftstoffen und Baumaterialien. Sie lässt sich zur Begrenzung der CO2-Emissionen nutzen, indem CO2 in Produkten wiederverwendet, in Baustoffen wie Beton dauerhaft gebunden und durch Abscheidung aus der Luft wieder in den Kreislauf zurückgeführt wird. Sie bietet außerdem Möglichkeiten der Stromspeicherung durch die Herstellung von synthetischem Methan.

6.5.

Die EU hat einen Rechtsrahmen für die Vermarktung und Subventionierung dieser neuen Technologie geschaffen, auch wenn die Kosten für die Abscheidung und Speicherung immer noch eine erhebliche Belastung darstellen. Derzeit ist die Abscheidung der teuerste Teil des Verfahrens.

6.6.

Aktuell befinden sich die größten CCS- und CCU-Anlagen in den USA.

6.7.

In Europa nutzt Norwegen seit 1996 CCS- und CCU-Techniken (21). Alljährlich werden Millionen Tonnen CO2 aus der Erdgasförderung in mehreren speziellen Anlagen abgeschieden und an geeigneten Standorten gespeichert, wodurch der bisher erfolgreichste europäische Erfahrungsschatz bei der Nutzung der CCS entstanden ist. In den letzten Jahren wurden in Schweden, den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Irland weitere Formen von CCS- und CCU-Technologien entwickelt (22).

6.8.

Der EWSA befürwortet die Entwicklung von CCS- und CCU-Technologien durch spezielle Investitionen auf der Ebene sowohl der EU als auch der Mitgliedstaaten, da sie zu dem Ziel der Verringerung der Auswirkungen der CO2-Emissionen und generell zu den UN-Nachhaltigkeitszielen wie auch zu den Zielsetzungen des Klimaschutzübereinkommens von Paris beitragen.

6.9.

Wenn die Erderwärmung auf effiziente und kostenwirksame Weise eingedämmt werden soll, dann müssen CCS- und CCU-Technologien gefördert werden (23). Insbesondere sollten die einzelstaatlichen Haushalte eine maßgebliche Rolle bei der verstärkten Nutzung solcher Technologien spielen, indem öffentliche Investitionen ebenso wie steuerliche Anreize gefördert werden. In dieser Hinsicht erwägt die Europäische Kommission eine Überarbeitung der betreffenden Leitlinien für staatliche Beihilfen, einschließlich der Leitlinien für den Umwelt- und den Energiesektor, die bis 2021 geändert werden sollen, um den Mitgliedstaaten mehr Flexibilität zu ermöglichen.

6.10.

Insbesondere sollten die Mitgliedstaaten eine umfassende und symmetrische Umweltsteuerpolitik mit Blick auf die Auswirkungen von CO2 auf die Erderwärmung beschließen. Es müssen Steuern sowohl mit positiven als auch mit negativen Sätzen eingeführt werden. Die mit CO2-Steuern erzielten Einnahmen könnten vorzugsweise genutzt werden, um Anreize für Verfahren zur CO2-Reduzierung zu finanzieren.

6.11.

Die europäischen Mittel für die Forschung im Bereich CCS und CCU könnten aufgestockt und strategisch ausgerichtet werden, um bessere und konkrete Ergebnisse in Bezug auf die CO2-Speicherkapazität und alternative Speichermöglichkeiten zu erzielen.

6.12.

Die Rolle der Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge sollte nicht unterschätzt werden. (24) Die in den Richtlinien 2014/24/EU (25), 2014/25/EU (26) und 2014/23/EU (27) zum öffentlichen Beschaffungswesen und zu Konzessionen verankerten grünen Ziele und spezifischen umweltpolitischen Instrumente sollten von den nationalen Regierungen und den lokalen öffentlichen Verwaltungen stärker und besser genutzt werden. So könnten zum einen nationale Investitionen und öffentliche Ausgaben und zum anderen die im Grünen Deal vorgesehenen Maßnahmen synergetisch zusammenwirken.

7.   Zusätzliche Instrumente zur Verringerung von Emissionen

7.1.

Abschließend verweist der EWSA auf weitere politische Instrumente für die CO2-Reduzierung. Sie reichen von neuen Technologien bis zu Methoden der Flächenbewirtschaftung, die auf der Ebene sowohl der EU als auch der Mitgliedstaaten gefördert und unterstützt werden sollten. Vor allem Wälder bauen CO2 auf natürliche Weise ab, und Bäume können besonders gut CO2 speichern, das der Atmosphäre durch Photosynthese entzogen wird. Mit einer Ausweitung, Wiederaufforstung und richtigen Bewirtschaftung von Wäldern lässt sich die Kraft der Photosynthese nutzen, um CO2 abzubauen.

7.2.

Zwar wird der Verkauf von forstwirtschaftlichen Erzeugnissen als Einkommen für den Besitzer besteuert, doch sollte bedacht werden, dass die Anpflanzung von Bäumen und der Zuwachs von Wäldern das CO2 in der Atmosphäre verringert und deshalb in einem symmetrischen Steueransatz zur Bekämpfung der Erderwärmung mit einer negativen CO2-Steuer gefördert werden sollte. Dies wäre eine wichtige Maßnahme zur Erreichung der Klimaziele.

7.3.

Des Weiteren sind Böden ein natürlicher CO2-Speicher. Mit der letzten GAP wurden einige Maßnahmen zur ökologischen Umgestaltung eingeführt, um den Beitrag der europäischen Landwirtschaft zum grünen Wachstum in Europa zu stärken. Solche Maßnahmen sollten unterstützt werden, soweit sie mit der Notwendigkeit einer wachsenden Nahrungsmittelproduktion und der Erfüllung von Umweltzielen vereinbar sind. Die Kreislaufwirtschaft kann auch dazu führen, dass sich mehr Möglichkeiten zur Erreichung der Umwelt- und Klimaziele eröffnen.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Ursachen des Klimawandels, Europäische Kommission (Energie, Klimawandel, Umwelt) — https://ec.europa.eu/clima/change/causes_de.

(2)  Global Climate Change, NASA — https://climate.nasa.gov/evidence/.

(3)  Global Carbon Project, CO2 emissions — http://www.globalcarbonatlas.org/en/CO2-emissions.

(4)  Siehe Mitteilung der Kommission „Ein europäischer Grüner Deal — Erster klimaneutraler Kontinent werden“.

(5)  Siehe EWSA-Stellungnahme „Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal“ (in Erarbeitung) und EWSA-Stellungnahme (ABl C 282 vom 20.8.2019, S. 51).

(6)  Siehe EWSA-Stellungnahme „Fonds für einen gerechten Übergang und geänderter Vorschlag für eine Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen“(ABl. C 311 vom 18.9.2020, S. 55).

(7)  Siehe „Emissions Gap Report“ 2019 (Bericht über die Emissionslücke) des UNEP zu den weltweiten Anstrengungen.

(8)  Sollte keine wirklich globale Lösung gefunden werden, stellt sich die Frage, wie mit Produkten aus Drittländern zu verfahren ist und ob ein System für einen steuerlichen Grenzausgleich erforderlich ist und welche Folgen sich daraus ergeben.

(9)  Es spricht einiges dafür, dass die Subvention je Tonne CO2-Verringerung höher sein sollte als der Steuersatz auf CO2-Emissionen, weil eine geringere Produktion in CO2-emittierenden Branchen Folgen für die Beschäftigung hätte und sich vermutlich in einer anhaltenden Arbeitslosigkeit niederschlagen würde. Darüber hinaus ist es vermutlich einfacher, die Unterstützung der Öffentlichkeit für einen strukturellen ökonomischen Wandel zu gewinnen, der zur Entwicklung neuer Technologien führt und nicht bestehende Produktionsverfahren einschränkt.

(10)  Siehe die Stellungnahme des EWSA „Überprüfung des EU-Emissionshandelssystems (EHS)“ (ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 57).

(11)  Das EU-EHS und die Preisgestaltung für Emissionszertifikate haben zahlreiche Debatten ausgelöst. Die Zahl der Zertifikate und der Konjunkturzyklus wirken sich tendenziell stark auf den Preis der Zertifikate aus. Die derzeitige Wirtschaftslage infolge der COVID-19-Krise wird wahrscheinlich auch zu neuen Diskussionen über das EU-EHS führen.

(12)  Siehe EWSA-Stellungnahme „Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal“ (ABl. C 311 vom 18.9.2020, S. 63).

(13)  Bericht der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung.

(14)  ABl. L 143 vom 30.4.2004, S. 56.

(15)  IMF Fiscal Monitor, How to Mitigate Climate Change, 2019: Die verschiedenen politischen Instrumente haben Vor- und Nachteile, aber die Klimakrise ist eine drängende und existenzielle Herausforderung, weshalb die wichtigsten Interessenträger alle geeigneten politischen Maßnahmen nutzen müssen. Die Finanzminister können auf diese Krise reagieren, indem sie eine CO2-Steuer oder ähnliche politische Maßnahmen veranlassen, die Akzeptanz für Klimaschutz durch ergänzende steuerliche oder ausgleichende Maßnahmen erhöhen, angemessene Haushaltsmittel für Investitionen in umweltfreundliche Technologien sicherstellen und Strategien international abstimmen, S. IX.

(16)  Die Einführung oder Erhöhung von Steuern auf CO2-Emissionen ist häufig mit schwierigen Kompromissen verbunden. Die Steuern erfordern eine Reform der Produktionsverfahren und ein Umdenken bezüglich der genutzten Verkehrs- bzw. Transportmittel. Dies kann dazu führen, dass in einigen Branchen die Arbeitslosigkeit steigt und zu anderen Beschäftigungsformen gewechselt werden muss. Für die Betroffenen können die sozialen Kosten sehr hoch sein. Die einzelnen Staaten verfügen mit Blick auf die Gewährleistung sozialen Schutzes über unterschiedliche Möglichkeiten, die berücksichtigt werden müssen, um Umsetzungen sozial akzeptabel zu gestalten.

(17)  Sweden's carbon tax, Government Offices of Sweden — https://www.government.se/government-policy/taxes-and-tariffs/swedens-carbon-tax/.

(18)  Putting a Price on Carbon with a Tax, World Bank Group — https://www.worldbank.org/content/dam/Worldbank/document/SDN/ background-note_carbon-tax.pdf.

(19)  The potential for CCS and CCU in Europe, Europäische Kommission https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/iogp —_report —_ccs_ccu.pdf.

(20)  Siehe EWSA-Stellungnahme (ABl. C 341 vom 21.11.2013, S. 82).

(21)  CCS, Norwegian Petroleum — https://www.norskpetroleum.no/en/environment-and-technology/carbon-capture-and-storage/.

(22)  How European CO2 Transport and Storage Infrastructure can enable an Innovative Industrial Transition, Europäisches Parlament — https://zeroemissionsplatform.eu/wp-content/uploads/ZEP-Conference-Presentations.pdf.

(23)  Eine schwedische Regierungskommission kam 2020 zu dem Schluss, dass Schweden bis 2045 Klimaneutralität erreichen könnte, wenn die Einnahmen aus CO2-Steuern genutzt würden, um den Entzug von CO2 aus der Atmosphäre zu subventionieren. Die positiven und negativen Steuersätze wären gleich hoch. Siehe SOU 2020:4, staatliche Untersuchungen der schwedischen Regierung.

(24)  Dies geht aus der Veröffentlichung „Public Procurement for a Circular Economy“ der Europäischen Kommission vom Oktober 2017 klar hervor; https://ec.europa.eu/environment/gpp/pdf/CP_European_Commission_Brochure_webversion_small.pdf. Auch die Weltbank hat die Rolle der Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge bei ihrer eigenen Auftragsvergabe hervorgehoben; https://www.worldbank.org/en/about/corporate-procurement/vendors.

(25)  ABl. L 94 vom 28.3.2014, S. 65.

(26)  ABl. L 94 vom 28.3.2014, S. 243.

(27)  ABl. L 94 vom 28.3.2014, S. 1.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/29


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Stärkung eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums in der EU“

(Initiativstellungnahme)

(2020/C 364/04)

Berichterstatter:

Philip VON BROCKDORFF

Beschluss des Plenums

20.2.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 GO

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

24.6.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

194/11/12

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die COVID-19-Pandemie hat die Europäische Union ebenso wie andere Länder der Welt schwer getroffen. Die Europäische Kommission reagierte auf diese Krise mit einem umfangreichen Paket von Instrumenten, um die schweren Folgen dieses exogenen Schocks abzufedern. Dazu gehören das Instrument des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) für die Pandemiekrisenhilfe, Übergangsdarlehen zur Finanzierung von nationalen Kurzarbeitsregelungen und ähnlicher Maßnahmen, um im Rahmen des SURE-Instruments Arbeitsplätze in den EU-Mitgliedstaaten zu erhalten. Die Europäische Investitionsbank (EIB) stellte Liquiditätshilfen für die Unternehmen bereit. Erst vor Kurzem hat die Europäische Kommission ein neues 750 Mrd. EUR schweres Instrument mit der Bezeichnung „Next Generation EU“ vorgeschlagen, mit dem die Mitgliedstaaten bei der Überwindung der Wirtschaftskrise unterstützt werden sollen.

1.2.

Vor diesem Hintergrund darf sich die EU aber nach Ansicht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) durch die COVID-19-Krise nicht von ihren mittel- und langfristigen Zielen abbringen lassen, wie sie im europäischen Grünen Deal, in der Strategie für nachhaltiges Wachstum 2020 und in der europäischen Säule sozialer Rechte dargelegt wurden. Diese Ziele sind vielmehr Ausdruck der Notwendigkeit, die europäische Wirtschaft umzugestalten, um gestützt auf die Säulen ökologische Nachhaltigkeit, Produktivitätssteigerungen, Gerechtigkeit und sozialer Fortschritt sowie gesamtwirtschaftliche Stabilität in den kommenden Jahren nachhaltiges Wachstum sicherzustellen.

1.3.

Zur Sicherung der Lieferketten, die sich in der Krise als anfällig herausgestellt haben, ist es nach Auffassung des EWSA notwendig, dass die Akteure in der EU die Lieferkettenstrategien, einschließlich der Diversifizierung überdenken, was auch die Neuausrichtung der Lieferketten in zahlreichen Sektoren beinhaltet. Ebenso wichtig und für die Unternehmen in der EU und ihre geschäftlichen Perspektiven entscheidend ist, dass die EU im Welthandel in Zukunft eine stärkere Rolle spielt. Der EWSA ist ferner der Ansicht, dass bei zahlreichen Aspekten (nicht zuletzt internationale Arbeitsstandards, fairer Wettbewerb und Einhaltung der Klimaschutzziele) für weltweit tätige globale Unternehmen die gleichen Bedingungen gelten müssen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass EU-Unternehmen ihre Produktionsstätten (zumindest für wesentliche Produkte) in die EU verlagern, um Lieferkettenprobleme zu vermeiden.

1.4.

Die Globalisierung mit all ihren Begleiterscheinungen hat zu Auslandsinvestitionen geführt, die aber nicht immer unbedingt getätigt werden, um Anlagekapital aufzubauen, sondern vielmehr dazu dienen, die Länder mit den niedrigsten Steuern ausfindig zu machen. Nach Ansicht des EWSA machen die wirtschaftlichen Probleme und andere Folgen der COVID-19-Krise deutlich, dass eine Veränderung des Modus Operandi von Unternehmen innerhalb der EU und weltweit notwendig ist. Die Empfehlungen des EWSA für eine schnellere Unterbindung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung durch die Mitgliedstaaten haben nun noch mehr Gewicht. Gleiches gilt für die Diskussion zwischen den Mitgliedstaaten über eine schrittweise Umstellung auf die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit und das ordentliche Gesetzgebungsverfahren in Steuerfragen.

1.5.

Regierungspolitik und staatliche Unterstützungen sind während der Krise noch wichtiger geworden. Insbesondere die Fiskalpolitik ist nicht nur für die wirtschaftliche Stabilität entscheidend, sondern ermöglicht es Regierungen auch, Unternehmen mit nach EU-Recht zulässigen Anreizen zu unterstützen. Um nachhaltiges Wachstum zu erreichen und zu stärken, bedarf es nach Auffassung des EWSA daher immer der Leitung und Regulierung durch die jeweilige Regierung in allen Bereichen der wirtschaftlichen Aktivität und des Umweltschutzes, mit besonderem Augenmerk auf der durchgängigen Berücksichtigung des Umweltschutzes bei allen wirtschaftlichen Aktivitäten. Natürlich kommt es bei der Bestimmung der wirtschaftlichen Richtung auch in Zukunft entscheidend auf den offenen Dialog mit den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft an.

1.6.

Der enorme Finanzierungsbedarf für Einkommensstützung und Darlehenssicherheiten für Unternehmen, die aufgrund der krisenbedingten Einschränkungen stillstanden, wird die staatlichen Anreize zum Wiederankurbeln der Konjunktur zweifellos begrenzen. Auch die zur Unterstützung des Umweltschutzes und der produktiven Investitionen notwendigen Finanzmittel dürften dadurch eingeschränkt werden. Die Regierungen werden daher kreative Wege finden müssen, um Ausgaben für nachhaltiges Wirtschaftswachstum unterstützen und gleichzeitig langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen sicherstellen zu können.

1.7.

Der Übergang zu einer nachhaltigeren wirtschaftlichen Entwicklung muss zum einen auf die Entwicklung von grünen Sektoren abzielen. Zum anderen gilt es auch, bestehende Unternehmen und Branchen abseits der traditionellen „grünen“ Sektoren soweit wie möglich zu ökologisieren. Nach Ansicht des EWSA müssen die Hilfen, die Unternehmen sowohl auf staatlicher Ebene als auch auf EU-Ebene angeboten werden, an das Erreichen der im europäischen Grünen Deal und in der Strategie für nachhaltiges Wachstum 2020 festgelegten Ziele und an einen messbaren sozialen Fortschritt gekoppelt werden.

1.8.

Bei der Festlegung der notwendigen Strategien für die wirtschaftliche Erholung, Investitionen und Nachhaltigkeit stellt die von der Kommission vorgenommene Aktivierung der allgemeinen Ausnahmeklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts, mit der Länder des Euro-Währungsgebiets die zur Erreichung der mittelfristigen Haushaltsziele notwendigen Sparmaßnahmen vorübergehend aussetzen können, einen Schritt in die richtige Richtung dar. Nach Ansicht des EWSA könnte es in der Aufbauphase nach COVID-19 erforderlich sein, die bestehenden Regeln zu überarbeiten.

1.9.

Ein Eckpfeiler für nachhaltiges Wirtschaftswachstum in der EU muss nach Ansicht des EWSA die Schaffung und Entwicklung einer echten Kreislaufwirtschaft sein. Dabei werden Werte über ganze Wertschöpfungsketten hinweg maximiert und erhalten, während Abfall minimiert und eine effiziente Nutzung von Ressourcen verfolgt wird. Geschäftsmodelle der Kreislaufwirtschaft bieten ein bedeutsames Potenzial zur Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit, nicht nur im Sinne des Schutzes der natürlichen Umwelt, sondern auch hinsichtlich der Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze und der Entwicklung verbundener Wirtschaftstätigkeiten.

1.10.

Die Rolle von Innovation und Digitalisierung sowie kontinuierlicher Investitionen in Humankapital, um den Übergang zu nachhaltigem Wachstum zu erleichtern, kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden. Die derzeitige Pandemie hat jedoch auch gezeigt, wie wichtig es ist, den Schwerpunkt auf die Gesundheit und das Wohlergehen des Einzelnen zu legen, und nicht nur auf Produktivität und Wirtschaftswachstum. Produktivität spielt für nachhaltiges Wirtschaftswachstum eine Schlüsselrolle. Damit eine Wirtschaft auch künftig weiter nachhaltig wächst, muss sie nach Auffassung des EWSA ihre Wachstumsfähigkeit steigern, aber nur in dem Maße, wie dieses Wachstum auch Wertschöpfung für die Wirtschaft mit steigenden Löhnen und Überschüssen und damit steigender Nachfrage im Binnenmarkt und unter Wahrung der erworbenen Rechte wie soziale Sicherung und Tarifverhandlungen bedeutet.

2.   Widerstandsfähigkeit gegenüber wirtschaftlichen Schocks (Erfahrungen in der COVID-19-Krise)

2.1.

In den Schlussfolgerungen seiner Stellungnahme zur Europäischen Investitionsstabilisierungsfunktion (1) (EISF) wies der EWSA darauf hin, dass die EISF, die die Fiskalpolitik der Staaten in Bezug auf wirtschaftliche Schocks stärker stabilisieren soll, angesichts der Größe des Fonds im Fall einer Wirtschaftskrise, die mehrere Mitgliedstaaten betrifft, nicht ausreichen würde. Obwohl die EISF als Schritt in Richtung einer tieferen Integration des Euro-Währungsgebiets betrachtet wurde, vertrat der EWSA die Ansicht, dass ein gut durchdachtes, unionsweites Versicherungssystem als Element der automatischen Stabilisierung in gesamtwirtschaftlichen Schocks wirksamer wäre als die vorgeschlagene EISF.

2.2.

Die COVID-19-Pandemie hat in den letzten Monaten die Europäische Union ebenso wie andere Länder der Welt schwer getroffen. Diese Krise hat inhärente Schwächen der EU aufgedeckt: Ihre Führung zeigte sich, zumindest anfänglich, unfähig, wirksam und koordiniert die schweren wirtschaftlichen und sozialen Folgen der COVID-19-Krise anzugehen. Gesundheitssysteme, insbesondere in Italien und Spanien, hatten Schwierigkeiten, die Zahl der Infizierten zu bewältigen, und die allgemeine Reaktion der Länder erinnerte ironischerweise an das von Rechtsextremisten und Nationalisten verfochtene Rezept „jeder auf eigene Faust“.

2.3.

Man könnte sagen, diese jüngste Krise war die größte Prüfung für das Projekt EU, ihre Institutionen und sogar das Euro-Währungssystem. Im Jahr 2008 stand der Bankensektor im Zentrum der Krise. Die Europäische Zentralbank (EZB) stellte seinerzeit den Finanzmärkten Liquidität zur Verfügung und stützte die Banken. Damals waren geldpolitische Instrumente von zentraler Bedeutung, die aktuelle Krise stellt jedoch insgesamt eine andere Herausforderung dar: jetzt sollen mit fiskalpolitischen Maßnahmen die Krisenfestigkeit der öffentlichen Gesundheitssysteme sichergestellt und gleichzeitig eine Einkommensstützung für anfällige Unternehmen und ihre Beschäftigten bereitgestellt werden. Die EZB unterstützt indirekt die Fähigkeit der Regierungen, zur Finanzierung ihrer Ausgaben Anleihen und Darlehen aufzunehmen, auch für Ausgaben im Bereich sozialer Entwicklung und für Wohlfahrtsprogramme.

2.4.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen von COVID-19 haben alle Mitglieder des Währungsblocks getroffen. Es gibt aber keinen Mechanismus, der es den Regierungen des Euro-Währungsgebiets ermöglicht, gemeinsam auf einen solchen Schock zu reagieren. Daher fielen die politischen Reaktionen auf die Pandemie in überwältigendem Ausmaß national aus und haben eher die Unterschiede verstärkt, anstatt Europa in Krisenzeiten zusammenzuführen. Das Euro-Währungsgebiet reagierte dabei asymmetrisch auf einen symmetrischen Schock. Die unterschiedliche Haushaltslage in den einzelnen Mitgliedstaaten verursachte große Unterschiede in den politischen Maßnahmen. Der EWSA hat in verschiedenen Stellungnahmen die Wichtigkeit von einer stärkeren Konvergenz sowohl in der Wirtschafts- als auch der Sozialpolitik und einer koordinierten Herangehensweise in der Fiskalpolitik, einschließlich der Besteuerung, hervorgehoben. Die gegenwärtige Krise hat allerdings wieder einmal bewiesen, dass es in der fiskalpolitischen Reaktion eine wesentliche Disparität gibt, die auf die unterschiedliche Haushaltslage in den einzelnen Ländern zurückzuführen sind. Wirtschaftsstärkere Länder des Euro-Währungsgebiets reagierten energisch auf COVID-19, indem sie mehr Geld für die Finanzierung von Rettungspaketen aufnahmen. Länder mit einer anfälligeren Wirtschaft verfügen nicht über den gleichen finanziellen Spielraum und haben mit bescheideneren Rettungspaketen reagiert. Dies zeigt das Ausmaß der Divergenz zwischen den Volkswirtschaften im Euro-Währungsgebiet. Je länger die Krise andauert, desto deutlicher sichtbar wurden diese Unterschiede.

2.5.

Als Reaktion auf die Krise hat die EZB ein neues außerordentliches Anleiheankaufprogramm angekündigt, um die europäischen Märkte zu stabilisieren. Die anfängliche Reaktion in den europäischen Hauptstädten war vorhersehbar: Nachdem die Märkte sich beruhigt und die Anleihedifferenzen sich zwischen den Ländern verringert haben, verschwand die wahrgenommene Notwendigkeit von gemeinsamen fiskalischen Maßnahmen. Jedes Land widmete die Aufmerksamkeit wieder den eigenen nationalen Rettungspaketen. Die anschließenden Vorschläge der Kommission, der Eurogruppe und des Europäischen Rats für einen Aufbauplan gaben den Mitgliedstaaten jedoch einen dringend benötigten Schub. Dennoch musste noch viel mehr getan werden, um wirksam auf diese Krise zu reagieren. Dazu gehören Fortschritte auf dem Weg zu einem gemeinsamen Schuldtitel, um die für den Neustart der Wirtschaft erforderlichen Investitionen zu bündeln und den Verlust von Millionen Arbeitsplätzen in der gesamten EU abzuwenden.

2.6.

Hier treten der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) mit seiner Darlehenskapazität von 410 Milliarden Euro auf den Plan. Die Mitgliedstaaten waren bis jetzt bei der Nutzung des ESM eher zurückhaltend, da alle Kredite an Bedingungen gebunden sind. Des Weiteren werden die „synthetischen“ Anleihen des ESM die fragmentierte Natur des Euro-Währungsgebiets nur weiter verstetigen, selbst wenn diese Bedingungen aufgegeben oder angepasst werden, wie in der Sitzung der Eurogruppe am 9. April 2020 beschlossen wurde. Die Fragmentierung wurde mit dem aktuellen Rahmen für die wirtschafts- und haushaltspolitische Überwachung, insbesondere den Reformen des Sechser- und Zweierpakets, nicht behoben und stellt den Hauptgrund für eine kürzlich veröffentlichte Mitteilung der Europäischen Kommission dar (2). Im Mittelpunkt dieser Überprüfung stehen im Wesentlichen die notwendigen Faktoren, um Wirtschaftswachstum zu erreichen und gleichzeitig tragfähige öffentliche Finanzen zu bewahren und gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte durch engere Abstimmung der Wirtschaftspolitik und Konvergenz der Wirtschaftsleistung in den Mitgliedstaaten zu vermeiden. Dies wäre ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, sofern die Ursachen für diese Ungleichgewichte im Rahmen des Verfahrens bei einem makroökonomischen Ungleichgewicht oder des Europäischen Semesters ermittelt werden. Dabei ist der Schwerpunkt auf wirksamere Maßnahmen — auch für bessere Sozialschutzsysteme — zu legen.

2.7.

Am 9. April 2020 kündigte die Europäische Kommission als Antwort auf die Krise ein umfangreiches Paket mit Instrumenten in Höhe von 540 Milliarden Euro an, mit denen die schweren Folgen der COVID-19-Krise abgefedert werden sollen. Dazu gehört das neue Instrument des ESM für die Pandemiekrisenhilfe mit bis zu 240 Milliarden Euro, mit dem die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets bei der inländischen Finanzierung von direkten und indirekten Kosten in Zusammenhang mit der Gesundheitsversorgung, Behandlung und Prävention infolge der COVID-19-Krise mit einer Deckelung auf 2 % des BIP des Jahres 2019 des jeweiligen Landes unterstützt werden sollen. Das Paket enthält außerdem 100 Milliarden Euro für Übergangsdarlehen zur Finanzierung von nationalen Kurzarbeitsregelungen und ähnlichen Maßnahmen, um als Teil des SURE-Instruments Arbeitsplätze innerhalb der EU-Mitgliedstaaten mit von den EU-Ländern gestellten Sicherheiten zu erhalten. Daneben wird die Europäische Investitionsbank (EIB) Liquiditätshilfen in Höhe von bis zu 200 Milliarden Euro für Unternehmen in ganz Europa und mit besonderem Augenmerk auf KMU bereitstellen. Außerdem einigte sich der Europäische Rat am 27. April 2020 im Grundsatz auf die Einrichtung eines Aufbaufonds für die EU in Höhe von insgesamt 1 Billion Euro und forderte die Kommission auf, einen Vorschlag auszuarbeiten, wie ein solcher Fonds entwickelt und eingesetzt werden könnte.

2.8.

Einen Monat danach, am 27. Mai 2020, schlug die Europäische Kommission ein neues 750 Mrd. EUR schweres Instrument mit der Bezeichnung „Next Generation EU“ vor, mit dem die Mitgliedstaaten bei der Überwindung der durch COVID-19 ausgelösten Wirtschaftskrise unterstützt werden sollen. Das neue Paket, das in den nächsten langfristigen EU-Haushaltsrahmen 2021-2027 eingebettet ist, sieht 500 Mrd. EUR für Finanzhilfen und 250 Mrd. EUR für Darlehen vor. Es soll über die Finanzmärkte mittels Anleihen finanziert werden, was eine vorübergehende Anhebung der Eigenmittelobergrenze der Kommission auf 2 % des Bruttonationaleinkommens der EU erforderlich macht. Im Rahmen des Aufbauplans sollen bereitgestellt werden: 560 Mrd. EUR zur Unterstützung von Investitionen und Reformen der Mitgliedstaaten in den Bereichen grüne Wirtschaft, Digitalisierung und wirtschaftliche Resilienz vor (310 Mrd. EUR für Finanzhilfen und 250 Mrd. EUR für Darlehen), weitere 55 Mrd. EUR zur Förderung bestehender kohäsionspolitischer Programme und 40 Mrd. EUR zur Aufstockung des Fonds für einen gerechten Übergang sowie 15 Mrd. EUR für den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums. Der Plan soll auch die private Investitionstätigkeit wieder in Gang bringen und sieht dazu eines neues, mit 31 Mrd. EUR ausgestattetes Solvenzhilfeinstrument für europäische Unternehmen vor. Das EU-Investitionsprogramms „InvestEU“ soll um 15,3 Mrd. EUR aufgestockt, und in seinem Rahmen soll zusätzlich eine Fazilität für strategische Investitionen in Höhe von 15 Mrd. EUR eingerichtet werden. Letztere soll Investitionen in strategische Sektoren in der EU freisetzen, insbesondere für den Aufbau von Resilienz, den ökologischen und digitalen Wandel und wichtige Wertschöpfungsketten.

2.9.

In Anbetracht dieser Entwicklungen darf sich die EU durch die COVID-19-Krise nicht von ihren langfristigen Zielen, wie sie im europäischen Grünen Deal und in der Strategie für nachhaltiges Wachstum 2020 dargelegt wurden, abbringen lassen. Diese Ziele sind vielmehr erstaunlich weitsichtig, da sie die Notwendigkeit anerkennen, die europäische Wirtschaft umzugestalten. Gestützt auf die Säulen ökologische Nachhaltigkeit, Produktivitätssteigerungen, Gerechtigkeit und sozialer Fortschritt sowie gesamtwirtschaftliche Stabilität soll in den kommenden Jahren nachhaltiges Wachstum sichergestellt werden.

3.   Weltweite wechselseitige Abhängigkeit, internationale Dimension der EU und Zukunft der Globalisierung

3.1.

Die Globalisierung hat zwar zu verstärkten ausländischen Direktinvestitionen (ADI) geführt, die seit 1990 jährlich um durchschnittlich 10 % stiegen (3), während der Welthandel um durchschnittlich 5 % pro Jahr wuchs (4). Doch müssen auch ihre Begleiterscheinungen, insbesondere die Nebenwirkungen auf die Arbeits- und Sozialbedingungen berücksichtigt werden. Zwar wurden durch die Globalisierung der Technologietransfer, der Strukturwandel in der Industrie und das Wachstum globaler Unternehmen gefördert, aber oft auf Kosten der sozialen Rechte und der Tarifverhandlungen. Die Globalisierung ermöglichte es Großunternehmen, Skaleneffekte zu erzielen und so Kosten und Preise zu senken. Dies hat aber zahlreichen EU-Kleinunternehmen im Inlandswettbewerb geschadet.

3.2.

In Bezug auf den internationalen Handel hatte die verstärkte wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Ländern eine Reihe positiver Effekte, nicht zuletzt die Erkenntnis, dass Konflikte zwischen Nationen mit der militärischen Schlagkraft Chinas, der USA und Russlands das Ende der Welt, so wie wir sie kennen, bedeuten würden. Das ist jedoch nicht alles. Die negativen Folgen der Globalisierung wie übermäßige Umweltverschmutzung und ungerechte Arbeitsbedingungen werden oft außer Acht gelassen. Wenn eine Krise außerdem Volkswirtschaften wie China und die USA trifft, wirkt sich das auf eine große Anzahl von Ländern aus und führt sowohl zu regionalen als auch globalen Unsicherheiten. Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer durch die Globalisierung hervorgerufener Gefahren, nicht zuletzt den Umstand, dass multinationale oder globale Unternehmen aufgrund ihres inländischen Einflusses oft als Bedrohung für die Souveränität eines Staates wahrgenommen werden.

3.3.

Die Frage, die es hier zu stellen gilt, ist, inwieweit COVID-19 den Modus Operandi von Unternehmen verändern wird, die im grenzüberschreitenden Handel oder in der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung für bestimmte Sektoren tätig sind — insbesondere Reisen und Tourismus/Luftfahrt — und nun die Hauptlast der Wirtschaftskrise tragen. Die finanziellen Auswirkungen der Krise sind enorm und Unternehmen — auch im verarbeitenden Gewerbe — sind von Einschränkungen der Lieferketten und Exporte oder dem Ausfall von Kundengeschäften betroffen, was so etwas wie einen umgekehrten Multiplikationseffekt oder die Ausbreitung von (negativen) Schocks innerhalb von Produktionsnetzen auslösen kann. Die Krise hat uns das weltweite Geflecht vertraglicher Lieferbeziehungen vor Augen geführt, auf denen die globalisierte Wirtschaft gründet.

3.4.

Die Ausdehnung des weltweiten Handels im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts wurde von zwei voneinander unabhängigen Faktoren ermöglicht: dem Anstieg des verkehrsträgerübergreifenden Frachttransports (d. h. Containerisierung) und der weitgehenden Aufgabe von Kapitalkontrollen Anfang der 1980er. Kapitalbewegungen sind jetzt zwar stärker reguliert, bleiben aber weiterhin die Lebensader für Investitionen und Handelsströme auf der ganzen Welt. Ein dritter Grund für die Ausdehnung des globalen Handels war die Liberalisierung des Handels und die damit verbundenen Handelsabkommen, und, vielleicht am wichtigsten, der Beitritt Chinas zur WTO. Der Handel ist für die EU bei den Bemühungen um eine Stärkung des nachhaltigen Wirtschaftswachstums von enormer Bedeutung. Die Zunahme der Handelsströme zwischen der EU und ihren Handelspartnern hat eindeutig Vorteile, doch die COVID-19-Krise hat die Verletzlichkeit der globalen Lieferketten deutlich gemacht. Störungen im Handelsverkehr können das nachhaltige Wirtschaftswachstum beeinträchtigen. In Anbetracht dessen muss die EU über ihre internationalen Abkommen stärker versuchen, sichere Lieferketten zu gewährleisten und durch wirtschaftliche Schocks verursachte Störungen zu minimieren. Das würde auch bedeuten, die Lieferkettenstrategien einschließlich der Diversifizierung zu überdenken, aber auch die Lieferketten in zahlreichen Sektoren neu auszurichten. Dies würde auch eine Art sektorspezifische Deglobalisierung herbeiführen, bei der EU-Unternehmen ihre Produktionsstätten (zumindest für wesentliche Produkte) in die EU verlagern, um Probleme in der Lieferkette zu vermeiden.

3.5.

Dabei sind die internationale Dimension der EU und ihre Beziehungen zu globalen Akteuren, insbesondere China, Russland und den USA, von großer Bedeutung. Da die internationale Diplomatie für die wirtschaftlichen Aussichten der EU und ihrer Währung von kritischer Bedeutung ist, muss die EU in internationalen Angelegenheiten, darunter auch bei Verhandlungen mit Wettbewerbern, eine stärker zukunftsgerichtete und markantere Rolle spielen. Der EWSA spricht sich nach wie vor für multilaterale Handelsverhandlungen aus und sollte dies auch weiterhin tun. Es ist jedoch offensichtlich, dass die Position der EU in der Frage des multilateralen Handels von China, Russland und den USA ignoriert wird. Wenn die EU im Welthandel eine stärkere Rolle spielen soll, was für Unternehmen in der EU und ihre geschäftlichen Perspektiven lebensnotwendig ist, dann muss sie viel mehr unternehmen, um andere Staaten an den multilateralen Verhandlungstisch zurückzubringen. Sollte das nicht gelingen, muss dem bilateralen Handel eine größere Bedeutung beigemessen werden. Bei der Globalisierung muss nach der Krise sichergestellt werden, dass bei zahlreichen Aspekten (nicht zuletzt in Bezug auf den Steuerwettbewerb, die Arbeitsstandards und die Einhaltung der Klimaschutzziele) für weltweit tätige globale Unternehmen die gleichen Bedingungen gelten. Andernfalls läuft die EU Gefahr, immer stärker den Handelsstreitigkeiten zwischen den USA und China ausgesetzt und von ihnen abhängig zu werden.

3.6.

Was die länderübergreifenden Investitionen angeht, ist es ziemlich offensichtlich, dass Investitionen nicht immer zum Aufbau von Anlagekapital getätigt werden, sondern vielmehr dazu dienen, die Länder mit den niedrigsten Steuern ausfindig zu machen (5). Eine gewisse Form der Globalisierung mag nach Ende der Krise unvermeidbar sein, allerdings deuten die wirtschaftlichen Probleme und anderen Folgen der Krise darauf hin, dass eine Veränderung des Modus Operandi von Unternehmen innerhalb der EU und weltweit notwendig ist. Die Empfehlungen des EWSA für eine schnellere Unterbindung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung durch die Mitgliedstaaten haben nun noch mehr Gewicht. Gleiches gilt für die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit. So befürwortete der EWSA bereits letztes Jahr den Start einer Debatte über die schrittweise Umstellung auf die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit und das ordentliche Gesetzgebungsverfahren in Steuerangelegenheiten. Gleichzeitig wurde anerkannt, dass alle Mitgliedstaaten jederzeit über ausreichende Möglichkeiten verfügen müssen, um am Entscheidungsprozess teilzunehmen.

4.   Überprüfung der Rolle der Regierungen

4.1.

Es steht außer Frage, dass die COVID-19-Krise die wichtige Rolle der Regierungen bei der Bewältigung von Gesundheits- und Wirtschaftskrisen deutlich gemacht hat. Das ist auch für das Ziel eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums besonders wichtig. Niemand in der EU stellt jetzt die Rolle der Regierungen bei der Bereitstellung von wirksamen Gesundheitssystemen und -programmen infrage, die indirekt die wirtschaftliche Aktivität stützen. Die Rolle der Regierungen bei der Durchsetzung von Vorschriften für den Banken- und Finanzsektor nach der Finanzkrise von 2008 wird aber auch nicht infrage gestellt. Es wird vielmehr immer deutlicher, dass die Regierungen bei der Vorgabe der wirtschaftlichen Richtung immer noch eine wichtige Rolle spielen, was sich in einer Krise noch verstärkt. Dies sollte auch für die Multi-Level-Governance gelten, bei der die Einbeziehung der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften in die Wirtschaftspolitik der Zentralregierung von entscheidender Bedeutung ist. Wie bereits erläutert, ist die Fiskalpolitik nicht nur für die wirtschaftliche Stabilität entscheidend. Sie ermöglicht es den Regierungen auch, Unternehmen mit nach EU-Recht zulässigen Anreizen zu unterstützen. Um nachhaltiges Wachstum zu erreichen und zu stärken, bedarf es immer der Leitung und Regulierung durch die jeweilige Regierung in allen Bereichen der wirtschaftlichen Aktivität und des Umweltschutzes, mit besonderem Augenmerk auf die durchgängige Berücksichtigung des Umweltschutzes bei allen wirtschaftlichen Aktivitäten. Natürlich kommt es bei der Bestimmung der wirtschaftlichen Richtung auch in Zukunft entscheidend auf den offenen Dialog mit den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft an.

4.2.

In einem Szenario für die Zeit nach der Krise wird die Fiskalpolitik eine größere Bedeutung einnehmen, nicht zuletzt aufgrund der massiven Kreditfinanzierung, die über die vor der Krise geplanten Beträge weit hinausgeht. Der enorme Finanzierungsbedarf, um Einkommensstützung und Darlehenssicherheiten für Unternehmen bereitzustellen, die infolge von COVID-19-Restriktionen stillstanden, wird die staatlichen Anreize zum Wiederankurbeln der wirtschaftlichen Aktivität zweifellos einschränken. Auch die zur Unterstützung des Umweltschutzes und der produktiven Investitionen notwendigen Finanzmittel dürften dadurch eingeschränkt werden. Die Regierungen werden daher kreative Wege finden müssen, um Ausgaben für nachhaltiges Wirtschaftswachstum unterstützen und gleichzeitig langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen sicherstellen zu können. Die Haltung der Kommission, dass die Erholung mit dem Grünen Deal einhergehen muss, belegt, dass die Antwort auf die Krise selbst nachhaltig sein muss.

4.3.

Eine dieser Möglichkeiten sind außerbudgetäre Quellen der Infrastrukturfinanzierung unter Beteiligung von internationalen Finanzinstitutionen und Privatunternehmen, konkret in Form öffentlich-privater Partnerschaften (ÖPP). Wenn sie transparent verwaltet werden und einer demokratischen Kontrolle unterliegen, könnten ÖPP eine Politik für das Szenario der Zeit nach der Krise sein, um die Finanzierung von Infrastruktur- und Umweltprojekten zu unterstützen. Denn sie bieten Lösungen für Finanzierungsprobleme, für die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Investition in Großprojekte, ohne für wichtige Politikbereiche vorgesehene Haushaltsmittel dafür opfern zu müssen.

4.4.

Die EU sollte zudem einen schnelleren Einsatz der Instrumente und Initiativen des europäischen Grünen Deals anstreben, der der von der EU und den nationalen Regierungen Hand in Hand mit der Privatwirtschaft zu übernehmenden zentralen Rolle bei dieser Umstellung auf ein wirklich nachhaltiges Europa ausdrücklich Rechnung trägt. Dazu gehören die verschiedenen Finanzierungsinstrumente, die Bestandteil des Mechanismus für einen gerechten Übergang sind, dessen Schwerpunkt auf KMU und schutzbedürftigen Industrien liegt, um sie sowohl in ihrer wirtschaftlichen Erholung zu unterstützen als auch ihre Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen künftige Schocks zu verbessern. Angesichts der aktuellen Umstände muss dabei je nach Fall ein gewisser Spielraum in Bezug auf die Anforderungen an Sicherheiten und Kofinanzierung eingeräumt wird. In Anbetracht der aktuellen COVID-19-Krise findet dieser Standpunkt noch größere Resonanz und muss als Chance gesehen werden, um die soziale und wirtschaftliche Entwicklung unter Berücksichtigung der Grundsätze des Grünen Deals wiederanzukurbeln. Im gegenwärtigen Kontext ist das Konzept der europäischen Solidarität so relevant wie nie zuvor.

5.   Strategien für wirtschaftliche Erholung, Investitionen und Nachhaltigkeit

5.1.

Jetzt gilt es, die erforderlichen Strategien für wirtschaftliche Erholung, Investitionen und Nachhaltigkeit zu ermitteln. Bei schrumpfenden Volkswirtschaften aufgrund der COVID-19-Einschränkungen kann kaum eine Erholung auf das vor COVID-19 gemessene Niveau erwartet werden. Es wird Monate dauern, annähernd dahin zu kommen, wo das Euro-Währungsgebiet und die Volkswirtschaften der EU vor der Krise standen. Da die Regierungen zudem Kredite von verschiedenen Quellen aufnehmen müssen, um den unerwarteten und monumentalen Anstieg der öffentlichen Ausgaben abzudecken, ist es wahrscheinlich, dass sie Ausgaben kürzen und möglicherweise Sparmaßnahmen wieder einführen, was zu einem Rückgang von Verbrauch und Wirtschaftsleistung führt. Die Sparmaßnahmen in Griechenland zum Beispiel haben das Land in die Knie gezwungen, da ein Viertel seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Laufe von acht Jahren wegbrach und die Arbeitslosigkeit auf mehr als 27 % anstieg (6). Eine Wiederholung der Sparmaßnahmen wäre kontraproduktiv. Die von der Kommission vorgenommene Aktivierung der allgemeinen Ausnahmeklausel im Stabilitäts- und Wachstumspakt, mit der Länder des Euro-Währungsgebiets die zur Erreichung der mittelfristigen Haushaltsziele notwendigen Sparmaßnahmen vorübergehend aussetzen können, ist ein Schritt in die richtige Richtung. In die Aufbauphase nach COVID könnte es jedoch erforderlich sein, die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu überarbeiten.

5.2.

Die übergeordneten Ziele, wie sie in der Mitteilung der Europäischen Kommission zur Jährlichen Strategie für nachhaltiges Wachstum (7) dargelegt sind, gelten zwar als wesentliches Element, um nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu erreichen, können jedoch nicht durch die Anwendung von Sparmaßnahmen verwirklicht werden, die die verletzlichsten sozioökonomischen Gruppen in unseren Gemeinschaften treffen.

5.3.

Die Regierungen in der EU müssen vielmehr Strategien zur Erholung der Wirtschaft entwickeln, mit denen produktivere und nachhaltigere wirtschaftliche Aktivitäten unterstützt werden. Das Szenario für die Zeit nach COVID-19 stellt eine Chance dar, um wirtschaftliche Schlüsselsektoren zu überprüfen, die sich als besonders krisenanfällig herausgestellt haben. Die Wirtschaft wird immer noch weitgehend auf KMU aufbauen, es könnte aber angebracht sein, Start-up-Unternehmen noch stärker zu fördern und die Rolle sozialwirtschaftlicher Unternehmen in der Wirtschaft als wichtiger Teil der Sozialwirtschaft zu überprüfen. Auch wenn Profit nicht die Hauptmotivation eines sozialwirtschaftlichen Unternehmens ist, so spielen die Einnahmen eine wesentliche Rolle für die Tragfähigkeit solcher Unternehmen. Sozialwirtschaft und sozialwirtschaftliche Unternehmen können durchaus sehr rentabel sein, und eine ihrer Prioritäten besteht darin, Gewinne in ihr Unternehmen zu reinvestieren, statt sie an Aktionäre auszuschütten. Ein sozialwirtschaftliches Unternehmen kann vor allem Spannungen zwischen der Wahrung der sozialen Mission seiner Organisation und der Maximierung seiner Produktivität ausgleichen, um Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Somit sind solche Strukturen ideal für eine Wirtschaft, die das Ziel verfolgt, nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu erreichen und zu stärken.

5.4.

Die Regierungen werden sich um eine schnelle Erholung nach der Krise bemühen, und es wäre zu erwarten, dass einige Sektoren, die sich als krisenfest erwiesen haben, wieder auf die Beine kommen. Doch für die Regierungen wird die Versuchung bestehen, Anreize für Sektoren zu bieten, die vor der Krise nicht als nachhaltig galten oder deren Aktivität nicht mit den Klima- und Umweltzielen des europäischen Grünen Deals vereinbar ist. Die Regierungen sollten vielmehr darauf achten, über die zuvor genannten Finanzierungsmodelle weiter in Projekte zu investieren, deren Ziel die Energieeffizienz und alternative Energien sind, da sie so Geschäftsmöglichkeiten für große Unternehmen, KMU und sozialwirtschaftliche Unternehmen schaffen. Der grüne Wandel muss nicht nur die Entwicklung von grünen Sektoren beinhalten, sondern auch das Bestreben, bestehende Unternehmen und Sektoren über die der traditionellen „grünen“ Sektoren hinaus soweit wie möglich zu ökologisieren. Folglich müssen die Hilfen, die Unternehmen sowohl auf staatlicher Ebene als auch auf EU-Ebene angeboten werden, an das Erreichen der im europäischen Grünen Deal und in der Strategie für nachhaltiges Wachstum 2020 festgelegten Ziele gebunden sein.

5.5.

Ein Eckpfeiler für nachhaltiges Wirtschaftswachstum in der EU muss die Schaffung und Entwicklung einer echten Kreislaufwirtschaft sein, bei der Werte über ganze Wertschöpfungsketten hinweg maximiert und erhalten werden, während Abfall minimiert und die eine effiziente Nutzung von Ressourcen verfolgt wird. Geschäftsmodelle der Kreislaufwirtschaft bieten ein bedeutsames Potenzial zur Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit, nicht nur im Sinne des Schutzes der natürlichen Umwelt, sondern auch hinsichtlich der Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze und der Entwicklung verbundener Wirtschaftstätigkeiten. Daneben unterstützen Geschäftsmodelle der Kreislaufwirtschaft die Stärkung der Krisenfestigkeit gegen die Art von Schocks in Lieferketten, wie sie infolge der COVID-19-Pandemie aufgetreten sind. Gleichzeitig werden die Volatilität der Rohstoffpreise und der Verfügbarkeit infolge von Umwelt- und geopolitischen Entwicklungen sowie die Folgen des Klimawandels und der Handelsstreitigkeiten abgeschwächt. Die Rolle von Innovation und Digitalisierung sowie von kontinuierlichen Investitionen in Humankapital, um diesen Übergang zu erleichtern, kann nicht genug hervorgehoben werden und muss mit neuem Elan durch die Unterstützung der Forschung und Entwicklung und mit einem stärkeren Schwerpunkt auf der Vermarktung verfolgt werden. Allerdings müssen die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt umfassend bewertet werden, um den Verlust von Arbeitsplätzen so gering wie möglich zu halten und die Betroffenen mit Angeboten für die Umschulung und berufliche Neuorientierung zu unterstützen.

5.6.

Die derzeitige Pandemie hat gezeigt, wie wichtig es ist, den Schwerpunkt auf die Gesundheit und das Wohlergehen des Einzelnen zu legen, und nicht nur auf das Wirtschaftswachstum. Dieses ist laut der Strategie für nachhaltiges Wachstum 2020 kein Selbstzweck. Die Verbesserung sowohl der Qualität als auch der Zugänglichkeit des öffentlichen Gesundheitswesens in den Ländern muss für die EU eine oberste Priorität sein, während Ungleichheiten beim Zugang zur Gesundheitsfürsorge und große Selbstzahlungen, die nur dazu dienen, diese Unterschiede aufrecht zu erhalten, beseitigt werden müssen. So wie in anderen Sektoren sollten auch Investitionen in Digitalisierung und künstliche Intelligenz für das öffentliche Gesundheitswesen angestrebt werden. Schwere wirtschaftliche Schocks unterstreichen auch die wesentliche Rolle des verantwortlichen Regierungshandelns beim Aufbau von Krisenfestigkeit und der Konzipierung geeigneter Maßnahmen zur Krisenbewältigung. Nachhaltiges und gerechtes Wirtschaftswachstum hängt somit von der Qualität der nationalen und lokalen Institutionen in den Mitgliedstaaten ab, und die EU ist dafür zuständig, aktiv sicherzustellen, dass alle Länder die Grundsätze von Demokratie, Toleranz und Achtung der Rechtsstaatlichkeit schützen und wahren. Positiv ist, dass das Europäische Semester jetzt die Qualität der öffentlichen Verwaltung und Governance viel systematischer angeht.

5.7.

Der letzte Punkt betrifft die Rolle der Produktivität für das Erreichen nachhaltiges Wirtschaftswachstums. Damit eine Wirtschaft künftig weiterhin nachhaltig wächst, muss sie ihre Wachstumsfähigkeit steigern, aber nur so weit, wie dieses Wachstum Wertschöpfung für die Wirtschaft und die Menschen bedeutet. Dazu gehört die Verbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen‚ insbesondere durch Tarifverhandlungen, und vor allem nicht auf Kosten einer gerechteren Einkommensverteilung. Um das zu erreichen, müssen Strategien zur Flankierung der Produktivität entwickelt werden, aber nicht zu Lasten der Arbeitnehmerrechte und des sozialen Fortschritts. Höhere Produktivität ist daher kein Selbstzweck, sondern das Mittel zur Verbesserung der Löhne, zur Erhöhung der Gesamtnachfrage in den Volkswirtschaften der EU und damit zur Verbesserung des Lebensstandards. Höhere Produktivität wird auch zur Entwicklung von neuen und besseren Produkten und Dienstleistungen führen und es Unternehmen dadurch ermöglichen, höhere Wertschöpfungsketten für Waren und Dienstleistungen zu erreichen, und es der EU erlauben, auf dem globalen Markt einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen. Wie oben bereits erwähnt, sollte höhere Produktivität ausschließlich mit dem Ziel verbunden sein, nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu erreichen. Sie darf nicht zu Lasten der Arbeitsbedingungen, des sozialen Fortschritts oder der Umweltpolitik erreicht werden. Ganz im Gegenteil, die allgemeinen in der europäischen Säule sozialer Rechte festgelegten Ziele und insbesondere der soziale Schutz und die Stärkung der Tarifverhandlungen müssen gewahrt bleiben. Das Gleiche gilt für die im Grünen Deal festgelegten Ziele und die Klimaschutzziele der EU. Eine wirklich europäische Antwort auf die aktuelle COVID-19-Krise und ein einheitliches Vorgehen bei der Stärkung von nachhaltigem Wachstum im gesamten Block sollten einen länderübergreifenden Steuersenkungswettlauf vermeiden, der einer Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten nur abträglich ist und nationalistischen Tendenzen Vorschub leistet. Der Schwerpunkt sollte vielmehr darin liegen, die Länder bei der Entwicklung ihres Humankapitals und bei der Steigerung der Produktivität zu unterstützen. Regionale Ungleichheiten bei Wachstum und Erwerbsmöglichkeiten sollten über zielgerichtete Investitionen angegangen und wesentliche strukturelle Defizite, die die Unternehmenstätigkeit behindern, behoben werden.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 126.

(2)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Überprüfung der wirtschaftspolitischen Steuerung — Bericht über die Anwendung der Verordnungen (EU) Nr. 1173/2011, 1174/2011, 1175/2011, 1176/2011, 1177/2011, 472/2013 und 473/2013 sowie die Geeignetheit der Richtlinie 2011/85/EU des Rates.

(3)  UNCTAD (2019). Weltinvestitionsbericht 2019.

(4)  Weltbank (2020). Exporte von Waren und Dienstleistungen (jährliches Wachstum in %). Weltentwicklungsindikatoren.

(5)  Bénassy-Quéré, A., Fontagné, L., & Lahrèche-Révil, A. (2005). How does FDI react to corporate taxation? International Tax and Public Finance12(5), 583-603.

(6)  https://www.theguardian.com/world/2018/aug/20/greece-emerges-from-eurozone-bailout-after-years-of-austerity.

(7)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum 2020, COM(2019) 650 final.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/37


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Förderung von Wettbewerbsfähigkeit, Innovation, Wachstum und Beschäftigung durch eine verstärkte globale Zusammenarbeit in Regulierungsfragen, durch die Unterstützung eines erneuerten multilateralen Handelssystems und durch die Verringerung marktverzerrender Beihilfen“

(Initiativstellungnahme)

(2020/C 364/05)

Berichterstatter:

Georgi STOEV

Ko-Berichterstatter:

Thomas STUDENT

Beschluss des Plenums

20.2.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 GO

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

CCMI

Annahme in der Fachgruppe

26.6.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

211/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Einschneidende Ereignisse wie das Coronavirus (COVID-19) drohen die Weltwirtschaft und das gesellschaftliche Leben zum Stillstand zu bringen. Es zeichnen sich Rezessionen in den USA, der EU, Japan und anderen Teilen der Welt, ein stark gedämpftes Wachstum in China und ein enormer Rückgang der Produktion ab. Die Regierungen müssen wirtschaftliche Schäden durch die Fiskal- und Geldpolitik kompensieren und die absehbaren wirtschaftlichen Verwerfungen bewältigen. Der EWSA betont, dass effiziente Geschäftsmodelle und Handelsschutzmechanismen gefordert sind, insbesondere in Bezug auf Asien. Er stellt fest, dass 36 Millionen Arbeitsplätze in der EU vom Exportpotenzial der EU abhängen. Der Anteil der Arbeitsplätze, die vom Verkauf von Waren und Dienstleistungen auf den Weltmärkten abhängen, ist von 10,1 % im Jahr 2000 auf 15,3 % im Jahr 2017 gestiegen (1). Es muss fiskalisch, wirtschaftlich und sozial auf die Krise reagiert werden, damit sie in diese und andere Sektoren nicht noch mehr schädigt.

1.2

Die Coronakrise sollte die EU dazu veranlassen, im Rahmen der allgemeinen Neugestaltung der Industriepolitik, die sich aus der Notwendigkeit der ökologischen Nachhaltigkeit und der Digitalisierung ergibt, die Gesundheits- und Arzneimittelbranche zu stärken. Ziel muss es sein, die gemeinsame Souveränität und Autarkie der EU in diesen Sektoren zu gewährleisten. Die Erarbeitung dieser Stellungnahme begann vor dem Ausbruch der Gesundheits- und Wirtschaftskrise, die unerwartet über uns hereingebrochen ist und unsere Volkswirtschaften und die Art, wie die Globalisierung verläuft, auf kurze, mittlere und lange Sicht verändern wird. Auch wenn diese Krise nicht das eigentliche Thema dieser Stellungnahme ist, so hat sie doch tiefe Auswirkungen auf die Bereiche und Themen, die nachstehend erörtert werden. Es zeichnet sich bereits ab, dass diese Krise in einigen Teilen der Welt eine neue Welle des Protektionismus und des Wirtschaftsnationalismus auslöst. Dies ist sowohl ein globales als auch ein EU-weites Phänomen. All diese Faktoren werden in dieser Stellungnahme so weit wie möglich bereichsübergreifend berücksichtigt.

1.3

Der EWSA teilt die Ansicht, dass internationale Unternehmen und der internationale Handel potenziell zum globalen Wachstum beitragen können, und zwar dank einer größeren Spezialisierung, Größenvorteilen, fortgeschrittenen globalen Wertschöpfungsketten und mehr Forschung und Technik. Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Übergänge von Wertschöpfungsketten zu Wertschöpfungsnetzen, von der Linear- zu einer Kreislaufwirtschaft und vom „Greifbaren“ zum Immateriellen, die die Anpassungsfähigkeit der Industrie auf die Probe stellen.

1.4

Der EWSA sieht das Ziel der EU-Politik darin, dass die Akteure, die an der industriellen Entwicklung beteiligt sind, nicht durch unlauteres Wirtschafts-, Sozial- und Umweltdumping geschädigt werden. Dringender politischer Handlungsbedarf besteht für die EU in folgenden Bereichen: der US-Mark als Exportmarkt der EU und die potenzielle Zusammenarbeit zwischen der EU und den USA, die künftige Rolle Chinas und die Neugestaltung der WTO. Die Industrie sollte eine treibende Kraft für die Lösung gesellschaftlicher und ökologischer Probleme werden und neue Werte für die Gesellschaft schaffen.

1.5

Der EWSA teilt die Auffassung, dass eine Globalisierung ohne Regeln zu mehr Ungleichheit führt, einen Abwärtsdruck auf Unternehmen, Löhne und Arbeitsbedingungen auslöst und die soziale Sicherheit erodieren lässt. Dies könnte zu einer echten Bedrohung für die europäischen Sozialmodelle werden. Eine Globalisierung ohne Regeln untergräbt außerdem die Umweltschutzstandards. Es bereitet dem EWSA Sorge, dass europäische Unternehmen und Arbeitsplätze durch unfaire, nicht marktwirtschaftliche Handelspraktiken, die die internationalen Sozial- und Umweltabkommen missachten, in eine Schieflage geraten. Die europäische Industrie sollte ihre einzigartigen Vorteile nutzen, indem sie europäische Werte, neue Technologien und einen zukunftsorientierten Ansatz miteinander verbindet. Der Binnenmarkt ist für die europäische Industrie und für die Verbreitung von Innovationen von entscheidender Bedeutung — nicht nur im Hinblick auf digitale Technologien, sondern auch auf andere Schlüsseltechnologien wie die Biotechnologie. Die Rolle des sozialen und regionalen Zusammenhalts und des sozialen Dialogs bei der Gewährleistung der sozialen Akzeptanz des industriellen Wandels ist ebenfalls hervorzuheben.

1.6

Die Industriestrategie und die Handelspolitik der EU dürfen die Bemühungen der EU, Drittländern Entwicklungshilfe zu leisten, nicht konterkarieren. Der EWSA empfiehlt einen ausgewogenen Ansatz in Bezug auf die schwächeren Volkswirtschaften mit einer besseren Koordinierung und Verknüpfung der nationalen Entwicklungshilfe. Der EWSA bedauert, dass zunehmend Maßnahmen ergriffen werden, die nicht mit den WTO-Regeln konform sind. Von neuen, diskriminierenden und nichttarifären Regelungen geht die Gefahr wechselseitiger regulierungsbedingter Hemmnisse aus, die sich allmählich zur neuen Normalität im Welthandel entwickeln. Die bestehenden EU-Förderprogramme und das Monitoring sollten im Einklang mit den EU-Wettbewerbsvorschriften neu bewertet werden. So sollen EU-Mitgliedstaaten, Partner, Unternehmen und Arbeitnehmer, die von der Wirtschaftskrise und den Handelskriegen betroffen sind, unterstützt und entlastet werden.

1.7

Der EWSA meint, dass sich der EU-Binnenmarkt zu einem bevorzugten Investitionsstandort entwickeln sollte, denn das würde helfen, externe Herausforderungen zu bewältigen. Die neue Industriestrategie und alle anderen Instrumente sollten im Hinblick darauf bewertet werden, ob sie Investitionen in die Industrie-, Energie-, Verkehrs- und digitale Infrastruktur durch einen erweiterten Konnektivitätsansatz fördern und unterstützen. Eine Überprüfung der Vorschriften über Fusionen, Übernahmen und staatliche Beihilfen könnte der EU gegenüber den globalen Wettbewerbern zu einem Wettbewerb auf Augenhöhe verhelfen. Alle Regierungs- und Verwaltungsebenen sollten dafür sorgen, dass die Vorteile der Globalisierung gerecht verteilt und die negativen Auswirkungen auf globaler, regionaler und lokaler Ebene abgemildert werden.

Ein gemeinsames System für ausländische Direktinvestitionen würde dazu beitragen, Interessen an strategischen Vermögenswerten zu wahren, darunter strategische Infrastrukturen und Technologien sowie die Sicherheit der Versorgung mit kritischen Gütern. Die Nutzung der Vergaberichtlinien, wirksame handelspolitische Schutzinstrumente und ein solides Netz von Freihandelsabkommen sind mehr denn je erforderlich, um gegen illegale Praktiken vorzugehen, die Regelungskonvergenz zu vertiefen und Nachhaltigkeitsstandards zu fördern — sie helfen, Marktverzerrungen abzubauen.

1.8

Der EWSA ist besorgt über die jüngste negative Sicht auf den internationalen Handel und die Globalisierung sowie über den Zulauf, den populistische Bewegungen mit ihren immer lauteren nationalistischen Rufen bekommen. Er hält Protektionismus und Nationalismus nicht für die richtigen Antworten auf wirtschaftliche und soziale Probleme. Mittelfristige Reform- und Investitionsprioritäten sind notwendig, um die Volkswirtschaften unter Berücksichtigung des Übergangs zu einer ökologischen Wirtschaft und des digitalen Wandels wieder auf den Weg eines nachhaltigen und integrativen Wachstums zu führen. Die EU sollte alle erdenklichen Maßnahmen ergreifen, um trotz der Pandemie die Demokratie uneingeschränkt aufrechtzuerhalten.

1.9

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Grüne Deal, die neue Industriestrategie und die Handelspolitik, verzahnt mit der Wirtschafts-, Regulierungs- und Wettbewerbspolitik, in einer umfassenden Anstrengung zur Förderung der Umwelt münden sollten. Freilich darf dies nicht zu Lasten des Binnenmarkts, der europäischen Unternehmen und der Arbeitsplätze geschehen, und außerdem sollten hohe Umweltziele für die Industrie als Ganzes gesetzt werden.

1.10

Der EWSA teilt die Auffassung, dass eine wesentliche Aussage über die wirtschaftliche Stabilität darin besteht, dass sich die Mitgliedstaaten um die Qualität ihrer öffentlichen Finanzen kümmern und gleichzeitig notwendige und zukunftsorientierte Investitionen fördern müssen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Da das multilaterale System unter ständigem Druck steht, sind weltweit agierende Unternehmen aus der EU zunehmenden Reibungen und Unsicherheiten, wachsendem Protektionismus und anhaltenden Spannungen zwischen den Handelspartnern der EU ausgesetzt. Die globalen Wertschöpfungsketten werden kürzer, und weltweit ist eine allgemeine Tendenz zurück zur Regionalisierung zu beobachten. Die EU bilden zusammen mit den USA und China den Mittelpunkt dieser Dynamik, und einige wichtige Wirtschaftszweige steht unter erheblichem Druck. Es müssen grundlegende Entscheidungen getroffen werden, um die Gefahr der drohenden Marginalisierung einzudämmen und die globale Rolle der EU zu festigen. Es ist dringend notwendig, wieder über Investitionen innerhalb der EU nachzudenken. Ferner geht es darum, Unternehmen, und hier vor allem den KMU, zu helfen, indem Liquidität bereitgestellt und der Finanzsektor stabilisiert wird. Der Binnenmarkt und der Handel mit strategischen Güter müssen ungestört funktionieren können. Dahin gelangt man nur durch die Kombination verschiedener Maßnahmen, darunter Vorschriften und politische Maßnahmen, die auch für Unternehmen aus Drittstaaten gelten, wenn sie in der EU tätig sind, Infrastruktur, Investitionen in öffentliche Güter (bspw. Gesundheit und digitale Infrastrukturen), Gegenseitigkeit im Bereich der öffentlichen Aufträge, wirkungsvolle Handelspolitik, digitale Unabhängigkeit etc.

2.2

Die globale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie wird durch eine Rückwendung zum Unilateralismus und das Fehlen einer globalen wirtschafts- und handelspolitischen Lenkung beeinträchtigt. Hinzu kommen noch Marktungleichgewichte und -störungen, hervorgerufen durch die Zahlung von Beihilfen an bestimmte Wettbewerber, insbesondere staatseigene Unternehmen, und die derzeitige Krise. Die EU-Unternehmen investieren in Forschung und Innovation, um Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit auf einen Nenner zu bringen. Ihre Investitionen und ihre Risikobereitschaft könnten aber durch den eingeschränkten Zugang zu internationalen Märkten und durch unlauteren Wettbewerb sabotiert werden. In dieser Konstellation sind die KMU anfälliger denn je.

2.3

Diesbezüglich könnten die von der EU geförderten Allianzen dazu beitragen, für ihre Interessen in multilateralen Organisationen wie der Welthandelsorganisation (WTO) und den Vereinten Nationen (VN) zu werben. Daher sind die kürzlich angenommene Industriestrategie und der Jahresbericht der Kommission über die Umsetzung von Freihandelsabkommen Schritte zu mehr Transparenz. Sie bieten aber auch ein wirksames Instrument, um der Zivilgesellschaft objektive Hintergrundinformationen über die von der EU ausgehandelten Handelsabkommen zu liefern.

Trotz einiger positiver Elemente hat das Gesamtpaket der kürzlich verabschiedeten Industriestrategie noch nicht alle davon überzeugen können, dass es spürbare Veränderungen für die Unternehmen, die Arbeitnehmer und die Zivilgesellschaft bringen kann, die sich für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und des Wirtschaftswachstums in Europa einsetzen.

2.4

Die Annahme einer robusten europäischen Industriepolitik und die Verteidigung europäischer Handelsinteressen decken sich mit dem vorrangigen Ziel der EU-Außenpolitik, den Multilateralismus zu stärken, der auf den Institutionen des VN-Systems fußt. Die hier notwendigen Reformen sollten zu einer Welt beitragen, die durch faire Regeln und demokratische Prinzipien gekennzeichnet ist.

3.   Das wirtschaftliche Potenzial nutzen

3.1

Der EWSA teilt die Sicht der Kommission, dass europäische Unternehmen nur dann von der Industriestrategie und den Handelsabkommen der EU profitieren können, wenn sie über den Inhalt der Strategien und Abkommen informiert werden und verstehen, wie sie in der Praxis funktionieren.

3.2

Der EWSA bemängelt, dass die Ursprungsregeln und die Verwaltungsformulare, welche die Handelspartner der EU verlangen, damit EU-Unternehmen Präferenzen gewährt werden können, zu kompliziert sind. Kritisch zu sehen ist auch der hohe Aufwand für europäische KMU beim Nachweis des präferenziellen Ursprungs, der mit Blick auf die den Umfang der von ihnen geschlossenen Verträge unverhältnismäßig ist.

3.3

Der EWSA schlägt vor, im Umgang mit Ländern, die unlauteren Wettbewerb, schlechte Arbeitsbedingungen oder unzureichende Nachhaltigkeitsstandards zulassen, auch darauf hinzuarbeiten, dass über Kernfragen bezüglich der Entwicklung alternativer Streitbeilegungsverfahren und des Online-Streitbeilegungsverfahrens der Vereinten Nationen gesprochen wird. Der EWSA begrüßt die unlängst von der Kommission angekündigte Mehrparteien-Interimsvereinbarung zur Streitbeilegung als eine Etappe zur Aufrechterhaltung einer unabhängigen, zweistufigen Streitbeilegung.

3.4

Der EWSA erinnert daran, dass die KMU in erster Linie auf dem Binnenmarkt handeln (2). Nur etwa die Hälfte der KMU vertreibt ihre Waren außerhalb der EU-28 (3). Die Ausfuhren der KMU weisen zudem eine hohe Konzentration auf einige Mitgliedstaaten und Regionen auf, denn mehr als zwei Drittel der Gesamtausfuhren und des Handels von KMU in der EU stammen aus sechs Mitgliedstaaten (4).

3.5

Der EWSA begrüßt die fortgeschrittenen Arbeiten der Kommission an dem Online-Portal, das zwei Datenbanken, die Marktzugangsdatenbank und den Handels-Helpdesk zusammenführen wird. Es soll die Umständlichkeit und die mangelnde Kohärenz der Ursprungsregeln und Zollverfahren reduzieren und einen kostenlosen Online-Rechner für Ursprungsregeln als zusätzliche Unterstützung für KMU in der EU bieten.

3.6

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Kommission und der Europäische Auswärtige Dienst sowie die diplomatischen und konsularischen Vertretungen der Mitgliedstaaten einiges für die Propagierung der EU-Strategie sowie der Dienstleistungen und des Handels der EU mit Drittländern tun könnten‚ damit ausländische Direktinvestitionen leichter und die Exportchancen für Unternehmen und Arbeitskraft aus Europa verbessert werden.

3.7

Der EWSA begrüßt ferner die Initiativen der Europäischen Kommission, um die KMU in der EU bei ihrer Internationalisierung zu fördern und zu unterstützen, damit sie weltweit wettbewerbsfähiger werden. Seines Erachtens muss sichergestellt werden, dass diese Initiativen nach einem vom unten nach oben gerichteten Ansatz umgesetzt werden. Zusammen mit diesen Initiativen könnte das neue Paradigma den KMU und anderen regionalen Akteuren mehr Chancen eröffnen.

3.8

Der EWSA nimmt besorgt zur Kenntnis, dass mit einigen Handelspartnern noch offene Fragen bestehen, auf die die Kommission in ihrem Bericht hinweist, wie etwa, dass EU-Produkte in Partnerländern nach wie vor Hindernissen beim Zugang zu den Märkten ausgesetzt sind. Der gegenseitigen unbürokratischen Anerkennung von technischen Standards sollte eine hohe Priorität eingeräumt werden.

3.9

Der EWSA verweist auf eine Studie (5) des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments, in der die Handelsströme einiger Mitgliedstaaten ausgewertet wurden. Es konnte festgestellt werden, dass die Exportleistung der EU positiv und stark mit dem BIP korreliert und der Handel auf einige wenige Mitgliedstaaten konzentriert ist.

3.10

Der EWSA macht erneut auf die ungleichen territorialen Folgen der Globalisierung aufmerksam, was in den Reflexionspapieren der Kommission „Die Globalisierung meistern“ und „Die Zukunft der EU-Finanzen“ zum Ausdruck kam. Darin wurde der Umstand beleuchtet, dass sich die Vorteile der Globalisierung zwar breit verteilen, die Kosten jedoch häufig lokal zu tragen sind.

3.11

Der EWSA legt besonderen Wert auf die Rolle der Kohäsionspolitik bei der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der EU durch gezielte Investitionen in Schlüsselsektoren wie Netzinfrastrukturen, Forschung und Innovation, IT-Dienste, Umwelt- und Klimaschutz, hochwertige Beschäftigung und soziale Inklusion.

3.12

Der EWSA erinnert an den Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF), aus dem Menschen unterstützt werden können, die durch Strukturwandel, Globalisierung, Digitalisierung, Migration und Klimawandel arbeitslos geworden sind. Angesichts des enormen Ausmaßes der drohenden Wirtschafts- und Beschäftigungskrise sollte der EGF finanziell aufgestockt werden. Seine Regeln müssen flexibler an die Art und den Umfang der Krise angepasst werden, und er muss mit dem Fonds für einen gerechten Übergang verknüpft werden.

3.13

Der EWSA teilt die Auffassung, dass flexible Arbeitsregelungen und Telearbeit wichtig für den Erhalt der Arbeitsplätze und der Produktion sind. Dennoch dürfte die Krise — ungeachtet der Bemühungen um die Abmilderung ihrer sozialen Auswirkungen — die Arbeitslosigkeit und die Einkommensungleichheit erheblich erhöhen. Ein überarbeiteter europäischer Grüner Deal könnte helfen, die Globalisierung so zu lenken, dass sie eine positive wirtschaftliche, soziale, territoriale und ökologische Wirkung auf Unternehmen, Beschäftigte und die Zivilgesellschaft entfaltet und dass ein Beitrag zur Verringerung von Marktverzerrungen geleistet wird.

3.14

Der EWSA ist der Ansicht, dass ein Mechanismus zur Minderung des CO2-Fußabdrucks in der Produktion und die Bemühungen um eine CO2-arme Industrie genutzt werden könnten, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Er stellt allerdings fest, dass eine solche Maßnahme ein Gleichgewicht zwischen Umwelt-, Handels- und Fairnessbelangen schaffen muss, um Marktverzerrungen und Vergeltungsmaßnahmen gegen die EU-Länder zu vermeiden, die der europäischen Industrie und den Arbeitsplätzen schaden könnten.

3.15

Der EWSA teilt die Auffassung, dass es von entscheidender Bedeutung ist, die Produktivitätslücke zwischen hochproduktiven Volkswirtschaften, Regionen und Unternehmen und allen anderen zu verringern. Außerdem hält er gut funktionierende Institutionen und effiziente Steuersysteme für produktivitätsfördernd.

3.16

Eine neue Industriepolitik ist gefragt, die schwerpunktmäßig auf Innovationskraft und einen höheren Mehrwert abzielt, die ihrerseits für mehr Qualität und neue Arbeitsplätze unerlässlich sind. Eine solche Politik würde, wenn sie umsichtig konzipiert und ordnungsgemäß umgesetzt würde, dazu beitragen, die negativen Auswirkungen einer weiteren Kontraktion des BIP, der Zersplitterung des Binnenmarkts und der Unterbrechung von Wertschöpfungsketten zu vermeiden.

4.   Abmilderung der negativen Auswirkungen singulärer Entwicklungen

4.1

Der EWSA appelliert an die institutionellen Hauptakteure, den Verbindungen zwischen der EU-27 und dem Vereinigten Königreich besondere Aufmerksamkeit zu schenken, denn sie werden darüber mitentscheiden, welche Auswirkungen der Brexit auf die jeweilige Wirtschaft haben wird. Es müssen geeignete Maßnahmen für Sektoren entwickelt werden, die besonders stark betroffen sein könnten.

4.2

Der EWSA bedauert die Entscheidung der USA, als Gegenmaßnahme zu den Beihilfen der EU an den Airbus-Hersteller zusätzliche Zölle auf europäische Erzeugnisse zu erheben. Betroffen davon sind hauptsächlich Agrarerzeugnisse und Lebensmittel aus den EU-Mitgliedstaaten. Wirksame Schutzmaßnahmen der EU für die Stahlbranche sind traditionell ein Kernanliegen der CCMI. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Stahlindustrie sollten sie neu bewertet werden, um weitere Schäden von einheimischen Stahlunternehmen abzuwenden und gleiche Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen und Arbeitnehmer in der EU zu gewährleisten.

Der EWSA unterstreicht, dass die US-amerikanischen Stahlzölle zu gravierenden Handelsumlenkungen von Stahlerzeugnissen aus Drittstaaten geführt haben, die verstärkt auf den europäischen Markt drängen und die insbesondere in Bauaufträgen für öffentliche Infrastrukturprojekte eingesetzt werden.

4.3

Der EWSA stellt fest, dass sich nach vernünftigem Ermessen zwar kaum ein Land aus der Globalisierung auskoppeln kann, ohne dafür einen sehr hohen Preis zu zahlen, dass aber dennoch ein reales Risiko gegeben ist, dass das multilaterale Handelssystem zusammenbrechen könnte, was die EU stets im Auge behalten muss. Er begrüßt daher das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für 2020 mit seiner Initiative für eine Reform der WTO bis Ende 2020 sowie den vorgelegten Aufbauplan.

4.4

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die EU entschiedener vorgehen und dafür Sorge tragen muss, dass in der Praxis wirkliche Gegenseitigkeit herrscht und gegen Protektionismus beim Zugang zu Beschaffungsmärkten in Drittländern vorgehen vorgegangen wird.

Auf dem chinesischen Markt für öffentliche Beschaffungen und beim Schutz der Rechte des geistigen Eigentums sind Abweichungen von den internationalen Standards beobachtet worden. Obwohl China WTO-Mitglied geworden ist, bleibt das Land nach wie vor ein weitgehend geschützter Markt. Darüber hinaus ist China noch nicht dem WTO-Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (GPA) beigetreten, obwohl es seine Zusage bei der Aufnahme in die WTO gegeben hat. Die Debatte über China ist in der EU zu einem heiklen Thema geworden. Ehrgeizige Programme wie die Initiative „One Belt, One Road“, oder die Strategie „Made in China 2025“ und die „16+1-Leitlinien (2017 Budapest, 2018 Sofia, 2019 Dubrovnik)“ (6) haben die Aufmerksamkeit einiger privater und öffentlicher Akteure, u. a. der EU-Institutionen, auf sich gezogen. Durch die 5G-Problematik wurde die Frage der digitalen Sicherheit aktuell. Hier eröffnet sich eine günstige Perspektive, um etwas für die digitale Unabhängigkeit der EU zu tun. Die Förderung von EU-Programmen für Investitionen in Forschung und Innovation scheint in dieser Hinsicht der sinnvollste und lohnendste Ansatz zu sein.

