ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 311

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

63. Jahrgang
18. September 2020


Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

ENTSCHLIEßUNGEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

552. Plenartagung des EWSA (+ Videokonferenz über Interactio), 10.6.2020-11.6.2020

2020/C 311/01

Entschließung zu den Vorschlägen des EWSA für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung nach der Covid-19-Krise: Die EU muss sich von dem Grundsatz leiten lassen, dass sie eine Schicksalsgemeinschaft bildet auf der Grundlage der Arbeit des Unterausschusses Wirtschaftliche Erholung und Wiederaufbau nach der COVID-19-Krise

1

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

552. Plenartagung des EWSA (+ Videokonferenz über Interactio), 10.6.2020-11.6.2020

2020/C 311/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Ein Binnenmarkt für alle (Sondierungsstellungnahme)

19

2020/C 311/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Einfluss von Kampagnen auf die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungsprozessen (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des kroatischen EU-Ratsvorsitzes)

26

2020/C 311/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Finanzierung der Umstellung auf eine Niedrigemissionswirtschaft und Herausforderungen für die Finanzierung von Maßnahmen für die Anpassung an den Klimawandel (Sondierungsstellungnahme)

36


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

552. Plenartagung des EWSA (+ Videokonferenz über Interactio), 10.6.2020-11.6.2020

2020/C 311/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Das jährliche Arbeitsprogramm der Union für europäische Normung 2020(COM(2019) 486 final)

45

2020/C 311/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Kontrolle des Erwerbs und des Besitzes von Waffen (kodifizierter Text)(COM(2020) 48 final — 2020/0029 (COD))

52

2020/C 311/07

Stellungnahme des Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/1628 hinsichtlich ihrer Übergangsbestimmungen zur Bewältigung der Folgen der COVID-19-Krise (COM(2020) 233 final — 2020/0113 (COD))

53

2020/C 311/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds(COM(2020) 22 final — 2020/0006 (COD)) und zu Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit gemeinsamen Bestimmungen für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds Plus, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit Haushaltsvorschriften für diese Fonds und für den Asyl- und Migrationsfonds, den Fonds für die innere Sicherheit und das Instrument für Grenzmanagement und Visa(COM(2020) 23 final — 2018/0196 (COD))

55

2020/C 311/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Investitionsplan für ein zukunftsfähiges Europa — Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal(COM(2020) 21 final)

63

2020/C 311/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 575/2013 und (EU) 2019/876 aufgrund von Anpassungen infolge der COVID-19-Pandemie(COM(2020) 310 final — 2020/0066 (COD))

71

2020/C 311/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU, um der dringenden Notwendigkeit einer Verlängerung bestimmter Fristen für die Vorlage und den Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung infolge der COVID-19-Pandemie Rechnung zu tragen(COM(2020) 197 final — 2020/0081 (CNS)) zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Änderung der Richtlinien (EU) 2017/2455 und (EU) 2019/1995 in Bezug auf die Umsetzungsfrist und den Geltungsbeginn aufgrund des Ausbruchs der COVID-19-Krise(COM(2020) 198 final — 2020/0082 (CNS)) und zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2454 in Bezug auf den Geltungsbeginn aufgrund des Ausbruchs der COVID-19-Krise(COM(2020) 201 final — 2020/0084 (CNS))

76

2020/C 311/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 hinsichtlich spezifischer Maßnahmen zur Gewährung einer befristeten Sonderunterstützung im Rahmen des ELER als Reaktion auf den Ausbruch von COVID-19(COM(2020) 186 final — 2020/0075 (COD))

79

2020/C 311/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung (kodifizierter Text)(COM(2020) 49 final — 2020/0022 (CNS))

81

2020/C 311/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 223/2014 in Bezug auf die Einführung spezifischer Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Krise(COM(2020) 223 final — 2020/0105 (COD))

82

2020/C 311/15

Stellungnahme Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 hinsichtlich der Mittel für die besondere Mittelzuweisung zugunsten der Beschäftigungsinitiative für junge Menschen(COM(2020) 206 final — 2020/0086 (COD))

83


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

ENTSCHLIEßUNGEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

552. Plenartagung des EWSA (+ Videokonferenz über Interactio), 10.6.2020-11.6.2020

18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/1


Entschließung zu den „Vorschlägen des EWSA für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung nach der Covid-19-Krise: ‚Die EU muss sich von dem Grundsatz leiten lassen, dass sie eine Schicksalsgemeinschaft bildet‘“ auf der Grundlage der Arbeit des Unterausschusses „Wirtschaftliche Erholung und Wiederaufbau nach der COVID-19-Krise“

(2020/C 311/01)

Berichterstatter:

Petr ZAHRADNÍK (Gr. I)

Stefano PALMIERI (Gr. II)

Jan DIRX (Gr. III)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner Plenartagung am 10./11. Juni 2020 (Sitzung vom 11. Juni) mit 221 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Entschließung:

1.   Einleitung

1.1.

Der EWSA begrüßt und unterstützt nachdrücklich die Vorschläge der Europäischen Kommission: den „Next Generation EU“-Plan und den langfristigen EU-Haushalt für 2021-2027. In dieser Entschließung legen wir dar, was mit den Vorschlägen für die wirtschaftliche Erholung und den Wiederaufbau nach der Coronavirus-Krise aus unserer Sicht erreicht werden sollte. Die folgenden vier Punkte sind für uns von entscheidender Bedeutung:

1.2.

Der EWSA ist überzeugt, dass die wirtschaftliche Erholung von den Folgen der Coronavirus-Krise nur dann gelingen kann, wenn sie mit einem Umbau unserer Gesellschaft einhergeht: Wir müssen uns sowohl auf den Wiederaufbau als auch auf die wirtschaftliche Erholung konzentrieren. Wir können dabei nicht einfach nur die alten Zustände wiederherstellen, wir müssen sie neu strukturieren und verbessern. Nach Auffassung des EWSA müssen Neustrukturierung und Verbesserung auf den Grundsätzen für unser gesamtes Handeln beruhen: Schutz der Menschenrechte und der sozialen Rechte, der demokratischen Werte und der Rechtsstaatlichkeit, Erschließung des vollen Potenzials des Binnenmarkts, Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele, einer Kreislaufwirtschaft und einer klimaneutralen EU bis spätestens 2050. Auch müssen wir verantwortliches Regierungshandeln und demokratische Rechenschaftspflicht gewährleisten. Zudem muss analysiert werden, warum bestimmte soziale Gruppen in der Krise noch weiter sozial geschwächt wurden, sowohl durch unzureichenden Schutz vor Ansteckung als auch den Verlust der Existenzgrundlage, und wir müssen ihrer weiteren Schwächung Einhalt gebieten.

1.3.

Das Europäische Semester wird bei der Überwachung und Bewertung der Maßnahmen im Rahmen des „Next Generation EU“-Plans immer wichtiger werden. Diesbezüglich sollten die Wirtschafts- und Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft nach Ansicht des EWSA als wichtige Akteure in diesem Prozess anerkannt werden.

1.4.

In diesem neuen Wiederaufbau- und Erholungsprozess hofft der EWSA, dass die bevorstehende Konferenz zur Zukunft Europas die Gelegenheit bietet, um die institutionelle Struktur der EU zu stärken und zu vertiefen und das EU-Projekt neu zu formulieren, um für die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte gewappnet zu sein.

1.5.

Die Investitionen, die im Rahmen kurzfristiger Konjunkturmaßnahmen getätigt werden, sollten die strukturelle Umstellung der europäischen Wirtschaft auf Schadstofffreiheit, die Wiederherstellung der biologischen Vielfalt und das Erreichen der Klimaneutralität bis 2050 beschleunigen oder zumindest nicht bremsen.

1.6.

Die Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger über die Organisationen der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft wird den Reformprozess in Wirtschaft und Gesellschaft ermöglichen. Die Mitgliedstaaten und die EU müssen daher sicherstellen, dass bei dieser komplexen Transformation niemand zurückgelassen wird.

1.7.

Am wichtigsten erscheint eine der Hauptlehren aus der Coronavirus-Krise, nämlich dass die Gesundheitssysteme in fast allen europäischen Ländern durch eine europäische „Gesundheitsunion“ gestärkt werden müssen.

2.   Die Covid-19-Krise: Ein symmetrischer externer Schock für die EU, der sich in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich auswirkt

2.1.   Die Covid-19-Krise und ihre Auswirkungen auf die EU

2.1.1.

Eine Bewertung der Gesamtauswirkungen der Covid-19-Pandemie wäre zum Zeitpunkt dieser Entschließung verfrüht, es steht aber bereits fest, dass dies der schwerste wirtschaftliche Schock ist, mit dem die europäischen Volkswirtschaften seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert waren. Der Weg zur wirtschaftlichen Erholung ist wahrscheinlich lang und beschwerlich. Die Prognosen des IWF und der Europäischen Kommission bestätigen, dass diese Krise alle EU-Mitgliedstaaten mit unterschiedlicher Intensität (1) getroffen hat. Sie stellt nicht nur unsere Verhaltensmuster, sondern auch unsere Produktions-, Verbrauchs- und Beschäftigungsmuster in Frage stellt.

2.1.2.

Die Krise ist auch so schwer, weil sie die EU in einer Zeit erheblicher wirtschaftlicher und politischer Schwäche getroffen hat. In einigen Ländern haben sich die negativen Auswirkungen der vorherigen Wirtschafts- und Finanzkrise (2008-2010) noch nicht abgeschwächt, und ihre Volkswirtschaften sind nach wie vor recht schwach und anfällig für Erschütterungen. Ebenso haben sich einige soziale Gruppen, auch in den wohlhabenderen Mitgliedstaaten, noch nicht von den Folgen der letzten Wirtschaftskrise erholt, beispielsweise Menschen mit Behinderungen (2). Darüber hinaus kommt die Krise für die EU zu einem heiklen Zeitpunkt, da sie mit dem Übergang zu einer digitalen Wirtschaft zusammenfällt, bei dem die wirtschaftliche, ökologische und soziale Nachhaltigkeit eine wichtige Rolle spielt.

2.1.3.

Diese Krise wird aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht erhebliche disruptive Folgen haben. Als oberste Priorität müssen unser ganzes Handeln und all unsere Maßnahmen dem Ziel gelten, unsere Lebensgrundlage, unsere Wirtschafts-, Sozial- und Umweltsysteme und unsere Organisationen wiederherzustellen bzw. zu einer „neuen Normalität“ zu führen.

2.1.4.

Die Krise wird ein ernster Stresstest für die Europäische Union als Ganzes, für unser Wirtschaftssystem und unsere Sozialmodelle, für unsere Werte und für unsere Demokratie sein.

2.2.   Wirtschaftliche Auswirkungen

2.2.1.

Im Gegensatz zur letzten Krise kam es diesmal für viele Tätigkeiten zu einem sofortigen und kompletten Stillstand, was mit einem drastischen Rückgang der Produktion, einem raschen Anstieg der Arbeitslosigkeit und einer Verschlechterung des Lebensstandards (Rückgang des Realeinkommens, Arbeitsplatzunsicherheit, eingeschränkte Mobilität), einem drastischen Rückgang des Außenhandels sowohl innerhalb der EU als auch mit Drittländern und einer drastischen Verschlechterung der Indikatoren der öffentlichen Finanzen einherging.

2.2.2.

Nach allem, was bisher über die Auswirkungen der Covid-19-Krise auf das Wirtschaftswachstum bekannt ist, muss mit einem Rückgang des BIP um rund 8 % gerechnet werden (3)‚ ebenso wie mit einem Anstieg der weltweiten Arbeitslosigkeit um 24,7 Mio., wobei weitere 13 bis 36 Mio. Arbeitsplätze gefährdet sind (4). Für die EU wird ein Anstieg der Arbeitslosenquote von 6,7 % (2019) auf 9,0 % (2020) erwartet (5). Große Probleme verursacht diese Krise außerdem für a) das System der kleinen und mittleren Unternehmen, die das Rückgrat des europäischen Produktionssystems bilden, b) die Wettbewerbsfähigkeit der großen europäischen Unternehmen und c) das pure Überleben einiger Wirtschaftszweige wie Gastgewerbe, Tourismus, Verkehr und Kultur.

2.2.3.

Die Schätzungen für 2021 (6) sind viel optimistischer, da sie von einer Erholung ausgehen, die jedoch von folgenden Parametern abhängt: Aufhebung der restriktiven Maßnahmen, die Pandemie bleibt unter Kontrolle und die beispiellosen geld-, fiskal- und ordnungspolitischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten und der EU greifen und mildern die unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Krise und die langfristig anhaltende Schäden ab, die in Bezug auf die globalen Wertschöpfungsketten und die wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen entstanden sind.

2.2.4.

Aus Sicht der EU wurde der Binnenmarkt praktisch gelähmt. Außerdem haben Maßnahmenpakete einzelner Mitgliedstaaten zu einem Risiko ungleicher Wettbewerbsbedingungen geführt, das dringend angegangen werden muss. Die Unsicherheit in Bezug auf künftige Investitionen hat schlagartig zugenommen und wichtige Indikatoren wie der Einkaufsmanager-Index oder das Geschäfts- und Konsumklima haben historische Tiefstände erreicht.

2.2.5.

Die tiefgreifendsten wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen werden daher höchstwahrscheinlich im zweiten Quartal dieses Jahres und in den einzelnen Branchen mit unterschiedlicher Intensität verzeichnet werden. In der zweiten Jahreshälfte 2020 ist mit einer gewissen Erholung der Wirtschaft zu rechnen, wobei diese in der Art von Land zu Land unterschiedlich ausfallen könnte.

2.2.6.

Noch schwerer wiegt jedoch, dass es zu einem Bruch in unserer Lebensweise gekommen ist, die sich komplett verändert hat. Im Rahmen der wirtschaftlichen Erholung und Wiederbelebung muss der Schwerpunkt nicht nur auf der Wiederankurbelung der Wirtschaftsleistung liegen, sondern wohl vielmehr und dringender darauf, Anlass zu Hoffnung zu geben und Möglichkeiten dafür zu schaffen, dass wir unser Leben an die „neue Normalität“ anpassen können, wozu auch die uneingeschränkte Einhaltung der Grundsätze der nachhaltigen Entwicklung gehört.

2.3.   Soziale Auswirkungen

2.3.1.

Covid-19 wird weitreichende Auswirkungen auf die Arbeitsmarktlage haben. Abgesehen von den dringenden Bedenken hinsichtlich der Gesundheit der Arbeitnehmer und ihrer Familien werden das Virus und die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Verwerfungen die Arbeitswelt in dreierlei Hinsicht beeinflussen: 1) Zahl der Arbeitsplätze (sowohl Arbeitslosigkeit als auch Unterbeschäftigung), 2) Qualität der Arbeit und 3) Auswirkungen auf bestimmte Gruppen, die anfälliger für eine schlechte Arbeitsmarktlage sind. Einige Kategorien von Arbeitnehmern sind stärker betroffen, weil sie nicht über soziale Sicherheitsnetze verfügen: junge Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, ältere Arbeitnehmer, Arbeitnehmer mit Behinderungen, Frauen — weil sie in den am stärksten betroffenen Sektoren überrepräsentiert sind oder weil sie zur Pflege von Familienangehörigen zu Hause bleiben, Selbstständige oder Plattformarbeiter, Geringverdienende, Wanderarbeitnehmer und unregistrierte Arbeitskräfte, die einer nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit nachgehen. Auch die Erwerbstätigenarmut wird voraussichtlich erheblich zunehmen (7).

2.3.2.

Die Sicherung von Beschäftigung und Einkommen für alle Arbeitnehmern ist eine Priorität, und wir müssen bei der Gestaltung der Maßnahmen von heute an eine langfristige Perspektive denken. Die EU braucht eine starke soziale Erholung in Europa und eine Wiederaufbaustrategie auf europäischer und nationaler Ebene unter aktiver Einbindung der Sozialpartner, um die Wirtschaft wiederzubeleben, die Rechte der Arbeitnehmer zu wahren und Wohlergehen für alle zu gewährleisten. Tiefgehendere institutionelle und politische Reformen sind erforderlich, um die Erholung zu verstärken und die Widerstandsfähigkeit durch robuste und universelle Sozialschutzsysteme zu stärken, die im Krisenfall als automatische wirtschaftliche und soziale Stabilisatoren wirken können. Dies wird auch dazu beitragen, das Vertrauen in die Institutionen und Regierungen wiederherzustellen.