4.5

Politische Empfehlungen und konkrete Maßnahmen sollten auf zwei strategische Faktoren abzielen. Da wäre erstens die G20, die zu einem globalen politischen Forum hätte werden können, das ergänzend zum System der Vereinten Nationen ebenfalls bei den globalen Ungleichgewichten und der Ungleichheit ansetzt. Sie hat jedoch viel an Gewicht verloren. Eng damit verbunden ist zweitens, dass der EU eine echte „Außenwirtschaftspolitik“ fehlt. Die Industriepolitik und andere EU-Politikbereiche, die Produktionsfaktoren (wie Energie, Binnenmarkt, Forschung und Innovation, Verkehr usw.) betreffen, sind von den Außenbeziehungen der EU (Handel und auswärtiger Dienst) sowie von den Exportkreditagenturen der Mitgliedstaaten, die ihre Kräfte bündeln sollten, entkoppelt oder spiegeln sich nur zum Teil darin wider. Dadurch wird es schwieriger, sich mit wichtigen internationalen Akteuren auseinanderzusetzen. Dies schwächt die Rolle der EU in multilateralen und internationalen Foren und bei der Verhinderung von Marktverzerrungen.

5.   Auswirkungen der durch die Coronavirus-Pandemie (COVID-19) verursachten Krise

5.1

Der Ausbruch von COVID-19 hat gewaltige makroökonomische und haushaltspolitische Folgen, deren volle Trageweite immer noch nicht abzusehen ist. Der EWSA teilt die Auffassung, dass es keine Alternative zu den unlängst angekündigten finanzpolitischen Maßnahmen bzw. einer expansiven Geldpolitik gibt, weder in der EU noch weltweit. Große Probleme zeichnen sich in Form einer unvollständigen, uneinheitlichen Konjunkturbelebung und eines Anstiegs der Arbeitslosigkeit ab. Obwohl die Gegenmaßnahmen die Arbeitslosigkeit in Grenzen halten dürften, werden die erforderlichen politischen Maßnahmen zu öffentlichen Defiziten führen und die Staatsverschuldung in die Höhe treiben.

5.2

Der EWSA sieht schwerwiegende Langzeitfolgen diese Krise auf die EU zukommen. Da politisch bedingt ein koordiniertes Engagement der EU bei der Pandemiebekämpfung lange nicht möglich war, könnte es zu einem Vertrauensverlust in die Politik im Allgemeinen kommen.

5.3

Sonstige mögliche Risiken sind ein unerwartet längeres Andauern der Pandemie, finanzielle Instabilität weltweit und in der EU, zunehmender Protektionismus, die Zersplitterung des Binnenmarkts und gravierende strukturelle Unterschiede.

5.4

Nach Auffassung des EWSA braucht Europa dringend ein neues Projekt für die innere Integration, eine gemeinsame Wirtschafts-, Sozial- (einschließlich der Koordinierung des Gesundheitswesens), Fiskal-, Energie- und Umweltstrategie sowie eine kohärente Handelspolitik. Das Fehlen einer wirksamen europäischen Strategie ist alarmierend und muss im Sinne eines neuen gemeinsamen europäischen Ansatzes korrigiert werden.

5.5

Es bedarf eines umfangreichen Konjunktur- und Wiederaufbaupakets für Investitionen nach der Krise. Es muss ein Element im neuen mehrjährigen Finanzrahmen sein, um die EU-Wirtschaft wieder anzukurbeln, und zwar zusätzlich zu den bereits eingeleiteten Maßnahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus, der Europäischen Investitionsbank und der Europäischen Zentralbank. Der erforderliche Plan zur Stimulierung von Investitionen sollte weiter aus bestehenden EU-Fonds, Finanzinstrumenten und Konjunkturanleihen finanziert werden; diese müssen klar anhand der durch die Corona-Krise ausgelösten Probleme definiert und durch den EU-Haushalt garantiert werden. In diesem Zusammenhang betrachtet der EWSA den unlängst von der Europäischen Kommission vorgelegten Aufbauplan als einen konkreten ersten Schritt in diese Richtung.

5.6

Der EWSA hält den regelbasierten Handel in Krisenzeiten für unverzichtbar. Auch in der EU-Strategie zur Überwindung dieser Krise hat er seinen Platz. Die EU-Mitgliedstaaten müssen den Binnenmarkt aufrechterhalten und dafür sorgen, dass es keine EU-internen Hemmnisse für den Handel gibt. Sie können dies durch die Aufnahme umfassender Verhandlungen über ein plurilaterales Abkommen erreichen, mit dem für gleiche Wettbewerbsbedingungen gesorgt wird. Ein solches Abkommen würde außerdem den Weg zu einer möglichen dauerhaften Liberalisierung der Zölle auf medizinisches Material ebnen und dazu beitragen, dass die globalen Lieferketten in diesem so wichtigen Sektor reibungslos funktionieren. Neben diesen Maßnahmen könnten die Liberalisierung der Zölle und die Ausfuhrfinanzierung, die gut zwischen den jeweiligen EU-Organen und den Mitgliedstaaten koordiniert werden muss, die Unternehmen entlasten und Marktverzerrungen verhindern.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2018/november/tradoc_157516.pdf.

(2)  EPRS, CETA implementation: SMEs and regions in focus, eine Studie im Auftrag des AdR, 18. November 2019. Verfügbar unter: http://www.europarl.europa.eu/thinktank/en/document.html?reference=EPRS_IDA(2019)644179.

(3)  Flash Eurobarometer 42, Internationalisation of Small and Medium-sized Enterprises, Oktober 2015.

(4)  Belgien, Deutschland, Spanien, Italien, Niederlande und Vereinigtes Königreich.

(5)  EPRS, Wechselwirkungen zwischen Handel, Investitionen und Trends in der EU-Industrie: EU-Regionen und internationaler Handel, Studie im Auftrag des AdR, 27. Oktober 2017, verfügbar unter: http://www.europarl.europa.eu/thinktank/de/document.html?reference=EPRS_STU(2017)608695.

(6)  2017: https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/wjdt_665385/2649_665393/t1514534.shtml;

2018: https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/wjdt_665385/2649_665393/t1577455.shtml;

2019: https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/wjdt_665385/2649_665393/t1655224.shtml.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/43


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die industrielle Dimension der Sicherheitsunion“

(Initiativstellungnahme)

(2020/C 364/06)

Berichterstatter:

José Custódio LEIRIÃO

Ko-Berichterstatter:

Jan PIE

Beschluss des Plenums

20.2.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständiges Arbeitsorgan

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

26.6.2020

Verabschiedung im Plenum

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

209/3/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Wir begrüßen die Entschlossenheit der neuen Europäischen Kommission, die technologische Souveränität der Union zu stärken, und betonen die diesbezügliche Bedeutung des Sicherheitssektors. Ohne Technologie gibt es keine Sicherheit, und deshalb muss Europa die Technologien beherrschen, die für seine Sicherheit unerlässlich sind.

1.2.

Um dieses Ziel zu erreichen, fordern wir die Europäische Kommission auf, eine Strategie auf den Weg zu bringen, die die industriellen und technologischen Fähigkeiten Europas im Sicherheitsbereich stärkt. Dies ist dringend erforderlich, insbesondere in sensiblen Bereichen, in denen die Abhängigkeit von außereuropäischen Lieferanten an sich schon zu einem Sicherheitsrisiko werden kann. Die Strategie muss die Ziele der neuen Strategie der inneren Sicherheit unterstützen und sie durch eine industrielle Dimension ergänzen. Sie sollte dazu beitragen, den derzeitigen und künftigen Fähigkeitenbedarf europäischer Endnutzer zu decken und die wesentlichen Probleme zu beheben, vor denen die Branche in Europa steht, nämlich Marktfragmentierung, Mangel an langfristiger Fähigkeiten- und Technologieplanung sowie Inkohärenz der politischen Maßnahmen und Finanzierungsinstrumente der EU.

1.3.

Die Strategie für die Sicherheitsindustrie sollte auf folgenden Grundsätzen basieren:

a)

Die Existenz einer innovativen Sicherheitsindustrie ist für die technologische Souveränität und strategische Autonomie Europas von entscheidender Bedeutung;

b)

Sicherheit ist eine Frage der Souveränität, die nicht ausschließlich den Kräften des Marktes überlassen werden darf. Es bedarf politischen Willens und entsprechender Maßnahmen, um die Kapazität zur Entwicklung komplexer Hi-Tech-Sicherheitslösungen aufrechtzuerhalten.

c)

Angesichts der Covid-19-Pandemie muss die Widerstandsfähigkeit gegen größere Katastrophen — seien sie natürlichen Ursprungs oder vom Menschen verursacht — zu einer der wichtigsten politischen Prioritäten der Union werden; diese Resilienz kann nur unter Mitwirkung der europäischen Sicherheitsindustrie erreicht werden.

Die Strategie sollte als Teil der Sicherheitsunion entwickelt werden und die sicherheitspolitischen Maßnahmen der EU wirksamer machen. Sie sollte einem ganzheitlichen Ansatz folgen und folgende Ziele umfassen:

Bewertung der Anfälligkeit und der Abhängigkeit Europas in kritischen Bereichen der nichtmilitärischen Sicherheit;

Überprüfung der neuesten Technologien auf mögliche Sicherheitsrisiken;

Festlegung unerlässlicher Schlüsseltechnologien, für die Europa aus Sicherheitsgründen nicht von Lieferanten aus Drittstaaten abhängig sein sollte;

Ermittlung strategischer Wertschöpfungsketten im Sicherheitssektor;

Einsatz von EU-Agenturen als Triebkräfte für Fähigkeitenplanung und die Harmonisierung nationaler Erfordernisse;

Nutzung sicherheitsrelevanter EU-Instrumente (ISF, IBMF, Digitales Europa, Horizont Europa, RescEU) für gezielte Investitionen in wesentliche Sicherheitstechnologien und -anwendungen;

Nutzung anderer EU-Instrumente (Strukturfonds, InvestEU usw.) für sicherheitsrelevante Investitionen (Infrastruktur), idealerweise durch die Schaffung einer Fazilität zur Sicherung Europas (analog zur Fazilität „Connecting Europe“);

Nutzung der europäischen Auftragsvergabe und Koordinierung der nationalen Auftragsvergabe zur Unterstützung der entsprechenden industriellen Basis;

Nutzung fähigkeitenorientierter Finanzierungsinstrumente (wie ISF und IBMF) zur Förderung der Marktakzeptanz der EU-Sicherheitsforschung über Horizont Europa hinaus;

Ermittlung möglicher neuer Gesetzgebungsinitiativen, etwa eine Überarbeitung der Richtlinie für den Schutz kritischer Infrastrukturen oder ein Instrument für Sicherheit in der Stadt;

Koordinierung einschlägiger EU-Programme (Verteidigung, Sicherheit, Raumfahrt, Cybersicherheit).

Einführung

1.4.

Europas Sicherheitsumfeld ist hochkomplex: Die derzeitigen Sicherheitsbedrohungen sind vielschichtig, länderübergreifend, in rascher Entwicklung begriffen und schwer vorhersehbar. Sie können ein breites Spektrum von Zielen in der gesamten Union betreffen (z. B. Massenveranstaltungen, Verkehr, kritische Infrastruktur und Institutionen) und gehen von einer ebenso großen Vielzahl von Bedrohungsakteuren aus (z. B. Einzeltäter, kriminelle Vereinigungen, terroristische Gruppierungen, Nationalstaaten), die sehr unterschiedliche Beweggründe (z. B. Geopolitik, religiöser oder politischer Extremismus, wirtschaftliche bzw. finanzielle Interessen oder psychische Störungen) haben und Mittel aller Art einsetzen könnten (z. B. Feuerwaffen, unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen, CBRN-Waffen, Cyberangriffe oder Desinformation), um ihre böswillige Absicht in die Tat umzusetzen.

1.5.

Zusätzlich zu den vom Menschen verursachten Sicherheitsbedrohungen gibt es Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Dürren, Stürme oder Pandemien, die aufgrund des Klimawandels, der Umweltverschmutzung und der übermäßigen Ausbeutung natürlicher Ressourcen ein wachsendes Risiko darstellen. Naturkatastrophen sind in der Regel noch verheerender als anthropogene Katastrophen und stellen eine unmittelbare oder indirekte Gefahr für die Sicherheit dar.

1.6.

Sicherheitsbedrohungen sind unterschiedlich und das gilt natürlich auch für die Sicherheitskräfte und die Fähigkeiten, über die sie verfügen müssen. Gleichzeitig arbeiten Sicherheitskräfte häufig zusammen, etwa als Ersthelfer bei einer Katastrophe, und benötigen daher interoperable Ausrüstungen, die der jeweiligen Bedrohung entsprechen.

1.7.

Trotz ihrer Unterschiedlichkeit haben die heutigen Sicherheitsbedrohungen eines gemein: Sie können ohne technologische Unterstützung nicht bewältigt werden. Technik an sich kann keine Sicherheit bieten, aber in unseren komplexen und vernetzten Gesellschaften ist ihre Nutzung eine unverzichtbare Voraussetzung in allen Sicherheitsbereichen und in allen Phasen des Sicherheitszyklus (Prävention, Vorbereitung, Reaktion und Wiederherstellung). Die rasche Entwicklung und Verbreitung neuer digitaler Technologien wie künstliche Intelligenz, Quantencomputer und Blockchain wird die Bedeutung der Technik für die Sicherheit noch verstärken, da sie nicht nur neue Möglichkeiten bieten, sondern zugleich auch viele Schwachstellen und potenzielle Angriffsflächen schaffen.

1.8.

Ohne das Fachwissen einer spezialisierten Sicherheitsindustrie ist es unmöglich, modernste Technologien zu entwickeln, die für die Bewältigung aktueller und künftiger Sicherheitsbedrohungen erforderlich sind. Die Sicherheitsindustrie ist ein überaus wichtiger Partner, insbesondere für komplexe Sicherheitssysteme und den Schutz vor raffinierten Bedrohungsakteuren.

1.9.

Die sicherheitsindustrielle und sicherheitstechnische Basis in Europa ist so vielfältig wie die Sicherheitserfordernisse moderner Gesellschaften und Volkswirtschaften. Sie umfasst Unternehmen aller Größen aus der gesamten Union mit unterschiedlichen Angeboten und Spezialisierungen. Viele von ihnen sind auch in den Bereichen Verteidigung, Luft- und Raumfahrt oder kommerzielle IT tätig oder sind Tochtergesellschaften größerer Konzerne aus diesen Sektoren. Sie entwickeln und produzieren Hochtechnologiesysteme und erbringen Dienstleistungen, die erforderlich sind, um unsere Gesellschaften, Unternehmen, Behörden und Bürger vor allen Arten von Sicherheitsbedrohungen und Katastrophen zu schützen. In der jüngsten umfassenden Studie wird der Umsatz der Sicherheitsindustrie in der EU auf fast 200 Mrd. EUR geschätzt; in dieser Branche sind 4,7 Millionen Menschen beschäftigt (1).

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Die Union hat ein wirtschaftliches, aber auch ein strategisches Interesse an der Förderung einer dynamischen sicherheitsindustriellen Basis in Europa. Je kritischer ein Sicherheitsbereich ist, desto größer kann die Abhängigkeit von Lieferanten aus Drittländern an sich zu einem Sicherheitsrisiko werden. Gerade wenn es um den Schutz kritischer Infrastrukturen und staatlicher Einrichtungen vor Bedrohungen durch staatliche oder staatlich unterstützte Akteure geht, müssen unbedingt Technologien, Dienste und Ausrüstung genutzt werden, die von vertrauenswürdigen Quellen stammen.

2.2.

Der Verlauf der Covid-19-Pandemie und ihre direkten und indirekten Folgen haben ebenfalls gezeigt, dass wir eine starke europäische Sicherheitsindustrie brauchen. Der massive Rückgriff auf digitale Instrumente hat beispielsweise zu einer dramatischen Zunahme von Cyberangriffen sowohl von nichtstaatlichen als auch von staatlichen Akteuren auf Unternehmen und Betreiber wesentlicher Dienste geführt. Die Stärkung der Abwehrfähigkeit gegenüber Cyberangriffen und der Cybersicherheit in allen digitalen Prozessen von Unternehmen und Behörden sollte daher eine wichtige Lehre aus der Pandemie sein. Seit dem Ausbruch des Virus haben wir erneut Desinformationskampagnen erlebt, hinter denen häufig ausländische Regierungen stehen und die ohne ausgeklügelte technische Tools nicht wirksam bekämpft werden können. Covid-19 hat auch große Defizite bei den Krisenbewältigungsfähigkeiten der EU aufgezeigt, wie etwa das Fehlen eines gemeinsamen Vorrats an CBRN-Schutzausrüstung. Kurz gesagt bedarf es einer Vielzahl von Maßnahmen, um Europa widerstandsfähiger gegenüber Katastrophen größeren Ausmaßes zu machen. Angesichts der Sensibilität der meisten dieser Maßnahmen ist es unerlässlich, sich bei deren Umsetzung auf vertrauenswürdige Lieferanten zu stützen, die die Versorgungssicherheit auch in Krisenzeiten gewährleisten.

2.3.

Die Union hat daher ein strategisches Interesse daran, die industriellen Fähigkeiten in Europa zu erhalten, die erforderlich sind, um ein angemessenes Maß an Autonomie und technologischer Souveränität in kritischen Sicherheitsbereichen zu gewährleisten. Gleichzeitig ist es unter den derzeitigen Marktbedingungen leider schwer, diesem strategischen Interesse gerecht zu werden. Die Besonderheiten des europäischen Sicherheitsmarktes erschweren es den Unternehmen nämlich häufig, tragfähige Geschäftsszenarien für die betreffenden Technologien zu entwickeln.

2.4.

Außerdem ist aus kommerzieller Sicht die Nachfrage nach kostenintensiven, dem neuesten Stand der Technik entsprechenden Sicherheitsprodukten begrenzt. Da private Marktteilnehmer ständig bemüht sind, ihre Kosten zu senken, beschränken sie Investitionen in die Sicherheit in der Regel auf das absolut Notwendige und bevorzugen das billigste Standardprodukt (häufig von Lieferanten aus Drittländern).

2.5.

Bei der öffentlichen Nachfrage auf dem Sicherheitsmarkt gibt es eine breite Palette von Käufern und Endnutzern, von denen die meisten über begrenzte Budgets verfügen, kleinere Bestellungen tätigen und rechtlich verpflichtet sind, zum niedrigsten Preis einzukaufen. Darüber hinaus verfügt die überwiegende Mehrheit der öffentlichen Kunden im Bereich der Sicherheit über keinerlei Pläne für die Fähigkeitenentwicklung. Sie kaufen Standardlösungen, um ihren unmittelbaren Bedarf zu decken und ohne langfristige Überlegungen darüber anzustellen, wie sich Bedrohungen und Technologien in der Zukunft entwickeln könnten, geschweige denn welche Investitionen notwendig sind, um entsprechend vorbereitet zu sein.

2.6.

Angesichts der Besonderheiten beider Seiten der Nachfrage im Bereich der Sicherheit gibt es nur einen kleinen Markt für kritische Technologien und Anwendungen. Komplexe Sicherheitslösungen werden häufig für einen einzelnen oder sehr wenige Kunden maßgeschneidert, wodurch Produktionsvolumen und Größenvorteile auf ein Minimum beschränkt sind. Bestenfalls können die für solche Systeme verwendeten Technologien für andere, weniger sensible Anwendungen auf einem breiteren Markt für gewerbliche Kunden eingesetzt werden. Aufgrund der derzeitigen Marktbedingungen ist es daher unmöglich, eine technologische und industrielle Basis in der EU zu erhalten, die diejenigen Sicherheitsfähigkeiten zu entwickeln vermag, mit denen Europa seine Außengrenzen, sein Hoheitsgebiet und seine Bürgerinnen und Bürger schützen kann. Dies beschädigt die Glaubwürdigkeit der Sicherheitsunion und verlangt nach stärkeren EU-Maßnahmen.

Aktueller Stand der EU-Sicherheitspolitik

2.7.

Seit dem Start der Europäischen Sicherheitsagenda im April 2015 bemüht sich die EU um eine echte Sicherheitsunion, die die Instrumente, die Infrastruktur und das Umfeld bietet, in denen die nationalen und europäischen Behörden wirksam zusammenarbeiten, um gemeinsame Herausforderungen zu bewältigen und gleichzeitig die Rechte und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger zu schützen (2). Allein schon die Zahl der Initiativen in diesem Zusammenhang zeigt, dass Sicherheit endgültig zu den vorrangigen Prioritäten der Union gehört:

Richtlinie zur Terrorismusbekämpfung (3)

Neue Vorschriften zur Bekämpfung der Geldwäsche (4)

Einrichtung des Schengener Informationssystems (SIS) (5)

Interoperabilität zwischen EU-Informationssystemen in den Bereichen Sicherheit, Grenzmanagement und Migrationssteuerung (6)

Einrichtung der Agentur der Europäischen Union für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (eu-LISA) (7)

Rechtsakt zur Cybersicherheit (8)

Gestärkte Europäische Grenz- und Küstenwache („Frontex“) (9)

Europäisches Reiseinformations- und -genehmigungssystem (ETIAS) (10).

Mit diesen Initiativen werden bereits bestehende Programme und Finanzierungsinstrumente wie der Fonds für die innere Sicherheit ergänzt.

2.8.

Der Kommissionsvorschlag für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) enthielt im Vergleich zum vorangegangenen MFR eine erhebliche Aufstockung der einschlägigen Haushaltslinien (z. B. 35,3 Mrd. EUR für Migration und Grenzmanagement, 4 Mrd. EUR für innere Sicherheit, 15,6 Mrd. EUR für Resilienz und Krisenreaktion) (11). Die Union finanziert über Horizont Europa auch ein weiteres Programm für Sicherheitsforschung, das im Rahmen von Horizont 2020 bereits erheblich zur Gestaltung und Entwicklung künftiger Sicherheitsfähigkeiten beigetragen hat.

2.9.

In Bezug auf digitale Technologien schlägt die Europäische Kommission außerdem vor, die Ausgaben (z. B. für Horizont Europa oder das Programm „Digitales Europa“) erheblich zu erhöhen, um die technologische Souveränität Europas in strategisch wichtigen Bereichen zu verstärken. In diesem Zusammenhang verkündete die Kommission auch ihre Absicht, Synergien zwischen dem Raumfahrt-, dem Verteidigungs- und dem Sicherheitssektor zu fördern.

2.10.

Technologische Souveränität ist auch ein Schlüsselbegriff in der „neuen Industriestrategie für Europa“, in der die Kommission betont, dass der „digitale Wandel, die Sicherheit und (die) künftige technologische Souveränität (Europas) von unseren strategischen digitalen Infrastrukturen (abhängen)“ und angekündigt wird, dass sie „die Entwicklung von Schlüsseltechnologien unterstützen (wird), die für die industrielle Zukunft Europas strategisch wichtig sind“ (12).

Besondere Bemerkungen

2.11.

Die Zuständigkeit der EU im Bereich der Sicherheit ist nach wie vor begrenzt und äußert sich sehr oft nur in einer Koordinierung zwischen den nationalen Behörden. Daher ist die Sicherheitspolitik nach wie vor fragmentiert und oft unwirksam. Gleiches gilt für andere sicherheitsrelevante Bereiche wie die öffentliche Gesundheit.

2.12.

Sicherheit in der EU ist eine politische Priorität, der die industrielle Dimension fehlt. Es gibt eine beeindruckende Zahl sicherheitsrelevanter Maßnahmen und Finanzierungsinstrumente mit beträchtlichen Budgets. Allerdings gibt es weder eine Koordinierung des Fähigkeitenbedarfs noch eine kohärente Politik zur Unterstützung der einschlägigen industriellen und technologischen Basis. Begriffe wie industrielle Wettbewerbsfähigkeit, strategische Autonomie, Fähigkeitenplanung und kritische Technologien tauchten in der Debatte über die Sicherheitsunion nicht auf und wurden nirgendwo als Ziele sicherheitsbezogener Finanzierungsprogramme betrachtet.

2.13.

Bei dem Maßnahmenkatalog für eine innovative und wettbewerbsfähige Sicherheitsbranche aus dem Jahr 2012 mangelte es der Kommission an Ehrgeiz; seine Tragweite war begrenzt und daher hatte er auch keine nennenswerte Wirkung.

2.14.

Durch das Sicherheitsforschungsprogramm der EU werden zwar beträchtliche Ressourcen mobilisiert, es weist jedoch gravierende Schwächen auf. Die Aufnahme von Forschungsergebnissen durch den Markt bleibt ein großes Problem, denn es gibt weder ein gemeinsames Verfahren zur Fähigkeitenplanung für Sicherheit, mit dem die Nachfrage öffentlicher Endnutzer konsolidiert würde, noch einen systematischen Einsatz anderer fähigkeitenorientierter EU-Finanzierungsinstrumente, um die Einführung von Sicherheitslösungen zu unterstützen.

2.15.

Die neue Strategie der inneren Sicherheit dient als Richtschnur für die Sicherheitspolitik der EU und sollte daher darauf abzielen, diese Defizite zu beseitigen. So muss die rasche technische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Sicherheit behandelt, auf eine gemeinsame Definition des Bedarfs an Sicherheitsfähigkeiten gedrängt und die europäische Zusammenarbeit zur Befriedigung dieses Bedarfs gefördert werden. Dies würde die Sicherheitsunion stärken und erheblich zur Schaffung eines echten Binnenmarkts für Sicherheit sowie zur Aufrechterhaltung einer wettbewerbsfähigen Sicherheitsindustrie in Europa beitragen.

2.16.

Wenn Technologien zu Lösungen werden sollen, ist die Industrie unerlässlich. Eine ehrgeizige Industriepolitik für Kernbereiche der Souveränität sollte daher eine politische Priorität für die Union sein. Die Entwicklung einer solchen Politik ist für den Sicherheitssektor besonders dringend, der derzeit unter gravierendem Marktversagen leidet, was die Aufrechterhaltung kritischer industrieller und technologischer Kapazitäten erschwert.

2.17.

Daher rufen wir die Europäische Kommission auf, eine spezifische Strategie für die Sicherheitsindustrie zu entwickeln, um die neue Strategie der inneren Sicherheit zu unterstützen und die Sicherheitsunion wirksamer zu machen. Mit dieser Industriestrategie, die ambitioniert und umfassend sein sollte, muss gewährleistet werden, dass alle einschlägigen Maßnahmen und Instrumente zur technologischen Souveränität der Union in kritischen Sicherheitsbereichen beitragen. Außerdem sollte sichergestellt werden, dass alle sicherheitsbezogenen EU-Instrumente (ISF, IBMF, RescEU) eine industrielle Dimension und alle technologiebezogenen Programme (Digitales Europa, Horizont Europa) eine Sicherheitsdimension beinhalten. Dies würde dazu beitragen, die Sicherheitsbedürfnisse öffentlicher Kunden zu befriedigen, der europäischen Industrie neue Möglichkeiten eröffnen und es leichter machen, rechtzeitig auf die sicherheitsrelevanten Auswirkungen neuer Technologien zu reagieren.

2.18.

Zu diesem Zweck muss das Konzept der technologischen Souveränität näher definiert und praktisch umgesetzt werden. Es ist begrüßenswert, dass die Kommission den Schwerpunkt derzeit auf digitale Technologien legt; dies sollte jedoch nicht ausschließlich so sein. Vorrangig sollte es um alle kritischen Technologien in Kernbereichen der Souveränität — Sicherheit, Verteidigung und Raumfahrt — gehen. Das Konzept sollte auch vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie überarbeitet und Resilienz als strategisches Ziel darin aufgenommen werden.

2.19.

Die „Neue Industriestrategie für Europa“ der Kommission enthält Elemente, die für die Förderung der technologischen Souveränität in kritischen Sicherheitsbereichen wichtig sind. Insbesondere das Konzept der strategischen Wertschöpfungsketten sollte als Rahmen für einen umfassenden Ansatz dienen, der den gesamten industriellen Zyklus von der Lieferung kritischer Materialien bis hin zur Industrialisierung und Wartung abdeckt und den Einsatz aller geeigneten politischen Instrumente, einschließlich der Kontrolle ausländischer Direktinvestitionen, koordiniert.

2.20.

Der nächste mehrjährige Finanzrahmen muss den Erfordernissen der (Post-) Covid-19-Ära angepasst werden, ebenso wie die politischen Maßnahmen, die durch den MFR unterstützt werden, und die von ihm finanzierten Programme. Zuvor festgelegte Prioritäten und Instrumente müssen überprüft werden, wobei die Lehren aus den Schwierigkeiten Europas bei der Bewältigung der Pandemie zu berücksichtigen sind. Dies gilt auch für die Sicherheitsunion und die neue Strategie der inneren Sicherheit, in der die Notwendigkeit größerer technologischer Souveränität und Widerstandsfähigkeit hervorgehoben werden sollte.

2.21.

Um die durch die Pandemie ausgelöste Rezession zu überwinden, sollte die EU im nächsten Haushaltszyklus Investitionen auf Hochtechnologiebranchen konzentrieren, da diese den größten Mehrwert und Multiplikatoreffekte für die Wirtschaft insgesamt aufweisen (13). Eine Strategie für die Sicherheitsindustrie der EU, die dazu beiträgt, Europa autonomer und widerstandsfähiger zu machen, würde sich nahtlos in diesen Ansatz einfügen und sollte daher dringend im Rahmen des Covid-19-Wiederaufbauprogramms der Union lanciert werden.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Angesichts der Vielfalt des Sektors gibt es derzeit keine klare Definition der Sicherheitsindustrie und nur grobe Schätzungen der Marktgröße. Eine methodische Klassifizierung dieses Wirtschaftszweigs wird durch eine Reihe von Faktoren behindert: 1) die Sicherheitsindustrie wird von den wichtigsten statistischen Systematiken (NACE, Prodcom usw.) nicht erfasst; 2) die sicherheitsrelevanten Posten sind unter einer Vielzahl von Rubriken verborgen, und die Statistiken für diese Rubriken unterscheiden nicht zwischen sicherheitsrelevanten und nicht sicherheitsrelevanten Tätigkeiten; 3) von Seiten der Branche selbst gibt es keine Quelle für europaweite statistische Daten. Siehe die Studie über die Erhebung statistischer Daten über die technologische und industrielle Basis der europäischen Sicherheit — Ecorys-Abschlussbericht für die Europäische Kommission, GD Migration und Inneres, Juni 2015.

(2)  Mitteilung der Kommission „Umsetzung der Europäischen Sicherheitsagenda im Hinblick auf die Bekämpfung des Terrorismus und die Weichenstellung für eine echte und wirksame Sicherheitsunion“, Brüssel, 20.4.2016, COM(2016) 230 final: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52016DC0230&from=DE.

(3)  Richtlinie zur Terrorismusbekämpfung (ABL. L 88 vom 31.3.2017, S. 6).

(4)  Richtlinie zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung (ABl. L 141 vom 5.6.2015, S. 73).

(5)  Verordnung über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems (SIS) im Bereich der Grenzkontrollen (ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 14) und Verordnung über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems (SIS) im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56).

(6)  Verordnung zur Errichtung eines Rahmens für die Interoperabilität (Grenzen und Visa) (ABl. L 135 vom 22.5.2019, S. 27) und Verordnung zur Errichtung eines Rahmens für die Interoperabilität (polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit, Asyl und Migration) (ABl. L 135 vom 22.5.2019, S. 85).

(7)  Verordnung über die Agentur der Europäischen Union für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (eu-LISA) (ABl. L 295 vom 21.11.2018, S. 99).

(8)  Verordnung über die ENISA (Agentur der Europäischen Union für Cybersicherheit) und über die Zertifizierung der Cybersicherheit von Informations- und Kommunikationstechnik (ABl. L 151 vom 7.6.2019, S. 15).

(9)  Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache (ABl. L 295 vom 14.11.2019, S. 1).

(10)  Verordnung über die Einrichtung eines Europäischen Reiseinformations- und -genehmigungssystem (ETIAS) (ABl. L 236 vom 19.9.2018, S. 1).

(11)  Zu aktuellen Preisen. Siehe die Mitteilung der Kommission „Der EU-Haushalt als Motor für den Europäischen Aufbauplan“, Brüssel, 27.5.2020, COM(2020) 442 final: https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2020/DE/COM-2020-442-F1-DE-MAIN-PART-1.PDF.

(12)  Mitteilung der Kommission „Eine neue Industriestrategie für Europa“, Brüssel, 10.3.2020, COM(2020) 102 final: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/?qid=1601035899164&uri=CELEX:52020DC0442.

(13)  Siehe z. B. „Il ruolo dell'innovazione et dell'alta technologia in Italia nel confronto con il contesta internazionale“, Centro economia digitale, Rom, Oktober 2019.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/49


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Einführung von Schutzmaßnahmen für Agrarerzeugnisse in Handelsabkommen“

(Initiativstellungnahme)

(2020/C 364/07)

Berichterstatter:

Arnold PUECH D’ALISSAC

Beschluss des Plenums

20.2.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

29.6.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

204/2/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Eine engere internationale Zusammenarbeit ist Voraussetzung für wirksame Schutzklauseln.

1.1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) betont, dass die Versorgung der Menschheit mit Nahrungsmitteln nach wie vor eine gewaltige Herausforderung ist und das auch mindestens bis 2050 bleiben wird. Um neun bis zehn Milliarden Menschen ernähren zu können, bedarf es der weltweiten Landwirtschaft. Die FAO schätzt, dass die weltweite Produktion zwischen 2007 und 2050 um 70 % steigen muss. Daher gilt es, die Produktionskapazitäten der einzelnen Länder zu schützen, indem eine angepasste Agrar- und Wirtschaftspolitik gefördert und gleichzeitig ein organisierter internationaler Handel sichergestellt wird, um mit den Unwägbarkeiten der Produktion sowie den andauernden Unzulänglichkeiten in bestimmten geografischen Gebieten zurechtzukommen.

1.1.2.

Für den EWSA ist die Harmonisierung der Produktionsstandards unerlässlich, damit Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden und jedes Land die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln sicherstellen kann.

1.2.

Die Markttransparenz muss weiter verbessert werden.

1.2.1.

Die 2011 von der Konferenz der G20-Landwirtschaftsminister ins Leben gerufene Initiative AMIS (Agricultural market information system — Agrarmarkt-Informationssystem), die die wichtigsten Erzeuger und Importeure von Getreide, Ölsaaten und ölhaltigen Früchten der Welt einbindet, trägt zur Erkennung der tatsächlichen Marktsituation bei und stellt darüber hinaus ein Dialog- und Koordinationsforum der Regierungssachverständigen in Zeiten starker Preisschwankungen auf den Agrarmärkten dar. Auch wenn die Nützlichkeit dieser Initiative bereits unter Beweis gestellt wurde, müssen die Zahl der teilnehmenden Länder und ihr Umfang ausgebaut werden, um auch die anderen auf den Weltmärkten gehandelten Erzeugnisse abzudecken.

1.3.

Die landwirtschaftlichen Schutzklauseln der WTO, sowohl die allgemeinen als auch die in bilateralen Abkommen, müssen entsprechend verschiedener, vom EWSA in dieser Stellungnahme aufgeführter Kriterien verbessert werden. Es gilt, einen fairen Wettbewerb und den Fortbestand der europäischen Branchen sicherzustellen und so die Nahrungsmittelsouveränität zum Vorteil aller Bürger, Erzeuger wie Verbraucher, zu garantieren. Diese Notwendigkeit der Nahrungsmittelsouveränität ist während der COVID-19-Pandemie sehr deutlich geworden.

1.3.1.   Schnelle Reaktion

Die aktuellen Klauseln sind aufgrund einer zu langen Umsetzungsdauer ineffizient. Dabei können die entsprechenden Daten dank der Digitalisierung der Wirtschaft innerhalb von Stunden zur Verfügung stehen. Die Überwachung von Mengen und Preisen funktioniert inzwischen gut und gestattet eine schnelle Reaktion.

1.3.2.   Automatische Reaktion

Durch die detaillierte Kenntnis der Handelsbewegungen lassen sich die Warenströme einfach regulieren. Die konzertierte Umsetzung durch Exporteure und Importeure könnte automatisch erfolgen, sobald über einen festgelegten Zeitraum, beispielsweise von einem Jahr, ein Anstieg von 10 % des Handelsvolumens festgestellt wird. Ist der Anstieg aufgrund einer die Produktion beeinträchtigenden Unwägbarkeit gerechtfertigt, findet die Klausel keine Anwendung. Ist der Anstieg jedoch nicht gerechtfertigt, werden zusätzliche Zölle erhoben, um ihn zu beschränken.

1.3.3.   Angemessene Reaktion

Die Reaktion muss je nach Art und Ursprung des Anstiegs der Warenströme angemessen sein, damit dieser verringert oder die effektive Unterbrechung der die betreffenden Branchen destabilisierenden Ströme sichergestellt wird.

1.3.4.   Umfassende Reaktion

Unabhängig von ihrem Status und ohne vorherige Benachrichtigung müssen alle Einfuhren berücksichtigt werden. Gerade für die sogenannten sensiblen Produkte werden in den Freihandelsabkommen (FHA) Kontingente mit Zollermäßigung gewährt, und genau diese Branchen werden am schnellsten destabilisiert. Die Schutzklauseln müssen daher auch für sie gelten.

1.3.5.   Sogenannte Spiegelmaßnahmen

Die Einführung von Spiegelmaßnahmen in die europäischen Importvorschriften muss einerseits den gleichbleibenden Schutz der Verbraucher unabhängig von der Herkunft der Erzeugnisse sicherstellen und andererseits wirtschaftliche Verzerrungen für die europäischen Betriebe begrenzen.

1.3.6.   Berücksichtigung der Bedingungen für die Umsetzung des Übereinkommens von Paris

Die Verpflichtungen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen stellen eine große internationale Herausforderung dar. Wenn bestimmte Länder diese nicht einhalten, dürfen sie daraus keinen wirtschaftlichen Nutzen ziehen. Im Agrar- und Ernährungssektor muss ein Mechanismus zum Kohlenstoffausgleich an den Grenzen eingerichtet werden. Da dieser Mechanismus sehr komplex ist, müssen bis zu seiner Genehmigung bei der WTO spezifische Schutzklauseln für das Übereinkommen von Paris erreicht und in alle von der Europäischen Kommission ausgehandelten Freihandelsabkommen aufgenommen werden.

1.3.7.   Berücksichtigung der Ziele für nachhaltige Entwicklung

Wie für das Übereinkommen von Paris müssen bei der WTO Schutzklauseln erreicht und in alle von der Europäischen Union unterzeichneten Abkommen aufgenommen werden.

2.   Konzept und Geschichte der Schutzklauseln

2.1.

Die WTO sieht besondere Klauseln für den Agrarsektor vor, schränkt jedoch deren Verwendung ein.

2.1.1.

Die Schutzmaßnahmen sind als „Notfallmaßnahmen“ im Falle des Anstiegs der Einfuhren bestimmter Erzeugnisse definiert, wenn diese Importe den Wirtschaftszweig des Einfuhrlandes erheblich schädigen oder zu schädigen drohen. Diese Maßnahmen, bei denen es im Allgemeinen um die Aussetzung von Konzessionen oder Verpflichtungen geht, können in der Beschränkung der Einfuhrmengen oder der Erhebung von Einfuhrzöllen bestehen.

2.1.2.

Im Bereich der Landwirtschaft kann die Anwendung höherer Schutztarife automatisch ausgelöst werden, wenn die Einfuhrmenge ein bestimmtes Niveau übersteigt oder die Preise unter ein bestimmtes Niveau fallen, ohne dass eine schwerwiegende Schädigung des inländischen Wirtschaftszweigs nachgewiesen werden muss.

2.1.3.

Die besondere Schutzklausel für die Landwirtschaft kann jedoch nur auf Erzeugnisse angewendet werden, für die eine Tarifierung erfolgt ist, sowie unter der Bedingung, dass die Regierung sich dieses Recht in ihrer Liste der Verpflichtungen bezüglich der Landwirtschaft vorbehalten hat. Zudem kann die Klausel nicht für Einfuhren herangezogen werden, die unter Zollkontingente fallen.

2.2.

Die bilateralen Freihandelsabkommen bieten weiterreichende Möglichkeiten.

2.2.1.

Die FHA müssen den wesentlichen Teil des Handelsverkehrs abdecken und die Liberalisierung des Handels zwischen den Unterzeichnerstaaten begünstigen, ohne Hindernisse für den Handel mit der übrigen Welt zu schaffen. Angesichts der schwierigen multilateralen Verhandlungen im Rahmen der WTO wurden in den letzten Jahren zahlreiche FHA geschlossen.

2.2.2.

Die Europäische Union unterstützt diese Option, um Impulse für die Liberalisierung des Handels zu geben und Fortschritte bei umstrittenen Punkten wie den Kapiteln zur nachhaltigen Entwicklung zu erzielen. Allerdings haben die letzten Abkommen die Grenzen dieses Systems und die Schwierigkeiten aufgezeigt, einen gemeinsamen Ansatz zu finden oder andere internationale Abkommen wie das Übereinkommen von Paris in vollem Umfang zu berücksichtigen.

2.3.

Der internationale Handel im Agrar- und Ernährungssektor bleibt unabdingbar.

2.3.1.

Dem Streben nach Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln stehen mehrere Hindernisse im Weg, die den Rückgriff auf Einfuhren häufig unverzichtbar machen, angefangen bei der demographischen Entwicklung. Der Handel trägt somit entscheidend zur Ernährungssicherheit auf der Welt bei. Die Herausforderung besteht für die Staaten darin, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Entwicklung ihrer eigenen landwirtschaftlichen Produktion und der Öffnung für den Handel zu finden. Dabei gilt es auch, dafür zu sorgen, dass die eigene Landwirtschaft, sofern sie dazu in der Lage ist und der Wettbewerb dadurch nicht übermäßig verfälscht wird, der internationalen Nachfrage entsprechen und Nahrungsmittel in die Länder ausführen kann, die diese nicht ausreichend selbst produzieren können.

2.3.2.

Laut einer Prospektivstudie des französischen nationalen Forschungsinstituts für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt (INRAE) könnte sich die Konzentration der weltweiten landwirtschaftlichen Ausfuhren von heute bis 2050 noch verstärken. Diese würde im Wesentlichen einer kleinen Anzahl von Ländern bzw. Regionen zugutekommen, in denen sich der Klimawandel positiv auf die Landwirtschaft auswirken würde und die so ihre Anbauflächen vergrößern und die Erträge steigern könnten.

2.4.

Der Agrarhandel wird als diplomatisches Mittel missbraucht. Der Agrarsektor ist Opfer politischer Verhandlungen, die ihn gar nicht betreffen: sei es im Streit zwischen China und den USA, in der Auseinandersetzung zwischen Boeing und Airbus oder in der Endphase von Handelsverhandlungen, der Agrarsektor ist regelmäßig Gegenstand von Vergeltungsmaßnahmen und Gegenleistungsangeboten bei Verhandlungen.

3.   Unzulänglichkeiten der aktuellen Schutzklauseln

3.1.

Die Verfahren zur Ergreifung von Schutzmaßnahmen dauern zu lange und sind zu aufwändig.

3.1.1.

Die Anwendung von Schutzklauseln war in der Vergangenheit langwierig und mühsam, wodurch sie ineffizient wurden. Obwohl die Europäische Union zu den Mitgliedern der WTO gehört, die sich das Recht auf Heranziehung dieser Klausel für zahlreiche Produkte vorbehalten haben, macht sie fast nie davon Gebrauch. So hat die geringere Erhebung von Zöllen im Falle der Umgehung der Bestimmungen zu tiefgekühltem und nassgepökeltem Hühnerfleisch (wenn es gepökelt ist, muss es nicht tiefgekühlt werden) durch Brasilien im Zeitraum von 1996 bis 2001 eine erhebliche Steigerung der Einfuhren von Geflügelfleisch ermöglicht, ohne dass die entsprechenden Schutzklauseln angewendet worden wären.

3.2.

Die gegenwärtigen Verfahren garantieren keinen fairen Wettbewerb.

3.2.1.

Erzeuger aus Drittstaaten, die nicht zur strengen Einhaltung der europäischen Normen verpflichtet sind, besitzen einen erheblichen Wettbewerbsvorteil. So haben die kanadischen Erzeuger laut dem letzten mit Kanada geschlossenen Abkommen die Möglichkeit, an die vierzig in der Europäischen Union verbotene Pflanzenschutzmittel wie Atrazin zu verwenden, was ihre Produktionskosten stark verringert. Die Länder auf dem amerikanischen Kontinent verwenden gentechnisch verändertes Saatgut, das in der Europäischen Union vertrieben, jedoch nicht in der Produktion eingesetzt werden darf, insbesondere für eiweißreiche Pflanzen wie Soja.

3.2.2.

Infolge dieser Mängel hat die Einfuhr von Agrarerzeugnissen, insbesondere von landwirtschaftlichen Rohprodukten, zugenommen. Das kann die Nahrungsmittelsouveränität Europas in Gefahr bringen. Dem jüngsten Statistischen Datenblatt zum Agrar- und Lebensmittelhandel (1) der Europäischen Kommission zufolge betrug das Defizit der EU-Handelsbilanz bei landwirtschaftlichen Rohprodukten im Jahr 2019 über 20 Milliarden Euro.

3.3.

Diese Unzulänglichkeiten gereichen auch den Verbrauchern zum Nachteil. Fehlende Regulierung führt zu übermäßigen Preisschwankungen, die in den letzten Jahren zugenommen haben. Die auf den Agrarmärkten entstandene Spekulation verstärkt diese Schwankungen noch und erschwert vielen einkommensschwachen Verbrauchern den Zugang zu Nahrungsmitteln. Darüber hinaus hat die Destabilisierung der Branchen eine Verringerung der Produktionskapazitäten zur Folge, was die Versorgungsunsicherheit der Verbraucher verstärkt.

3.4.

Die COVID-19-Pandemie hat die Aufmerksamkeit auf tragische Weise sowohl auf die Notwendigkeit des Agrarhandels als auch auf die Unverzichtbarkeit der Nahrungsmittelsouveränität gelenkt. Bezüglich des internationalen Handels muss sich die Europäische Union die Mittel an die Hand geben, um die Widerstandsfähigkeit der EU gegenüber wirtschaftlichen Schocks zu erhöhen und somit wieder Vertrauen, Stabilität und gemeinsamen Wohlstand für alle Europäer zu schaffen.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Europäische Kommission: Agri-food trade statistical factsheet.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/53


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Ein neues Modell multilateraler Beziehungen: eine drängende Frage nach der COVID-19-Krise“

(Initiativstellungnahme)

(2020/C 364/08)

Berichterstatterin:

Emmanuelle BUTAUD-STUBBS

Beschluss des Plenums

20.2.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

16.6.2020

Verabschiedung im Plenum

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

213/3/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

COVID-19 und die multilateralen Beziehungen

1.1.

Die tiefgreifenden und beispiellosen wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Auswirkungen der durch COVID-19 ausgelösten Gesundheitskrise erfordern eine beispiellose, langfristige und entschlossene Antwort. Die EU muss die Wirtschaft und den internationalen Handel stützen, um zum einen zu verhindern, dass der Welthandel wie 1929 einen Wiederaufholprozess durchlaufen muss, und zum anderen den Aufschwung zu finanzieren und dabei Unternehmen, Arbeitnehmer aller Art (einschließlich Menschen mit Behinderungen), Angehörige benachteiligter Gruppen und Bürger solidarisch und verantwortungsbewusst zu schützen und niemanden zurückzulassen. Alle Unternehmen, einschließlich der sozialwirtschaftlichen, sind ein wesentlicher Bestandteil der Lösung und brauchen daher einen uneingeschränkten Zugang zu Wiederaufbaumaßnahmen.

1.2.

Der Aufschwung nach dem „großen Lockdown“ muss auf Nachhaltigkeit und auf einem integrativen und grünen Wachstum beruhen. Maßnahmen im Rahmen des Grünen Deals sind daher wichtiger denn je (Industriestrategie, CO2-Grenzausgleich und CO2-Neutralität bis 2050).

1.3.

Die COVID-19-Krise hat einem Multilateralismus einen harten Schlag versetzt, der zuvor bereits durch strukturelle Schwächen wie sich überschneidende Organisationen, eine in die Jahre gekommene Arbeitsweise und eine auf Einstimmigkeit beruhende Beschlussfassung in Verbindung mit einer großen Mitgliederzahl ausgehöhlt war. Dies kam in der Auflösung des Berufungsgremiums des Streitbeilegungsmechanismus der WTO und dem Einfrieren des finanziellen Beitrags und dem anschließenden Rückzug der USA aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Ausdruck. Darüber hinaus wirken sich nationale Ausfuhrbeschränkungen für grundlegende medizinische Güter und persönliche Schutzausrüstungen, auch aus den EU-Mitgliedstaaten, nationaler Egoismus und Versäumnisse bei der Solidarität und der internationalen Zusammenarbeit negativ auf die am stärksten gefährdeten Länder aus und verzögern die Erholung der Weltwirtschaft.

Ein stärker ganzheitlicher Ansatz

1.4.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) möchte seine Überlegungen zu einem neuen Modell der multilateralen Beziehungen vorstellen. Er stützt sich dabei auf zahlreiche frühere Vorschläge (zur WTO-Reform, zur Rolle der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) u. a.) und unterbreitet neue Lösungen für die Zeit nach COVID-19. (1)

1.5.

Diese Überlegungen, die während der Krise angestellt wurden, zielen darauf ab, eine neuartige Zusammenarbeit und mehr Kohärenz bei den von internationalen, supranationalen und zwischenstaatlichen Organisationen getroffenen Entscheidungen in den Bereichen Handel und Investitionen, menschenwürdige Arbeit, soziale Rechte und Menschenrechte sowie Klimawandel anzuregen. Die Länder sollen dadurch veranlasst werden, sich an den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in diesen Organisationen zu halten und Synergien zu fördern, anstatt Schlupflöcher auszunutzen.

1.6.

Nach beiden Weltkriegen setzte man auf internationale Organisationen für die Wahrung von Frieden und Wohlstand. Diese globale Gesundheitskrise ist der richtige Moment, die Regeln der Weltordnung zu überdenken und den Geist der Innovation, der in außergewöhnlichen Situationen zutage tritt, ein Stück weit einzubringen.

Eine Auswahl konkreter Vorschläge

1.7.

Mehrere Interessenvertreter aus unterschiedlichsten Bereichen (siehe Anhang 1) unterstützten die Berichterstatterin bei der Erarbeitung von Vorschlägen unter Berücksichtigung rechtlicher, politischer und organisatorischer Rahmenbedingungen.

1.8.

Diese Vorschläge dienen der besseren Abstimmung zwischen:

globalen Sozialstandards und Verpflichtungen in Bezug auf Klimawandel und Umweltschutz,

handelsbezogenen Regelungen und Verträgen über Klimawandel und Umweltschutz, und

handelsbezogenen Regelungen und globalen Sozialstandards.

1.9.

Dazu gehören ein besserer Zugang zum Beobachterstatus, die Finanzierung der Förderung von Studien, die Einrichtung neuer Arbeitsgruppen, eine verstärkte Koordinierung zwischen den Sekretariaten, gemeinsame Richtlinien auf dem Gebiet der Forschung, die Auslegung einiger bestehender Rechtsvorschriften und politische Verpflichtungen.

1.10.

Der EWSA ist sich bewusst, dass die Veränderungen auf politischer Ebene ansetzen müssen. Er ist überzeugt, dass die EU als einer der wenigen globalen Akteure mit einer verfassungsrechtlichen Pflicht und einem Mandat für eine verantwortungsvolle Weltordnungspolitik („good global governance“) entscheidende Impulse dazu geben kann, ein effizienteres Gefüge multilateraler Beziehungen von innen mitzugestalten.

2.   Die bescheidenen Ergebnisse unserer langjährigen Bemühungen um Kohärenz bei multilateralen Regelungen

2.1.    Ein Appell maßgeblicher Akteure der Zivilgesellschaft

2.1.1.

Viele Interessenvertreter haben wiederholt mehr Kohärenz in der Politikgestaltung internationaler, supranationaler und zwischenstaatlicher Organisationen gefordert.

2.1.2.

Im Hinblick auf die Wirtschaft wies die Internationale Handelskammer (ICC) insbesondere darauf hin, dass einer der grundlegenden Konfliktpunkte in der aktuellen Debatte über die Globalisierung die wahrgenommene Diskrepanz zwischen Handels-, Arbeits- und Umweltnormen ist (2).

2.1.3.

Auf dem G7-L7-Gipfel im Jahr 2019 wurde ferner erklärt, dass die Weltordnung die aktuellen sozialen Herausforderungen einschließlich des Bedarfs an neuen Qualifikationen besser berücksichtigen muss, um menschenwürdige Arbeit im Einklang mit internationalen Normen sowie die Voraussetzungen dafür zu gewährleisten, dass die Unternehmen Produktivität, höhere Löhne und die Schaffung guter Arbeitsplätze unterstützen (Absatz 3).

2.2.    Bisherige Schritte aus der Vogelschau

2.2.1.   Die Komplexität der Globalisierung verstehen

2.2.1.1.

Die Vereinten Nationen (VN) spielen eine wichtige Rolle und können als übergeordnete internationale Organisation Regelungen und Normen mit der größten geographischen Reichweite aufstellen. Der EWSA unterstützt deshalb die Reform der Vereinten Nationen, die von einem verfahrens- zu einem ergebnisorientierten Ansatz führen muss. Im September 2015 verabschiedeten die VN 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG), in denen die grundlegendsten Herausforderungen der Menschheit aufgegriffen werden. Obgleich die Nachhaltigkeitsziele nicht rechtlich bindend sind, wird von den Regierungen ebenso wie von den EU-Organen erwartet, dass sie Verantwortung übernehmen und einen eigenen Rahmen für ihre Umsetzung schaffen.

2.2.1.2.

2017 stellte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fest, dass wir die Globalisierung in den Griff bekommen müssen, aber bisher nicht genau wussten, wie wir dies erreichen können (3). In dem Grundsatzpapier wurden Begleitmaßnahmen (Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, Bildung und Qualifikation, soziale und ökologische Verantwortung von Unternehmen) aufgelistet und auf „die dringende Notwendigkeit [verwiesen], die öffentliche Konsultation und das Engagement von Interessenvertretern der Zivilgesellschaft“ bei den normgebenden Tätigkeiten internationaler Organisationen zu verstärken.

2.2.2.   Globale Sozialstandards und multilaterale Handelsregeln: eine verpasste Gelegenheit

2.2.2.1.

Unmittelbar nach dem gescheiterten Versuch, eine Sozialklausel in ihr Regelwerk aufzunehmen, stellte die WTO 1996 (4) klar, dass die IAO „für die [grundlegenden Arbeits-]Normen und ihre Formulierung zuständig“ sei. Seither hat die IAO mehrere grundlegende Instrumente angenommen. In Ziffer 5 der Erklärung der IAO von 1998 wird betont, dass „Arbeitsnormen nicht für handelsprotektionistische Zwecke verwendet werden dürfen und dass diese Erklärung und ihre Folgemaßnahmen nicht für solche Zwecke geltend gemacht oder sonstwie verwendet werden dürfen; außerdem darf der komparative Vorteil eines Landes durch diese Erklärung und ihre Folgemaßnahmen in keiner Weise in Frage gestellt werden“.

2.2.2.2.

In ihrer Erklärung zum 100. Jahrestag im Jahr 2019 übernimmt die IAO eine Vorreiterrolle, indem sie sich verpflichtet, „ihre Zusammenarbeit mit anderen Organisationen [zu] verstärk[en] und institutionelle Vereinbarungen mit ihnen [zu] entwickel[n], um in Anerkennung der engen, komplexen und wesentlichen Verbindungen zwischen Sozial-, Handels-, Finanz-, Wirtschafts- und Umweltpolitik die Politikkohärenz bei der Verfolgung ihres am Menschen orientierten Ansatzes für die Zukunft der Arbeit zu fördern“ (Abschnitt IV, Absatz F).

2.2.2.3.

Obgleich die IAO und die WTO unabhängig voneinander sind, arbeiten sie dennoch in mehreren Bereichen zusammen und geben insbesondere interessante gemeinsame Veröffentlichungen über Handel und Beschäftigung, über Handel und informelle Beschäftigung, über die soziale Nachhaltigkeit der Globalisierung und über die Bedeutung von Strategien zur Entwicklung von Qualifikationen zur Unterstützung von Arbeitnehmern und Unternehmen bei der Nutzung der Vorteile des Handels heraus.

2.2.2.4.

Diese Kooperationspolitik überschritt nie die rote Linie der WTO-Ministererklärung von Singapur aus dem Jahr 1996, in der es hieß: „Wir lehnen den Einsatz von Arbeitsnormen zu protektionistischen Zwecken ab und stimmen überein, dass der komparative Vorteil von Ländern, insbesondere von Entwicklungsländern mit niedrigem Lohnniveau, nicht in Frage gestellt werden darf. In dieser Hinsicht stellen wir fest, dass die Sekretariate von WTO und IAO ihre bestehende Zusammenarbeit weiterführen werden.“

2.2.3.   Die schrittweise Integration von Klima- und Umweltverpflichtungen in die multilaterale Landschaft

2.2.3.1.

Seit 1994, als das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC) in Kraft trat, treten die Regierungen regelmäßig zusammen, um die Fortschritte mit Hilfe eines zuverlässigen Systems für Transparenz und Rechenschaftspflicht zu überwachen. Erst Ende 2015 wurde das Übereinkommen von Paris angenommen, das erste umfassende, rechtsverbindliche Abkommen zum Klimawandel. Es schreibt ein System von national festgelegten Beiträgen vor, die zu überwachen sind.

2.2.3.2.

Durch ihren Beobachterstatus im UNFCCC und das Mandat, sich für menschenwürdige Arbeit und einen gerechten Übergang einzusetzen, leistete die IAO wesentliche Beiträge zur Arbeit des verbesserten Forums über die Auswirkungen der Umsetzung von Gegenmaßnahmen (2015–2018). In diesem Forum wurden insbesondere „die nationalen und internationalen Auswirkungen [untersucht], die sich aus der Umsetzung von Strategien, Programmen und Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels ergeben, die von den Vertragsparteien im Rahmen des Übereinkommens, des Kyoto-Protokolls und des Übereinkommens von Paris zur Bekämpfung des Klimawandels ergriffen wurden“.

2.2.3.3.

Im Anschluss an eine gemeinsame Absichtserklärung im Jahr 2016 arbeitete die IAO eng mit Mitarbeitern und Experten des UNFCCC zusammen, um das gegenseitige Verständnis zu verbessern: Schulung über die Rolle der sozialen Akteure, Aufbau von Kapazitäten zur Messung der Auswirkungen von Maßnahmen gegen den Klimawandel, regionale Workshops zum gerechten Übergang und ein halbjährlich stattfindendes globales Forum.

2.2.3.4.

Das wichtigste Instrument der IAO im Umweltbereich ist ein gemeinsames Konsortium mit UNEP, UNDP, UNIDO und UNITAR, die „Partnership for Action on Green Economy“ (PAGE).

2.2.3.5.

Eine Vielzahl von multilateralen Umweltschutzübereinkommen vervollständigt das Bild. Sie werden vorwiegend von den VN verwendet und decken ein breites Spektrum von umweltrelevanten Themen in den Bereichen biologische Vielfalt, Land, Meere, Chemikalien und gefährliche Abfälle oder Atmosphäre ab. Die EU ist Vertragspartei von rund 30 solcher Übereinkommen.

2.2.3.6.

Neben dem VN-Netzwerk bietet der WTO-Ausschuss für Handel und Umwelt ein Forum für Informationsaustausch, Veranstaltungen und Diskussionen über Handel und Nachhaltigkeit (d. h. Kreislaufwirtschaft, freiwillige Initiativen im Bereich Normung, Reform der Subventionen für fossile Brennstoffe, Kunststoffe usw.).

2.2.3.7.

Laut WTO-Rechtsprechung können die Mitglieder Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit der Bürger, zum Schutz der Umwelt oder zur Erhaltung der biologischen Vielfalt ergreifen, solange sie festgelegte Kriterien einhalten, um die Konformität mit den WTO-Regeln und -Disziplinen zu gewährleisten. Diese Ausnahmeregelungen, die auf Artikel XX des GATT basieren, gelten als vereinbar, wenn sie verhältnismäßig und nicht diskriminierend sind. Die Anwendung solcher Maßnahmen darf weder ein „Mittel der willkürlichen oder nicht zu rechtfertigenden Diskriminierung“ noch eine „verschleierte Beschränkung des internationalen Handels“ darstellen.

2.2.3.8.

Der Generaldirektor der WTO, Renato Ruggiero, hat auf einer Konferenz in Bonn (9. Dezember 1997) sehr deutlich die Grenzen dessen aufgezeigt, was eine Regierung tun darf und was nicht: „Regierungen können jede Art von Handelsbeschränkung, einschließlich Einfuhr- und Ausfuhrkontingente und -verbote oder die Auferlegung von Steuern oder anderen Abgaben an der Grenze zum Zwecke des Umwelt- oder Ressourcenschutzes in ihrem Zuständigkeitsbereich anwenden — solange die grundlegenden Anforderungen in Bezug auf die Nichtdiskriminierung und möglichst geringe Handelsbeschränkungen erfüllt sind. […] Was ein Land im Rahmen der WTO-Bestimmungen jedoch nicht darf, ist die Anwendung von Handelsbeschränkungen mit dem Ziel, die Verfahrens- und Herstellungsmethoden — oder andere Richtlinien — seiner Handelspartner zu ändern. Warum? Im Wesentlichen deshalb, weil die Frage der Herstellungs- und Verfahrensmethoden in der souveränen Zuständigkeit jedes Landes liegt“.

2.2.3.9.

Diese Begrenzung, die Eingriffe in Verfahrens- und Herstellungsmethoden verhindert, ist ein klares Hindernis für die Schaffung von Anreizen für die Herstellung und den Handel mit langlebigen Gütern.

2.2.4.   Bilaterale Abhilfemaßnahmen für mehr Kohärenz zwischen wirtschaftlichen, sozialen und umweltbezogenen Regeln

2.2.5.   Vor- und Nachteile der Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung

2.2.5.1.

In ihren Freihandelsabkommen (FHA) führte die EU Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung ein, um dafür zu sorgen, dass die Liberalisierung von Handel und Investitionen nicht zu einer Verschlechterung der Umwelt- und Arbeitsbedingungen führt.

2.2.5.2.

2017 bekräftigte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die „wesentliche Bedeutung“ der Bestimmungen über nachhaltige Entwicklung in einem Abkommen (5).

2.2.5.3.

2018 (6) forderte der EWSA mehr Ehrgeiz und eine bessere Durchsetzbarkeit der Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung, die dasselbe Gewicht wie die Kapitel über wirtschaftliche, technische oder Zollfragen erhalten sollten.

2.2.5.4.

2016 berichtete die IAO (7), dass 63 % der Übereinkommen mit arbeitsrechtlichen Bestimmungen nach 2008 angenommen wurden, was auf eine Beschleunigung hindeutet, und dass an 46,8 % der Freihandelsabkommen mit arbeitsrechtlichen Bestimmungen die EU, die USA oder Kanada beteiligt waren. Die Referenztexte sind, in absteigender Reihenfolge, die Erklärung der IAO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit und ihre Folgemaßnahmen aus dem Jahr 1998, das Übereinkommen Nr. 182 (Kinderarbeit), die Agenda für menschenwürdige Arbeit und die Erklärung der IAO über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung.

3.   Neue Denkansätze zur Gestaltung eines neuen Modells multilateraler Beziehungen

3.1.    Allgemeine Voraussetzungen

3.1.1.

Alle neuen Vorschläge für einen größeren Zusammenhalt sollten vier Prinzipien berücksichtigen:

Spezialisierung: Die Befugnisse der internationalen Organisationen bestehen nur insoweit, als diese ihnen von ihren Mitgliedsstaaten übertragen wurden(8)

Entscheidungsfähigkeit: Organisationen haben klare interne Regeln und Prozesse, die es den leitenden Organen (Fachausschüssen oder Generalversammlungen) ermöglichen zu handeln.

Transparenz: Jede funktionelle Änderung, wie etwa die Einführung gemischter Gruppen, neuer Statuten oder gemeinsamer Erklärungen, muss sowohl intern als auch extern transparent kommuniziert werden.

Bewertung: Die Schaffung von Bewertungsmechanismen für die interne Funktionsweise sollte gefördert werden.

3.1.2.

Der EWSA befürwortet grundsätzlich eine offenere Kommunikation mit der Zivilgesellschaft und eine Konsultation mit derselben über die Strategien der internationalen Organisationen und fordert die schrittweise Einrichtung ständiger Dialogprozesse. Angesichts seiner Erfahrung ist der EWSA bereit, bei der Einrichtung derartiger Verfahren eine Führungsrolle als Vermittler zu übernehmen. Wie das UNFCCC und die OECD, die einen umfassenden Dialog mit einem breiten Spektrum an Partnern unterhalten, hat auch die WTO kürzlich ihre Kontakte zur Zivilgesellschaft über ihr jährliches öffentliches Forum hinaus ausgeweitet. Diese Kontakte können erheblich zu mehr Effizienz und Demokratie im multilateralen Handelssystem beitragen. Der EWSA ist dankbar für die Unterstützung der Kommission bei der Verstärkung der Stimme der Zivilgesellschaft auf multilateraler Ebene und begrüßt Aktion 6 des jüngsten sechs Punkte umfassenden Aktionsplans der Gruppe von Ottawa (9).

3.1.3.

Auch die Verhandlungsfähigkeit der Sozialpartner bedarf einer größeren Anerkennung. Die dreigliedrige Erklärung der Sozialpartner auf internationaler Ebene und die Reihe der multinationalen Rahmenabkommen enthalten nützliche praktische Regelungen und Instrumente (Sozialstandards, Beziehungen zu Lieferanten, sozialer Dialog, Kampf gegen Kinder- und Zwangsarbeit).

3.2.    Das multilaterale Instrumentarium

Integration der WTO in das VN-System aus funktionaler Sicht

3.2.1.

Das System der Vereinten Nationen ist der Tragpfeiler der internationalen Ordnung mit seinem Netz von Sonderorganisationen wie der IAO, der UNESCO, der WHO, dem IWF, der Weltbank und regionalen Entwicklungsbanken. Obwohl Handelsregeln zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele beitragen müssen, wurde die WTO als Einzelorganisation geschaffen und steht außerhalb des VN-Systems. Der WTO-Generaldirektor nimmt jedoch zusammen mit allen Generaldirektoren der Sonderorganisationen und anderer wichtiger VN-Gremien am Koordinierungsrat der Vereinten Nationen teil. Der EWSA schlägt vor, dass die WTO dem Koordinierungsrat über jede Errungenschaft des Systems der Handelsregeln Bericht erstattet, die zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele beitragen kann.

3.2.2.

Der ausdrückliche Verweis auf nachhaltige Entwicklung in der Präambel des WTO-Übereinkommens von 1994 muss so verstanden werden, dass er sich auf die Nachhaltigkeitsziele bezieht, die die neue, allgemein anerkannte Verkörperung der Nachhaltigkeit im Völkerrecht darstellen. Die WTO scheint dies bereits zu akzeptieren, da sie sie in ihrem Internetauftritt als „zentrale Voraussetzung für die Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung“ bezeichnet.

Erweiterte Verknüpfung einzelner Regelwerke

3.2.3.   Strengere Sozial- und Umweltvorschriften

3.2.3.1.

2018 erarbeitete die IAO mehrere Studien über die möglichen Gesamtauswirkungen des Übereinkommens von Paris, über das Thema Ökowende und Qualifikationen (10) bzw. über Qualifikationen für eine grünere Zukunft und die Auswirkungen der Erderwärmung auf die Arbeitsbedingungen (11).

3.2.3.2.

Der EWSA fordert eine umfassendere Verbreitung dieser Berichte und befürwortet von der Europäischen Kommission finanzierte regionale Workshops in Entwicklungsländern, insbesondere in den am wenigsten entwickelten Ländern, den Inselwirtschaften und den weniger stabilen Volkswirtschaften, die sozial am stärksten von den drastischen Auswirkungen der Erderwärmung betroffen sind.

3.2.3.3.

2015 veröffentlichte die IAO Leitlinien für einen gerechten Übergang hin zu einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft für alle. Der EWSA schlägt vor, diese Leitlinien in den Dienststellen der Kommission bei der Festlegung von Normen stärker zu nutzen. Darüber hinaus sollte der IAO-Verwaltungsrat die Aktualisierung dieser Leitlinien auf seine Tagesordnung setzen.

3.2.4.   Stärkere Verknüpfung von Handelsregeln und Sozialstandards

3.2.4.1.

Im Sinne der Gegenseitigkeit spricht sich der EWSA dafür aus, dass die WTO der IAO den formellen Beobachterstatus in den Sitzungen ihrer wichtigsten Gremien und Ausschüsse gewährt. Neben der offiziellen Beteiligung der IAO an den WTO-Ministerkonferenzen würde dies die Einbindung der IAO in interne WTO-Gremien steigern und könnte dazu beitragen, die Einhaltung internationaler Arbeitsnormen in den WTO-Mechanismus zur Überprüfung der Handelspolitik (TPRM) zu integrieren. Der EWSA schlägt vor, eine spezielle befristete Arbeitsgruppe, bestehend aus dem WTO- und dem IAO-Sekretariat, einzurichten, die bis Juni 2021 Leitlinien ausarbeiten und vorlegen soll.

3.2.4.2.

Darüber hinaus sollte die IAO-Weltkommission für die soziale Dimension der Globalisierung angesichts der Auswirkungen von COVID-19 auf die globalen Wertschöpfungsketten erneut eingesetzt werden. Auf der Grundlage seiner Stellungnahme über ein verbindliches UN-Abkommen (12) tritt der EWSA während des deutschen EU-Ratsvorsitzes für einen wirksamen Regelungsrahmen zur Gewährleistung der Achtung der Menschenrechte und menschenwürdiger Arbeit in globalen Wertschöpfungsketten ein, der einen europäischen Aktionsplan mit Rechtsinstrumenten und greifbaren Ergebnissen sowie ehrgeizige und wirksame normative Maßnahmen auf globaler Ebene umfasst. Sowohl die IAO als auch die WTO müssen in ihrem jeweiligen Aufgabenbereich einen Beitrag leisten.

3.2.4.3.

Bei der Prüfung regionaler und bilateraler Handelsvereinbarungen, die an Zahl und räumlicher Abdeckung stetig zunehmen, muss der WTO eine neue Rolle im Bereich der arbeitsrechtlichen Bestimmungen zukommen. Da die meisten neuen Freihandelsabkommen arbeitsrechtliche Bestimmungen enthalten, sollte das WTO-Sekretariat diesen neuen Korpus erfassen, vergleichen und überwachen. Diese Überwachungsarbeit könnte sie sich im Rahmen des Aktionsplans der IAO für menschenwürdige Arbeit in globalen Lieferketten mit der IAO teilen, was eine engere Zusammenarbeit zwischen der IAO und der WTO bedeuten würde.

3.2.5.   Stärkere Verknüpfung von Regeln und politischen Strategien zu Handel und Klima

3.2.5.1.

Mit einer WTO-Ausnahmeregelung für den Klimaschutz, die bereits in Wissenschaft und Wirtschaft diskutiert wird, könnten „Klimamaßnahmen“ definiert werden: Merkmale, Ziele von allgemeinem Interesse und Kriterien für die Vereinbarkeit mit den WTO-Regeln. Eine solche Ausnahmeregelung würde es den WTO-Mitgliedern ermöglichen, Klimaschutzmaßnahmen im eigenen Land (Emissionshandelssystem) oder an ihren Grenzen unter der Maßgabe einzuführen, dass diese Maßnahmen kein verdeckter Protektionismus sind.

3.2.5.2.

Eine WTO-Ministererklärung über Handel und Umwelt, in der die Rolle des Handels, der Handelspolitik und des multilateralen Handelssystems bei der Unterstützung der Bemühungen der internationalen Gemeinschaft um die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele und anderer gemeinsamer internationaler Umweltverpflichtungen, wie des Übereinkommens von Paris, anerkannt wird, sollte für die 12. Ministerkonferenzen im Jahr 2021 von einer informellen WTO-Arbeitsgruppe vorbereitet werden. Der EWSA bestärkt die Kommission darin, ihre Bemühungen in diese Richtung fortzusetzen.

3.2.5.3.

Der EWSA ersucht die Europäische Kommission, ihren Standpunkt zum schrittweisen Abbau der Subventionen für fossile Brennstoffe in der EU zu verdeutlichen und jede sich abzeichnende Initiative auf plurilateraler Ebene innerhalb der WTO uneingeschränkt zu unterstützen.

3.2.5.4.

Der EWSA ruft zu einer raschen Wiederaufnahme der plurilateralen WTO-Verhandlungen im Hinblick auf ein Abkommen über den Handel mit Umweltschutzgütern auf. Dies sollte unmittelbarer mit dem Übereinkommen von Paris verknüpft werden, wie beispielsweise der Vorschlag von Chinesisch-Taipeh 2019 für ein Abkommen über den Handel mit Umweltschutzgütern und -dienstleistungen im Zusammenhang mit dem Übereinkommen von Paris, das sich auf die Beseitigung von Zöllen auf Waren und Dienstleistungen zur Reduzierung von Kohlendioxidemissionen stützt. „Die Einführung völlig neuer Verhandlungen wie beim PAEGSA, die darauf abzielen, so aktuell relevante Themen wie Klimawandel und internationale Handelsliberalisierung anzugehen, wird eine entscheidende Errungenschaft für das multilaterale Handelssystem sein“ (13).

3.2.5.5.

Im Interesse größerer Kohärenz sollten die Sekretariate der multilateralen Umweltschutzübereinkommen Beobachterstatus in einer Vielzahl von WTO-Ausschüssen haben, nicht nur im Ausschuss für Handel und Umwelt (z. B. in den Ausschüssen, die sich mit technischen Handelshemmnissen sowie gesundheits- und pflanzenschutzrechtlichen Maßnahmen befassen).

3.2.5.6.

Der EWSA empfiehlt die Einrichtung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe für das Umweltprogramm der Vereinten Nationen, das UNFCCC und die WTO. Sie würde sich mit Treibhausgasemissionen und Fragen des internationalen Handels befassen und Messmethoden oder Kompensationssysteme im Rahmen von Freihandelsabkommen (z. B. durch Aufforstung) erarbeiten. Derartige mit Drittstaaten vereinbarte Kompensationssysteme sollten in den national festgelegten Beiträgen im Rahmen des Übereinkommens von Paris berücksichtigt werden.

4.   Beitrag der EU zu einem neuen Modell des nachhaltigen Multilateralismus

4.1.

Zur Bekämpfung der Verlagerung von CO2-Emissionen unterstützt der EWSA einen WTO-kompatiblen CO2-Ausgleichsmechanismus an den EU-Grenzen, der die Wettbewerbsbedingungen für CO2-intensive Sektoren einander angleicht (14). Der EWSA ersucht die Europäische Kommission, mit einem Legislativvorschlag im Frühjahr 2021 an ihrem ursprünglichen Zeitplan festzuhalten. Die jüngste Folgenabschätzung in der Anfangsphase (Fahrplan) zeigte Unterstützung insbesondere aus der Stahl-, der Zement- und Chemieindustrie sowie aus der Strombranche.

4.2.

Der EWSA betont die Bedeutung einer umfassenden sozialen und ökologischen Konditionalität für die Empfängerländer im nächsten Allgemeinen Präferenzsystem (APS) (Verordnung (EU) Nr. 978/2012 (15)).

4.3.    Strengere Nachhaltigkeitsbestimmungen in Freihandelsabkommen

4.3.1.

Die Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung in den Handels- und Investitionsabkommen der EU sollten gestärkt werden:

Gemäß der Empfehlung des Europäischen Parlaments sollten die Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung beide Partner verpflichten, die wichtigsten internationalen Menschenrechtsinstrumente (d. h. die Internationale Charta der Menschenrechte), die Kernübereinkommen der IAO einschließlich des Übereinkommens über Arbeitsschutz und Arbeitsumwelt sowie das Übereinkommen von Paris und andere internationale Umweltschutzvereinbarungen zu ratifizieren und umzusetzen.

Der Begleitausschuss Internationaler Handel des EWSA ist der Ansicht, dass in Nachhaltigkeitsprüfungen das „Modell des berechenbaren allgemeinen Gleichgewichts (CGE) […] ein breiteres Spektrum von Indikatoren umfassen [sollte], mit denen die Auswirkungen auf Menschen- und Arbeitsrechte, Klimawandel, biologische Vielfalt, Verbraucher und ausländische Direktinvestitionen gemessen werden. Eine breitere Palette von Indikatoren und eine größere Offenheit für alternative Modelle sind nötig.“

Der EWSA fordert eine Überarbeitung der Ausschuss-Verfahren, bei denen Handelsrechtsanwälte, aber auch Arbeits-, Klima- oder Menschenrechtsexperten Beschwerden im Rahmen der Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung untersuchen könnten. Sollten solche Ausschüsse Verstöße feststellen, sollte ein Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Staaten ausgelöst werden, der die Möglichkeit von Geldstrafen oder Sanktionen sowie Rechtsmittel für die geschädigte Partei vorsieht.

4.3.2.

Künftige Freihandelsabkommen der EU sollten einen Verweis auf das Übereinkommen von Paris enthalten und Anreize wie z. B. einen Nullzollsatz für Umweltgüter oder -dienstleistungen bieten. Der CETA-Artikel 22.3, in dem sich die Parteien verpflichten, Wirtschafts- und Handelsströme zu fördern, die zu menschenwürdiger Arbeit und zum Umweltschutz beitragen, sollte mit weiteren Handelspartnern (Neuseeland, Australien) zur Anwendung kommen. In künftigen EU-Freihandelsabkommen sollte zudem die Überwachungsfunktion der nationalen Beratungsgruppen über die Bereiche Umwelt, Beschäftigung und Soziales hinaus ausgeweitet werden.

4.3.3.

Jedes Investitionsabkommen, das die EU — insbesondere mit China — aushandelt, muss umfassende Bestimmungen über folgende Bereiche enthalten:

nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen,

das Konzept des Vorsorgeprinzips in Bezug auf menschliche Gesundheit, natürliche Ressourcen und Ökosysteme,

das Prinzip der Öffentlichkeitsbeteiligung und des Zugangs zu Information und Justiz, und

das Prinzip der Integration und Wechselbeziehung, insbesondere in Bezug auf die Menschenrechte und soziale, wirtschaftliche und ökologische Ziele.

4.3.4.

Die anstehende Ernennung eines Leitenden Handelsbeauftragten der EU wird dazu beitragen, die wirksame Umsetzung von Handelsabkommen, einschließlich der Arbeitnehmerrechte, der Umweltverpflichtungen und der Rolle der Zivilgesellschaft, zu gewährleisten.

4.4.    Eine führende Rolle der EU bei der Gestaltung eines neuen Modells multilateraler Beziehungen

4.4.1.

Die Europäische Union ist einer der wenigen globalen Akteure mit der verfassungsrechtlichen Pflicht und dem Mandat, „eine Weltordnung zu fördern, die auf einer verstärkten multilateralen Zusammenarbeit und einer verantwortungsvollen Weltordnungspolitik beruht“ (Artikel 21 Absatz 2 Buchstabe h des Vertrags über die Europäische Union (EUV)).

4.4.2.

Als Organisation der regionalen Integration ist es der EU jedoch nicht möglich, uneingeschränkt an der Arbeit vieler Gremien, Organe und Organisationen des Systems der Vereinten Nationen mitzuwirken. Sie muss sich vielmehr bei der Verteidigung der Standpunkte und Interessen der Union auf die Mitgliedstaaten verlassen. Mehr als zehn Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, in dem sich die EU verpflichtet hat, „sich insbesondere im Rahmen der Vereinten Nationen für multilaterale Lösungen bei gemeinsamen Problemen [einzusetzen]“ (Artikel 21 Absatz 1 EUV), ist es höchste Zeit, dass die Union zusammen mit ihren Mitgliedstaaten eine integrierte Strategie entwickelt, um eine stärkere Position innerhalb des VN-Systems zu erreichen.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  EWSA-Stellungnahmen REX/509 — WTO-Reform zur Anpassung an die Entwicklung des Welthandels (ABl. C 159 vom 10.5.2019), REX/486 — Die Rolle der Handels- und Investitionspolitik der EU bei der Verbesserung der Wirtschaftsleistung der EU (ABl. C 47 vom 11.2.2020), REX/500 — Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung in den Freihandelsabkommen der EU (ABl. C 227 vom 28.6.2018), NAT/760 — Reflexionspapier Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Europa bis 2030 (ABl. C 14 vom 15.1.2020).

(2)  ICC WTO-Reform, Oktober 2019.

(3)  http://www.oecd.org/about/sge/fixing-globalisation-time-to-make-it-work-for-all-9789264275096-en.htm, S. 9.

(4)  WTO-Ministererklärung von Singapur 1996, Absatz 4.

(5)  Gutachten 2/15 vom 16. Mai 2017, EU:C:2017:376.

(6)  EWSA-Stellungnahme REX/500 — Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung in den Freihandelsabkommen der EU (ABl. C 227 vom 28.6.2018) Ziffer 2.4.

(7)  IAO, Labour-related provisions in trade agreements: Recent trends and relevance to the ILO, GB.328/POL/3, Absatz 9.

(8)  Jan Wouters, Cedric Ryngaert, Tom Ruys und Geert De Baere, International Law: A European Perspective (Oxford, Hart Publishing, 2018), S. 259.

(9)  Gruppe von Ottawa — Gruppe von WTO-Mitgliedern unter der Führung Kanadas, die sich mit konkreten Herausforderungen für das multilaterale Handelssystem befasst. Erklärung der Gruppe von Ottawa: Focusing Action on Covid-19, Juni 2020.

(10)  World employment social outlook 2018 — Greening with jobs, IAO, Genf, 2018.

(11)  Working on a warmer planet: The impact of heat stress on labour productivity and decent work, IAO, Genf, 2019.

(12)  EWSA-Stellungnahme REX 518 — Ein verbindliches UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte (ABl. C 97 vom 24.3.2020, S. 9).

(13)  Non-Paper JOB/TE/19 vom 19. Januar 2018.

(14)  EWSA-Stellungnahme CCMI/167 — Eine konsistente Klima- und Energiepolitik aus Sicht der Industrie (ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 59).

(15)  ABl. L 303 vom 31.10.2012, S. 1.


ANHANG

ABGEHALTENE VORBEREITENDE SITZUNGEN

Name

Organisation/Einrichtung

Aufgabe

Elina BARDRAM

Europäische Kommission

Referatsleiterin

Internationale Beziehungen (CLIMA.A.1)

Daniele BASSO

EGB

Berater

John BRYAN

EWSA

Mitglied Gruppe III

Cinzia DEL RIO

EWSA

Mitglied Gruppe II

Dimitru FORNEA

EWSA

Mitglied Gruppe II

Alan HERVÉ

Politikwissenschaften Rennes

Professor für internationales öffentliches Recht

Emmanuel JULIEN

IAO

Stellvertretender Direktor

Abteilung Unternehmen

Bernd LANGE

Europäisches Parlament

Vorsitz des INTA-Ausschusses

Jürgen MAIER

Forum

Umwelt & Entwicklung

Direktor

Jean-Marie PAUGAM

Französische Regierung

Ständiger Vertreter Frankreichs bei der WTO

Christophe PERRIN

IAO

Direktor

Abteilung Multilaterale Zusammenarbeit

Denis REDONNET

Europäische Kommission

Direktor

WTO, Rechtsangelegenheiten und Warenhandel (TRADE.DGA2.F)

Lutz RIBBE

EWSA

Mitglied Gruppe III

Victor VAN VUUREN

IAO

Direktor

Abteilung Unternehmen

Lieve VERBOVEN

IAO

Direktorin des EU-Büros

Jan WOUTERS

Universität Löwen

Professor für Völkerrecht und Internationale Organisationen


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/62


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Besteuerung der kollaborativen Wirtschaft — Berichterstattungspflichten“

(ergänzende Stellungnahme)

(2020/C 364/09)

Berichterstatterin:

Ester VITALE

Beschluss des Präsidiums

18.6.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Durchführungsbestimmungen (2010)

 

Ergänzende Stellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

24.6.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

210/1/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Besteuerung und die Steuerpolitik müssen mit der kontinuierlichen Entwicklung der kollaborativen Wirtschaft Schritt halten. In diesem Zusammenhang sollten keine neuen bzw. besonderen Steuerregelungen entwickelt werden. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält es vielmehr für zweckmäßiger, die bereits geltenden Steuervorschriften und -modelle an die neuen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen und dabei für gleiche Ausgangsbedingungen für die verschiedenen beteiligten Akteure zu sorgen.

1.2.

Der EWSA spricht sich dafür aus, dass im Rahmen der nationalen Steuersysteme der kollaborativen Wirtschaft und der digitalen Plattformen Rechnung getragen wird und gleichzeitig die Grundsätze eines fairen Steuersystems (d. h. Kohärenz, Vorhersehbarkeit und Neutralität) gewahrt bleiben. Gleichzeitig muss auch das öffentliche Interesse an der Erfüllung der steuerlichen Verpflichtungen durch alle beteiligten Akteure gewährleistet werden.

1.3.

Der EWSA ist überzeugt, dass die steuerpolitischen Maßnahmen für die Digitalisierung der Wirtschaft und die Entwicklung von Instrumenten und operativen Lösungen auf internationaler Ebene koordiniert werden müssen. Deshalb begrüßt der EWSA die enge Zusammenarbeit zwischen der Kommission, den Mitgliedstaaten und der OECD/G20 und stellt fest, dass die eingeleiteten Kooperationsmaßnahmen bereits einige konkrete Ergebnisse gezeitigt haben, und weitere, wichtigere Ergebnisse in Zukunft zu erwarten sind.

1.4.

Es ist wichtig, dass die internationalen, europäischen und nationalen Institutionen wirksam und rasch tätig werden. Dabei gilt es, die Fragen im Zusammenhang mit der digitalen und kollaborativen Wirtschaft proaktiv anzugehen und nicht nur auf neue spezifische Probleme zu reagieren.

1.5.

Ein wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit den für die kollaborative Wirtschaft anzuwendenden Steuersysteme betrifft die Pflicht der digitalen Plattformen, Informationen über die getätigten Transaktionen zu sammeln, an die Steuerbehörden weiterzuleiten und zu speichern (Berichterstattungspflichten). Derartige Pflichten sollten für die Plattformen mit keinem übermäßigen administrativen Aufwand eingehen.

1.6.

Ein angemessener Austausch von Informationen im Rahmen eines praktikablen und verhältnismäßigen Datenerfassungs- und Datenaustauschsystems könnte einerseits die Arbeit der Steuerbehörden erleichtern und andererseits den Unternehmen ein sicheres und verlässliches System bieten, wovon der Sektor der kollaborativen Wirtschaft insgesamt profitieren würde.

1.7.

Der EWSA plädiert für die Entwicklung eines europäischen Standards für die Erhebung von Daten und Informationen über die jeweiligen Nutzer, die die Plattformen den Steuerbehörden melden und langfristig speichern müssen. Die Berichterstattungspflichten sollten klar sein und für alle Mitgliedstaaten harmonisiert werden. Mit einem europäischen Standard könnten einseitige Maßnahmen vonseiten der Mitgliedstaaten vermieden werden, die auf dem Binnenmarkt zu kontraproduktiven regulatorischen Diskrepanzen und zu Unsicherheit in Bezug auf die Umsetzung führen würden.

1.8.

In Bezug auf die allgemeinen Grundsätze für Berichterstattungspflichten ist nach Auffassung des EWSA ein Ansatz erforderlich, bei dem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gewahrt bleibt. Es sollte möglich sein, den Regulierungszweck zu erfüllen, d. h. klare und für die Steuerbehörden nützliche Informationen zu erheben, ohne die privaten Interessen der Plattformen und der Endnutzer übermäßig und ungerechtfertigt zu beeinträchtigen.

1.9.

Nach Auffassung des EWSA müssten die Steuervorschriften für die kollaborative Wirtschaft, darunter auch die Bestimmungen über die Berichterstattungspflichten, im Einzelfall an den jeweiligen Sektor und die jeweiligen Tätigkeiten der kollaborativen Wirtschaft angepasst werden, die sich häufig voneinander unterscheiden.

1.10.

Nach Ansicht des EWSA ist es wichtig zu prüfen, ob die bevorstehende Umsetzung der Richtlinie über bestimmte Anforderungen für Zahlungsdienstleister in Bezug auf Auskunftsersuchen zur Aufdeckung von Mehrwertsteuerbetrugsfällen auch für die Zwecke der direkten Besteuerung im Hinblick auf die Berichterstattungspflichten verwendet werden kann.

1.11.

Der Informationsaustausch zwischen privaten Akteuren und Behörden muss selbstredend den europäischen Rechtsvorschriften über den Schutz der Privatsphäre und die Verarbeitung personenbezogener Daten entsprechen. Die Grundsätze der Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und engen Auslegung in Bezug auf mögliche Abweichungen von den Datenschutzgrundsätzen zur Durchsetzung von Steuervorschriften sind zu wahren.

2.   Einleitung und allgemeine Grundsätze

2.1.

Die Entwicklung einer wirksamen Steuerpolitik für den Sektor der kollaborativen Wirtschaft stellt sowohl für die europäischen und nationalen Institutionen als auch für die Akteure dieses Sektors eine Herausforderung dar. Diesbezüglich ist es von entscheidender Bedeutung zu gewährleisten, dass sowohl für die verschiedenen Akteure in der kollaborativen Wirtschaft als auch für diese Akteure und die herkömmlichen Akteure, die in denselben Sektoren tätig sind, gleiche Rahmenbedingungen herrschen.

2.2.

Nach Auffassung des EWSA ist die kollaborative Wirtschaft in den letzten Jahren stetig und beträchtlich gewachsen und bietet den Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine Chance, sich auch in Zukunft weiterzuentwickeln. Denn mit ihr lassen sich ungenutzte Potenziale mobilisieren und die Initiative der Einzelpersonen wecken. Gleichzeitig ist sich der EWSA bewusst, dass eine Regelung notwendig ist, um den Verbraucherschutz, den Schutz der Arbeitnehmerrechte, die Steuerpflichten und den fairen Wettbewerb zu gewährleisten.

2.3.

Der in dieser Stellungnahme verwendete Begriff „kollaborative Wirtschaft“ bezieht sich auf Geschäftsmodelle, bei denen kollaborative Plattformen eine Katalysatorrolle spielen. Sie ermöglichen die zeitweilige Nutzung von Waren oder Dienstleistungen, die häufig von Privatpersonen angeboten werden. In diesem Zusammenhang wäre es auch in methodologischer Hinsicht wichtig, einen Minimalkonsens zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten in Bezug auf den Begriff der kollaborativen Wirtschaft zu erzielen, um erhebliche Diskrepanzen zwischen den verschiedenen auf dem Binnenmarkt angewandten Definitionen zu vermeiden.

2.4.

Die kollaborative Wirtschaft ist ein komplexes wirtschaftliches Phänomen, das zu regulatorischen Zwecken umfassend überarbeitet werden muss, weil sie verschiedene Gesellschaftsbereiche und unterschiedliche, traditionell voneinander abgegrenzte Rechtsinstitute betrifft. So hat beispielsweise die ständige Weiterentwicklung der kollaborativen Wirtschaft Auswirkungen auf die Vorschriften in den Bereichen Verbraucherrecht, Arbeitsrecht, Sozialversicherung, Vertragsrecht, Datenschutz und öffentliche Dienstleistungen.

2.5.

Der EWSA hebt hervor, dass die nationalen Steuersysteme auf europäischer Ebene wirksam koordiniert werden und den neuen Geschäftsmodellen der kollaborativen Wirtschaft Rechnung tragen müssen. Die Wahrung der Steuergerechtigkeit (d. h. Kohärenz, Vorhersehbarkeit und Neutralität) in Bezug auf solche neuen Modelle ist für alle beteiligten Akteure — Behörden, Unternehmen und Verbraucher — notwendig.

2.6.

Die Anpassung der bisher geltenden Steuervorschriften hinkt der kontinuierlichen technologischen Entwicklung allerdings hinterher. Es kommt oftmals zu zeitlichen Diskrepanzen zwischen der sehr raschen Entwicklung der digitalen Wirtschaft und der Erarbeitung von Steuervorschriften. Die Anpassung der bisherigen Vorschriften und Grundsätze an den laufenden Wandel sollte folglich rechtzeitig und angemessen erfolgen, wobei der europäische Gesetzgeber und die verschiedenen nationalen Gesetzgeber ihre Maßnahmen koordinieren müssen.

2.7.

Es ist besonders wichtig, dass die internationalen, europäischen und nationalen Institutionen rechtzeitig, wirksam und koordiniert tätig werden, um die neuen von der digitalen und kollaborativen Wirtschaft aufgeworfenen Fragen zu lösen. Zu diesem Zweck muss in Bezug auf neue spezifische Problemstellungen proaktiv gehandelt und nicht bloß reagiert werden.

2.8.

Der EWSA ist überzeugt, dass vor dem Hintergrund der Digitalisierung der Wirtschaft die steuerpolitischen Maßnahmen und die Entwicklung von Instrumenten und konkreten Lösungen auf internationaler Ebene oder gar weltweit koordiniert werden müssen. Deshalb begrüßt der EWSA die enge Zusammenarbeit zwischen der Kommission, den Mitgliedstaaten und der OECD/G20 und stellt fest, dass diese Kooperation bereits einige konkrete Ergebnisse gezeitigt hat, und weitere, wichtigere Ergebnisse in Zukunft zu erwarten sind.

3.   Berichterstattungspflichten

3.1.

Ein wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit den Steuersystemen der kollaborativen Wirtschaft betrifft die Pflicht der digitalen Plattformen, Informationen über die getätigten Transaktionen zu sammeln, an die Steuerbehörden weiterzuleiten und zu speichern. Eine angemessene Weitergabe von Informationen im Rahmen eines praktikablen und verhältnismäßigen Datenerhebungs- und Datenaustauschsystems könnte einerseits die Arbeit der Steuerbehörden erleichtern, die die Daten schnell und reibungslos erhalten würden, und andererseits ein verlässliches System für Plattformen und ihre Nutzer bieten. Die Berichterstattungspflichten sollten keinen übermäßigen Verwaltungsaufwand für die Plattformen und die Akteure des Sektors darstellen.

3.2.

Es gibt bereits mehrere Beispiele für eine wirksame Zusammenarbeit zwischen Plattformen und Steuerbehörden im Verkehrssektor. So wurde beispielsweise in Estland die Steuerklärung für Fahrer, die Car-Pooling-Plattformen nutzen, erleichtert. Ein anderes Beispiel für eine innovative Lösung, das ebenfalls aus Estland stammt, ist die Festlegung einer verhältnismäßigen Mindestmenge an Daten, die den Behörden gemeldet werden müssen, sowie die für die Betreiber der Plattformen bestehende Möglichkeit, zwecks Steuerehrlichkeit ein eigens dafür bestimmtes Bankkonto zu nutzen. Ein solches Bankkonto erleichtert einen direkten und schnellen Austausch zwischen den Betreibern, ihren Banken und den Steuerbehörden. Andererseits ist in einigen Regionen zu beobachten, dass die Online-Plattformen kaum bereit sind, mit den Finanzbehörden zusammenzuarbeiten.

3.3.

In diesem Zusammenhang plädiert der EWSA für die Erarbeitung eines europäischen Standards für die Erhebung von Daten und Informationen, die die Plattformen den Steuerbehörden melden und langfristig speichern müssen. Viele unterschiedliche einseitige Maßnahmen der Mitgliedstaaten und die Koexistenz uneinheitlicher Systeme auf dem Binnenmarkt (wie dies bereits teilweise der Fall ist) könnten zu operativen Schwierigkeiten und Ineffizienzen für den gesamten Sektor der kollaborativen Wirtschaft führen.

3.4.

Die Entwicklung eines harmonisierten europäischen Berichterstattungsmodells sollte auf bisherigen Erfahrungen und operativem Feedback aus der Praxis beruhen. Die in den einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Berichterstattungssysteme unterscheiden sich voneinander in organisatorischer Hinsicht und im Hinblick auf die Menge und Art der zu erhebenden und zu übermittelnden Daten. In einigen Mitgliedstaaten ist die Berichterstattung sehr aufwendig und verlangt den Plattformen erhebliche Anstrengungen ab. In anderen Mitgliedstaaten sind die Systeme hingegen flexibler und beeinträchtigen den laufenden Betrieb weniger. Die Erfahrungen einiger Mitgliedstaaten zeigen außerdem, dass die Systeme der fakultativen und freiwilligen Berichterstattung, die an keine spezifischen gesetzlichen Auflagen gebunden ist, nicht wirksam funktionieren.

3.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die heutige Fragmentierung langfristig nicht tragbar ist, da sie zu übermäßigen Befolgungskosten und Ineffizienzen führen kann, die mit der uneinheitlichen Regulierung in verschiedenen Bereichen des Binnenmarktes zusammenhängen. Aus diesem Grund ist für die Berichterstattung ein ausgewogener und verhältnismäßiger Ansatz erforderlich, der ein vereinfachtes und funktionierendes System gewährleistet. Einfachere Berichterstattungspflichten wären für die digitalen Plattformen möglicherweise auch ein konkreter Anreiz, sie auch einzuhalten.

3.6.

In Bezug auf die allgemeinen Grundsätze für Vorschriften zur Besteuerung der kollaborativen Wirtschaft im Allgemeinen und der Berichterstattungspflichten im Besonderen gilt es nach Ansicht des EWSA einen Ansatz zu verfolgen, bei dem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechend der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union gewahrt bleibt. Somit wird es notwendig sein, den Regulierungszweck zu erfüllen, d. h. klare und für die Steuerbehörden nützliche Informationen im öffentlichen Interesse zu erheben, ohne die privaten Interessen der Plattformen und der Endnutzer übermäßig zu beeinträchtigen.

3.7.

Dieser Ansatz sollte klare und berechenbare Vorschriften für die Akteure des Sektors sicherstellen, damit einerseits keine übermäßigen Befolgungskosten entstehen (zum Beispiel durch die Aufforderung zur Offenlegung unnötiger und unverhältnismäßiger Daten), und andererseits eine wirksame Erhebung von Informationen durch die Steuerbehörden gewährleistet ist.

3.8.

Darüber hinaus sollte bei einem verhältnismäßigen und vernünftigen Berichterstattungssystem aufgeführt werden, welche qualitativen Daten zwingend notwendig sind und für die Zwecke der Durchsetzung der Steuervorschriften erhoben werden müssen, ohne den Plattformen bzw. ihren kommerziellen Nutzern oder den Endnutzern übermäßige Verpflichtungen zu verursachen. Bei einem verhältnismäßigen Ansatz sollte außerdem zwischen professionellen Akteuren, die im Rahmen der kollaborativen Wirtschaft tätig sind, und nichtprofessionellen Akteuren unterschieden werden. Die Berichterstattungspflichten sollten für beide Kategorien entsprechend angepasst werden.

3.9.

Weitere Aspekte, die auf europäischer Ebene harmonisiert werden sollten, sind: a) die allgemeinen Bedingungen für die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung durch den für die Verarbeitung Verantwortlichen; b) die von der Verarbeitung betroffenen Personen; c) die Einrichtungen und Zwecke, für die die personenbezogenen Daten offengelegt werden dürfen; d) die Ermittlung der Verarbeitungsmethoden; e) Zweckbindung der Verarbeitung; und f) Speicherfristen.

3.10.

Der Informationsaustausch zwischen privaten Akteuren und Behörden muss selbstredend den europäischen Rechtsvorschriften über den Schutz der Privatsphäre und die Verarbeitung personenbezogener Daten entsprechen. Die Grundsätze der Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und engen Auslegung in Bezug auf mögliche Abweichungen von den Datenschutzgrundsätzen zur Durchsetzung von Steuervorschriften sind zu wahren.

3.11.

In diesem Zusammenhang könnte es sinnvoll sein, auch den Informationsaustausch zwischen den verschiedenen nationalen Steuerbehörden zu verbessern und voranzutreiben, um wirksame Zusammenarbeitsstrukturen zur Vermeidung von Betrug und Steuerumgehung zu schaffen, und um die von den verschiedenen Behörden praktizierten Verfahren zu harmonisieren.

3.12.

Die Steuervorschriften der kollaborativen Wirtschaft, die auch für die Berichterstattungssysteme gelten, sollten auf jeden Fall an die unterschiedlichen Sektoren der kollaborativen Wirtschaft angepasst werden können, weil die verschiedenen Aktivitäten in diesem Sektor häufig unterschiedliche und spezifische Eigenschaften aufweisen, die spezifische und eigens darauf zugeschnittene Vorschriften erfordern.

3.13.

Der EWSA empfiehlt, im Sinne der Steuerneutralität in jedem Fall gleiche steuerliche Rahmenbedingungen für alle in der kollaborativen Wirtschaft ausgeübten Tätigkeiten und für die entsprechenden traditionellen Tätigkeiten zu gewährleisten. Es gilt, Verzerrungen auf Märkten zu vermeiden, auf denen in traditioneller Form ausgeübte Tätigkeiten und Tätigkeiten der kollaborativen Wirtschaft koexistieren.

3.14.

Schließlich könnte es sich als sinnvoll und förderlich für das Wachstum der kollaborativen Wirtschaft erweisen, Mindestschwellen festzulegen, unterhalb derer bestimmte Tätigkeiten als nicht gewerblich und wirtschaftlich nicht relevant gelten und deshalb Steuerbefreiungen in Anspruch nehmen können. Es ist allerdings wichtig, dass diese Schwellenwerte auf eine angemessene Weise nach einer gründlichen Folgenabschätzung festgelegt werden.

4.   MwSt. und kollaborative Wirtschaft

4.1.

In Bezug auf die MwSt. ist es von ausschlaggebender Bedeutung, das Konzept des Steuerpflichtigen genau zu definieren und zu ermitteln, ob dieser einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht. Darüber hinaus lässt sich bislang nur schwer festlegen, wie Transaktionen der kollaborativen Wirtschaft, die nicht mit Zahlungen, sondern mit nicht monetären Gegenleistungen bzw. Gegenwerten einhergehen, steuerlich zu behandeln sind, beispielsweise solche, die auf der Nutzung der persönlichen Nutzerdaten und der Wertgewinnung aus diesen Daten beruhen.

4.2.

Genauer gesagt muss für Mehrwertsteuerzwecke anhand des Entgelts für die erbrachten Dienstleistungen unterschieden werden: a) Situationen, in denen die Dienstleistungen gegen Zahlung eines Geldbetrags erbracht werden, b) Situationen, in denen die Vergütung nicht in einer Geldzahlung besteht, sondern in einer anderen Dienstleistung oder einer nicht monetären Vergütung, und c) Situationen, in denen die Dienstleistung unentgeltlich ohne jedwede Gegenleistung erbracht wird (1).

4.3.

In Bezug auf die praktischen Umstände, die möglicherweise unter b) fallen, fordert der EWSA sorgfältig zu prüfen, ob die Tätigkeiten der kollaborativen Plattformen der MwSt.-Pflicht unterliegen.

4.4.

In diesem Zusammenhang hält der EWSA die erste von der MwSt.-Expertengruppe der Europäischen Kommission durchgeführte Studie zum Thema „VAT treatment of the sharing economy“ für zweckmäßig und spricht sich für weitere Überlegungen in dieser Richtung aus.

4.5.

Darüber hinaus sollten die Europäische Kommission und die nationalen Steuerbehörden Maßnahmen zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Koordinierung im Hinblick auf die Anwendung der Mehrwertsteuervorschriften in der kollaborativen Wirtschaft fördern, um einheitliche Vorgehensweisen zu schaffen, für die Durchsetzung nützliche Informationen auszutauschen und Steuerbetrug und Steuerumgehung zu vermeiden.

4.6.

Nach Ansicht des EWSA ist es wichtig zu prüfen, ob die bevorstehende Umsetzung der Richtlinie über bestimmte Anforderungen für Zahlungsdienstleister im Zusammenhang mit der Aufdeckung von Mehrwertsteuerbetrugsfällen im Hinblick auf die Berichterstattungspflichten auch für die Zwecke der direkten Besteuerung verwendet werden kann, und zwar sowohl bei Kreditkartenzahlungen im Internet, als auch bei Zahlungen über direkte Banküberweisungen und andere Arten der unverzüglichen Zahlung.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  MwSt.-Expertengruppe, Sitzung vom 1. April 2019 — taxud.c.1(2019)2026442 — EN, VAT Treatment of the sharing economy, VEG 081.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/67


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Europäischen Klimapakt“

(Sondierungsstellungnahme)

(2020/C 364/10)

Berichterstatter:

Dimitris DIMITRIADIS

Mitberichterstatter:

Peter SCHMIDT

Befassung

Europäische Kommission, 11.3.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

29.6.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

206/4/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Wir befinden uns im Klimanotstand. Angesichts der globalen Gesundheitskrise und der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise infolge der COVID-19-Pandemie muss die EU ihr Bekenntnis zur Umstellung auf eine nachhaltige, resiliente, klimaneutrale und ressourceneffiziente Ökonomie des Wohlergehens bekräftigen. Wir brauchen eine tiefgreifende Umgestaltung von Kultur, Infrastruktur, Verhalten, Partizipation und Lebensgewohnheiten, die zwar Veränderungen für die Bürgerinnen und Bürger bedeutet, aber auch in vieler Hinsicht ihre Handlungskompetenz stärkt.

1.2.

Der Klimawandel ist eine Bedrohung für uns alle, aber wie die Pandemie wirkt sich auch der Klimawandel am stärksten auf die schwächsten und am stärksten ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen aus. Bei diesem Wandel darf niemand zurückgelassen werden.

1.3.

Der EWSA betont, dass die aktive Teilhabe aller Teile der Gesellschaft — Unternehmen, Arbeitnehmer, Wissenschaftler, Verbraucher und Bürger sowie ihre Organisationen — eine entscheidende Voraussetzung ist, um den Übergang zur Klimaneutralität auf den Weg zu bringen.

1.4.

Der EWSA schließt sich daher der Forderung an, dass die Europäische Union sich auf die Erreichung von Klimaneutralität bis 2050 festlegen und dementsprechend ihr Emissionssenkungsziel für 2030 anpassen sollte. Laut Bericht des UN-Umweltprogramms (UNEP) zu den globalen Emissionen (Emissions Gap Report) 2019 müssen die weltweiten Emissionen ab sofort um 7,6 % jährlich gesenkt werden, um die globale Erwärmung auf 1,5 oC zu begrenzen. Umgerechnet würde dies ein Emissionsreduktionsziel von mindestens 68 % bis 2030 bedeuten.

1.5.

Auf allen Ebenen muss ein Übergang zu einem partizipativen Modell erfolgen. Durch die Umsetzung des Klimapakts hat die Kommission eine maßgebliche Gelegenheit — und Verpflichtung — einen modellhaften innovativen Ansatz zu entwickeln, der die Aktionen, die in der Zivilgesellschaft in Gemeinschaften, Städten und Regionen bereits stattfinden, abbildet, unterstützt und inspiriert.

1.6.

Wenn die Partizipation thematisch zu eng eingegrenzt ist bzw. nicht zulässt, das ganze Ausmaß des Wandels auszuloten, oder wenn das Ergebnis von der Institution, die das betreffende Modell eingeführt hat, einfach außer Acht gelassen werden kann, dann bewirkt sie lediglich, dass engagierte Menschen abgelenkt und desillusioniert werden.

1.7.

Europa muss den für den Schutz des Klimas erforderlichen systemischen Wandel durch (technologische und soziale) Innovationen katalysieren und das Angebot an Innovationen mit den Akteuren auf der Nachfrageseite, Verantwortungsträgern und Wandelwilligen vernetzen. Der digitale Wandel sollte an den Nachhaltigkeitszielen ausgerichtet werden, um Risiken, auch für die Wahrung der Arbeitnehmerrechte, zu vermeiden (1). Die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte in Verbindung mit dem europäischen Grünen Deal (EGD) bietet die Chance, einen gerechten Übergang mit dem Ziel hochwertiger Arbeitsplätze für alle zu gewährleisten.

1.8.

Die Klimaschutzakteure der Zivilgesellschaft haben vor allem mit folgenden Problemen zu kämpfen: fehlender Zugang zu Finanzierung, fehlendes Fachwissen, Personalmangel, fehlende Anerkennung und fehlendes kohärentes Narrativ der EU und der nationalen Regierungen.

1.9.

Die Verwirklichung der Klimaziele der EU und der internationalen Gemeinschaft erfordert umfangreiche Finanzmittel. Die Mittel des EGD (öffentliche und private Mittel) und die 750 Mrd. EUR des Aufbaufonds mit einer Anbindung an das Europäische Semester sollten auf einen nachhaltigen Aufbau unter Berücksichtigung von Klimamaßnahmen ausgerichtet sein.

1.10.

Bei der Planung des Wiederaufbaus nach der COVID-19-Krise sollte die Finanzierung in allen Bereichen standardmäßig an Nachhaltigkeitsauflagen gebunden werden, um eine Ausrichtung auf die Agenda 2030 der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung und das Übereinkommen von Paris sicherzustellen. Bei diesem Wiederaufbau sollte es nicht um die Wiederherstellung des Vorkrisenzustands gehen, sondern um den Aufbruch in eine neue und bessere Welt.

1.11.

Alle Interessenträger sind auf Kapazitätsaufbau und technische Unterstützung angewiesen, um die Weichen für eine widerstandsfähigere und nachhaltige Zukunft stellen zu können. Die Einrichtung eines EU-Forums für Klimaschutzfinanzierung würde den Zugang zu Finanzmitteln fördern und Hindernisse abbauen.

1.12.

Der EWSA schlägt vor, eine Plattform der Interessenträger für den Europäischen Klimapakt zu errichten, die auf Inklusion, Transparenz und einer echten Teilhabe und Eigenverantwortung der Klimaschutzakteure auf allen Ebenen gründet.

1.13.

Der europäische Klimapakt sollte darauf ausgerichtet sein, die Handlungskompetenz der Menschen zu fördern, damit sie durch Forschung, Erprobung und Demonstration systemische Veränderungen herbeiführen können. Ein Mehrebenenansatz, Zukunftsentwürfe, Narrative und Entwicklungspfade werden allesamt entscheidend sein. Ein breitgefächertes Spektrum an Klimaschutzinitiativen sollte gefördert und begleitet werden.

2.   Einleitung

2.1.

Die Lösung der Klima- und Umweltprobleme wird immer dringender und macht eine drastische Überarbeitung der aktuellen, nicht nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Konzepte erforderlich. Die COVID-19-Pandemie hat verdeutlicht, dass es nicht damit getan ist, unsere Lebensweisen und Systeme ein bisschen anzupassen. Grundlegende Veränderungen der Produktionsmethoden, die sich auf Unternehmen, Arbeitnehmer und Arbeitsorganisation auswirken, hatten bereits vor der Pandemie eingesetzt und könnten in der Folge beschleunigt werden. Die Europäische Kommission nahm den EGD als neuen Fahrplan für die Umstellung auf ein nachhaltiges, saubereres, sichereres und gesünderes Wirtschaft-, Sozial- und Finanzierungsmodell für die EU an.

2.2.

Nach der COVID-19-Krise müssen die Maßnahmen für Erholung und Wiederaufbau und die dafür eingesetzten Mittel die EU aus einem kohlenstoffintensiven Zukunftsentwurf befreien und dazu eine Verpflichtung auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit zugrunde legen. Maßnahmen für die Zeit nach der Krise müssen darauf ausgelegt werden, die Belastbarkeit der Systeme zu verstärken, die biologische Vielfalt zu schützen und wiederherzustellen, der öffentlichen Gesundheit Vorrang einzuräumen und dabei niemanden zurückzulassen sowie die Weichen für eine Ökonomie des Wohlergehens zu stellen. Der EGD seinerseits darf nicht aufgegeben oder verzögert, sondern muss mit Nachdruck verfolgt werden.

2.3.

Der Erfolg des EGD wird weitgehend davon abhängen, dass die EU ihn ihren Bürgerinnen und Bürgern vermitteln kann. Deshalb will die Kommission einen europäischen Klimapakt ins Leben rufen, um verschiedene Akteure zu beteiligen, u. a. die Regionen, lokalen Behörden und Gemeinschaften, die Zivilgesellschaft, Bildungseinrichtungen, Unternehmen und individuelle Bürgerinnen und Bürger.

3.   Notwendige Klimakommunikation mit der Zivilgesellschaft und den Bürgerinnen und Bürgern

3.1.

Wir stehen vor dem globalen Klimanotstand. Die Regierungen haben bislang nicht angemessen auf die Klimakrise reagiert und die Welt ist nicht auf Kurs für die Ziele des Übereinkommens von Paris und die Nachhaltigkeitsziele (SDG). Junge Klimaaktivisten und andere zivilgesellschaftliche Akteure haben dezidiert weitaus ehrgeizigere und dringende Klimaschutzmaßnahmen gefordert. Es ist die Aufgabe der Entscheidungsträger, die die Agenda 2030 und das Übereinkommen von Paris unterzeichnet haben, diese Forderungen unverzüglich aufzugreifen, in entschiedene ehrgeizige politische Beschlüsse umzusetzen und auf ein neues Modell für inklusives Klimahandeln unter aktiver Einbeziehung sämtlicher Interessenträger umzusteigen.

3.2.

Der EWSA schließt sich daher der Forderung an, dass die Europäische Union sich auf die Erreichung von Klimaneutralität bis 2050 festlegen und dementsprechend ihr Emissionssenkungsziel für 2030 (2) anpassen sollte. Er erwartet, dass sich das neue Ziel für 2030 auf eine umfassende Überprüfung und angemessene Folgenabschätzung stützen wird. Außerdem sprechen seiner Meinung nach triftige Gründe für ein Reduktionsziel von mindestens 55 % bis 2030, damit die EU ihren Teil zu den notwendigen massiven weltweiten Emissionssenkungsanstrengungen beiträgt. Bspw. ist laut dem Bericht des UN-Umweltprogramms (UNEP) zu den globalen Emissionen (Emissions Gap Report) 2019 (3) bis 2030 ein noch viel ehrgeizigeres Emissionssenkungsziel erforderlich, um das im Übereinkommen von Paris festgelegte 1,5 oC-Ziel zu erreichen (4).

3.3.

Bei einer Eurobarometer-Erhebung 2019 gaben 93 % der Befragten an, dass sie den Klimawandel für ein ernstes Problem halten, und 79 % bezeichneten ihn als ein sehr ernstes Problem. Eine breite Mehrheit der Befragten hielt es für wichtig, dass ihre nationale Regierung ehrgeizige Ziele für die verstärkte Nutzung erneuerbarer Energieträger setzt (92 %) und die Energieeffizienz verbessert (89 %).

3.4.

Mit dem Klimapakt sollten die Menschen in Europa in die Lage versetzt werden, den im EGD skizzierten Zukunftsentwurf einer wohlhabenden, inklusiven und klimaresilienten Gesellschaft mit einer klimaneutralen Kreislaufwirtschaft bis 2050 umzusetzen. Laut dem Sonderbericht „1,5 oC Globale Erwärmung“ des Weltklimarats sind rasche, weitreichende und bislang beispiellose Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft erforderlich. Schrittweise Veränderungen werden nicht ausreichen. Ein verengter Blickwinkel auf die Reduzierung der CO2-Emissionen behindert das Engagement und die Überlegungen an der Basis und bremst erheblich die Umsetzung kreativer Veränderungen. Wir brauchen jetzt eine grundlegende Transformation der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzsysteme, um die Defossilierung exponentiell zu steigern und die Klimaresilienz zu stärken. Hierfür werden umfassende und vielfältige Narrative als Inspirationsquelle gebraucht, die erklären, warum die Welt sich wandeln muss.

3.5.

In der aktuellen weltweiten Krise infolge der COVID-19-Pandemie hat sich klar gezeigt, dass die Regierungen fähig sind, drastische Maßnahmen zur Eindämmung einer existenziellen Bedrohung zu ergreifen, und dass die Menschen zumindest kurzfristig imstande sind, sich an die neuen, durch diese Maßnahmen auferlegten Beschränkungen ihres Alltags anzupassen. Aber auch Gemeinschaften, Unternehmen, Sozialpartnern und anderen nichtstaatlichen Akteuren kommt bei der Bewältigung der Pandemie eine wichtige Rolle zu, denn sie können häufig besser Bedürfnisse erkennen und schneller, wirksamer und kreativer bedarfsgerechte Lösungen entwickeln und umsetzen, als dies in Top-down-Verfahren möglich wäre.

3.6.

Die nächste Etappe zur Bewältigung der Folgen von COVID-19 birgt enorme Chancen, aber auch enorme Risiken. Die wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen zur Unterstützung und Wiederankurbelung der europäischen Wirtschaft müssen das EU-weite Klassifikationssystem für nachhaltige Investitionen (Taxonomie) berücksichtigen und denjenigen Finanzmittel zukommen lassen, die bereits nachhaltig handeln oder aber Nachhaltigkeitspotenzial aufweisen und sich verpflichten, umgehend die erforderlichen Veränderungen zu ermitteln und durchzuführen und sich dabei kontrollieren zu lassen.

3.7.

Die durch COVID-19 verursachte dramatische Notsituation, die zur Aussetzung der Haushaltsvorschriften geführt hat, zeigt, dass ein Perspektivenwechsel möglich ist, wenn Menschenleben, ganze Volkwirtschaften und den Fortbestand des Lebens auf der Erde auf dem Spiel stehen. Bei der Vorstellung eines nur auf dem Streben nach Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beruhenden sozialen Fortschritts werden wesentliche Aspekte, die indes für das Wohlergehen des Einzelnen und der Gesellschaft von Bedeutung sind, nicht berücksichtigt und ökologischen und sozialen Erwägungen nicht angemessen Rechnung getragen. Deshalb muss die Umstellung von der BIP-orientierten Wirtschaftsweise auf die Ökonomie des Wohlergehens vollzogen werden (5)(6).

3.8.

Eine Möglichkeit zur Förderung von Klimaschutzbemühungen ist die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für ein verstärktes Klimahandeln nichtstaatlicher Akteure, also z. B. von verschiedenen Arten von Unternehmen, darunter kleine, mittlere und Kleinstunternehmen, Sozialpartner, Investoren, Genossenschaften, Städte und Regionen, Gewerkschaften, lokale Gemeinschaften und Bürgervereinigungen, Landwirte, Schulen, Glaubensgemeinschaften, Jugendgruppen und andere Nichtregierungsorganisationen.

3.9.

Ein solcher geeigneter Rahmen entsteht, wenn Konsultation und Top-down-Einbeziehung durch Ko-Design, Ko-Kreation und eigenverantwortliches Handeln ersetzt werden. Die gängigen Konsultationsmodelle sind meist nur auf sehr begrenzte, angemessen ausgestattete gesellschaftliche Gruppen ausgerichtet. Einzelpersonen, Organisationen und Unternehmen, die den größten Nutzen vom Wandel haben und am meisten dazu beitragen können, muss echte Gelegenheit zur Mitwirkung an der Beschlussfassung gegeben werden, wenn sie darin Zeit und Energie investieren sollen.

3.10.

2018 sprach sich der EWSA für einen „europäischen Dialog über nichtstaatliche Klimaschutzmaßnahmen“ aus (7). Der Dialog sollte nicht nur zum Ziel haben, Maßnahmen bekannt zu machen und zu präsentieren, sondern auch, auf die Bedürfnisse nichtstaatlicher Akteure einzugehen und neue Partnerschaften zwischen ihnen und verschiedenen staatlichen Ebenen anzuregen, Peer-Learning, Schulungen und gegenseitige Beratung zu fördern und Zugang zu Finanzierung zu erleichtern.

3.11.

Der EWSA schlug vor (8), einen ständigen Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern einzurichten, der obligatorischer Bestandteil der Vorbereitung aller wichtigen politischen Entscheidungen und relevanten Initiativen auf allen Ebenen sein sollte.

3.12.

Die Europäische Kommission hat diese Empfehlungen bislang nicht befolgt (9). Der Klimapakt bietet den Institutionen Gelegenheit, in enger Zusammenarbeit einen Förderrahmen für die Einbeziehung der Zivilgesellschaft und der Bürger zu schaffen, dazu bei den bestehenden Konsultationsverfahren anzusetzen und diese weiterzuentwickeln.

4.   Erkenntnisse aus bestehenden Verfahren für die Beteiligung der Zivilgesellschaft und Bürger

4.1.

Beispiele für Bürgerversammlungen, Bürgerdialoge und vergleichbare Mitwirkungsverfahren auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene (10) veranschaulichen die Fähigkeit und den Wunsch der Bürgerinnen und Bürger, bei der Suche nach Auswegen aus der Klimakrise Verantwortung zu übernehmen. Häufig führen breiter angelegte partizipative Ansätze mit einem sorgfältig abgesteckten Rahmen zu beträchtlichen Nachhaltigkeitsgewinnen, ohne dass notwendigerweise die Klimakrise thematisiert wird. Sie zeugen nicht nur von dem großen Verlangen nach partizipativer Demokratie, sondern auch von der Fähigkeit der Regierungen, entsprechende Foren einzurichten und ihre Vorschläge politisch umzusetzen.

4.1.1.

2019 begannen 150 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte französische Bürgerinnen und Bürger darüber zu beraten, wie bis 2030 „im Geiste der sozialen Gerechtigkeit eine Verringerung der Treibhausgasemissionen um mindestens 40 % gegenüber 1990“ erreicht werden kann. Dieser Bürgerkonvent tagt im Sitz des französischen Rats für Wirtschaft, Soziales und Umwelt. Die Regierung will zu den vom Konvent erarbeiteten Vorschlägen öffentlich Stellung nehmen und einen ersten Zeitplan für ihre Umsetzung aufstellen (11).

4.1.2.

Der 2016 eingerichteten irischen Bürgerversammlung (Citizens‘ Assembly) gehören 100 Bürgerinnen und Bürger an, die zufällig ausgewählt und für die irische wahlberechtigte Bevölkerung repräsentativ sind. Die Bürgerversammlung wurde beauftragt, über Themen vom verfassungsmäßigen Abtreibungsverbot bis hin zu der Frage, wie Irland Vorreiter im Klimaschutz werden kann, zu beraten. Der parlamentarische Ausschuss, der sich mit den Empfehlungen der Bürgerversammlung zum Klimawandel befasste, beeinflusste maßgeblich den im Juni 2019 veröffentlichten wegweisenden irischen Klimaschutz-Aktionsplan.

4.1.3.

In den beiden größten Städten Spaniens wurden Bürgerdialoge und lokale Foren eingerichtet, um die Bürgerinnen und Bürger sowie die zivilgesellschaftlichen Organisationen umfassender an bestimmten haushaltspolitischen Entscheidungen zu beteiligen und gemeinsam mit ihnen Ideen für die Zukunft ihrer Stadt zu entwickeln.

4.1.4.

Der im dänischen Energie-, Versorgungs- und Klimaministerium angesiedelte Jugendklimarat strebt ein Umdenken in der Klimapolitik an und berät den Umweltminister bei der Entwicklung künftiger Klimaschutzlösungen.

4.1.5.

Die polnische Stadt Gdańsk (Danzig) hat drei Bürgerversammlungen zu den Themen Anpassung an Extremwetterereignisse, Verringerung der Luftverschmutzung und Verbesserung der Bürgerbeteiligung organisiert.

4.1.6.

Am ersten finnischen Bürgerpanel zur nachhaltigen Entwicklung in Finnland nahmen 500 Bürgerinnen und Bürger teil und machten eine diesbezügliche Bestandsaufnahme. Die Ergebnisse werden von der finnischen Regierung und dem finnischen Parlament in der Nachhaltigkeitspolitik berücksichtigt.

4.1.7.

In Italien brachten Vertreter der Zivilgesellschaft nach der COP 25 einen Legislativvorschlag ein, eine Bürgerversammlung nach französischem Vorbild einzuberufen. Auch im Vereinigten Königreich findet mit der Bürgerversammlung „Climate Assembly UK: the path to net zero“ ein solcher Prozess statt.

4.1.8.

In Bologna, Italien, richtete die Stadtverwaltung ein „Ufficio Immaginazione Civica“ ein, um das Engagement der Bürgerinnen und Bürger zu fördern. In sechs „Labors“ werden über Open Space und andere Tools Zukunftsentwürfe entwickelt. Wenn tragfähige Projektideen entstehen, schließt die Stadtverwaltung mit dem betreffenden Stadtviertel einen „Pakt“ zur Umsetzung. In den vergangenen fünf Jahren sind so mehr als 500 Pakte geschlossen worden, um bspw. neue Bänke an Straßen aufzustellen oder noch weitaus größere und ehrgeizigere Vorhaben durchzuführen. Auch wird auf diesem Wege eine partizipative Finanzierung geregelt.

4.2.

Über viele weitere Basisinitiativen werden die Menschen vor Ort erfolgreich und beispielhaft mobilisiert, um eine nachhaltigere Zukunft zu gestalten. Die „Quartiers Durables“ (nachhaltige Stadtviertel) in Brüssel, die im Scottish Communities Climate Action Network vernetzten 120 Klimaschutz-Interessengruppen, die Erneuerbare-Energien-Genossenschaft (RESCoop) Coopérnico in Portugal und die Transition-Bewegung, die mittlerweile in über 50 Ländern in Form bürgerschaftlicher Initiativen zur Stärkung der Resilienz aktiv ist, regen Menschen an, ihr Handeln und ihre Lebensweise zu überdenken. Das Aktionsprogramm „Communities for Future“ des Europäischen Netzwerks für Initiativen lokaler Akteure gegen Klimawandel und für Nachhaltigkeit (Ecolise), das im Sommer anlaufen soll, kann dazu beitragen, den institutionellen Rahmen für die Beteiligung der Öffentlichkeit abzustecken.

4.3.

Auf europäischer Ebene ist eine strukturierte zivilgesellschaftliche Teilhabe notwendig und sollte im Rahmen eines klaren Mandats zur Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Entwicklung, Umsetzung und Überwachung von Maßnahmen und Strategien zur Erreichung von Klimaneutralität sichergestellt werden.

4.3.1.

Die Multi-Stakeholder-Plattform für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in der EU leistete einen wichtigen Beitrag, wies aber Raum für Verbesserungen auf, bspw. hinsichtlich ihrer Mittelausstattung, der Sitzungshäufigkeit, der eigenständigen Agendasetzung, der Möglichkeiten für einen ausführlicheren Austausch sowie für Beteiligung und der Erleichterung häufigerer, transparenter und zugänglicher Konsultationen der Öffentlichkeit.

4.3.2.

Die Europäische Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft, die gemeinsam vom EWSA und der Europäischen Kommission betrieben wird, bietet einem breiten Spektrum von Interessenträgern Raum für den Austausch von bewährten Verfahren und Ideen sowie zum Aufbau wertvoller Netze. Von der Multi-Stakeholder-Plattform für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in der EU unterscheidet sie sich insofern, als sie von den Interessenträgern eigenverantwortlich betrieben wird. Diesbezüglich sollte sie als Vorbild dienen.

4.4.

Die Ziele des Übereinkommens von Paris können ohne starkes Engagement der Sozialpartner auf allen Ebenen und insbesondere in stark von Dekarbonisierung und Digitalisierung betroffenen Branchen nicht erreicht werden. Die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte gekoppelt an den EGD bietet die Chance, einen gerechten Übergang mit dem Ziel hochwertiger Arbeitsplätze für alle zu gewährleisten. Der soziale Dialog zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern bietet sich als ein ideales Forum zur Sensibilisierung für die Klimakrise an. Sie sind die wichtigsten Protagonisten des mit dem EGD anvisierten sozial gerechten Wandels der Produktions- und Geschäftsmodelle. Die Möglichkeiten erstrecken sich von europäischen Gipfeltreffen für den sozialen Dialog über grenzübergreifende Dialoge, die die europäische soziale Integration fördern, bis hin zu Tarifverträgen für Branchen und Unternehmen. Die Arbeitnehmerbeteiligung ist ein integraler Bestandteil der Demokratie am Arbeitsplatz und bietet Arbeitnehmern Gelegenheit, aktiv an den Entscheidungen an ihrem Arbeitsplatz mitzuwirken, die einen positiven Beitrag zum Klimaschutz leisten können.

4.5.

Im Rahmen der Klima-KIC (Wissens- und Innovationsgemeinschaft) des Europäischen Innovations- und Technologieinstituts werden unternehmerische Experimente und „Deep Demonstration“-Projekte zur Förderung des systemischen Wandels entwickelt, durchgeführt und vernetzt. Die EIT-Klima-KIC verwaltet Experimente, die neue Denkweisen erschließen, die Wirkkraft von neuen Technologien, Netzwerken und Community-Mitgliedern bündeln und exponentiell steigern und so dem Wandel durch Wissenserwerb vorauseilen wollen (12).

5.   Erkenntnisse aus Reaktionen der Wirtschaft

5.1.

Innovation bezieht sich auf neue Entwicklungen bei Diensten und Produkten auf dem Markt oder in der Öffentlichkeit, die unerfüllten Bedürfnissen entsprechen oder Probleme der Gegenwart lösen. Technologische Innovation betrifft die technologischen Aspekte eines Produkts oder Dienstes. Soziale Innovationen sind neue soziale Praktiken, die darauf abzielen, den sozialen Bedürfnissen, bspw. in Verbindung mit Arbeitsbedingungen, Bildung, Gemeinschaftsentwicklung oder Gesundheit, besser gerecht zu werden als die bestehenden Lösungen. Die Digitaltechnik trägt über IKT-Anwendungen wie Online-Netze und andere digitale Instrumente wesentlich zu sozialen Innovationen bei.

5.2.

Alle Interessenträger sollten zu vertretbaren Kosten am Prozess der systemischen Innovation teilhaben können, um gemeinsam die Lösungen zu entwickeln, die die notwendige Nachhaltigkeitswende ermöglichen. Die finanzielle Leistbarkeit ist eine Voraussetzung dafür, dass bei der Umsetzung des europäischen Grünen Deals der soziale Zusammenhalt sichergestellt und niemand zurückgelassen wird. In diesem Sinn sollten gemeinwohlrelevante Aspekte des systemischen Wandels von der öffentlichen Hand finanziert oder finanziell unterstützt werden, was zur verstärkten Mobilisierung privater Mittel für Klimaschutzinvestitionen beitragen kann.

5.3.

Gemeinschaften, denen es gelingt, Probleme richtig zu analysieren, Lösungsmöglichkeiten auszuloten und Lösungskonzepte entsprechend den Erfordernissen und Gegebenheiten verschiedener Orte und Zusammenhänge auszuwählen, sind auch bei systemischen Innovationen erfolgreich. Demnach müssen die über diese Kompetenzen verfügenden Gemeinschaften in Europa gestärkt und geeignete Rahmenbedingungen für ein verstärktes Tätigwerden nichtstaatlicher Akteure geschaffen werden.

5.4.

Es werden dringend innovative Finanzierungsmechanismen benötigt, um dem Potenzial und den Herausforderungen gemeinschaftlicher Initiativen für systemische Innovation gerecht zu werden, die auf flexible und grundlegende Unterstützung angewiesen sind, um ihre Tragfähigkeit sicherzustellen, auf Risiko-Startkapital im Falle größerer Projekte sowie auf professionelles Mentoring und sachkundige Unterstützung. Durch den Klimapakt könnte ein äußerst nützliches Forum für soziale Innovatoren entstehen, um Rückmeldungen zu politischen Maßnahmen und wirtschaftlichen Hemmnissen zu geben, die sie behindern und benachteiligen und häufig unverzichtbare wandelorientierte Vorhaben undurchführbar machen.

5.5.

Die Reaktionen von Unternehmen bieten eine wichtige Orientierung, so z. B.:

die Bewerbung einer Secondhand-Verkaufslinie als Recyclingstrategie durch Wegwerfmode produzierende multinationale Unternehmen;

die Beratung großer Mineralöl- und Versicherungsgesellschaften, die ihre Geschäftstätigkeit umorientieren müssen.

5.6.

Als Beispiele für die Reaktionen des Finanzsektors wären u. a. folgende zu nennen:

Die Entscheidung von Investitionsfonds, nicht in klimaunverträgliche Projekte zu investieren;

das von acht Zentralbanken und Aufsichtsbehörden gegründete Netzwerk für die Ökologisierung des Finanzsystems (Network for Greening the Financial System).

6.   Informationsaustausch und öffentliches Klimaschutzverständnis

6.1.

Es müssen direkte Dialoge mit den Bürgerinnen und Bürgern aufgenommen werden, um sie für die Notwendigkeit des Übergangs zu nachhaltigeren Gesellschaften und gesünderen lokalen Gemeinschaften zu sensibilisieren. Diese Dialoge sind am sinnvollsten, wenn sie auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene geführt werden. Allerdings wäre eine Orientierung, Koordinierung und Unterstützung seitens der EU-Ebene wichtig.

6.2.

Es sollte in erster Linie Aufgabe der einzelnen Länder sein, ein ihrer Umwelt und deren Erfordernissen angepasstes System für das Umweltmanagement zu entwickeln, das auch der nachhaltigen Entwicklung ihres Landes Rechnung trägt. Die Anerkennung der Rechte der Natur wären ebenfalls ein wichtiges Element (13).

6.3.

Jeder Mechanismus auf EU-Ebene sollte gemeinsam mit den Anwendern gestaltet werden. Bei der Modellierung sollten die auf anderen Ebenen existierenden partizipativen Ansätze abgebildet und inspiriert werden. Die Auslegung und Nutzung innovativer Räume für kollaborative Zusammenarbeit, inspirierende Erzähltechnik und die Nutzung innovativer Technologie müssen fachlich sowie finanziell unterstützt werden. Der Erfolg des Klimapakts hängt davon ab, dass die beteiligten Gemeinschaften inspirierende Narrative entwickeln, um die von ihnen angestrebte veränderte Zukunft zum Leben zu erwecken, bestehende Bedürfnisse und Wünsche auszuloten und zu begreifen und die Handlungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger zu stärken.

6.4.

Voraussetzung für eine Netzwerkumgebung zur Förderung und Unterstützung von Klimaschutzmaßnahmen ist eine Online-Plattform, um Verfahren und Erfahrungen aus Vorhaben und Ansätzen auszutauschen. Durch die Förderung von Peer-Learning und gegenseitiger Beratung würde eine solche partizipative Plattform den Akteuren auch Hilfestellung bei der Überwindung regulatorischer Hindernisse geben. Durch Online-Kurse, Webinare und Workshops könnten Bildungs- und Schulungsmaßnahmen sowie Innovationen angeregt werden.

6.5.

Die Anerkennung und glaubwürdige Kommunikation bestehender Maßnahmen können ein starker Anreiz sein, Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen. Finanzmittel und andere Ressourcen, fachliche Unterstützung und Einflussmöglichkeiten auf arbeitsrelevante Entscheidungen können eine breitere Anwendung bewährter Ansätze bewirken.

6.6.

Klimaschutzbotschafter könnten beauftragt werden, Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren zu vermitteln, strategische/thematische Prioritäten zu setzen, Veranstaltungen zu organisieren und neue Klimaschutzmaßnahmen anzuregen.

6.7.

Solche „Klimapaktbotschafter“ könnten als Anlaufstellen für verschiedene Wirtschaftsbereiche dienen. Es sollten Sonderbotschafter für Jugendliche, für lokale Gemeinschaften sowie für Städte und Regionen bestellt werden. Botschafter auf EU-Ebene hätten einen anderen Auftrag als Botschafter auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene. Zwischen den verschiedenen Ebenen müsste eine Koordinierung stattfinden.

6.8.

Durch die Ernennung von Mitgliedern des EWSA und des AdR als EU-Botschafter ihrer zivilgesellschaftlichen Organisationen bzw. Wahlkreise könnten ihre ausgedehnten Netze in der Zivilgesellschaft und unter den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften genutzt sowie die Zusammenarbeit zwischen den beiden beratenden Einrichtungen und der Europäischen Kommission ausgebaut werden.

6.9.

Gewerkschaften und Unternehmensverbände sind an der Basis verankert und nehmen die demokratische Vertretung ihrer Mitglieder in verschiedenen Bereichen wahr. Sie sorgen maßgeblich dafür, dass die verschiedenen Maßnahmen entsprechend den Bedürfnissen der Arbeitnehmer und Unternehmen gestaltet und die Herausforderungen erkannt werden. Klimaschutzbotschafter auf verschiedenen Ebenen im Gewerkschafts- und Unternehmensumfeld könnten auf den Stärken des sozialen Dialogs aufbauen, den Austausch von Informationen fördern und Klimaschutzmaßnahmen anstoßen. Diese Tätigkeit setzt ein institutionelles Umfeld voraus, das die Rechte bei der Arbeit fördert.

6.10.

Der digitale Wandel verändert die Organisation und Produktionsabläufe in Unternehmen, und viele KMU haben mit gravierenden Mängeln bei der Digitalisierung zu kämpfen. Viele Arbeitnehmer sind besorgt über die Auswirkungen der Digitalisierung auf ihre Arbeitsplätze, die zum Anstieg der Arbeitslosigkeit und zu verstärkter Ungleichheit führen kann.

6.11.

Zur Förderung der Finanzierung sowie grüner Investitionen und zur Gewährleistung eines gerechten Übergangs im Rahmen des europäischen grünen Deals hat die Kommission eine Taxonomie entwickelt, um Investitionen in 8 große Wirtschaftsgruppen und 70 Tätigkeitsbereiche zu fördern, die ihre Produktion umfassend umstellen sowie die Anzahl und Qualität ihrer Arbeitsplätze einschneidend verändern werden. In dieser Taxonomie, dem Eckpfeiler des Investitionsplans für den europäischen Grünen Deal, wird nur einmal auf die Arbeitsrechte nach Maßgabe der grundlegenden ILO-Standards Bezug genommen.

7.   Schaffung echter und virtueller Räume für den Austausch von Klimawissen

7.1.

Der europäische Klimapakt sollte darauf ausgerichtet sein, die Handlungskompetenz der Menschen zu fördern, damit sie durch Forschung, Erprobung und Demonstration systemische Veränderungen herbeiführen können. Bildungs- und Schulungsprogramme müssen aufgelegt werden, die sich an das gesamte Spektrum der Zivilgesellschaft und sonstige nichtstaatliche Akteure richten. Es muss für eine bessere Kenntnis und ein besseres Verständnis der Klimaproblematik gesorgt werden, indem mehr in die Tiefe und in die Breite gegangen und die Qualität der diesbezüglichen Diskussionen und Gespräche unter den Interessenträgern verbessert wird.

7.2.

Es werden gebrauchsfertige Instrumente für eine strukturierte Auseinandersetzung mit den Herausforderungen benötigt, um das Potenzial von Nachhaltigkeitsinnovationen zu erschließen und Nachhaltigkeitsübergänge zu bewerkstelligen. Im Rahmen des Programms Horizont 2020 der Europäischen Kommission wurden zahlreiche einschlägige Instrumente entwickelt und erprobt. In multidisziplinären Zusammenhängen sollte als Ansatz Praxislernen durch eine anwendungsbezogene Nutzung der Instrumente gewählt werden.

7.3.

Der Umgang mit den Interessenträgern, ein Mehrebenenansatz, Zukunftsentwürfe und Entwicklungspfade sowie Nischenmanagement werden für einen dynamischen Klimapakt entscheidend sein. Mit dieser Struktur soll die Lösungsfindung erleichtert werden, indem ein Weg für die Systeminnovation zur Verwirklichung von Klimaschutz und europäischem Grünen Deal vorgezeichnet wird.

7.4.

Der Erfolg des Klimapakts wird u. a. davon abhängen, dass es Unternehmern und Unternehmen gelingt, finanzielle Fördermittel aus öffentlichen, philanthropischen und privaten Quellen zu mobilisieren. Diese Finanzmittel sollten zur Behebung des klimawandelrelevanten Marktversagens dienen. Sie können disruptive Veränderungen fördern und einen beachtlichen Umfang erreichen. Der multilaterale Förderrahmen der EU, zweckorientierte europäische und internationale öffentliche und private Fonds, die systemische Veränderungen in den Bereichen Klimaschutz und Klimafolgenanpassung antreiben wollen, kann zur Mobilisierung von Milliarden für innovatives Klimahandeln genutzt werden. Übergeordnetes Ziel sollte sein, Ressourcen zu generieren, Erfahrungen zusammenzutragen und Kompetenzen zu entwickeln, um konkrete Verbesserungen bei Emissionssenkungen und Klimaresilienz zu erreichen, die skalierbar sind, den Wandel antreiben können und Anlass zu Hoffnung geben. Der Klimapakt sollte ein Engagement des nationalen und internationalen Finanzsektors wie auch der einschlägigen multilateralen und privaten Fonds positiv aufnehmen. Zudem sollte das Steuersystem dem Grundsatz der umfassenden Förderung einer tragfähigen Ökonomie des Wohlergehens Rechnung tragen.

7.5.

Es sollte auch erwogen werden, im Rahmen bestehender zivilgesellschaftlicher Organisationen reale und virtuelle Klimaforen einzurichten, die dann über die Plattform der Interessenträger für den Klimapakt im Austausch stehen würden.

7.5.1.

Für den Aspekt Arbeitswelt wäre es angebracht, mit materieller Unterstützung der Kommission und unter Beteiligung der Gewerkschaften, Arbeitgeber und Verwaltungen auf europäischer und nationaler Ebene Beobachtungsstellen für Vorausschau, Analyse und Interpretation des Wandels in den Bereichen Arbeit, Organisation und Technologie, bezogen auf die acht Wirtschaftsgruppen der Taxonomie, einzurichten.

8.   Aufbau von Kapazitäten für die Erleichterung von Basisinitiativen

8.1.

Der allgemeine Rahmen sollte klar abgesteckt werden, um Widersprüche mit dem EGD zu vermeiden.

8.2.

Die Klimaschutzakteure der Zivilgesellschaft haben vor allem mit folgenden Problemen zu kämpfen: fehlender Zugang zu Finanzierung, fehlendes Fachwissen, Personalmangel, fehlende Anerkennung (14) und fehlendes kohärentes Narrativ der EU und der nationalen Regierungen.

8.3.

Diverse Interessenträger haben darauf hingewiesen, dass Klimaschutzmaßnahmen durch das komplexe Regulierungsumfeld und den hohen Verwaltungsaufwand behindert werden. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Basisinitiativen könnten durch Kapazitätsaufbau bei der Überwindung regulatorischer und administrativer Hemmnisse unterstützt werden.

8.4.

Wesentliche Voraussetzungen für den Betrieb einer „Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt“, die die Förderung von Klimaschutzmaßnahmen vor Ort zum Ziel hat, sind die materielle (technische Hilfe, Aufbau von Kapazitäten, Finanzierung usw.) und die nicht-materielle (Anerkennung, höherer Bekanntheitsgrad usw.) Unterstützung sowie die Förderung der Vernetzung und der Verknüpfung mit bestimmten Politikbereichen und Prozessen.

8.5.

Der Zugang zur Finanzierung von Klimaschutzprojekten wird den nichtstaatlichen Akteuren in verschiedener Weise erschwert, bspw. durch unrealistische Anforderungen hinsichtlich der Skalierbarkeit des Projekts, durch die Zurückhaltung privater Geldgeber bei der Projektfinanzierung und durch komplizierte Verfahren und Auflagen für die Mittelbeantragung und –nutzung (15). Weitere Erschwernisse sind die fehlende Kenntnis der Klimaschutzfinanzierungsmöglichkeiten, der Mangel an Verwaltungskapazitäten und fachlichem Know-how zur Sicherung der Finanzierung, finanzielle und regulatorische Auflagen, die Gewährleistung der Bankfähigkeit potenzieller Investitionen, politische Zwänge und Schwierigkeiten, allzu detaillierte Förderfähigkeitskriterien als Voraussetzung für die Bereitstellung von EU- und internationalen Mitteln zu erfüllen (16).

8.6.

Der EWSA hat vorgeschlagen, ein Forum für Klimaschutzfinanzierung einzurichten, in dem die zentralen Akteure zusammenkommen würden, um die Hauptanliegen zu erörtern, Hindernisse zu ermitteln, Lösungen zu konzipieren und die wirksamsten Verfahren für eine verbesserte Verteilung der Finanzmittel im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip auszumachen. Zurzeit läuft eine Studie (17), auf deren Grundlage ein Aktionsplan vorgeschlagen und letztlich der Zugang der nichtstaatlichen Klimaschutzakteure zur Finanzierung verbessert werden soll.

9.   Auf dem Weg zu einer Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt

9.1.

In Anbetracht der positiven Erfahrungen mit der Europäischen Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft schlägt der EWSA vor, auch für den europäischen Klimapakt eine entsprechende Plattform zu errichten.

9.2.

Die Plattform sollte sich auf folgende Grundsätze stützen: Inklusivität, Transparenz sowie echte Partizipation und eigenverantwortliche Teilhabe der Klimaschutzakteure vor Ort.

9.3.

Der EWSA fordert, den Übergang zu einer nachhaltigen, klimaneutralen und ressourceneffizienten Wirtschaft gerecht zu gestalten, damit keine Haushalte, Gemeinschaften, Regionen, Wirtschaftszweige und Minderheiten zurückgelassen werden (18). Zusammen mit der Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt sollte eine Beobachtungsstelle für den Übergang zur Klimaneutralität errichtet werden, um die Durchführung der EU-Klimapolitik auf nationaler und regionaler Ebene zu überwachen und Daten zur Unterstützung der Politikgestaltung auf allen Ebenen zu erheben.

9.4.

Der EWSA unterstützt die Veranstaltung von Bürgerversammlungen in den Mitgliedstaaten, um zu informieren, motivieren und Verständnis zu fördern und um alle Governance-Ebenen in klimapolitischen Fragen zu beraten. Die Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt könnte bewährte Erfahrungen bekanntmachen und Länder, Regionen und Städte, die ihrerseits Bürgerversammlungen einberufen möchten, beraten und über bewährte Verfahrensweisen informieren.

9.5.

Überdies könnte die Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt beauftragt werden, auf EU-Ebene eine Bürgerversammlung einzuberufen, die gemeinsam vom EWSA, AdR und Europäischen Parlament mit Unterstützung der Kommission organisiert würde.

9.6.

Wichtig wäre es, dass die Plattform auch als Knotenpunkt für Kapazitätsaufbau und Finanzierung fungiert und dementsprechend Beratungs-, Informations- und Bildungsangebote für Klimaschutzmaßnahmen und -strategien bereitstellt sowie den Zugang zu Finanzierung für kleine Projekte erleichtert. Der Knotenpunkt auf EU-Ebene und die nationalen Knotenpunkte könnten in Zusammenarbeit mit den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften eingerichtet werden.

9.7.

Der Online-Auftritt der Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt würde dazu beitragen, Räume für den Austausch von Informationen und Wissen zu schaffen sowie Vernetzung und Engagement zu fördern.

9.8.

Für die Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt wäre eine für die Interessenträger repräsentative Koordinierungsgruppe einzusetzen. Ihre Mitglieder würden anhand transparenter und klarer Kriterien ausgewählt, um Inklusivität und Repräsentativität zu gewährleisten, wobei gleichzeitig eine wirksame Governance bedacht werden müsste. Folgende Interessenträger sollten vertreten sein: EU-Institutionen und die Zivilgesellschaft, d. h. Unternehmen, Gewerkschaften, lokale und regionale Gebietskörperschaften, die Wissenschaftsgemeinschaft, die Finanzwelt, junge Menschen usw. Für Interessenträger von Institutionen und Bereichen, die über weniger Ressourcen verfügen, sollten ausreichende Mittel bereitgestellt werden, damit sie teilhaben und sich in die Entscheidungsfindung einbringen können.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Netz der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung (SDSN): „Six Transformations to achieve the Sustainable Development Goals“.

(2)  Die Berichterstatterin des EP für das Europäische Klimagesetz (COM(2020) 80 final), Jytte Guteland, schlägt „die Anhebung der klimapolitischen Vorgabe der Union für 2030 auf eine Emissionsreduktion um 65 % gegenüber 1990“ vor. „Folglich sollte die Kommission bis zum 30. Juni 2021 bewerten, wie die Rechtsvorschriften der Union zur Umsetzung dieses höheren Ziels entsprechend geändert werden müssten.“

(3)  Emissions Gap Report 2019.

(4)  Laut Bericht des UN-Umweltprogramms (UNEP) zu den globalen Emissionen (Emissions Gap Report) 2019 müssen die weltweiten Emissionen ab sofort um 7,6 % jährlich gesenkt werden, um die globale Erwärmung auf 1,5 oC zu begrenzen. Für die EU würde dies ein Emissionsreduktionsziel von mindestens 68 % bis 2030 bedeuten.

(5)  EWSA-Stellungnahme „Die nachhaltige Wirtschaft, die wir brauchen“ (ABl. C 106 vom 31.3.2020, S. 1).

(6)  Wohlfahrtsökonomik: Zweig der Wirtschaftswissenschaften, der die Wirtschaftspolitik unter dem Gesichtspunkt ihrer Auswirkungen auf das Wohlergehen der Gemeinschaft analysiert. Sie hat sich im 20. Jahrhundert als genau definierter Zweig der Wirtschaftstheorie etabliert.

(7)  EWSA-Stellungnahme „Förderung von Klimaschutzmaßnahmen nichtstaatlicher Akteure“ (ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 35).

(8)  EWSA-Stellungnahme „Strategie zur langfristigen Senkung der Treibhausgasemissionen der EU“ (ABl. C 282 vom 20.8.2019, S. 51).

(9)  Empfehlung bereits aus der EWSA-Stellungnahme „Schaffung eines Bündnisses der Zivilgesellschaft und der subnationalen Gebietskörperschaften zur Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens von Paris“ (ABl. C 389 vom 21.10.2016, S. 20).

(10)  https://www.thersa.org/discover/publications-and-articles/rsa-blogs/2018/07/our-call-for-action-on-deliberative-democracy.

(11)  https://www.conventioncitoyennepourleclimat.fr/en/.

(12)  Die „Deep Demonstrations“ der EIT-Klima-KIC können sich als Wachstumsvorteil erweisen und den ehrgeizigsten Verantwortungsträgern in Europa ihre Problemstellungen begreiflich machen. Designer werden beauftragt, das System abzubilden und die verschiedenen Stellen für Eingriffe in einem Portfolio darzustellen.

(13)  EWSA-Stellungnahme zum Reflexionspapier „Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Europa bis 2030“ (ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 95); EWSA-Stellungnahme Klimagerechtigkeit (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 22).

(14)  EWSA-Studie.

(15)  EWSA-Stellungnahme „Erleichterung des Zugangs nichtstaatlicher Akteure zur Klimaschutzfinanzierung“ (ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 14).

(16)  Rossi, L., Gancheva, M. and O'Brien, S., 2017.

(17)  Climate Finance Forum — modalities and first tasks, vom EWSA bei der Milieu Consulting SPRL in Auftrag gegebene Studie.

(18)  EWSA-Stellungnahme „Niemanden bei der Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zurücklassen“ (ABl. C 47 vom 11.2.2020, S. 30).


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

553. Hybrid-Plenartagung am 15./16. Juli 2020

28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/77


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Gleichstellungsstrategie“

(COM (2020) 152 final)

(2020/C 364/11)

Berichterstatterin:

Giulia BARBUCCI

Mitberichterstatterin:

Indrė VAREIKYTĖ

Befassung

Europäische Kommission, 22.4.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Präsidiumsbeschluss

18.2.2020

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

17.6.2020

Verabschiedung im Plenum

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

171/38/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist sich der Tatsache bewusst, dass die COVID-19-Pandemie geschlechtsspezifische Auswirkungen hat, und weist nachdrücklich auf die geschlechtsspezifische Dimension der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten hin. Dieser Aspekt muss in der neuen Gleichstellungsstrategie umfassend berücksichtigt werden. Die Europäische Kommission sollte die Gleichstellungsstrategie parallel zur Bewältigung der Auswirkungen von COVID-19 mithilfe maßgeschneiderter und gezielter politischer Maßnahmen umsetzen.

1.2.

Der EWSA empfiehlt die Annahme von Strategien zur durchgängigen Berücksichtigung von Gleichstellungsfragen (Gender-Mainstreaming) in allen für die strategische Planung und Leitung zuständigen Gremien und Einrichtungen und ruft die Kommission auf, die Mitgliedstaaten nachdrücklich dazu aufzufordern, denselben Ansatz zu verfolgen. Darüber hinaus spricht sich der EWSA dafür aus, die Geschlechtergleichstellung mittels eines bereichsübergreifenden Ansatzes anzugehen, der auch bei der Bekämpfung von Mehrfachdiskriminierung angewendet werden sollte.

1.3.

Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, für eine ausgewogene Beteiligung von Frauen und Männern an den beratenden und technischen Gremien zu sorgen, in denen im Zusammenhang mit COVID-19 politische Maßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft und zur Verhinderung sozialer und wirtschaftlicher Marginalisierung erörtert werden.

1.4.

Der EWSA ruft die Mitgliedstaaten außerdem auf, dafür zu sorgen, dass die Geschlechterperspektive vollständig in die COVID-19-Konjunkturmaßnahmen einbezogen wird, sowie die langfristigen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern im Rahmen eines strategischen und strukturellen Ansatzes anzugehen und die Teilhabe von Frauen auf allen Ebenen des Arbeitsmarktes zu fördern und zu verbessern.

1.5.

Der EWSA fordert ein stärkeres Engagement für die Geschlechtergleichstellung im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027. Diesem Ansatz muss auch bei der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte, der sechs Prioritäten der Kommission für den Zeitraum 2019-2024 sowie der Empfehlungen des Europäischen Semesters Rechnung getragen werden.

1.6.

Der EWSA unterstützt die von der Kommission erarbeitete Gleichstellungsstrategie und fordert sie auf, ein Instrument zur Koordinierung einzurichten, in das alle Mitgliedstaaten, Sozialpartner und Organisationen der Zivilgesellschaft eingebunden sind.

1.7.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungs- und Berufsberatung zu ergreifen, um das Bewusstsein für Genderfragen zu stärken und angemessene Ressourcen und Instrumente bereitzustellen, die zu einem geschlechtersensibleren Ansatz und einer Verringerung der geschlechtsspezifischen Segregation in Bildung und Beschäftigung führen.

1.8.

Der EWSA fordert Maßnahmen zur Beseitigung der digitalen Kluft zwischen den Geschlechtern und vollständigen Einbeziehung der Geschlechterperspektive in die Digitale Agenda und die KI-Agenda sowohl auf Ebene der EU als auch der Mitgliedstaaten, wofür eine spezifische Agenda sowie ein geschlechtersensibler Überwachungsmechanismus festgelegt werden sollten, der durch Indikatoren und eine nach Geschlechtern aufgeschlüsselte Datenerhebung unterstützt wird.

1.9.

Das geschlechtsspezifische Lohngefälle ist — wie sich während der COVID-19-Krise noch deutlicher gezeigt hat — nach wie vor eine der Hauptformen der geschlechtsspezifischen Ungleichheit und Diskriminierung. Der EWSA fordert die Kommission auf, den Vorschlag zur Einführung verbindlicher Maßnahmen für die Entgelttransparenz zwischen Frauen und Männern weiterzuverfolgen, und ist bereit, eine führende Rolle bei der Förderung einer Gender-Mainstreaming-Strategie für gleiches Entgelt zu übernehmen.

1.10.

Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, einen wirksamen Ansatz zu fördern, um jegliche Form von Gewalt gegen Frauen zu verhindern und diese zu schützen. Der EWSA befürwortet Maßnahmen zur Unterstützung und Annahme internationaler und europäischer Initiativen zur Verhinderung jedweder Gewalt gegen Frauen. Der EWSA ist bereit, mit den Sozialpartnern und zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammenarbeiten, um eine rasche Umsetzung solcher Initiativen zu gewährleisten.

1.11.

Der EWSA spielt eine Schlüsselrolle bei der Aufklärung und Sensibilisierung, trägt er doch bewährte Verfahren in Bezug auf Instrumente und organisatorische Infrastrukturen zur Verhütung und zum Schutz vor sexueller Belästigung zu Hause und am Arbeitsplatz zusammen und verbreitet diese unter den Sozialpartnern und zivilgesellschaftlichen Organisationen.

1.12.

Der EWSA empfiehlt einen systematischen Ansatz für die Pflegepolitik, der auch einige weitere Aspekte (Lohntransparenz, öffentliche Dienstleistungen, Infrastruktur, Besteuerung, Verkehr, Digitale Agenda und KI-Agenda sowie EU-Mittel) umfassen sollte. Die EU-Mitgliedstaaten sollten ihre Anstrengungen zur Verbesserung des Angebots, der Erschwinglichkeit und der Qualität von Plätzen in der frühkindlichen Bildung und Betreuung fortsetzen.

1.13.

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Mitgliedstaaten bei der Anhebung der Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Behinderungen zu unterstützen und so das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNCRPD) umzusetzen, und auch die Anhebung der Erwerbsbeteiligung anderer Gruppen von Frauen mit besonderem Schutzbedarf (darunter Roma und Migrantinnen) zu fördern.

1.14.

Chancengleichheit bei der Teilhabe ist für die repräsentative Demokratie auf allen Ebenen — der europäischen, nationalen, regionalen und lokalen — von entscheidender Bedeutung. Der EWSA unterstützt die gleichberechtigte Beteiligung und ein ausgewogenes Verhältnis von Frauen und Männern an Entscheidungsprozessen sowie im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben, darunter auch in Strukturen des sozialen und zivilgesellschaftlichen Dialogs. Um das Problem der unzureichenden Vertretung und Beteiligung von Frauen in Entscheidungs- und Beschlussfassungsgremien anzugehen, sind positive Schritte auf der Grundlage rechtlicher, haushaltspolitischer, freiwilliger, organisatorischer und kultureller Maßnahmen erforderlich.

1.15.

Der EWSA fordert den Rat erneut auf, die Beratungen über die Richtlinie zur Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern in Leitungsorganen von Unternehmen fortzusetzen.

1.16.

Der EWSA fordert die Medien- und Werbebranche auf, durch die Annahme von Verhaltenskodizes und Verfahren zur Gewährleistung der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern in Entscheidungsgremien eine ausgewogenere Vertretung von Frauen in Führungspositionen zu fördern und zum Abbau von Geschlechterstereotypen in Medieninhalten beizutragen.

1.17.

Der EWSA fordert das EIGE auf, einen Themenschwerpunkt zur Geschlechtergleichstellung in den Medien in den Gleichstellungsindex aufzunehmen, um geschlechtsspezifische Ungleichheiten herauszuarbeiten.

2.   Einleitung

2.1.

Die Gleichstellung der Geschlechter ist nicht nur ein Grundwert der Europäischen Union (1)‚ sondern auch ein verbindlicher Handlungsauftrag (2). Die Kommission hat die Gleichstellung von Frauen und Männern zu einem Leitprinzip sowie zu einem der Ziele ihres Mandats erklärt, doch zeigt die Datenlage (3)(4)(5)‚ dass es mit der Verwirklichung der Geschlechtergleichstellung in der EU nur sehr langsam vorangeht. Die vorliegende EWSA-Stellungnahme wurde als Reaktion auf die von der Kommission im März 2020 noch vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie ins Leben gerufene Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter (2020-2025) erarbeitet. Der EWSA ist sich bewusst, dass die COVID-19-Pandemie geschlechtsspezifische Auswirkungen hat, die in der Strategie für die Geschlechtergleichstellung berücksichtigt werden müssen. Es muss betont werden, dass diese Krise die bereits zuvor bestehenden geschlechtsspezifischen Ungleichheiten weiter verschärft. Frauen sind zunehmend von Gewalt, Armut, verschiedenen Formen von Diskriminierung und wirtschaftlicher Abhängigkeit bedroht, und der EWSA empfiehlt der Kommission, unverzüglich Maßnahmen zur Umsetzung der Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter zu ergreifen und gleichzeitig die Auswirkungen von COVID-19 auf Frauen und Mädchen durch maßgeschneiderte und gezielte politische Maßnahmen anzugehen. Die Strategie bezieht sich auf folgende Interventionsbereiche:

2.1.1.