2.3.3.

Der zwei- und dreigliedrige soziale Dialog zwischen Regierungen, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen ist ein wichtiges Instrument für die Entwicklung und Umsetzung nachhaltiger Lösungen, und zwar von der lokalen bis zur globalen Ebene. Dies erfordert starke, unabhängige und demokratische Organisationen der Sozialpartner.

2.3.4.

Besondere Aufmerksamkeit muss darauf gelegt werden, dass die Erholung von dieser Krise nicht wie im Falle der letzten Krise in unterschiedlichem Tempo verläuft. Alle Gruppen müssen unterstützt werden, um im gleichen Tempo wieder Fuß fassen zu können; sozial schwächere Gruppen müssen zügig und zeitgleich von den gleichen Verbesserungen in punkto Beschäftigung und Lebensstandard wie die übrige Bevölkerung profitieren. Dies gilt insbesondere für junge Menschen, Menschen mit Behinderungen, Angehörige ethnischer Minderheiten, Migranten und Flüchtlinge.

2.3.5.

Besondere Aufmerksamkeit und besondere Maßnahmen sind auch für Gruppen außerhalb des Arbeitsmarktes erforderlich, die bereits von Armut betroffen sind, sowie für neue, von Armut betroffene Gruppen, deren Zahl voraussichtlich zunehmen wird. Diese Gruppen laufen Gefahr, noch weiter an den Rand gedrängt und damit einhergehend mit vielen sozialen und gesundheitlichen Problemen konfrontiert zu werden.

2.3.6.

Auch Organisationen der Zivilgesellschaft gehören zu den Opfern der Ungleichheiten und Schwächen des Systems. Ihre gegenwärtige und künftige Fähigkeit, auf Bedürfnisse zu reagieren, hängt von oftmals knappen und schwankenden Ressourcen ab. Hier sollten Finanzierungsmechanismen für zivilgesellschaftliche Organisationen eingerichtet werden.

3.   Eine Bewertung der Reaktion der EU auf die Covid-19-Krise

3.1.   Sofortmaßnahmen

3.1.1.

Derzeit bestimmt in Europa (wie auch in der ganzen Welt) die Coronavirus-Pandemie alle Aspekte unseres Lebens, so auch die wirtschaftliche Tätigkeit, deren Organisation und die entsprechenden Systeme. Die Wirtschaft und das Instrumentarium wirtschaftlicher Maßnahmen sind der erfolgreichen Bewältigung der Krise und einem wesentlichen Beitrag zu ihrer Beendigung voll untergeordnet. Selbst in dieser schweren Zeit sollte jedoch gewährleistet werden,

dass die mobilisierten Finanzierungsquellen wirksam, bedarfsgerecht und gezielt eingesetzt werden;

dass alle von der Pandemie betroffenen förderfähigen Personen und Einrichtungen (natürliche Personen, Betriebe und Unternehmen, Organisationen ohne Erwerbszweck, Erbringer öffentlicher Dienstleistungen usw.) angemessene Ausgleichszahlungen erhalten;

dass die Wirtschaft auf den Neustart danach vorbereitet ist, wobei die sozialen Lehren aus der aktuellen Pandemie gezogen und dringend beantwortet werden müssen.

3.1.2.

Auch wenn die Märkte und die Wirtschaft bezüglich eines unbekannten medizinischen Problems keine Diagnose stellen und keine Bewertung vornehmen können, ist es praktisch unmöglich, dieses pandemische Problem ohne die gebührende Berücksichtigung der wirtschaftlichen und finanziellen Kosten und ihrer Folgen zu lösen.

3.1.3.

Bislang haben die Mitgliedstaaten und die jeweiligen EU-Organe als Reaktion auf die Krise eine Reihe von Notfall-, Präventions-, Stabilisierungs- und Ausgleichsmaßnahmen ergriffen. Wir können diese Maßnahmen je nach Typologie in mehrere Kategorien einteilen, z. B. geldpolitische und Stabilisierungsmaßnahmen, fiskalpolitische Maßnahmen, Garantien und Kredite sowie regulierungs- und verfahrenstechnische Maßnahmen. Die Maßnahmen konzentrieren sich auf alle Lebensbereiche, allerdings hauptsächlich auf die Wirtschaft und Unternehmen sowie auf soziale Fragen (siehe Anhang I).

3.1.4.

Die Maßnahmen umfassen ein breites wirtschaftspolitisches Instrumentarium, auch mit geldpolitischen Antworten, vor allem einer neuen quantitativen Lockerung, ergänzt durch das neue Anleiheankaufprogramm der EZB zur Unterstützung der Finanzmarktliquidität, eine makroökonomische Stabilisierungsfunktion des ESM, eine Reihe finanzpolitischer Maßnahmen, beginnend mit der vorübergehenden Annahme flexibler Haushaltsregeln und Beihilfevorschriften, durch enorme öffentlichen Finanzspritzen zugunsten der von der Pandemie betroffenen Unternehmen und Einzelpersonen, den Aufschub der Rückzahlungsverpflichtungen und die massive Umschichtung der EU-Haushaltsmittel. Sehr wichtig ist auch das Paket verschiedenartiger regulatorischer und verfahrenstechnischer Maßnahmen.

3.1.5.

Der Umfang der Finanzmittel im Zusammenhang mit den Maßnahmen zur Unterstützung der europäischen Gesellschaft wird auf fast 3 Billionen EUR geschätzt (16 % des BIP der EU im Jahr 2019). Bisher handelte es sich hierbei um einen Mix wirtschaftspolitischer Maßnahmen, die auf Ebene der EU und vor allem der Mitgliedstaaten umgesetzt wurden. Im Rahmen des ursprünglichen EU-Aufbauplans für die Zeit nach der Coronavirus-Krise stehen lediglich 165 Mrd. EUR in direktem Zusammenhang mit gemeinsamen EU-Finanzierungsquellen in Form von Zuschüssen und Finanzierungsinstrumenten. Zu den weiteren von der EU eingeleiteten Schritten gehören Maßnahmen zur Förderung der Liquidität, für flexiblere Vorschriften oder zur Einführung von Garantieinstrumenten. Alle sonstigen direkten haushaltsbasierten Maßnahmen bestanden aus Schritten, die von den Mitgliedstaaten ausgingen bzw. derzeit von ihnen unternommen werden. Der Anteil der EU-Maßnahmen nimmt allmählich zu.

3.1.6.

Das jüngste Paket der Europäischen Kommission zur künftigen Verteilung der EU-Mittel — einschließlich eines Vorschlags für ein zeitlich befristetes europäisches Aufbauinstrument („Next Generation EU“) und einer wesentlichen Anpassung des ursprünglichen Vorschlags für den mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) der EU für den Zeitraum 2021-2027 — kommt in diesem Bereich praktisch eine Revolution gleich.

3.1.7.

Schließlich ist auch das Ende Mai angekündigte umfassende Paket ein wesentlicher Beitrag der Europäischen Kommission zur Lösung der derzeitigen Lage. Es ist mit einem robusten und zielgerichteten neuen Instrument verbunden, das ausschließlich auf die Beendigung der Covid-19-Krise sowie den anschließenden Neustart und Wiederaufbau ausgerichtet ist. Es soll sich am tatsächlichen Bedarf orientieren, damit der Binnenmarkt homogen und funktionsfähig bleibt. Das Finanzierungsmodell erscheint recht sinnvoll und stellt sowohl eine Innovation als auch einen Ausdruck der Solidarität gegenüber den Mitgliedstaaten dar. Das künftige Aufbauinstrument muss den neuen MFR ergänzen, in dem es auch andere EU-Prioritäten, die nicht unbedingt mit der Pandemie zusammenhängen, ausreichend zu berücksichtigen gilt (z. B. der europäische Grüne Deal, die Verbesserung des Binnenmarkts und der Bedingungen für die Wettbewerbsfähigkeit der EU, die europäische Säule sozialer Rechte und die schrittweise Anpassung an die Grundsätze der nachhaltigen Entwicklung, internationale Verträge und Übereinkommen, die von der EU und ihren Mitgliedstaaten unterzeichnet und ratifiziert werden).