Gewalt gegen Frauen ist eine der schlimmsten Formen der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.

2.1.2.

Die Kommission fordert eine systematische Analyse‚ strengere Maßnahmen zum Abbau von Stereotypen und zur vollständigen Beseitigung von geschlechtsbezogener Gewalt, Belästigung und Mobbing sowie die Einführung von Maßnahmen, um die Opfer zu schützen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Gewalt im häuslichen Umfeld hat während der COVID-19-Krise zugenommen, da Frauen zu Hause häufiger Gewalt seitens ihres Partners ausgesetzt sind.

2.1.3.

Beschäftigung von Frauen: Aufgrund der Datenlage lässt sich sagen, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Wirtschaft und das anhaltende Ungleichgewicht bei den Betreuungspflichten die vollständige soziale und wirtschaftliche Teilhabe von Frauen sowie den Zugang zu gerechter Entlohnung, einem fairen Einkommen und einer ebenso guten Altersversorgung wie für Männer stark einschränken. Für das Risiko einer wirtschaftlichen Marginalisierung sind auch die weiter wirkenden Stereotype sowie sich überschneidende Formen von Diskriminierung ausschlaggebend. Das Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage auf den Arbeitsmärkten ergibt sich aus einer Reihe von strukturellen Faktoren, die weitgehend geschlechtsspezifisch sind. Diese Faktoren hemmen nicht nur die Wirksamkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen, sondern verhindern auch, dass unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften die vorhandenen Ressourcen an weiblichen Kompetenzen und Talenten nutzen.

2.1.4.

Eine ausgewogene Beteiligung von Frauen und Männern an Entscheidungs- und Beschlussfassungsprozessen ist ein wichtiges und nach wie vor unerreichtes Ziel. Um der Komplexität der wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen gerecht zu werden, müssen mehr Frauen in Führungspositionen gelangen. Legislativmaßnahmen sind eine Option, um das geschlechtsspezifische Gefälle kurzfristig zu beseitigen.

2.1.5.

Gender Mainstreaming ist eine Strategie zur Verwirklichung der Geschlechtergleichstellung mittels durchgängiger Berücksichtigung der Geschlechterperspektive in allen Phasen der Politikgestaltung. In allen EU-Mitgliedstaaten ist jeweils eine spezielle Einrichtung für Gleichstellungsfragen (6) für die Umsetzung des Gender Mainstreaming und die Förderung der Einbeziehung der Geschlechterperspektive in die politische Agenda zuständig. Diese Einrichtungen sollten mit einem stärkeren politischen Mandat und mehr Möglichkeiten ausgestattet werden, entsprechende Instrumente einzusetzen (faktengestützte Analyse, systematische Erhebung von nach Geschlecht aufgeschlüsselten Daten, Berücksichtigung des Gleichstellungsaspekts bei der Haushaltsplanung (7)‚ gleichstellungsorientierte Überwachung und Bewertung).

2.1.6.

Die EU-Fonds für den Zeitraum 2021-2027 bieten eine Gelegenheit, die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern. Der EWSA hat das Parlament und den Rat in einer Stellungnahme (8) aufgefordert, neue und angemessene Indikatoren einzuführen, um den finanziellen Beitrag der EU zur Verwirklichung der Gleichstellungsziele besser überwachen zu können. Ziel ist es, die Erwerbsbeteiligung von Frauen (insbesondere von Frauen aus schutzbedürftigen Gruppen (9) wie Frauen mit Behinderungen (10) und Opfer von Mehrfachdiskriminierung) zu erhöhen und die Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, Kinderbetreuung und Langzeitpflege sowie die Infrastruktur zu verbessern. Aufgrund der COVID-19-Krise ist es noch dringlicher nötig, Maßnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben zu finanzieren, in hochwertige und für alle zugängliche öffentliche Betreuungsdienste zu investieren und das Beschäftigungsniveau sowie die Einkommensstützung aufrechtzuerhalten.

2.1.7.

Der EWSA ist ferner der Auffassung, dass die EU-Mittel unter stärkerer Berücksichtigung des Geschlechteraspekts zugewiesen werden sollten, die Gleichstellung der Geschlechter ein eigenständiges Ziel sein und nicht mit Antidiskriminierungszielen verknüpft werden sollte und der Geschlechterperspektive neben allen anderen spezifischen Ziele mittels eines multidisziplinären und bereichsübergreifenden Ansatzes besser Rechnung getragen werden sollte.

3.   Allgemeine Bemerkungen zur Gleichstellungsstrategie 2020–2025 und Vorschläge zu ihrer Umsetzung

3.1.

Der EWSA unterstützt den Ansatz der Kommission, das Gender Mainstreaming als Strategie zur Verwirklichung der Geschlechtergleichstellung neu zu beleben, und fordert, dabei auch die spezifischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Frauen zu berücksichtigen. Der duale Ansatz, der positive Maßnahmen sowie die Einbeziehung der Geschlechterperspektive umfasst, muss vollständig in die Steuerung der Finanzierungsmechanismen eingebettet werden. Diesem Ansatz muss auch bei der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte, der sechs Prioritäten der Kommission für den Zeitraum 2019-2024 (11) sowie der Empfehlungen des Europäischen Semesters Rechnung getragen werden.

3.2.

Die bestehende institutionelle Infrastruktur zur Förderung der Geschlechtergleichstellung auf EU-Ebene (GD JUST, EIGE, Europäisches Parlament und EU-Organe sowie die beratenden Gremien (12) und die Taskforce für Gleichstellung (13)‚ unterstützt durch Daten von Eurofound und EUROSTAT) sollte besser in den politischen Steuerungsprozess der EU einbezogen werden. Diese institutionelle Infrastruktur sollte über die spezifischen Grenzen der Geschlechtergleichstellung hinaus integraler Bestandteil der politischen Verfahren im Zusammenhang mit den wichtigsten aktuellen Dossiers (u. a. Digitale Agenda, Kompetenzagenda, europäischer Grüner Deal‚ Europäische Jugendziele (14) usw.) sein.

3.3.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Gleichstellung der Geschlechter eine multidisziplinäre und bereichsübergreifende Strategie erfordert, die auf die sozialen und wirtschaftlichen Pull-Faktoren, die zu Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern führen, ausgerichtet ist und bei der in unterstützende, die Geschlechtergleichstellung fördernde Faktoren investiert wird. Der EWSA (15) fordert einen strategischen Ansatz zur Überwachung der Berücksichtigung der Geschlechterperspektive bei allen thematischen Zielen des neuen Finanzrahmens 2021-2027.

3.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass sich das Wirtschaftswachstum in der EU aufgrund der COVID-19-Pandemie bereits verlangsamt. Es ist wichtig, die geschlechtsspezifischen Auswirkungen makroökonomischer Maßnahmen umfassend zu bewerten und bei der Umsetzung der Strategie zu berücksichtigen, um eine weitere Verschärfung der bestehenden geschlechtsspezifischen Ungleichheiten zu vermeiden (16).

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, das bestehende Koordinierungsinstrument für die Geschlechtergleichstellung aufzugreifen, um die Umsetzung der Strategie zu überwachen und über die aus der Geschlechterperspektive erzielten Erfolge Bericht zu erstatten. Das Koordinierungsinstrument könnte auch geschlechtsspezifischen Aspekten bei der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte und in den Empfehlungen des Europäischen Semesters Rechnung tragen.

4.2.

Der EWSA hat die Europäische Kommission bereits aufgefordert, den EU-Mitgliedstaaten die Festlegung nationaler Ziele und Indikatoren zur Überwachung der Situation im Rahmen eines jährlichen Anzeigers zu empfehlen.

4.3.   Beendigung geschlechtsspezifischer Gewalt

4.3.1.

Auch heute noch sind Frauen einem höheren Risiko ausgesetzt, zu Hause oder im Arbeitsumfeld Opfer von asozialen Verhaltensweisen und Gewalt zu werden (17). Der EWSA kann einen wichtigen Beitrag zur Förderung von Aufklärungsmaßnahmen leisten, um jegliche Form von Gewalt gegen Frauen zu verhindern. Die Sozialpartner und die zivilgesellschaftlichen Organisationen können die Verhütung von Gewalt gegen Frauen und die Förderung einer geschlechtersensiblen Kultur unterstützen, indem sie das Bewusstsein schärfen und bewährte Verfahren sammeln und verbreiten.

4.3.2.

Die Europäische Rahmenvereinbarung der Sozialpartner über Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz aus dem Jahr 2007 ist ein Instrument, das gewährleisten soll, dass es am Arbeitsplatz weder zu Belästigung noch Gewalt kommt, und kann überall in Europa und unabhängig von der Größe des Unternehmens angewendet werden.

4.3.3.

Internationale und europäische Initiativen zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen müssen unterstützt und übernommen werden. Der EWSA kann in Bezug auf die Umsetzung des IAO-Übereinkommens über Gewalt und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz wichtige Unterstützung leisten. Das IAO-Übereinkommen Nr. 190 über Gewalt und Belästigung aus dem Jahr 2019 sollte von allen Regierungen auf internationaler und europäischer Ebene sowie von der Europäischen Union ratifiziert und durchgesetzt werden. Der EWSA begrüßt ferner die Initiative der Kommission, im Jahr 2021 Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele des Übereinkommens von Istanbul vorzuschlagen.

4.3.4.

Cybermobbing (18) ist eines der Probleme, denen Frauen bei Online-Aktivitäten und in sozialen Netzen ausgesetzt sind. Der EWSA hat die Europäische Kommission aufgefordert, die frühere Taskforce „Frauen im digitalen Umfeld“ und die Folgemaßnahmen zur Initiative „Digital4her“ zu stärken (19). Die Europäische Kommission muss diese freiwilligen Maßnahmen an den Rechtsrahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen anpassen.

4.3.5.

Der EWSA hat die Kommission wiederholt aufgefordert, ihre Empfehlung für wirksame Maßnahmen im Umgang mit illegalen Online-Inhalten sowie den von der Kommission und internationalen IT-Unternehmen vereinbarten Verhaltenskodex für die Bekämpfung illegaler Hetze im Internet zu aktualisieren, indem die Definition von illegaler Hetze im Internet um Belästigung und Mobbing von Frauen im Internet erweitert wird (20).

4.3.6.

Der EWSA schlägt vor, auf EU-Ebene einen Notfallfonds für Rechtsbeistand einzuführen, aus dem Hilfe für Organisationen der Zivilgesellschaft bereitgestellt werden könnte, die gerichtlich gegen Rechtsvorschriften vorgehen, die die Frauenrechte infrage stellen (21).

4.4.   Abbau geschlechtsspezifischer Unterschiede

4.4.1.

Bildung: Nach wie vor bestehen geschlechtsspezifische Unterschiede im Bildungsbereich, die zu Segregation auf dem Arbeitsmarkt, bei Beschäftigung und Einkommen sowie zu einem Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage führen (22)(23). Zum System der Bildungsberatung sollten spezifische Maßnahmen ergriffen werden (24). Bildung spielt von der Grundschule an eine wichtige Rolle bei der Beseitigung von Stereotypen und beim Abbau von Vorurteilen.

4.4.2.

Technologien und Kompetenzen aus den Bereichen Digitales und KI müssen für alle zugänglich sein — unabhängig von Geschlecht, Alter oder sozioökonomischem Hintergrund. Insbesondere im Hinblick auf die Auswirkungen der derzeitigen COVID-19-Krise ist es wichtig, die Zahl der Frauen und Mädchen in den Bereichen MINT und IKT zu erhöhen, die digitale Kluft zu beseitigen, die Ursache dafür ist, dass sie in diesen Bereichen unterrepräsentiert sind, sowie für mehr weibliche digitale Vorbilder sorgen, um Stereotype zu überwinden.

4.4.3.

Indem dafür gesorgt wird, dass mehr Frauen und Mädchen als IKT-Entwicklerinnen arbeiten, kann auch ein Beitrag zur Vermeidung einer einseitigen geschlechtsspezifischen Ausrichtung bei der Gestaltung von Technologien geleistet werden. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, einen allgemeinen Zugang zu Weiterbildung in den MINT-Fächern, IKT und KI sowie den Arbeitsschutz für Frauen zu gewährleisten, die aufgrund ihrer geringen IKT-Kenntnisse Gefahr laufen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.

4.4.4.

Auch bei der Vermittlung von Finanzwissen sollte der Frage der Geschlechterperspektive besondere Aufmerksamkeit und Maßnahmen gewidmet werden.

4.4.5.

Beschäftigung: Geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Beschäftigung haben zu langfristigen Unterschieden bei Einkommen, Zugang zu Krediten, Löhnen und Renten geführt und erhöhen auch das Risiko von Armut, sozialer Ausgrenzung und/oder Obdachlosigkeit. Ungeachtet der von der EU initiierten Rechtsvorschriften zur Gleichbehandlung am Arbeitsplatz ist das geschlechtsspezifische Lohngefälle nach wie vor eine der häufigsten Formen von geschlechtsspezifischer Ungleichheit und Diskriminierung.

4.4.6.

Tarifverhandlungen könnten in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle spielen. Alle Maßnahmen sollten die geschlechtsspezifischen Unterschiede angehen, um den Zugang zum Sozialschutz zu verbessern, die Qualität der Arbeit zu verbessern und die Stabilität des Arbeitsmarktes zu erhöhen.

4.4.7.

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission für verbindliche Maßnahmen zur Lohntransparenz, die so bald wie möglich eingeführt werden müssen und eine zentrale Rolle bei der Förderung einer Gender-Mainstreaming-Strategie für gleiches Entgelt spielen können. Frauen stellen in 104 Ländern 70 % aller Arbeitnehmer im Gesundheits- und Sozialwesen (WHO) und weltweit 58,6 % der Arbeitnehmer im Dienstleistungssektor (IAO) und sind daher in der COVID-19-Pandemie einem Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Da Frauen in Niedriglohnbranchen und prekären Beschäftigungsverhältnissen überrepräsentiert sind, haben sie ein höheres Risiko von Arbeitsplatzverlust und Gesundheitsproblemen.

4.4.8.

Arbeitsplätze und Aufgaben in den Bereichen Pflege, Reinigung, Handel und Gesundheit sind enorm wichtig für die Gesellschaft und die Wirtschaft, wie auch während der COVID-19-Krise deutlich wurde. Diese Arbeitsplätze und Branchen, in denen traditionell viele Frauen tätig sind, sind häufig unterbezahlt, werden nicht ausreichend wertgeschätzt und sind durch prekäre Arbeitsbedingungen gekennzeichnet. Es ist deshalb wichtig, diesen Tätigkeiten mehr soziale Anerkennung zu zollen und sie entsprechend auch finanziell besserzustellen, was dazu beitragen würde, das Lohngefälle sowie andere Formen des Gefälles zwischen Frauen und Männern zu reduzieren und den wirtschaftlichen und sozialen Wert, der diesen Arbeitsplätzen beigemessen wird, zu steigern.

4.4.9.

Eine Ausweitung der Investitionen in die Digitalisierung des öffentlichen Sektors ermöglicht eine stärkere und bessere Beteiligung von Frauen und Männern am Arbeitsmarkt und kann denjenigen zugutekommen, die Betreuungspflichten wahrnehmen oder Hilfe bei der Überwindung von administrativen Hürden und Schwierigkeiten bei Verwaltungsverfahren und beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen brauchen (25).

4.4.10.

Unternehmerinnen machen nach wie vor nur einen kleinen Anteil an der Gesamtzahl der Unternehmer in der EU aus. Daher bedarf es einer Erleichterung des Zugangs zu Investitionskapital für Unternehmerinnen sowie der Förderung einer ausgewogenen Vertretung von Frauen und Männern in den Spitzenpositionen von Finanzinstituten, in denen Investitionsentscheidungen getroffen werden (26), und der Unterstützung sowohl des Unternehmertums von Frauen als auch der Gleichheit von Frauen und Männern.

4.4.11.

Betreuungspflichten und Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben: Frauen leisten nach wie vor einen größeren Anteil an unbezahlter Arbeit, sei es für die Betreuung von Kindern und älteren Menschen oder bei der Hausarbeit (27). Durch Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben — in Form von Rechtsvorschriften oder Tarifvereinbarungen — lassen sich die Bedürfnisse von Frauen und Männern sowie jene von Arbeitnehmern, die auch Betreuungspflichten wahrnehmen, besser miteinander in Einklang bringen. Die Pandemie hat insbesondere durch die Schließung von Schulen, Kindergärten und Arbeitsplätzen infolge der Ausgangsbeschränkungen zu einer zusätzlichen Belastung für jene Menschen geführt, die unbezahlte Pflegearbeit leisten.

4.4.12.

Der EWSA fordert die Umsetzung der Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben insbesondere in Bezug auf bezahlte Abwesenheitszeiten, um sicherzustellen, dass sowohl Frauen als auch Männer ihr Recht auf Betreuung in Anspruch nehmen können. Darüber hinaus fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, weitere Anstrengungen zu unternehmen, um das bislang unerreichte Ziel zu verwirklichen, für 33 % der Kinder unter drei Jahren Betreuungsplätze in formellen Betreuungseinrichtungen zu schaffen. Ergänzt werden sollte dies durch eine Zielvorgabe für die Kinderbetreuung nach der Schule, damit Eltern Vollzeit arbeiten können, wenn sie dies wünschen. Die Kommission sollte mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass die Ziele vollständig erreicht werden.

4.4.13.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, EU-Mittel zu nutzen, um das Angebot, die Erschwinglichkeit und die Qualität von Dienstleistungen und Infrastrukturen für die frühkindliche Bildung und Betreuung zu verbessern.

4.4.14.

Ferner ist es notwendig, die Beteiligung von Frauen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt im Sinne des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNCRPD) zu verbessern.

4.4.15.

Aufgrund der Bevölkerungsalterung sollte bei der Konzipierung von Maßnahmen, die darauf abzielen, die verschiedenen Bedürfnisse und das Berufs- und Privatleben miteinander zu vereinbaren, der Schwerpunkt stärker auf die Betreuung älterer Menschen gelegt werden.

4.4.16.

Für die Pflegepolitik ist ein systematischer Ansatz erforderlich, der auch andere politische Aspekte umfasst (Infrastruktur, Besteuerung, Verkehr, digitale Agenda, Gesundheit und Kompetenzen, KI und EU-Mittel) und bei dem dem sozialen Dialog, den Sozialpartnern und den zivilgesellschaftlichen Organisationen eine führende Rolle eingeräumt wird.

4.5.   Gewährleistung der Gleichstellung von Frauen und Männern in Entscheidungs- und Beschlussfassungsprozessen

4.5.1.

Chancengleichheit bei der Teilhabe ist für die repräsentative Demokratie auf allen Ebenen — der europäischen, nationalen, regionalen und lokalen — von entscheidender Bedeutung. Der EWSA unterstützt die gleichberechtigte Beteiligung und ein ausgewogenes Verhältnis von Frauen und Männern an Entscheidungsprozessen sowie im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben, darunter auch in Strukturen des sozialen und zivilgesellschaftlichen Dialogs. Um das Problem der unzureichenden Vertretung und Beteiligung von Frauen in Entscheidungs- und Beschlussfassungsgremien anzugehen, sind positive Schritte auf der Grundlage rechtlicher, haushaltspolitischer, freiwilliger, organisatorischer und kultureller Maßnahmen erforderlich.

4.5.2.

Geschlechtsspezifische Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt führen auch zu einem Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern in Entscheidungs- und Beschlussfassungsprozessen. Die Zahl der Männer in Führungspositionen ist in der EU doppelt so hoch wie jene der Frauen. Frauen sind als Führungskräfte in fast allen Wirtschaftszweigen unterrepräsentiert. Am ausgewogensten ist das Verhältnis von Frauen und Männern in den Leitungsfunktionen im öffentlichen Sektor (28).

4.5.3.

Rechtsvorschriften können hilfreich sein, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie alleine ausreichen, um die Organisationskultur und -mechanismen zu beeinflussen. Eine ausgewogene Vertretung von Frauen und Männern in Entscheidungs- und Beschlussfassungsprozessen sowie im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben kann auch durch ein Gender-Mainstreaming-Konzept erreicht werden, das darauf abzielt, positive Bedingungen für eine stärkere Einbindung von Frauen in die Entscheidungsebene zu schaffen und das Bewusstsein für diese Fragen zu schärfen.

4.5.4.

Der EWSA fordert den Rat auf, die Beratungen über die Richtlinie zur Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern in Leitungsorganen von Unternehmen fortzusetzen (29). Außerdem fordert der EWSA die Unternehmen dazu auf, mit gutem Beispiel voranzugehen und deutlich mehr Führungspositionen mit Frauen zu besetzen.

4.5.5.

Der EWSA empfiehlt (30), wirksame Strategien und Instrumente (z. B. rechtliche, haushaltspolitische und freiwillige Maßnahmen, Geschlechterquoten) in Erwägung zu ziehen, um ein ausgewogenes Verhältnis von Frauen und Männern in den Funktionen in den wichtigsten politischen Strukturen zu erreichen, die mittels Wahlen oder Ernennung besetzt werden. Zudem schlägt er der Kommission vor, die Mitgliedstaaten weiterhin bei Maßnahmen in diesem Bereich zu unterstützen. Der Ausschuss appelliert daher erneut (31) an den Rat, seine Leitlinien für die Ernennung von EWSA-Mitgliedern zu überarbeiten, um der wirtschaftlichen, sozialen und demografischen Entwicklung in der EU Rechnung zu tragen.

4.6.   Gender Mainstreaming

4.6.1.

Mithilfe des Gender-Mainstreaming-Ansatzes — also der durchgängigen Berücksichtigung des Gleichstellungsaspekts — kann am besten gewährleistet werden, dass die Geschlechterperspektive von allen Akteuren und auf allen Ebenen berücksichtigt wird, doch müssen seine praktische Dimension und die Art und Weise seiner Umsetzung verbessert werden.

4.6.2.

Für den kommenden Programmplanungszeitraum 2021-2027 fordert der EWSA ein stärkeres Engagement für die Gleichstellung der Geschlechter. Die Rahmenbedingungen, die die Geschlechtergleichstellung fördern und die Relevanz und Kohärenz der Programme, Projekte und Fonds gewährleisten sollen, müssen wirksam umgesetzt und bewertet werden.

4.6.3.

Der EWSA unterstützt die von der Kommission erarbeitete Gleichstellungsstrategie und fordert sie auf, auf die bestehenden Koordinierungsinstrumente (Beratender Ausschuss für Chancengleichheit von Frauen und Männern, hochrangige Gruppe für Gender Mainstreaming und Taskforce für Gleichheitspolitik) zurückzugreifen, um die ordnungsgemäße Umsetzung der Strategie zu überwachen, über die erzielten Ergebnisse Bericht zu erstatten und den Austausch von Konzepten und Erfahrungen auf EU-Ebene zu erleichtern.

4.7.   Geschlechter in den Medien

4.7.1.

Der Einfluss der Medien auf die Gleichstellung der Geschlechter wurde lange Zeit unterschätzt, obwohl diese die Gesellschaft stark prägen. Die Medienbranche sollte einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass sich Werbung positiv und nicht etwa negativ auf die Darstellung und Förderung der Geschlechtergleichstellung in der Gesellschaft auswirkt.

4.7.2.

Um die Geschlechtergleichstellung in der Medienbranche zu verbessern, kommt es darauf an, die Vertretung von Frauen in den obersten Führungspositionen zu verbessern (32)(33) sowie Verhaltenskodizes und weitere Maßnahmen (34) (35) anzunehmen, die Sexismus und Stereotype untersagen und die Berücksichtigung der Geschlechterperspektive bei der Umgestaltung des Mediensektors und der von ihm bereitgestellten Inhalte fördern.

4.7.3.

Es ist wichtig, die Auswirkungen von den in den Medien transportierten Geschlechterstereotypen bewusst zu machen. Der EWSA fordert daher, einen neuen thematischen Schwerpunkt „Medien und Werbung“ in den nächsten Gleichstellungsindex des EIGE aufzunehmen.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Artikel 2 EUV.

(2)  Artikel 8 AEUV besagt: „Bei allen ihren Tätigkeiten wirkt die Union darauf hin, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern“.

(3)  Europäisches Institut für Gleichstellungsfragen (2019): Gender Equality Index 2019 in brief: Still far from the finish line.

(4)  Europäische Kommission (2019): New vision for Gender Equality.

(5)  Eurofound (2020): Gender equality at work.

(6)  EIGE (2019): Beijing +25 policy brief: Area H — Institutional mechanisms for the advancement of women: reduced efforts from Member States.

(7)  Siehe https://eige.europa.eu/gender-mainstreaming/toolkits/gender-budgeting

(8)  ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 26, Ziffer 1.8.

(9)  ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 26, Ziffer 1.6.

(10)  EIGE (2017): The European Pillar of Social Rights as an Opportunity for Gender Equality in the EU, S. 6.

(11)  https://ec.europa.eu/info/priorities_de

(12)  Artikel 300 AEUV.

(13)  Die Kommission hat eine Taskforce für Gleichheitspolitik eingerichtet, die sich aus Vertretern aller Kommissionsdienststellen und des Europäischen Auswärtigen Dienstes zusammensetzt und die zusätzlich zu den in der Gleichstellungsstrategie aufgeführten Leitaktionen für die konkrete Umsetzung des Gender Mainstreaming auf operativer und technischer Ebene sorgen soll. https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/qanda_20_357

(14)  https://youthforeurope.eu/european-youth-goals-2019-2027/

(15)  ABl. C 240 vom 16.7.2019, S. 3.

(16)  Siehe Fußnote 15.

(17)  Eurofound (2020): Gender equality at work‚ European Working Conditions Survey 2015, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg.

(18)  EIGE (2017): Gender equality and youth: opportunities and risks of digitalisation — Main report

(19)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 37.

(20)  Siehe Fußnote 15.

(21)  Siehe Fußnote 15.

(22)  Quelle: Eurostat; frühzeitige Schul- und Ausbildungsabgänger (Code:SDG_04_10); Beteiligung von Erwachsenen an Bildungsmaßnahmen (Code: sdg_04_60); Steigerung der Hochschulabsolventenquote (Code: sdg_04_20).

(23)  Cedefop (2020), EU-Qualifikationsindex 2020.

(24)  Cedefop Kurzbericht (2019): Nicht nur neue Arbeitsplätze — digitale Innovation fördert auch Karrieren.

(25)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 37, Ziffer 1.12.

(26)  Eurofound (2019): Female entrepreneurship: Public and private funding‚ Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg.

(27)  EIGE (2017): The European Pillar of Social Rights as an Opportunity for Gender Equality in the EU, S. 8.

(28)  Eurofound (2018): Frauen in Führungspositionen: unterrepräsentiert und überlastet?‚ Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg.

(29)  Siehe Fußnote 15.

(30)  ABl. C 240 vom 16.7.2019, S. 1.

(31)  Siehe Fußnote 30.

(32)  EIGE (2019): Gleichstellungsindex.

(33)  EIGE (2020): Datenbank für Gender-Statistiken.

(34)  https://eige.europa.eu/gender-mainstreaming/good-practices/denmark/kvinfo-expert-database

(35)  http://www.womeninnews.org/ckfinder/userfiles/files/Gender%20Balance%20Guidebook_FINAL_RGB%20(1).pdf


ANHANG

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen (Artikel 59 Absatz 3 der Geschäftsordnung):

1.   Ziffer 1.9

Ändern:

1.9.

Das geschlechtsspezifische Lohngefälle ist — wie sich während der COVID-19-Krise noch deutlicher gezeigt hat — nach wie vor eine der Hauptformen der geschlechtsspezifischen Ungleichheit und Diskriminierung. Der EWSA fordert die Kommission auf, die dramatischen Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die Unternehmen und insbesondere die KMU zu berücksichtigen, eine Verschiebung des rechtsverbindlichen Vorschlags zu erwägen und die Zeit für eine angemessene Konsultation der Sozialpartner zu nutzen. den Vorschlag zur Einführung verbindlicher Maßnahmen für die Entgelttransparenz zwischen Frauen und Männern weiterzuverfolgen, und Der EWSA ist bereit, eine führende Rolle bei der Förderung einer Gender-Mainstreaming-Strategie für gleiches Entgelt zu übernehmen.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

70

Nein-Stimmen:

120

Enthaltungen

13

2.   Ziffer 4.4.7

Ändern:

Ziffer 4.4.7.

Der EWSA nimmt begrüßt die Initiative der Kommission für verbindliche Maßnahmen zur Lohntransparenz zur Kenntnis, die so bald wie möglich eingeführt werden müssen und eine zentrale Rolle bei der Förderung einer Gender-Mainstreaming-Strategie für gleiches Entgelt spielen können. Der EWSA fordert die Kommission auf, die dramatischen Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die Unternehmen und insbesondere die KMU zu berücksichtigen, eine Verschiebung des rechtsverbindlichen Vorschlags zu erwägen und die Zeit für eine angemessene Konsultation der Sozialpartner zu nutzen. Frauen stellen in 104 Ländern 70 % aller Arbeitnehmer im Gesundheits- und Sozialwesen (WHO) und weltweit 58,6 % der Arbeitnehmer im Dienstleistungssektor (IAO) und sind daher in der COVID-19-Pandemie einem Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Da Frauen in Niedriglohnbranchen und prekären Beschäftigungsverhältnissen überrepräsentiert sind, haben sie ein höheres Risiko von Arbeitsplatzverlust und Gesundheitsproblemen.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

70

Nein-Stimmen:

121

Enthaltungen

12

3.   Ziffer 4.4.8

Ändern:

Ziffer 4.4.8.

Arbeitsplätze und Aufgaben in den Bereichen Pflege, Reinigung, Handel und Gesundheit sind enorm wichtig für die Gesellschaft und die Wirtschaft, wie auch während der COVID-19-Krise deutlich wurde. Diese Krise könnte sich möglicherweise negativ auf die Arbeitsbedingungen an den Arbeitsplätzen und in den Arbeitsplätze und Branchen auswirken, in denen traditionell viele Frauen tätig sind, sind häufig unterbezahlt, werden nicht ausreichend wertgeschätzt und sind durch prekäre Arbeitsbedingungen gekennzeichnet. Es ist deshalb wichtig, diesen Tätigkeiten mehr soziale Anerkennung zu zollen und sie entsprechend auch finanziell besserzustellen, was dazu beitragen würde, das Lohngefälle sowie andere Formen des Gefälles zwischen Frauen und Männern zu reduzieren und den wirtschaftlichen und sozialen Wert, der diesen Arbeitsplätzen beigemessen wird, zu steigern.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

68

Nein-Stimmen:

121

Enthaltungen

13


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/87


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Weißbuch zur Künstlichen Intelligenz — ein europäisches Konzept für Exzellenz und Vertrauen“

(COM(2020) 65 final)

(2020/C 364/12)

Berichterstatterin:

Catelijne MULLER

Befassung

Kommission, 9.3.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

25.6.2020

Verabschiedung im Plenum

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

207/0/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) gratuliert der Kommission zu ihrer im Weißbuch zur Künstlichen Intelligenz (KI) dargelegten Strategie, mit der die Nutzung von KI-Technologien gefördert und gleichzeitig dafür gesorgt werden soll, dass sie den europäischen ethischen Normen, rechtlichen Anforderungen und sozialen Werten entsprechen.

1.2.

Der EWSA begrüßt auch das Ziel, die Stärken Europas auf den industriellen und gewerblichen Absatzmärkten zu nutzen, und betont, wie wichtig es ist‚ Investitionen, Infrastruktur, Innovation und Kompetenzen zu verbessern, damit Unternehmen — einschließlich KMU — und die Gesellschaft insgesamt die Chancen der KI nutzen können. KI-Innovationen sollten gefördert werden, um den Nutzen von KI-Systemen zu maximieren und zugleich ihren Gefahren aus dem Weg zu gehen bzw. diese zu minimieren.

1.3.

Er ist jedoch der Ansicht, dass der Fokus auf rein datengesteuerte KI zu eng gefasst ist, um die EU zu einem echten Vorreiter bei modernster, vertrauenswürdiger und wettbewerbsfähiger KI zu machen. Der EWSA fordert die Kommission auf, auch eine neue Generation von KI-Systemen zu fördern, die sich auf Wissen und Schlussfolgerungen stützen und durch die menschliche Werte und Grundsätze gewahrt werden.

1.4.

Der EWSA ruft die Kommission auf, a) die Multidisziplinarität in der Forschung durch Einbeziehung anderer Disziplinen wie Recht, Ethik, Philosophie, Psychologie, Arbeitswissenschaften, Geisteswissenschaften, Wirtschaft usw. zu fördern, b) relevante Interessenträger (Gewerkschaften, Berufs- und Unternehmensverbände, Verbraucherorganisationen, NRO) in die Debatte über KI und als gleichberechtigte Partner in von der EU finanzierte Forschungsprojekte und andere Projekte wie die öffentlich-private Partnerschaft für KI, sektorale Dialoge, das Adopt-AI-Programm im öffentlichen Sektor und das Leitzentrum einzubeziehen und c) die breitere Öffentlichkeit über die Chancen und Herausforderungen der KI weiter aufzuklären und zu informieren.

1.5.

Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, die Auswirkungen der KI auf das gesamte Spektrum der Grundrechte und -freiheiten eingehender zu prüfen, u. a. auf das Recht auf ein faires Verfahren, auf faire und offene Wahlen, auf die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit sowie auf Nichtdiskriminierung.

1.6.

Der EWSA spricht sich nach wie vor gegen die Einführung jeglicher Formen der Rechtspersönlichkeit für KI aus. Dies würde die präventive Wirkung des Haftungsrechts aushöhlen, ein erhebliches Risiko der Schaffung von Fehlanreizen sowohl bei der Entwicklung als auch bei der Nutzung von KI bergen und Missbrauch ermöglichen.

1.7.

Der EWSA fordert einen kontinuierlichen, systematischen soziotechnischen Ansatz‚ bei dem die Technologie aus allen Blickwinkeln und vor diversen Hintergründen betrachtet wird, anstatt dass es zu einer einmaligen (oder sogar regelmäßig wiederholten) vorherigen Konformitätsbewertung von KI-Anwendungen mit hohem Risiko kommt.

1.8.

Der EWSA gibt zu bedenken, dass die Kriterien für die Einstufung als Anwendung mit „hohem Risiko“ zahlreiche KI-Anwendungen und Nutzungen, die an sich risikoreich sind (wie biometrische Identifikation und KI bei Einstellungsverfahren), nicht erfassen. Der EWSA empfiehlt der Kommission die Erstellung einer Liste gemeinsamer Merkmale von KI-Anwendungen, die unabhängig vom Anwendungsbereich als inhärent mit einem hohen Risiko behaftet eingestuft werden.

1.9.

Der EWSA plädiert nachdrücklich dafür, die biometrische Identifikation ausschließlich dann zu erlauben, wenn a) die Wirkung wissenschaftlich nachgewiesen ist, b) die Anwendung in kontrollierten Umgebungen stattfindet und c) die Anwendung strengen Bedingungen unterliegt. Die weitverbreitete Verwendung KI-gestützter biometrischer Erkennung zur Überwachung oder zur Verfolgung, Bewertung oder Kategorisierung von Menschen oder menschlichem Verhalten bzw. menschlichen Emotionen sollte verboten werden.

1.10.

Der EWSA spricht sich für eine den geltenden nationalen Vorschriften und Verfahren entsprechende, frühzeitige und enge Einbeziehung der Sozialpartner bei der Einführung von KI-Systemen am Arbeitsplatz aus, um sicherzustellen, dass die Systeme eingesetzt werden können und den Arbeitnehmerrechten und Arbeitsbedingungen entsprechen.

1.11.

Der EWSA spricht sich auch für eine frühzeitige und enge Einbeziehung der Arbeitnehmer, die am Ende mit den KI-Systemen arbeiten werden, sowie von Beschäftigten mit Fachwissen im juristischen, ethischen und geisteswissenschaftlichen Bereich bei der Einführung von KI-Systemen aus, um sicherzustellen, dass die Systeme den Gesetzen und den ethischen Anforderungen sowie den Bedürfnissen der Arbeitnehmer entsprechen, so dass diese weiterhin die Kontrolle über ihre Arbeit und KI Systeme haben, die ihre Fähigkeiten und ihre Arbeitszufriedenheit verbessern.

1.12.

KI-Techniken und -Konzepte zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie sollten robust, wirksam, transparent und nachvollziehbar sein. Bei ihrem Einsatz müssen außerdem die Menschenrechte, ethische Grundsätze und die geltenden Rechtsvorschriften gewahrt werden, und sie müssen fair, inklusiv und freiwillig sein.

1.13.

Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Führungsrolle zu übernehmen, um eine bessere Koordinierung der KI-Lösungen und -Konzepte sicherzustellen, die zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie in Europa eingesetzt werden.

2.   Das EU-Weißbuch zur Künstlichen Intelligenz

2.1.

Der EWSA nimmt erfreut zur Kenntnis, dass die Europäische Kommission viele der Empfehlungen aus früheren Stellungnahmen des EWSA und der Hochrangigen Expertengruppe für KI aufgreift, indem sie sich für die Nutzung von KI-Technologien einsetzt und gleichzeitig dafür sorgt, dass diese den europäischen ethischen Normen, rechtlichen Anforderungen und sozialen Werten entsprechen. Dies bezeichnet sie als „Ökosystem für Exzellenz und Vertrauen“.

2.2.

Der EWSA begrüßt die Vorschläge, die darauf ausgerichtet sind, dass die Unternehmen (einschließlich KMU) und die Gesellschaft insgesamt die Möglichkeiten der Entwicklung und des Einsatzes von KI nutzen können. Der EWSA betont, dass Investitionen, Infrastruktur, Innovation und Kompetenzen gefördert werden müssen, um den Erfolg der EU im Wettbewerb auf globaler Ebene zu verbessern.

Ansatz der Steuerung durch den Menschen

2.3.

Das Weißbuch klingt jedoch stellenweise auch etwas „fatalistisch“, wenn der Eindruck erweckt wird, dass die KI „über uns hineinbricht“ und uns lediglich die Möglichkeit bleibt, ihren Einsatz zu regulieren. Der EWSA ist fest davon überzeugt, dass die EU alles daran setzen wird, um sicherzustellen, dass Europa nur vertrauenswürdige KI akzeptiert, weshalb sie sich trauen sollte, hier einen viel stärkeren Standpunkt einzunehmen. Er fordert die Kommission daher nachdrücklich auf, stets die Option offenzuhalten, eine bestimmte Art von KI (bzw. deren Nutzung) überhaupt nicht zu akzeptieren. Dies hat der EWSA als Ansatz der Steuerung durch den Menschen („Human-in-command“) für KI bezeichnet, den wir verfolgen müssen.

Nutzung von KI in Europa — eine zukunftsorientierte Definition

2.4.

Laut der im Weißbuch enthaltenen Arbeitsdefinition ist KI ein „Bestand an Technologien, die Daten, Algorithmen und Rechenleistung kombinieren“. Später im Text werden Daten und Algorithmen als Hauptelemente der KI definiert. Diese Definition würde jedoch jede Art von Software erfassen, die jemals geschrieben wurde, und nicht nur KI. Es gibt nach wie vor keine allgemein anerkannte Definition künstlicher Intelligenz — es handelt sich hierbei um einen Gattungsbegriff für eine Reihe von Computeranwendungen.

2.5.

Der Fokus des Weißbuchs auf rein datengesteuerte KI ist zu eng gefasst, um die EU zu einem echten Vorreiter bei modernster, vertrauenswürdiger und wettbewerbsfähiger KI zu machen. Das Weißbuch schließt viele vielversprechende KI-Systeme von der Betrachtung und damit von einer Steuerung und Regulierung aus. Der EWSA fordert die Kommission auf, auch eine neue Generation von KI-Systemen zu fördern, die datengesteuerte Ansätze mit auf Wissen und Schlussfolgerungen gestützten Konzepten‚ so genannten Hybridsystemen, kombinieren. In dem Weißbuch wird die Notwendigkeit hybrider Systeme im Sinne der Erklärbarkeit anerkannt, aber die Vorteile hybrider Systeme gehen darüber hinaus: sie können das Lernen beschleunigen und/oder einschränken und das maschinelle Lernmodell validieren und überprüfen.

2.6.

Das Weißbuch konzentriert sich nur auf Verzerrungen in Bezug auf Daten, aber nicht alle Verzerrungen sind das Ergebnis schlechter oder begrenzter Datensätze. Die Gestaltung aller KI-Produkte ist an sich eine Häufung voreingenommener Entscheidungen‚ die von den eingespeisten Daten bis hin zu den angestrebten Zielen reichen. All diese Entscheidungen werden auf die eine oder andere Weise durch die inhärente Voreingenommenheit der Person bzw. der Personen beeinflusst, die sie getroffen hat bzw. haben.

2.7.

Vor allem aber sind KI-Systeme mehr als nur die Summe ihrer Softwarekomponenten. KI-Systeme umfassen auch das sie umgebende soziotechnische System. Bei den Überlegungen zur KI-Governance und -Regulierung sollte der Schwerpunkt daher auch auf den umliegenden sozialen Strukturen liegen: den Organisationen und Unternehmen, den verschiedenen Berufen sowie den Menschen und Institutionen, die KI erzeugen, entwickeln, einsetzen, nutzen und kontrollieren, und den von ihr betroffenen Menschen, etwa den Bürgern in ihren Beziehungen zu den Behörden, Unternehmen, Verbraucher, Arbeitnehmer und sogar der Gesellschaft als Ganzes.

2.8.

Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass sich rechtliche Definitionen (für die Zwecke der Governance und Regulierung) von rein wissenschaftlichen Definitionen unterscheiden‚ da eine Reihe unterschiedlicher Anforderungen erfüllt werden muss, etwa Inklusivität, Präzision, Dauerhaftigkeit, Vollständigkeit und Praktikabilität. Einige sind rechtsverbindliche Anforderungen, und andere gelten als gute Regulierungspraxis.

Bündelung aller Kräfte

2.9.

Der EWSA begrüßt die Bemühungen, etwas gegen die Fragmentierung der KI-Landschaft in Europa zu tun, indem KI-Forscher zusammengebracht werden, wobei der Schwerpunkt auf KMU und Partnerschaften mit dem privaten und dem öffentlichen Sektor liegt. Zusätzlich empfiehlt der EWSA, a) die Multidisziplinarität in der Forschung durch Einbeziehung anderer Disziplinen wie Recht, Ethik, Philosophie, Psychologie, Arbeitswissenschaften, Geisteswissenschaften, Wirtschaft zu fördern, b) relevante Interessenträger (Gewerkschaften, Unternehmensverbände, Verbraucherorganisationen, NRO) in die Debatte über KI, aber auch als gleichberechtigte Partner in von der EU finanzierte Forschungsprojekte und andere Projekte wie die öffentlich-private Partnerschaft für KI, sektorale Dialoge, das Adopt-AI-Programm im öffentlichen Sektor und das Leitzentrum einzubeziehen und c) die breitere Öffentlichkeit über die Chancen und Herausforderungen der KI weiter aufzuklären und zu informieren.

KI und Recht

2.10.

Im Weißbuch wird die Tatsache anerkannt, dass die KI sich nicht in einem rechtsfreien Raum bewegt. Der EWSA begrüßt insbesondere die Betonung der Auswirkungen der KI auf die Grundrechte und empfiehlt der Kommission, die Auswirkungen der KI auf ein breites Spektrum von Grundrechten und -freiheiten wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Achtung des Privatlebens (das weit über den Schutz personenbezogener Daten hinausgeht), auf ein faires Verfahren, auf faire und offene Wahlen, auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit und auf Nichtdiskriminierung eingehender zu prüfen.

2.11.

Der EWSA begrüßt die im Weißbuch zum Ausdruck gebrachte klare Haltung, dass die bestehenden Haftungsregelungen auf KI anzuwenden sind, sowie die Bemühungen, auf diesen Regelungen aufzubauen, wenn es um die neuen Risiken geht, die KI hervorrufen kann, um das Schließen von Lücken bei der Durchsetzung, wenn es schwierig ist, den tatsächlich verantwortlichen Wirtschaftsakteur zu bestimmen, und um die Anpassung der Regelungen an die sich wandelnden Funktionalitäten der KI-Systeme.

2.12.

Die Kommission sollte auch anerkennen, dass KI keine Grenzen kennt. Die Anstrengungen können und sollten nicht auf Europa beschränkt sein. Im Sinne der Schaffung eines gemeinsamen internationalen Rechtsrahmens sollte ein allgemeiner internationaler Konsens erzielt werden, der sich auf Debatten und Forschungsarbeiten von Rechtsexperten stützt.

2.13.

Der EWSA spricht sich in jedem Fall nach wie vor entschieden gegen die Einführung jeglicher Form der Rechtspersönlichkeit für KI aus. Dies würde die präventive Wirkung des Haftungsrechts aushöhlen, ein erhebliches Risiko der Schaffung von Fehlanreizen sowohl bei der Entwicklung als auch bei der Nutzung von KI bergen und Missbrauch ermöglichen.

Regulierung von KI-Anwendungen mit hohem Risiko

2.14.

Der EWSA begrüßt den risikobasierten Ansatz zur Steuerung der Auswirkungen von KI. Die Kommission kündigt einen Rechtsrahmen für „KI-Anwendungen mit hohem Risiko“ an, der die Anforderungen in Bezug auf Robustheit, Genauigkeit, Reproduzierbarkeit, Transparenz, menschliche Aufsicht und Datenverwaltung erfüllen soll. Dem Weißbuch zufolge werden KI-Anwendungen als risikoreich eingestuft, wenn sie die beiden folgenden Kriterien erfüllen: a) es handelt sich um einen Sektor, in dem mit erheblichen Risiken zu rechnen ist, und b) die Nutzung der KI-Anwendung ist mit erheblichen Risiken verbunden. Im Weißbuch werden zwei Beispiele für KI-Anwendungen hinzugefügt, die als von Natur aus risikoreich angesehen werden könnten, d. h. unabhängig vom betreffenden Sektor. Darüber hinaus wird die biometrische Erkennung als Anwendung eingestuft, die von Natur aus mit einem hohen Risiko behaftet ist. Die erschöpfende Liste der Sektoren mit hohem Risiko (die regelmäßig überprüft wird) umfasst derzeit die folgenden potenziell hochriskanten Sektoren: Gesundheitswesen, Verkehr, Energie und Teile des öffentlichen Sektors.

2.15.

Das zweite Kriterium — dass der Einsatz von KI mit Risiken verbunden ist — ist umfassender und legt den Schluss nahe, dass von unterschiedlichen Risikoniveaus ausgegangen werden könnte. Der EWSA schlägt vor, hier auch die Gesellschaft und die Umwelt als betroffene Bereiche hinzuzufügen.

2.16.

Nach der Logik des Weißbuchs wird eine KI-Anwendung mit hohem Risiko‚ die in einem Sektor mit geringem Risiko eingesetzt wird, grundsätzlich nicht dem Rechtsrahmen unterliegen. Der EWSA betont, dass unerwünschte nachteilige Auswirkungen von KI mit hohem Risiko in einem Sektor mit geringem Risiko KI-Anwendungen von der Regulierung ausnehmen und eine Möglichkeit für die Umgehung von Vorschriften bieten könnten: So kann z. B. gezielte Werbung (ein Sektor mit geringem Risiko) nachweislich zu Segregation, Diskriminierung und einer Spaltung der Bevölkerung führen, z. B. bei Wahlen oder durch personalisierte Preisgestaltung (eine Nutzung bzw. Wirkung mit hohem Risiko). Der EWSA empfiehlt, gemeinsame Merkmale von KI-Anwendungen zu formulieren, die unabhängig von dem Sektor, in dem sie eingesetzt werden, als mit einem hohen Risiko behaftet zu betrachten sind.

2.17.

Der EWSA erkennt zwar die Notwendigkeit einer Konformitätsprüfung der KI an, befürchtet jedoch, dass eine einmalige (oder sogar eine regelmäßig wiederholte) vorherige Konformitätsbewertung nicht ausreicht, um eine vertrauenswürdige und auf den Menschen ausgerichtete Entwicklung, Einführung und Nutzung von KI auf nachhaltige Weise zu gewährleisten. Vertrauenswürdige KI erfordert einen kontinuierlichen, systematischen soziotechnischen Ansatz‚ bei dem die Technologie aus allen Blickwinkeln und vor diversen Hintergründen betrachtet wird. Für die Politikgestaltung erfordert dies einen multidisziplinären Ansatz, bei dem politische Entscheidungsträger, Wissenschaftler aus verschiedenen Bereichen, die Sozialpartner, Berufsverbände, Fachleute, Unternehmen und NRO kontinuierlich zusammenarbeiten. Insbesondere in Bezug auf Dienstleistungen von öffentlichem Interesse im Zusammenhang mit Gesundheit, Sicherheit und dem Wohlergehen der Menschen, die auf Vertrauen fußen, muss sichergestellt werden, dass KI-Systeme an praktische Anforderungen angepasst sind und in der Hierarchie der Entscheidungen nicht über der menschlichen Verantwortung stehen können.

Biometrische Erkennung

2.18.

Der EWSA begrüßt die Aufforderung der Kommission, eine öffentliche Debatte über die Nutzung der KI-gestützten biometrischen Erkennung anzustoßen. Die biometrische Erkennung flüchtiger Gesichtsausdrücke, der Gangart, der Stimme bzw. des Tonfalls, der Herzfrequenz, der Körpertemperatur usw. wird bereits eingesetzt, um unser Verhalten, unseren psychischen Zustand und unsere Emotionen — etwa in Einstellungsverfahren — zu bewerten oder gar vorherzusagen. Eines muss ganz deutlich sein: Es gibt keine fundierten wissenschaftlichen Nachweise dafür, dass die Emotionen oder die psychische Verfassung einer Person von ihrem Gesichtsausdruck, ihrem Gang, ihrer Herzfrequenz, ihrem Tonfall bzw. ihrer Stimme oder ihrer Körpertemperatur präzise „abgelesen“ werden können, geschweige denn, dass das künftige Verhalten anhand dieser Daten vorhergesehen werden könnte.

2.19.

Es sei auch darauf hingewiesen, dass die Verarbeitung biometrischer Daten durch die Datenschutz-Grundverordnung nur zu einem gewissen Grad eingeschränkt wird. In der DSGVO werden biometrische Daten definiert als „mit speziellen technischen Verfahren gewonnene personenbezogene Daten zu den physischen, physiologischen oder verhaltenstypischen Merkmalen einer natürlichen Person, die die eindeutige Identifizierung dieser natürlichen Person ermöglichen oder bestätigen“. Viele Techniken zur biometrischen Erkennung sind jedoch nicht darauf ausgelegt, eine Person eindeutig zu identifizieren, sondern nur darauf, das Verhalten oder die Emotionen einer Person zu bewerten. Diese Anwendungen fallen möglicherweise nicht unter die Definition biometrischer Daten (Verarbeitung) gemäß DSGVO.

2.20.

Durch die KI-gestützte biometrische Erkennung wird auch unser Recht auf Achtung des Privatlebens, der Identität, der Autonomie und der psychischen Integrität im weiteren Sinne beeinträchtigt, indem eine Situation geschaffen wird, in der wir (ständig) beobachtet, verfolgt und identifiziert werden. Dies könnte psychologisch gesehen eine „abschreckende Wirkung“ haben, d. h. die Menschen könnten sich genötigt fühlen, ihr Verhalten einer bestimmten Norm anzupassen. Dies ist ein Eingriff in unser Grundrecht auf Privatsphäre (moralische und psychische Integrität). Darüber hinaus könnte die KI-gestützte biometrische Erkennung andere Grundrechte und -freiheiten wie die Versammlungsfreiheit und das Recht auf Diskriminierungsfreiheit beeinträchtigen.

2.21.

Der EWSA empfiehlt, die biometrische Erkennung nur dann zu erlauben, wenn die Wirkung wissenschaftlich nachgewiesen ist und die Verwendung in kontrollierten Umgebungen stattfindet sowie strengen Bedingungen unterliegt. Eine weitverbreitete Verwendung KI-gestützter biometrischer Erkennung zur Überwachung oder zur Verfolgung, Bewertung oder Kategorisierung von Menschen oder menschlichem Verhalten bzw. menschlichen Emotionen sollte nicht zulässig sein.

Auswirkungen der KI auf Arbeit und Kompetenzen

2.22.

Der EWSA stellt fest, dass es in dem Weißbuch an einer Strategie für den Umgang mit den Auswirkungen der KI auf die Arbeit mangelt, obwohl dies ein ausdrückliches Element der Europäischen Strategie für künstliche Intelligenz aus dem Jahr 2018 war.

2.23.

Der EWSA plädiert für eine frühzeitige und enge Einbeziehung von Arbeitnehmern und Dienstleistern aller Art, einschließlich Freiberuflern, Selbstständigen und Beschäftigten in der Gig-Economy — nicht nur derjenigen, die KI konzipieren oder entwickeln, sondern auch derjenigen, die KI-Systeme kaufen, umsetzen, mit ihnen arbeiten oder von KI-Systemen betroffen sind. Der soziale Dialog muss stattfinden‚ bevor KI-Technik im Einklang mit den geltenden nationalen Vorschriften und Verfahren am Arbeitsplatz eingeführt wird. Am Arbeitsplatz sollten der Zugriff auf und die Verwaltung von Arbeitnehmerdaten Grundsätzen und Vorschriften entsprechen, die von den Sozialpartnern ausgehandelt wurden.

2.24.

Der EWSA möchte besonders auf KI aufmerksam machen, die bei der Einstellung, Entlassung und Bewertung von Arbeitnehmern und bei Beurteilungsverfahren eingesetzt wird. Im Weißbuch wird KI, die bei der Einstellung von Personal eingesetzt wird, als Beispiel für eine Anwendung mit hohem Risiko genannt, die unabhängig vom Sektor reguliert werden soll. Der EWSA empfiehlt, diesen Anwendungsbereich auf KI auszuweiten, die bei der Entlassung und Bewertung von Arbeitnehmern sowie bei Beurteilungsverfahren eingesetzt wird, aber auch die gemeinsamen Merkmale der KI-Anwendungen zu untersuchen, deren Einsatz am Arbeitsplatz unabhängig vom Sektor als mit einem hohen Risiko behaftet einzustufen wäre. KI-Anwendungen ohne wissenschaftliche Grundlage — wie die Erkennung von Emotionen mittels Biometrie — sollten im Umfeld des Arbeitsplatzes nicht zugelassen werden.

2.25.

Damit sich die Menschen an die rasche Entwicklung im Bereich der KI anpassen können, sind die Pflege bzw. der Erwerb von KI-Kompetenzen erforderlich. Politische Maßnahmen und Finanzmittel müssen jedoch auch auf Bildung und Entwicklung von Kompetenzen in Bereichen ausgerichtet werden, die nicht durch KI-Systeme bedroht werden (z. B. Tätigkeiten, bei denen die menschliche Interaktion im Vordergrund steht, etwa Dienstleistungen von öffentlichem Interesse im Zusammenhang mit Gesundheit, Sicherheit und dem Wohlergehen der Menschen, die auf Vertrauen fußen, sowie Tätigkeiten, bei denen Menschen und Maschinen zusammenarbeiten oder die weiterhin von Menschen ausgeführt werden sollen).

3.   KI und Coronavirus

3.1.

KI kann dazu beitragen, das Coronavirus und Covid-19 besser zu verstehen, Menschen vor einer Exposition zu schützen, einen Impfstoff zu finden und Behandlungsmöglichkeiten zu erkunden. Es muss jedoch nach wie vor offen und klar gesagt werden, was KI leisten kann und was nicht.

3.2.

Robustheit und Wirksamkeit: Datengesteuerte KI zur Vorhersage der Ausbreitung des Coronavirus ist potenziell problematisch, da es zu wenige Daten über das Coronavirus gibt, um zuverlässige Ergebnisse zu erzielen. Darüber hinaus sind die wenigen Daten, die verfügbar sind, unvollständig und nicht repräsentativ. Die Verwendung dieser Daten für maschinelles Lernen könnte zu vielen falsch negativen bzw. falsch positiven Ergebnissen führen.

3.3.

Die Transparenz bezüglich der Daten und der verwendeten Modelle sowie die Erklärbarkeit der Ergebnisse sind von größter Bedeutung. Gerade jetzt kann es sich die Welt nicht leisten, Entscheidungen anhand einer „Black Box“ zu treffen.

3.4.

Wenn KI zur Bekämpfung dieser Pandemie eingesetzt wird, ist die Einhaltung der Menschenrechte, ethischer Grundsätze und geltender Rechtsvorschriften wichtiger denn je zuvor. Insbesondere wenn KI-Werkzeuge potenziell gegen die Menschenrechte verstoßen, muss ein berechtigtes Interesse an ihrer Verwendung bestehen, die unbedingt notwendig, verhältnismäßig und vor allem zeitlich begrenzt sein muss.

3.5.

Schließlich müssen wir für Fairness und Inklusion sorgen. Die KI-Systeme, die zur Bekämpfung der Pandemie entwickelt werden, sollten frei von Voreingenommenheit und nicht diskriminierend sein. Darüber hinaus sollten sie allen zugänglich sein und den gesellschaftlichen und kulturellen Unterschieden der verschiedenen betroffenen Länder Rechnung tragen.

Apps für die Rückverfolgung und Gesundheitsüberwachung

3.6.

Nach Ansicht von Virologen und Epidemiologen erfordert die Öffnung der Gesellschaft und der Wirtschaft eine wirksame Rückverfolgung und Überwachung sowie effiziente Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Menschen. Derzeit werden viele Apps für die Rückverfolgung und Durchführung von Gesundheitsscreenings entwickelt. Diese Tätigkeiten waren bisher üblicherweise Fachleuten vorbehalten. Weltweit setzen viele Regierungen große Hoffnungen in Rückverfolgungs-Apps, um das öffentliche Leben wieder in Gang zu bringen.

3.7.

Die Einführung solcher Apps ist ein sehr radikaler Schritt. Daher ist es wichtig, den Nutzen, die Notwendigkeit und die Wirksamkeit der Apps sowie ihre gesellschaftlichen und rechtlichen Auswirkungen kritisch zu prüfen, bevor über ihre Verwendung entschieden wird. Man muss nach wie vor die Möglichkeit haben, die Apps nicht zu nutzen, und weniger invasive Lösungen sollten Vorrang erhalten.

3.8.

Die Wirksamkeit und Zuverlässigkeit der Rückverfolgungs-Apps ist äußerst wichtig, da sonst viele falsch positive bzw. falsch negative Ergebnisse oder ein trügerisches Sicherheitsgefühl und somit eine höhere Ansteckungsgefahr drohen. Erste wissenschaftliche Simulationen lassen ernsthafte Zweifel daran aufkommen, ob sich eine Rückverfolgungs-App überhaupt positiv auf die Bekämpfung des Virus auswirken wird, selbst wenn 80 % oder 90 % der Bevölkerung sie nutzen würden. Außerdem kann eine App keine spezifischen Umstände wie das Vorhandensein von Plexiglas und Fenstern oder das Tragen persönlicher Schutzausrüstung registrieren.

3.9.

Darüber hinaus führen diese Apps dazu, dass Menschenrechte und Freiheiten (teilweise) außer Acht gelassen werden, da sie unsere Vereinigungsfreiheit, unser Recht auf Sicherheit, Nichtdiskriminierung und Privatsphäre betreffen.

3.10.

Beim Schutz der Privatsphäre geht es um sehr viel mehr als nur unsere personenbezogenen Daten und Anonymität, die gewiss sehr wichtig sind, nämlich auch um das Recht, nicht registriert, verfolgt und überwacht zu werden. Es wurde wissenschaftlich nachgewiesen, dass Menschen, die wissen, dass ihre Bewegungen verfolgt werden, zunehmend ihr Verhalten ändern. Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kommt diese „abschreckende Wirkung“ einem Eingriff in unsere Privatsphäre gleich. Das gleiche weit gefasste Konzept des Schutzes der Privatsphäre sollte auch in der Debatte über KI zugrunde gelegt werden.

3.11.

Es besteht die Gefahr, dass die (jetzt oder in Zukunft) erhobenen Daten nicht nur zur Bekämpfung der derzeitigen Pandemie, sondern auch zur Profilerstellung, Kategorisierung und Bewertung von Personen für unterschiedliche Zwecke verwendet werden. In weiter entfernter Zukunft ist es sogar vorstellbar, dass eine schleichende Ausweitung der Zweckbestimmung („function creep“) zu unerwünschten Formen der Profilerstellung in den Bereichen Aufsicht und Überwachung, Versicherungen oder Sozialleistungen, Einstellung oder Entlassung usw. führen könnte. Die mit solchen Apps erhobenen Daten dürfen daher unter keinen Umständen für die Erstellung von Profilen, Risikobewertungen, Klassifizierungen oder Prognosen verwendet werden.

3.12.

Darüber hinaus wird jede KI-Lösung, die unter diesen außergewöhnlichen Umständen und auch mit den besten Absichten eingesetzt wird, zwangsläufig einen Präzedenzfall schaffen. Frühere Krisen haben gezeigt, dass solche Maßnahmen trotz aller guten Absichten in der Praxis nie wieder abgeschafft werden.

3.13.

Der Einsatz von KI während dieser Pandemie sollte daher stets einem Abwägungsprozess unterzogen werden, bei dem z. B. folgende Fragen zu stellen sind: a) Ist die KI-Lösung wirksam und zuverlässig? b) Gibt es weniger invasive Lösungen? c) Überwiegt der Nutzen gegenüber gesellschaftlichen, ethischen und grundrechtlichen Bedenken? d) Kann ein verantwortungsvoller Kompromiss zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten erzielt werden, die im Gegensatz zueinander stehen? Darüber hinaus darf es keinerlei Verpflichtung oder Zwang zum Einsatz dieser Systeme geben.

3.14.

Der EWSA fordert die politischen Entscheidungsträger nachdrücklich auf, nicht vorschnell davon auszugehen, dass die Technologie eine Lösung für alles bietet. Angesichts der ernsten Lage empfehlen wir, dass Anwendungen im Zusammenhang mit Projekten, die zur Eindämmung der Pandemie beitragen sollen, auf fundierten Forschungsarbeiten in den Bereichen Epidemiologie, Soziologie, Psychologie, Recht, Ethik und Systemtheorie fußen. Bevor über den Einsatz dieser Systeme entschieden wird, müssen Wirksamkeits-, Erforderlichkeits- und Sensitivitätsanalysen und -simulationen durchgeführt werden.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/94


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein neuer Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft für ein saubereres und wettbewerbsfähigeres Europa“

(COM(2020) 98 final)

(2020/C 364/13)

Berichterstatter:

Antonello PEZZINI

Mitberichterstatter:

Cillian LOHAN

Befassung

Kommission, 22.4.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

25.6.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

215/2/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist davon überzeugt, dass die Nachhaltigkeit mittels eines kompetenten, partizipativen und durch eine Kultur der Kreislaufwirtschaft gestützten Wandels einer der Grundpfeiler der Entwicklung der Zukunft Europas ist.

1.2.

Beim Übergang zu einer europäischen Kreislaufwirtschaft muss auch der unabdingbare sozioökonomische Kontext der derzeitigen Entwicklung berücksichtigt werden. Die Herausforderungen der weltweiten Gesundheitskrise müssen zur Chance für eine Neubelebung auf neuen Grundlagen werden, mit den erforderlichen Voraussetzungen für eine schnellere Etablierung der Kreislauforientierung.

1.3.

Die neue Kultur, die der Kreislaufwirtschaft zugrunde liegt, sollte als Chance genutzt werden, um mit neuen Kriterien das Konzept des Reichtums der Gebietskörperschaften jenseits des BIP (1) zu beschleunigen.

1.4.

Die Verbreitung einer „Kreislaufkultur“ muss durch Bildung, Kapazitätenaufbau und eine verstärkte Teilhabe unbedingt stärker in den Vordergrund gerückt werden, um die Menschen zu ermutigen, ihre täglichen Gewohnheiten und Verhaltensweisen anzupassen und zu ändern.

1.5.

Die Europäische Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft (ECESP) muss gestärkt werden. Sie könnte verschiedene politische Initiativen unterstützen, die den Übergang zur Kreislaufwirtschaft erleichtern würden.

1.6.

Der Ausschuss begrüßt die Vorschläge im Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft (im Folgenden „Aktionsplan“). Er ist der Auffassung, dass die Maßnahmen für den Wandel bei der Erarbeitung der Pläne für den wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau nach der durch Covid-19 entstanden verheerenden Situation gebührend berücksichtigt werden müssen.

1.7.

Die Komplementarität zwischen Klimawandel, politischen Maßnahmen zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und sozialer Verantwortung von Unternehmen muss unbedingt anerkannt werden. Die kreislauforientierten Merkmale der Energieversorgung aus erneuerbaren Energiequellen sind herauszustellen. Besonders relevant ist dies für den Bau- und Verkehrssektor, jedoch auch für die Unterstützung der landwirtschaftlichen Prozesse und des Lebensmittelsystems, um die Verschwendung senken zu können.

1.8.

Nach Auffassung des EWSA bietet die im Europäischen Sozialfonds Plus vorgeschlagene Koalition für Kompetenzen und Arbeitsplätze eine hervorragende Gelegenheit zur Umsetzung der vorgesehenen Programme.

1.9.

Die umweltgerechte Produktgestaltung (Ökodesign) muss sich weiter etablieren, um die Lebensdauer der Produkte zu verlängern und die geplante Verwertung der Bestandteile als Triebkraft für einen dynamischen Markt für Sekundärrohstoffe zu fördern, gestützt durch rechtsverbindliche Maßnahmen mit dem Gebot zur Verwendung von Recyclinganteilen und digitaler Verfolgbarkeit.

1.10.

Wie bereits bei den energiebetriebenen Produkten sollte die Kommission in Abstimmung mit den betroffenen Sektoren delegierte Rechtsakte erlassen, in denen die Merkmale neuer Produkte festgelegt werden, die Bestandteil anderer Produkte werden können.

1.11.

Dem Prozess der technischen Normung nachhaltiger Produkte muss im Rahmen des Systems „Qualität und Konformität“, insbesondere in den ressourcenintensiven Sektoren, besondere Bedeutung eingeräumt werden. Dies sollte auch die Bewertung der Konformität und die Ausweitung der umweltgerechten Beschaffung und Zertifizierung von Sekundärrohstoffen umfassen.

1.11.1

Die nationalen Normungsgremien sollten in Zusammenarbeit mit den europäischen Stellen (2) möglichst bald beispielhafte Verfahrensweisen (3) und harmonisierte Normen erarbeiten, um den Übergang zur neuen Functional Economy zu erleichtern.

1.12.

Die praktische Umsetzung der Kreislaufwirtschaft erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen den Interessenträgern. Der EWSA spricht sich für klare politische Maßnahmen und finanzielle Unterstützung aus. Insbesondere im Bereich der Werbung muss darauf hingewirkt werden, dass sie — unter Einhaltung der Regeln des freien Marktes — ihren starken konsumorientierten Charakter verliert und Aspekte der Langlebigkeit von Produkten und die Möglichkeit einer Wiederverwendung stärker in den Vordergrund stellt.

1.13.

Nach Auffassung des EWSA ist es von wesentlicher Bedeutung, bessere Verbraucherinformationen und Daten über Produktmanagement, Rückverfolgbarkeit und Transparenz zu gewährleisten, auch unter Rückgriff auf Produktspezifikationen und digitale Technologien, um den Informationsfluss über Zusammensetzung und Reparaturmöglichkeiten zu ermöglichen.

1.14.

Der EWSA hält es für zweckmäßig, im Rahmen von europäischen Programmen eine konkrete Erprobung der Kreislaufwirtschaftsprozesse in unterschiedlichen Sektoren in zahlreichen europäischen Städten, Zentren der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft und ländlichen Gebieten zu fördern. Es gilt, wichtige Erfahrungen in Produktions- und Verbrauchsketten zu sammeln und als bewährte Verfahren zu nutzen.

1.15.

Nach Auffassung des EWSA müssen die öffentlichen und privaten Akteure auf bürgernaher territorialer Ebene eine wichtige Bedeutung bekommen. Sie können eine entscheidende Rolle dabei spielen, die neuen Möglichkeiten zu nutzen, weil sie öffentlich-private Partnerschaften schaffen und Beispiele für „gebietsbezogene soziale Verantwortung“ (4) und für soziale Verantwortung von Unternehmen generieren können, die auf die Grundsätze der kollaborativen Kreislauforientierung abstellen.

1.16.

Der EWSA spricht sich schließlich dafür aus, alle vorgeschlagenen Maßnahmen einer angemessenen Folgenabschätzung zu unterziehen, bei der die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen berücksichtigt werden.

2.   Sozioökonomischer Kontext auf dem Weg zu einer europäischen Kreislaufwirtschaft

2.1.

Unternehmen und Verbraucher erkennen immer mehr, dass die bislang angewandten linearen Wirtschaftsmodelle, die durch einen hohen Material- und Ressourcenverbrauch, den Einsatz von Methoden der geplanten Obsoleszenz und die Förderung der Erwerbs immer neuer Produkte gekennzeichnet sind, der nachhaltigen Entwicklung schaden.

2.2.

2019 wurden mehr als 92 Mrd. Tonnen Material abgebaut und verarbeitet, was etwa zur Hälfte der weltweiten CO2-Emissionen beigetragen (5) und erhebliche Umwelt- und Gesundheitsprobleme verursacht hat.

2.2.1

Der Verlust der biologischen Vielfalt ist zu mehr als 90 % auf die Gewinnung und Verarbeitung von Ressourcen zurückzuführen (6).

2.2.2

Rund 20 % der Treibhausgasemissionen werden durch die Gewinnung und Verarbeitung von Metallen und nichtmetallischen Mineralien verursacht (7).

2.2.3

Darüber hinaus ist die EU gezwungen, zu beträchtlichen Kosten den Großteil ihres Rohstoffbedarfs zu importieren.

2.3.

Eine Kreislaufwirtschaft, die

die soziale und ökologische Verantwortung von Unternehmen,

neue, lokale und hochwertige Arbeitsplätze,

Abfallentsorgung,

die kontinuierliche und sichere Nutzung der natürlichen Ressourcen,

ein kreislauforientiertes Planung-Herstellung-Verteilung-Verbrauch-System und

die Aufarbeitung und Wiederverwendung von Rückständen am Ende ihres Lebenszyklus fördert,

kann zur Entwicklung einer funktionalen Wirtschaft führen, die der Gesellschaft erhebliche Vorteile bringen kann.

2.4.

Derzeit sind lediglich 8,6 % der weltweiten Wirtschaftstätigkeiten kreislauforientiert. Um diesen Wandel meistern zu können, ist allerdings eine enge Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor erforderlich.

2.5.

Beim Übergang zu einer europäischen Kreislaufwirtschaft muss auch der für ihrer derzeitige Entwicklung unabdingbare berücksichtigt werden: In einer Zeit, in der die Coronavirus-Pandemie die schlimmste wirtschaftliche Rezession seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 ausgelöst hat.

2.5.1

Aufgrund von Covid-19 haben Unternehmen Einnahmeausfälle und unterbrechen die Lieferketten, während sich überall Fabrikschließungen und Arbeitslosigkeit mehren.

2.6.

Die derzeitigen dreifachen Risiken — unkontrollierte Pandemien, unzureichende wirtschaftspolitische Projekte und ein geopolitischer „schwarzer Schwan“ (ein absolut unvorhersehbares Ereignis) — könnten zu einer anhaltenden Weltwirtschaftskrise führen. Gleichzeitig werden sich alle Teile der europäischen Gesellschaft bewusst, dass für eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung Modalitäten nötig sind, die sowohl den technologischen Aspekten als auch der Produktivitätssteigerung und einer effizienteren Ressourcennutzung gerecht werden.

2.7.

Andererseits können die Herausforderungen, vor denen unser Planet zur Zeit steht, als eine riesige Chance genutzt werden, um der nachhaltigen Entwicklung neue Impulse zu verleihen, und zwar auf neuen Grundlagen, bei denen die Voraussetzungen für eine beschleunigte Umsetzung der neuen kreislauforientierten Konzepte geschaffen werden können.

2.8.

Der EWSA hat sich bereits mehrfach zur Notwendigkeit eines nachhaltigen und integrativen Wachstums geäußert. Gemeinsam mit der Europäischen Kommission hat er die Europäische Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft (ECESP) (8) ins Leben gerufen und unterstrichen, dass es „ungeachtet der bislang verbuchten Erfolge […] bei der Verwirklichung einer Kreislaufwirtschaft offensichtliche Schwierigkeiten [gibt]“.

2.9.

Wie die ECESP-Koordinierungsgruppe bekräftigt hat, muss der Übergang zu einer inklusiven, klimaneutralen und kreislauforientierten Wirtschaft jetzt beginnen (9).

2.10.

In seiner Erklärung vom 6. April 2020 betont der EWSA: „dass es […] in diesen Zeiten großer Unsicherheit nur mit einem umfassenden europäischen Konjunkturprogramm gelingen kann, die Folgen der Covid-19-Pandemie […] zu bewältigen und den Wiederaufbau einer nachhaltigeren […] europäischen Wirtschaft zu gewährleisten“.

3.   Der Vorschlag der Europäischen Kommission

3.1.

Der neue Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft (im Folgenden: Aktionsplan) enthält eine Reihe neuer Initiativen für den gesamten Gestaltungs- und Lebenszyklus von Produkten, damit die Bürger und Unternehmen in vollem Umfang an der Kreislaufwirtschaft teilnehmen können.

3.2.

Im Rahmen der EU-Industriestrategie werden Maßnahmen vorgeschlagen, um:

zu gewährleisten, dass nachhaltige Produkte in der EU zur Norm werden: Legislativvorschlag für eine Initiative für eine nachhaltige Produktpolitik, um sicherzustellen, dass die Konzipierung der Produkte, die auf dem EU-Markt in Verkehr gebracht werden, eine längere Lebensdauer gewährleistet;

die Position der Verbraucher zu stärken: Zugang zu verlässlichen Informationen mit einem echten „Recht auf Reparatur“;

den Schwerpunkt auf Sektoren zu legen, die mehr Ressourcen einsetzen und die ein hohes Potenzial für die Kreislaufwirtschaft aufweisen, so u. a.:

Elektronik und IKT: „Initiative für auf die Kreislaufwirtschaft ausgerichtete Elektronik“;

Batterien und Fahrzeuge: neuer Rechtsrahmen für Batterien;

Verpackungen: neue verbindliche Bestimmungen, in denen festgelegt ist, was auf dem EU-Markt zulässig ist;

Kunststoffe: neue verbindliche Anforderungen an den Rezyklatanteil;

Textilien: neue EU-Strategie zur Stärkung von Wettbewerbsfähigkeit und Innovation in der Textilbranche;

Bauwirtschaft und Gebäude: allgemeine Strategie für eine nachhaltige bauliche Umwelt;

Lebensmittel: neue Legislativinitiative zur Ersetzung von Einwegverpackungen, -geschirr und -besteck durch wiederverwendbare Produkte;

den Abfall zu reduzieren: Abfallvermeidung und -verarbeitung zu hochwertigen Sekundärrohstoffen;

das Kreislaufprinzip für Menschen, Regionen und Städte tauglich zu machen;

die Rolle der Normung zu stärken;

bereichsübergreifende Maßnahmen zu ergreifen: Kreislauforientierung als Voraussetzung für Klimaneutralität;

Maßnahmen auf globaler Ebene auf den Weg zu bringen;

die Fortschritte zu überwachen.

Es handelt sich um rund 35 Maßnahmen im Dreijahreszeitraum von Mitte 2020 bis Mitte 2023. Sie umfassen Initiativen in den Bereichen Elektronik, Abfallbewirtschaftung und personen- und umweltbezogene Dienstleistungen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass Nachhaltigkeit einer der Grundpfeiler der künftigen Entwicklung Europas ist. Durch einen kompetenten und partizipativen Übergang zur Kreislaufwirtschaft können die Bürger, Verbraucher, Unternehmen und Arbeitnehmer die Herausforderungen mit hohen Investitionen meistern. Dadurch können sie nicht nur zum Umweltschutz, sondern auch zur Entwicklung eines Konzepts der offenen und inklusiven Gesellschaft beitragen und die Ressourcen für die künftigen Generationen wahren.

4.1.1

Von der Kreislaufwirtschaft können insbesondere landwirtschaftliche Prozesse und das Lebensmittelsystem profitieren. So wird Verschwendung reduziert und das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger verbessert.

4.1.2

Für die Entwicklung grüner Technologien, der neuen biologischen Düngemittel und des Biomethan sind umfangreiche Investitionen erforderlich.

4.2.

Der Ausschuss begrüßt die im Aktionsplan vorgeschlagenen legislativen und politischen Maßnahmen und ist der Auffassung, dass die Maßnahmen für den Übergang zur Kreislaufwirtschaft gebührend berücksichtigt werden müssen, insbesondere nach der durch Covid-19 entstandenen verheerenden Situation.

5.   Kohärenz auf europäischer Ebene

5.1.

Nach Auffassung des EWSA ist es von wesentlicher Bedeutung, die Komplementarität zwischen Klimawandel und Kreislaufwirtschaftspolitik anzuerkennen. Energie muss ebenfalls aus erneuerbaren Energiequellen stammen und darf nicht wie bei fossilen Brennstoffen linear sein.

5.1.1

Die Kreislauforientierung beim Energieeinsatz schlägt sich auch in Form von Energieeinsparungen und Energieeffizienz nieder, was im Verkehrssektor noch dringlicher wird.

5.2.

Der Aufbau von Kapazitäten, die zur Förderung der Kreislaufwirtschaft erforderlich sind, sollte auf allen Ebenen gefördert werden. Der im Europäischen Sozialfonds Plus vorgeschlagene Kompetenz- und Beschäftigungspakt ist eine hervorragende Gelegenheit zur Umsetzung der vorgesehenen Programme.

5.3.

Die Rolle der öffentlichen Auftragsvergabe darf bei der Verwirklichung dieses Wandels nicht unterschätzt werden. Die ökologischen Mindestkriterien, die bereits Gegenstand der Richtlinien über die Vergabe öffentlicher Aufträge (10) sind, sollten verbindlich werden und mit angemessenen technischen Spezifikationen einhergehen (11). Für die Auftragnehmer sollten spezielle Schulungen vorgesehen werden, um zu gewährleisten, dass alle kreislauforientierten Optionen angeboten werden, und um zu vermeiden, dass eventuelle Hindernisse kreislauforientierte Auftragsvergaben verhindern.

5.4.

Nach Auffassung des Ausschusses muss unbedingt in den zahlreichen Initiativen, die in den nächsten Monaten auf den Weg gebracht werden, ausdrücklich darauf eingegangen werden, wie die Kreislauforientierung und Nachhaltigkeit der Investitionen verbessert werden kann — insbesondere in struktur- und finanzschwächeren Ländern.

5.4.1

Diese Initiativen sollten in Zusammenarbeit mit den lokalen Gebietskörperschaften und den Sozialpartnern gefördert werden, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf die Schaffung neuer und besserer Arbeitsplätze zu legen ist.

5.5.

Der EWSA begrüßt, dass rechtliche Anforderungen in Erwägung gezogen werden, um den Markt für Sekundärrohstoffe — insbesondere für Verpackungen, Fahrzeuge, Baustoffe und Batterien — zu fördern.

5.6.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Umsetzung kreislauforientierter Prozesse ist die umweltgerechte Gestaltung von Produkten. Die umweltgerechte Produktgestaltung muss sich weiter etablieren, damit sie zu einem integralen Bestandteil aller Produktionsphasen wird. Dies würde die Verwertung der Bestandteile als Triebkraft für einen dynamischen Markt für Sekundärrohstoffe fördern.

5.6.1

Vor diesem Hintergrund sollte die Kommission wie bereits bei den energiebetriebenen Produkten (12) delegierte Rechtsakte erlassen, in denen die Merkmale verschiedener Produkte des täglichen Gebrauchs festgelegt werden, die nach ihrer Abnutzung Bestandteil anderer Produkte werden können.

5.7.

Der technischen Normung kommt im Bereich der Kreislaufwirtschaft eine besondere Bedeutung zu. Angesichts des starken übergreifenden Charakters und der Komplexität des Themas ist es unerlässlich, für eine enge Koordinierung zwischen den verschiedenen Interessenträgern, den Normungsorganisationen und den Maßnahmen des Gesetzgebers zu sorgen.

5.8.

Der Prozess der technischen Normung nachhaltiger Produkte, insbesondere in ressourceneffizienten Sektoren, ist vor allem bei der Vergabe grüner Aufträge und bei der Klassifizierung von Rohstoffen und Sekundärmaterialien besonders wichtig.

5.9.

Der EWSA spricht sich dafür aus, alle vorgeschlagenen Maßnahmen einer angemessenen Folgenabschätzung zu unterziehen, bei der die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen berücksichtigt werden.

5.10.

Die derzeitige Debatte über den Wert und die Notwendigkeit der Anwendung der Grundsätze der Kreislaufwirtschaft könnte die Gelegenheit bieten, die bereits mehrfach diskutierte Frage entschlossen anzugehen, ob nicht über das herkömmliche BIP hinausgegangen werden sollte und ob die derzeitigen in den drei Systemen zur BIP-Berechnung (13) enthaltenen Elemente der Wirtschaftsleistung nicht um neue Elemente ergänzt werden sollten: Dazu gehören z. B die Schaffung solidarischer Systeme für eine integrative Gesellschaft, ein Leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten und die gerechte Verteilung der Güter.

6.   Bildung und Kultur

6.1.

Nach Auffassung des EWSA muss die Verbreitung einer „Kreislaufkultur“ durch Bildung, Kapazitätenaufbau und einer verstärkten Teilhabe unbedingt in den Vordergrund gerückt werden. Zudem muss der Dialog mit der Zivilgesellschaft ausgebaut werden, um die Menschen zu ermutigen, ihre täglichen Gewohnheiten und Verhaltensweisen anzupassen und zu ändern. Eine enge sektorübergreifende Zusammenarbeit ist ebenso von wesentlicher Bedeutung.

6.1.1

Die soziale Verantwortung der Unternehmen passt als konkretes Element für eine funktionale Wirtschaft hervorragend zur Kultur der Kreislaufwirtschaft, da sie außerordentliche Synergieeffekte zwischen den Interessen der Unternehmer und denen der Arbeitnehmer ermöglicht, die sich gemeinsam für eine nachhaltige Entwicklung mit besonderer Beachtung der Reduzierung von Verschwendung und Überfluss stark machen.

6.2.

Es wäre zweckmäßig, Vorschläge für die Aufnahme der Grundsätze der Kreislaufwirtschaft in die schulischen Lehrpläne und Hochschulprogramme sowie für die Finanzierung hochleistungsfähiger technischer Bildung und die Förderung kreativer Fähigkeiten zu unterbreiten.

6.3.

Das Programm Erasmus Plus wäre sehr geeignet gewesen, um den Austausch von Wissen über die Kreislaufwirtschaft zwischen den verschiedenen europäischen Ländern zu fördern.

6.4.

Die vom EWSA in Auftrag gegebene Studie (14) und seine Stellungnahme NAT/764 zur Erschließung von Synergien zwischen verschiedenen Fahrplänen für eine Kreislaufwirtschaft sowie das aktive Netz der europäischen Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft bilden eine solide Grundlage für den Austausch von Informationen und die Generierung von Wissen zwischen den betroffenen Akteuren.

6.5.

Die Wirtschaftsakteure und die Zivilgesellschaft könnten, auch durch den Einsatz geeigneter Mittel wie des „Missions-Fonds“ im Rahmen des Programms Horizont Europa, in zahlreichen europäischen Kommunen die Prozesse der Kreislaufwirtschaft konkret erproben.

6.6.

Die wesentliche Voraussetzung für die Umsetzung kreislauforientierter Prozesse ist jedoch die umweltgerechte Gestaltung von Produkten.

7.   Die Verbraucher als Hauptakteure bei der Umsetzung

7.1.

Die praktische Umsetzung der Kreislaufwirtschaft erfordert ein starkes Netz von informierten, beteiligten und vernetzten Interessenträgern. Die wichtigsten politischen und strukturellen Maßnahmen zur Unterstützung der verschiedenen Interessengruppen sollten ermittelt, regelmäßig überprüft und wirksam kommuniziert werden.

7.2.

In Bezug auf die Rolle von Werbung muss darauf hingewirkt werden, dass sie — unter Einhaltung der Regeln des freien Marktes — ihren starken konsumfördernden Charakter verliert, Aspekte der Langlebigkeit von Produkten und die Möglichkeit einer neuen Verwendung stärker in den Vordergrund stellt, ohne trügerisch und irreführend zu sein.

7.2.1

Es ist wichtig, dass bei Werbung die Grundsätze der lebensechten Umstände, der Trends und der besonderen Merkmale stärker im Vordergrund stehen, und dass konkrete Beispiele wie das Streben nach nachhaltiger Entwicklung oder die positiven Aspekte der Haltbarkeit von Produkten als für den Verbraucher und die Gesellschaft besonders wertvoll erscheinen.

7.3.

Das Recht auf Reparatur von Produkten zu fairen und verhältnismäßigen Preisen muss anerkannt und in die Produktgarantien aufgenommen werden, auch mithilfe von steuerlichen Bestimmungen sowie Netzen, die Reparaturdienstleistungen vor Ort und mit erleichtertem Zugang anbieten (15). In diesem Zusammenhang muss die Bekämpfung der geplanten Obsoleszenz zu einem festen Bestandteil der neuen technischen und rechtlichen Merkmale umweltverträglicher Produkte werden, die sich leicht reparieren und wiederverwerten lassen.

7.4.

Der EWSA anerkennt den Erfolg seiner Partnerschaft mit der Europäischen Kommission im Bereich der Entwicklung einer interinstitutionellen innovativen Plattform (ECESP) und spricht sich für eine künftige Ausweitung ihres Mandats aus.

7.4.1

Nach Auffassung des EWSA wäre es zweckmäßig, eine Änderung der Steueraufteilung in Erwägung zu ziehen und die Besteuerung des Faktors Arbeit zu senken. Die Besteuerung der Rohstoffe und insbesondere der weniger nachhaltigen Produkte sowie jener mit einer offensichtlichen Obsoleszenz sollte hingegen erhöht werden.

7.4.2

Der Grundsatz einer strengeren Besteuerung sollte bei Produkten angewandt werden, die in die EU eingeführt werden und den Kriterien der Kreislaufwirtschaft weniger zu entsprechen scheinen.

7.5.

Die Rolle der sozialen Unternehmen im Rahmen der Kreislaufwirtschaft sollte ausdrücklich anerkannt und unterstützt werden, um Wirtschaftstätigkeiten mit Erfahrung bei der Wiederverwertung, Reparatur und Regenerierung einen größeren sozialen Wert einräumen zu können. Denn sie engagieren sich für die Entwicklung der Kompetenzen der schutzberdürftigeren Personen in der Gesellschaft.

7.6.

Der EWSA betont, dass die europäischen Verbraucher besser über das Produktmanagement informiert werden müssen, einschl. über die Vorteile kreislauforientierter Gestaltung und Herstellung, sowie über die Rückverfolgbarkeit und Transparenz. Dafür sollte auch auf Produktpässe und digitale Technologien wie Blockchain zurückgegriffen werden, um den Informationsfluss über die Zusammensetzung, die Reparaturmöglichkeiten und das Ende der Lebensdauer zu ermöglichen.

7.7.

Verlässliche, vergleichbare und überprüfbare Informationen sind wichtig, um Verbraucher in die Lage zu versetzen, nachhaltigere Entscheidungen zu treffen, und verringern das Risiko der „Grünfärberei“ („Greenwashing“).

7.8.

Die lokalen Gebietskörperschaften sind bei der Bewirtschaftung von Wasser, Abfällen und sekundären Hubs für Rohstoffe von ausschlaggebender Bedeutung. Sie können im Rahmen von Partnerschaften Versuche durchführen, die für die Entwicklung der kreislauforientierten Innovation wichtig sind.

7.9.

Der EWSA unterstützt die in früheren Stellungnahmen bereits betonten Entwicklung der Grundsätze der „territorialen sozialen Verantwortung“, die die öffentliche und private Verantwortung für die kreislauforientierte Nachhaltigkeit vor Ort gewährleisten.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 53.

(2)  CEN, CENELEC und ETSI.

(3)  Siehe UNI Italia und Verfahren der Vornormierung (Verordnung Nr. 1025/2012).

(4)  ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 63.

(5)  Siehe Circular Economy and Material Value Chains — Weltwirtschaftsforum 2020.

(6)  Siehe Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP), Internationaler Ausschuss für Ressourcenbewirtschaftung, Global Resources Outlook 2019: Natural Resources for the Future We Want, 2019.

(7)  Siehe Energy Transitions Commission, Mission Possible: Reaching Net-Zero Carbon Emissions by Mid-Century, 2018.

(8)  EESC-2017-02666-05-00-DECBUR — Mandat der Koordinierungsgruppe.

(9)  Gemeinsame Erklärung der Mitglieder der Koordinierungsgruppe der Europäischen Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft zum neuen Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft (CEAP) — März 2020 [EN].

(10)  Richtlinien 2014/23/EU (ABl. L 94 vom 28.3.2014, S. 1), 2014/24/EU (ABl. L 94 vom 28.3.2014, S. 65), 2014/25/EU (ABl. L 94 vom 28.3.2014, S. 243).

(11)  Siehe UNI/beispielshafte Verfahrensweisen: Leitlinien für die Verfahren zur Überprüfung des Anteils von Recyklaten und/oder zurückgewonnenem Material und/oder Nebenprodukten in Produkten, die ökologischen Mindestkriterien unterliegen.

(12)  Siehe Richtlinie 2005/32/EG (ABl. L 191 vom 22.7.2005, S. 29),, geändert durch die Richtlinie 2009/125/EG (ABl. L 285 vom 31.10.2009, S. 10).

(13)  Siehe SEC 2010 EU.

(14)  https://www.eesc.europa.eu/de/our-work/publications-other-work/publications/circular-economy-strategies-and-roadmaps-europe-executive-summary.

(15)  Vgl. Richtlinie 1999/85/EG des Rates vom 22. Oktober 1999 hinsichtlich der Möglichkeit, auf arbeitsintensive Dienstleistungen versuchsweise einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden (ABl. L 277 vom 28.10.1999, S. 34): kleine Reparaturarbeiten betreffend Fahrräder, Schuhe und Lederwaren, Kleidung und Haushaltswäsche, Renovierung und Reparatur von Privatwohnungen und häusliche Pflegedienste.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/101


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Gestaltung der digitalen Zukunft Europas“

(COM(2020) 67 final)

(2020/C 364/14)

Berichterstatter:

Ulrich SAMM

Mitberichterstatter:

Jakob Krištof POČIVAVŠEK

Befassung

Kommission, 9.3.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

25.6.2020

Verabschiedung im Plenum

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

216/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt seit jeher die Initiativen der Kommission zur Förderung der Entwicklung der digitalen Wirtschaft und Gesellschaft und zeigt sich nun zufrieden, dass diese Dynamik durch ein Paket neuer Initiativen in den verschiedensten Bereichen verstärkt wird.

1.2.

Der EWSA plädiert für einen europäischen Weg der Digitalisierung, der die Nutzung wirtschaftlicher Chancen mit dem Schutz persönlicher Daten verbindet, damit Privatsphäre und Selbstbestimmung gewahrt bleiben. Der auf den Menschen ausgerichtete Ansatz aller Kommissionsinitiativen wird ausdrücklich begrüßt.

1.3.

Nach Auffassung des EWSA hat Europa die richtige Richtung eingeschlagen, aber noch einen weiten Weg zu gehen. Die Digitalisierung entwickelt sich rasant weiter, und die europäischen Rechtsvorschriften müssen damit Schritt halten. Nötig ist deshalb ein solider und anspruchsvoller Rechtsrahmen mit rechtsverbindlichen ethischen Regeln und klaren Haftungsvorschriften. Der EWSA ist davon überzeugt, dass eine solche dynamische Entwicklung auch flexible und anpassungsfähige Prozesse mit einem ständigen Dialog zwischen den Beteiligten erfordert, der insbesondere für Arbeitnehmer verbindlich sein sollte, damit diese die Möglichkeit haben, ihre Meinung einzubringen. Der EWSA ist als Vertreter der Organisationen der Zivilgesellschaft bereit, sich dabei einzubringen.

1.4.

Es ist wichtig, in die richtigen Zukunftstechnologien zu investieren, die Ausbildung der Menschen zu fördern und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zu gewinnen. Diese sollten darin bestärkt werden, sich aktiv an den Veränderungen zu beteiligen. Der digitale Wandel muss gerecht, nachhaltig und sozialverträglich sein.

1.5.

Der EWSA stimmt mit der Kommission überein, dass wir einen echten europäischen Binnenmarkt für Daten, d. h. einen auf europäischen Regeln und Werten basierenden europäischen Datenraum schaffen müssen. Der EWSA begrüßt die Initiative für eine neue EU-Industriestrategie mit Maßnahmen zur Erleichterung der Umstellung auf eine stärker digitalisierte, saubere, kreislauforientierte und weltweit wettbewerbsfähigere EU-Industrie mit nachhaltigen Unternehmen, die auch eine Strategie für KMU umfasst.

1.6.

Der EWSA betont, dass die technologische Souveränität Europas nicht in Abgrenzung zu anderen auf Kosten der Vorteile der globalen Zusammenarbeit definiert werden sollte. Die Bedürfnisse der Europäer und die Anforderungen des europäischen Sozialmodells mit der europäischen Säule sozialer Rechte als Bezugspunkt müssen jedoch auch angemessen berücksichtigt werden.

1.7.

Allgemeine und berufliche Bildung, in deren Rahmen digitale Kompetenzen vermittelt werden, sind der Schlüssel für die Vorbereitung auf einen digitalen Alltag. Der EWSA begrüßt den Fokus der Kommission auf digitalen Kompetenzen und Fähigkeiten, fordert sie jedoch auf, besser zwischen technischen und sozialen Kompetenzen zu unterscheiden, wenngleich beide von entscheidender Bedeutung sind. Es müssen zusätzliche Anstrengungen unternommen und Mittel für die Vermittlung von digitalen Kompetenzen an Mitglieder sozial benachteiligter Gruppen bereitgestellt werden.

1.8.

Europas digitale Zukunft auf der Grundlage eines menschenzentrierten Ansatzes wird nur dann erfolgreich sein, wenn die Menschen Vertrauen haben können. Der EWSA stellt fest, dass die Kommission eine klare Unterscheidung anstrebt zwischen Anwendungen mit hohem Risiko, für die strenge Vorschriften gelten sollten, und Anwendungen mit geringem Risiko, bei denen es ausreicht, sich auf Selbstregulierung und Marktmechanismen zu verlassen. Der EWSA begrüßt diesen allgemeinen Ansatz, betont jedoch auch, dass eine eingehende und gründliche Analyse der verschiedenen Anwendungen erforderlich ist.

1.9.

Der EWSA begrüßt auch den menschenzentrierten Ansatz bei Herausforderungen für Arbeitnehmer im Zusammenhang mit Online-Plattformen. Ein verbesserter Rechtsrahmen, der prekäre Arbeitsbedingungen verhindert und die Rechte der Arbeitnehmer einschließlich Tarifverhandlungen in der Online-Wirtschaft sicherstellt, ist einer der wichtigen Aspekte dieses Ansatzes.

1.10.

Nach Auffassung des EWSA bleibt die Entwicklung digitaler öffentlicher Dienste für die digitale Zukunft unberücksichtigt, insbesondere da grenzübergreifende elektronische Behördendienste den (digitalen) Binnenmarkt stärken und die öffentliche Regulierung und Koordinierung verbessern könnten.

1.11.

Die derzeit herrschende COVID-19-Pandemie hat der Gesellschaft praktisch vor Augen geführt, wie wichtig die Nutzung der digitalen Technologie eigentlich ist. Dies bringt zahlreiche neue Herausforderungen mit sich. Heute, da viele Menschen von zu Hause aus kommunizieren, lernen und arbeiten müssen, zeigt sich, dass viele von ihnen nicht angemessen für die effiziente Nutzung neuester digitaler Technologien gerüstet sind und dass auch die digitale Infrastruktur nicht in der Lage ist, einen gleichberechtigen Zugang und eine inklusive digitale Teilhabe sicherzustellen.

1.12.

Die Verhaltensänderungen, die aufgrund der Maßnahmen der nationalen Regierungen zur Eindämmung der Ausbreitung von COVID-19 notwendig geworden sind, könnten Verbrauchergewohnheiten und Arbeitsbeziehungen auf lange Sicht dauerhaft verändern. Die positiven ebenso wie die negativen Auswirkungen dieser Veränderungen müssen bei der Gestaltung neuer Maßnahmen in diesem Bereich berücksichtigt werden. Der digitale Wandel sollte im Wege einer umfassenden und von der EU finanzierten arbeitsorientierten Forschungsinitiative zum Thema „Digitalisierung für gute Arbeit“ überwacht werden. Der EWSA ist davon überzeugt, dass die Digitalisierung langfristig nur dann erfolgreich sein kann, wenn die Systeme der Industrie 4.0 einem effizienten und arbeitnehmerfreundlichen Ansatz folgen (1).

2.   Einleitung und Inhalt der Mitteilung

2.1.

Mit dieser Mitteilung legt die neue Kommission ein Rahmendokument vor, in dem eine Reihe von Initiativen zur Gestaltung der digitalen Zukunft Europas beschrieben werden. Europa muss beim gerechten Übergang zu einem gesunden Planeten und auf dem Weg in eine neue digitale Welt die Führung übernehmen. Die Herausforderungen des ökologischen und des digitalen Wandels müssen deshalb zusammen angegangen werden, damit die digitalen Technologien den Grünen Deal gemäß den Nachhaltigkeitszielen unterstützen.

2.2.

Zu diesem Zweck hat die Kommission ein Paket von Initiativen angekündigt. Die verschiedenen, für dieses und für das nächste Jahr vorgestellten bzw. angekündigten Initiativen lassen sich in drei Hauptbereiche gliedern:

Technologie im Dienste der Menschen:

Weißbuch zur künstlichen Intelligenz (COM(2020) 65 final, siehe INT/894);

Strategie für Quantentechnologien, Blockchain und Hochleistungsrechnen;

Aktionsplan für 5G und 6G (vorgelegt als COM(2020) 50 final, siehe TEN/704);

Aktionsplan für digitale Bildung und verbesserte Kompetenzagenda;

Initiative zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformarbeitern;

Standards für einen sicheren Datenverkehr und sichere Datendienste ohne Grenzen im öffentlichen Sektor.

Eine faire und wettbewerbsfähige Wirtschaft:

Europäische Datenstrategie (vorgelegt als COM(2020) 66 final, siehe TEN/708);

Eignungsprüfung der EU-Wettbewerbsregeln;

Paket zur Industriestrategie;

Mitteilung über die Unternehmensbesteuerung im 21. Jahrhundert;

neue Verbraucheragenda.

Eine offene, demokratische und nachhaltige Gesellschaft:

neue und überarbeitete Vorschriften zur Vertiefung des Binnenmarkts für digitale Dienste;

Überarbeitung der eIDAS-Verordnung;

Aktionsplan für die Medien und den audiovisuellen Sektor;

Europäischer Aktionsplan für Demokratie;

Cybersicherheitsstrategie der Europäischen Union;

Initiative zur Entwicklung eines digitalen Hochpräzisionsmodells der Erde;

eine Initiative für auf die Kreislaufwirtschaft ausgerichtete Geräte;

Förderung elektronischer Patientenakten.

2.3.

Ferner werden eine globale Strategie für die digitale Zusammenarbeit und eine Normungsstrategie angekündigt, um die Interessen Europas als globaler Akteur geltend zu machen.

3.   Der europäische Weg — die Menschen in den Mittelpunkt der Digitalisierung stellen

3.1.

Die Digitalisierung eröffnet den Menschen in bisher ungekannter Weise eine Fülle neuer Entscheidungsmöglichkeiten für ein besseres Leben. Je stärker die Digitalisierung jedoch unser Leben beeinflusst und je stärker wir vernetzt sind, desto anfälliger sind wir für böswillige Cyberaktivitäten, Manipulationen und Technologien, die unsere Autonomie untergraben.

3.2.

Der EWSA plädiert daher für einen europäischen Weg der Digitalisierung auf der Grundlage der europäischen Werte, der die Nutzung wirtschaftlicher Chancen mit dem Schutz persönlicher Daten verbindet, damit Privatsphäre und Selbstbestimmung gewahrt bleiben. Der auf den Menschen ausgerichtete Ansatz aller Kommissionsinitiativen wird ausdrücklich begrüßt.

3.3.

Der EWSA begrüßt auch den menschenzentrierten Ansatz bei Herausforderungen für Arbeitnehmer im Zusammenhang mit Online-Plattformen. Ein verbesserter Rahmen, der prekäre Arbeitsbedingungen verhindert und die Rechte der Arbeitnehmer einschließlich Tarifverhandlungen in der Online-Wirtschaft sicherstellt, ist einer der wichtigen Aspekte dieses Ansatzes. Der EWSA betont, dass auf Plattformen sowohl Selbstständige als auch abhängig Beschäftigte arbeiten. Selbstständige befinden sich in einer B2B- oder einer B2C-Beziehung (Business to Business bzw. Business to Consumer). Auf europäischer Ebene erstellte Verhaltenskodexe und Geschäftsbedingungen für die B2B-Beziehungen sollten einen fairen Wettbewerb zwischen Unternehmen aller Größen sicherstellen und Scheinselbstständigkeit verhindern.

3.4.

Der EWSA betont auch die Notwendigkeit digitaler Lösungen für die Umsetzung des Grünen Deals, insbesondere in Bezug auf die Kreislaufwirtschaft. Der Energieverbrauch, die Rohstoffe für IKT und die Recyclingfähigkeit von IKT-Geräten gehören jedoch zu den weiteren Herausforderungen auf diesem Weg.

3.5.

Europa hat die richtige Richtung eingeschlagen, aber noch einen weiten Weg zu gehen. So waren etwa die Datenschutz-Grundverordnung und die ethischen Leitlinien für KI wichtige Schritte. Die Digitalisierung entwickelt sich jedoch rasant weiter, und die europäischen Rechtsvorschriften müssen damit Schritt halten. Der EWSA fordert einen soliden und anspruchsvollen Rechtsrahmen mit rechtsverbindlichen ethischen Regeln und klaren Haftungsvorschriften. Der EWSA ist davon überzeugt, dass diese dynamische Entwicklung auch flexible und anpassungsfähige Prozesse mit einem ständigen Dialog zwischen den Beteiligten erfordert. Der EWSA ist als Vertreter der Organisationen der Zivilgesellschaft bereit, sich dabei einzubringen.

3.6.

Nach Auffassung des EWSA muss klar herausgearbeitet werden, dass tragfähige demokratische Strukturen für den Kapazitätsaufbau und die Herstellung von Vertrauen zwischen den Sozialpartnern notwendig sind. Der EWSA ist überzeugt, dass grundlegende Veränderungen durch die Digitalisierung in den Unternehmen nur dann erfolgreich vollzogen werden können, wenn Vertrauen zwischen der Unternehmensleitung und den Arbeitnehmervertretern herrscht. Der Aufstieg populistischer Bewegungen im 21. Jahrhundert stellt jedoch die traditionelle Form der Vertrauensbildung durch die Vertretung sozialer Interessen in Frage. Deshalb müssen geeignete Maßnahmen zur Förderung des sozialen Dialogs auf EU-Ebene ergriffen werden. Dabei geht es um Sozialvorschriften im Unternehmen, dessen Wirtschaftsleistung und die Stärkung demokratischer Veränderungen insgesamt.

4.   Eine faire und wettbewerbsfähige Wirtschaft

4.1.

Daten sind zu einem wirtschaftlichen Schlüsselfaktor geworden. Der EWSA stimmt mit der Kommission überein, dass wir einen echten europäischen Binnenmarkt für Daten, d. h. einen auf europäischen Regeln und Werten basierenden europäischen Datenraum schaffen müssen. Der EWSA begrüßt die Initiative für eine neue EU-Industriestrategie mit Maßnahmen zur Erleichterung der Umstellung auf eine stärker digitalisierte, saubere, kreislauforientierte und weltweit wettbewerbsfähigere EU-Industrie, die auch eine Strategie für KMU umfasst.

4.2.

Der EWSA ist auch der Auffassung, dass zur Sicherstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen Vorschriften, die offline gelten — von Wettbewerbs- und Binnenmarktvorschriften über Verbraucherschutzregelungen bis hin zu Bestimmungen über geistiges Eigentum, Steuern und Arbeitnehmerrechte — auch online gelten sollten.

4.3.

Nach Überzeugung des EWSA ist eine erhebliche Erhöhung der Investitionen (in den EU-Mitgliedstaaten) in Verbindung mit einem starken europäischen Forschungs- und Innovationsprogramm erforderlich, um ein Weltniveau im Hochleistungsrechnen aufrechtzuerhalten. Ein industrieller Ansatz für die Entwicklung der nächsten Mikroprozessorgeneration mit niedrigem Stromverbrauch in Europa wird die Importabhängigkeit der EU verringern.

4.4.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass Innovation und (insbesondere öffentliche) Investitionen auch dazu beitragen können, regionale Entwicklungsunterschiede zu beseitigen, wenn der Zugang zur digitalen Infrastruktur und damit zum digitalen Markt auch in abgelegenen Gebieten verfügbar ist. Dies ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, beim digitalen Wandel niemanden zurückzulassen.

4.5.

Der EWSA betont, dass die technologische Souveränität Europas nicht in Abgrenzung zu anderen auf Kosten der Vorteile der globalen Zusammenarbeit definiert werden sollte. Allerdings müssen auch die Bedürfnisse der Europäer und die Erfordernisse des europäischen Sozialmodells angemessen berücksichtigt werden, wobei die Maßnahmen der Europäischen Kommission zur Stärkung der europäischen Säule sozialer Rechte als Referenz dienen sollten. Die Anwendung europäischer Werte (Datenschutz, Privatsphäre, Sozialschutz, Nachhaltigkeit) könnte zu einem Wettbewerbsvorteil werden, wenn in der Öffentlichkeit und bei den Unternehmen das Bewusstsein für die Methoden der Datennutzung durch Dritte (USA) und das Überwachungspotenzial digitaler Systeme (China) zunimmt.

4.6.

Die Kommission erklärt zu Recht, dass wir sicherstellen müssen, dass die systemische Rolle bestimmter Online-Plattformen und die von ihnen erworbene Marktmacht die Fairness und Offenheit unserer Märkte nicht gefährden. Dazu und auch zur Förderung der Entwicklung von Online-Plattformen in der EU sollten die EU-Vorschriften gleiche Wettbewerbsbedingungen und Zugang zu den wichtigsten Triebkräften für digitale Innovation (2) (insbesondere Daten) und zum Ökosystem der von den Verbrauchern genutzten Produkte gewährleisten.

4.7.

Die Kommission stellt fest, dass die Gewährleistung von Fairness in der digitalen Wirtschaft zwar eine große Herausforderung darstellt, jedoch unabdingbar ist. Daher unterstützt der EWSA die Absicht, zusätzliche Vorschriften einzuführen, um Wettbewerbsfähigkeit, Fairness und Innovation sowie die Möglichkeit des Marktzutritts sicherzustellen und öffentliche Interessen zu wahren, die über den Wettbewerb oder wirtschaftliche Erwägungen hinausgehen. Der EWSA stellt fest, dass die Besteuerung der digitalen Wirtschaft erhebliche Auswirkungen in dieser Hinsicht haben wird. Von Bedeutung werden deshalb internationale und europäische Lösungen in diesem Bereich sein, und die EU sollte darauf hinwirken, dass die Besteuerung der digitalen Wirtschaft gerecht erfolgt und Fragmentierung und einseitige Maßnahmen nicht zulässt.

4.8.

Der EWSA begrüßt die Initiative, mit der die Arbeitsbedingungen der Plattformarbeiter verbessern werden sollen, insbesondere durch Konzentration auf Kompetenzen und Bildung, weist jedoch darauf hin, dass zugleich auch Herausforderungen etwa in Bezug auf den Beschäftigungsstatus, die Vertretung und Schritte zur Verbesserung des sozialen Schutzes der Plattformarbeiter sowie Streitbeilegung und die Durchsetzung von Rechten angegangen werden müssen. Dies gilt insbesondere für grenzüberschreitende Erwerbstätige. Auf Ersuchen des bevorstehenden deutschen Ratsvorsitzes wird der EWSA eine Sondierungsstellungnahme zum Thema „Gute Arbeit in der Plattformökonomie“ erarbeiten.

4.9.

Nach Auffassung des EWSA bleibt die Entwicklung digitaler öffentlicher Dienste für die digitale Zukunft in der Mitteilung der Kommission unberücksichtigt, insbesondere da grenzübergreifende elektronische Behördendienste den (digitalen) Binnenmarkt stärken und die öffentliche Regulierung und Koordinierung verbessern könnten.

5.   Bildung zur Vorbereitung auf einen digitalen Alltag

5.1.

Allgemeine und berufliche Bildung, in deren Rahmen digitale Kompetenzen vermittelt werden, sind der Schlüssel für die Vorbereitung auf einen digitalen Alltag. Der EWSA begrüßt den Fokus der Kommission auf digitalen Kompetenzen und Fähigkeiten, fordert sie jedoch auf, besser zwischen technischen und sozialen Kompetenzen zu unterscheiden, wenngleich beide von entscheidender Bedeutung sind. Die Herstellung von „Arbeitsfähigkeit“ anstelle bloßer Korrekturen an der „Beschäftigungsfähigkeit“ erfordert Maßnahmen zur kontinuierlichen Unterstützung des lebenslangen Lernens.

5.2.

Die meisten Fachkräfte werden künftig technische Fähigkeiten (Programmieren auf verschiedenen Ebenen) benötigen. Dies ist für die Bildungssysteme und Berufsbildungseinrichtungen in den Mitgliedstaaten eine Herausforderung. Die Fachkräfte müssen für neue Instrumente geschult werden, und sie müssen sich über deren Eigenschaften, Grenzen und Gefahren bewusst sein, da letztlich sie die Verantwortung tragen. Dennoch müssen möglichst viele Bürger zumindest grundlegende technische Fähigkeiten erwerben, um digitale Technologien und Instrumente auf produktive, inklusive und sichere Weise verstehen, nutzen und handhaben zu können. Die Vermittlung grundlegender technischer Kenntnisse ist erforderlich, um Menschen aller Altersstufen zu unterstützen, insbesondere jedoch ältere Menschen, damit sie digitale Technologien und Instrumente verstehen und sicher nutzen können.

5.3.

Soziale Kompetenzen erfordern kein besonderes technisches Wissen, jedoch sollten sie so früh wie möglich vermittelt werden. Diese Kompetenzen ermöglichen es Kindern, Verbrauchern und Bürgern, den Hintergrund digitaler Systeme zu verstehen und sie optimal zu nutzen. Sie tragen dazu bei, mögliche Bedrohungen infolge von Manipulation oder Kriminalität zu erkennen und die Flut der erhaltenen Informationen zu bewerten. Der EWSA erinnert daran, dass allgemeine Bildung nach wie vor die beste Vorbereitung auf künftige Entwicklungen ist.

5.4.

Für die Nutzung von und Arbeit mit künstlicher Intelligenz sind besondere Kompetenzen und Kenntnisse sowie ein entsprechendes Verständnis erforderlich. Der EWSA möchte dazu auf die Erfahrungen Finnlands zurückgreifen, das vorschlägt, so viele Menschen wie möglich im Bereich KI über Online-Kurse zu schulen.

5.5.

Der EWSA hat bereits in der Vergangenheit betont, dass es im digitalen Zeitalter mit seinen raschen Veränderungen nicht genügt, den Einzelnen dabei zu unterstützen, ein Mindestmaß an Kompetenzen zu erwerben, und dass unbedingt sicherzustellen ist, dass die Kompetenzgarantie zu einem garantierten Ausbildungsweg wird, der den Menschen Anreize zur Weiterbildung bietet und ihnen Fortschritte und den Aufstieg bis zum höchsten jeweils erreichbaren Qualifikationsniveau ermöglicht (3).

5.6.

Der EWSA bekräftigt die Rolle der Sozialpartner bei der Verwirklichung eines fairen und gerechten Übergangs. Es ist grundlegend, mit der Strategie den Qualifikationsbedarf zu antizipieren und somit auch die rechtzeitige und angemessene Umschulung und Fortbildung zu unterstützen. Die Rolle der Sozialpartner und ihre Einbeziehung sind in diesem Zusammenhang ebenso wie bei Diskussionen über die Einführung neuer Technologien von größter Bedeutung.

6.   Vertrauen und Verantwortung im digitalen Alltag

6.1.

Europas digitale Zukunft auf der Grundlage eines menschenzentrierten Ansatzes wird nur dann erfolgreich sein, wenn die Menschen Vertrauen haben können. Der EWSA fordert angemessene Garantien für den Schutz der Privatsphäre, die Sicherheit und die Daten-Governance und schließlich die Transparenz der KI-Algorithmen, um dieses Vertrauen zu gewinnen.

6.2.

Der EWSA stellt fest, dass die Kommission eine klare Unterscheidung anstrebt zwischen Anwendungen mit hohem Risiko, für die strenge Vorschriften gelten sollten, und Anwendungen mit geringem Risiko, bei denen es ausreicht, sich auf Selbstregulierung und Marktmechanismen zu verlassen. Der EWSA begrüßt diesen allgemeinen Ansatz, betont aber auch, dass eine eingehende und gründliche Analyse der verschiedenen Anwendungen sowohl jetzt als auch für künftige Entwicklungen erforderlich ist. Im Zweifelsfall sollten Anwendungen als mit hohem Risiko behaftet eingestuft werden. Der EWSA unterstützt insbesondere die Entscheidung, jene Anwendungen als mit einem hohen Risiko behaftet einzustufen, die Auswirkungen auf die Rechte von Arbeitnehmern und Stellenbewerbern haben, und schlägt vor, an dieser Entscheidung festzuhalten, um die digitalen Rechte von Arbeitnehmern zu stärken.

6.3.

Der EWSA hat bereits die Entwicklung von Standardtestverfahren zur Bewertung der Funktionalität und der Grenzen digitaler Systeme (bedingt durch Voreingenommenheit, Vorurteile, Diskriminierung, Widerstandsfähigkeit, Robustheit, Sicherheit usw.) gefordert. Je nach Höhe des Risikos können solche Tests entweder von Entwicklern und Unternehmen selbst oder von unabhängigen Einrichtungen durchgeführt werden. Der EWSA begrüßt die Überlegungen der Kommission zu einem freiwilligen Kennzeichnungssystem. Er hat mit einem europäischen Zertifikat für vertrauenswürdige KI bereits einen ähnlichen Ansatz vorgeschlagen.

6.4.

Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, eine breite Debatte über Ausnahmefälle einzuleiten, in denen Gesichtserkennung für biometrische Fernidentifizierung zugelassen werden kann. Unverhältnismäßige Überwachung am Arbeitsplatz und Diskriminierung auf der Grundlage voreingenommener Algorithmen sollten ebenfalls gesetzlich untersagt sein.

6.5.

Der EWSA hebt hervor, dass Vertrauen allein nicht ausreicht. Kritisches Denken auf der Grundlage von Allgemeinbildung ist nach wie vor von zentraler Bedeutung. Dies ist besonders wichtig bei der Abwehr von demokratiegefährdender Desinformation.

6.6.

Der EWSA betont, dass Vertrauen auch die Einhaltung der Arbeitnehmerrechte auf Unterrichtung und Anhörung einschließt, die im Falle von Veränderungen am Arbeitsplatz gemäß den EU-Verträgen zur Anwendung kommen und aus „Arbeitnehmern“„Bürger am Arbeitsplatz“ machen.

6.7.

Der EWSA betont, dass die EU-Rechtsvorschriften von besonderer Bedeutung für den Schutz der Verbraucher und Arbeitnehmer sind, die nicht über professionelle digitale Kompetenzen verfügen.

7.   Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die Digitalisierung

7.1.

Die derzeit herrschende COVID-19-Pandemie hat der Gesellschaft praktisch vor Augen geführt, wie wichtig die Nutzung der digitalen Technologie eigentlich ist. Dies bringt zahlreiche neue Herausforderungen mit sich. Heute, da viele Menschen von zu Hause aus kommunizieren, lernen und arbeiten müssen, zeigt sich, dass viele von ihnen nicht angemessen für die effiziente Verwendung neuester digitaler Technologien gerüstet sind und dass auch die digitale Infrastruktur nicht in der Lage ist, einen gleichberechtigen Zugang und eine inklusive digitale Teilhabe sicherzustellen. Die digitalen Netze sind noch nicht hinreichend ausgebaut, um der gestiegenen Belastung gewachsen zu sein, und es müssen ausreichend Investitionen getätigt werden, um eine effiziente Datenübertragung mit hohen Geschwindigkeiten nicht nur für kommerzielle, sondern auch für private Zwecke bereitzustellen, und dies auch in abgelegenen Gebieten.

7.2.

Besonderes Augenmerk muss auf benachteiligte Gruppen gerichtet werden. Insbesondere ältere Menschen, die nicht über ausreichende Kenntnisse, Erfahrung bzw. nicht einmal die nötige Ausrüstung zur Nutzung von Internetplattformen verfügen, stehen nun ohne geeignete Kommunikationsmittel da. Es ist schwerer für sie, soziale Kontakte zu Familienmitgliedern und anderen Menschen zu halten, und soziale und sonstige öffentliche Dienstleistungen sind für sie nicht verfügbar oder zumindest weniger leicht zugänglich. Es müssen zusätzliche Anstrengungen unternommen und Ressourcen für die Vermittlung von digitalen Kompetenzen an Mitglieder sozial benachteiligter Gruppen bereitgestellt werden.

7.3.

Zudem zeigen Quarantänemaßnahmen und die vorübergehende Schließung der Grenzen zwischen Mitgliedstaaten, dass es mit Blick auf Grenzgänger und Telearbeit noch weitere Auswirkungen und Mängel in Bezug auf den aktuellen Stand des digitalen Binnenmarktes gibt. Die COVID-19-Krise hat zudem einen gewaltigen Aufschwung des Onlinehandels und bargeldloser Zahlungsmethoden mit sich gebracht und zugleich zur Zunahme unlauterer und betrügerischer Praktiken geführt. Die Verhaltensänderungen, die aufgrund der Maßnahmen der nationalen Regierungen zur Eindämmung der Ausbreitung von COVID-19 notwendig geworden sind, könnten Verbrauchergewohnheiten und Arbeitsbeziehungen auf lange Sicht dauerhaft verändern. Die positiven ebenso wie die negativen Auswirkungen dieser Veränderungen müssen bei der Gestaltung neuer Maßnahmen in diesem Bereich berücksichtigt werden.

7.4.

Die digitale Welt wurde umfassend mobilisiert, um Fachwissen im Kampf gegen COVID-19 zu liefen. Viel wird über Tracing-Apps (Apps zur Kontaktnachverfolgung) diskutiert, durch die Personen informiert werden, die in den zurückliegenden Tagen Kontakt zu anderen Personen hatten, bei denen COVID-19 festgestellt wurde. Der EWSA bedauert, dass keine Einigung über die europäische Initiative zur digitalen Überwachung solcher Kontakte (PEPP-PT — Pan European Privacy Preserving Proximity Tracing) erzielt wurde, die es ermöglicht hätte, standardisierte Anwendungen in die nationalen Gesundheitsstrategien aufzunehmen.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 17.

(2)  De STREEL, A., Contribution to Growth: European Digital Single Market. Delivering improved rights for European citizens and businesses, European Parliament, Luxembourg, 2019.

(3)  ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 45.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/108


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine neue Industriestrategie für Europa“

(COM(2020) 102 final)

(2020/C 364/15)

Berichterstatter:

Mihai IVAŞCU

Mitberichterstatter:

Dirk BERGRATH

Befassung

Kommission, 22.4.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

25.6.2020

Verabschiedung im Plenum

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

207/4/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten müssen an einem Strang ziehen, um ihre Souveränität zu schützen. Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass Europa eine starke und wettbewerbsfähige industrielle Grundlage braucht, um seine führende Rolle in der Welt behaupten zu können.

1.2.

Der EWSA hält den Übergang zu einer CO2-neutralen Wirtschaft und die Umkehr des dramatischen Verlusts der biologischen Vielfalt für unabdingbar. Ohne eine grüne Industriestrategie als Eckpfeiler des Grünen Deals wird es der EU nie gelingen, in nur einer Generation eine CO2-neutrale Wirtschaft aufzubauen.

1.3.

Die neue Industriestrategie muss einen Ausgleich herstellen: Einerseits müssen europäische Unternehmen darin unterstützt werden, sich gemäß dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu entwickeln, während es zugleich Anreize für die Verbraucher geben muss, ihr Konsumverhalten auf nachhaltige Waren und Dienstleistungen auszurichten.

1.4.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission den Sozialpartnern und den Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Gestaltung der Zukunft der europäischen Industrie Bedeutung beimisst. Der EWSA ist der Überzeugung, dass ein konstruktiver sozialer und zivilgesellschaftlicher Dialog auf allen Ebenen zu einer erfolgreichen Umsetzung der Strategie beitragen wird.

1.5.

Die Kreislaufwirtschaft ist der Schlüssel zur Entwicklung des künftigen europäischen Wirtschaftsmodells. In ihrem Rahmen müssen tragfähige und wirtschaftliche Alternativen zu fossilen Brennstoffen geprüft und dezentralisierte und kooperative Lösungen für saubere Energie gefunden werden. Die Kreislaufwirtschaft wird auch die Ressourceneffizienz wirtschaftlicher Aktivitäten erheblich verbessern und unsere Abhängigkeit von Einfuhren unverzichtbarer Rohstoffe verringern.

1.6.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass die Industriepolitik mit einer resoluten Handels- und Außenpolitik einhergehen muss, über die ihrerseits Strategien bereitgestellt werden müssen, um den Zugang zu Rohstoffen zu sichern.

1.7.

Der EWSA hält es für entscheidend, dass Europa mit Blick auf bestimmte Technologien den Abstand zu den USA, China und anderen Ländern aufholt. Die Nutzung unserer Wettbewerbsvorteile bei gleichzeitiger Finanzierung von Forschung und Entwicklung ist von entscheidender Bedeutung, um weltweit führend zu werden. Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Kapitalmarkts, einschließlich eines europäischen Risikokapitalmarkts, ist von entscheidender Bedeutung.

1.8.

Die europäische Industrie wird entweder die Digitalisierung vollziehen, oder sie wird nicht mehr weiterbestehen. Investitionen in IKT-Sektoren wie Datenwirtschaft, Internet der Dinge, Cloud-Computing, künstliche Intelligenz und fortgeschrittene Fertigung müssen alle Regionen und Mitgliedstaaten erreichen.

1.9.

Der Binnenmarkt ist die Grundlage unserer globalen Wettbewerbsfähigkeit. Die Verordnung zur Schaffung eines Rahmens für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der Union muss von allen Mitgliedstaaten angewandt und erforderlichenfalls gestärkt und aktualisiert werden. Wer immer am Binnenmarkt teilhaben möchte, muss sich an seine Regeln halten. Das gilt auch für die Grundsätze der Klimaneutralität.

1.10.

Damit neue Arbeitsplätze entstehen und Wachstum und Vertrauen wiederhergestellt werden können, braucht die Europäische Union mehr Unternehmergeist. Mit Blick auf die Entstehung eines neuen, nachhaltigen sozioökonomischen Umfelds sollte die EU Bildungsprogramme fördern und finanzieren.

1.11.

Die Industriepolitik sollte eine starke soziale Dimension aufweisen. Gute Arbeitsplätze, Sozialschutz und funktionierende öffentliche Dienstleistungen schaffen die richtigen Rahmenbedingungen für eine florierende Industrie. Die europäische Säule sozialer Rechte ist in dieser Hinsicht ein wichtiger Motor für ein integratives Wirtschaftswachstum.

1.12.

Der EWSA fordert die rasche Umsetzung des europäischen Einheitspatents, das es der Industrie ermöglichen könnte, ihr Know-how auf europäischer und internationaler Ebene zu vertretbaren Kosten zu entwickeln, innovativ zu gestalten und zu schützen.

1.13.

Um den internationalen Unterschieden in der Bepreisung von CO2-Emissionen Rechnung zu tragen, hält der EWSA folgende Punkte für erforderlich: Einführung von Grenzausgleichsmaßnahmen, verbindliche Umweltstandards für Importeure, Subventionen für Ausfuhren mit geringem CO2-Ausstoß, ein entschlossener Einsatz handelspolitischer Schutzinstrumente und Maßnahmen zur Beseitigung von Unterschieden bei der CO2-Bepreisung in Freihandelsabkommen. Das übergeordnete Ziel sollte darin bestehen, weltweit einen einheitlichen Preis für Kohlenstoff festzulegen.

1.14.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Zugriff auf das gesamte wirtschaftspolitische Instrumentarium zur Abmilderung der durch die COVID-19-Gesundheitskrise hervorgerufenen ökonomischen Schockwellen nur bei einer Vollendung der WWU möglich ist.

1.15.

Die einzige Möglichkeit der Mitgliedstaaten zur Überwindung dieser Krise sieht der EWSA in einem koordinierten Vorgehen, bei dem niemand zurückgelassen wird und mit dem die Unternehmen wieder befähigt werden, Mehrwert zu erzeugen, in eine nachhaltige Zukunft zu investieren und hochwertige Arbeitsplätze zu erhalten bzw. zu schaffen. Sofern sie bei ihrer Umsetzung gut miteinander verzahnt werden, bilden der EU-Aufbauplan, der Grüne Deal und die neue Industriestrategie ein mutiges, ehrgeiziges Maßnahmenpaket zur Überwindung der Pandemie und zur Vorbereitung unserer gemeinsamen Zukunft.

1.16.

KMU werden wahrscheinlich am schwersten von dieser Krise betroffen sein. Der EWSA begrüßt die Absicht, KMU bei ihrem Wachstum, der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und der Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte zu unterstützen, bspw. durch die Einführung von Aktienoptionen für Mitarbeiter.

1.17.

Zur Stärkung der wirtschaftlichen Ökosysteme müssen Zwischenstrukturen, wie KMU-Netzwerke, regionale Entwicklungsagenturen und Cluster, strategische Wertschöpfungsketten stützen und stärken und sämtliche dynamischen Kräfte vereinigen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Mitteilung über eine neue Industriestrategie für Europa, bedauert jedoch, dass sie lediglich eine Auflistung künftiger Projekte und Maßnahmen enthält. Was fehlt, ist eine konkrete und umfassende Strategie für die europäische Industrie mit einer klaren kurz-, mittel- und langfristigen Ausrichtung. Der EWSA fordert daher die Europäische Kommission nachdrücklich dazu auf, einen konkreten Aktionsplan mit klaren jährlichen Zielen und Überwachungsverfahren vorzulegen, der eine enge Zusammenarbeit aller Interessenträger vorsieht.

2.2.

Allerdings stellt der EWSA auch einige Unterschiede im Vergleich zu früheren Mitteilungen fest:

Es gibt einen strategischen Ansatz, denn der zu bewältigende „zweifache“ Übergang hin zu Digitalisierung und Klimaneutralität wird viel stärker in den Mittelpunkt gerückt.

Es wird für mehr Kooperation in der Industriepolitik plädiert, bspw. wird hervorgehoben, wie wichtig es ist, starke industrielle Ökosysteme zu schaffen oder Industrieallianzen zu fördern.

Tendenziell soll eine stärkere staatliche finanzielle Unterstützung für strategische Industrieprojekte zugelassen werden, indem bestehende Beihilfebestimmungen der EU gelockert oder Großprojekte von gemeinsamem europäischen Interesse aufgelegt werden.

Es wird eine entschlossenere Haltung bezüglich der Außenbeziehungen eingenommen; die Regelungsbefugnisse der EU sollen genutzt werden, um die strategische Autonomie Europas zu verteidigen.

Der Schwerpunkt liegt auf der Dekarbonisierung der energieintensiven Industrien in Europa.

2.3.

In diesem turbulenten internationalen Umfeld müssen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten an einem Strang ziehen, um ihre Souveränität zu schützen. Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass Europa seine führende Rolle in der Welt nur behaupten kann, wenn es über eine wettbewerbsfähige und starke industrielle Grundlage verfügt, die der EU hilft, ihre Ziele für nachhaltige Entwicklung umzusetzen, das Übereinkommen von Paris einzuhalten und den ökologischen Fußabdruck (1) bis 2040 so weit zu verringern, dass er die Biokapazität der Erde nicht mehr überschreitet.

2.4.

Der EWSA hält den Übergang zu einer CO2-neutralen Wirtschaft und die Umkehr des dramatischen Verlusts der biologischen Vielfalt für unabdingbar. Erfolgreich sein kann eine gemeinsame Industriestrategie nur durch die Einbeziehung und Zusammenarbeit aller Mitgliedstaaten und Interessenträger sowie durch eine integrierte strategische Planung, bei der die Ressourcen europäischer Akteure, regionaler und lokaler Institutionen, Industriecluster, Konzerne, Sozialpartner, sozialwirtschaftlicher Unternehmen, Hochschulen und Forschungsgruppen sowie zivilgesellschaftlicher Organisationen gebündelt werden.

2.5.

Die neue Industriestrategie muss einen Ausgleich herstellen: Einerseits müssen europäische Unternehmen darin unterstützt werden, sich in umweltfreundlicher Weise gemäß dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu entwickeln, während es zugleich Anreize für die Verbraucher geben muss, ihr Konsumverhalten auf nachhaltige Waren und Dienstleistungen auszurichten. Dies erfordert eine Weiterentwicklung des Instrumentariums für eine nachhaltige Industriepolitik unter Berücksichtigung der Besonderheiten der KMU.

2.6.

Überdies ist der EWSA davon überzeugt, dass ein gut gesteuerter Übergang zu einer digitalen und klimaneutralen Wirtschaft eine Chance ist, die europäische Industrie zu beleben und neue hochwertige Arbeitsplätze in neuen, nachhaltigen Wertschöpfungsketten zu schaffen. Die entsprechende Verwaltungsstruktur sollte daher auf allen Ebenen die Eigenverantwortung für die Industriestrategie stärken und alle relevanten Interessenträger einbeziehen.

2.7.

Die Entwicklung der europäischen Industrie kann nur durch die Förderung eines umfangreichen Programms privater und öffentlicher Investitionen erreicht werden. Eine neue europäische Industriestrategie, die den neuen Bedürfnissen der Menschen in Europa Rechnung trägt, das BIP-Wachstum steigert, den interregionalen Zusammenhalt fördert, Einkommensunterschiede verringert und die Lebensqualität durch Investitionen und Innovationen verbessert, kann dazu beitragen, eine gemeinsame europäische Identität zu schaffen, Solidarität zu fördern, die europäischen Institutionen zu stärken und somit einen „europäischen Mehrwert“ zu schaffen.

2.8.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission den Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Gestaltung der Zukunft der europäischen Industrie Bedeutung beimisst. Der EWSA ist der Auffassung, dass nur die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, den europäischen Institutionen, den Sozialpartnern und den die Zivilgesellschaft vertretenden Organisationen ein geeignetes Umfeld für das Wachstum der europäischen Industrie schaffen kann. Ein konstruktiver sozialer und zivilgesellschaftlicher Dialog auf allen Ebenen ist einer der Eckpfeiler einer erfolgreichen Umsetzung der Strategie.

2.9.

Der EWSA hat schon seit langem darauf hingewiesen, dass „einige Unternehmen bei der Berücksichtigung der Nachhaltigkeit fortschrittlicher sind als andere. Viele Unternehmen sind der Politik tatsächlich voraus. Die Politik muss das stabile Umfeld und die Sicherheit schaffen, die erforderlich sind, damit bewährte Verfahren gängige Praxis werden. Dadurch werden die Unternehmen in die Lage versetzt, nachhaltige Lösungen bereitzustellen“ (2). Er fordert die Kommission nachdrücklich auf, diese Überlegungen bei der Ausarbeitung künftiger politischer Maßnahmen zu berücksichtigen. Es ist darauf hinzuweisen, dass sich die Sozialwirtschaft schon seit geraumer Zeit für die Nachhaltigkeit engagiert.

2.10.

2019 erreichte die Industrieproduktion schließlich wieder das Niveau vor der Krise (vor 2007). Die Industrie ist und bleibt das Rückgrat unserer Wirtschaft und muss Lösungen für die zahlreichen Herausforderungen bereitstellen, vor denen unsere Gesellschaft steht. Der Industrie kommt zudem aufgrund des erheblichen Mehrwerts ihrer Tätigkeit, ihrer hochwertigen Arbeitsplätze und wegen der Schaffung von indirekter Beschäftigung in industrienahen Dienstleistungsbereichen eine wichtige soziale Funktion zu. Der EWSA begrüßt daher die in der Mitteilung enthaltenen umfassenden Vorschläge und hofft, dass sie rasch ausgestaltet und umgesetzt werden. Jedoch macht der dramatische Rückgang der Industrieproduktion infolge der Coronavirus-Krise es erforderlich, dass die von den Regierungen ergriffenen und von der Kommission unterstützten Sofortmaßnahmen zur Erhaltung lebensfähiger Unternehmen und zum Schutz der Arbeitnehmereinkommen so lange aufrechterhalten werden, wie es nötig ist.

2.11.

Der EWSA weist bereits seit langem auf die Bedeutung von Start-up- und Scale-up-Unternehmen für den Aufbau einer wettbewerbsfähigen und innovativen Industrie hin. Der EWSA fordert daher auch weiterhin „einen koordinierten politischen Ansatz für Start-ups und Scale-ups, der den unterschiedlichen Unternehmensarten Rechnung trägt, und begrüßt die spezifischen Maßnahmen für Unternehmen der Sozialwirtschaft“ (3).

2.12.

Der EWSA begrüßt den angekündigten Vorschlag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformarbeitern. Er bedauert jedoch, dass die viel umfassendere Herausforderung eines inklusiven und fairen Übergangs in der Mitteilung nicht direkt angesprochen wird. Er betont, dass ein ehrgeiziger Aktionsplan gebraucht wird, der den Mitgliedstaaten den Rückhalt gibt, ihre Versprechen mit Blick auf die Proklamation zur europäischen Säule sozialer Rechte auch einzulösen.

3.   Grünes Europa

3.1.

Europa braucht eine nachhaltige Industriepolitik, die den gerechten Übergang zu einer Niedrigemissionswirtschaft fördert. Dies erfordert einen starken mehrjährigen Finanzrahmen, in dem der Finanzierung eines solchen Übergangs durch die Europäische Investitionsbank eine herausragende Rolle zukommt. Investitionen sollten sowohl die Umweltqualität als auch die Lebensqualität der Menschen in Europa fördern.

3.2.

Viele der für 2030 gesetzten Ziele können auf 2050 und den Übergang zu einem kohlenstofffreien Kontinent ausgeweitet werden. Daher ist der EWSA der Auffassung, dass die Industriestrategie ebenso wie die Nachhaltigkeitsstrategie „sich auf sowohl die internen als auch die externen Maßnahmen der EU erstrecken und ihre größtmögliche Kohärenz fördern [sollte]. […]. Eckpfeiler der Umsetzung sollten Innovation, nachhaltigkeitsorientierte internationale Zusammenarbeit und Handelsabkommen sowie die Mobilisierung von Wirtschaft und Zivilgesellschaft sein“ (4).

3.3.

Sowohl traditionelle als auch aufstrebende Industriesektoren müssen im Einklang mit dem sozialpolitischen Scoreboard des Europäischen Semesters einen proaktiven Ansatz entwickeln, um den Wandel mit neuen nachhaltigen Technologien und Arbeitsplätzen und mit Umschulungen, die den Herausforderungen der Zukunft gerecht werden, zu antizipieren, sich auf ihn einzustellen und ihn zu bewältigen. Unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen und der Sozialpartner sollten neue politische Konzepte für Qualifikationen erarbeitet werden, denn die Anpassung der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung muss beschleunigt werden, damit auf den neuen Arbeitskräftebedarf reagiert werden kann.

3.4.

Die EU sollte in der Kreislaufwirtschaft und in sauberen Technologien weltweit führend werden. Sie wird auf die Dekarbonisierung energieintensiver Industriezweige hinarbeiten. Die Kreislaufwirtschaft ist der Schlüssel zur Entwicklung des künftigen europäischen Wirtschaftsmodells. Der EWSA ist der Auffassung, dass sich nach dem Kreislaufprinzip hergestellte Produkte bzw. erbrachte Dienstleistungen preislich unterscheiden sollten, und vertritt die Ansicht: „Ermäßigte Mehrwertsteuersätze oder Mehrwertsteuerbefreiung für recycelte Erzeugnisse und Wiederverwendungs- und Reparaturtätigkeiten können Unternehmer ermutigen, in diesem Bereich tätig zu werden, und Verbrauchern Produkte zu wettbewerbsfähigen Preisen bieten […]“ (5).

3.5.

Der Übergang zu einer CO2-neutralen Wirtschaft erfordert sichere, saubere Energie. Hierfür entscheidend sind eine Reform der Energiegesetzgebung, eine europaweite Zusammenarbeit bei Prosumenten sowie eine stärkere Integration der Stromnetze. Darüber hinaus müssen tragfähige und wirtschaftliche Alternativen zu fossilen Brennstoffen geprüft und dezentralisierte und kooperative Lösungen für saubere Energie, wie Genossenschaften für erneuerbare Energien, Prosumenten und intelligente Netze, gefunden werden.

3.6.

Die Schaffung einer Energieunion 2.0 muss als die Grundlage für ein Programm betrachtet werden, das auf Folgendes abzielt: Investition in eine erhebliche Steigerung der Versorgung mit (kohlenstoffarmer) Energie (einschließlich Wasserstoff), Integration verschiedener Energieträger, Schaffung eines europaweiten Stromnetzes, um die Unbeständigkeit von Wind- und Solarenergie aufzufangen, und Entwicklung von Technologien für die Energiespeicherung.

3.7.

Ohne eine grüne Industriestrategie als Eckpfeiler des Grünen Deals wird es der EU nie gelingen, in nur einer Generation eine CO2-neutrale Wirtschaft aufzubauen. Der Grüne Deal wird die Gestaltung der Industriepolitik nicht nur in der Amtszeit dieser Europäischen Kommission, die gerade begonnen hat, sondern auch weit darüber hinaus bestimmen und prägen.

3.8.

Solarmodule, Windparks und Batterien sind für unser neues industrielles Paradigma von entscheidender Bedeutung. Allerdings benötigen sie auch Rohstoffe, die von unseren internationalen Konkurrenten kontrolliert werden. Die Industriepolitik muss mit einer resoluten Handels- und Außenpolitik einhergehen, die ihrerseits den Zugang zu diesen Ressourcen sichern muss.

3.9.

Um das Investitionsniveau zu erreichen, das für die Finanzierung des Grünen Deals erforderlich ist, sollte auch eine Überprüfung der Vorschriften für staatliche Beihilfen für Investitionen in kohlenstoffarme Produkte und Verfahren erwogen werden. Darüber hinaus wären die neu geschaffenen Innovations- und Modernisierungsfonds sowie die EHS-Versteigerungseinkünfte zusätzliche Ressourcen, die zur Unterstützung einer nachhaltigen Industriepolitik und zur Bewältigung der sozialen Auswirkungen des Übergangs eingesetzt werden können.

4.   Digitales Europa

4.1.

Neue Technologien verändern die Art und Weise, wie wir leben, konsumieren und arbeiten. Wir reden über eine Strategie für 5G-Netze, während andere Wirtschaftsmächte in 6G-Technologien investieren. Die Nutzung unserer Wettbewerbsvorteile bei gleichzeitiger Finanzierung von Forschung und Entwicklung ist von entscheidender Bedeutung, um weltweit führend zu werden. Bislang liegen wir bei bestimmten Technologien hinter den USA, China und anderen Ländern zurück. Digitale Technologien sind jedoch grundlegend, um den Übergang zur Industrie 4.0 überhaupt bewältigen zu können. Der EWSA hält es für entscheidend, dass Europa die Kluft schließt. Dies muss so geschehen, dass eine Balance zwischen Datenschutz und wirtschaftlichen Erfordernissen gefunden wird.

4.2.

Investitionen in künstliche Intelligenz und die intelligente Nutzung von Daten bei gleichzeitigem Schutz der Privatsphäre europäischer Unternehmen und Verbraucher sind grundlegend. Dies kann nur dadurch erreicht werden, dass europäische Mittel für Innovationen in neue digitale Technologien fließen. Die KMU spielen in diesem Prozess eine entscheidende Rolle. Sie brauchen eine angemessene Finanzierung, damit sie wachsen und innovativ tätig sein können. Der EWSA hat bereits darauf hingewiesen, dass die „Kommission […] private Initiativen, die […] auf den Austausch von Erfahrungen und bewährten Verfahren zwischen den innovativen Unternehmen ausgerichtet sind, analysieren und ergänzen [sollte] (ohne sie zu ersetzen)“, und dass „die EU einen politischen, steuerlichen und normativen Rahmen schaffen [muss], durch den die Entwicklung dieser neuen nachhaltigen Modelle in großem Maßstab unterstützt wird“ (6).

4.3.

In Europa entwickelte Technologien werden nur zu oft andernorts vermarktet. Der EU ist es nicht gelungen, Technologiegiganten hervorzubringen. Zu wenige junge und besonders innovative Unternehmen wachsen zu großen FuE-intensiven Unternehmen heran. Um den ganzen Weg vom Start-up bis zum vollwertigen Unternehmen gehen zu können, muss als letzter Schritt die Schaffung eines einheitlichen europäischen Kapitalmarkts, einschließlich eines europäischen Risikokapitalmarkts, zum Abschluss gebracht werden.

4.4.

Die europäische Industrie wird entweder die Digitalisierung vollziehen, oder sie wird nicht mehr weiterbestehen und von effizienteren und schnelleren Wettbewerbern überholt werden. Demzufolge muss mehr investiert werden, um die Wachstumskraft neuer IKT-Sektoren wie Datenwirtschaft, Internet der Dinge, Cloud Computing, künstliche Intelligenz und fortgeschrittene Fertigung zu steigern. Investitionen in die digitale Infrastruktur müssen alle Regionen und Mitgliedstaaten erreichen.

4.5.

Es ist von entscheidender Bedeutung, die europäischen Arbeitskräfte mit digitalen Kompetenzen für die neue Phase der Industrialisierung auszustatten. Im digitalen Zeitalter werden wir nur ankommen, wenn unsere Arbeitskräfte qualifiziert und gut vorbereitet sind. Der EWSA hat dazu bereits festgestellt, dass den „Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen in Europa […] Programme zur Ausbildung, Umschulung, Weiterbildung und zum lebenslangen Lernen geboten werden [müssen], damit das Potenzial des technischen Fortschritts voll und ganz ausgeschöpft werden kann“ (7). Dies erfordert aktive Arbeitsmarktinstrumente und wirksame solidarische Sozialversicherungssysteme, die das europäische Sozialmodell erhalten.

4.6.

Die Datenstrategie der Kommission muss durch eine Regulierung des fairen Wettbewerbs in der digitalen Wirtschaft ergänzt werden, der von einer digitalen Wettbewerbsbehörde zu überwachen ist. In diesem Zusammenhang werden die von der Kommission vorgeschlagenen Datenräume für strategische Sektoren auch Vorschriften über den Zugang, den freien Datenverkehr und den Schutz von Daten sowie die Verwendung spezifischer Algorithmen erfordern, sodass der Zugang zu industriellen Daten unter fairen, angemessenen und diskriminierungsfreien Bedingungen (fair, reasonable and non-discriminatory — FRAND) organisiert ist. Außerdem müssen die Entwicklungen bei der Digitalisierung von Datensätzen und innovativen Technologien in uneingeschränktem Einklang mit der Datenschutz-Grundverordnung und der PSI-Richtlinie erfolgen.

5.   Eine global wettbewerbsfähige EU

5.1.

Die künftige Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie entscheidet darüber, ob die europäische Wirtschaft in einer zunehmend multipolaren Weltwirtschaft mit wachsenden geopolitischen Spannungen gedeihen kann. Die Vertiefung des Binnenmarkts weist den Weg nach vorne, und mit Unternehmen aus Drittländern muss zu gleichen Wettbewerbsbedingungen interagiert werden können. Ein funktionierender Binnenmarkt muss durch eine starke Handelspolitik flankiert werden, um internationalen Hindernissen und wettbewerbsfeindlichen Praktiken entgegenzutreten. Die Verordnung zur Schaffung eines Rahmens für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der Union (8)‚ die im Oktober 2020 in Kraft tritt, ist ein wichtiger Schritt für den Schutz wichtiger Vermögenswerte in der EU. Allerdings muss sie nach Auffassung des EWSA unbedingt kontinuierlich überwacht und erforderlichenfalls aktualisiert und geändert werden.

5.2.

Europas Wettbewerbsvorteil ist sein Binnenmarkt. Er ist das Zentrum unserer Zusammenarbeit und die Grundlage unserer globalen Wettbewerbsfähigkeit. Sein Schutz und seine Entwicklung müssen im Mittelpunkt der neuen Industriepolitik und der Durchführungsmaßnahmen stehen, die der Optimierung seiner Entwicklung und Effizienz sowie der vier Grundfreiheiten dienen.

5.3.

Der EWSA hält an seiner Auffassung fest, dass hohe „Verwaltungskosten und exzessive Bürokratie […] nach wie vor ein maßgebliches Hindernis für Start-ups und Scale-ups [sind]“ (9). Er fordert die Kommission daher nachdrücklich auf, die Zunahme der Verwaltungslasten durch Überregulierung zu vermeiden und zu prüfen, wie der Verwaltungsaufwand — wo dies ohne Beeinträchtigung der sozialen und ökologischen Rechte möglich ist — effizienter gestaltet und reduziert werden könnte.

5.4.

In Bezug auf Forschung und Entwicklung richtet der EWSA folgende Empfehlungen an die Kommission:

Das Ziel, 3 % des BIP der EU in FuE zu investieren, muss beibehalten und umgesetzt werden, um den Rückstand gegenüber unseren wichtigsten Wettbewerbern wie den USA und Japan aufzuholen;

der europaweite Markt für Risikokapital, der die Finanzierung innovativer und risikoreicher Projekte mit hohem Potenzial verbessert, soll weiter ausgebaut werden.

Öffentlich finanzierte FuE muss zuerst innerhalb der Europäischen Union zur industriellen Anwendung gelangen.

Die Innovationssysteme in Regionen in Randlage oder in Regionen mit Strukturwandel sind zu stärken.

5.5.

Damit neue Arbeitsplätze entstehen und Wachstum und Vertrauen wiederhergestellt werden können, braucht die Europäische Union mehr Unternehmergeist. Die EU sollte Bildungsprogramme fördern und finanzieren, die die Gründung neuer Unternehmen in der Zukunft anregen. Bildung ist der Weg in die Zukunft, und die Vermittlung unternehmerischen Denkens an jüngere Generationen könnte zu mehr Unternehmensgründungen und einem wesentlich nachhaltigeren wirtschaftlich-sozialen Umfeld führen.

5.6.

Bei der Innovationsförderung müssen sich die Mitgliedstaaten und die Kommission darum bemühen, das Umfeld erfolgreicher Innovationscluster wie Silicon Valley nachzubilden. Ein günstiger Regulierungsrahmen, steuerliche Anreize, qualifizierte Arbeitskräfte und ein leichter Zugang zu Finanzmitteln werden es europäischen Innovatoren ermöglichen, in Europa zu bleiben und ihre Ideen in größerem Maßstab umzusetzen.

5.7.

Ohne kluge Maßnahmen im Bereich des geistigen Eigentums kann die EU ihre Vorreiterrolle bei der Innovation nicht behaupten. Es ist dafür zu sorgen, dass europäische Innovationen und Patente gut vor feindseligen Absichten und Wirtschaftsspionage geschützt werden. Die Umsetzung des europäischen Einheitspatents ist daher unabdingbar.

5.8.

Europa darf unlauteren Wettbewerb nicht naiv hinnehmen. Der Schutz der europäischen Verbraucher und Unternehmen sowie des Binnenmarkts ist entscheidend, damit unsere Wirtschaft gedeihen kann. Wer am Binnenmarkt teilhaben möchte, sollte sich an dessen Regeln halten und sie uneingeschränkt achten, und das gilt auch für die Grundsätze der Klimaneutralität.

5.9.

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Annahme des Weißbuchs über ein Instrument gegen ausländische Subventionen zu beschleunigen, mit dem wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen von Drittstaatssubventionen im Binnenmarkt begegnet werden soll.

5.10.

Der EWSA hat bereits eine EU-Industriepolitik gefordert, die sich am Gebrauchswert orientiert und gebietsbezogen den örtlichen Bedingungen angepasst ist und Clusterbildung und Zusammenarbeit begünstigt, wobei entsprechend den Grundsätzen der Industriesymbiose und der Kreislaufwirtschaft die Vielfalt erhalten wird und dennoch Größenvorteile erzielt werden (10).

5.11.

Die groß angekündigte Reform des Wettbewerbsrahmens ist dringend erforderlich. Der EWSA bedauert, dass die Überarbeitung der EU-Wettbewerbsregeln auf 2021 verschoben wurde. Bei der Gestaltung der Reform ist kein Platz für politische Manöver. Der Ansatz sollte globale Entwicklungen im Auge haben und nicht nur, wie bisher, ausschließlich den Binnenmarkt.

5.12.

Darüber hinaus sollte die Zusammenarbeit und Interaktion zwischen den verschiedenen lokalen und nationalen Regierungsebenen und der Europäischen Union verstärkt werden. Der EWSA hat wiederholt mehr Synergien gefordert und sich dafür ausgesprochen, dass „Plattformen für Kommunikation und Zusammenarbeit […] gefördert werden und alle Mitgliedstaaten einbinden [sollten]. Was in einem Mitgliedstaat funktioniert, kann auch in einem anderen funktionieren, und was in einem Mitgliedstaat erforscht wurde, kann in einem anderen verwendet oder weiterentwickelt werden.“„Kein Mitgliedstaat kann für sich allein auf internationaler Bühne eine bedeutende Rolle spielen.“ (11).

5.13.

Um den internationalen Unterschieden in der Bepreisung von CO2-Emissionen Rechnung zu tragen, muss eine Reihe von Maßnahmen in Betracht gezogen werden: Einführung von Grenzausgleichsmaßnahmen, verbindliche Umweltstandards für Importeure, Subventionen für Ausfuhren mit geringem CO2-Ausstoß, Einsatz handelspolitischer Schutzinstrumente und Maßnahmen zur Beseitigung von Unterschieden bei der CO2-Bepreisung in Freihandelsabkommen. Das übergeordnete Ziel sollte darin bestehen, weltweit einen einheitlichen Preis für Kohlenstoff festzulegen.

5.14.

Es ist von ausschlaggebender Bedeutung, die Wirkungskraft der europäischen Kapitalmärkte zur vollen Entfaltung zu bringen. Die Vollendung der Kapitalmarktunion und die Schaffung angemessener Marktbedingungen für Unternehmen, die sich über die Märkte selbst finanzieren können, werden unseren Unternehmen den Zugang zu den richtigen Instrumenten für die Finanzierung ihrer einzelnen Entwicklungsphasen ermöglichen.

5.15.

Der EWSA bedauert, dass die regionale Dimension des zweifachen Übergangs in der Mitteilung weitgehend außer Acht gelassen wurde. Er begrüßt jedoch den Teil des EU- Konjunkturprogramms, mit dem vorgeschlagen wird, die Mittel für den Fonds für einen gerechten Übergang von 7,5 Mrd. EUR auf 40 Mrd. EUR aufzustocken. Der EWSA hofft, dass damit der Bedarf aller Regionen gedeckt wird, die einen tiefgreifenden industriellen Wandel durchlaufen.

5.16.

Mit einer besseren Integration und Koordinierung des industriepolitischen Instrumentariums im Rahmen geeigneter Steuerungsstrukturen sollte es Europa gelingen, zu einer grünen, digitalen und kreislauforientierten Wirtschaft zu werden und gleichzeitig seine strategische Autonomie und wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit zu verbessern.

5.17.

Zwischenstrukturen wie KMU-Netze, regionale Entwicklungsgesellschaften, Cluster, Industrieallianzen und öffentlich-private Partnerschaften müssen strategische Wertschöpfungsketten unterstützen und festigen und alle dynamischen Kräfte (innovative KMU, Großunternehmen, Forschungsinstitute, Unternehmen der Sozialwirtschaft und Behörden) zusammenbringen, um die wirtschaftlichen Ökosysteme zu stärken.

6.   Coronavirus

6.1.

Die COVID-19-Pandemie hat zu einer massiven Rezession geführt (nach der Prognose der EZB wird die Wirtschaftsleistung dieses Jahr um 8,7 % sinken! (12)). Im Gegensatz zu anderen Krisen der Vergangenheit hat sie sowohl einem Angebots- als auch einem Nachfrageschock ausgelöst. Es müssen alle Mittel zum Einsatz kommen, damit verhindert wird, dass der vorübergehende Verlust der Industrieproduktion dauerhaft wird und/oder ein Liquiditätsproblem sich zu einer Solvenzkrise auswächst.

6.2.

Daher begrüßt der EWSA den Vorschlag der Kommission für einen europäischen Aufbauplan (einschließlich eines Aufbaufonds „Next Generation EU“), der

der neuen Industriestrategie durch die Verdoppelung des Umfangs von InvestEU, die Schaffung einer Fazilität für strategische Investitionen und die neue Solvenzhilfe deutlich mehr Durchschlagskraft verleihen wird;

eine echte europäische Antwort auf die Pandemie darstellt: ehrgeizig und makroökonomisch sehr effektiv. Er wird dazu beitragen, den weiteren Verlust von Kapital (und Humanressourcen) zu verhindern, Vertrauen wiederherzustellen und wichtige Multiplikatoreffekte zu schaffen;

zur Vermeidung einer asymmetrischen Erholung beiträgt und den inneren Zusammenhalt und die Solidarität stärkt;

für eine erhebliche Aufstockung der Mittel für den Fonds für einen gerechten Übergang sorgt;

unsere gemeinsamen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prioritäten klarstellt: Rückkehr der Industrie zur Normalität, Förderung öffentlicher und privater Investitionen im parallelen digitalen und grünen Wandel, Entwicklung gemeinsamer Programme für den industriellen Wiederaufbau und Förderung von Beschäftigungsmöglichkeiten in Zukunftsbranchen.

6.3.

Der EWSA fordert die Organe der EU nachdrücklich auf, rasch eine Einigung zu erzielen, damit mit der Umsetzung des EU-Aufbauplans so bald wie möglich begonnen werden kann. Zusammen bieten der Grüne Deal, der Aufbauplan und die neue Industriestrategie ein effektives und aufeinander abgestimmtes Instrumentarium zur Bekämpfung der Rezession und zur Vorbereitung unserer gemeinsamen Zukunft.

6.4.

Angesichts so vieler im Lockdown befindlicher Industriesektoren hält es der EWSA

für dringend erforderlich, zu prüfen, wie gravierend die Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die Industriesektoren und Wertschöpfungsketten sind, damit die jeweiligen Bedürfnisse der einzelnen Sektoren im Hinblick auf die Wiederherstellung von Produktion und Beschäftigung ermittelt und berücksichtigt werden können;

für notwendig, integrierte industrielle Wertschöpfungsketten innerhalb der EU (wieder)aufzubauen, um die strategische Autonomie und wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit Europas zu stärken. Die Rückverlagerung strategischer Tätigkeiten muss unterstützt werden, und die Versorgungssicherheit in Bereichen wie Energie, Gesundheitswesen und pharmazeutische Wirkstoffe muss gewährleistet sein.

6.5.

Es ist überdeutlich, dass die Europäische Union in diesen schwierigen Zeiten ihre Stärke und Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen muss. Der EWSA sieht die einzige Möglichkeit für die Mitgliedstaaten zur Überwindung dieser Krise in einem koordinierten Vorgehen, bei dem niemand zurückgelassen wird. Für populistische Ideen und einzelstaatliche Planung gibt es keinen Platz. Solidarität, Zusammenarbeit und gegenseitiger Respekt sind die Dreh- und Angelpunkte einer raschen Erholung, die, wenn sie von Dauer sein soll, all die Lehren aus der bisherigen mangelnden Achtung für Ökosysteme ziehen muss.

6.6.

Die Lockerung der Haushaltsregeln wird nur dann produktive Investitionen fördern, wenn eines der Ziele die Aufwärtskonvergenz der einkommensschwächeren Mitgliedstaaten ist. Es ist an der Zeit, konkrete Maßnahmen vorzuschlagen, die zeigen, dass die europäische Solidarität wirklich in Taten und nicht nur in Worten besteht.

6.7.

Die KMU werden wahrscheinlich am schwersten von dieser Krise betroffen sein, da sie in der Regel von Großunternehmen abhängig sind und es ihnen an Liquidität mangelt. Es ist von höchster Bedeutung, das richtige Instrument zur Unterstützung aller europäischen KMU zu finden. Der EWSA unterstützt die Absicht, den KMU bei der Expansion und der Gewinnung qualifizierter Arbeitskräfte zu helfen, z. B. durch die Einführung von Aktienoptionen für Mitarbeiter (13).

6.8.

Schlüsselindustrien und -branchen müssen ermittelt und unterstützt werden, von den Humanressourcen bis hin zur Forschung. Dies erfordert eine europäische Industriepolitik, die diese strategischen Sektoren vor dem Markt schützt und die Versorgungssicherheit mit wichtigen Komponenten wie Beatmungsgeräten, Masken und anderen Produkten gewährleistet. Das bedeutet, dass Unternehmen, die Produktionskapazitäten nach Europa zurückverlagern, unterstützt werden müssen, damit die EU wieder die Kontrolle über die Produktion hat und ihre Autonomie auf dem Weltmarkt wahren kann, freilich immer im Einklang mit einer gerechten Ökowende. Die zunehmende Abhängigkeit der EU von der Einfuhr von Arzneimitteln und pharmazeutischen Wirkstoffen kann durch Arzneimittelverknappung und Gesundheitsrisiken zu systemischen Problemen führen. Dies lässt ernste Bedenken hinsichtlich der strategischen Autonomie der EU aufkommen.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Entsprechend der Definition von Global Footprint Network (https://www.footprintnetwork.org/).

(2)  ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 95.

(3)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 20.

(4)  ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 95.

(5)  ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 98.

(6)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 57.

(7)  ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 58.

(8)  Verordnung (ΕU) 2019/452 (ABl. L 79 I vom 21.3.2019, S. 1).

(9)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 20.

(10)  ABl. C 97 vom 24.3.2020, S. 31.

(11)  ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 67.

(12)  https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/economic-performance-and-forecasts/economic-forecasts/spring-2020-economic-forecast-deep-and-uneven-recession-uncertain-recovery_de

(13)  COM(2020) 103 final.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/116


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: a) „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Langfristiger Aktionsplan zur besseren Umsetzung und Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften“

(COM(2020) 94 final)

b) „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Hindernisse für den Binnenmarkt ermitteln und abbauen“

(COM(2020) 93 final)

(2020/C 364/16)

Berichterstatter:

Gerardo LARGHI

Mitberichterstatter:

Gonçalo LOBO XAVIER

Befassung

a)

Europäische Kommission, 22/04/2020

b)

Europäische Kommission, 22/04/2020

Rechtsgrundlage

für a) und b): Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

25.6.2020

Verabschiedung im Plenum

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

212/2/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt den langfristigen Aktionsplan zur besseren Umsetzung und Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften (1).