3.2.   Analyse und Schlussfolgerungen in Bezug auf die Frage, ob die Maßnahmen angemessen bzw. ausreichend sind

3.2.1.

Wie bereits dargelegt, ist die richtige Lösung angesichts des komplexen Problems nur mit einem gut koordinierten politischen Instrumentarium und klar zugewiesenen Kompetenzen der einzelnen Akteure sowie einschlägigen Zielvorgaben und einem Zeitplan für die Maßnahmen möglich. Unter den beschlossenen Maßnahmen finden sich einige neue, innovative Ansätze, die auch für die Zukunft anwendbar sind.

3.2.2.

Dies ist das erste Mal seit der letzten Krise und ihren Folgen, dass der neu eingerichtete ESM zur Stabilisierung des makroökonomischen Umfelds des Euro-Währungsgebiets eingesetzt werden kann. Auch die aktuellen geldpolitischen Maßnahmen sind enorm wichtig, damit der Finanzsektor auch künftig effizient funktioniert und über ausreichend Liquidität verfügt. Von großer Bedeutung sind auch die Maßnahmen für flexiblere Regeln für staatliche Beihilfen sowie Haushaltsdisziplin, die es ermöglichen, Geld im Umlauf zu halten, wenn die Gefahr einer sinkenden Gesamtnachfrage zunimmt. Entscheidend ist, dass alle von der Krise Betroffenen (Einzelpersonen, Unternehmen sowie gemeinnützige Organisationen) so rasch wie möglich unterstützt werden, indem Verbindlichkeiten gestundet und Ausgleichszahlungen für während des Lockdowns erlittene Einbußen gewährt werden.

3.2.3.

Auch die Notfallmaßnahmen waren in hohem Maße angemessen. Die Realität hat gezeigt, dass die Mitgliedstaaten in einer Zeit tödlicher Gefahren nach wie vor allein zurechtkommen wollen. Nicht nur aus praktischen Gründen, sondern auch um den Werten des EU-Binnenmarkts Geltung zu verleihen, wären jedoch koordinierte Maßnahmen im Zusammenhang mit der Bereitstellung wesentlicher medizinischer Güter und Ausrüstungen erforderlich gewesen. Sie dienen auch als Anregung für die Strategie zur Aufhebung der Maßnahmen und Beschränkungen, die sorgfältig abgestimmt sein muss. Die Krisensituation eröffnet auch ein weites Einsatzfeld für garantie- und kreditbasierte Instrumente, in diesem Fall vor allem durch das Instrumentarium der EIB. Dies zeigt, dass im Rahmen der Mittelzuweisung in Bezug auf das öffentliche Interesse mehr privates Kapital mobilisiert werden muss. Wenn der tatsächliche Mittelbedarf die begrenzten Ressourcen der öffentlichen Haushalte derart massiv überschreitet, ist dies die einzige Lösung, die in einer Zeit der neuen Normalität ausgebaut werden kann.

3.2.4.

Wie die Krise vor zehn Jahren zeigt auch die jetzige, dass der EU-Haushalt bei weitem nicht dafür ausgelegt ist, auf unerwartete Schocks zu reagieren, insbesondere wenn die Schocks am Ende des Finanzrahmens eintreten. In punkto Flexibilität des EU-Haushalts zeigt sich immer wieder eine der größten Schwächen der EU-Finanzarchitektur. Wenn wirklich erhebliche finanzielle Mittel mobilisiert werden müssen, dann muss ein neues Instrument (wie der Aufbaufonds Next Generation EU) geschaffen werden, andernfalls muss man sich darauf verlassen, dass dies die Mitgliedstaaten tun. Die Situation zeigt eindeutig, dass das Finanzsystem der EU weiter verbessert werden muss, insbesondere für den Fall unerwarteter Schocks, denn das gegenwärtige Modell bietet der EU eine nur unzureichende gemeinsame finanzielle Grundlage, um die makroökonomische Stabilität der EU und des Euro-Währungsgebiets zu unterstützen.

3.3.   Bewertung der Zuständigkeiten der EU-Institutionen zur Ergreifung solcher Maßnahmen

3.3.1.

Nach der obenstehenden Beschreibung und Analyse begrüßen wir nachdrücklich die richtige und rasche Reaktion der EZB und der Euro-Gruppe zur Aktivierung des ESM. Besonders wichtig war auch die Reaktion der Europäischen Kommission, insbesondere in Bezug auf die Verabschiedung flexiblerer Regelungen und Notfallmaßnahmen zur Unterstützung der Lieferketten für Güter und Ausrüstungen bei Ausbruch und Verbreitung der Pandemie. Nach einiger Zeit hat die Kommission dann zunehmend das Heft in die Hand genommen und im Mai ein umfangreiches Paket vorgeschlagen und umgesetzt, einschließlich des überarbeiteten neuen Vorschlags für den MFR und des Aufbauplans „New Generation EU“. Nun müssen die Mitgliedstaaten Unterstützung leisten, damit eine Einigung über das Paket erzielt wird und es so rasch wie möglich in die Praxis umgesetzt werden kann. Die wichtigste Lehre, die gezogen werden kann, ist jedoch, dass die EU als Ganzes nach wie vor sehr anfällig für große exogene Schocks ist und trotz ständiger Verbesserungen in bestimmter Hinsicht nicht gewappnet ist. Das anschaulichste Beispiel dafür ist die sehr eingeschränkte Flexibilität und Reaktionsfähigkeit des EU-Haushalts.

3.3.2.

Zudem haben die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten erst nach einiger Zeit begonnen, Maßnahmen zur Wahrung der Integrität, Einheit und Effizienz des Binnenmarkts zu ergreifen, der die wichtigste wirtschaftliche Errungenschaft der EU-Integration ist.

3.4.   Szenarien und Herausforderungen für die Zukunft

3.4.1.

Dem wahrscheinlichsten Szenario zufolge werden wir im zweiten Quartal 2020 die konjunkturelle Talsohle erreichen, wobei sich in der zweiten Hälfte allmählich Anzeichen einer Erholung zeigen werden. Wenn es nicht zu einer zweiten Welle der Pandemie kommt und die Strategien für die Aufhebung der Beschränkungen und den Wiederaufbau angemessen und effizient greifen, wird der Aufschwung voraussichtlich 2021 anhalten, und die Wirtschaftsleistung wird 2022 bereits wieder den Stand vor der COVID-19-Pandemie erreichen, für die Investitionstätigkeit wird dies 2023 der Fall sein. Dieses Szenario gilt als realistisch, wenn auch recht optimistisch. Da jedoch zahlreiche Unsicherheitsfaktoren bestehen, sollte die EU auch auf weniger positive Entwicklungen vorbereitet sein, möglicherweise auch die Wiedereinführung von Beschränkungen, weitere Notfallmaßnahmen, größere Anstrengungen zur Abmilderung der Folgen und weitere gezielte Hilfen für bedürftige Unternehmen und Bürger.

3.4.2.

Die aktuelle Situation ist nicht einfach nur eine Phase des Wirtschaftszyklus, sondern auch ein wichtiger und entscheidender Moment für strukturelle Veränderungen und Reformen der Wirtschafts- und Sozialsysteme und der entsprechenden Organisation in Europa. Aktuelles Ziel ist nicht nur, die Wirtschaft praktisch wieder in Gang zu bringen (das heißt, das vor COVID-19 registrierte Niveau wieder zu erreichen), sondern auch — und dies ist vielleicht noch wichtiger —, erhebliche quantitative und qualitative Veränderungen zu konzipieren und umzusetzen. Ziel ist es, unser soziales, wirtschaftliches und ökologisches Modell allgemein zu bewerten und seine Vor- und Nachteile zu ermitteln. Der grundlegende Wiederaufbau muss nicht nur in neuen oder angepassten Strategien Ausdruck finden, sondern auch in neuen Zuständigkeiten für alle Akteure gemäß dem Subsidiaritätsprinzip (in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den EU-Institutionen und auch intern zwischen den EU-Institutionen). Es ist Zeit, der Frage nachzugehen, warum unsere aktuellen Sozial- und Wirtschaftsstrukturen so viele Menschen nicht vor derartigen Schocks schützen konnten. Die aktuelle Pandemie hat die besondere Anfälligkeit von Menschen aufgezeigt, die aufgrund ihrer prekären Arbeitsverhältnisse in Notzeiten nicht auf Sozialschutz und Beurlaubungsregeln zurückgreifen können, sowie von Menschen, die von ihren Gemeinschaften und Unterstützungsnetzen abgeschnitten waren.