1.2.

Der EWSA befürwortet zudem die Mitteilung der Kommission zum Thema Hindernisse für den Binnenmarkt ermitteln und abbauen und ist gewillt, sie zu unterstützen (2).

1.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die unzureichende oder nicht ordnungsgemäße Anwendung der EU-Vorschriften schon viel zu lange die Achillesferse des EU-Rechts ist und dass viele Fälle von Betrug und rechtswidrigem Verhalten nicht verfolgt wurden. Die Anwendung des EU-Rechts ist von entscheidender Bedeutung, um das Vertrauen der Unternehmen und Verbraucher zu stärken und sicherzustellen, dass der Binnenmarkt sein volles Potenzial für Unternehmen, Beschäftigte und Verbraucher entfalten kann.

1.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine Umsetzungsstrategie nur dann wirksam sein kann, wenn sie: 1) auf einer starken Partnerschaft zwischen allen relevanten Interessenträgern beruht, 2) auf europäischer Ebene eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den bestehenden Netzen zur Durchsetzung des EU-Rechts ermöglicht, um sicherzustellen, dass Probleme, die mehrere Sektoren gleichzeitig betreffen, angegangen werden, 3) die Entwicklung von Strategien und Mitteln zur Bekämpfung weitreichender Verstöße gegen EU-Recht ermöglicht, bei denen mit einer einzigen effizienten und transparenten Durchsetzungsmaßnahme alle Interessenträger geschützt und die grenzübergreifende Rechtsdurchsetzung gewährleistet werden können, 4) das Potenzial neuer Technologien nutzt.

1.5.

Der EWSA fordert die Kommission auf, in ihrem Aktionsplan den Akteuren der Zivilgesellschaft sowie den Unternehmen, Arbeitnehmern und Verbrauchern eine klar definierte Rolle einzuräumen.

1.6.

Der EWSA unterstützt voll und ganz den Vorschlag der Europäischen Kommission, SOLVIT zu einem wirksamen Standardinstrument für ungerechtfertigte Hindernisse im Binnenmarkt zu machen. SOLVIT muss aber mit einem strukturierteren Verfahren versehen werden, um wichtige Fälle an die Kommission verweisen und in allen Sektoren und Politikbereichen arbeiten zu können.

1.7.

Der EWSA begrüßt die Initiative zur Verbesserung der Ex-ante-Verhältnismäßigkeitsprüfungen einschränkender Reglementierungen im Rahmen der Richtlinie über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung (3). Die Einbeziehung der Interessenträger in die „Verhältnismäßigkeitsprüfung“ sollte die Norm und nicht die Ausnahme sein.

1.8.

Das zentrale digitale Zugangstor ist eine Möglichkeit, den Bedarf von Unternehmen und Verbrauchern an Online-Informationen digital zu decken. Die einheitlichen Ansprechpartner werden zügig in dieses Zugangstor integriert, damit sich die Unternehmen und Verbraucher mit ihren Ersuchen um Unterstützung und Information nur noch an eine einzige Stelle wenden müssen.

1.9.

Der EWSA schließt sich der Forderung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat an, den Vorschlag zur Umsetzung der Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt und zur Festlegung eines Notifizierungsverfahrens für dienstleistungsbezogene Genehmigungsregelungen und Anforderungen anzunehmen (4).

1.10.

Der Ausschuss betont, dass die Krise im Zusammenhang mit der Ausbreitung von COVID-19 große Risiken für den Binnenmarkt mit sich bringt, vor allem die Gefahr, dass die Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung, die sozialen Garantien und das Wohlstandsniveau nach der Pandemie zunehmen könnten.

1.11.

Der Ausschuss stellt fest, dass Unternehmen und Verbraucher trotz der Errungenschaften des Binnenmarkts nach wie vor mit zu vielen Hindernisse konfrontiert sind.

1.12.

Der EWSA stimmt dem Aktionsplan der Kommission zu, wonach „für die Überwindung bestehender Binnenmarkthindernisse ist eine echte Partnerschaft zwischen den verschiedenen für die Umsetzung und Durchsetzung zuständigen Akteuren auf europäischer Ebene und auf Ebene der Mitgliedstaaten von entscheidender Bedeutung [ist]“.

1.13.

Der EWSA fordert die Kommission daher auf, den neuen Aktionsplan zur Durchsetzung des Binnenmarkts zu nutzen, um einen starken Kooperationsrahmen zu schaffen und dabei alle an der Anwendung des EU-Rechts beteiligten Akteure einzubeziehen. Unter anderem sollten die Verbände und Organisationen umfassend in die Arbeit der geplanten Taskforce für die Durchsetzung des Binnenmarkts einbezogen werden, die als Forum für horizontale Durchsetzungsfragen dienen soll.

1.14.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Durchsetzung im Wesentlichen ein horizontales Problem darstellt und daher nicht segmentiert behandelt werden darf. Es ist von wesentlicher Bedeutung, die Abläufe zwischen den verschiedenen Durchsetzungsnetzen besser zu organisieren und zu straffen und den Austausch von Informationen und bewährten Verfahren zwischen ihnen zu erleichtern.

1.15.

Die Verordnung über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz hat zu einer besseren Anerkennung der Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Rechtsdurchsetzungsbehörden geführt und so dazu beigetragen, eine Brücke zwischen ihnen zu schlagen. Dieser Rahmen ist durchaus zu begrüßen, aber nach wie vor unvollständig und muss weiter verbessert werden, beispielsweise in Bezug auf die Reaktionsgeschwindigkeit, wenn seitens der Bürger Verstöße gegen die Vorschriften gemeldet werden.

1.16.

Der EWSA ist der Auffassung, dass Daten und künstliche Intelligenz zur Überwachung der Märkte genutzt werden können und dass diese digitalen Instrumente daher auf EU-Ebene entwickelt und unter allen Interessenträgern ausgetauscht werden sollten.

1.17.

Die Durchsetzungsbehörden sehen sich heute mit einer starken Zunahme unlauterer Praktiken im Binnenmarkt konfrontiert und arbeiten zugleich häufig unter strengen Sparzwängen. In diesem Zusammenhang fordert der Ausschuss eine bessere Nutzung der knappen Ressourcen, eine bessere Koordinierung zwischen den bestehenden Netzen, die Entwicklung neuer Synergien zwischen allen Akteuren sowie neue Instrumente auf der Grundlage neuer Technologien, die zur wirksamen Umsetzung des EU-Rechts beitragen können.

2.   In Bezug auf den langfristigen Aktionsplan zur besseren Umsetzung und Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften (COM(2020) 94 final) — INT/899

2.1.   Herausforderungen für den Binnenmarkt

2.1.1.

Der Binnenmarkt ist das Herzstück des europäischen Projekts und hat den europäischen Verbrauchern und Unternehmen das Leben erleichtert. Ein gut funktionierender Binnenmarkt soll die Bürgerinnen und Bürger der EU eine größere Auswahl an Dienstleistungen und Produkten und bessere Beschäftigungsmöglichkeiten bieten. Der Binnenmarkt soll Handel und Wettbewerb fördern und ist von entscheidender Bedeutung für das Gelingen des ökologischen, industriellen und digitalen Wandels in der EU.

2.1.2.

Um dies zu erreichen, muss Europa auf der Grundlage bewährter Kriterien Prioritäten und klare politische Leitlinien festlegen, in denen der Mensch zentral steht.

2.1.3.

Um die Zusammenarbeit bei der Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften zu stärken, wird die Kommission dafür eine Taskforce einrichten, die die Aufgabe hat, die Einhaltung der Binnenmarktvorschriften im nationalen Recht zu prüfen‚ Prioritäten hinsichtlich der dringendsten Hindernisse zu setzen, gegen unnötige Überregulierung vorzugehen, horizontale Durchsetzungsfragen zu erörtern und die Umsetzung des vorgeschlagenen Aktionsplans zu überwachen. In diesem Zusammenhang sollte diese Taskforce klare Kriterien festlegen, anhand derer entschieden werden kann, welche Hindernisse aufgrund ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen am dringendsten sind.

2.1.4.

Die Kommission plant auch den Einsatz von Präventivmechanismen mit folgenden Zielen: Vermeidung neuer Hindernisse für die Erbringung von Dienstleistungen im Binnenmarkt; Kapazitätsaufbau zur Aufdeckung von Verstößen; Einrichtung einer Plattform für die Online-Rechtsdurchsetzung („E-Durchsetzungslabor“), um Informationen über rechtswidrige und nicht konforme Produkte für Industrie und Verbraucher auszutauschen; für die Behörden Einrichtung einer zentralen europäischen Eingabestelle für Informationen über die Kontrolle von Nichtlebensmitteln sowie baldige Einrichtung des „Customs Single Window“ (zentrale Anlaufstelle für Zollbehörden); Sicherstellung, dass das Binnenmarkt-Informationssystem (IMI) zum Standardinstrument wird; Einrichtung eines Instruments, das es Bürgern und Unternehmen ermöglicht, regulatorische Hürden, auf die sie bei der Ausübung ihrer Binnenmarktrechte gestoßen sind, anonym zu melden; Verbesserung der Durchsetzung des EU-Lebensmittelrechts (einschließlich Tier- und Pflanzengesundheit); Prüfung, ob ein im Rahmen des Binnenmarktprogramms oder des Programms „Digitales Europa“ finanziertes Labor zur Erprobung und Anwendung fortgeschrittener IT-Lösungen in bestehende Strukturen wie das Netzwerk für die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz, das EU-Netz für Produktkonformität oder die Beobachtungsstelle des EUIPO integriert werden kann; verstärkte Bekämpfung von gefälschten und rechtswidrigen Produkten einschließlich illegaler Produkte, die aus importierten Komponenten innerhalb der EU hergestellt oder zusammengesetzt werden, sowie Ausweitung des Mandats des OLAF; Stärkung der Durchsetzung in der Lebensmittelkette; Entwicklung von Kennzeichnungs- und Rückverfolgbarkeitssystemen durch den Einsatz digitaler Instrumente, um gezieltere Kontrollen an den Außengrenzen und innerhalb der EU zu ermöglichen; SOLVIT als Standardinstrument für die Beilegung von Streitigkeiten im Binnenmarkt; Straffung der Verfahren zur Fallbearbeitung, erste Prüfung von Beschwerden innerhalb von zwei Monaten, um die nächsten Schritte festzulegen, sowie Nutzung des Systems EU-Pilot mit klaren Bedingungen und Fristen in solchen Fällen, in denen eine rasche Lösung binnen kurzer Zeit erreichbar scheint.

2.2.   Allgemeine Bemerkungen

2.2.1.

Der EWSA ist die Auffassung, dass die Vollendung und wirksame Durchsetzung des Binnenmarktes von entscheidender Bedeutung ist. Denn der Binnenmarkt ist kein Selbstzweck, sondern vielmehr ein Mittel, um die in den Gründungsverträgen der Europäischen Union verankerten politischen Ziele zu erreichen.

2.2.2.

Die wichtigsten in der Mitteilung genannten Hindernisse sind: Regulierungsentscheidungen auf EU- und nationaler Ebene, Umsetzung, Durchführung und Durchsetzung der EU-Rechtsvorschriften, Verwaltungskapazitäten und -praktiken in den Mitgliedstaaten, allgemeine Rahmenbedingungen für Unternehmen und Verbraucher sowie Ursachen nicht ordnungspolitischer Art wie Sprache oder Kultur.

2.2.3.

SOLVIT zum Standardinstrument machen: der EWSA unterstützt das Ziel, SOLVIT zum Standardinstrument für ungerechtfertigte Hindernisse im Binnenmarkt zu machen. Das Instrument verfügt jedoch lediglich über Möglichkeiten des Dialogs und ist ein soft power tool, es kann nicht parallel zu Gerichtsverfahren eingesetzt werden. Das SOLVIT-System sollte mit einem strukturierteren Verfahren versehen werden, um wichtige Fälle an die Kommission verweisen zu können. Gleichzeitig kommt es darauf an, dass SOLVIT in allen Sektoren und Politikbereichen eingesetzt werden kann.

2.2.4.

Die Verbesserung der Ex-ante-Verhältnismäßigkeitsprüfungen einschränkender Reglementierungen im Rahmen der Richtlinie über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung (5) wird nachhaltig begrüßt. Die Kommission sollte jedoch strukturierte Unterstützung und Leitlinien für die Mitgliedstaaten bereitstellen und sie damit bezüglich der Durchführung der Ex-ante-Verhältnismäßigkeitsprüfungen für neue nationale Rechtsvorschriften über Berufe gemäß der Richtlinie über die Verhältnismäßigkeitsprüfung beraten. Darüber hinaus sollte die Einbeziehung der Interessenträger in die „Verhältnismäßigkeitsprüfung“ die Norm und nicht die Ausnahme sein.

2.2.5.

Informationen und Verwaltungsverfahren: Das zentrale digitale Zugangstor ist eine Möglichkeit, den Bedarf von Unternehmen und Verbrauchern an Online-Informationen digital zu decken. Nach den geltenden Binnenmarktvorschriften müssen die Mitgliedstaaten jedoch auch Unternehmen über einheitliche Ansprechpartner informieren. Eine Zentralisierung dieser einheitlichen Ansprechpartner bzw. zentralen Anlaufstellen ist bereits in mehreren EU-Rechtsvorschriften vorgesehen. Diese Anlaufstellen sollen zügig in das zentrale Zugangstor integriert werden, damit sich die Unternehmen und Verbraucher mit ihren Ersuchen um Unterstützung und Information nur an eine einzige Stelle wenden müssen. Unternehmen sollten eine einzige koordinierte Antwort auf ihre Anfragen erhalten.

2.2.6.

Die Europäische Union wird derzeit durch äußere Einflüsse wie die Pandemie, die Panik und Tod verursacht und die gesamte Wirtschaft in eine Rezession gestürzt hat, sowie durch interne Faktoren wie das Ausbleiben einer Welle der Solidarität, die ja seinerzeit zu ihrer Entstehung geführt hatte, in ihren Grundfesten erschüttert. Deshalb stellt sich die Frage, was für die Schaffung eines Binnenmarktes über das rein Technisch-Rechtliche hinaus erforderlich ist. Das Projekt Europa muss in seiner Gesamtheit überdacht werden. Es ist absolut legitim zu hinterfragen, ob das vereinte Europa, das sich einige erträumt hatten, das so viele im mit großem Engagement aufzubauen und andere wiederum — zumindest nach der Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags — nach und nach zu zerstören versuchten, auch noch im Jahr 2050 und darüber hinaus ein Leuchtfeuer der Freiheit und Kultur und Vorreiter für den Frieden sein wird, das die Völkerverständigung fördert und für die Gleichheit von Mann und Frau in einer Welt ohne Diskriminierung und ohne Grenzen eintritt.

2.2.7.

Dies gilt umso mehr in der gegenwärtigen, besonders turbulenten Zeit: Europa wird von einer anhaltenden Krise systemischer — und nicht nur konjunktureller — Art erdrückt. Dies ist nicht nur eine wirtschaftliche und finanzielle Krise, sondern auch eine Krise der gesellschaftlichen und kulturellen Werte. Eine große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern sieht die einzig glaubhafte Möglichkeit zur Überwindung der nur auf Finanzen und Wirtschaft ausgerichteten Vision in einer wahrhaft politischen Union.

2.2.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die COVID-19-Krise, von der alle Länder in Europa betroffen sind, ein Überdenken des gesamten Systems erfordert, und zwar nicht nur in organisatorischer Hinsicht, sondern auch, um neue Ideen und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln.

2.2.9.

Die Katastrophenschutzsysteme zur Bewältigung der Krise haben nicht in allen Ländern funktioniert. Ganz im Gegenteil — vielfach haben diese Systeme versagt: Weder die Zentralregierungen noch die Kommunen noch die Bürger waren auf einen Notfall vorbereitet, und Maßnahmen waren oft langsam und kostspielig, zuweilen sogar nicht nachvollziehbar.

2.2.10.

Die Krise hat deutlich gemacht, dass Europa in einigen Bereichen von Drittländern abhängig ist. Diese Situation erfordert ein Überdenken bestimmter Grundlagen der Europäischen Union, die jetzt unter Beweis stellen muss, dass sie in der Lage ist, zu reagieren und sich neu aufzustellen. Die kommunale, regionale und staatliche Auftragsvergabe und die Unterstützung lokaler Anbieter erfordern besondere Aufmerksamkeit: Das öffentliche Auftragswesen muss zu einer Garantie für die wirtschaftliche Sicherheit werden.

2.2.11.

Eine bedeutende Rolle kommt der marktorientierten Normierung oder Standardisierung nicht nur von Produkten, sondern auch von Dienstleistungen nach dem Modell des „neuen Konzepts“ zu.

2.2.12.

Es sollte eine genaue Analyse der Notwendigkeit, der Wirksamkeit und der Wirkung der zu ergreifenden Maßnahmen durchgeführt werden, damit bei der Regulierung im Dienstleistungsbereich zwischen binnenmarktrelevanten und anderen Dienstleistungen klar unterschieden wird.

2.2.13.

Der EWSA stimmt mit der Kommission überein, dass jede Maßnahme zur Entwicklungsförderung und zur Umsetzung und Durchsetzung des EU-Rechts im Binnenmarkt wichtig ist. Bereiche wie Waren und Dienstleistungen, öffentliches Beschaffungswesen, Marktüberwachung, Gesellschaftsrecht, vertragliches und außervertragliches Recht, Bekämpfung von Geldwäsche, freier Kapitalverkehr, Finanzdienstleistungen, Wettbewerb und Entwicklung von Steuerungsinstrumenten bedürfen dringend eines Binnenmarkts, auf dem die Rechte der Bürger, Hersteller, Arbeitnehmer und Verbraucher geschützt werden, ohne die ausgewogene Wirtschaftstätigkeit zu gefährden.

2.2.14.

Der EWSA fordert, dass in einem fairen Binnenmarkt die Regeln in den Bereichen Arbeit, Verbraucher und Umwelt gemäß des neuen Vorschlags für eine EU-Industriestrategie (6) eingehalten werden. Ebenso muss den im Programm der Kommission genannten Grundsätzen für die Kreislaufwirtschaft Rechnung getragen werden. Er hat sich bereits rückhaltlos für diese Grundsätze ausgesprochen und ist der Ansicht, dass Europa hier eine Vorreiterrolle übernehmen muss.

2.2.15.

Der EWSA befürwortet den Beschluss, eine Taskforce für die Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften einzurichten, die sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten und der Kommission zusammensetzt. Dies entspricht den mehrfach geäußerten Vorschlägen und Empfehlungen des EWSA. (7)

2.2.16.

Der EWSA unterstreicht, dass gegen jeden Fall ungerechtfertigter Überregulierung und unsachgemäßer Anwendung der Rechtsvorschriften vorgegangen werden muss, denn häufig wurde dadurch das ordnungsgemäße Funktionieren des Marktes beeinträchtigt. Der EWSA fordert nachdrücklich, zumindest als Beobachter in dieser Taskforce vertreten zu sein.

2.2.17.

Wie bereits in mehreren früheren Stellungnahmen (8) dargelegt, teilt der EWSA die Auffassung der Kommission bezüglich der Gefahren und Verzögerungen bei der Vollendung des Binnenmarkts aufgrund der Marktfragmentierung, der Disparität der durchsetzbaren Vorschriften, der Unsicherheit beim Schutz der Privatsphäre und der Vertraulichkeit der Daten, des skrupellosen und nicht immer kontrollierbaren Einsatzes von Informationsnetzen sowie illegaler Online-Dienste, deren Existenz vor allem darauf zurückzuführen ist, dass die zuständigen Kommissionsdienststellen nicht konsequent genug mit steuerlichen Maßnahmen und Sanktionen dagegen vorgehen. Der EWSA empfiehlt den Generaldirektionen der Kommission, diese Probleme mithilfe eines übergreifenden Ansatzes anzugehen.

2.2.18.

Der EWSA bedauert, dass die wirksame Durchsetzung der EU-Rechtsvorschriften bis heute zu wünschen übrig lässt. Für die Unionsbürger ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie ein wirkliches Recht auf Sammelklage auf europäischer Ebene haben, das eindeutig und ohne weitere Verzögerungen verankert werden sollte. Das würde erheblich dazu beitragen, dass Verstöße gegen EU-Recht im äußersten Fall geahndet werden können und dass auf diese Weise die freiwillige Einhaltung der Rechtsvorschriften gefördert wird. (9)

2.2.19.

Der EWSA unterstreicht, dass Mitgliedstaaten selbst häufig gegen die vereinbarten Binnenmarktvorschriften verstoßen oder Hürden im nationalen Recht schaffen und tolerieren, um ihren Markt stärker zu schützen und den Unternehmen im Inland dadurch Vorteile zu verschaffen. Diese möglichen Vorteile sind oft sehr kurzfristiger Natur und schaden KMU und Jungunternehmen. Aber auch Bürger und Verbraucher werden durch nicht konforme Produkte gefährdet oder haben eine geringere Auswahl.

2.2.20.

Aus diesem Grund schließt sich der EWSA der Forderung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat an, den Vorschlag für eine Richtlinie über die Modifizierung nationaler Vorschriften im Rahmen der Dienstleistungsrichtlinie (10) anzunehmen. Dabei darf jedoch die bestehende Dienstleistungsrichtlinie nicht durch Ausnahmen von der Pflicht zur Meldung von Gebietsbeschränkungen (einschließlich städtischer Raumplanung) oder durch Entziehung der derzeitigen Entscheidungsbefugnisse der Kommission untergraben werden.

2.3.   Besondere Bemerkungen

2.3.1.

Die Tragweite des Binnenmarkts bedeutet, dass die EU in der Lage ist, das Handelssystem multilateral, offen, diskriminierungsfrei und regelbasiert zu gestalten. Unternehmen aus Drittländern müssen die Rechtsvorschriften der EU einhalten, um Zugang zum Binnenmarkt zu erhalten, auch in den Bereichen Gesundheit, Umweltschutz, Lebensmittel- und Produktsicherheit sowie Verbraucherschutz.

2.3.2.

Der EWSA begrüßt die Entscheidung der Kommission, die bereits bestehenden Instrumente zur Förderung der Entwicklung eines Binnenmarktes u. a. durch folgende neue Instrumente zu ergänzen: eine zentrale Informationsstelle, an die sich Beamte der Mitgliedstaaten mit praktischen Fragen wenden können; Plattformen für den Austausch mit den Mitgliedstaaten, wie sie beispielsweise für die Vergaberichtlinien verwendet werden; und einen verbesserten Zugang der Nutzer zu Informationen über Vorschriften und Anforderungen mithilfe des einheitlichen digitalen Zugangstors.

2.3.3.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, Leitlinien zu folgenden Grundsätzen hinzuzufügen:

a)

Subsidiarität und „doppelte Subsidiarität“;

b)

gegenseitige Anerkennung;

c)

Innovation und Vorsorge;

d)

das Allgemeininteresse im Hinblick auf bestimmte Dienstleistungen (z. B. des Banken- und Versicherungssektors).

2.3.4.

Der EWSA begrüßt die Entscheidung, dem öffentlichen Beschaffungswesen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Verwalter und Empfänger von EU-Mitteln müssen dabei unterstützt werden, ihre Verfahren für die Vergabe öffentlicher Aufträge zu verbessern, um gleiche Bedingungen zu gewährleisten und das Beschaffungswesen als strategisches Instrument zur Verfolgung wichtiger politischer Ziele wie die Grundsätze der Kreislaufwirtschaft zu nutzen.

3.   In Bezug auf die Mitteilung — Hindernisse für den Binnenmarkt ermitteln und abbauen (COM(2020) 93 final) — INT/908

3.1.   Hindernisse für den Binnenmarkt

3.1.1.

Im Mittelpunkt der Kommissionsmitteilung zur Ermittlung und Beseitigung von Binnenmarkthindernissen stehen 13 größere Hindernisse. Dabei handelt es sich nicht nur regulatorische und administrative, sondern auch um praktische Hindernisse. Unternehmen und Verbraucher werden beim Geschäftsverkehr in der EU häufig durch mehrere Barrieren gleichzeitig eingeschränkt. Dies betrifft insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU), Selbständige und Verbraucher.

3.1.2.

Im Hinblick auf mögliche Lösungen auf europäischer und nationaler Ebene werden in der Mitteilung fünf Hauptursachen für diese Hindernisse genannt: Regulierungsentscheidungen auf EU- und nationaler Ebene, Umsetzung, Durchführung und Durchsetzung der EU-Rechtsvorschriften, Verwaltungskapazitäten und -praktiken in den Mitgliedstaaten, allgemeine Rahmenbedingungen für Unternehmen und Verbraucher sowie Ursachen nicht ordnungspolitischer Art wie Sprache und Kultur.

3.1.3.

Manchmal kommt es dazu, dass Mitgliedstaaten gegen die vereinbarten Binnenmarktvorschriften verstoßen oder Hürden im nationalen Recht schaffen und tolerieren, um ihren Markt stärker zu schützen und den Unternehmen im Inland dadurch Vorteile zu verschaffen.

3.2.   Allgemeine Bemerkungen

3.2.1.

Der EWSA stellt fest, dass die Kommission die in ihrer Mitteilung aufgeführten Hindernisse als die größten noch bestehenden Barrieren für einen echten Binnenmarkt ansieht. Dabei handelt es sich nicht nur um regulatorische und administrative, sondern auch um praktische Hindernisse. Das bedeutet, dass Unternehmen und Verbraucher beim Geschäftsverkehr in der EU häufig durch mehrere Barrieren gleichzeitig eingeschränkt werden. Dies hat insbesondere auf KMU und freie Berufe negative Auswirkungen.

3.2.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine Umsetzungsstrategie nur dann wirksam sein kann, wenn sie: 1) auf einer starken Partnerschaft zwischen allen relevanten Interessenträgern beruht, 2) auf europäischer Ebene eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den bestehenden Netzen zur Durchsetzung des EU-Rechts ermöglicht, um sicherzustellen, dass Verstöße geahndet und komplexe Probleme, die gleichzeitig mehrere Sektoren betreffen, angegangen werden, 3) die Entwicklung von Strategien und Mitteln zur wirksamen Bekämpfung weitreichender Verstöße gegen EU-Recht ermöglicht, bei denen mit einer einzigen Durchsetzungsmaßnahme alle Interessenträger geschützt und die grenzübergreifende Rechtsdurchsetzung gewährleistet werden können, und 4) das Potenzial neuer Technologien nutzt, um wirksamere Durchsetzungsmaßnahmen und eine engmaschigere Marktüberwachung zu fördern.

3.2.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die unzureichende oder nicht ordnungsgemäße Anwendung der EU-Vorschriften schon viel zu lange die Achillesferse des EU-Rechts ist und dass viele Fälle von Betrug und rechtswidrigem Verhalten nicht verfolgt wurden. Eine konsequente Durchsetzung des EU-Rechts ist unerlässlich, um das Vertrauen der Verbraucher zu stärken und sicherzustellen, dass Unternehmen, Beschäftigte und Verbraucher das Potenzial des Binnenmarkts voll ausschöpfen können.

3.2.4.

Der durch die COVID-19-Krise verursachte Schaden für den Binnenmarkt wird den durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU entstehenden Schaden noch vergrößern. Dies könnte bedeuten, dass die Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung, die sozialen Garantien und das Wohlstandsniveau nach der Pandemie zunehmen werden, was sich auch auf den Binnenmarkt und seine Entwicklung auswirken wird.

3.2.5.

Nach Auffassung des EWSA führen die derzeitigen Rahmenbedingungen dazu, dass der Binnenmarkt immer mehr auf eine reine Freihandelszone reduziert wird; seine Zukunft zeichnet sich daher nicht als natürliche Folge eines supranationalen politischen Projekts ab, sondern allenfalls als kleinster gemeinsamer Nenner der nationalen Interessen der europäischen Staaten.

3.2.6.

Der EWSA fordert die Europäischen Institutionen und die betroffenen zivilgesellschaftlichen Organisationen auf, die europäischen Bürger klar über die Grenzen des Binnenmarkts zu informieren, damit sie ein realistisches Bild davon bekommen, was sie von seiner Verwirklichung und Durchsetzung tatsächlich erwarten können. Daher ist es wichtig, weder Maßnahmen, die mitunter überflüssig und unangebracht sind und die nur das Funktionieren der Unternehmen — insbesondere der KMU (11) und der freien Berufe — beeinträchtigen, noch eine vollständige Harmonisierung vorzuschreiben, die nicht zu rechtfertigen ist, weil andere Grundsätze — beispielsweise Verbraucherrechte und Verbraucherschutz Vorrang haben müssen. Der Binnenmarkt muss den Grundsatz „Stärke in der Vielfalt“ widerspiegeln, der in der europäischen Politik neben den Aspekten der Harmonisierung eine zentrale Rolle spielen sollte.

3.2.7.

Eine bedeutende Rolle kommt der Normierung oder Standardisierung nicht nur von Produkten, sondern auch von Dienstleistungen nach dem Modell des „neuen Konzepts“ zu.

3.2.8.

Ein langfristiger Plan, wie er von der Kommission vorgelegt wurde und mit dem die verbleibenden Hindernisse beseitigt werden sollen, ist ein ehrgeiziges und lobenswertes Unterfangen. Allerdings sollte er von umfangreichen Investitionen in Informations- und Lernprozesse, Frühwarnsysteme sowie Aus- und Weiterbildungssysteme, Integrationsprozesse und Normungsverfahren flankiert werden.

3.3.   Die soziale Dimension des Binnenmarktes

3.3.1.

Der EWSA fordert die Kommission erneut auf, die soziale Dimension der EU zu berücksichtigen, um die Schaffung hochwertiger und attraktiver Arbeitsplätze und die grenzüberschreitende Mobilität zu fördern, Qualifikationen und Kompetenzen zu verbessern und die Investitionen in diejenigen KMU zu erhöhen, die der Ansicht sind, dass sie durch die von der EU auferlegten Vorschriften besonders stark eingeschränkt werden und am wenigsten von der derzeitigen Situation profitieren. Aus diesem Grunde begrüßt der EWSA die Annahme der KMU-Strategie für ein nachhaltiges und digitales Europa.

3.3.2.

Der EWSA hält die für den Binnenmarkt vorgesehenen Vorschriften nur insofern für nützlich, als dass sie die Entwicklung einer gesunden sozialen Marktwirtschaft ermöglichen, um Armut, Ungleichheiten, Diskriminierung und soziale Ausgrenzung zu verhindern, wobei der gesellschaftlichen Eingliederung junger Menschen besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist.

3.3.3.

KMU und abhängig Beschäftigte sehen sich als die größten Verlierer wirtschaftlicher Krisen, der Einführung des Euro und jetzt der gravierenden Pandemie, die die europäische Wirtschaft in eine Rezession getrieben hat. Deshalb muss jede Maßnahme zugunsten des Binnenmarkts mit einer einfacheren, direkteren und wirksameren Kommunikation, weniger Verwaltungsaufwand und für alle verständlicheren Vorschriften einhergehen.

3.3.4.

Der EWSA fordert die Kommission zudem auf, die künftige grüne Wirtschaft und ihren Aktionsplan für den Binnenmarkt durch Vorschriften für die Sozialwirtschaft zu ergänzen, die den Unternehmen dieses Sektors gleiche Wettbewerbsbedingungen garantieren und seine Entwicklung fördern.

3.3.5.

Die Förderung von Jungunternehmern sowie innovativen Produkten und Dienstleistungen ist einer der Eckpunkte des Programms zur Vollendung des Binnenmarkts. Der EWSA befürwortet die Entscheidung, neue Geschäftsmodelle zu unterstützen, insbesondere die Kreislaufwirtschaft, Spitzentechnologien, kohlenstoffarme und ressourcensparende Lösungen sowie andere Initiativen z. B. zur Internationalisierung von Unternehmen, zur Anwerbung von Talenten und zum Ausbau der Qualifikationen der Beschäftigten.

3.3.6.

Der EWSA befürwortet den Gedanken, KMU, die in digitale Projekte investieren, zu unterstützen. Diese Projekte sollten so ausgerichtet sein, dass sie dem Unternehmenssektor, den Verbrauchern und der Zivilgesellschaft als Ganzes zugutekommen.

3.4.   Besondere Bemerkungen

3.4.1.

Der EWSA weist auf die Schwierigkeiten hin, denen europäische Unternehmen im globalen Wettbewerb mit Oligopolen oder Monopolen, die in bestimmten Fällen in staatlichem Besitz sind, ausgesetzt sind. Beispiele dafür sind unter anderem die Bereiche Schienen- und Luftverkehr sowie Windkraftanlagen, in denen europäische Unternehmen einem enormen Wettbewerbsdruck (von Unternehmen aus Drittländern, insbesondere aus China) standhalten müssen.

3.4.2.

Der EWSA unterstützt die Kommission in ihrem Bemühen um Produktkonformität auf Online-Plattformen, um sicherzustellen, dass keine illegalen und unsicheren Produkte in Verkehr gebracht werden. Er unterstreicht, wie wichtig jede einzelne Maßnahme ist, mit der die Konformität der auf Online-Plattformen verkauften Produkte überprüft und versucht werden soll, die Produktsicherheit in der globalen Online-Lieferkette zu gewährleisten.

3.4.3.

Der EWSA empfiehlt jedoch der Kommission, dabei auch Fragen wie künstliche Intelligenz, kommerzielle Kommunikation, Marketing und Werbung, rechtliche und vertragliche Garantien beim Verkauf von Waren und Dienstleistungen sowie spezifische Vorschriften für die Umsetzung und Durchsetzung des Binnenmarktes im Banken- und Versicherungssektor zu berücksichtigen.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  COM(2020) 94 final.

(2)  COM(2020) 93 final.

(3)  ABl. L 173 vom 9.7.2018, S. 25.

(4)  COM(2016) 821 final.

(5)  ABl. L 173 vom 9.7.2018, S. 25.

(6)  COM(2020) 102 final.

(7)  Siehe ABl. C 43 vom 15.2.2012, S. 14 und weitere oben genannte Stellungnahmen.

(8)  Siehe Liste im Anhang.

(9)  Der EWSA hat diesem Thema mehrere Stellungnahmen gewidmet, darunter: ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 1, ABl. C 324 vom 30.12.2006, S. 1, ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 1, ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 40 und ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 97.

(10)  COM(2016) 821 final.

(11)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 51.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/124


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen ‚Die Stunde Europas — Schäden beheben und Perspektiven für die nächste Generation eröffnen‘“

(COM(2020) 456 final)

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen ‚Der EU-Haushalt als Motor für den Europäischen Aufbauplan‘“

(COM(2020) 442 final)

„Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Schaffung eines Aufbauinstruments der Europäischen Union zur Unterstützung der Erholung nach der COVID-19-Pandemie“

(COM(2020) 441 final/2 — 2020/0111 (NLE))

„Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2021 bis 2027“

(COM(2020) 443 final — 2018/0166 (APP))

„Geänderter Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union“

(COM(2020)445 final — 2018/0135 (CNS))

„Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1311/2013 zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2014-2020“

(COM(2020) 446 final — 2020/0109 (APP))

„Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Rahmenprogramm für Forschung und Innovation „Horizont Europa“ sowie über die Regeln für die Beteiligung und die Verbreitung der Ergebnisse, Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über das Spezifische Programm zur Durchführung des Rahmenprogramms für Forschung und Innovation „Horizont Europa“, Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung des Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit, Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit Vorschriften für die Unterstützung der von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik zu erstellenden und durch den Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) zu finanzierenden Strategiepläne (GAP-Strategiepläne) und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EU) Nr. 1307/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates

(COM(2020) 459 final — 2018/0224 (COD))

(2020/C 364/17)

Hauptberichterstatter:

Petru Sorin DANDEA

Hauptberichterstatter:

Tommaso DI FAZIO

Hauptberichterstatter:

Petr ZAHRADNÍK

Befassungen

Europäisches Parlament, 17.6.2020: (COM(2020) 459 final — 2018/0224 (COD))

Rat der Europäischen Union, 10.6.2020: (COM(2020) 459 final — 2018/0224 (COD))

Europäische Kommission, 17.6.2020:

COM(2020) 441 final/2 — 2020/0111 (NLE)

COM(2020) 442 final

COM(2020) 443 final — 2018/0166 (APP)

Europäische Kommission, 2.7.2020:

COM(2020) 445 final — 2018/0135 (CNS)

COM(2020) 446 final — 2020/0109 (APP)

COM(2020) 456 final

Rechtsgrundlage

Artikel 43 Absatz 2, Artikel 173 Absatz 3, Artikel 182 Absatz 1, Artikel 188 und 304 AEUV

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Beschluss des Präsidiums

9.6.2020

Verabschiedung im Plenum

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

206/4/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist sich der schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der COVID-19-Pandemie für alle Mitgliedstaaten bewusst. Deshalb unterstützt er nachdrücklich das von der Kommission vorgeschlagene Programm „Next Generation EU“ als spezifisches Instrument für eine rasche und wirksame Erholung. Die Kommission trägt den wirtschaftlichen und sozialen Unstimmigkeiten Rechnung, die durch die nach der Krise von 2008 beschlossenen Maßnahmen entstanden sind, und stützt sich bei ihren Aktionen auf den Grundsatz der Solidarität zwischen ausnahmslos allen Ländern. Sie kehrt zu den im Gründungsvertrag verankerten Grundwerten der Europäischen Union zurück, die sie entschlossen umsetzt.

1.2.

Der EWSA ist sich der durch die Pandemie verursachten außergewöhnlichen und ernsten wirtschaftlichen Lage sehr wohl bewusst und begrüßt das Maßnahmenpaket, mit dem die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung abgefedert werden sollen. Die Auswirkungen sind ganz unterschiedlich: es kam nicht nur zu einem beispiellosen Nachfrageschock und einer Liquiditätsverknappung, sondern auch zu Störungen in den Lieferketten und schwerwiegenden Problemen auf der Angebotsseite. Dort wurden Lieferketten unterbrochen und viele Unternehmen hatten Probleme mit Einzelteilen, Arbeitskräften, Rohstoffen usw. und mussten aus diesem Grund ihre Produktionsprozesse einstellen. Insofern sind außergewöhnliche Initiativen notwendig, und der EWSA fordert sehr umfassende Maßnahmen.

1.3.

Der EWSA begrüßt deshalb die Entscheidung, der Union ein umfangreiches Finanzinstrument an die Hand zu geben, das allen Mitgliedstaaten eine rasche und effektive wirtschaftliche und soziale Erholung ermöglicht. Zudem begrüßt der EWSA die Entscheidung der Kommission, den außerordentlichen Aufbaufonds mit allen Mitteln auszustatten, die zur Wiederbelebung der Wirtschaft der Union und zur erneuten Stärkung ihrer Wettbewerbsposition auf globaler Ebene erforderlich sind, einschließlich der sozialen Errungenschaften der Europäischen Union, die ebenfalls ein wesentliches Ziel bleiben müssen.

1.4.

Der EWSA sieht die beiden grundlegenden Entscheidungen der Kommission sehr positiv. Die erste besteht in der Einführung eines außerordentlichen Finanzinstruments für den Wiederaufbau als Teil des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR). Der MFR ist ein Instrument, dessen Verfahrensregeln von allen Mitgliedstaaten akzeptiert werden, das seit Langem gut funktioniert und daher voll funktionsfähig ist. Die zweite grundlegende Entscheidung besteht darin, gemeinsame Schulden aufzunehmen, die dann über einen langen Zeitraum zurückgezahlt werden. So soll verhindert werden, dass die außergewöhnliche finanzielle Belastung kurzfristig die Mitgliedstaaten unmittelbar trifft, die alle — ohne Ausnahme — mehr oder weniger unter den negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie leiden.

1.5.

Aufgrund der zweiten Entscheidung beantragte die Kommission die Genehmigung, vom hohen Rating der Europäischen Union auf dem Finanzmarkt zu profitieren, um in mehreren aufeinanderfolgenden Tranchen für alle Mitgliedstaaten zu niedrigen Zinssätzen sehr langfristige gemeinsame europäische Darlehen aufzunehmen. Dank der finanziellen Anstrengungen soll die europäische Wirtschaft so bald wie möglich wiederbelebt, das Vertrauen wiederhergestellt und eine nachhaltigere und fairere Union geschaffen werden.

1.6.

Der EWSA begrüßt diese beiden grundlegenden Entscheidungen, da die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten, wie wiederholt in entsprechenden legislativen und nichtlegislativen Dokumenten festgestellt, den negativen Auswirkungen der Krise nicht mehr allein standhalten können. Denn sie sind aufgrund der langjährigen Konsolidierung des Binnenmarkts, die die von den Gründervätern der EU gewollten und mit den Gründungsverträgen angestrebten positiven Auswirkungen hatte, alle in hohem Maße voneinander abhängig.

1.7.

Insgesamt ist das Programm „Next Generation EU“ im breiteren Kontext des gesamten MFR ein Signal dafür, wie die gemeinsamen Finanzmittel der EU künftig mobilisiert und genutzt werden können. Darüber hinaus mag der Gesamtbetrag von 750 Mrd. EUR zwar gigantisch erscheinen, liegt aber sicherlich nicht über den wirtschaftlichen Möglichkeiten der EU (er entspricht nur 4,1 % des BIP der EU im Jahr 2019) und kann bis 2058 vollständig zurückgezahlt werden.

1.8.

Der EWSA befürwortet den innovativen und außergewöhnlichen Ansatz, den die Europäische Kommission verfolgt, um die fiskalische Grundlage der EU zu vergleichbaren Bedingungen von 1,1 % auf etwa 1,7 % des BIP der EU — und gegebenenfalls in Zukunft noch weiter — zu erhöhen. Er sieht in dieser Reaktion ein Signal dafür, wie die gemeinsamen Finanzmittel der EU künftig in moderner Weise mobilisiert und genutzt werden können.

1.9.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich, dass das neu vorgeschlagene Instrument eng mit dem bewährten Prozess des Europäischen Semesters koordiniert werden soll, und unterstützt den Vorschlag, dass die Mitgliedstaaten ihren Bedarf in nationalen Aufbau- und Resilienzplänen anmelden.

1.10.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission zum EU-Haushalt, mit dem zusätzliche echte Eigenmittel auf der Grundlage verschiedener Steuern eingeführt werden sollen (Einnahmen aus dem Emissionshandelssystem der EU, digitale Besteuerung, Einnahmen von Großunternehmen). Er weist insbesondere darauf hin, dass die enorme finanzielle Unterstützung, die die EU-Mitgliedstaaten zur Überwindung der Wirtschaftskrise benötigen, mit einem ehrgeizigeren Steuerreformprojekt — einer Fiskalunion — einhergehen sollte. Ziel dieser Fiskalunion sollte ein harmonisiertes Steuersystem auf der Grundlage der Grundsätze des fairen Wettbewerbs und der Solidarität sein. Damit sollen die Verzerrungen und Diskriminierungen in den EU-Ländern vermieden werden, die zu opportunistischem Verhalten sowohl der Staaten als auch einzelner Steuerzahler geführt und die Einheit des Binnenmarkts untergraben haben.

1.11.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, ein auf breiter Unterstützung basierendes und konsensfähiges Hintergrunddokument über die Eigenmittel der EU zu erarbeiten; er kann den langen Zeitraum für die Rückzahlung des Programms „Next Generation EU“ nachvollziehen, aber die endgültige Lösung für die Eigenmittel muss wesentlich früher festgelegt werden.

1.12.

Die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen sollten nach Ansicht des EWSA so bald wie möglich in Kraft treten, wobei der Zeitfaktor von entscheidender Bedeutung ist. Er fordert daher den Rat auf, unverzüglich zu einem Konsens zu gelangen, indem er diejenigen Mitgliedstaaten überzeugt, die sich in dieser schwierigen Zeit bisher gegen den auf Einheit und Zusammenhalt gestützten Plan aussprechen, und sie daran erinnert, dass ausnahmslos alle Länder wirtschaftlich und sozial voneinander abhängig sind.

1.13.

Abschließend möchte der EWSA darauf hinweisen, dass die Krise erneut die Notwendigkeit verdeutlicht hat, die Reformen für das Euro-Währungsgebiet zu beschleunigen und die Beschränkungen zu überwinden, die eine echte wirtschaftliche, soziale, fiskalische und politische Integration nach wie vor verhindern. Das hat der EWSA bereits während der letzten Finanzkrise von 2008 hervorgehoben.

2.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags

2.1.

Als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie und ihre unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen schlug die Europäische Kommission am 27. Juni 2020 ein befristetes Aufbauinstrument mit der Bezeichnung „Next Generation EU“ vor, um die finanzielle Schlagkraft des EU-Haushalts zu erhöhen.

2.2.

Das Aufbauinstrument ist in einen verstärkten mehrjährigen Finanzrahmen für den Zeitraum 2021-2027 eingebettet, um Investitionen zügig dorthin zu lenken, wo sie am dringendsten benötigt werden, den Binnenmarkt stärken, die Zusammenarbeit in Bereichen wie Gesundheit und Krisenmanagement intensivieren und die Union mit einem langfristigen Haushalt ausstatten, der dazu beiträgt, die grüne und die digitale Wende voranzutreiben sowie eine gerechtere und robustere Wirtschaft aufzubauen.

2.3.

Der Aufbauplan umfasst eine Zuschusskomponente von 440 Mrd. EUR, die auf alle Haushaltslinien verteilt wird. Darüber hinaus werden 60 Mrd. EUR als Garantien bereitgestellt. Rund 250 Mrd. EUR erhalten die Mitgliedstaaten als Darlehen.

2.4.

Zur Finanzierung der für den Zeitraum 2021-2024 vorgeschlagenen Aufbaumaßnahmen wird die Kommission an den Finanzmärkten im Namen der Union Darlehen in Höhe von bis zu 750 Mrd. EUR aufnehmen.

2.5.

Um dies zu ermöglichen, wird die Kommission den Headroom, d. h. den Spielraum nutzen, den die Differenz zwischen der Eigenmittelobergrenze des langfristigen Haushaltsplans (Höchstbetrag der Mittel, die die Union zur Deckung ihrer finanziellen Verpflichtungen von Mitgliedstaaten fordern kann) und der Obergrenze der tatsächlichen Ausgaben (MFR-Obergrenze für Zahlungen) lässt.

2.6.

Die Eigenmittelobergrenze soll ausnahmsweise und vorübergehend um 0,6 Prozentpunkte angehoben werden. Diese Anhebung kommt zu der ständigen Eigenmittelobergrenze von 1,4 % des Bruttonationaleinkommens der EU hinzu, die aufgrund von wirtschaftlichen Unwägbarkeiten und des Brexit vorgeschlagen wird. Die Anhebung um 0,6 Prozentpunkte läuft aus, sobald alle Mittel zurückgezahlt sind und keine Verbindlichkeiten mehr bestehen.

2.7.

Mit dem Spielraum im EU-Haushalt als Garantie, kann die EU im Vergleich zu vielen einzelnen Mitgliedstaaten zu relativ günstigen Bedingungen Schulden aufnehmen. Die aufgenommenen Mittel werden aus künftigen EU-Haushaltsplänen zwischen 2028 und 2058 zurückgezahlt. Die Darlehen werden von den kreditnehmenden Mitgliedstaaten zurückgezahlt.

2.8.

Da sich die Darlehenskomponente auf 250 Mrd. EUR beläuft, muss die EU insgesamt 500 Mrd. EUR über den Eigenmittelmechanismus zurückzahlen (allerdings wäre sie auch für Kreditausfälle seitens der Mitgliedstaaten für die übrigen 250 Mrd. EUR haftbar).

2.9.

Um die Rückzahlung der aufgebrachten Marktfinanzierung zu erleichtern und den Druck auf die nationalen Haushalte weiter zu verringern, wird die Kommission in einem späteren Stadium des Finanzierungszeitraums 2021-2027 zusätzliche neue Eigenmittel vorschlagen, die zu den bereits vorgeschlagenen Mitteln hinzukommen. Diese werden eng mit den Prioritäten der EU (Klimaschutz, Kreislaufwirtschaft und gerechte Besteuerung) verknüpft sein.

2.10.

Die Verwendung der Mittel aus dem Aufbaupaket beruht auf drei Säulen.

2.10.1.

SÄULE 1 — Unterstützung der Mitgliedstaaten beim Aufbau und der Krisenbewältigung, damit sie stärker daraus hervorgehen: Dazu gehören verschiedene Instrumente zur Förderung von Investitionen und Reformen in den Mitgliedstaaten, die konzentriert dort eingesetzt werden sollen, wo die Auswirkungen der Krise und der Resilienzbedarf am größten sind, und zwar:

eine neue Aufbau- und Resilienzfazilität von 560 Mrd. EUR, die für Investitionen und Reformen zur Förderung der Erholung der Wirtschaft und ihrer Resilienz eingesetzt werden soll;

die Initiative REACT-EU, mit der bis 2022 zusätzliche Mittel für die Kohäsionspolitik in Höhe von 55 Mrd. EUR bereitgestellt werden sollen;

Änderungen des Europäischen Sozialfonds Plus;

die Aufstockung des Fonds für einen gerechten Übergang auf bis zu 40 Mrd. EUR;

die Aufstockung der Mittel des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums um 15 Mrd. EUR.

2.10.2.

SÄULE 2 — Wiederankurbelung der Wirtschaft und Belebung der privaten Investitionstätigkeit:

mit einem neuen Solvenzhilfeinstrument soll die EU-Haushaltsgarantie zur Mobilisierung privater Mittel genutzt werden, um das Kapital rentabler europäischer Unternehmen aus allen Wirtschaftszweigen zu stützen;

das Programm InvestEU, das für die Mobilisierung von Investitionen und die Unterstützung der Unionspolitik während des Wiederaufbaus in Bereichen wie nachhaltige Infrastrukturen, Innovation und Digitalisierung besonders geeignet ist, soll ausgebaut werden;

im Rahmen von InvestEU soll eine Fazilität für strategische Investitionen geschaffen werden, um die Resilienz Europas durch den Aufbau strategischer Autonomie in wichtigen Lieferketten auf europäischer Ebene zu stärken.

2.10.3.

SÄULE 3 — Lehren aus der Krise und Bewältigung der strategischen Herausforderungen Europas:

ein neues Gesundheitsprogramm, EU4Health, in Höhe von 9,4 Mrd. EUR, mit dem sichergestellt werden soll, dass die Union über die kritischen Kapazitäten verfügt, um rasch auf künftige Krisen reagieren zu können;

eine Aufstockung um 2 Mrd. EUR für rescEU, das Katastrophenschutzverfahren der Union;

eine Erhöhung der Mittel für Horizont Europa auf 94,4 Mrd. EUR;

eine Erhöhung der Mittel für das Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit auf 86 Mrd. EUR über eine neue Garantie für Außenmaßnahmen und eine Aufstockung des Europäischen Fonds für nachhaltige Entwicklung um 1 Mrd. EUR;

Aufstockung des Instruments für humanitäre Hilfe um 5 Mrd. EUR.

2.11.

Zusätzlich zu den Aufstockungen im Rahmen des Programms „Next Generation EU“ schlägt die Kommission vor, weitere Programme zu stärken, damit sie ihre Rolle bei der Verbesserung der Resilienz der Union und der Bewältigung der Herausforderungen, die sich aus der Pandemie und ihren Folgen ergeben, in vollem Umfang gerecht werden können:

das Programm „Digitales Europa“; die Fazilität „Connecting Europe“; das Binnenmarktprogramm und Programme zur Unterstützung der Zusammenarbeit in den Bereichen Steuern und Zollwesen; Erasmus+; Kreatives Europa; die Gemeinsame Agrarpolitik und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds; den Asyl- und Migrationsfonds und den Fonds für integriertes Grenzmanagement; den Fonds für die innere Sicherheit; die Heranführungshilfe der Union.

2.12.

Der Aufbaufonds ist Teil des EU-Haushalts. Folglich muss die Auszahlung von Mitteln programmiert werden. Sie ist an das Europäische Semester (und damit an die makroökonomische Konditionalität) gebunden. Zudem ist sie an die Haushaltsvollzugs- und -kontrollsysteme der Europäischen Kommission geknüpft und unterliegt der Haushaltskontrolle durch das Europäische Parlament.

2.13.

Um den Übergangszeitraum bis zur Ratifizierung des geänderten Eigenmittelbeschlusses zu überbrücken und dringend benötigte Mittel für Beschäftigte, Unternehmen und Mitgliedstaaten bereits in diesem Jahr verfügbar zu machen, schlägt die Kommission außerdem vor, den aktuellen langfristigen Haushaltsplan 2014-2020 anzupassen, um noch 2020 eine Ausgabenerhöhung zu ermöglichen.

2.14.

Der Europäische Grüne Deal — einschließlich des im Januar vorgeschlagenen Mechanismus für einen gerechten Übergang — und die digitalen und industriellen Strategien der Union sind als Wachstumsstrategie der EU von entscheidender Bedeutung für die nachhaltige Erholung der EU. Sie bleiben das Herzstück der heute vorgelegten Vorschläge, da es von ihnen abhängt, ob unsere Wirtschaft rasch wieder auf die Beine kommt und die Zukunft für die nächste Generation vorbereitet wird. Investitionen und Reformen, die sie voranbringen, müssen daher Bestandteil aller nationalen Aufbau- und Resilienzpläne sein.

2.15.

Obwohl die Kommission im Mai 2018 vorgeschlagen hat, alle Korrekturen auf der Einnahmenseite (Rabatte) abzuschaffen, vertritt sie angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie nun die Auffassung, dass das Auslaufen der Rabatte und der Aufbauplan für bestimmte Mitgliedstaaten im nächsten langfristigen Haushalt zu unverhältnismäßigen Erhöhungen der Beiträge führen könnten. Um dies zu vermeiden, schlägt die Kommission vor, die derzeitigen Rabatte über einen viel längeren Zeitraum auslaufen zu lassen.

2.16.

Ein weiteres zentrales Element des Aufbaupakets ist der Vorschlag der Kommission für eine Verordnung über den Schutz des EU-Haushalts vor generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatlichkeitsprinzip.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

In Bezug auf den Aufbauplan, den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dem Europäischen Parlament am 27. Mai 2020 vorgestellt hat, begrüßt und teilt der EWSA insbesondere die stichhaltigen und gewichtigen Beweggründe, die zur Erarbeitung von „Next Generation EU“ geführt haben. Dieses Instrument ist ein fairer Pakt zwischen den Generationen, der eine gestärkte und zukunftsorientierte Europäische Union schaffen wird. Er wird die geeigneten Mittel bereitstellen, um der EU zu mehr Stärke und Zusammenhalt zu verhelfen, so dass die künftigen Generationen in hohem Maße davon profitieren werden, anstatt nur die Last der jetzt aufgenommenen, sehr langfristigen Schulden zu tragen.

3.2.

Der EWSA hält den Vorschlag aus folgenden Gründen für außerordentlich, wenn nicht gar revolutionär:

zum ersten Mal ist im Rahmen des EU-Haushalts eine implizite Verschuldung vorgesehen, die in den folgenden 30 Jahren zu tilgen ist;

erstmals würden Mittel auf den Finanzmärkten aufgenommen, und das Verfahren wäre markterprobt; in dieser Zeit würde der Gesamtbetrag von der EU als Ganzes garantiert;

die Lösung könnte zu einer künftigen Erhöhung der Eigenmittel EU und einer entsprechenden Abschwächung ihrer direkten Abhängigkeit von den Beiträgen der Mitgliedstaaten führen;

die finanzielle Grundlage der EU würde auch von den derzeitigen 1,1 % des EU-BIP auf rund 1,7 % in vergleichbaren Zahlen steigen;

die Lösung ist nicht nur für die unmittelbar von der Pandemie Betroffenen überaus hilfreich, sondern auch für diejenigen, die bei ihren Strukturreformen Unterstützung benötigen;

der Vorschlag stützt sich in hohem Maße auf die Nutzung der Finanzierungsinstrumente, was eine effizientere Umverteilung der Mittel gewährleistet.

3.3.

Zu diesem Zeitpunkt ist es notwendig, wechselseitige negative Auswirkungen zu vermeiden und Solidarität mit den von der Pandemie am stärksten betroffenen bzw. jenen Ländern zu zeigen, deren Volkswirtschaften aufgrund der derzeitigen Ungleichgewichte und Beschränkungen des Euroraums schwächeln.

3.4.

Der EWSA nimmt die Ankündigung des Programms „Next Generation EU“ sowie den im geänderten Vorschlag für den MFR 2021-2027 unterbreiteten Vorschlag, die EU-Haushaltsgrundlage zu erhöhen und sie an die dringenden aktuellen Anforderungen anzupassen, zur Kenntnis. Die vorgeschlagenen haushaltspolitischen Maßnahmen ergänzen auch die bereits im Rahmen der Geld- und Strukturpolitik sowie im Regulierungsrahmen unternommenen Schritte.

3.5.

In zahlreichen früheren Stellungnahmen, und insbesondere in seiner Stellungnahme zum MFR 2021-2027 aus dem Jahr 2018, hat der EWSA einen starken EU-Haushalt sowie finanzielle Mittel für die EU gefordert, die ihr eine glaubwürdige Umsetzung ihrer politischen Agenda ermöglichen (1).

3.6.

In Bezug auf die Finanzierung des EU-Haushalts fordern der EWSA und das Europäische Parlament seit Langem einen ausreichend hohen Betrag an autonomen, transparenten und gerechten Eigenmitteln sowie eine Abkehr von der Dominanz der BNE-basierten Beiträge. Der EWSA unterstützt die Ergebnisse der hochrangigen Gruppe „Eigenmittel“ unter dem Vorsitz von Mario Monti (2). Die Methoden zur Erhöhung der Einnahmen sollten die politischen Ziele der EU ergänzen und stärken. Der EWSA begrüßt deshalb den Vorschlag der Kommission über zusätzliche echte Eigenmittel (3).

3.7.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, ein politisches Hintergrunddokument und eine Machbarkeitsprüfung für die Eigenmittel zu erarbeiten. Der EWSA geht davon aus, dass es einige Zeit dauern wird, bis eine endgültige Lösung angenommen werden kann. Es wäre jedoch sehr sinnvoll, wenn die derzeitige Ungewissheit über die Art der Finanzierung des EU-Haushalts ausgeräumt werden könnte. Ohne eine Lösung ist dieses gesamte Konzept sehr fragil.

3.8.

Der EWSA nimmt den im Rahmen des Aufbauplans unterbreiteten Kommissionsvorschlag zur Kenntnis, die derzeitigen Rabatte für bestimmte Nettozahler-Mitgliedstaaten über einen längeren Zeitraum auslaufen zu lassen als 2018 vorgeschlagen. Der EWSA hält jedoch an seinem in seinen jüngsten Stellungnahmen zum Ausdruck gebrachten Standpunkt fest, letztlich alle Rabatte abzuschaffen (4).

3.9.

Da das Programm „Next Generation EU“ Teil des EU-Haushalts ist, wird es in puncto Konditionalität mit dem Europäischen Semester und dem Verwaltungs- und Kontrollsystem der Kommission verknüpft, das auch der Kontrolle durch das Europäische Parlament unterliegt. Der EWSA verweist darauf, dass mögliche Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission oder zwischen der Kommission und dem Europäischen Parlament zu erheblichen Verzögerungen bei der Auszahlung der Mittel führen könnten.

3.10.

Nach Auffassung des EWSA müssen die Mitgliedstaaten ihre Programmplanungskapazität beträchtlich verbessern, wenn zusätzliche Mittel in Höhe von 165 Mrd. EUR in den ersten drei Jahren des neuen Finanzrahmens verteilt und wirksam eingesetzt werden sollen. Der Ausschuss empfiehlt auch, dass die Kommission flexiblere Regelungen in Erwägung zieht, um die Mitgliedstaaten bei der erforderlichen zusätzlichen Programmplanung zu unterstützen.

3.11.

Der EWSA begrüßt das Schreiben der Vorsitzenden der wichtigsten Fraktionen des Europäischen Parlaments, in dem sie den Europäischen Rat und den Rat dazu aufrufen, rasch eine Einigung auf der Grundlage des Kommissionsvorschlags zu erzielen. Der EWSA schließt sich auch der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Mai 2020 an, in der das Parlament zur Bewältigung der Auswirkungen von COVID-19 ein Aufbaupaket in Höhe von 2 Billionen EUR fordert (5).

3.12.

Der EWSA ist sich bewusst, dass es sich beim Paket zur Schaffung eines Aufbauinstruments und zur Anpassung des MFR 2021-2027 an die Erfordernisse der Zeit nach COVID-19 um einen außerordentlichen Schritt im Rahmen der EU-Finanzierung handelt, der jedoch auch notwendig und dringend ist. Die Haushaltspolitik der EU wäre unter den derzeitigen Umständen einfach nicht flexibel genug und auch nicht in der Lage, Maßnahmen zu unterstützen, die zur Lösung der Krise konkret beitragen könnten.

3.13.

Der EWSA ist sich auch bewusst, dass dies die beste Lösung ist, die unter den derzeitigen politischen Umständen möglich ist.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

In Bezug auf die Aufbau- und Resilienzfazilität begrüßt der EWSA nachdrücklich die vorgeschlagene Verknüpfung mit dem Europäischen Semester und den Aufbau- und Resilienzplänen, die als Grundlage und Benchmark für die Finanzierung dienen können.

4.2.

In Bezug auf die Initiative REACT-EU begrüßt der EWSA nicht nur die ganz erhebliche Aufstockung der kohäsionspolitischen Grundlagen, sondern auch die außergewöhnlichen Flexibilitätsregeln, die entwickelt wurden, um bedürftige Gebiete und dringende Prioritäten maßgeblich zu unterstützen.

4.3.

Der EWSA unterstützt ferner nachdrücklich eine deutliche Aufstockung der Mittel für den Fonds für einen gerechten Übergang und die vorgeschlagenen Schritte im Rahmen der anderen Säulen des Mechanismus für einen gerechten Übergang. Mit der geplanten Regelung kann nun der Strukturwandel hin zu neuen und stärker diversifizierten Wirtschaftstätigkeiten, die ein wesentlicher Bestandteil des Grünen Deals der EU sind, leichter und entschlossener unterstützt werden.

4.4.

Um die Wirtschaft wieder auf den Vorkrisenstand zu bringen, müssen unbedingt günstige Bedingungen für private Investitionen geschaffen werden. Der EWSA unterstützt den Vorschlag zur Schaffung eines Solvenzhilfeinstruments, das „gesunde“ Unternehmen, die von der Pandemie betroffen sind, unterstützen soll.

4.5.

Der EWSA würdigt den Inhalt der zweiten Säule des Programms „Next Generation EU“ mit dem Schwerpunkt Wiederankurbelung der Investitionstätigkeit, die durch innovative Finanzinstrumente unterstützt wird.

4.6.

Der EWSA begrüßt den Inhalt der dritten Säule des Programms „Next Generation EU“, deren Gegenstand bislang hauptsächlich unter die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fiel.

4.7.

Nach Auffassung des EWSA ist das Programm „Next Generation EU“ ausgewogen und wird dem Bedarf gerecht, der unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips von den gemeinsamen EU-Ressourcen gedeckt werden muss.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Stellungnahmen ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 106; ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 131, ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 63 und ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 1.

(2)  FUTURE FINANCING: Final report and recommendations of the High-Level Group on Own Resources December 2016 https://ec.europa.eu/budget/mff/hlgor/library/reports-communication/hlgor-report_20170104.pdf

(3)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 106 und ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 131.

(4)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 106.

(5)  https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2020-0124_DE.html


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/132


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung einer Fazilität für Wiederaufbau und Resilienz“

(COM (2020) 408 final — 2020/0104 (COD))

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Instruments für technische Unterstützung“

(COM (2020) 409 final — 2020/0103 (COD))

(2020/C 364/18)

Hauptberichterstatter:

Dimitris DIMITRIADIS

Befassung

Rat der Europäischen Union, 10.6.2020

Europäisches Parlament, 17.6.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 175 Absatz 3 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

 

 

Verabschiedung im Plenum

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

208/4/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die vorgeschlagene Aufbau- und Resilienzfazilität („Fazilität“) (1).

1.2.

Über seine wirtschaftliche Dimension hinaus trägt der Vorschlag der Europäischen Kommission auch wesentlich zur Vertiefung und Einigung der europäischen Familie bei, da er die Solidarität und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten stärkt.

1.3.

Der Vorschlag der Europäischen Kommission beweist unter anderem, dass die EU — sofern der entsprechende politische Wille vorhanden ist — in der Lage ist, große Krisen wirksam zu bewältigen, ernsthafte und glaubhafte Lösungen zu finden und die notwendigen und realistischen Kompromisse zu machen. Dies wird letztlich zu einer substanziellen Förderung des europäischen Ideals beitragen.

1.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Fazilität den Übergang zur Klimaneutralität und zur digitalen Wirtschaft mithilfe von Geldern aus dem Aufbauinstrument der EU (2) unterstützen sollte. So könnten die sozioökonomischen Auswirkungen des Übergangs in den am stärksten betroffenen Regionen abgemildert werden.

1.5.

Durch die COVID-19-Krise sind der auf Nachhaltigkeit, Ökologisierung und Digitalisierung ausgerichtete Aufbau sowie die Notwendigkeit, die schwächsten Regionen zu unterstützen, noch dringlicher geworden.

1.6.

Der EWSA hat sich bereits für eine enge Verknüpfung des Reformhilfeprogramms (3) mit dem Europäischen Semester ausgesprochen (4). Daher sollten in den von den Mitgliedstaaten vorgelegten Plänen die wichtigsten im Rahmen des Europäischen Semesters ermittelten Problemfelder behandelt und mit den Grundsätzen des europäischen Grünen Deals und der Digitalen Agenda in Einklang gebracht werden.

1.7.

Die Maßnahmen der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rats müssen rasch und wirksam koordiniert werden, um Verzögerungen zu vermeiden, die das Erreichen der Ziele der Fazilität gefährden würden.

1.8.

Angesichts der kurzen Zeit, in der die verschiedenen Projektpläne erarbeitet und abgeschlossen werden müssen, ist eine sofortige und umfassende Reaktion der Mitgliedstaaten erforderlich.

1.9.

Der EWSA hält es für wichtig, dass die Mitgliedstaaten eng mit der Europäischen Kommission zusammenarbeiten, um die im Rahmen der Fazilität vorzulegenden Projektpläne zu genehmigen, zu überwachen und erfolgreich umzusetzen.

1.10.

In den Plänen sollte eine direkte finanzielle Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen vorgesehen werden.

1.11.

Der EWSA hält es für sehr wichtig, dass jede angekündigte Maßnahme und insbesondere solche zur finanziellen Unterstützung mit klaren, unternehmensfreundlichen Informationen darüber einhergehen, welche Art von Unterstützung gewährt wird, wie KMU Zugang zu den bestehenden EU-Finanzierungsinstrumenten erhalten, wen sie im Falle von Fragen auf EU-Ebene kontaktieren können, welche nationalen Stellen an der Weiterleitung der Mittel beteiligt sind, an wen sich die KMU auf nationaler Ebene wenden können, welche Rolle die nationalen Banken spielen und welche Pflichten sie haben.

1.12.

Die Einreichung, Genehmigung, Überwachung und Fertigstellung der Projekte könnte dadurch beschleunigt werden, dass private Beratungsunternehmen mit globaler Erfahrung in den betreffenden Bereichen aktiv zurate gezogen werden.

1.13.

Der EWSA betont erneut die Notwendigkeit, bewährte Vorgehensweisen innerhalb der EU auszutauschen und Verwaltungsverfahren für die Zuweisung und Auszahlung der verfügbaren Mittel zu beschleunigen, wobei es an der Europäischen Kommission ist, die notwendige technische Unterstützung zu leisten (5).

1.14.

Die Rolle und Standpunkte der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft sollten in den von den Mitgliedstaaten vorgelegten Plänen berücksichtigt werden. Der EWSA hat insbesondere bereits darauf hingewiesen, dass „die organisierte Zivilgesellschaft maßgeblich dazu beitragen kann, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten zu einer einheitlichen Auffassung über den Inhalt der Reformprogramme kommen“ (6).

1.15.

Das Instrument für technische Unterstützung kann die vorgeschlagenen Maßnahmenpakete der Kommission zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie wirksam ergänzen.

2.   Einleitung und allgemeine Bemerkungen

2.1.

Ziel der vorgeschlagenen Fazilität ist es, den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt der Union zu fördern, indem die Resilienz und die Anpassungsfähigkeit der Mitgliedstaaten verbessert, die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise abgemildert und der ökologische und digitale Wandel unterstützt werden, die auf die Klimaneutralität Europas bis 2050 abzielen, um so das Wachstumspotenzial der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten nach der COVID-19-Krise wiederherzustellen, Arbeitsplätze zu schaffen und nachhaltiges Wachstum zu fördern.

2.2.

Die Fazilität dient der Bereitstellung nicht zurückzuzahlender finanzieller Unterstützung und Darlehen. Sie sollen den Ländern — insbesondere denjenigen mit niedrigerem Pro-Kopf-Einkommen und hoher Arbeitslosigkeit — dabei helfen, die schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie angemessen zu bewältigen.

2.3.

Ergänzend zu der nicht zurückzuzahlenden Unterstützung sind Darlehen mit langen Laufzeiten und zu den günstigen Zinssätzen vorgesehen, die der Union gewährt werden.

2.4.

Die COVID-19-Pandemie ist die globale Gesundheitskrise unserer Zeit. Sie hat bisher (mit Stand vom 12. Juni 2020) mehr als 420 000 Menschen das Leben gekostet (7). COVID-19 ist viel mehr als eine Gesundheitskrise, denn sie hat auch weltweit enorme sozioökonomische Folgen, deren Tragweite noch gar nicht abzusehen ist. Laut dem jüngsten Bericht der Weltbank über die Weltwirtschaft (Juni 2020) wird der Corona-Schock die tiefste weltweite Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg verursachen.

2.5.

Die Weltwirtschaft dürfte 2020 um 5,2 % schrumpfen, was etwa dem Dreifachen der Weltfinanzkrise von 2008-2009 entspricht. Für die fortgeschrittenen Volkswirtschaften wird für 2020 ein reales BIP-Wachstum von -6,1 % in den USA bzw. -9,1 % im Euro-Währungsgebiet erwartet. Im Bericht der Weltbank vom Juni 2020 heißt es ausdrücklich: „Da in mehr als 90 % der Schwellen- und Entwicklungsländer in diesem Jahr ein Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens zu erwarten ist, dürften viele Millionen Menschen wieder in die Armut zurückfallen“ (8).

Der COVID-19-Schock zeitigt folgende wirtschaftliche Auswirkungen (9):

1)

Die gestiegene Unsicherheit führt zu Angstsparen.

2)

Der Verbrauch sinkt.

3)

Die Bereitschaft zu Realinvestitionen geht zurück.

4)

Die Arbeitslosigkeit steigt an und wird sich wahrscheinlich auf einem zum Teil dauerhaft höheren Niveau einpendeln.

5)

Das Welthandelsvolumen schrumpft und die globalen Lieferketten werden mitunter erheblich gestört.

6)

Die Rohstoffpreise (v. a. der Ölpreis) brechen ein, was die Finanzierung der Haushalte traditioneller Rohstoffexporteure besonders schwierig macht.

7)

Die Risikoprämien für risikobehaftete Vermögenswerte schnellen in die Höhe.

2.6.

Mittlerweile ist allgemein bekannt, dass die Maßnahmen gegen die Gesundheitskrise die Wirtschaftskrise verschlimmern und umgekehrt. Was zur Abflachung der Pandemiekurve unternommen wird, verschärft zwangsläufig die makroökonomische Rezession und gefährdet alle Lieferketten, auch diejenigen, die für Menschen überlebenswichtig sind (Lebensmittel und medizinische Güter). Sollten sich die Folgeerscheinungen der Pandemie weiter verschlimmern, könnten sie Finanzkrisen auslösen, die zu einem Einbruch der Kreditvergabe, einer längeren weltweiten Rezession und einer langsameren Erholung führen könnten. Im Weltbankbericht „Global Economic Prospects Report“ vom Juni 2020 wird darauf hingewiesen, dass die steigende Verschuldung das Weltfinanzsystem anfälliger für Spannungen auf den Finanzmärkten macht.

2.7.

Folglich muss unverzüglich und umfangreich finanziell interveniert werden, um die wirtschaftlichen Folgen der jüngsten Krise einzudämmen und die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten widerstandsfähiger und zukunftstauglicher zu machen.

2.8.

Es sind folgende wirtschaftlichen Prioritäten zu setzen:

1)

Die Menschen müssen auch dann ihren Arbeitsplatz behalten, wenn sie unter Quarantäne stehen oder gezwungen sind, zu Hause zu bleiben.

2)

Öffentliche und private Einrichtungen, die besonders schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen unterstützen, müssen von den Regierungen finanziell gefördert werden.

3)

KMU sind vor Insolvenz zu schützen (die Notwendigkeit einer Unterstützung großer, nichtfinanzieller Kapitalgesellschaften aus Steuergeldern ist deutlich weniger unstrittig).

4)

Angesichts der Zunahme notleidender Kredite wird es politischer Maßnahmen bedürfen, um das Finanzsystem zu unterstützen.

5)

Konjunkturpakete in Höhe der krisenbedingten BIP-Ausfälle sollten angenommen werden.

2.9.

Nun schlägt die Kommission vor, den EU-Haushalt aufzustocken, um die unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Schäden der COVID-19-Pandemie aufzufangen, den Aufschwung anzukurbeln und die Weichen für eine bessere Zukunft für die nächste Generation zu stellen. Um sicherzustellen, dass der Aufschwung nachhaltig und überdies inklusiv und fair für alle Mitgliedstaaten verläuft, schlägt die Europäische Kommission das neue Aufbauinstrument der Europäischen Union vor. Es soll in einen wirkungsvollen, modernen und umgestalteten langfristigen EU-Haushalt eingebettet werden. Die Leitinitiative des Aufbauinstruments ist die Aufbau- und Resilienzfazilität (10).

3.   Allgemeine Prinzipien der Aufbau- und Resilienzfazilität und des Instruments für technische Unterstützung

3.1.

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagene Aufbau- und Resilienzfazilität („Fazilität“) und das Instrument für technische Unterstützung („Instrument“), die er nachdrücklich unterstützt. Sie bieten eine umfassende finanzielle Unterstützung für öffentliche Investitionen und Reformen, insbesondere in den Bereichen grüner und digitaler Wandel. Sie sollen zum einen die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten widerstandsfähiger machen und besser auf die Zukunft vorbereiten, zum anderen sollen sie helfen, die Folgen der Pandemie schneller und wirkungsvoller zu überwinden.

3.2.

Der EWSA ist zutiefst besorgt über die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie in den Mitgliedstaaten, insbesondere in Bezug auf den Anstieg der Arbeitslosigkeit, die in einigen südlichen Mitgliedstaaten einen Höchstwert von 33 % unter den jungen Menschen erreicht hat, und den Anstieg der Armutsquoten.

3.3.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Pandemie den schlimmsten wirtschaftlichen Schock seit der Großen Depression mit verheerenden Folgen für Millionen unserer Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen darstellt, natürlich auch mit dem Potenzial zur Vertiefung der wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede und der Gefahr einer „Großen Fragmentierung“ (11).

3.4.

Der EWSA hat bereits darauf hingewiesen, dass „diese wirtschaftliche Entwicklung nicht überall in der EU und im Euroraum einheitlich war und dass der Konvergenzprozess nach wie vor zu wünschen übrig lässt. Auch die Frage der Nachhaltigkeit ist für die EU eine immer komplexere Herausforderung“ (12).

3.5.

Der EWSA sieht die europäische Integration am Scheideweg: „Die jüngste, lang anhaltende Wirtschaftskrise und die gravierenden gesellschaftlichen Auswirkungen in mehreren Mitgliedstaaten zeigen, dass fehlende wirtschaftliche und soziale Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten und Regionen die politische Nachhaltigkeit des europäischen Projekts bedroht. Alle Vorteile dieses Projekts für die Bürgerinnen und Bürger Europas stehen auf dem Spiel“ (13).

3.6.

Nach Auffassung des EWSA sollte „[d]ie nachhaltige Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft, also der Fähigkeit, Produktivität und Lebensstandards in Europa zu steigern und gleichzeitig Klimaneutralität zu erreichen, insbesondere durch Forschung, Entwicklung sowie mehr und besser qualifizierte Arbeitskräfte, […] diese Initiativen ergänzen“ (14).

3.7.

Nach Ansicht des EWSA sollte „[d]ie Schaffung eines krisenfesten Wirtschafts- und Arbeitsmarkts im Rahmen wirtschaftlicher, sozialer, ökologischer und institutioneller Nachhaltigkeit […] das Leitmotiv einer Politik sein, die auf Aufwärtskonvergenz und Gerechtigkeit während des Übergangs zu einer klimaneutralen Wirtschaft (d. h. einer Wirtschaft, in der Treibhausgasemissionen und -absorptionen ausgeglichen sind) abzielt und gleichzeitig die Herausforderungen von Digitalisierung und demografischem Wandel bewältigt“ (15). Außerdem schließt sich der EWSA der Forderung an, dass die Europäische Union sich auf die Erreichung von Klimaneutralität bis 2050 festlegen und dementsprechend ihr Emissionssenkungsziel für 2030 anpassen sollte. Laut Bericht des UN-Umweltprogramms (UNEP) zu den globalen Emissionen (Emissions Gap Report) 2019 müssen die weltweiten Emissionen ab sofort um 7,6 % jährlich gesenkt werden, um die globale Erwärmung auf 1,5 oC zu begrenzen. Dies summiert sich zu einem Emissionsreduktionsziel von mindestens 68 % bis 2030.

3.8.

Der EWSA teilt daher die Auffassung, dass die Fazilität folgende Hauptziele haben sollte:

1)

Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts der Union,

2)

Milderung der sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise und

3)

Unterstützung des ökologischen und digitalen Wandels mit dem Ziel eines klimaneutralen Europas bis 2050 unter Wiederherstellung des Wachstumspotenzials der Volkswirtschaften in den Mitgliedstaaten nach der COVID-19-Krise und der Schaffung von Arbeitsplätzen und nachhaltigem Wachstum.

3.9.

Der EWSA unterstreicht, dass sich diese Investitionen und Reformen auch auf die Herausforderungen und den Investitionsbedarf im Zusammenhang mit dem ökologischen und digitalen Wandel konzentrieren und so einen nachhaltigen Aufschwung gewährleisten sollten.

3.10.

Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass grüne Konjunkturmaßnahmen herkömmlichen Konjunkturanreizen überlegen sind und eine klimafreundliche Politikgestaltung überdies besser für die Wirtschaft ist. Umweltgerechte bauliche Vorhaben wie nachträgliche Wärmedämmungen oder Infrastrukturen für erneuerbare Energien können dank gesenkter langfristiger Energiekosten und indirekter Wirkungen insgesamt zu höheren Multiplikator-Effekten für die Gesamtwirtschaft führen.

3.11.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass Investitionen nicht nur in die Kontrolle der Epidemie, relevante biomedizinische Forschungsvorhaben, Sicherheit der Grenzen, sicheres Reisen und sicheren Handel fließen sollten. Der Zeitpunkt ist gekommen, an dem sich Finanzinstitutionen und Regierungen die EU-Taxonomie für nachhaltige Investitionen (2019) zu eigen zu machen sollten. Es geht darum, die Nutzung fossiler Brennstoffe durch den Einsatz bereits vorhandener Technologien für erneuerbare Energien schrittweise zu verringern, Subventionen für fossile Energieträger in umweltfreundliche und intelligente Klimaschutz- und Anpassungsinfrastrukturprojekte umzulenken, in die kreislauforientierte und CO2-arme Wirtschaft zu investieren, den Übergang von einer industriellen zu einer regenerativen Landwirtschaft zu fördern, in die Ernährungssicherheit zu investieren, europäische Lieferketten zu fördern, den Transportbedarf zu minimieren, das Potenzial der digitalen Revolution auszuschöpfen und dabei gleichzeitig die Sicherheit der IKT-Netze zu gewährleisten (16).