3.4.3.

Die wichtigsten Aspekte der wirtschaftlichen Erholung und des Wiederaufbaus sind unter anderem:

Erschließung des vollen Potenzials des Binnenmarktes unter Wahrung seiner Integrität, Funktionalität und Effizienz und Wiederherstellung seiner Wettbewerbsfähigkeit,

Ergänzung des Binnenmarktes mit einer ehrgeizigen Sozialagenda, insbesondere die vollständige Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte, um eine soziale Aufwärtskonvergenz sicherzustellen,

Fortsetzung der erforderlichen strukturellen Veränderungen und damit verbundenen Investitionen, vor allem in Bezug auf digitale, intelligente und soziale Innovationen und die Ökowende,

ständige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der EU,

Schaffung der Voraussetzungen für die Stärkung der Selbstversorgung der EU und ihrer Widerstandsfähigkeit bei der Bewältigung globaler Auswirkungen,

Schaffung der Voraussetzungen, damit die EU die Kontrolle über strategische Vermögenswerte und Branchen behält,

Förderung des Arbeitsmarktzugangs für alle im Hinblick auf eine inklusive und resiliente Erwerbsbevölkerung,

Investitionen in die Inklusion bestimmter Randgruppen, um deren vollumfängliche soziale und wirtschaftliche Teilhabe zu sichern,

erhebliche Verbesserung der Lieferketten in der EU für den Fall von Gefahren oder Notlagen.

4.   Post-COVID-19-Krise: Chance für und Notwendigkeit von Veränderungen in der Europäischen Union

4.1.   Der „Schwarze Schwan“

4.1.1.

Viele Beobachter verbinden die COVID-19-Krise mit dem Begriff des „Schwarzen Schwans“, den der libanesische Mathematiker Nassim Nicholas Taleb geprägt hat. Dabei handelt es sich um ein „seltenes und unwahrscheinliches Ereignis, das nicht den Erwartungen des Menschen entspricht und dabei disruptiv wirkt, weil es Menschenleben erschüttern, Wahrnehmungen verändern und die von diesem Ereignis betroffenen Gemeinschaften für immer verändern kann“ (8). Haben wir es bei der COVID-19-Krise jedoch wirklich mit einem Schwarzen Schwan zu tun? Kam sie so unerwartet? Oder haben wir unsere Gesundheitssysteme, die strategische Produktion und die Sozialstrukturen durch eine Reihe falscher Entscheidungen geschwächt? „Business as usual“ ist keine politische Option mehr, wenn wir die Auswirkungen der Krise bewältigen wollen. Europa hat die Möglichkeit und die Chance, eine andere Welt aufzubauen, und die EU muss dabei eine wichtige Rolle einnehmen.

4.1.2.

Für den Wiederaufbau nach der Krise sind deshalb ein anderer Maßnahmenmix und eine andere zeitliche Planung der Maßnahmen erforderlich. Bei gutem Management können wir diese Krise gemeinsam bewältigen, Leben und gesellschaftliches Wohlergehen retten, unsere sozioökonomischen Modelle noch stärker auf die Menschen und die natürliche Welt ausrichten und globale Partnerschaften für nachhaltige Entwicklung fördern.

4.1.3.

Wir müssen uns deshalb nun auf das konzentrieren, was für alle grundlegend ist: Unterstützung für Unternehmen bei der Überwindung der Krise, damit sie menschenwürdige Arbeitsplätze schaffen können, gute Lebens- und Arbeitsbedingungen, gleicher Zugang zur Gesundheitsversorgung, saubere Lebensmittel, Wasser, Luft und Verbraucherprodukte, eine gesunde Natur, ein sicheres Klima für die kommende Generation, eine immer inklusivere und barrierefreiere Gesellschaft und starke und funktionierende Demokratien, die uns auch künftig in Zeiten der Not beschützen. Um dies zu erreichen, müssen mit Ehrgeiz und zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Entscheidungen treffen: Wir brauchen deshalb einen Plan für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung der EU.

4.1.4.

Die Europäische Kommission muss konkrete Maßnahmen ergreifen, um Regierungen davon abzuhalten, einen „Ausnahmezustand“ aufrecht zu erhalten, der die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit aushöhlt. Die Regierungen dürfen die Coronavirus-Krise nicht missbrauchen, um Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die über das hinausgehen, was zur Bewältigung der Krise unbedingt nötig ist — also Maßnahmen, die im Widerspruch zum Datenschutz, zu ordnungsgemäße Rechtsverfahren, den Zuständigkeiten und Aufgaben der Justiz sowie den Rechten der Bürger und der Zivilgesellschaft stehen. Alle ergriffenen Maßnahmen müssen angemessen sein und der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit dienen. Insbesondere muss die Meinungsfreiheit für die Menschen gewahrt werden, die auf die Probleme aufgrund der aktuellen Lage hinweisen.

4.2.   Leitlinien für einen Plan für die wirtschaftliche Erholung und den Wiederaufbau der EU

4.2.1.

Der EWSA ist überzeugt, dass die wirtschaftliche Erholung von den Folgen der Coronavirus-Krise nur dann gelingen kann, wenn sie mit einem Umbau unserer Gesellschaft einhergeht: Wir müssen uns sowohl auf den Wiederaufbau als auch auf die wirtschaftliche Erholung konzentrieren. Wie können nicht einfach nur die alten Zustände wiederherstellen, wir müssen sie neu strukturieren und verbessern. Nach Auffassung des EWSA muss die Neustrukturierung und Verbesserung auf den Prinzipien für unser gesamtes Handeln beruhen: Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarktes, Schutz der Menschenrechte, der demokratischen Werte und der Rechtsstaatlichkeit, Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele, einer Kreislaufwirtschaft und einer klimaneutrale EU bis spätestens 2050. Auch müssen wir verantwortliches Regierungshandeln und demokratische Rechenschaftspflicht gewährleisten.

4.2.2.

Wie gut und umfassend die Maßnahmen auch sind, können sie doch nur Wirkung zeigen und auf Unterstützung hoffen, wenn sie vor Ort ankommen und die Menschen erreichen, für die sie gedacht sind. Daher müssen die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten nach Kräften für eine wirksame Umsetzung Sorge tragen.

4.2.3.

Wir müssen aus dem sozialen und gesellschaftlichen Versagen lernen, das zu einer unverhältnismäßig hohen Zahl an Opfern während dieser Pandemie geführt hat. Konkret sind hier Betreuungseinrichtungen für Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen gemeint. Sie wurden in der Krise zu Ansteckungsherden, in denen sich die Todesfälle häuften. Dieser Weckruf muss verdeutlichen, dass keine EU-Mittel in Einrichtungen investiert werden dürfen, in denen Menschen nicht nur das Recht verwehrt wird, selbst zu entscheiden, wie sie leben wollen, sondern die auch schlecht geeignet sind, um Menschen im Falle höherer Gewalt zu schützen.

4.2.4.

Die Coronavirus-Krise hat leider auch deutlich gemacht, dass es von grundlegender Bedeutung ist, die intensive pädagogische Arbeit in der gesamten EU zu vertiefen, die auf eine Bürgerkultur der Menschenrechte und der demokratischen Koexistenz auf der Grundlage der Prinzipien und Werte von Artikel 2 AEUV ausgerichtet ist. Wir bekräftigen unser entschlossenes und dauerhaftes Eintreten für die Grundwerte der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, wie sie in den EU-Gründungsverträgen verankert sind.

4.2.5.

Solidarität ist der Schlüssel zur Bewältigung der Krise. Solidarität mit den Pflegerinnen und Pflegern in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Solidarität mit den Arbeitern, die keinen Lohn erhalten, und mit Arbeitgebern, die auf Gehälter und Boni verzichten, um ihr Unternehmen zu retten. Solidarität der Regierungen mit der Wirtschaft, der Kultur und anderen Bereichen der Gesellschaft, die für ihr Überleben dringend Unterstützung benötigen. Vor allem aber Solidarität zwischen den Ländern, insbesondere den wirtschaftlich so eng miteinander verflochtenen Mitgliedstaaten, die die Auswirkungen der Krise nur mit einem gemeinsamen und kooperativen Ansatz bewältigen können.

4.2.6.

Ein groß angelegter Plan für grüne Investitionen wird die nötigen wirtschaftlichen Impulse liefern und Widerstandsfähigkeit bei künftigen Schocks aufbauen. Die Bewältigung einer so hochgesteckten Aufgabe, wie sie eine solche Transformation darstellt, kann nur unter ganz bestimmten Bedingungen gelingen, die ausdrücklich anerkannt werden müssen. Die wirtschaftlichen und die ökologischen Bestrebungen des EU-Aufbauplans für die Zeit nach der Coronavirus-Krise sollten Hand in Hand gehen und beiden Aspekten, Wirtschaft wie Umwelt, gleichermaßen zugutekommen. Dies erfordert eine strenge Auswahl der Investitionsprogramme, ganz besonders für Branchen mit einem hohem Potenzial zur Belebung der Wirtschaft, Schaffung von Arbeitsplätzen und ökologischer Neuausrichtung (grüne Konjunkturprogramme).

4.2.7.

Dazu sollte ein europäisches grünes Konjunkturprogramm konzipiert werden, das zwei grundlegenden Zielen dient: Erstens der Belebung der Wirtschaft und der Schaffung neuer bzw. der Sicherung gefährdeter Arbeitsplätze, zweitens der Förderung der Neuausrichtung der europäischen Wirtschaft auf eine saubere und resiliente Zukunft. Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans erklärte dazu in einem Tweet: Durch den wirtschaftlichen Wiederaufbau, den wir vorschlagen, wird die Gesellschaft geschaffen, die wir und die nächsten Generationen brauchen: eine saubere, prosperierende und resiliente Gesellschaft. „Eine Gesellschaft, in der niemand zurückgelassen wird.“

4.2.8.

Wir brauchen eine Gesellschaft, die auf Gegenseitigkeit aufbaut. Wenn öffentliche Ressourcen eingesetzt werden, um dem privaten Sektor Zukunftsperspektiven zu bieten, dann darf die Gesellschaft berechtigterweise auch erwarten, dass ihr etwas zurückgegeben wird. Gemeint sind hier Vereinbarungen über die Entrichtung von Steuern, über gute und soziale Arbeitgeber, den Verzicht auf die Zahlung von Dividenden und Boni sowie die Verpflichtung, Anstrengungen zur Reduzierung der CO2-Emissionen zu unternehmen, die Umweltvorschriften einzuhalten und die Mobilitätspolitik der Unternehmen umweltfreundlicher zu gestalten.

4.2.9.

Für das gegenwärtige Wirtschaftsmodell ist das BIP das Maß aller Dinge (Fetisch), mit dem allerdings noch nie erfasst werden konnte, was für den Menschen wirklich zählt. Heute ein neues Modell der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung für die EU anzudenken, bedeutet nach Auffassung des EWSA, diesen wichtigen wirtschaftlichen Indikator mit einem ebenso wichtigen anderen zusammenzuführen: dem Gemeinwohl.

4.2.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass im Zentrum des Plans für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung die Menschen und die Zukunft unseres Planeten stehen müssen. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, kurzfristig möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten. Wichtig ist aber auch, die fernere Zukunft im Auge zu behalten. Eine zukunftsorientierte Wirtschaft berücksichtigt die Bedürfnisse der Gesellschaft, trägt nicht zum Klimawandel bei, nutzt die Ressourcen auf intelligente Weise und ergänzt die Erwerbsmöglichkeiten der Europäer durch eine gesunde Umwelt und gute Beschäftigung. Das muss unser Ziel am Ende des Wegs sein, eine nachhaltige Zukunft. Eine zukunftsträchtige Wirtschaft hängt auch davon ab, dass sie für alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zugänglich ist und dass jeder einen Beitrag zu seiner Gemeinschaft und der Gesellschaft insgesamt leisten kann. Wir müssen Lehren aus der während der Krise neu entwickelten Flexibilität der Arbeitgeber ziehen, um den Bedürfnissen der besonders arbeitsmarktfernen Menschen Rechnung zu tragen (Menschen mit Behinderungen, Langzeitarbeitslose, ältere Arbeitnehmer), um ihre Einbeziehung in eine neue, grünere Wirtschaft zu erleichtern. Eine nachhaltige Zukunft muss unser Ziel am Ende des Weges sein.

4.2.11.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten dafür sorgen, dass neue, saubere Wirtschaftsunternehmen, vor allem Start-ups und KMU, Zugang zu dem Kapital haben, das sie zur weiteren Entwicklung der Lösungen von morgen benötigen.

4.2.12.

Die Sozialpartner müssen in die Konzipierung und Stärkung von Unterstützungsmaßnahmen in einem abgestimmten europäischen Rahmen einbezogen werden, die den wirtschaftlichen Ausfall in vielen Branchen kompensieren, um alle Arten von Arbeitnehmern und kleinen Unternehmen zu schützen. Nötig sind angemessene und nachhaltige Leistungen bei Arbeitslosigkeit und sonstige Formen der Unterstützung, einschl. europäischer Mindeststandards für die Netto-Ersatzquote, die Dauer und die Anspruchsberechtigten für Arbeitslosenleistungen. In Branchen, in denen dies möglich ist, können in Absprache mit den Sozialpartnern Kurzarbeitsregelungen eingeführt werden. In einigen Mitgliedstaaten können Arbeitnehmer, die sich in Quarantäne befinden, Krankengeld erhalten. Eine weitere Möglichkeit, Unternehmen, Arbeitnehmer und Selbständigen zu entlasten, ist die Vereinfachung der Regelungen für den Zugang zu Teleheimarbeit in Absprache mit den Sozialpartnern. Darüber hinaus können die Regierungen finanzielle und technische Unterstützung für KMU leisten, damit diese rasch auf Teleheimarbeit umstellen können.

4.2.13.

Die Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger über die Organisationen der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft wird den Reformprozess in Wirtschaft und Gesellschaft ermöglichen. Die Mitgliedstaaten und die EU müssen deshalb dafür sorgen, dass niemand in diesem komplexen Prozess zurückgelassen wird, insbesondere Menschen in prekärsten Beschäftigungsverhältnissen und im Vorruhestandsalter, Menschen mit Behinderungen, Frauen in unterbewerteten Beschäftigungen, junge Menschen, vor allem, wenn sie zu sichtbaren Minderheiten gehören oder einen Migrationshintergrund haben, und insbesondere Menschen, die zu mehr als einer dieser Gruppen gehören.

5.   Der Fahrplan für die Erholung

Der EWSA befürwortet eine umweltfreundliche Wiederherstellung, eine beherzte soziale Wiederherstellung und eine kräftige wirtschaftliche Wiederherstellung. Eine so ehrgeizige und transformative Agenda ist machbar, wenn sie auf sechs Grundsätzen beruht: Solidarität, Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit, Beschäftigungssicherung, Einkommenssicherung und Teilhabe. Je stärker die Wiederherstellungsmaßnahmen sind und je besser sie auf die Situation der Mitgliedstaaten und ihrer Bevölkerung zugeschnitten sind, desto glaubwürdiger wird die EU und desto besser kann sie die beispiellosen Herausforderungen meistern, vor denen wir in dieser Krise stehen.

5.1.   Der Binnenmarkt

5.1.1.