3.12.

Der EWSA teilt die Sichtweise der Internationalen Energieagentur, dass der Übergang zu sauberer Energie mithilfe eines ehrgeizigen Plans zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Verwirklichung der Klimaschutzziele durch die Modernisierung der Energiesysteme zur Dynamisierung der europäischen Wirtschaft beitragen kann. Über 70 % der Investitionen im Energiebereich werden weltweit direkt oder indirekt von den Regierungen getätigt, weshalb ihr Agieren in dieser Krise besonders wichtig ist. Durch die politischen Rahmenbedingungen können energiebezogene Investitionen aktiv in Richtung mehr Nachhaltigkeit gelenkt und die Energieeffizienz, erneuerbare Energien und die Batteriespeicherung zu einem Hebel der wirtschaftlichen Erholung gemacht werden. Anreizprogramme in der Energiewirtschaft sollten vorrangig auf die Unterstützung der Beschäftigten, Schaffung neuer Arbeitsplätze und Emissionsminderung abzielen. Die Internationale Energieagentur (17) rät dazu, auf dem bereits Vorhandenen aufzubauen und visionär zu denken. Politische Maßnahmen, die auf bestehenden rechtlichen und institutionellen Strukturen aufbauen, lassen sich am einfachsten ausweiten.

3.13.

Der EWSA schließt sich vorbehaltlos der Auffassung an, dass die durch diese Verordnung geschaffene Fazilität dazu beitragen sollte, Klimaschutzmaßnahmen und ökologische Nachhaltigkeit in allen Politikbereichen Rechnung zu tragen und das allgemeine Ziel, 25 % der EU-Ausgaben in Klimaziele zu investieren, zu erreichen.

3.14.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass die Fazilität in erster Linie auf die Bereitstellung nicht zurückzuzahlender finanzieller Unterstützung ausgerichtet sein sollte. So soll insbesondere den Ländern mit niedrigerem Pro-Kopf-Einkommen und hoher Arbeitslosigkeit geholfen werden, die schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie angemessen zu bewältigen. Darlehen sollten nur eine Ergänzung zu der nicht zurückzuzahlenden Unterstützung sein und von den langen Laufzeiten und den günstigen Zinssätzen profitieren, die der Union gewährt werden.

3.15.

Der EWSA unterstützt die Absicht der Kommission, das Potenzial des EU-Haushalts voll auszuschöpfen, um insbesondere in den ersten ausschlaggebenden Jahren des Aufschwungs Investitionen zu mobilisieren und finanzielle Unterstützung vorzuziehen. Dies soll durch die kombinierte Annahme eines europäischen Notfall-Aufbauinstruments in Höhe von 808 984,090 Mio. EUR (zu aktuellen Preisen) und des gestärkten mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) für den Zeitraum 2021-2027 geschehen.

3.16.

Der EWSA fordert „[…] die Fortführung wirksamer Strukturreformen, die mit gezielten Investitionsstrategien einhergehen“ (18).

3.17.

Der EWSA begrüßt die Einrichtung eines durch alle Mitgliedstaaten nutzbaren, eigenständigen Instruments für technische Unterstützung als Nachfolger des Programms zur Unterstützung von Strukturreformen (SRSP) (19).

4.   Ausarbeitung Vorlage, Bewertung und Fristen nationaler Aufbau- und Resilienzpläne

4.1.

Der EWSA plädiert dafür, die Mittel der Fazilität den Mitgliedstaaten möglichst umgehend verfügbar zu machen, wobei diese ihrerseits die Mittel effizient einsetzen müssen, damit die Fazilität einen maximalen Nutzen entfalten kann.

4.2.

Die Mitgliedstaaten sollten nationale Aufbau- und Resilienzpläne ausarbeiten, in denen die Reformagenda und die Investitionsagenda für die nächsten vier Jahre festgelegt sind.

4.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Pläne bei den Hauptproblemen ansetzen sollten, die in den Mitgliedstaaten im Zuge des Europäischen Semesters in puncto Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität, Bildung und Kompetenzen, Gesundheit, Beschäftigung sowie wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt aufgezeigt wurden. Sie sollten außerdem sicherstellen, dass diese Investitionen und Reformen angemessen auf die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem ökologischen und digitalen Wandel ausgerichtet sind, um zur Schaffung von Arbeitsplätzen und nachhaltigem Wachstum beizutragen und die Union robuster zu machen.

4.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der vorhandene Rahmen für die Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen zu stärken ist. Die KMU müssen durch ein innovatives Instrument direkt finanziell unterstützt werden, um sie vor der Zahlungsunfähigkeit zu bewahren.

4.5.

Alle angekündigte Maßnahmen und insbesondere solche zur finanziellen Unterstützung sollten mit klaren, unternehmensfreundlichen Informationen darüber einhergehen, welche Art von Unterstützung gewährt wird, wie KMU Zugang zu den bestehenden EU-Finanzierungsinstrumenten erhalten, wen sie im Falle von Fragen auf EU-Ebene kontaktieren können, welche nationalen Stellen an der Weiterleitung der Mittel beteiligt sind, an wen sich die KMU auf nationaler Ebene wenden können, welche Rolle die nationalen Banken spielen und welche Pflichten sie haben usw.

4.6.

Der EWSA dringt darauf, dass in diesem Prozess die Rolle und die Standpunkte der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft ernsthaft berücksichtigt werden.

4.7.

Der EWSA hat bereits „die Einführung einer Regelung [empfohlen], wonach einem Mitgliedstaat Unterstützung versagt werden sollte, wenn bei der Entscheidung über die mehrjährigen Reformzusage-Pakete das Partnerschaftsprinzip unter echter Beteiligung der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft nicht umfassend angewandt wurde (20). Die Anwendung des Partnerschaftsprinzips ist maßgeblich für die Umsetzung faktengestützter Reformen, die ein Abbild der wirtschaftlichen Realität des jeweiligen Mitgliedstaats widerspiegeln“ (21).

4.8.

Der EWSA schließt sich der Auffassung an, dass die Kommission die Pläne anhand transparenter Kriterien bewerten und dabei insbesondere prüfen sollte, ob der Plan geeignet ist, die im Rahmen des Europäischen Semesters ermittelten Probleme zu lösen, ob er das Wachstumspotenzial und die wirtschaftliche und soziale Resilienz des jeweiligen Mitgliedstaates sowie den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt verbessern kann, ob er Maßnahmen in Bezug auf den ökologischen und digitalen Wandel enthält, und ob die vom Mitgliedstaat vorgelegte Kostenschätzung vernünftig und plausibel erscheint und den erwarteten Auswirkungen auf die Wirtschaft entspricht.

4.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass bei der Zuweisung der Mittel auch die Konvergenzkriterien berücksichtigt werden sollten (22).

4.10.

Der EWSA hält Folgendes für angezeigt:

1)

Die finanzielle Unterstützung und die einschlägigen Aktivitäten der Mitgliedstaaten im Rahmen der Fazilität sollten bis Ende 2024 vorgezogen und, was die nicht zurückzuzahlende finanzielle Unterstützung betrifft, bis 2022 zu mindestens 60 % des Gesamtbetrags gebunden sein.

2)

Die Mitgliedstaaten sollten bis spätestens 30. April Aufbau- und Resilienzpläne in Form eines gesonderten Anhangs zu ihren nationalen Reformprogrammen vorlegen.

3)

Die Mitgliedstaaten sollten am 15. Oktober des Vorjahres einen Entwurf des Plans zusammen mit dem Haushaltsplanentwurf des Folgejahres vorlegen.

4)

Die verbleibenden Jahre von 2024 bis zum Ende des MFR (2027) sollten von der Kommission und den Mitgliedstaaten genutzt werden, um die Umsetzung der einschlägigen Maßnahmen vor Ort zu fördern, den erwarteten Aufschwung in den relevanten Wirtschaftszweigen und im Sozialbereich zu erreichen und die Widerstandsfähigkeit und Konvergenz zu fördern.

4.11.

Der EWSA betont, dass es eine gewisse Zeit erfordert, die Ziele der Fazilität wirksam umzusetzen und zu erreichen. Er warnt davor, dass letztlich ein Verfehlen der gesetzten Ziele zu befürchten ist, wenn sich die Sichtweise durchsetzt, dass ein knapp bemessener Zeitraum zur Umsetzung des geplanten Vorhabens ausreicht.

4.12.

Der EWSA hebt hervor, dass eine rasche und wirksame Koordinierung der Maßnahmen der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rats erforderlich ist, um Verzögerungen zu vermeiden, die das Erreichen der Ziele der Fazilität gefährden würden. Angesichts der kurzen Zeit, in der die verschiedenen Projektpläne erstellt und abgeschlossen werden müssen, ist eine sofortige und umfassende Reaktion der Mitgliedstaaten erforderlich. Die Mitgliedstaaten sollten eng mit der Europäischen Kommission zusammenarbeiten, um die im Rahmen der Fazilität vorzulegenden Projektpläne zu genehmigen, zu überwachen und erfolgreich umzusetzen. Die Einreichung, Genehmigung, Überwachung und Fertigstellung der Projekte könnte dadurch beschleunigt werden, dass private Beratungsunternehmen mit globaler Erfahrung in den betreffenden Bereichen aktiv zurate gezogen werden.

4.13.

Der EWSA betont erneut die Notwendigkeit, bewährte Vorgehensweisen innerhalb der EU auszutauschen und Verwaltungsverfahren für die Zuweisung und Auszahlung der verfügbaren Mittel zu beschleunigen, wobei es an der Europäischen Kommission ist, die notwendige technische Unterstützung zu leisten (23).

5.   Instrument für technische Unterstützung

5.1.

Der EWSA befürwortet stetige Strukturreformen, die auf die Förderung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung und den Aufbau institutioneller Kapazitäten ausgerichtet sind, um so die Verwaltung qualitativ zu verbessern. Solche Reformen sollten länderspezifisch sein und Rückhalt durch demokratische Unterstützung haben. Eine Einheitslösung für alle Mitgliedstaaten sollte vermieden werden (24).

5.2.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass das Instrument für technische Unterstützung darauf abzielen sollte, die nationalen Behörden der antragstellenden Mitgliedstaaten in allen oder bestimmten Phasen des Reformprozesses zu begleiten.

5.3.

Der EWSA unterstreicht, dass das Instrument für technische Unterstützung dringend gebraucht wird, um die Behörden der Mitgliedstaaten bei der Konzeption von Reformen entsprechend ihren eigenen Prioritäten zu unterstützen und ihre Kapazität zur Entwicklung und Umsetzung von Reformvorhaben und -strategien zu stärken und dabei bewährte Verfahren und den zwischenstaatlichen Erfahrungsaustausch zu nutzen.

5.4.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass das Instrument für technische Unterstützung als wirksame Ergänzung der Maßnahmenpakete dienen kann, welche die Kommission zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie vorgeschlagen hat.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung einer Aufbau- und Resilienzfazilität, COM(2020) 408 final, 28.5.2020.

(2)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen „Der EU-Haushalt als Motor für den Europäischen Aufbauplan“, COM(2020) 442 final.

(3)  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung einer Europäischen Investitionsstabilisierungsfunktion, COM(2018) 387 final.

(4)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 121.

(5)  ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 53.

(6)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 121.

(7)  https://ourworldindata.org/grapher/total-deaths-covid-19.

(8)  Weltbank, Global Economic Prospects, Juni 2020.

(9)  Koundouri, P., Athens University of Economics and Business Working Paper, 2020.

(10)  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung einer Aufbau- und Resilienzfazilität, COM(2020) 408 final, 28.5.2020.

(11)  Ausführungen von Kommissionsmitglied Gentiloni auf der Pressekonferenz zur Aufbau- und Resilienzfazilität‚ Pressemitteilung der Europäischen Kommission, 28. Mai 2020 [nur in EN verfügbar].

(12)  ABl. C 47 vom 11.2.2020, S. 106.

(13)  ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 23.

(14)  Ebenda.

(15)  Ebenda.

(16)  Koundouri, P., Never Waste a Good Crisis: For a Sustainable Recovery from COVID-19, April 2020.

(17)  Internationale Energie-Agentur: https://www.iea.org/.

(18)  ABl. C 47 vom 11.2.2020, S. 106.

(19)  Verordnung (EU) 2017/825 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2017 über die Auflegung des Programms zur Unterstützung von Strukturreformen für den Zeitraum 2017-2020 und zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1303/2013 und (EU) Nr. 1305/2013 (ABl. L 129 vom 19.5.2017, S. 1).

(20)  Delegierte Verordnung (EU) Nr. 240/2014 der Kommission vom 7. Januar 2014 zum Europäischen Verhaltenskodex für Partnerschaften im Rahmen der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ABl. L 74 vom 14.3.2014, S. 1).

(21)  ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 53.

(22)  Ebenda.

(23)  Ebenda.

(24)  Ebenda.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/139


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufstellung des Programms ‚InvestEU‘“

(COM(2020) 403 final — 2020/0108 (COD))

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2015/1017 und zur Schaffung eines Solvenzhilfeinstruments“

(COM(2020) 404 final — 2020/0106 (COD))

(2020/C 364/19)

Hauptberichterstatter:

Ronny LANNOO

Befassung

Rat: 11.6.2020

Parlament: 17.6.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 172, 173, 175 Absatz 3 182 Absatz 1 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Beschluss des Präsidiums

9.6.2020

Verabschiedung im Plenum

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

208/0/8

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Seit Beginn der COVID-19-Krise hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) in verschiedenen Erklärungen seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass in diesen Zeiten großer Unsicherheit ein umfassender Aufbauplan für die europäische Wirtschaft die einzige Möglichkeit ist, die Folgen der Pandemie zu bewältigen und die Wirtschaft in Europa nachhaltiger und widerstandsfähiger als bisher zu gestalten.

1.2.

Der EWSA begrüßt daher das ehrgeizige Aufbaupaket der Europäischen Kommission und betont, dass dieser Aufbau nur mit einer starken und geschlossen auftretenden politischen Führung zum Erfolg geführt werden kann. Nach Ansicht des EWSA ist die Einführung dieser Maßnahmen ein deutliches Zeichen dafür, dass die alarmierende sozioökonomische Lage dringendes Handeln erfordert.

1.3.

Um eine rasche und nachhaltige Erholung der europäischen Wirtschaft zu gewährleisten, müssen unbedingt die erforderlichen Finanzmittel bereitgestellt werden. Der EWSA unterstützt daher nachdrücklich die Aufstockung des EU-Haushalts und fordert die europäischen Entscheidungsträger auf, eine rasche Einigung sowohl über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021-2027 als auch über das neue Aufbauinstrument „Next Generation EU“ zu erzielen.

1.4.

Der EWSA begrüßt die Stärkung des Programms „InvestEU“ und das ergänzende Solvenzhilfeinstrument und fordert eine rasche Einigung über diese Vorschläge, damit beide Programme rasch einsatzbereit werden und eine ausreichende Zahl förderfähiger Projekte konzipiert werden kann, die dann von diesen Initiativen profitieren.

1.5.

Fast alle Mittel für „InvestEU“ werden im Rahmen des Instruments „Next Generation EU“ und nicht des MFR 2021-2027 zugewiesen, was bedeutet, dass das Programm bis Ende 2026 umgesetzt sein muss. Daher fordert der EWSA die Gesetzgeber auf, Vorkehrungen zu treffen, um sicherzustellen, dass es nach 2026 und vor Beginn des MFR für die Zeit nach 2027 nicht zu einer Finanzierungslücke kommt.

1.6.

Der EWSA bekräftigt seine Unterstützung (1) für das Ziel der Kommission, die Investitionstätigkeit in der EU im Rahmen des nächsten langfristigen EU-Haushalts auszubauen. Dies hat angesichts des Konjunktureinbruchs infolge der COVID-19-Pandemie noch an Bedeutung gewonnen.

1.7.

Der EWSA unterstützt nach wie vor die Fokussierung auf langfristige Investitionsvorhaben, die von großem öffentlichem Interesse sind. Dabei sind auch die Kriterien der nachhaltigen Entwicklung zu beachten. Es ist entscheidend, dass sich die EU durch die COVID-19-Krise nicht von ihren mittel- und langfristigen Zielen abbringen lässt, wie sie im europäischen Grünen Deal, in der Strategie für nachhaltiges Wachstum 2020 und in der europäischen Säule sozialer Rechte dargelegt wurden.

1.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass das Programm „InvestEU“ besonders gut geeignet ist, langfristige Finanzmittel bereitzustellen und die politischen Maßnahmen der Union zur Überwindung einer tiefen Wirtschafts- und Sozialkrise zu flankieren. Der Ausschuss betont, wie wichtig es ist, klar festzulegen, welche Projekte für eine Förderung im Rahmen des neuen fünften Politikbereichs infrage kommen, da dies für die Komplementarität mit den anderen vier Bereichen von entscheidender Bedeutung ist. Der EWSA spricht sich auch für eine weiter gefasste Definition des Begriffs „Innovation“ aus, die über die Informationstechnologie und die Digitalisierung hinausgeht. Kleine und mittlere Unternehmen (KMU), vor allem Kleinst- und Kleinunternehmen, sind von der derzeitigen Krise besonders stark betroffen und sollten daher ausdrücklich für eine Förderung im Rahmen des neuen fünften Politikbereichs in Betracht kommen. Hierfür ist eine strukturelle Zusammenarbeit zwischen den Durchführungspartnern und den Behörden auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene von wesentlicher Bedeutung.

1.9.

Der EWSA fordert spezifische und klare Leitlinien zur Ermittlung von Projekten, die im Rahmen von „InvestEU“ eine Unterstützung erhalten können, sowie zu den Möglichkeiten, Synergien zwischen den zahlreichen EU-Programmen zu schaffen, um ihre angemessene und effiziente Umsetzung zu gewährleisten.

1.10.

Alle EU-Mitgliedstaaten sind von der Corona-Krise betroffen, einige jedoch stärker als andere. Der EWSA betont, dass die Aufbauphase nach der Corona-Krise nicht dazu führen darf, dass die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten noch größer werden.

1.11.

Vor diesem Hintergrund begrüßt der EWSA das neue Solvenzhilfeinstrument und betont, wie wichtig es ist sicherzustellen, dass es denjenigen Mitgliedstaaten zugutekommt, deren Volkswirtschaften am stärksten unter den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zu leiden haben. Eine rasche Erholung ist zwar von entscheidender Bedeutung, doch ebenso wichtig ist es, dass die verfügbaren Mittel Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, die ein tragfähiges Geschäftsmodell aufweisen. Dies würde zum Aufbau einer nachhaltigen und widerstandsfähigen europäischen Wirtschaft beitragen.

1.12.

Der EWSA unterstreicht die Rolle der europäischen Finanzmärkte bei der Mobilisierung der erwarteten Investitionsbeträge durch diese Instrumente sowie die führende Rolle der EIB-Gruppe (Europäische Investitionsbank und Europäischer Investitionsfonds); außerdem braucht Europa dringend eine geeignete Struktur für die Durchführungspartner, insbesondere auf nationaler Ebene. Es ist wichtig, dass der Mittelfluss über die EIB-Gruppe und die Förderbanken und -institute transparent und klar ist und dass die Mittel leicht zugänglich sind.

2.   Hintergrund

2.1.

Die COVID-19-Krise, die zunächst eine gesundheitliche Notlage darstellt, hat zu einem schweren wirtschaftlichen und sozialen Schock geführt, der mit einem drastischen Rückgang der Wirtschaftsleistung, einem raschen Anstieg der Arbeitslosigkeit, einer Verschlechterung des Lebensstandards (Rückgang des Realeinkommens, Arbeitsplatzunsicherheit, eingeschränkte Mobilität) und einem drastischen Rückgang des Außenhandels sowohl innerhalb der EU als auch mit Drittländern einherging. Die Krise hat auch zu einer drastischen Verschlechterung der Indikatoren für die öffentlichen Finanzen und zu einem Rückgang der Investitionen geführt.

2.2.

Am 27. Mai 2020 kündigte die Europäische Kommission einen ehrgeizigen Aufbauplan, den „Next Generation EU“-Plan, und einen überarbeiteten Vorschlag für den Gesamthaushalt der EU für 2021-2027 an (2).

2.3.

Für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021-2027 will die Kommission der EU-Wirtschaft ein Investitionsprogramm bieten, in dem bereichsübergreifende Ziele im Hinblick auf Vereinfachung, Flexibilität, Synergien und Kohärenz in allen relevanten Politikbereichen der EU berücksichtigt werden. Der Bedarf an einem solchen Investitionsprogramm ist aufgrund der COVID-19-Pandemie weiter gestiegen.

2.4.

Aus diesem Grund zog die Kommission ihren im Mai 2018 vorgelegten Vorschlag zum Programm „InvestEU“ zurück und legte einen neuen Vorschlag (3) vor, in dem der bereits im April 2019 erzielten teilweisen Einigung zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat Rechnung getragen wird.

2.5.

Um das Programm „InvestEU“ besser für die Bewältigung der durch die COVID-19-Pandemie verursachten Wirtschafts- und Sozialkrise auszurüsten, schlägt die Kommission vor, die für das ursprüngliche Programm „InvestEU“ vorgesehenen Finanzmittel aufzustocken, um dem insgesamt höheren Investitionsbedarf und dem von größeren Risiken geprägten Umfeld Rechnung zu tragen.

2.6.

Darüber hinaus wird mit dem neuen Vorschlag der Anwendungsbereich des Programms „InvestEU“ erweitert, indem ein fünfter Politikbereich, die Fazilität für strategische Investitionen, geschaffen wird, der den künftigen Bedürfnissen der europäischen Wirtschaft gerecht wird und mit dessen Hilfe die strategische Autonomie in Schlüsselsektoren sichergestellt oder aufrechterhalten werden soll.

2.7.

Das erweiterte Programm „InvestEU“ soll Unternehmen in der Erholungsphase unterstützen und gleichzeitig im Einklang mit seinen ursprünglichen Zielen dafür sorgen, dass die Investoren den Fokus verstärkt auf die mittel- und langfristigen Prioritäten der Union richten, beispielsweise auf den ökologischen und digitalen Wandel.

2.8.

Die Europäische Kommission hat ferner einen Vorschlag (4) für ein befristetes eigenkapitalbasiertes Instrument, das Solvenzhilfeinstrument, vorgelegt.

2.9.

Durch das Solvenzhilfeinstrument sollen Unternehmen unterstützt werden, die eigentlich über ein tragfähiges Geschäftsmodell verfügen, aufgrund der COVID-19-Krise jedoch unter Solvenzproblemen leiden. Ihnen soll geholfen werden, diese schwierige Zeit zu überstehen und so die Erholung zu gegebener Zeit mitzutragen. Ein weiteres Ziel des Vorschlags besteht darin, Verzerrungen auf dem Binnenmarkt entgegenzuwirken, die zu erwarten sind, wenn bestimmte Mitgliedstaaten nicht über ausreichende Haushaltsmittel verfügen, um in Not geratene Unternehmen angemessen zu unterstützen.

2.10.

Das Solvenzhilfeinstrument sollte 2020 so schnell wie möglich, spätestens jedoch Anfang Oktober, eingeführt werden, damit es im Laufe des Jahres 2021 rasch seine volle Kapazität entfalten kann.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA bekräftigt (5) seine Unterstützung für das Programm „InvestEU“ und die Fortführung und den Ausbau des auf Garantien beruhenden Finanzierungsinstruments. Er hält dies nicht zuletzt im Hinblick auf die langfristige Entwicklung des EU-Haushalts und der EU-Haushaltspolitik für wesentlich.

3.2.

Der EWSA begrüßt die Aufstockung des Programms „InvestEU“, wodurch die EU-Garantie auf 75,2 Mrd. EUR erhöht wird (zu jeweiligen Preisen und einschließlich des neuen Politikbereichs für strategische Investitionen). Damit sollen zusätzliche Investitionen in Höhe von 1 Billion EUR mobilisiert werden. Der EWSA fordert eine ausgewogene Aufteilung der Mittel auf die politischen Ziele.

3.3.

Der EWSA begrüßt die Hinzufügung eines fünften Politikbereichs, der Fazilität für strategische europäische Investitionen, die mit 31,2 Mrd. EUR aus der EU-Garantie zur Unterstützung von Investitionen in strategischen Sektoren und wichtigen Wertschöpfungsketten, unter anderem jenen, die für den ökologischen und digitalen Wandel von entscheidender Bedeutung sind, erhalten soll.

3.4.

Der Ausschuss betont, wie wichtig es ist, klar festzulegen, welche Projekte für eine Förderung im Rahmen des fünften Politikbereichs infrage kommen, da dies für die Komplementarität mit den anderen vier Bereichen wichtig ist. Der EWSA spricht sich auch für eine weiter gefasste Definition des Begriffs „Innovation“ aus, die über die Informationstechnologie und die Digitalisierung hinausgeht. Es sollte ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass auch KMU, insbesondere Kleinst- und Kleinunternehmen, im Rahmen dieser Fazilität förderfähig sind. Dies ist umso wichtiger, als die dem Politikbereich „KMU“ zugewiesene EU-Garantie im Vergleich zum ursprünglichen Vorschlag der Europäischen Kommission von 11,25 Mrd. EUR auf 10,17 Mrd. EUR (zu jeweiligen Preisen) gekürzt wurde. Hierfür ist eine strukturelle Zusammenarbeit zwischen den Durchführungspartnern und den Finanzmittlern, sowie den Behörden auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene, von wesentlicher Bedeutung.

3.5.

Der EWSA betont, dass Investitionen in Qualifikationen für den Übergang zu einer umweltfreundlicheren und gerechteren Wirtschaft von entscheidender Bedeutung sind und deshalb soziale Investitionen im Rahmen des Programms „InvestEU“ nicht vernachlässigt werden sollten.

3.6.

Viele KMU, insbesondere Kleinst- und Kleinunternehmen, leiden erheblich unter der COVID-19-Krise und den von den meisten EU-Ländern verhängten Ausgangssperren. Deshalb muss unbedingt sichergestellt werden, dass ausreichende Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit sie sich von der Krise erholen können. Diese Unterstützung muss an der Nachfrage ausgerichtet werden, d. h., es müssen sowohl Fremd- als auch Eigenkapitalprodukte verfügbar sein. Da die Garantiekapazität im Rahmen des Finanzierungsfensters „KMU“ abnimmt, sollte dieser Rückgang dadurch ausgeglichen werden, dass KMU-Portfolios, insbesondere diejenigen von Klein- und Kleinstunternehmen, für den Politikbereich „Strategische Investitionen“ in Betracht kommen. Dies wird mit verhältnismäßigen Berichterstattungsanforderungen einhergehen, um für die kleinsten Unternehmen mit knappen Ressourcen einen übermäßigen Verwaltungsaufwand zu vermeiden, der sie davon abgehalten würde, sich um Unterstützung durch das Programm „InvestEU“ zu bemühen. Die Rolle der Durchführungspartner und der Finanzmittler ist entscheidend, um sicherzustellen, dass die Mittel diese Unternehmen auch erreichen.

3.7.

Während der aktuellen Krise haben Politik und Unterstützung seitens der Regierungen erheblich an Bedeutung gewonnen; allerdings gibt es, was die Fähigkeit der Regierungen anbelangt, die am stärksten von der Krise betroffenen Branchen und Unternehmen zu unterstützen, große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten.

3.8.

Der EWSA begrüßt daher das neue Solvenzhilfeinstrument und die Tatsache, dass es zwar allen Mitgliedstaaten offensteht, der Schwerpunkt jedoch auf den Mitgliedstaaten liegen wird, deren Volkswirtschaften von den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie am stärksten betroffen sind und/oder in denen eine staatliche Solvenzunterstützung nur in begrenztem Maße möglich ist. Der EWSA teilt die Auffassung, dass ausschließlich Unternehmen mit tragfähigen Geschäftsmodellen unterstützt werden sollten, die sich vor der COVID-19-Krise nicht in Schwierigkeiten befanden. Er begrüßt ferner die Integration des Solvenzhilfeinstruments in den Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI). Um eine effiziente Nutzung der Mittel zu gewährleisten, ist es ratsam, flexible Umschichtungen zu und von den anderen Finanzierungsfenstern des EFSI zu ermöglichen. Schließlich sollte eine ausgewogene marktorientierte Verteilung der verfügbaren Mittel auf Eigenkapital- und Quasi-Eigenkapitalprodukte wie nachrangige Darlehen ins Auge gefasst werden.

3.9.

Der doppelte (ökologische und digitale) Wandel wird im Rahmen des Solvenzhilfeinstruments gefördert. Diese Bedingungen müssen auch für Kleinst- und Kleinunternehmen und traditionelle Branchen realistisch und durchführbar sein.

3.10.

Alle EU-Mitgliedstaaten sind von der Corona-Krise betroffen, einige jedoch in stärkerem Maße als andere. Der EWSA betont, dass die Aufbauphase nach der Corona-Krise nicht dazu führen darf, dass die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten noch größer werden. Obwohl weder für das Programm „InvestEU“ noch für das neue Solvenzhilfeinstrument geografische Quoten definiert werden, begrüßt der EWSA, dass der Lenkungsrat bestimmte Obergrenzen für geografische Konzentrationen festlegen wird.

3.11.

Die Schaffung von InvestEU als übergeordnetes Finanzinstrument geht mit Vereinfachung, mehr Transparenz und einem größeren Synergiepotenzial einher, was im Hinblick auf den Investitionsplan für ein zukunftsfähiges Europa und die anderen Komponenten des Europäischen Aufbauplans noch an Bedeutung gewinnt. Der EWSA fordert spezifische und klare Leitlinien zur Ermittlung von förderfähigen Projekten und Chancen für Synergien zwischen den zahlreichen EU-Programmen, um ihre angemessene und effiziente Umsetzung zu gewährleisten.

3.12.

Die EU sollte sich durch die COVID-19-Krise nicht von ihren mittel- und langfristigen Zielen abbringen lassen, wie sie im europäischen Grünen Deal, in der Strategie für nachhaltiges Wachstum 2020 und in der europäischen Säule sozialer Rechte dargelegt wurden. In seiner jüngsten Entschließung (6) stellt der EWSA fest, dass Europa Aktivitäten finanzieren muss, die zwei Kriterien erfüllen: Rückverlagerung strategischer Produktion, um Europa unabhängig zu machen, insbesondere im Bereich des Gesundheitsschutzes und der gesundheitlichen Notversorgung, und um gute Arbeitsplätze zu schaffen, und Fokussetzung auf nachhaltige Investitionen, die sozial verantwortlich und umweltfreundlich sind. KMU können ebenso wie Großunternehmen und sozialwirtschaftliche Unternehmen eine entscheidende Rolle bei der Umstrukturierung des europäischen Produktionssystems spielen.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Stellungnahme des EWSA zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufstellung des Programms „InvestEU“ (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 131).

(2)  Mitteilung zum Aufbauplan: Die Stunde Europas — Schäden beheben und Perspektiven für die nächste Generation eröffnen.

(3)  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufstellung des Programms „InvestEU“.

(4)  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2015/1017 und zur Schaffung eines Solvenzhilfeinstruments.

(5)  Stellungnahme des EWSA zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufstellung des Programms „InvestEU“ (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 131).

(6)  Vorschläge des EWSA für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung nach der COVID-19-Krise.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/143


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung des Rahmens für die Verwirklichung der Klimaneutralität und zur Änderung der Verordnung (EU) 2018/1999 (Europäisches Klimagesetz)“

(COM(2020) 80 final — 2020/0036 (COD))

(2020/C 364/20)

Berichterstatter:

Jan DIRX

Mitberichterstatterin:

Tellervo KYLÄ-HARAKKA-RUONALA

Befassung

Europäisches Parlament, 10.3.2020

Rat, 13.3.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 192 Absatz 1 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

29.6.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

210/2/9

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Wie viele andere namhafte EU-Institutionen und Persönlichkeiten betont auch der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), dass Klimaschutz und wirtschaftlicher Wiederaufbau nach der Coronavirus-Krise Hand in Hand gehen können und müssen. Dazu muss die europäische Wirtschaft über ein Paket effektiver und nachhaltiger öffentlicher und privater Investitionen wiederangekurbelt werden. Der EWSA betrachtet daher den Vorschlag für ein Europäisches Klimagesetz als eines der Instrumente, die zu diesem erwünschten und notwendigen Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft beitragen können.

1.2.

Der EWSA bevorzugt für den Übergang zur Klimaneutralität den übergeordneten Ansatz auf EU-Ebene gegenüber Ansätzen auf Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten. Damit ist der Vorteil einer optimalen EU-weiten Lastenverteilung unter Berücksichtigung der einschlägigen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten verbunden. Ebenso ist der EWSA überzeugt davon, dass die größte Akzeptanz für die Klimapolitik dann erreicht werden wird, wenn das übergeordnete Ziel in einer größtmöglichen Emissionssenkung zu niedrigstmöglichen sozioökonomischen Kosten besteht.

1.3.

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Auswirkungen der Coronavirus-Krise bei der Bewertung des Emissionsziels für 2030 zu berücksichtigen (und die entsprechenden Legislativvorschläge für eine Reduzierung von mindestens 55 % bis 2030 vorzulegen). Der EWSA weist darauf hin, dass laut dem Bericht des UN-Umweltprogramms (UNEP) zu den globalen Emissionen (Emissions Gap Report) 2019 bis 2030 weltweit ein noch viel ehrgeizigeres Emissionssenkungsziel erforderlich ist, um das im Übereinkommen von Paris festgelegte 1,5 oC-Ziel zu erreichen.

1.4.

Der EWSA ist sich bewusst, dass alle Beteiligten zusätzliche Anstrengungen unternehmen müssen, um das gesetzte Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen. Laut der letzten Eurobarometer-Umfrage (vor der Coronavirus-Krise) unterstützen 92 % der EU-Bevölkerung das Klimaneutralitätsziel der EU. Um diese Akzeptanz aufrechtzuerhalten, muss ein beschleunigtes Klimahandeln Hand in Hand mit dem wirtschaftlichen Wiederaufbau gehen.

1.5.

Der EWSA fordert die EU auf, bei dem vertagten, ursprünglich im November 2020 in Glasgow geplanten Klimagipfel und den folgenden Klimagipfeln eine Rolle als Initiator und Motivator zu übernehmen, um zumindest alle großen Akteure weltweit dazu zu bewegen, dass sie sich engagiert für Klimaneutralität einsetzen.

1.6.

Das Erreichen des Klimaneutralitätsziels in der Union bis 2050 auf europäischer Ebene ist nur möglich, wenn jedes Land seine Beiträge zu Eindämmung und Anpassung vollständig und rechtzeitig umsetzt. Der EWSA unterstützt es daher, dass die Kommission anhand deutlicher und transparenter Bewertungskriterien Empfehlungen an einen Mitgliedsstaat aussprechen kann, wenn dessen Maßnahmen im Rahmen der nationalen Pläne nicht dem Klimaschutzziel genügen oder ungeeignet sind, um Fortschritte bei der Anpassung zu gewährleisten.

1.7.

Der EWSA schlägt vor, das vollständige Bewertungsdokument zu jedem Entwurf einer Maßnahme oder Legislativvorschlag in Zusammenhang mit dem Klimaneutralitätsziel öffentlich zugänglich zu machen, sobald die Bewertung abgeschlossen ist.

1.8.

Der Kommissionsvorschlag erstreckt sich richtigerweise sowohl auf den Klimaschutz als auch auf die Anpassung „im Einklang mit Artikel 7 des Übereinkommens von Paris“.

1.9.

Gemäß den Vorschlägen in seiner Stellungnahme zum Klimapakt schlägt der EWSA die Einrichtung einer Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt vor, um die aktive Beteiligung „aller Teile der Gesellschaft“ zu organisieren und zu erleichtern.

2.   Einleitung

2.1.

Die derzeitige weltweite Coronavirus (COVID-19)-Krise macht erneut deutlich, wie gefährdet das Leben auf unserer Erde ist. Neben der uneingeschränkten Bekämpfung der Coronavirus-Krise und der daraus entstehenden wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Folgen ist es auch notwendig, andere Entwicklungen, die die Lebensqualität bedrohen, wie Klimawandel und Verlust von Biodiversität, weiterhin zu verhindern zu trachten (1). So warnte bereits die Exekutivsekretärin des Sekretariates des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (Klimarahmenkonvention, UNFCCC), Patricia Espinosa, anlässlich der Ankündigung der Verschiebung des Klimagipfels (COP 26), der im November 2020 in Glasgow stattfinden sollte: „COVID-19 ist heute die unmittelbarste Bedrohung für die Menschheit, wir dürfen aber nicht vergessen, dass der Klimawandel langfristig die größte Bedrohung darstellt.“

2.2.

Für den EWSA heißt das, dass Klimaschutz und wirtschaftlicher Wiederaufbau nach der Coronavirus-Krise Hand in Hand gehen können und müssen. Die Maßnahmen für Erholung und Aufbau müssen dem Klimaziel entsprechen und der Klimaschutz ist so zu gestalten, dass die Kosten minimiert und wirtschaftliche Vorteile generiert werden.

2.3.

Vor diesem Hintergrund weist der EWSA auch auf die folgenden Erklärungen namhafter EU-Institutionen und Persönlichkeiten hin:

Mit überwältigender Mehrheit stimmte das Europäische Parlament am 16. April dafür, den europäischen Grünen Deal in den Mittelpunkt des Konjunktur- und Aufbaupakets zu stellen, „damit die Wirtschaft angekurbelt wird, ihre Widerstandsfähigkeit erhöht wird und Arbeitsplätze geschaffen werden und gleichzeitig zum ökologischen Wandel beigetragen wird, eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung […] gefördert wird“.

Am selben Tag forderte die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, ihrerseits Europa auf, verstärkt in den Europäischen Grünen Deal zu investieren. Der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Frans Timmermanns, schloss sich diesem Standpunkt in einem offenen Brief in sieben europäischen Newslettern an. Auch der Präsident des Europäischen Rats, Charles Michel, möchte diese Gelegenheit nutzen, die EU grüner zu machen: Die Europäische Union müsse besser werden als zuvor und wir müssten diese Krise nutzen.

2.4.

Dazu muss die europäische Wirtschaft über ein Paket effektiver und nachhaltiger öffentlicher und privater Investitionen wiederangekurbelt werden, beispielsweise in die Senkung des Energieverbrauchs, nachhaltige Energie, Netzausbau, saubere Produktionsprozesse oder Recycling — in Verbindung mit der Förderung des nachhaltigen Konsums. Um Klimaneutralität zu erreichen, müssen ferner Kohlenstoffsenken und die Speicherung von Kohlenstoff gefördert werden, bspw. durch eine nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder und Böden. Ein Europäisches Klimagesetz ist eines der Instrumente, die zu diesem erwünschten und notwendigen Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft beitragen können.

2.5.

Der EWSA begrüßt daher den von der Europäischen Kommission am 4. März 2020 vorgelegten Vorschlag für ein Europäisches Klimagesetz (2), der einen rechtlichen Rahmen für das Erreichen des Klimaneutralitätsziels in der Union bis 2050 vorgibt. Der EWSA befürwortet das Ziel der Klimaneutralität bis spätestens 2050 als wünschenswerten und notwendigen Beitrag zur Verwirklichung des Ziels des Übereinkommens von Paris, wonach die globale Erwärmung deutlich unter 2 oC bleiben muss und möglichst unter 1,5 oC gehalten werden sollte.

2.6.

Selbstredend müssen sich zumindest auch alle anderen großen Akteure weltweit engagiert für Klimaneutralität einsetzen, damit die Ziele des Übereinkommens von Paris erreicht werden können. Einerseits muss die EU dazu eine aktive Klimadiplomatie betreiben, andererseits müssen über Maßnahmen wie die Bepreisung von CO2-Emissionen gleiche Wettbewerbsbedingungen für Erzeugnisse und Dienstleistungen aus der EU und aus Drittländern hinsichtlich ihres Treibhausgas-Fußabdrucks hergestellt werden.

2.7.

Der Vorschlag für das Europäische Klimagesetz ist ein Eckpfeiler des europäischen Grünen Deals (3), der von der Kommission am 11. Dezember 2019 veröffentlicht wurde. Der europäische Grüne Deal legt dar, wie Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent gemacht werden kann, indem die Wirtschaft angekurbelt, Gesundheit und Lebensqualität der Menschen verbessert und die Natur geschützt werden und niemand zurückgelassen wird.

2.8.

Der EWSA nimmt zufrieden zur Kenntnis, dass das Netto-Klimaneutralitätsziel bis 2050 auf der politischen Ebene vom Europäischen Parlament in seiner Entschließung vom 14. März 2019 und vom Europäischen Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 12. Dezember 2019 bereits gebilligt wurde. Am 5. März 2020 legte sodann der Umweltrat der EU im Namen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) die langfristige Strategie der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten für eine hinsichtlich der Treibhausgase emissionsarme Entwicklung (mit dem Ziel des Erreichens einer klimaneutralen EU bis 2050) vor (4).

2.9.

Der EWSA erkennt an, dass das Erreichen des Klimaneutralitätsziels 2050 die Regierungen, Kommunen, Unternehmen, Gewerkschaften, Organisationen der Zivilgesellschaft und die Bevölkerung vor große Herausforderungen stellen wird. Das bedeutet, das von allen Seiten weitere Maßnahmen ergriffen werden müssen, um das für 2050 festgelegte Ziel zu erreichen oder, in den Worten der Kommission: „Es müssen zusätzliche Anstrengungen unternommen werden, und jeder Sektor muss einen Beitrag leisten, da die Treibhausgasemissionen bei der derzeitigen Politik bis 2050 voraussichtlich nur um 60 % zurückgehen werden und deshalb noch viel mehr getan werden muss, bis Klimaneutralität erreicht ist“ (5).

2.10.

Der EWSA misst den in Artikel 3 Absatz 3 des Vorschlags genannten Punkten „internationale Entwicklungen und […] Anstrengungen“ und „Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Union“ besondere Bedeutung bei. Besondere Aufmerksamkeit sollte seines Erachtens zudem der „Notwendigkeit einer fairen und sozial gerechten Gestaltung des Übergangs“ (Artikel 3 Absatz 3 Buchstabe h) gelten. Er hebt hervor, dass insbesondere Energiearmut verhindert werden muss, und empfiehlt, diesen Aspekt im Rahmen der Bewertung der nationalen Maßnahmen (Artikel 6) zu berücksichtigen.

2.11.

Die Kommission plant, bis September 2020 das EU-Klimaziel für 2030 unter dem Gesichtspunkt der Klimaneutralität begutachten sowie Möglichkeiten für eine Anhebung der Emissionssenkungen auf 50 — 55 % gegenüber 1990 prüfen, um dann bis Mitte 2021 entsprechende Legislativvorschläge zu unterbreiten. Der EWSA erwartet, dass sich das neue Ziel für 2030 auf eine umfassende Überprüfung und angemessene Folgenabschätzung stützen wird. Außerdem sprechen seiner Meinung nach triftige Gründe für ein Reduktionsziel von mindestens 55 % bis 2030, damit die EU ihren Teil zu den notwendigen massiven weltweiten Emissionssenkungsanstrengungen beiträgt. Bspw. ist laut dem Bericht des UN-Umweltprogramms (UNEP) zu den globalen Emissionen (Emissions Gap Report) 2019 (6) bis 2030 ein noch viel ehrgeizigeres Emissionssenkungsziel erforderlich, um das im Übereinkommen von Paris festgelegte 1,5 oC-Ziel zu erreichen (7).

2.12.

Bei Folgenabschätzungen ist die Erkenntnis entscheidend, dass die Coronavirus-Krise nie da gewesene wirtschaftliche, soziale und ökologische Folgen hat, die wiederum die Wirkung der zu ergreifenden Klimaschutzmaßnahmen beeinflussen.

2.13.

Nach Meinung des EWSA können und dürfen die potenziellen Auswirkungen der Coronavirus-Krise nicht zu einer Schwächung des Emissionssenkungsziels bis 2030 führen.

2.14.

Der EWSA fordert, im Rahmen dieses Prozesses dafür zu sorgen, dass die EU bei dem vertagten, ursprünglich im November 2020 in Glasgow geplanten Klimagipfel und den folgenden Klimagipfeln eine Rolle als Initiator und Motivator übernehmen kann, um zumindest alle großen Akteure weltweit dazu zu bewegen, dass sie sich engagiert für Klimaneutralität einsetzen.

2.15.

Außerdem empfiehlt der EWSA, dass die Kommission mit der Erarbeitung eines Zwischenklimaziels für Emissionsreduzierung bis 2040 und eines entsprechenden Legislativvorschlags für das Europäische Parlament und den Rat beginnt, um die Klimaneutralität bis spätestens 2050 zu erreichen. In diesem Zusammenhang sollte sie auch einen Vorschlag für neue Emissionssenkungsverpflichtungen für den Zeitraum 2031-2040 vorlegen, die bis 2028 festzulegen wären. Die rechtzeitige Festlegung eines Ziels ist erforderlich, um größtmögliche Berechenbarkeit und Transparenz für die Gesellschaft und alle Wirtschaftssektoren zu garantieren.

2.16.

Laut den Ergebnissen der letzten Eurobarometer-Umfrage (vor der Coronavirus-Krise) halten 93 % der EU-Bevölkerung den Klimawandel für ein ernstes Problem und 92 % unterstützen das EU-Ziel der Klimaneutralität (8). Um diese Akzeptanz aufrechtzuerhalten, muss der Klimaschutz Hand in Hand mit Konjunktur- und Aufbaumaßnahmen vorangetrieben werden.

3.   Befugnisübertragung

3.1.

In dem vorgeschlagenen Klimagesetz (Artikel 3) wird der Kommission „die Befugnis übertragen, zur Ergänzung“ des Klimagesetzes „delegierte Rechtsakte […] zu erlassen, in denen sie auf Unionsebene einen Zielpfad festlegt, mit dem das Ziel der Klimaneutralität gemäß Artikel 2 Absatz 1 bis 2050 verwirklicht werden soll“. Ferner überprüft die Kommission den Zielpfad spätestens sechs Monate nach jeder weltweiten Bestandsaufnahme gemäß Artikel 14 des Übereinkommens von Paris.

Nach Ansicht des EWSA ist es erforderlich, dass die Kommission nicht delegierte Rechtsakte erlässt, sondern einen Legislativvorschlag zur Festlegung und Anpassung des Zielpfads vorlegt, wenn sie dies aufgrund der Überprüfung als angemessen erachtet.

3.2.

Unter allen Umständen ist der kontinuierliche Schutz der demokratischen Bestimmungen unseres institutionellen Systems notwendig. Dazu gehört das Recht der Akteure der Zivilgesellschaft und ihrer Organisationen, bspw. des EWSA, zum demokratischen Entscheidungsprozess beizutragen. Diesbezüglich verweisen wir auf die Ansage der Kommission in Artikel 8 des Entwurfs des Klimagesetzes: „Die Kommission wendet sich an alle Teile der Gesellschaft (…)“.

4.   Bewertung der Fortschritte und Maßnahmen

4.1.

Gemäß Artikel 5 bewertet die Kommission die Fortschritte und Maßnahmen der Union. Die Kommission „bewertet jeden Entwurf einer Maßnahme oder eines Legislativvorschlags vor der Annahme im Lichte des (…) Ziels der Klimaneutralität (…); sie nimmt ihre Analyse in die Folgenabschätzungen zu diesen Maßnahmen oder Vorschlägen auf“.

Praktisch heißt das, dass die Kommission die Auswirkungen auf die Klimaneutralität in den Folgenabschätzungen zu ihren Vorschlägen berücksichtigt. Der EWSA rät der Kommission, zu untersuchen, ob dies im bestehenden Rahmen für eine bessere Rechtsetzung ohne Änderungen von Rechtsvorschriften möglich ist.

4.2.

In Artikel 5 ist festgelegt, dass das Ergebnis dieser Bewertung zum Zeitpunkt der Annahme veröffentlicht wird. Der Europäische Gerichtshof (Rechtssache C-57/16 P, ClientEarth/Europäische Kommission vom 4. September 2018) hat jedoch sehr deutlich gemacht, dass auch Entwürfe von Folgenabschätzungsberichten gemäß Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 (9)„direkt zugänglich“ gemacht werden müssen. Der EWSA schlägt daher vor, den Wortlaut dahingehend zu ändern, dass das vollständige Bewertungsdokument öffentlich zugänglich gemacht wird, sobald die Bewertung abgeschlossen ist.

4.3.

Der EWSA ist der Ansicht, dass das Erreichen des Klimaneutralitätsziels in der Union bis 2050 auf europäischer Ebene nur möglich ist, wenn jedes Land seine Beiträge zur Eindämmung und Anpassung vollständig und rechtzeitig umsetzt.

Der EWSA billigt daher die folgende Absicht der Kommission: Die Kommission kann Empfehlungen an einen Mitgliedstaat aussprechen, wenn dessen Maßnahmen im Rahmen der nationalen Pläne nicht dem Klimaschutzziel genügen oder ungeeignet sind, um Fortschritte bei der Anpassung zu gewährleisten. Der EWSA unterstützt die Kommission darin und empfiehlt, dass sie sich bei ihren Empfehlungen auf eine effiziente, für die jeweilige Situation geeignete Auswahl von Maßnahmen stützt. Der EWSA fordert jedoch, die Ziele und Kriterien, anhand derer der Fortschritt in den einzelnen Mitgliedstaaten bewertet wird, klar darzulegen.

4.4.

Ziel des Vorschlags der Kommission ist das Erreichen einer klimaneutralen Europäischen Union bis 2050. Das impliziert, dass nicht jeder einzelne Mitgliedsstaat Klimaneutralität erreichen muss. Der EWSA unterstützt diesen Ansatz, der letztlich den bisherigen Ansatz der EU in der Klimagesetzgebung fortschreibt und den Vorteil bietet, unter Berücksichtigung der einschlägigen Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten eine optimale EU-weite Lastenverteilung erreichen zu können. Allerdings hält der EWSA es für notwendig, alle Mitgliedstaaten dazu zu verpflichten, in ihren bis zum 1. Januar 2029 zu übermittelnden nationalen Energie- und Klimaplänen (gemäß Artikel 3 der Verordnung (EU) 2018/1999 (10) über das Governance-System für die Energieunion und für den Klimaschutz) anzugeben, ob und, wenn ja, bis wann sie klimaneutral werden wollen und welche Maßnahmen sie ergreifen wollen, um das bestmögliche EU-Ergebnis zu erreichen. Dazu gehören auch Maßnahmen, die die Anstrengungen anderer Mitgliedstaaten ergänzen oder in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten durchgeführt werden. So würde sichergestellt, dass die entsprechenden Vorkehrungen rechtzeitig und im Rahmen durchsetzbarer Vereinbarungen getroffen werden.

4.5.

Ebenso ist der EWSA überzeugt davon, dass die größte Akzeptanz für die Klimapolitik dann erreicht werden wird, wenn das übergeordnete Ziel in einer größtmöglichen Emissionssenkung zu niedrigstmöglichen sozioökonomischen Kosten besteht. Gestützt auf einen soliden Regelungsrahmen mit Durchsetzungsmaßnahmen sollte dementsprechend eine gegenseitige Aufrechnung bzw. ein Ausgleich zwischen den Mitgliedsstaaten möglich sein. Ebenfalls wichtig ist die Berücksichtigung der Tatsache, dass im derzeitigen System die am EU-Emissionshandel (ETS) teilnehmenden Sektoren EU-weit reguliert werden, während andere Sektoren der Lastenverteilung im Rahmen von nationalen Emissionsobergrenzen unterliegen. Im Lauf der Zeit werden natürlich immer mehr Sektoren in den Emissionshandel einbezogen werden.

4.6.

Neben dem EU-EHS werden die Emissionen der verschiedenen Sektoren durch zahlreiche Rechtsvorschriften wie technische Anforderungen geregelt, die somit zur Umsetzung des übergeordneten Ziels beitragen. Regulierungsmaßnahmen auf EU-Ebene sind insbesondere in Bereichen wichtig, die für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts von Bedeutung sind.

4.7.

Der EWSA regt ferner an, die möglichen Auswirkungen der EU-Maßnahmen im globalen Kontext angemessen zu überwachen, bspw. die Auswirkungen auf Auslandsinvestitionen und Außenhandel und ihr direkter und indirekter Einfluss auf die Entwicklung der Emissionen.

4.8.

In ihrem Vorschlag schreibt die Kommission: „Maßnahmen auf EU-Ebene sollten vor allem darauf abzielen, langfristige Klimaziele kosteneffizient zu verwirklichen und gleichzeitig Fairness und Umweltintegrität zu gewährleisten.“ Der EWSA gibt zu bedenken, dass dazu noch viele Fragen zu klären sind, sowohl im Hinblick auf die Verfahrensweise (bester Ansatz für die Entscheidungsfindung), als auch hinsichtlich des Inhalts (welche fairen und wirtschaftlich tragfähigen Verteilungskriterien garantieren ein hohes Umweltschutzniveau). Der Verfahrensaspekt (die laufende horizontale Diskussion zwischen den EU-Institutionen, einschließlich dem EWSA und dem Europäischen Ausschuss der Regionen (AdR), und die vertikale Diskussion mit den Mitgliedsstaaten) ist also wichtig. Noch grundlegender ist die Frage, wie vorzugehen ist, wenn Mitgliedsstaaten Klimaneutralität in ihrem eigenen Land vor 2050 erreichen wollen und dies absehbar nicht die kosten- oder klimawirksamste Vorgehensweise auf EU-Ebene ist. Der EWSA fordert die Europäische Kommission und den Rat auf, in dieser Angelegenheit so schnell wie möglich Klarheit zu schaffen und Leitlinien vorzugeben.

5.   Anpassung

5.1.

Der Kommissionsvorschlag erstreckt sich richtigerweise sowohl auf den Klimaschutz als auch auf die Anpassung „im Einklang mit Artikel 7 des Übereinkommens von Paris“. Insbesondere im Hinblick auf die Anpassung schlägt die Kommission vor, die EU-Maßnahmen in Richtung nationaler Anpassungsmaßnahmen zu erweitern.

Allgemein werden Anpassungsmaßnahmen eher mit dem Handeln der lokalen Gebietskörperschaften assoziiert als Eindämmungsmaßnahmen. Der EWSA ist daher der Meinung, dass die Kommission im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip klären sollte, in welchem Umfang Befugnisse auf EU-Ebene übertragen werden und welche Verpflichtungen den Mitgliedstaaten auferlegt werden sollten.

5.2.

Darüber hinaus ist noch zu prüfen, was diese Verpflichtung für die einschlägigen EU-Institutionen bedeutet. Dem Vorschlag zufolge müssen die Mitgliedstaaten nationale Anpassungsstrategien und -pläne verabschieden. Für die EU-Institutionen ist keine spezifische Maßnahme, wie z. B. ein Plan, erforderlich.

5.3.

Die Kommission schlägt vor, die Befugnis zu erhalten, nicht nur die Eindämmungsmaßnahmen, sondern auch die Anpassungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten zu bewerten (Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe b). Sind die Maßnahmen eines Mitgliedstaats nach Ansicht der Kommission „nicht geeignet (…), Fortschritte bei der Anpassung gemäß Artikel 4 sicherzustellen, kann sie diesem Mitgliedstaat Empfehlungen aussprechen“. Diese Bestimmung ist sehr weit gefasst. Der EWSA hält es für wünschenswert, dass die Kommission Kriterien für eine solche Bewertung festlegt.

6.   Öffentlichkeitsbeteiligung

6.1.

Der EWSA begrüßt Artikel 8 (Öffentlichkeitsbeteiligung) des Klimagesetzes als eine Selbstverständlichkeit. Die aktive Beteiligung „aller Teile der Gesellschaft“ ist eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Gestaltung der Klimapolitik in der EU, zumal es die Akteure der Zivilgesellschaft (Unternehmen, Arbeitnehmer, Verbraucher, Bürgerinnen und Bürger und ihre Organisationen) sind, die die Klimaziele in die Praxis umsetzen.

Der EWSA appelliert deshalb an die Kommission und die Mitgliedstaaten, all diese Akteure der Zivilgesellschaft aktiv einzuladen, sich einzubringen und ihre Vorschläge für eine konkrete Klimaschutzpolitik und praktisches Klimahandeln zu unterbreiten.

6.2.

Der EWSA begrüßt es daher, dass die Europäische Kommission kürzlich eine öffentliche Konsultation eingeleitet hat, um Meinungen darüber einzuholen, wie die Öffentlichkeit beim Klimaschutz eingebunden werden kann (11). Daraus wird die Kommission Anregungen für den „Klimapakt“ ableiten, den sie im 3. Quartal 2020 ins Leben rufen wird. Über den europäischen Klimapakt will die Europäische Kommission, die Interessenträger zusammenbringen, u. a. die Regionen, lokalen Behörden und Gemeinschaften, die Zivilgesellschaft, Bildungseinrichtungen, Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger.

6.3.

Angesichts der positiven Erfahrungen mit der von der Europäischen Kommission und dem EWSA eingerichteten Europäischen Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft und gemäß den Vorschlägen in seiner Stellungnahme zum Klimapakt (NAT/785) (12) schlägt der EWSA die Einrichtung einer Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt vor, die auf den Grundsätzen der Inklusivität und Transparenz sowie der echten Partizipation und eigenverantwortlichen Teilhabe der Klimaschutzakteure vor Ort beruht.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Einige Sachverständige vertreten die Ansicht, dass Biodiversität eine natürliche Barriere für die Übertragung von Viren und Krankheiten von Wildtieren auf Menschen (Zoonose) darstellt. Ein Verlust an Biodiversität kann daher zukünftig zu mehr Pandemien führen. Es handelt sich dabei um ein weiteres aktuelles Argument.

(2)  Europäisches Klimagesetz.

(3)  Der europäische Grüne Deal.

(4)  Vorlage beim UNFCCC.

(5)  Europäisches Klimagesetz, vgl. z. B. Seite 2.

(6)  Emissions Gap Report 2019.

(7)  Laut Bericht des UN-Umweltprogramms (UNEP) zu den globalen Emissionen (Emissions Gap Report) 2019 müssen die weltweiten Emissionen ab sofort um 7,6 % jährlich gesenkt werden, um die globale Erwärmung auf 1,5 oC zu begrenzen. Für die EU würde dies ein Emissionsreduktionsziel von mindestens 68 % bis 2030 bedeuten.

(8)  Öffentliche Akzeptanz der Klimapolitik.

(9)  ABl. L 145 vom 31.5.2001, S. 43.

(10)  ABl. L 328 vom 21.12.2018, S. 1.

(11)  Konsultation zum europäischen Klimapakt.

(12)  EWSA-Stellungnahme: Europäischer Klimapakt (siehe Seite 67 dieses Amtsblatts).


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/149


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Europäisches Jahr der Schiene (2021)“

(COM(2020) 78 final)

(2020/C 364/21)

Berichterstatter:

Alberto MAZZOLA

Befassung

Europäisches Parlament, 10/03/2020

Rat, 13.3.2020

Rat der Europäischen Union, 13.3.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 91 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Präsidiums

24.4.2020

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

23.6.2020

Verabschiedung im Plenum

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

209/1/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Kommission und unterstützt dessen Ziele, insbesondere das Ziel, die Bemühungen der Europäischen Union, der Mitgliedstaaten, der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, der Sozialpartner und der Marktteilnehmer um Erhöhung des Anteils der Schiene am Personen- und Güterverkehr zu fördern und zu unterstützen.

1.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass das Europäische Jahr der Schiene die breite Öffentlichkeit, also Bürgerinnen und Bürger, Beschäftigte der Eisenbahnbranche, Sozialpartner, Unternehmen und die Wissenschaft sowie insbesondere die europäische Jugend enger an die öffentliche Debatte der EU-Institutionen über die Nachhaltigkeits- und Mobilitätspolitik der EU sowie die Zukunft der europäischen Mobilität heranführen wird, um die Eisenbahn als nachhaltigen, innovativen und sicheren Verkehrsträger zu fördern.

1.3.

Der EWSA sieht in dem Jahr der Schiene eine Gelegenheit, die Vorteile des Schienenverkehrs in puncto Nachhaltigkeit, auch als geeigneter Ersatz für Kurzstreckenflüge (sofern vorhanden), zu vermitteln und über die Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität und die EU-Maßnahmen für Investitionen in die Schiene zu informieren.

1.4.

Der EWSA empfiehlt, während des Europäischen Jahres der Schiene die Qualität der Eisenbahnverkehrsleistungen zu bewerten und gegebenenfalls die Anpassung an den Nutzerbedarf zu verbessern, damit sie den im Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse im Anhang zum AEUV festgelegten Kriterien entsprechen, Projekte zu entwickeln, die einem ganzheitlichen Ansatz für die Zugänglichkeit folgen, die Verbindung zwischen Digitalisierung und Nachhaltigkeit zu stärken und mit den Investoren in einen Austausch über mögliche Initiativen im Hinblick auf den Aktionsplan für ein nachhaltiges Finanzwesen der Kommission zu treten.

1.5.

Der EWSA fordert Initiativen im Rahmen des Europäischen Jahres der Schiene, die das Vertrauen der Verbraucher in den öffentlichen Verkehr, insbesondere in den Schienenverkehr, wiederherstellen und die Attraktivität einer beruflichen Laufbahn im Bahnverkehr insbesondere jungen Europäern besser vermitteln, indem gemeinsame Initiativen mit Sozialpartnern, Hochschulen, wissenschaftlichen Einrichtungen allgemein und europäischen Jugendorganisationen unterstützt werden.

1.6.

Der EWSA ist fest davon überzeugt, dass das Europäische Jahr der Schiene eine gute Gelegenheit ist, die Öffentlichkeit für nachhaltigen Tourismus zu sensibilisieren und der Initiative DiscoverEU neue Impulse zu verleihen. Der EWSA unterstützt nachdrücklich die Initiative des Europäischen Parlaments, jedem Unionsbürger mit dem Vollenden des 18. Lebensjahrs einen Anspruch auf einen DiscoverEU-Pass als Zeichen seiner europäischen Identität zu geben.

1.7.

Der EWSA weist darauf hin, dass das Europäische Jahr der Schiene genutzt werden sollte, um mehr Informationen über den Zeitplan der Initiativen von Europalia bereitzustellen und der breiten Öffentlichkeit die Inhalte nahezubringen, die im Rahmen bereits bestehender Kulturveranstaltungen existieren, beispielsweise von Filmfestivals (Cannes, Venedig, Berlin) und Kunstausstellungen. So könnten Bahnhöfe und Museen im Laufe des Jahres 2021 Orte für größere Initiativen sein, die die Zukunft und die Vergangenheit der Eisenbahn mit wichtigen Branchen wie Architektur und Bauwesen, Design, Elektromechanik, der Lebensmittelbranche und dem Tourismus verknüpfen. In diesem Zusammenhang könnte der Ausschuss im Rahmen seines Kulturprogramms 2021 eine Ausstellung über den Schienenverkehr organisieren.

1.8.

Das Europäische Jahr der Schiene sollte um die Teilnahme aller Eisenbahnmuseen in Europa werben, Bürgerinnen und Bürger einladen, ihre Sammlungen auch mittels Digitalisierung zu entdecken und den Austausch zwischen den Museen sowie eine Europa-Tour der Eisenbahnmuseen fördern.

1.9.

Der EWSA ist fest überzeugt, dass das Europäische Jahr der Schiene auch eine Gelegenheit sein sollte, sehr ehrgeizige Ziele mit sozioökomischem ebenso wie symbolischem EU-Mehrwert herauszustellen, auch als Reaktion auf die dramatische COVID-19-Krise, etwa die Wiederaufnahme der Anstrengungen zur Schaffung eines europäischen Hochgeschwindigkeitsnetzes für Eisenbahnen, wie im Weißbuch Verkehr (2011) vorgesehen, das alle Hauptstädte sowie alle Städte mit mehr als 500 000 Einwohnern in der EU miteinander verbindet.

1.10.

Der EWSA betont, dass das Europäische Jahr der Schiene auch als einzigartige Gelegenheit genutzt werden sollte, um die hohe Verkehrssicherheit der Eisenbahn herauszustellen, die unter den Landverkehrsträgern damit den Spitzenplatz einnimmt. In diesem Zusammenhang erinnert der EWSA daran, dass der 11. Juni der internationale Tag zur Förderung von sicherheitsbewusstem Verhalten an Bahnübergängen (ILCAD) ist, der 2020 zum zwölften Mal stattfand. Im Rahmen des Europäischen Jahres der Schiene sollte diesem Tag besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden.

2.   Vorschlag der Kommission

2.1.

Mit dem Vorschlag, das Jahr 2021 zum „Europäischen Jahr der Schiene“ auszurufen, wird bezweckt, den Schienenverkehr im Einklang mit den in der Mitteilung der Kommission über den europäischen Grünen Deal festgelegten Zielen, auch im Hinblick auf eine nachhaltige und intelligente Mobilität, zu fördern. Durch Projekte, Debatten, Veranstaltungen, Ausstellungen und Initiativen in ganz Europa wird im Rahmen des Europäischen Jahrs der Schiene bei Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen und Behörden für die Bahn als eine attraktive und nachhaltige Art der Fortbewegung durch Europa geworben, wobei ihre unionsweite und innovative Dimension hervorgehoben wird. Indem über den Eisenbahnsektor hinaus Bürgerinnen und Bürger durch themenbezogene Veranstaltungen und Kommunikationskampagnen angesprochen werden, werden mehr Menschen und Unternehmen davon überzeugt, den Schienenverkehr zu nutzen (1).

2.2.

Ziel des Europäischen Jahres der Schiene ist es, die Bemühungen der Union, der Mitgliedstaaten, der regionalen und lokalen Behörden und anderer Organisationen um Erhöhung des Anteils des Schienenpersonen- und Schienengüterverkehrs zu fördern und zu unterstützen. Insbesondere sollte im Rahmen des Europäischen Jahres für die Schiene als nachhaltigen, innovativen und sicheren Verkehrsträger geworben werden, indem die breite Öffentlichkeit, insbesondere die Jugend, angesprochen wird. Es sollte auch die europäische grenzüberschreitende Dimension des Schienenverkehrs hervorgehoben werden, der die Bürgerinnen und Bürger einander näherbringt und es ihnen ermöglicht, die Union in ihrer ganzen Vielfalt zu erkunden, den Zusammenhalt fördert und zur Integration des Binnenmarkts der Union beiträgt. Auch sollte der Beitrag der Schiene zur Wirtschaft, Industrie und Gesellschaft der Union insgesamt gestärkt und der Schienenverkehr als wichtiger Bestandteil der Beziehungen zwischen der Union und Drittländern gefördert werden (2).

3.   Eisenbahn und COVID-19-Pandemie

3.1.

Die Bahn hat unter den Beschränkungen, die die Mitgliedstaaten zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie ergriffen haben, sowie unter dem erheblichen Rückgang der Mobilität gelitten und leidet nach wie vor.

3.2.

Ersten groben Schätzungen zufolge, die Branchenverbände wie die Gemeinschaft der europäischen Eisenbahnen (CER) angestellt haben, belaufen sich die entgangenen Einnahmen für alle Betreiber von Schienenpersonenverkehrsdiensten infolge der Pandemie seit dem Beginn der Krise auf 900 Millionen Euro wöchentlich. Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie führten in den Monaten März und April 2020 zu einem durchschnittlichen Rückgang der Einnahmen im Schienengüterverkehr von etwa 25 % in der gesamten Europäischen Union (EU-27) und zu Einnahmeverlusten von 78 Millionen Euro wöchentlich. Obwohl sich der Schienengüterverkehr als sehr widerstandsfähig erwiesen hat, hätte er noch besser abschneiden können, wenn das Konzept der „grünen Spur“ auch auf die Schiene voll angewandt worden wäre, wenn die Wegeentgelte auf Null reduziert worden wären und wenn die Schweiz das ab 1. Januar 2020 geltende Verbot aufgehoben hätte. Die Auswirkungen der Pandemie auf die Betreiber der Infrastruktur werden zunehmend spürbar.

3.3.

Trotz des abrupten Rückgangs der Nachfrage erbrachten die Schienenverkehrsbetreiber und die Eisenbahner nach wie vor Dienstleistungen, wo immer dies möglich war, und ermöglichten es medizinischem Personal und systemrelevanten Arbeitnehmern, an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Darüber hinaus haben die Betreiber Spezialzüge zur Verfügung gestellt, mit denen Infizierte aus vom Virus schwer betroffenen Regionen in weniger überlastete Krankenhäuser transportiert wurden.

3.4.

Die Wiederankurbelung in Europa nach COVID-19 wird auch die Chance bieten, den Passagier- und Güterverkehr auf der Schiene wiederaufzunehmen und zu verbessern. Der Aufbauplan der EU, der auf den Grünen Deal und die Digitale Agenda ausgerichtet ist, bietet den Schienenverkehrsdiensten kurzfristige Unterstützung und einen Schwerpunkt in Bezug auf kurz- bis langfristige Finanzierung, wahrscheinlich auch in Form staatlicher Beihilfen, damit die Bahn nach den gewaltigen Einnahmeverlusten durch die Coronavirus-Krise wieder Fahrt aufnehmen kann.

3.5.

Wenn die Eisenbahn nach der COVID-19-Krise bestimmte Flugstrecken ersetzen soll, sollte sie die staatlichen Beihilfen erhalten, die für diese Strecken vorgesehen waren, insbesondere um den Verlust von Arbeitsplätzen zu vermeiden und die Umschulung der betroffenen Personen zu ermöglichen.

3.6.

Die Beschäftigten der Verkehrsbranche standen und stehen in direktem Kontakt zu den Fahrgästen, die systemrelevanten Tätigkeiten nachgehen, und laufen bei der Wahrnehmung ihrer täglichen Pflichten Gefahr, sich mit dem Virus zu infizieren. Auch sind sie es, die unter den katastrophalen wirtschaftlichen Auswirkungen des Virus leiden, sowohl in Bezug auf ihre Arbeit als Beschäftigte im Schienenverkehr als auch als Bürger. Die Eisenbahner und Eisenbahnerinnen halten Europa in schwierigen Zeiten in Bewegung, indem sie dafür sorgen, dass medizinische Ausrüstungen und lebenswichtige Güter dorthin gelangen, wo sie benötigt werden.

3.7.

Die Erneuerung Europas nach der COVID-19-Pandemie wird auch eine Renaissance des Schienenpersonenverkehrs und die Konsolidierung des Schienengüterverkehrs bedeuten. Die Mittel, die über den geänderten MFR 2021–2027 bereitgestellt und sowohl auf europäischer wie auf nationaler Ebene verwaltet werden, müssen auch an die Eisenbahn gehen, wenn die Ziele des europäischen Grünen Deals und der Digitalen Agenda wirklich erreicht werden sollen.

3.8.

Die zusätzlichen Mittel, die über den MFR oder die Initiative Next Generation EU bereitgestellt werden, können in eine breite Palette von Projekten fließen: Projekte für die Schieneninfrastruktur (Passagier- und Güterverkehr, national und grenzübergreifend, konventionelle Strecken und Hochgeschwindigkeitsstrecken), Rollmaterial sowie alle Projekte im Zusammenhang mit der Automatisierung und Digitalisierung der Schienensysteme, etwa digitale automatische Kupplungssysteme, die weitere Elektrifizierung des Netzes in Europa, der Aufbau des Europäischen Eisenbahnverkehrsleitsystems ERTMS, die Aufrüstung von Wagen mit Bremssystemen, die für alle klimatischen Bedingungen geeignet sind, sowie Abwrackprogramme für die Erneuerung des Rollmaterials. Auch für die Modernisierung von Bahnhöfen (insbesondere von Bahnsteigen mit einem Zugang für Personen mit eingeschränkter Mobilität) wären Mittel nötig, und auch hier könnten kurzfristig positive wirtschaftliche Effekte erzielt werden. Die Ankurbelung der Investitionen in die TEN-V sowie die Instandhaltung und Erneuerung der bestehenden Strecken könnte erheblich und rasch zum wirtschaftlichen Wiederaufbau der EU beitragen.

3.9.

Die übergreifenden Ziele, nämlich die Verbesserung der Kapazität und Effizienz des Personen- und Güterverkehrs auf der Schiene als Teil eines intelligenten multimodalen Verkehrssystems, wie in der Mitteilung zum Grünen Deal beschrieben, können im Laufe der Zeit einen erheblichen Beitrag zum wirtschaftlichen Wiederaufbau leisten, indem der Marktanteil des Straßengüterverkehrs und damit der ökologische Fußabdruck des Verkehrs reduziert wird.

3.10.

Bei Initiativen im Rahmen des Europäischen Jahres der Schiene sollte besonderes Augenmerk auf die Wiederherstellung des Vertrauens der Verbraucher in den öffentlichen Verkehr, insbesondere den Schienenverkehr, gelegt werden. Es sollten Initiativen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für zusätzliche Hygienemaßnahmen der Eisenbahnunternehmen, Regelungen für das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen und das Abstandsgebot eingeführt werden. Im Interesse der Fahrgastrechte sollten klare Regelungen für obligatorische Erstattungen und fakultative Gutscheine getroffen werden. Solche Maßnahmen sollten mit einer umfassenden Anwendung der Fahrgastrechte auf alle Eisenbahndienstleistungen einhergehen, die für den gesamten Verlauf der Reise gelten, der Öffentlichkeit gut erklärt werden und über alternative Streitbeilegungsverfahren und nationale Durchsetzungsgremien wirksam durchgesetzt werden.

4.   Allgemeine Bemerkungen

Historischer Hintergrund

4.1.

Im Jahr 2021 werden zahlreiche Jubiläen aus der langen Geschichte der Eisenbahnen und der Eisenbahntechnik begangen. Wie im Katalog des Kunstfestivals Europalia 2021 herausgestellt, werden die belgische und die französische Eisenbahn 2021 den 175. Jahrestag der Eröffnung der Strecke Paris–Brüssel begehen. Damit wurden 1846 zum ersten Mal überhaupt zwei Hauptstädte durch eine Eisenbahnstrecke miteinander verbunden. Im selben Jahr wurden auch Brüssel und London durch die Schiene miteinander verbunden (über die Fährverbindung zwischen Ostende und Dover). 2021 werden auch der 25. Jahrestag des Thalys sowie der 170 Jahrestag der ersten Zugverbindung zwischen Prag und Dresden auf der Strecke der Sächsisch-Böhmischen Staatseisenbahn begangen. Weitere Jubiläen im Jahr 2021 sind der 50. Jahrestag der Gründung des Eisenbahnmuseums im elsässischen Mülhausen sowie der 75. Jahrestag der Gründung der Luxemburger Eisenbahnen. Interessanterweise feiern wir 2021 auch 45 Jahre Pendolino in Italien, 40 Jahre TGV in Frankreich und 30 Jahre ICE in Deutschland. Auch der 20. Jahrestag der Veröffentlichung des ersten Weißbuchs zum Thema Eisenbahn in Europa fällt in dieses Jahr.

4.2.

Das Europäische Jahr der Schiene wird Gelegenheit sein, die Geschichte der Eisenbahn, die Geschichte ihrer technischen Fortschritte sowie die Geschichte eines europäischen Kontinents zu begehen, der dank der Eisenbahn immer enger zusammenrückt. Zugleich bietet es Gelegenheit, die bisherigen Entwicklungen zu bewerten.

Der europäische Grüne Deal

4.3.

2019 legte die Europäische Kommission ihre Mitteilung über den europäischen Grünen Deal vor. Darin wird die EU aufgefordert, ihre Wirtschaft schrittweise zu dekarbonisieren, mit dem Ziel, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen, und es wird eine politische Strategie skizziert, wie dieses Ziel verwirklicht werden kann. Der europäische Grüne Deal ist ein Beitrag zur Strategie der Kommission zur Umsetzung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen und der Ziele für nachhaltige Entwicklung.

4.4.

Im Rahmen des europäischen Grünen Deals wird, wie auch in anderen Initiativen, eine raschere Umstellung auf eine nachhaltige und intelligente Mobilität gefordert, da ein Viertel der Treibhausgasemissionen in der Union auf den Verkehrssektor entfällt und dieser Anteil weiter steigt. Alle Verkehrsträger müssen zu dieser Verringerung beitragen. Neben anderen vorgesehenen Maßnahmen soll gemäß dem europäischen Grünen Deal ein wesentlicher Teil des Anteils von 75 % des Güterbinnenverkehrs, der derzeit auf der Straße abgewickelt wird, auf die Schiene und auf Binnenwasserstraßen verlagert werden. Rasche Maßnahmen sind nötig, um diesen ehrgeizigen Plan in die Tat umzusetzen und den Anteil der Schiene am Verkehrsaufkommen tatsächlich zu erhöhen. Dabei sind stärkere Anreize für die Förderung des Schienengüterverkehrs nötig.

4.5.

Zur Verwirklichung der allgemeinen Ziele des Grünen Deals wird die Kommission im letzten Quartal 2020 eine Strategie für intelligente und nachhaltige Mobilität vorlegen. Geplante Schwerpunkte der Strategie sind unter anderem Initiativen zur Erhöhung der Kapazitäten und zur Verbesserung der Güterumschlagskapazitäten der Schiene sowie der Binnenwasserstraßen sowie zur Schaffung intelligenter, nahtloser und benutzerfreundlicher multimodaler Verkehrssysteme. So soll der Marktanteil des Straßenverkehrs gesenkt und die Attraktivität multimodaler Lösungen, einschließlich der Schiene, erhöht werden. Tatsächlich sind für 2021 bereits Initiativen geplant, die in diese Richtung gehen.

4.6.

Das Europäische Jahr der Schiene wird Gelegenheit sein, die Vorteile des Schienenverkehrs in puncto Nachhaltigkeit herauszustellen und zu vermitteln und über die Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität und die EU-Maßnahmen zur Investitionen in die Schiene zu informieren. Investitionen in die Schieneninfrastruktur können die Wirtschaft ankurbeln, hochwertige Arbeitsplätze schaffen, die sozial und ökologisch nachhaltig sind, und die Eisenbahndienste attraktiver für die Kunden machen. Die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für dieses Thema wird dazu beitragen, das Verhalten der Kunden und die Wahl des Verkehrsträgers in Richtung öffentliche Verkehrsmittel und emissionsarme Mobilität zu beeinflussen.

4.7.

Das Europäische Jahr der Schiene wird auch Gelegenheit sein, die Qualität der Schienenverkehrsleistungen zu bewerten und gegebenenfalls die Anpassung an den Nutzerbedarf zu verbessern, damit sie den in Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse im Anhang zum AEUV festgelegten Kriterien entsprechen.

Die Digitale Agenda für Europa

4.8.

Im Rahmen der Digitalen Agenda der EU sollten große Anstrengungen unternommen werden, um den Eisenbahnsektor in die digitale Revolution und alle zu diesem Zweck konzipierten Unterstützungsmaßnahmen einzubeziehen. Sie sollte dazu beitragen, die Umsetzung des ERTMS, die Entwicklung von Lösungen im Rahmen des Konzepts „Mobilität als Dienstleistung“, neue Fahrscheinsysteme sowie die Einführung der 5G-Technik im TEN-V-Kern- und Gesamtnetz zu fördern. So wird die Schiene in der Lage sein, die Nachfrage ihrer derzeitigen und künftigen Kunden zu befriedigen.

4.9.

Die Beschäftigten müssen angemessene Unterstützung bei der sich vollziehenden Digitalisierung erhalten, und ihre Arbeitsplätze müssen gesichert werden. Im Interesse der Gleichstellung der Geschlechter muss geschlechtsspezifischen Belangen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Sorgen, die die Beschäftigten mit Blick auf diese Veränderungen hegen, müssen angemessen berücksichtigt werden, indem Arbeitnehmervertreter und Gewerkschaften eingebunden werden. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen Zugang zu Aus- und Weiterbildung haben, damit sie sich ihre hochwertigen Arbeitsplätze und die nachhaltige Beschäftigung erhalten können.

4.10.