Die Binnenmarktstrategie steht im Mittelpunkt des europäischen Projekts. Sie ermöglicht den freieren Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitelverkehr und eröffnet Chancen für europäische Unternehmen, Verbraucher und Arbeitnehmer. Es bedarf weiterer Maßnahmen, um das volle Binnenmarktpotenzial durch die Beseitigung von Hindernissen zu erschließen. Zudem muss sich der Binnenmarkt nach der Krise und im Kontext anderer Aspekte eines sich wandelnden Umfelds wie der Digitalisierung neuen Ideen und Unternehmensmodellen anpassen. Daher muss der Binnenmarkt wiederhergestellt, neu belebt und umgebaut werden. Zu den kurzfristigen Schritten gehört eine unverzügliche Öffnung der Grenzen. Darüber hinaus muss kurzfristig in zwei Bereichen gehandelt werden:

Spannungen abbauen. Die sich abzeichnenden „Schieflagen“ sind ein ernster Grund zur Sorge. Die Konjunkturpakete der Mitgliedstaaten sind sehr unterschiedlich und haben (ungeachtet der guten Absicht einer Abfederung des Nachfrageschocks) zu ungleichen Bedingungen unter den Mitgliedstaaten geführt. Des Weiteren muss die Frage staatlicher Beihilfen erörtert und aus sektoraler Sicht analysiert werden. Dabei wird zu prüfen sein, inwieweit diese Maßnahmen den Wettbewerb und die Ausgangsbedingungen kurz- und langfristig verzerren.

Wirtschaft und Produktivität ankurbeln. Wir brauchen Produktivität in der Realwirtschaft (d. h. Arbeitsplätze, Kaufkraft und grundlegende Produkte und Dienstleistungen). Produktivität äußert sich in unterschiedlicher Form und kann durch verschiedene Geschäftsmodelle erreicht werden, wir müssen aber in diesem Bereich handeln, wenn wir ein weiteres Aufgehen der Ungleichheitsschere verhindern wollen. Um den Wirtschaftsmotor wieder anzulassen, brauchen wir Unterstützungspakete und ein KMU- und industriefreundliches Umfeld. Als Rückgrat der europäischen Wirtschaft brauchen KMU eine besondere Unterstützung, die ihnen keinen Mehraufwand oder Bürokratie verursacht. Die KMU werden nur mit finanzieller Hilfe der EU und der Mitgliedstaaten wieder auf die Beine kommen. In dieser Hinsicht sind Zuschüsse, Kredite, die Sicherstellung der Liquidität, steuerliche Anreize, günstige Bedingungen für die Weiterbeschäftigung oder Neueinstellung von Mitarbeitern, eine Überarbeitung des Insolvenzrechts und andere Formen der Unterstützung wichtig. Im Bereich des Insolvenzrechts sollte die EU gesetzgeberisch tätig werden, damit kleine Betriebe, die aufgrund von COVID-19 bankrottgingen, rasch wieder neugegründet werden können. Diese Maßnahmen sollten zeitlich begrenzt sein.

5.2.   Industriestrategie

5.2.1.

Nötig ist eine gut koordinierte europäische Industriepolitik, die sowohl auf die gegenwärtigen Probleme in der COVID-19-Krise als auch die Herausforderungen in der Zeit danach eingeht und im Zeichen von Digitalisierung und Nachhaltigkeit steht. Dies muss durch massive Investitionen in nachhaltige Wirtschafts- und Unternehmensstrukturen und in die Schaffung guter regulärer unbefristeter Arbeitsverträge flankiert werden. Die Nutzung des Innovationspotenzials kleiner und mittlerer Unternehmen und der Übergang zu einer inklusiven, kreislauforientierten und klimaneutralen Wirtschaft könnte sowohl die langfristige Ressourcensicherheit als auch die kurzfristige Versorgung verbessern, was für künftige Herausforderungen wichtig wäre.

5.2.2.

Schlüsselindustrien und -branchen müssen ermittelt und unterstützt werden, von den Humanressourcen bis hin zur Forschung. Dies erfordert eine europäische Industriepolitik, die diese strategischen Sektoren vor dem Markt schützt und die Versorgungssicherheit mit wichtigen Komponenten wie Beatmungsgeräten, Masken und anderen Produkten in einer Pandemie gewährleistet. Das bedeutet, dass Unternehmen, die Produktionskapazitäten nach Europa zurückverlagern, unterstützt werden müssen, damit die EU wieder die Kontrolle über die Produktion hat und ihre Autonomie auf dem Weltmarkt wahrt, natürlich im Einklang mit einer gerechten Ökowende. Diese Konzerne und Unternehmen müssen nachhaltig sein, eine gute Arbeitnehmerpartizipation aufweisen und beim Grünen Deal als dem Rahmen für Erholungs- und Wiederaufbaupläne dabei sein.

5.2.3.

Das Konzept der Serviceorientierung bedeutet, solche Unternehmen zu hegen, die am meisten zum gemeinsamen Wohlstand beitragen, zum Beispiel in den Bereichen Gesundheit, Sozialfürsorge, Bildung, Renovierung, Kultur, Handwerk und Kreativität, und die von einem fairen, wettbewerbsorientierten und nachhaltigen Unternehmensumfeld ebenso profitieren, wie sie dazu beitragen. Natürlich gibt es dringliche soziale und umweltbedingte Erfordernisse, die Hand in Hand gehen, doch wird der Schutz der Umwelt mehr denn je unser gesamtes Handeln und unsere Politik bestimmen müssen, um die Zerstörung unseres (Öko-)Systems abzuwenden. In diesem Zusammenhang müssen zum Beispiel Finanzhilfen für Unternehmen in Verschmutzungssektoren an eine wirkliche Umstellung auf sozial- und umweltverträgliche Produktionsweisen geknüpft werden.

5.2.4.

Europa muss Aktivitäten finanzieren, die zwei Kriterien erfüllen: Rückverlagerung strategischer Produktion, um Europa unabhängig zu machen, insbesondere im Bereich des Gesundheitsschutzes und der gesundheitlichen Notversorgung, und um gute Arbeitsplätze zu schaffen, und Fokussetzung auf nachhaltige Investitionen, die sozial verantwortlich und umweltfreundlich sind. Kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) können ebenso wie Großunternehmen und sozialwirtschaftliche Unternehmen eine entscheidende Rolle bei der Umstrukturierung des europäischen Produktionssystems spielen.

5.3.   Der Grüne Deal

5.3.1.

Bei der Förderung des Übergangs zu einer nachhaltigeren und widerstandsfähigeren europäischen Wirtschaft müssen grüne Konjunkturakzente dafür sorgen, dass der Wiederaufbau inklusiv ist und niemand in Europa zurückgelassen wird.

5.3.2.

Nach dem Grundsatz der Schadensvermeidung sollten Investitionen, die im Rahmen der kurzfristigen Konjunkturbelebung getätigt werden, die strukturelle Umstellung der europäischen Wirtschaft auf Null-Schadstoff-Ausstoß, Wiederherstellung der biologischen Vielfalt und Klimaneutralität bis 2050 beschleunigen oder zumindest nicht bremsen. Zu diesem Zweck könnten „grüne Stimuli“ insbesondere auf Maßnahmen abzielen, die gut für eine höhere Ressourceneffizienz, die Wahrung unseres Naturkapitals und die mittel- und langfristige Verringerung der Treibhausgasemissionen mit dem Fernziel Klimaneutralität sind.

5.3.3.

Wichtig ist auch, dass grüne Konjunkturpakete zielgenau eingesetzt werden und wirtschaftliche Unterstützung und Anreize für Sektoren bringen, die eine möglichst große Wirkung auf die Gesamtnachfrage haben. Im Bestreben um eine maximale Wirtschaftsleistung sollten grüne Konjunkturanreize in Branchen ansetzen, die ein erhebliches Potenzial für die Schaffung von Arbeitsplätzen aufweisen, vorausgesetzt, die nötigen Qualifikationen stehen zur Verfügung. Auf diese Weise muss den asymmetrischen Folgen der Coronavirus-Krise, die die Volkswirtschaften in den südlichen EU-Mitgliedstaaten unverhältnismäßig stark getroffen haben, Rechnung getragen werden.

5.3.4.

Mit dem europäischen Grünen Deal hat die Europäische Union den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft eingeläutet. Es ist daher sinnvoll, die wirtschaftlichen Unterstützungsmaßnahmen mit einer weiteren Stimulierung dieses Übergangs zu kombinieren. Öffentliche Mittel müssen so eingesetzt werden, dass sie eine positive Wirkung auf Gesellschaft und Umwelt erzeugen. Für die Beschäftigung bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die gleichen Jobs oder die gleichen Wirtschaftstätigkeiten erhalten oder gerettet werden müssen. Wenn ein Unternehmen oder eine Branche in einer nachhaltigen Wirtschaft aussichtslos ist, kann das Hilfspaket auch für brancheninterne Veränderungen oder für einen Branchenwechsel genutzt werden.