Da die Mobilfunk- und Internettechnologie mit 5G in den Rang einer Universaltechnologie aufsteigen wird, fordert der EWSA die EU-Organe und die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, den digitalen Binnenmarkt zu vollenden, einschließlich der Entwicklung von Kapazitäten zur Integration und Nutzung von 5G-Diensten zum Schutz und zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie wie des Verkehrs, insbesondere der Schiene. Der EWSA fordert die Kommission auch auf, eine Studie über die biologische Wirkung der 5G-Strahlung und die Gefahr der wechselseitigen Störung durch andere Frequenzbereiche zu veranlassen (3).

4.11.

Demografische, wirtschaftliche und politische Trends werden neue Formen der Mobilität in städtischen und sonstigen Gebieten prägen, und die Bahnunternehmen gehen davon aus, dass es unerlässlich sein wird, die Schiene anzupassen, um sie in eine multimodale, immer stärker digitalisierte Verkehrskette integrieren zu können. Insbesondere immer mehr ältere und junge Menschen könnten dazu veranlasst werden, sowohl in städtischen Gebieten als auch bei längeren Reisen häufiger die Eisenbahn zu nutzen, wenn neue Bedürfnisse in Bezug auf Komfort und Zugänglichkeit von der Eisenbahn noch stärker berücksichtigt werden. Gleichzeitig wird sich eine technologieaffine Generation von Kunden viel weniger auf den privaten Verkehr stützen und statt dessen Lösungen für gemeinsame Mobilitätsdienste und öffentliche Verkehrsmittel bevorzugen, sofern ihnen die Qualität der Leistungen zusagt.

4.12.

Besonders wichtig wird es für die Eisenbahnen sein, ihre Systeme für den Fahrscheinverkauf zu verbessern und den Kauf von Fahrkarten zu erleichtern, indem verschiedene Reisesegmente zu einem einzigen Fahrschein zusammengefasst werden können, und künftig multimodale Ticketsysteme zu ermöglichen. Der EWSA fordert die Europäische Kommission nachdrücklich auf, Initiativen zu unterstützen, mit denen dieses Ziel erreicht werden soll, etwa durch Beratung von Fachleuten, Austausch bewährter Verfahren oder Vergabe von Finanzhilfen.

4.13.

Da Multimodalität insbesondere für den Schienengüterverkehr von großer Bedeutung ist, muss das Europäische Jahr der Schiene genutzt werden, um den Dialog zwischen Güterverkehrskunden, Eisenbahnunternehmen und weiteren Verkehrsbranchen sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene zu fördern, praktische Probleme zu ermitteln, die die Entwicklung des Schienengüterverkehrs behindern, und Lösungen zu finden, wie Schienengüterverkehrsdienste attraktiver für Kunden gemacht werden können. Der EWSA hält es für besonders wichtig, dass alle Verkehrsbranchen in einen solchen Dialog eingebunden werden. Ein wichtiger Bestandteil dieses Dialogs kann die Suche nach Modellen für die Zusammenarbeit sein, die nicht gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen.

4.14.

Die Digitalisierung der Eisenbahn wird es auch möglich machen, dass die Bahnunternehmen ihre Dienstleistungen weiter anpassen, um dem Bedarf der Transporteure immer effizienter zu entsprechen, etwa durch maximale Nutzung der verfügbaren Zugkapazitäten und durch Kombination unterschiedlicher Arten von Güterdiensten. Angesichts des aktuellen Trends, d. h. des rückläufigen Marktanteils des Schienenverkehrs, sollten die Möglichkeiten herausgestellt werden, wie mehr Effizienz und Flexibilität bei den angebotenen Dienstleistungen erreicht werden kann.

4.15.

Die Eisenbahninfrastrukturbetreiber müssen ihre Digitalisierung vorantreiben, um ihre Betriebsleistung durch bessere Pünktlichkeit und erhöhte Kapazität zu verbessern. Einen starken Impuls in diese Richtung wird der Ausbau des Europäischen Eisenbahnverkehrsleitsystems ERTMS geben. Der EWSA ist insbesondere der Auffassung, dass der Ausbau des ERTMS entschieden beschleunigt werden sollte. Die erforderlichen Investitionen (über 100 Milliarden Euro, einschließlich digitaler Stellwerke) sollten in den Aufbauplan eingestellt werden, und der EWSA spricht sich nachdrücklich dafür aus, dass die Eisenbahn gemeinsam mit anderen Verkehrsträgern einen umfassenden und interoperablen Rahmen für das Konzept „Mobilität als Dienstleistung“ entwickelt.

4.16.

Für die Digitalisierung des Schienenverkehrs ist der freie Datenfluss von wesentlicher Bedeutung. Der EWSA fordert daher wirksame Lösungen, durch die die Probleme in Verbindung mit der Zugänglichkeit, Interoperabilität und Übertragung von Daten beseitigt und ausreichender Datenschutz und Schutz der Privatsphäre sowie ein fairer Wettbewerb und eine größere Auswahl für die Verbraucher sowie statische und dynamische Informationen für die Fahrgäste sichergestellt werden. Für öffentliche und private Unternehmen müssen die gleichen Bedingungen hinsichtlich der Gegenseitigkeit des Datenaustauschs und der Kosten für die Bereitstellung von Daten gelten (4).

4.17.

Aus den genannten Gründen sollte das Thema Digitalisierung des Schienenverkehrs einer der Schwerpunkte des Europäischen Jahres der Schiene sein. Insbesondere sollte der Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Nachhaltigkeit durch geeignete Initiativen der Öffentlichkeitsarbeit hervorgehoben werden.

Arbeitnehmer des Eisenbahnsektors

4.18.

Bei den europäischen Eisenbahnen sind etwa 1,3 Millionen Europäer direkt und ca. 1 Million weiterer Menschen indirekt beschäftigt, womit sie zu den größten Arbeitgebern der Europäischen Union gehören. Eisenbahnunternehmen sind ein wesentlicher Faktor für die Ausbildung junger Menschen und damit für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa, vor allem in wirtschaftlich schwierigen Zeiten.

4.19.

Das Europäische Jahr der Schiene ist auch das Jahr des Eisenbahners. Hochwertige Arbeitsplätze für Beschäftigte der Verkehrsbranche und sichere, verlässliche Dienstleistungen für Kunden müssen garantiert sein. Im Geiste des sozialen Europas müssen die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Lohn- und Sozialdumping haben in der Eisenbahnbranche keinen Platz und müssen beseitigt werden.

4.20.

Die Beschäftigten der Bahnbranche verdienen öffentliche Anerkennung. Dazu ist es wichtig, ihre Leistungen bekannt zu machen und zur Kenntnis zu nehmen, mit welchen Problemen sie konfrontiert sind. Europaweite Aktionen sollten dazu beitragen, den Leistungen der Beschäftigten Anerkennung zu zollen und die Forderung nach hochwertigen Arbeitsplätzen zu betonen. Alle Beschäftigten der Bahnbranche müssen vor Lohn- und Sozialdumping geschützt werden, damit der Schienenverkehr in Europa auch künftig sicher ist. Dies kann nur durch eine aktive Sozialpartnerschaft in der Branche erreicht werden.

4.21.

Die Digitalisierung ist für die Eisenbahn natürlich eine Chance, aber zugleich auch eine Notwendigkeit. Nur durch die Digitalisierung ihrer internen Abläufe und der Art und Weise, wie sie ihre Dienstleistung erbringt, wird die Eisenbahn in der Lage sein, auf die Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren. Zugleich ist bei der Einführung der Digitalisierung höchste Umsicht geboten, um disruptive Übergänge und sozialen Unfrieden zu vermeiden. Es ist entscheidend, dass die europäischen Sozialpartner im brancheninternen sozialen Dialog der EU über den Schienenverkehr zusammenkommen und über gemeinsame Projekte entscheiden, um die Auswirkungen der Automatisierung und Digitalisierung besser zu erfassen und zu antizipieren und ein hohes Maß an Beschäftigung und sozialen Garantien im Rahmen eines sozial gerechten Übergangs beizubehalten (5).

4.22.

Der Lösungsansatz besteht darin, auf berufliche Übergänge, lebenslanges Lernen und Investitionen in die Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter zu setzen, damit es nicht zu Entlassungen kommen muss. Zwei große Herausforderungen für die Bahnverkehrsunternehmen sind die unausgewogene Altersstruktur ihrer Arbeitskräfte und die Schwierigkeiten bei der Anwerbung, gerade auch von jungen Menschen und von Frauen (6).

4.23.

Das Europäische Jahr der Schiene sollte eine Gelegenheit sein, die Attraktivität einer beruflichen Laufbahn im Schienenverkehr insbesondere jungen Europäern besser zu vermitteln, indem gemeinsame Initiativen mit Sozialpartnern, Hochschulen, wissenschaftlichen Einrichtungen allgemein und europäischen Jugendorganisationen unterstützt werden.

Infrastruktur

4.24.

Über den TEN-V-Rahmen wurde ein wichtiger Beitrag geleistet, um den erforderlichen erheblichen Finanzbedarf für die neue Schieneninfrastruktur zu ermitteln (ca. 500 Milliarden Euro allein für das Kernnetz bis 2030), wobei immer noch nicht genügend Mittel zur Verfügung stehen, um den gesamten Bedarf zu decken. Die Vollendung des Kernnetzes sollte zur Schaffung eines europäischen Hochgeschwindigkeitsnetzes führen, das fast alle Hauptstädte und Großstädte Europas (mit mehr als 500 000 Einwohnern) bedient. Zudem ist die Instandhaltung der TEN-V-Infrastruktur in einigen Ländern massiv unterschätzt worden und entwickelt sich mittlerweile zu einem ernsten Problem, in anderen hingegen wurde die Infrastruktur gut instandgehalten.

4.25.

Zwar begrüßt der EWSA den Ausbau der Schienenverbindungen zwischen großen Städten durch Hochgeschwindigkeitszüge und das TEN-V-Netz, doch verweist er zugleich darauf, dass auch nationale und regionale Strecken angemessen finanziert werden müssen.

4.26.

Der EWSA fordert, die Investitionen zur Vollendung des Netzes, einschließlich ländlicher und regionaler Gebiete, anzukurbeln und die Ausgaben für die normale und außerordentliche Instandhaltung des gesamten TEN-V-Netzes im Rahmen des EU-Aufbauplans zu finanzieren. Weitere zusätzliche Mittel sind für den Ausbau der Eisenbahnen, Investitionen in die Infrastruktur und ein dichteres Netz für den Passagier- und Güterverkehr nötig. Jeder Euro, der in die Schiene investiert wird, schafft und erhält Arbeitsplätze, auch in der Zulieferindustrie und in den Regionen.

Nachhaltiges Finanzwesen

4.27.

Der Aktionsplan der Europäischen Kommission zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums (COM(2018) 97 final) zielt darauf ab, die Kapitalströme auf nachhaltige Investitionen auszurichten, um nachhaltiges und integratives Wachstum zu erreichen, finanzielle Risiken, die sich aus dem Klimawandel, der Ressourcenknappheit, der Umweltzerstörung und sozialen Problemen ergeben, zu bewältigen und Transparenz und Langfristigkeit in der Finanz- und Wirtschaftstätigkeit zu fördern.

4.28.

Besonders wichtig ist ein einheitliches EU-Klassifikationssystem (Taxonomie), das Klarheit darüber bietet, welche Tätigkeiten als nachhaltig angesehen werden können.

4.29.

Aufbauend auf der Entwicklung der EU-Nachhaltigkeitstaxonomie und den bisherigen Ergebnissen des Aktionsplans hat die Kommission eine Überarbeitung des Aktionsplans im Rahmen des europäischen Grünen Deals angekündigt.

4.30.

Der EWSA begrüßt die Vorschläge zur Taxonomie, die einen ersten Schritt zur Umsetzung des Aktionsplans zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums darstellen (7). Der EWSA begrüßt auch den Vorschlag bezüglich der Entwicklung neuer Referenzwerte für CO2-arme Investitionen und für Investitionen mit günstiger CO2-Bilanz. Dieses Fundament muss zudem auch im Einklang mit den ehrgeizigen Zielen des Aktionsplans stehen, demzufolge „Europa […] durchaus in der Lage [ist], diese Führungsposition auf globaler Ebene einzunehmen“. Nun geht es darum, diesem Anspruch gerecht zu werden und die Taxonomie entsprechend umzusetzen.

4.31.

Angesichts der Vorteile des Schienenverkehrs in Sachen Nachhaltigkeit sollten Bahnunternehmen in allen Initiativen für ein nachhaltiges Finanzwesen Chancen für sich finden können. Zwar ist unbestritten, dass die Finanzierung der Instandhaltung und des weiteren Ausbaus der Eisenbahninfrastruktur an sich eine öffentliche Aufgabe ist und aus dem öffentlichen Haushalt zu finanzieren ist, doch sollte dem Finanzierungsbedarf des Eisenbahnsystems von morgen Rechnung getragen werden, insbesondere des Rollmaterials und der Bahnhöfe, sowie der Prüfung der Möglichkeit für private Investoren, sich an Eisenbahnprojekten zu beteiligen.

4.32.

Zur Gewährleistung der Nachhaltigkeit des Rahmens, den die Initiativen für nachhaltiges Finanzwesen der Kommission abstecken, müssen die Mitgliedstaaten so schnell wie möglich das Verfahren der Ratifizierung des Protokolls von Luxemburg von 2007 zu dem Übereinkommen von Kapstadt über internationale Sicherungsrechte an beweglicher Ausrüstung betreffend Besonderheiten des rollenden Eisenbahnmaterials von 2001 (Luxemburger Eisenbahnprotokoll) abschließen.

4.33.

Bahnunternehmen und private Investoren müssen sich zusammensetzen und mögliche Synergien prüfen, auch vor dem Hintergrund der Kommissionsinitiative zum nachhaltigen Finanzwesen. Im Rahmen des Europäischen Jahres der Schiene sollten Aktivitäten geplant werden, die einen solchen Austausch ermöglichen und an denen sowohl die Eisenbahnen als auch private Investoren teilnehmen, insbesondere langfristige Investoren wie Versicherungen sowie Investment- und Pensionsfonds.

Barrierefreiheit

4.34.

Die Förderung des universellen Zugangs gemäß Protokoll (Nr. 26) über Dienste von allgemeinem Interesse und dessen Bezugnahme auf Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse bedeutet einen angemessenen Zugang für alle Nutzer im gesamten Gebiet (territoriale Zugänglichkeit), wobei davon ausgegangen wird, dass die Zugangsbedingungen (Wartezeiten, Dichte der Dienstzugangspunkte, Infrastruktur usw.) je nach den Bedürfnissen der Nutzer variieren kann. Gleichbehandlung und die Förderung des universellen Zugangs bedeuten auch, dass jede Form der Diskriminierung zu bekämpfen ist.

4.35.

Um das Bahnreisen auch für kürzere, täglich zurückgelegte Strecken wie auch für längere und grenzübergreifende Reisen attraktiver zu machen, wird es wichtig sein, die Fahrgastrechte zu stärken, die Fahrgäste über die Schutzbestimmungen zu unterrichten und die Erschwinglichkeit und die Qualität der Schienenverkehrsdienste auf dem aktuellen Stand zu erhalten und möglicherweise noch zu verbessern.

4.36.

Die europäischen Eisenbahnunternehmen, Bahnhofsbetreiber und Infrastrukturbetreiber verbessern kontinuierlich die Bedingungen für Reisen von Menschen mit eingeschränkter Mobilität oder Behinderungen. Heute sind Schienenverkehrsdienste weitaus leichter zugänglich als in der Vergangenheit, und viele Fahrgäste mit Behinderungen können ohne fremde Hilfe mit dem Zug fahren. Eisenbahnunternehmen tragen erheblich zur Verbesserung der sozialen Inklusion von Menschen mit Behinderungen bei und sind bestrebt, gemeinsam mit zuständigen staatlichen Stellen und den Fahrgastverbänden ihren Verpflichtungen in diesem Bereich nachzukommen.

4.37.

Es werden Investitionen getätigt, um in den kommenden zehn Jahren weiter Hindernisse in Bahnhöfen und Zügen zu beseitigen und so Fahrgästen mit eingeschränkter Mobilität oder Behinderungen das Reisen zu erleichtern.

4.38.

Deshalb ist eine kontinuierliche Finanzierung durch Dritte, entweder durch nationale Regierungen oder direkt von der EU, erforderlich, wenn die Barrierefreiheit des Schienennetzes weiter verbessert werden soll, wie es in den bestehenden EU-Rechtsvorschriften über die Barrierefreiheit im Schienenverkehr vorgesehen ist.

4.39.

Das Europäische Jahr der Schiene sollte auch Gelegenheit sein, Projekte voranzutreiben, die ein ganzheitliches Konzept der Barrierefreiheit beinhalten, bei dem es nicht nur um die Initiativen zur Verbesserung von Unterstützung und Barrierefreiheit geht, die von der Branche sowohl in den Bahnhöfen als auch in den Zügen ergriffen werden, sondern auch um sämtliche sonstigen Aspekte, die gegeben sein müssen, damit alle Fahrgäste überhaupt in der Lage sind, an die Verkehrsknotenpunkte zu gelangen.

Nachhaltiger Tourismus

4.40.

Die Europäische Union ist eine der am weitesten entwickelten und meistbesuchten Fremdenverkehrsregionen der Welt. Auf die EU entfallen 40 % der Ankünfte internationaler Touristen weltweit und 31 % der Einnahmen aus dem internationalen Tourismus. Die EU ist sowohl eine der wichtigsten Herkunftsregionen von Touristen als auch eine der wichtigsten Zielregionen des Fremdenverkehrs. Im Jahr 2016 unternahmen fast 270 Millionen in der EU ansässige Personen (zwei Drittel der zu diesem Zeitpunkt ansässigen Bevölkerung) mindestens eine Reise zu Freizeitzwecken, mehr als die Hälfte der Reisen gingen ins Ausland. 27 % der Ausgaben für eine Reise zu Freizeitzwecken entfällt in der Regel auf die Beförderung.

4.41.

Eine der wichtigsten Herausforderungen, die die Kommission in ihrer Agenda für einen nachhaltigen und wettbewerbsfähigen europäischen Tourismus (COM(2007) 621) nennt, sind die tourismusbedingten Auswirkungen des Verkehrs auf die Umwelt,

4.42.

Die Bewegung „Fridays for Future“ sowie die zunehmend extremen Wetter- und Klimaereignisse führen dazu, dass die Bürger ihr Reiseverhalten überdenken und die Eisenbahn als Verkehrsmittel für ihr Reiseziel in Betracht ziehen. Menschen, die zu Freizeit- und Urlaubszwecken reisen, bilden die größte Gruppe von Einzelreisenden im Eisenbahnverkehr.

4.43.

Heute befindet sich der europäische Tourismus in einer Übergangsphase, in der etablierte Reiseziele neue Visionen für die Entwicklung des Tourismus konzipieren und dabei den Grundsätzen der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit mehr Beachtung schenken. Neue Muster der Entwicklung des Tourismus sind erforderlich, um den Umweltauswirkungen des Tourismus und dem Übertourismus Rechnung zu tragen.

4.44.

Für viele Mitgliedstaaten und europäische Regionen und Städte leistet der Fremdenverkehr einen wichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen und sozialen Gefüge, schafft Arbeitsplätze und generiert Einnahmen. Die COVID-19-Pandemie hatte allerdings verheerende Auswirkungen auf dieses Ökosystem.

4.45.

In diesem Zusammenhang müssen Maßnahmen ergriffen werden, um im Interesse zahlreicher Branchen der EU-Wirtschaft die Wiederbelebung des internationalen, europäischen und nationalen Tourismus zu unterstützen. Die Eisenbahn kann touristischen Zielen helfen, die nicht angemessen per Flugzeug zu erreichen sind, sie kann neue Strecken eröffnen und neue Wertschöpfungsketten fördern. Für die europäischen Eisenbahnen bietet sich die Möglichkeit, die wachsende Nachfrage der klimabewussten Touristen auf dem Markt zu befriedigen.

4.46.

Das Europäische Jahr der Schiene sollte Gelegenheit sein, die Öffentlichkeit für den nachhaltigen Fremdenverkehr und neue touristische Routen zu sensibilisieren, die die Unionsbürger dank der Eisenbahnverbindungen entdecken können. Das Konzept der Verlagerung auf alternative Verkehrsträger im Tourismus sollte mit geeigneten Initiativen der Öffentlichkeitsarbeit entwickelt und verbreitet werden, unter gemeinsamer Unterstützung der Eisenbahnen, der europäischen Kulturbranche und der nationalen und europäischen Vertreter der Fremdenverkehrsbranche.

4.47.

In diesem Zusammenhang sollte das Europäische Jahr der Schiene auch Gelegenheit bieten, die Öffentlichkeit verstärkt auf historische und besonders schöne Strecken in ganz Europa aufmerksam zu machen, wie z. B. den Orientexpress von Paris nach Venedig, die Bahnstrecke nach Le Creusot durch Ost- und Südfrankreich, die Strecke von München zum Schloss Neuschwanstein in Deutschland, die Strecke durch das Orciatal in Italien, die Strecken von Koleje Małopolskie durch Kleinpolen und viele andere auf dem gesamten Kontinent.

DiscoverEU

4.48.

Eine erhebliche Zahl junger Europäer ist aus den verschiedensten Gründen noch nie oder nur selten innerhalb von Europa gereist. Zwar gibt es Programme für den Bildungsaustausch, doch hat die EU erst vor kurzem ein Instrument geschaffen, das allen Europäern eine Reiseerfahrung ermöglicht, die jungen Menschen die europäische Identität näherbringt, für die wesentlichen Werte der Europäischen Union sensibilisiert und an einen nachhaltigen und sauberen Verkehrsträger heranführt. DiscoverEU ist eine Initiative der Europäischen Union, die Menschen die Chance bietet, Europa durch Lernerlebnisse zu entdecken. Insbesondere per Eisenbahn (Ausnahmeregelungen gibt es für die Teilnahme von Personen, die auf Inseln oder in abgelegenen Gebieten leben) können junge Menschen Europa, seine Städte und Orte kennenlernen.

4.49.

Dass das Reisen einen Beitrag zur Entstehung einer europäischen Identität leistet, ist seit den Vorarbeiten für die Einbeziehung der Branche in den Vertrag von Lissabon anerkannt. Professor Richard Jobs hat kürzlich die konkrete Rolle belegt, die der Interrail-Pass bei der Herausbildung gemeinsamer europäischer Werte spielt (8).

4.50.

Das Europäische Jahr der Schiene sollte Gelegenheit sein, der Initiative DiscoverEU neue Impulse zu verleihen, ihre Ziele zu unterstützen und an junge Europäer heranzutreten, die bisher noch nicht an dem Projekt teilgenommen haben. Der EWSA unterstützt die Initiative des Europäischen Parlaments, jedem Unionsbürger mit dem Vollenden des 18. Lebensjahrs einen Anspruch auf einen DiscoverEU-Pass als Zeichen seiner europäischen Identität zu geben.

Europalia und europäische Eisenbahnmuseen

4.51.

Alle zwei Jahre präsentiert Europalia dem Publikum in Belgien und in den Nachbarstaaten ein Programm mit Veranstaltungen und Ausstellungen zu Themen, die eine starke europäische Dimension und Perspektive aufweisen. Das Festival zieht traditionell zahlreiche Besucher an, viele von ihnen aus dem Ausland.

4.52.

Thema der nächsten Ausgabe (ab Oktober 2021) werden die Eisenbahn sowie ihr Einfluss auf die Art und Weise, wie wir in Europa reisen, arbeiten, kommunizieren und leben, sein. Schwerpunkte werden sein: die Eisenbahn als Vorläufer der Bemühungen der EU, Nationen und Bürger zusammenzubringen, sowie Züge als Impulsgeber für grüne Mobilität. Grundlage werden die Ideen des europäischen Grünen Deals sowie der Einfluss der Eisenbahn auf die Kunst und die Herausstellung ihrer Rolle als machtvoller Treiber sozialer, wirtschaftlicher und gewerblicher Veränderungen sein.

4.53.

In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll, das Europäische Jahr der Schiene zu nutzen, um mehr Informationen zum Zeitplan der Initiativen von Europalia vorzulegen und der breiten Öffentlichkeit die Inhalte nahezubringen, die im Rahmen bereits bestehender Kulturveranstaltungen existieren, beispielsweise von Filmfestivals (Cannes, Venedig, Berlin) und Kunstausstellungen. So könnten Bahnhöfe und Museen im Jahr 2021 Orte für größere Initiativen sein, die die Zukunft und die Vergangenheit der Eisenbahn mit wichtigen Branchen wie Architektur und Bauwesen, Design, Tourismus, Elektromechanik und Kulinariktourismus verknüpfen.

4.54.

Das Europäische Jahr der Schiene sollte auch um die Teilnahme aller Eisenbahnmuseen in Europa werben, Bürgerinnen und Bürger einladen, ihre Sammlungen auch mittels Digitalisierung zu entdecken und den Austausch zwischen den Museen sowie eine Europa-Tour der Eisenbahnmuseen fördern.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  COM(2020) 78 final.

(2)  COM(2020) 78 final.

(3)  ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 79.

(4)  ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 79.

(5)  ABl. C 47 vom 11.2.2020, S. 23.

(6)  ABl. C 47 vom 11.2.2020, S. 23.

(7)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 103.

(8)  Siehe Jobs, R.I. (2017). Backpack Ambassador — How Youth Travel Integrated Europe, University of Chicago Press, S. 249.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/158


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Maßnahmen für einen nachhaltigen Eisenbahnmarkt in Anbetracht der COVID-19-Pandemie“

(COM(2020) 260 final — 2020/0127 (COD))

(2020/C 364/22)

Hauptberichterstatter:

Alberto MAZZOLA

Befassung

Europäisches Parlament, 8.7.2020

Rat, 30.6.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 91 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Genehmigung durch den Präsidenten

25.6.2020 (Dringlichkeitsverfahren, Artikel 62 der Geschäftsordnung)

Verabschiedung im Plenum

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

211/2/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission, mit dem sie seinen Bemerkungen zur Widerstandsfähigkeit des Eisenbahnsektors selbst auf der Höhe der COVID-19-Pandemie recht gibt, die er in seiner Stellungnahme „Europäisches Jahr der Schiene (2021)“ (1) (TEN/710, Ziffer 3.2) vorgetragen hat: „Obwohl sich der Schienengüterverkehr als sehr widerstandsfähig erwiesen hat, hätte er noch besser abschneiden können, wenn […] die Wegeentgelte auf Null reduziert worden wären […].“

1.2.

Der EWSA erachtet es als wichtig, dass die Mitgliedstaaten und die Infrastrukturbetreiber die in dem Vorschlag der Europäischen Kommission vorgesehenen Ausnahmeregelungen so bald wie möglich und für den gesamten im Vorschlag genannten Zeitraum anwenden. Er erachtet die vorgeschlagenen Maßnahmen kurzfristig und während ihrer gesamten Anwendungsdauer als nützlich.

1.3.

Der EWSA regt jedoch an, dass die Europäische Kommission und die gesetzgebenden Organe vor Ablauf der Geltungsdauer der vorgeschlagenen Ausnahmeregelungen prüfen sollten, ob eine Verlängerung angebracht ist, vor allem, wenn die wirtschaftliche Erholung des Sektors langsamer vonstattengeht als erhofft.

1.4.

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der Bestimmungen, denen zufolge die Mitgliedstaaten den Infrastrukturbetreibern einen Ausgleich für alle wirtschaftlichen Einbußen leisten, die ihnen durch die Anwendung der von der Kommission vorgeschlagenen Ausnahmeregelungen zur Richtlinie 2012/34/EU (2) entstehen.

2.   Der Kommissionsvorschlag

2.1.

Wie andere Vorschläge aus jüngster Zeit hat auch dieser Vorschlag der Kommission zum Ziel, wirtschaftliche Entlastungsmaßnahmen für den europäischen Eisenbahnsektor zu ermöglichen. Er erstreckt sich insbesondere auf den Erlass, die Ermäßigung oder die Stundung von Entgelten für die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur sowie den Erlass von Entgelten für vorgehaltene Fahrwegkapazität. Für den Bezugszeitraum der Maßnahmen vom 1. März 2020 bis zum 31. Dezember 2020 können die Entgelte abweichend von Artikel 27 der Richtlinie 2012/34/EU geändert werden. Die Schienennetz-Nutzungsbedingungen, in denen die anwendbaren Tarife dargelegt sind, sind diesem Artikel zufolge mindestens vier Monate vor Ablauf der Frist für die Beantragung von Fahrwegkapazität zu veröffentlichen.

2.2.

Insbesondere wird vorgeschlagen, von dem in Artikel 31 Absatz 3 der Richtlinie 2012/34/EU festgelegten Grundsatz abzuweichen, dass die Entgelte für das Mindestzugangspaket in Höhe der Kosten festgelegt werden, die unmittelbar aufgrund des Zugbetriebs anfallen. Abweichend von bestimmten Regelungen der Richtlinie 2012/34/EU können die Mitgliedstaaten während der aktuellen Netzfahrplanperiode bei der Erhebung von Aufschlägen Anpassungen nach unten zulassen. Abweichend von Artikel 36 der Richtlinie 2012/36/EU bleibt die Entscheidung den Infrastrukturbetreibern überlassen, ob sie auf Entgelte für vorgehaltene Fahrwegkapazität verzichten, die infolge der pandemiebedingten Störungen storniert worden sind.

2.3.

Die Kommission schlägt ferner vor, dass die Mitgliedstaaten den Infrastrukturbetreibern einen Ausgleich für die wirtschaftlichen Einbußen leisten können, die ihnen durch die Anwendung der o. g. Ausnahmeregelungen von der Richtlinie 2012/34/EU entstehen (Entgelte für unmittelbare Kosten, Aufschläge, vorgehaltene Fahrwegkapazität). Abweichend von Artikel 8 Absatz 4 der Richtlinie 2012/34/EU können die Infrastrukturbetreiber innerhalb eines kürzeren Zeitraums einen Ausgleich erhalten, d. h. bis zum 31. Dezember des Jahres, das auf das Jahr folgt, in dem der Verlust entstanden ist.

2.4.

In den Schienennetz-Nutzungsbedingungen werden die allgemeinen Regeln, Fristen, Verfahren und Kriterien für die Entgelterhebung und Kapazitätszuweisung einschließlich der Informationen für die Beantragung von Fahrwegkapazität im Einzelnen dargelegt. Es wird vorgeschlagen festzulegen, dass die Schienennetz-Nutzungsbedingungen auf dem neuesten Stand gehalten und unverzüglich geändert werden sollten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der Eisenbahnsektor hat mit erheblichen und unerwarteten, durch den Ausbruch der COVID-19-Pandemie verursachten Störungen und einem enormen Mobilitätsrückgang zu kämpfen. Auf dem Höhepunkt der Krise brachen die Fahrgastzahlen in verschiedenen Ländern um mehr als 90 % ein und haben auch nach Beendigung des Lockdowns noch keine 50 % des Vorkrisenniveaus erreicht.

3.2.

Ersten groben Schätzungen zufolge, die Branchenverbände wie die Gemeinschaft der europäischen Eisenbahnen (CER) angestellt haben, belaufen sich die entgangenen Einnahmen für alle Betreiber von Schienenpersonenverkehrsdiensten infolge der Pandemie seit dem Beginn der Krise auf 900 Millionen Euro wöchentlich. Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie führten in den Monaten März und April 2020 zu einem durchschnittlichen Rückgang der Einnahmen im Schienengüterverkehr von etwa 25 % in der gesamten Europäischen Union (EU-27) und zu Einnahmeverlusten von 78 Millionen Euro wöchentlich. Die Eisenbahninfrastrukturbetreiber bekommen die Folgen des COVID-19-Ausbruch aufgrund des Verkehrsrückgangs und der dadurch ausbleibenden Einnahmen immer stärker zu spüren.

3.3.

Die Festlegung niedrigerer Entgelte für die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur als in der Richtlinie 2012/34/EU vorgesehen und die größere Flexibilität der Infrastrukturbetreiber bei der Zuweisung von Trassen sollten dazu beitragen, die Auswirkungen der Krise auf die Eisenbahnunternehmen einzudämmen.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Siehe Seite 149 dieses Amtsblatts.

(2)  ABl. L 343 vom 14.12.2012, S. 32.


28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/160


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Umsetzung von Freihandelsabkommen 1. Januar 2018-31. Dezember 2018“

(COM(2019) 455 final)

(2020/C 364/23)

Berichterstatterin:

Tanja BUZEK

Mitberichterstatter:

Alberto MAZZOLA

Befassung

Kommission, 19.12.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

16.6.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

203/0/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

COVID-19 hat tiefgreifende und beispiellose Auswirkungen auf unsere globalisierte Welt und ihre Bevölkerung sowie auf Handel und Investitionen. Nach Schätzungen der Welthandelsorganisation (WTO) wird der Welthandel 2020 um 13 % bis 32 % einbrechen (1). Wenn es darum geht, nach der Krise eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung zu fördern und den Unternehmen die Möglichkeit zu geben, ihre gestörten Wertschöpfungsketten wiederaufzubauen und neu zu organisieren, kommt dem Handel als zentrale Kraft für Wachstum, Schaffung von Arbeitsplätzen und nachhaltige Entwicklung eine Schlüsselrolle zu. Europa braucht dringend ein starkes, soziales, nachhaltiges und inklusives EU-Konjunkturprogramm, das Unternehmen und Menschen darin unterstützt, diese Krise zu überwinden und akzeptable Arbeitsplätze zu sichern, auch durch Stimulierung des internationalen Handels. Dieser Plan sollte über Eurobonds oder andere gemeinsame europäische langfristige Anleihen finanziert werden.

1.2.

Die aktuelle Krise macht deutlich, wie wichtig die globale Zusammenarbeit und die Reform der WTO sind, damit ihre Stärke und Handlungsfähigkeit gewährleistet bleiben und sie gegen Protektionismus und Unilateralismus vorgehen kann. Es ist an der Zeit, dass die WTO ihrer Rolle gerecht wird und aktiv für die Kernarbeitsnormen und das Übereinkommen von Paris eintritt (2).

1.3.

Bei der angekündigten baldigen Überprüfung der EU-Handelsstrategie müssen wichtige Lehren aus der aktuellen Krise gezogen werden. Die EU ist kein Selbstversorger und braucht den Zugang zu den internationalen Märkten. Die globalen Lieferketten müssen widerstandsfähiger, diversifizierter und verantwortungsvoller werden. Stärkere Instrumente müssen dazu dienen, eine nachhaltige Handels- und Investitionsagenda in all ihren Facetten zu verwirklichen. Sie muss mit dem Grünen Deal in Einklang stehen und mit Blick auf die wirksame Umsetzung und Durchsetzung der arbeitsrechtlichen Bestimmungen genauso ambitioniert sein. Die Empfehlungen, die der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) in der jüngsten Vergangenheit in einer Reihe aktueller Schlüsselstellungnahmen zum EU-Handel ausgesprochen hat (3), sollten in diese Überprüfung einfließen. Die neue EU-Handelsstrategie sollte alte Handelsmodelle hinter sich lassen und ein neues Modell entwickeln, das wirtschaftlich widerstandsfähig, umweltfreundlicher, sozial nachhaltig und verantwortungsvoll ist.

1.4.

Die Zivilgesellschaft spielt eine wichtige Rolle bei der Sensibilisierung für die Umsetzung der EU-Handelspolitik. Sie kann dabei helfen, ihre Vorteile zu vermitteln, und ist von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, Bedenken anzumelden und Mängel aufzuzeigen. Daher bedauert der EWSA insbesondere, dass im Umsetzungsbericht so gut wie gar nicht auf die Arbeit und die Aussagen der Internen Beratungsgruppen (DAG) eingegangen wird. Die Arbeitsprogramme der Internen Beratungsgruppen und die gemeinsamen Erklärungen mit den Internen Beratungsgruppen in den Partnerländern sollten in künftigen Berichten als Beitrag eine stärkere Berücksichtigung finden.

1.5.

In künftigen Abkommen wird sich die Beobachtung durch die Internen Beratungsgruppen auf das gesamte Abkommen erstrecken, wobei den Auswirkungen auf den Handel und die nachhaltige Entwicklung besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Die Empfehlungen der Internen Beratungsgruppen müssen insbesondere — aber längst nicht nur — bei der Untersuchung von Verstößen gegen Handel und nachhaltige Entwicklung mehr Gewicht bekommen. Die Expertengruppe mit den Mitgliedstaaten zum Thema Handel und nachhaltige Entwicklung, der neue leitende Handelsbeauftragte und die entsprechenden Organe der EU sollten anschließend in einen strukturierten Austausch mit den Internen Beratungsgruppen treten; gemeinsame Sitzungen verschiedener Interner Beratungsgruppen sollten Teil der Verhandlungen über Abkommen sein.

1.6.

Freihandelsabkommen bieten Unternehmen einen Rahmen, langfristige Beziehungen zu neuen Kunden und Lieferanten aufzubauen, Chancen in neuen Ländern zu nutzen und lokale Kapazitäten entsprechend ihrem Bedarf aufzubauen. Die Grundlage dafür sind eine ehrgeizige bi- und multilaterale Handelsagenda, in der die genannten Lehren berücksichtigt werden, sowie die vollständige Umsetzung der bestehenden Freihandelsabkommen der EU.

1.7.

Der jährliche Bericht über die Umsetzung der Freihandelsabkommen gibt einen umfassenden und deutlichen Überblick über das Handelsnetz der EU. Die Fortschritte und Errungenschaften der einzelnen Freihandelsabkommen werden bewertet, und es wird auf Mängel bei der Umsetzung hingewiesen. Das Informationspotenzial muss jedoch ausgebaut und besser mit früheren Berichten und dem gesamten Lebenszyklus der Politik zur Bewertung des Handels verknüpft werden. Nachhaltigkeitsprüfungen sollten insbesondere als Informationsquellen genutzt werden. Künftig sollte die Europäische Kommission bei der Ausarbeitung dieser Berichte vor allem die Zivilgesellschaft konsultieren.

1.8.

Die größte Herausforderung scheint in der Feststellung und Aufschlüsselung von Daten zu bestehen. Die nationalen Daten sollten in künftigen Berichten kohärenter genutzt und die unterschiedlichen Gegebenheiten nach den einzelnen Mitgliedstaaten oder Regionen der EU aufgeschlüsselt werden; gegebenenfalls sollte in eine aktive Datenerhebung investiert werden. Die Festlegung von Kriterien macht Vergleiche leichter nachvollziehbar. Das Bild sollte durch die Nutzung weiterer Quellen wie der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) (zu Verstößen gegen Arbeitnehmerrechte) ergänzt werden.

1.9.

In künftigen Berichten sollte systematischer auf den Handel mit Dienstleistungen und dessen Entwicklung eingegangen werden. Es werden mehr granulare Daten nach Branche und Art der Erbringung der Dienstleistung benötigt, um zu bewerten, inwieweit Unternehmen jeder Größe die Möglichkeiten von Freihandelsabkommen der EU nutzen. Zur Unterstützung von Dienstleistungsexporteuren sollte die überarbeitete Marktzugangsdatenbank Dienstleistungen in kohärenter Weise berücksichtigen und durch einen EU-Leitfaden für europäische Dienstleistungsexporteure und Investoren ergänzt werden.

1.10.

Um allen Interessenträgern einen Mehrwert zu bieten, sollte im jährlichen Bericht bestimmten Bereichen und Gruppen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Den Verbrauchern müssten die konkreten Vorteile, die eine Vergrößerung der Handelsströme bewirken kann, vor Augen geführt werden. Der Zusammenhang zwischen den ehrgeizigen Verhandlungszielen für die Verbraucher und ihrer späteren Umsetzung muss in den Daten deutlicher herausgestellt werden.

1.11.

Die Präferenznutzungsrate ist ein wichtiger Indikator für die Umsetzung von Freihandelsabkommen. Aus dem Bericht geht hervor, dass die Präferenznutzungsrate für Exporte der EU in Partnerländer im Allgemeinen niedriger ist als für Importe in die EU. Die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten müssen sich gemeinsam dafür einsetzen, die Nutzung von Handelspräferenzen zu verbessern und das Bewusstsein für Handelsvorteile, insbesondere bei kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), zu schärfen. In Zusammenarbeit mit der Wirtschaft der EU sollten sie die Freihandelsabkommen in der jeweiligen Landessprache bekanntmachen und nationale Aktionspläne für die Umsetzung jedes Freihandelsabkommens ausarbeiten. Bei der Öffentlichkeitsarbeit müssen auch die Importeure in den Partnerländern berücksichtigt werden.

1.12.

Transparenz ist ein entscheidender Punkt zur Verbesserung des Zugangs europäischer Unternehmen zum Markt für öffentliche Aufträge in den Partnerländern der Freihandelsabkommen. Die Veröffentlichung von Ausschreibungen von Drittländern in einem speziellen Abschnitt der Datenbank „TED — Tenders Electronic Daily“ der EU würde es europäischen Unternehmen aller Größen erheblich erleichtern, Nutzen aus dem Kapitel über die Vergabe öffentlicher Aufträge zu ziehen. Darüber hinaus sollte die EU im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge bewährte Verfahren für die Berücksichtigung ökologischer und sozialer Kriterien fördern.

1.13.

Mit Blick auf EU-Exporte von Agrarerzeugnissen bieten Freihandelsabkommen ein enormes Potenzial; gleichzeitig verbessern geografische Angaben die Wettbewerbsfähigkeit der Agrar- und Lebensmittelerzeuger in der EU sowohl innerhalb als auch außerhalb der Union. Die Umsetzung der Bestimmungen für Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse scheint jedoch hinter den ehrgeizigen Zielen zurückzubleiben. Lebensmittel in guter Qualität sowie eine sichere Versorgung mit diesen Lebensmitteln kann nur gewährleistet werden, wenn die Rückverfolgbarkeit von Produkten und die Durchsetzung des Vorsorgeprinzips sichergestellt sind. Zu einer effizienten Überwachung der Gesundheits- und Pflanzenschutznormen gehören Inspektionen mit angemessenen Ressourcen.

1.14.

Selbst Jahre nach Abschluss von Freihandelsabkommen sind in einigen Partnerländern immer noch keine Fortschritte bei der Einhaltung der Verpflichtungen in Bezug auf Handel und nachhaltige Entwicklung zu beobachten. Der EWSA unterstützt uneingeschränkt die rechtlichen Schritte, die in der Streitfrage über die Arbeitnehmerrechte in Korea endlich von der Europäischen Kommission ergriffen werden, hegt aber Zweifel daran, welche Auswirkungen der Panelbericht tatsächlich haben wird, da es in den Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung derzeit an verbindlichen Durchsetzungsinstrumenten mangelt. In diesem Zusammenhang fordert der EWSA mit Blick auf eine effektive Durchsetzbarkeit von Arbeits- und Umweltbestimmungen klare Fortschritte bei der Überarbeitung des umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens (CETA) (4). In die Überprüfung sollten die Internen Beratungsgruppen beider Seiten eng einbezogen und konsultiert werden.

1.15.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich die jüngsten Initiativen der Europäischen Kommission und der Mitgliedstaaten zur Intensivierung der Anstrengungen in den Bereichen Handel und Nachhaltigkeit. Mit der Gewährleistung dauerhaft gleicher Wettbewerbsbedingungen und der Anwendung des allgemeinen Kapitels über den Zugang zu Rechtsbehelfen hat die EU in den Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich einen neuen Weg eingeschlagen, was dem besonderen Verhältnis zwischen den beiden Seiten gerecht wird. In der Mitteilung zum Grünen Deal wird die Forderung erhoben, dass das Übereinkommen von Paris ein wesentlicher Bestandteil aller künftigen umfassenden Handelsabkommen sein sollte. Dies ist ein positiver Schritt, der auf die von allen EU-Mitgliedstaaten ratifizierten Kernübereinkommen der IAO in ihrer aktualisierten Fassung ausgeweitet werden sollte. Als renommiertes Gremium auf internationaler Ebene sollte die IAO in die Überwachung der Umsetzung der IAO-Übereinkommen in Freihandelsabkommen einbezogen werden. Mit Erwartung sieht der EWSA einer neuen Debatte zwischen den Mitgliedstaaten über die Frage entgegen, wie die Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung gestärkt werden können, damit sie ihre rechtsverbindliche Wirkung in vollem Umfang entfalten können (5). Der gleiche hohe Stellenwert bei der Um- und Durchsetzung kommt im Rahmen dieser Debatte den Umwelt- und Arbeitsnormen zu.

2.   Hintergrund

2.1.

In ihrer Mitteilung „Handel für alle“ aus dem Jahr 2015 hat sich die Europäische Kommission verpflichtet, jedes Jahr einen Bericht über die Umsetzung der wichtigsten Handelsabkommen der EU vorzulegen. Es handelt sich um den dritten Bericht dieser Art, und es ist das erste Mal, dass der EWSA Empfehlungen dazu ausgesprochen hat.

2.2.

Freihandelsabkommen machen einen wachsenden Anteil am Handel der EU aus. 2018 wurden 31 % des Warenhandels der EU mit der übrigen Welt im Rahmen von Präferenzhandelsabkommen abgewickelt. Dieser Anteil dürfte unter Berücksichtigung der seither geschlossenen Handelsabkommen auf über 40 % steigen.

2.3.

Mit 44 Präferenzhandelsabkommen für 76 Länder hat die EU derzeit das größte Handelsnetz der Welt. Der jährliche Durchführungsbericht deckt verschiedene Arten von Handelsabkommen der EU ab:

„Handelsabkommen der ersten Generation“ (ausgehandelt vor 2006) zielen auf den Abbau von Zöllen ab;

„Abkommen der neuen Generation“ betreffen neue Bereiche, u. a. Dienstleistungen, Investitionen, die Vergabe öffentlicher Aufträge, Wettbewerb, Subventionen, rechtliche Fragen und nachhaltige Entwicklung;

„Vertiefte und umfassende Freihandelszonen“ (Deep and Comprehensive Free Trade Areas, DCFTA) intensivieren die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und ihren Nachbarländern;

Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) sind auf den Entwicklungsbedarf von Regionen in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean ausgerichtet.

2.4.

Seit 2015 hat die EU Ex-post-Bewertungen ihrer Handelsabkommen mit Mexiko, Chile und Südkorea abgeschlossen. Derzeit werden Ex-post-Bewertungen der Abkommen mit den CARIFORUM-Staaten und mit sechs Mittelmeerländern sowie der Abkommen zwischen der EU und der Republik Moldau, der EU und Georgien, der EU und Kolumbien, Ecuador und Peru sowie des Abkommens mit Zentralamerika durchgeführt.

2.5.

Der Bericht 2019 enthält eine Bestandsaufnahme der Umsetzung von 35 wichtigen Handelsabkommen mit 62 Partnerländern, einschließlich des ersten vollständigen Jahres des umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens zwischen der EU und Kanada (CETA). Außerdem enthält er eine Beschreibung der Vorarbeiten zum Inkrafttreten des Wirtschaftspartnerschaftsabkommens EU-Japan und spezielle Kapitel über KMU, Dienstleistungen und den Handel mit Agrar- und Lebensmittelerzeugnissen.

2.6.

In dem Bericht sollen die Auswirkungen der Bestimmungen in den speziellen Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung untersucht werden, die Bestandteil aller EU-Handelsabkommen der neuen Generation sind. Außerdem soll über die im Rahmen von Handelsabkommen der EU ergriffenen rechtlichen Durchsetzungsmaßnahmen berichtet werden. Der Bericht wird durch eine umfassende Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen mit detaillierten Informationen zu jedem einzelnen Abkommen ergänzt.

3.   Die COVID-19-Pandemie und der globale und europäische Handel

3.1.

COVID-19 wird tiefgreifende und beispiellose Auswirkungen auf unsere globalisierte Handelswelt haben. Bisher wird es nach Schätzungen der Europäischen Kommission im Jahr 2020 im Welthandel zu einem Rekordrückgang um 9,7 %, bei Ausfuhren von Waren und Dienstleistungen aus der EU-27 zu einem möglichen Rückgang um 9,2 % und bei Einfuhren aus Drittländern in die EU-27 zu einem Rückgang um 8,8 % kommen (6). Es sind weitreichende Störungen der Lieferketten, Ad-hoc-Ausfuhrbeschränkungen für krisenrelevante Waren wie medizinische Güter, verschärfte Zoll- und Grenzkontrollen sowie Beschränkungen der Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Dienstleistern zu beobachten. Die Krise hat gezeigt, wie besorgniserregend zerbrechlich und mit welchen Risiken stark fragmentierte und nicht diversifizierte Lieferketten behaftet sind. Auch zeigt sich, wie wichtig es ist, dass Volkswirtschaften von gut funktionierenden und finanziell starken öffentlichen Stellen (dies gilt insbesondere für die öffentlichen Gesundheitsdienste) gestützt werden, damit der Handel „gesund“ und in Bewegung bleibt.

3.2.

Diese Krise unterstreicht die Bedeutung der globalen Zusammenarbeit und zeigt, dass nationale und einseitige Lösungen weder auf europäischer noch auf globaler Ebene die Antwort sind. Daher muss der Reformprozess der WTO fortgesetzt werden, damit ihre Stärke und Handlungsfähigkeit gewährleistet ist und sie gegen Protektionismus und Unilateralismus vorgehen kann. Es ist an der Zeit, dass die WTO ihrer Rolle gerecht wird und aktiv für die Kernarbeitsnormen und das Übereinkommen von Paris (7) eintritt.

3.3.

Der EWSA stellt fest, dass der Handel im richtigen politischen Rahmen das Wachstum, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die nachhaltige Entwicklung wirksam vorantreiben kann. Im Jahr 2017 war jeder siebte Arbeitsplatz in der EU im Bereich Export angesiedelt. Das sind 36 Mio. Stellen bzw. 15,3 % der Arbeitsplätze in der EU. Die Bedeutung des Binnenmarktes für den Handel in der EU und seine positiven „Spill-Over-Effekte“ lassen sich darüber hinaus daran ablesen, dass ein Fünftel der exportgestützten Arbeitsplätze in einem anderen Mitgliedstaat angesiedelt ist (8).

3.4.

Dem Handel kommt eine Schlüsselrolle zu, wenn es darum geht, nach der Krise eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung zu fördern und den Unternehmen die Möglichkeit zu geben, ihre gestörten Wertschöpfungsketten wiederaufzubauen und neu zu organisieren. Ein Konjunkturprogramm der EU muss solide, sozial, nachhaltig und inklusiv sein und Unternehmen die Möglichkeit bieten, ihre Position im internationalen Handel zu stärken und gute Arbeitsplätze zu sichern. Dieser Plan sollte über Eurobonds oder andere gemeinsame europäische langfristige Anleihen finanziert werden.

3.5.

In den Berichten für die Jahre 2020 und 2021 sollte eine umfassende politische Bewertung der Handelsbedingungen nach COVID-19 und der Frage vorgenommen werden, wie sichergestellt werden kann, dass alle profitieren. Bei ihren künftigen Berichten über die Umsetzung von Freihandelsabkommen sollte die Europäische Kommission vor allem die Zivilgesellschaft konsultieren. Der EWSA ist bereit, mit seinen Erfahrungen vor Ort dazu beizutragen. Bei der neuen, auf die wirtschaftliche Erholung nach COVID-19 und die Stärkung des Welthandels abzielenden Handelsstrategie sollten die krisenbedingte Faktoren, aber auch das Engagement der EU für eine CO2-neutrale Wirtschaft berücksichtigt werden. Die europäische Industriepolitik muss die industrielle Souveränität in Schlüsselsektoren wie Arzneimittel und medizinische Ausrüstung stärken. Dies muss auf Ebene der EU geschehen.

3.6.

Die Empfehlungen, die der EWSA in der jüngsten Vergangenheit in einer Reihe aktueller Schlüsselstellungnahmen zum EU-Handel ausgesprochen hat (9), sollten in diese frühzeitige Überprüfung der Handelsstrategie einfließen. Bei den laufenden bilateralen Verhandlungen und den Verhandlungen der WTO sollte dringend eine Bestandsaufnahme der Auswirkungen von COVID-19 vorgenommen werden, um den damit verbundenen Herausforderungen, insbesondere hinsichtlich der Ausfuhrbeschränkungen und der Nachhaltigkeit der Lieferketten, zu begegnen und die Handelsmandate insgesamt zu überprüfen.

3.7.

Zwar bietet das große Netz präferenzieller Handelsregeln der EU den Unternehmen in der Union eine große Vorhersehbarkeit und Sicherheit, aber die Krise macht deutlich, dass dringend stärkere Instrumente benötigt werden, die die Nachhaltigkeit des Handels in all seinen Facetten, d. h. in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht, umfassen. In diesem Zusammenhang möchte der EWSA auf die laufenden Arbeiten an seiner Stellungnahme zu nachhaltigen Lieferketten verweisen (10)‚ die im September 2020 verabschiedet werden soll.

3.8.

Die globalen Lieferketten müssen widerstandsfähiger und verantwortungsvoller werden. Diversifizierte Handelsbeziehungen sind ein wichtiges Element wirtschaftlicher Nachhaltigkeit, da sie helfen, Störungen in einzelnen Ländern und Regionen abzufangen. In diesem Zusammenhang kommt der Handelspolitik der EU eine zentrale Rolle zu. Freihandelsabkommen bieten den Unternehmen die nötigen Rahmenbedingungen, um langfristige Beziehungen zu neuen Lieferanten aufzubauen, in neuen Ländern geschäftlich tätig zu werden und lokale Kapazitäten entsprechend ihrem Bedarf aufzubauen.

3.9.

Die Wiederbelebung der Handelsströme muss auf einem starken Engagement für Sozial- und Arbeitsnormen und deren wirksamer Durchsetzung gründen. Die Unterbrechung der Versorgungs- und Produktionsprozesse hat gezeigt, wie wichtig es ist, dass es Maßnahmen für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz gibt und dass sie auch umgesetzt werden und dass die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer gewährleistet ist, damit sie die Welt mit Waren und Dienstleistungen versorgen können. Die Ratifizierung, Umsetzung und Durchsetzung der Kernübereinkommen der IAO über Vereinigungsfreiheit und Tarifverhandlungen sind neben den anderen grundlegenden und aktuellen Übereinkommen der IAO ein zentraler Weg zur Gewährleistung sicherer und akzeptabler Arbeitsbedingungen.

3.10.

Angesichts der enormen Maßnahmen, die zur finanziellen Erholung in der EU und weltweit ergriffen werden, darf der Grüne Deal nicht ins Hintertreffen geraten, sondern sollte mit Blick auf einen sozial und ökologisch gerechten Wandel zu einer vorrangigen Priorität in den bestehenden und künftigen Handelsbeziehungen der EU werden. Die Maßnahmen im Rahmen des Grünen Deals müssen in alle Aspekte der Freihandelsabkommen einfließen, auch in die Förderung bewährter Verfahren zur Berücksichtigung ökologischer und sozialer Kriterien bei der öffentlichen Auftragsvergabe.

4.   Allgemeine Anmerkungen zum Jahresbericht

4.1.

Im Großen und Ganzen begrüßt der EWSA den Jahresbericht über die Umsetzung der Freihandelsabkommen (den die Europäische Kommission erstmals 2017 vorgelegt hat), da er einen umfassenden und sichtbaren Überblick über das EU-Handelsnetz bietet. Er ermöglicht eine Bewertung der Fortschritte und Leistungen der einzelnen Freihandelsabkommen. Es sollten Mängel bei der Umsetzung aufgezeigt werden, auch solche, die — wie in den Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung — mit Wirtschaftsstatistiken nicht messbar sind. Daher sollte in den Berichten in Zukunft ein klarerer Bezug auf die Schlussfolgerungen früherer Berichte genommen werden und rückverfolgbare Folgemaßnahmen enthalten sein.

4.2.

Zeit ist ein wesentlicher Faktor für die Umsetzung und Messung der Leistung von Freihandelsabkommen. In diesem Zusammenhang sind Jahresberichte lediglich Momentaufnahmen längerer Entwicklungen, die im Laufe der Zeit eintreten könnten oder genauer beobachtet werden müssten und im Rahmen einer enger verflochtenen Bewertungspolitik behandelt werden sollten. Jedes Handelsabkommen wird zu verschiedenen Zeitpunkten seines Lebenszyklus einer umfassenden Bewertung unterzogen. Der EWSA schlägt dementsprechend vor, bei den Berichten ganzheitlicher vorzugehen und auch Ergebnisse früherer Folgenabschätzungen, die vor und während der Verhandlungen durchgeführt wurden, zu berücksichtigen. Nachhaltigkeitsprüfungen sollten vor Allem als Informationsquelle genutzt und mit den Arbeiten im Rahmen der Umsetzung abgeglichen werden.

4.3.

Für die Feinabstimmung der Handels- und Investitionspolitik der EU und die Maximierung ihrer Vorteile sind Informationen der zentrale Faktor. Die größte Herausforderung scheint in der Feststellung und Aufschlüsselung von Daten zu bestehen. Die EU sollte die nationalen Daten dementsprechend kohärenter nutzen und die unterschiedlichen Gegebenheiten nach den einzelnen Mitgliedstaaten oder Regionen der EU aufgliedern. Gegebenenfalls sollte sie in eine aktive Datenerhebung investieren. Durch die Festlegung von Kriterien können die Ergebnisse besser miteinander verglichen werden. Mit Blick auf den Handel und die nachhaltige Entwicklung und insbesondere die Situation bei den Arbeitsnormen in den verschiedenen Ländern müssen zur Vervollständigung des Bildes andere Datenquellen wie die IAO herangezogen werden.

4.4.

Die Präferenznutzungsrate ist ein wichtiger Indikator für die Umsetzung. Allerdings wird dabei lediglich der Warenhandel analysiert. Nicht alle Vorteile — bspw. der Marktzugang im Beschaffungswesen — finden ihren Niederschlag in Zollpräferenzen. Die durchschnittliche Präferenznutzungsrate für Einfuhren in die EU aus Partnerländern mit einem Präferenzabkommen lag 2018 bei 87 %; für Ausfuhren EU in Partnerländer war sie im Allgemeinen niedriger. Eine genaue Berechnung der durchschnittlichen Präferenznutzungsrate ist jedoch nicht verfügbar, da sich die EU auf die vom Einfuhrland erhobenen Daten stützt und diese statistischen Daten nicht harmonisiert sind. Ein umfassenderes Bild ergibt sich lediglich, wenn weitere Indikatoren entwickelt werden, um zu bewerten, inwieweit Unternehmen jeder Größe die Möglichkeiten von Freihandelsabkommen mit der EU nutzen.

4.5.

Im Jahr 2018 machten die Dienstleistungsexporte 32 % des Gesamtwerts der EU-Ausfuhren aus und fast 59 %, wenn sie als Handel auf Wertschöpfungsbasis (TiVA) betrachtet werden. (11) Bedauerlicherweise gibt der Teil des Berichts über den Handel mit Dienstleistungen die große Bedeutung des Handels mit Dienstleistungen für die EU (25,2 % ihres BIP) nicht angemessen wieder und enthält keine detaillierten Angaben. In Zukunft sollte in den Berichten systematischer auf den Handel mit Dienstleistungen und seine Entwicklung eingegangen werden, und zwar nicht nur im Rahmen einer Zusammenschau, sondern auch auf sektoraler Ebene und nach Art ihrer Erbringung. So fallen beispielsweise immer mehr freiberufliche Dienstleistungen unter Handelsabkommen. Freie Berufe wie Rechtsanwälte, Ingenieure oder Architekten bieten hochspezialisierte Dienstleistungen an, die häufig mit anderen Dienstleistungen und öffentlichen Ausschreibungen verknüpft sind, aber im Bericht keine Berücksichtigung finden.

4.6.

Der EWSA fordert, dass in künftigen Berichten stärker auf bestimmte Bereiche und Gruppen eingegangen wird, die im vorliegenden Bericht weitgehend fehlen. Die Vorteile der EU-Handelsabkommen für KMU und den Agrar- und Lebensmittelhandel werden dagegen deutlich hervorgehoben. In Hinblick auf den Bereich Landwirtschaft ist es wichtig, die kumulativen Auswirkungen von Freihandelsabkommen auf bestimmte Branchen zu untersuchen und vor Aufnahme neuer Verhandlungen zu berücksichtigen. Insbesondere für die Verbraucher muss eine Zunahme der Handelsströme konkrete Vorteile mit sich bringen. Aus diesem Grund hat der EWSA „ein verbraucherspezifisches Kapitel zum Thema ‚Handel und Verbraucher‘ im Rahmen zu Handel und nachhaltige Entwicklung [gefordert] […], in das die einschlägigen internationalen Standards im Bereich Verbraucherschutz aufgenommen werden könnten und das die Zusammenarbeit bei der Durchsetzung von Verbraucherrechten stärken würde“ (12).

4.7.

Der EWSA spricht sich mit Nachdruck für die Aufnahme eines eigenen Kapitels über die Umsetzung im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung in den Bericht aus. Dessen Schwerpunkt sollte über die durchgeführten Aktivitäten hinausgehen und auch deren Ergebnisse, Meinungen und Ansichten sowie Folgemaßnahmen darlegen. Der EWSA bedauert insbesondere, dass in dem Bericht die Arbeit und die Stimme der Internen Beratungsgruppen bei der Beobachtung der Auswirkungen der Abkommen auf die Verpflichtungen im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung trotz ihres institutionellen Beitrags im Rahmen aller Abkommen der neuen Generation weitgehend außer Acht gelassen wird. Die Arbeitsprogramme der Internen Beratungsgruppen und die gemeinsamen Erklärungen mit den Internen Beratungsgruppen in den Partnerländern sollten in künftigen Berichten als Beitrag eine stärkere Berücksichtigung finden.

5.   Besondere Bemerkungen zur Umsetzung von Freihandelsabkommen

5.1.

Die Zivilgesellschaft spielt eine wichtige Rolle bei der Schärfung des Bewusstseins für die Umsetzung der EU-Handelspolitik, sie kann dabei helfen, die Vorteile dieser Politik zu vermitteln, und ist von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, Bedenken anzumelden und Mängel aufzuzeigen. Der EWSA nimmt durch seine Stellungnahmen und als Mitglied der Internen Beratungsgruppen aktiv daran teil. Die Ausdehnung der Zuständigkeit künftiger Interner Beratungsgruppen auf die Überwachung aller Aspekte des Abkommens unter besonderer Berücksichtigung des Handels und der nachhaltigen Entwicklung könnte die Bemühungen der Europäischen Kommission um eine bessere Umsetzung künftiger Freihandelsabkommen der EU ergänzen. Der EWSA befürwortet eine derartige Ausdehnung (13).

5.2.

Die Internen Beratungsgruppen sind eine wichtige Errungenschaft der Freihandelsabkommen der neuen Generation. Sie müssen aber gestärkt werden, damit sie ihre Überwachungsaufgaben, insbesondere in Bezug auf Handel und nachhaltige Entwicklung, in künftigen Freihandelsabkommen der EU und auch noch darüber hinaus, erfolgreich nachkommen können. Bei der Arbeit der Internen Beratungsgruppen sollte ein enger Kontakt zu der Expertengruppe für Handel und nachhaltige Entwicklung mit den Mitgliedstaaten und dem neuen leitenden Handelsbeauftragten bestehen, und es sollten Berichterstattungs- und Austauschstrukturen eingerichtet werden. Ergänzt werden sollte dies durch einen Informationsaustausch mit der IAO über die Umsetzung arbeitsbezogener Maßnahmen im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung. Für mehr Sichtbarkeit und interinstitutionelle Folgemaßnahmen ist ein struktureller Dialog zwischen den Internen Beratungsgruppen der EU, der Europäischen Kommission, dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD), dem Europäischen Parlament (EP) und den Mitgliedstaaten erforderlich. Um den Dialog mit der Zivilgesellschaft in den Partnerländern bestmöglich zu nutzen, sind gemeinsame Sitzungen der Internen Beratungsgruppen unerlässlich und sollten Teil der Verhandlungen über den Wortlaut des Abkommens sein. Die Internen Beratungsgruppen könnten durch gemeinsame Projekte und gemeinsame Empfehlungen einen sinnvollen Beitrag dazu leisten. Angesichts der wachsenden Zahl der Freihandelsabkommen und folglich auch der Internen Beratungsgruppen ist es dringend erforderlich, systemische Lösungen mit angemessenen personellen und finanziellen Ressourcen umzusetzen. Hier gibt es kein Patentrezept. Jeder potenzielle neue Ansatz, wie etwa die Regionalisierung der Internen Beratungsgruppen, muss ihr reibungsloses Funktionieren gewährleisten, um die Herausforderungen bei der Umsetzung des jeweiligen Abkommens zu bewältigen, und die Internen Beratungsgruppen selbst in seine Gestaltung einbeziehen.

5.3.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich die jüngsten fortgesetzten Bemühungen zur Verbesserung der Umsetzung und Durchsetzung von Freihandelsabkommen. Die Ernennung eines leitenden Handelsbeauftragten ist ein klares Signal für das Engagement und die Strategie, die seitens der Politik bestehen, und sollte eine wirksamere Um- und Durchsetzung aller Elemente von Freihandelsabkommen bewirken und die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Umsetzung der Abkommen — auch durch die Einreichung von Beschwerden — stärken. Das vor Kurzem vorgelegte Non-Paper der französischen und niederländischen Handelsminister (14) wird als Initiative und Gelegenheit begrüßt, eine neue Debatte darüber anzustoßen, wie sichergestellt werden kann, dass die Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung ihre rechtsverbindlichen Wirkungen in vollem Umfang entfalten. Der gleiche hohe Stellenwert bei der Um- und Durchsetzung kommt im Rahmen dieser Debatte den Umwelt- und Arbeitsnormen zu. Mit dem Entwurf des Textes der EU für ein künftiges Handelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich wird — entsprechend der besonderen Beziehung zwischen den beiden Seiten — ein neuer Weg eingeschlagen, mit dem gleiche Wettbewerbsbedingungen und Nachhaltigkeit in den Vordergrund gestellt werden. Insbesondere ist bei Verstößen die Anwendung des allgemeinen Streitbeilegungsmechanismus mit Zugang zu Rechtsbehelfen vorgesehen (15). Die Einhaltung des Übereinkommens von Paris entsprechend der Mitteilung über den Grünen Deal (16) zu einem wesentlichen Bestandteil aller künftigen umfassenden Handelsabkommen zu machen, ist ein positiver Schritt, der auch auf die Einhaltung und Umsetzung der von allen EU-Mitgliedstaaten ratifizierten Kernübereinkommen der IAO in ihrer aktualisierten Fassung ausgeweitet werden muss. Im Einklang mit ihrer neuen Initiative sollte die IAO als international anerkannte Organisation in die Überwachung der Umsetzung der IAO-Übereinkommen in Freihandelsabkommen einbezogen werden. Ihre Aufgabe bestünde darin, zu beobachten, zu unterstützen, Verstöße zu untersuchen und Lösungen vorzuschlagen.

5.4.

Selbst Jahre nach Abschluss von Freihandelsabkommen sind in einigen Partnerländern immer noch keine Fortschritte bei der Einhaltung der Verpflichtungen in Bezug auf Handel und nachhaltige Entwicklung zu beobachten. Im Dezember 2018 forderte die EU die Einsetzung eines Panels von Sachverständigen zur Untersuchung der Streitfrage zwischen der EU und Korea über Arbeitnehmerrechte, insbesondere die Nichtratifizierung von Kernübereinkommen der IAO in ihrer aktualisierten Fassung. Der EWSA begrüßt, dass im Zusammenhang mit dem Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung zum ersten Mal Rückgriff auf ein Streitbeilegungsverfahren genommen wurde (17); angesichts der vor acht Jahren erfolgten Ratifizierung bedauert er jedoch die Dauer des Verfahrens. Der EWSA hatte daher bereits eine weitere Stärkung der zivilgesellschaftlichen Überwachungsmechanismen empfohlen. Sie sollten „bei Verstößen gegen die im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung eingegangen eindeutigen Verpflichtungen eigenständig Untersuchungen auslösen können“ (18). Bedauerlicherweise lagen zahlreiche weitere Rechtsvorschriften und Verstöße gegen das Recht auf Vereinigungsfreiheit, zu deren Beseitigung die IAO Korea aufgefordert hatte, außerhalb des Zuständigkeitsbereich des Panels (19). Mündliche Darlegungen zivilgesellschaftlicher Akteure sollten neben den schriftlichen Amicus-curiae-Schriftsätzen zu einem festen Bestandteil der Anhörung des Panels sein. Es bleibt abzuwarten, wie der Bericht des Panels letztendlich aussehen und welche Wirkung er haben wird, da es den derzeitigen Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung an weiterreichenden Durchsetzungsinstrumenten mangelt. In diesem Zusammenhang fordert der EWSA mit Blick auf eine effektive Durchsetzbarkeit von Arbeits- und Umweltbestimmungen klare Fortschritte bei der Überarbeitung des CETA (20). In die Überprüfung sollten die Internen Beratungsgruppen beider Seiten eng einbezogen und konsultiert werden (21).

5.5.

Mit Blick auf EU-Exporte von Agrarerzeugnissen bieten Freihandelsabkommen ein enormes Potenzial, gleichzeitig verbessern geografische Angaben die Wettbewerbsfähigkeit der Agrar- und Lebensmittelerzeuger in der EU sowohl innerhalb als auch außerhalb der Union. Mit einem Wert der Ein- und Ausfuhren von insgesamt 254 Mrd. EUR im Jahr 2018 ist die EU der weltweit größte Handelspartner für Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse (22). Obwohl der Handel mit Lebensmittelerzeugnissen in Verhandlungen häufig genau unter die Lupe genommen wird, scheint die Umsetzung von Bestimmungen den ehrgeizigen Zielen hinterherzuhinken. Lebensmittel in guter Qualität sowie eine sichere Versorgung mit diesen Lebensmitteln kann nur gewährleistet werden, wenn die Rückverfolgbarkeit von Produkten und die Durchsetzung des Vorsorgeprinzips sichergestellt sind. Zu einer effizienten Überwachung der Gesundheits- und Pflanzenschutznormen gehören Inspektionen mit angemessenen Ressourcen.

5.6.

Trotz der erheblichen Chancen für Unternehmen besteht nach wie vor ein mangelndes Bewusstsein für die Vorteile von Freihandelsabkommen, insbesondere in den ersten Jahren ihrer Umsetzung. Die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten sollten die Abkommen in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft der EU unter potenziellen Exporteuren in der jeweiligen Landessprache bekanntmachen, um Wissenslücken, insbesondere bei KMU, zu schließen. Ein Teil der Maßnahmen könnte in der Ausarbeitung nationaler Aktionspläne für die Umsetzung jedes Freihandelsabkommens vor dessen Inkrafttreten bestehen.

5.7.

In den Handelspartnerstaaten sind die Importeure (die unmittelbar von den Zollersparnissen profitieren) die Schlüsselfiguren bei der Nutzung von Zollpräferenzen im Rahmen eines Freihandelsabkommens und sollten bei allen Bemühungen der EU zur Erhöhung der Präferenznutzungsrechte für ihre Ausfuhren berücksichtigt werden. Zu der Öffentlichkeitsarbeit könnten Seminare über die Möglichkeiten des jeweiligen Freihandelsabkommens und über die Beantragung von Zollpräferenzen gehören. Die Öffentlichkeitsarbeit der EU in den Partnerländern der jeweiligen Freihandelsabkommen sollte in enger Zusammenarbeit zwischen EU-Delegationen, nationalen Vertretungen und Wirtschaftsvertretern, einschließlich der Handelskammern, erfolgen.

5.8.

Dienstleistungen machen einen Großteil der modernen Bestimmungen von Freihandelsabkommen aus. Die Vorteile sind jedoch schwieriger nachzuvollziehen als Zollsenkungen. Hier ist für eine Erleichterung des Handels Transparenz bei den rechtlichen Anforderungen an Drittmärkte von entscheidender Bedeutung. Die bevorstehende Zusammenführung der EU-Marktzugangsdatenbank und des Handels-Helpdesk bietet die Möglichkeit, nicht nur Waren, sondern auch Dienstleistungen in kohärenter Weise abzudecken. Über ein neues Portal sollten für jeden Code der Zentralen Gütersystematik (CPC) (23) nach Erbringungsart aufgeschlüsselte Informationen über Marktzugang und -beschränkungen bereitgestellt werden. Außerdem sollten, aufgeschlüsselt nach Branchen, Informationen über Dokumentation, Zertifizierung, Lizenzvergabe, Prüfung und andere Anforderungen abrufbar sein. Darüber hinaus könnte ein Leitfaden für europäische Dienstleistungsexporteure und Investoren für die wichtigsten präferenziellen Handelspartner der EU im Bereich Dienstleistungen, wie bspw. Japan oder Kanada, nützlich sein.

5.9.

Die EU ist für das öffentliche Beschaffungswesen der offenste Markt der Welt, und Freihandelsabkommen bieten europäischen Unternehmen in Partnerländern umfassende Regeln und beträchtliche Zugangsmöglichkeiten zum Markt für öffentliche Aufträge. Es mangelt jedoch an Transparenz und Kohärenz bei den Maßnahmen zur Berücksichtigung von Arbeitsklauseln bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, sowohl in der Beschaffungspolitik als auch in der entsprechenden Praxis (24)‚ was in den Freihandelsabkommen einen entsprechenden Niederschlag finden sollte. Die Veröffentlichung von Ausschreibungen von Drittländern in einem speziellen Abschnitt der Datenbank „TED — Tenders Electronic Daily“ der EU würde es europäischen Unternehmen aller Größen erheblich erleichtern, Nutzen aus dem Kapitel über die Vergabe öffentlicher Aufträge zu ziehen. Darüber hinaus könnte ein spezialisiertes automatisches Übersetzungswerkzeug in allen Sprachen der EU für die veröffentlichten Ausschreibungen dazu beitragen, die Sprachbarriere zu überwinden.

5.10.

Um in den Genuss von Zollpräferenzen im Rahmen eines Freihandelsabkommens zu kommen, müssen die Waren den Ursprungsregeln entsprechen. Die Verringerung der Verwaltungskosten für die Beantragung von Präferenzzöllen ist als Schlüsselfaktor für die Erhöhung der Präferenznutzungsrate zu betrachten, insbesondere bei Transaktionen mit geringem Wert. Die Vereinfachung und Harmonisierung der Ursprungsregeln in verschiedenen Freihandelsabkommen wäre diesbezüglich von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus kann der in den Freihandelsabkommen mit Kanada und Japan vereinbarte neue Ansatz für die Überprüfung des Ursprungs, bei dem die Einfuhrbehörde prüft, ob die Waren die Ursprungsvoraussetzungen erfüllen, de facto dazu führen, dass der Exporteur sensible Geschäftsinformationen übermittelt.

5.11.

Die Investitionskapitel der Freihandelsabkommen bieten Rechtssicherheit für ausländische Direktinvestitionen (ADI) in beide Richtungen und beseitigen Investitionshindernisse. Europäische Unternehmen sind weltweit führend bei nachhaltigen, langfristigen Investitionen. Allerdings ist es nach wie vor schwierig, derartige Investitionen anzuwerben. Die Investitionsoffensive für Drittländer (EIP), deren Schwerpunkt auf nachhaltiger Entwicklung sowie Beschäftigung und Wachstum liegt, ist in dieser Hinsicht ein vielversprechender Schritt, aber geografisch, thematisch und hinsichtlich der verfügbaren Mittel zu beschränkt. Die EU könnte diese Strategie fördern, indem sie bei offiziellen Besuchen, Treffen auf hoher Ebene und Missionen in den jeweiligen Ländern in Abstimmung mit ihren Mitgliedstaaten und der Wirtschaft der EU wichtige Fragen im Zusammenhang mit nachhaltigen Investitionen ganz oben auf die politische Tagesordnung setzt.

5.12.

Europäische Unternehmen, die in Drittländern tätig sind, sind für die Verbreitung und Durchsetzung verantwortungsvollen unternehmerischen Handelns wichtige Kräfte. Der EWSA stellt fest, dass die Bestimmungen über die Verantwortung von Unternehmen in Handels- und Investitionsabkommen zunehmen, sich aber in verschiedene Richtungen entwickeln (25). Da europäische Unternehmen in diesem Bereich weltweit führend sind, ist die EU bestens dazu aufgestellt, mit Blick auf die Sorgfaltspflicht eine Vorreiterrolle einzunehmen. Dementsprechend begrüßt der EWSA, dass die Europäische Kommission seiner Empfehlung folgt und in diesem Bereich Rechtsvorschriften der EU vorschlägt (26).

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Handelsprognose der WTO, April 2020.

(2)  ABl. C 159 vom 10.5.2019, S. 15.

(3)  Stellungnahmen der jüngeren Vergangenheit, auf die in ABl. C 47 vom 11.2.2020 verwiesen wird. REX/529 „Die Gestaltung eines neuen Modells multilateraler Beziehungen: eine drängende Frage nach der COVID-19-Krise“ (siehe Seite xx dieses Amtsblatts), Laufende Arbeiten zu NAT/791 „Vereinbarkeit der EU-Handelspolitik mit dem europäischen Grünen Deal“ und REX/532 „Nachhaltige Lieferketten und menschenwürdige Arbeit im internationalen Handel“.

(4)  Gemeinsames Auslegungsinstrument zum CETA, Oktober 2016.

(5)  Non-paper from the Netherlands and France on trade, social economic effects and sustainable development [Non-Paper der Niederlande und Frankreichs zu Handel, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen und nachhaltiger Entwicklung]‚ Mai 2020.

(6)  The impact of the COVID-19 pandemic on global and EU trade [Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf den Welthandel und den Handel der EU], Team des Chefökonomen, GD HANDEL, April 2020.

(7)  ABl. C 159 vom 10.5.2019, S. 15.

(8)  ABl. C 47vom 11.2.2020, S. 38 .

(9)  Siehe Fußnote 3.

(10)  Stellungnahme REX/532 „Nachhaltige Lieferketten und menschenwürdige Arbeit im internationalen Handel“ (voraussichtlich im September 2020).

(11)  Da auf Dienstleistungen auch ein erheblicher Anteil von 34 % an den Ausfuhren von Industriegütern entfällt. Alle Daten entstammen der Datenbank „Trade in Added Value“ [Handel auf Wertschöpfungsbasis] (TiVA), 2016.

(12)  ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 27.

(13)  ABl. C 159 vom 10.5.2019, S. 28.

(14)  Siehe Fußnote 5.

(15)  Draft text of the Agreement on the New Partnership with the United Kingdom [Entwurf des Abkommens über die neue Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich]‚ 18. März 2020].

(16)  COM(2019) 640 final.

(17)  Im Rahmen des allgemeinen Streitbeilegungsmechanismus der Freihandelsabkommen werden zwei weitere Streitbeilegungsverfahren zur Kenntnis genommen, die 2019 mit der Ukraine und der südafrikanischen Zollunion eingeleitet wurden.

(18)  ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 27.

(19)  Amicus curiae for the attention of the Panel of Experts assessing the Republic of Korea‘s adherence to the sustainability chapter [Amicus-curiae-Schriftsatz für das Panel der Sachverständigen zur Bewertung der Einhaltung des Nachhaltigkeitskapitels durch die Republik Korea], Januar 2020.

(20)  Siehe Fußnote 4.

(21)  Joint Statement EU-Canada DAGs [Gemeinsame Erklärung der DAG EU-Kanada], November 2019.

(22)  Agri-food trade in 2018 [Handel mit Agrar- und Lebensmittelerzeugnissen], GD Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, 2019.

(23)  Code der Zentralen Gütersystematik gemäß der WTO-Liste zur Klassifizierung der Dienstleistungssektoren.

(24)  ILO General Survey 2008, Labour clauses in public contracts. Integrating the social dimension into procurement policies and practices.

(25)  Business Responsibilities and Investment Treaties, Consultation paper by the OECD Secretariat [Verantwortung von Unternehmen und Investitionsabkommen, Konsultationspapier des OECD-Sekretariats]‚ Januar 2020.

(26)  ABl. C 47 vom 11.2.2020, S. 38.