5.3.5.

Der Grüne Deal erfordert in Zukunft widerstandsfähige und erfolgswillige Wirtschaftsakteure. Grenzüberschreitend tätige europäische Unternehmen sind relevante und gesellschaftlich wichtige Akteure. Sie sollten sich in ihren Geschäften von dem politischen Konzept des „gerechten Übergangs“ leiten lassen. Ein „nachhaltiges Unternehmen“ mit einer starken „Stimme der Arbeitnehmer“ ist ein wichtiger politischer Akteur, in dem verbindliche Unterrichtungs- und Anhörungsrechte sowie die Mitwirkung an der Unternehmensführung gewährleistet sind und makroökonomische Politik in Tarifverträgen berücksichtigt wird. Die Befähigung der Arbeitnehmer, Gewerkschaften und Betriebsräte, sich aktiv an der Umsetzung des unternehmenspolitischen Plans zu beteiligen, der auf dem Konzept des „nachhaltigen Unternehmens für einen gerechten Übergang“ beruht, eröffnet Perspektiven für gute Arbeitsplätze, anständige Arbeitsbedingungen in einem gesunden Umfeld und in lebenswerten Regionen.

5.3.6.

Die Unterstützungspakete sollten gestaffelt sein, da niemand vorhersagen kann, wie sich die Wirtschaft nach der Coronakrise entwickeln wird. Daher sprechen wir uns für eine stufenweise Durchführung der Fördermaßnahmen aus, damit Anpassungen je nach dem Fortschritt und der Bewertung eines Sektors vorgenommen werden können, was teilweise auf dem Umfang der positiven Auswirkungen auf Klima und Natur beruhen sollte.

5.3.7.

Der Grüne Deal muss das europäische Agrarmodell erhalten, das auf Qualität und Nachhaltigkeit beruht. Mit dem Wiederaufbauprogramm ist Folgendes zu fördern:

nachhaltigere Lebensmittelsysteme sowohl auf der Ebene der Erzeugung als auch auf der des Verbrauchs. Dies entspricht den Absichten der Kommission in ihrer Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ für nachhaltige Lebensmittel;

die Nahrungsmittelsouveränität der EU im Geiste der Solidarität zwischen den verschiedenen Formen der europäischen Landwirtschaft und der Integration wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Aspekte;

der ehrgeizige Vorschlag für die neue Biodiversitätsstrategie der EU. Die Biodiversitätsstrategie muss ein zentraler Bestandteil aller Wiederaufbauanstrengungen sein. Von einer ehrgeizigen Strategie würde ein starkes, einhelliges Signal für Umwelt, Klima, öffentliche Gesundheit und soziales Handeln ausgehen. Sie käme sowohl der GAP als auch dem europäischen Lebensmittelsystem zugute, deren Umbau hin zu mehr Nachhaltigkeit fortgesetzt werden könnte.

5.4.   Die Investitionsprioritäten

5.4.1.

Nachhaltige Investitionen in die Bevölkerung, zugängliche öffentliche Räume, die Gesundheitsfürsorge, inklusive Bildung, soziale Dienste, energieneutrales Bauen und energieneutrale Infrastruktur sowie in den Schutz und die Wiederherstellung der biologischen Vielfalt und in eine dezentrale Energieerzeugung werden für die Verwirklichung der Ökonomie des Wohlergehens entscheidend sein. Ein solcher Bereich, der vorrangig angegangen werden sollte, ist die energetische Sanierung von Gebäuden. Die Renovierungswelle sollte auch genutzt werden, um den Gebäudebestand gleichzeitig „zukunftstauglich“ zu machen, indem die Barrierefreiheit für eine alternde Bevölkerung und für eine zunehmende Zahl an Menschen mit Behinderungen verbessert wird.

5.4.2.

Das Baugewerbe ist wichtig: Die Renovierung von Millionen von Häusern, um sie energiesparender und nachhaltiger zu machen, hilft dieser Branche, wieder in Gang zu kommen, und bringt uns der Klimaneutralität einen Schritt näher. Bauen ist arbeitsintensiv, und der Energieverbrauch in Gebäuden (Beleuchtung, Heizung) macht ein Drittel der CO2-Emissionen in Europa aus. Das ist eine gewaltige Aufgabe, denn 75 % der Wohn- und Geschäftsgebäude stammen aus der Zeit, als es noch keine EU-Vorschriften für den Energieverbrauch gab. Die Renovierung des Wohnraums energiearmer Haushalte in der EU würde eine deutliche Senkung der Gesundheitsausgaben mit sich bringen. Frühere Studien zeigen, dass die Kosten der Energiearmut in einem modernen Gesundheitssystem im Durchschnitt dreimal höher sein dürften als die Kosten für Maßnahmen zur Wohnraumsanierung (9).

5.4.3.

Aufgrund der Alterung des Gebäude-, Architektur- und Infrastrukturbestands weist der EWSA darauf hin, dass ein angemessenes Investitionsvolumen mobilisiert werden muss, um die Sicherheit (in Erdbebengebieten) und Restrukturierung des Gebäudebestands, des architektonischen Erbes (Metropolregionen, Städte und Dörfer) und der Verkehrsinfrastrukturanlagen (Häfen, Brücken, Autobahnen usw.) zu gewährleisten.

5.4.4.

Der Ausbau von erneuerbarer und Niedrigemissions-Energie erfordert nicht nur die Installation geeigneter Anlagen, sondern auch die Modernisierung des gesamten europäischen Stromnetzes und der Techniken der Stromspeicherung.

5.4.5.

Der Wiederaufbauplan bietet die Gelegenheit, in den dringend benötigten öffentlichen Verkehr zu investieren und eine echte Verkehrswende herbeizuführen, sodass die Luftverschmutzung verringert und ein Beitrag zum Klimaschutz geleistet wird. Dies würde mehr Straßenbahnen, mehr Linienbusse und emissionsfreie Busse und eine echte Intermodalität in unseren Städten bedeuten. Es bedarf eines EU-Aktionsplans und einer umfangreichen finanziellen Unterstützung für die Modernisierung, den Ausbau und die Instandhaltung des Bahnnetzes, Investitionen in Züge, Nachtzüge, grenzüberschreitende Schienenverbindungen und andere Innovationen im Schienenverkehr. Durch eine Koordinierung auf EU-Ebene sollte sichergestellt werden, dass Kurzstreckenflüge durch nachhaltige Alternativen ersetzt werden. Der Verkehr muss runter von unseren Straßen. Mehr Güter müssen auf der Schiene, auf Binnenwasserwegen und auf See befördert werden (z. B. nachhaltiger Kurzstreckenseeverkehr).

5.4.6.

Es müssen die Grundlagen für eine emissionsfreie europäische Mobilitätsindustrie gelegt werden, die in der Lage ist, die steigende Nachfrage nach Alternativen zu Verbrennungsmotoren und nach Ladeinfrastruktur für Pkw, Lieferwagen, Busse und Lkw zu decken, zugleich aber auch das Angebot im Bahnverkehr zu steigern. Dazu gehören auch der Aufbau eines großflächigen Netzes von Ladestationen in ganz Europa und die Entwicklung nachhaltiger und leistungsstärkerer Batterien. Dies muss von Umschulungsprogrammen flankiert sein, die Arbeitnehmern, die aus dem auf fossilen Brennstoffen beruhenden Transportgewerbe ausscheiden, neue berufliche Chancen eröffnen.

5.4.7.

In mehreren Städten ist bereits festzustellen, dass der Lockdown die traditionelle Nutzung des städtischen Raumes und der Mobilität in Frage stellt und das Experimentieren begünstigt. Die Wiederaufbauphase kann auch von der Entwicklung des Radverkehrs weiter profitieren. Radfahren erleichtert das Abstandhalten, verringert zu Stoßzeiten das Fahrgastaufkommen im öffentlichen Verkehr, hat einen geringeren Raumbedarf und vereinfacht den Zugang zu lokalen Geschäften. Investitionen zur Verbesserung der Radinfrastruktur können rasch Wirkung im inner- und zwischenstädtischen Verkehr entfalten und die Fahrradnutzung stimulieren.

5.4.8.

Die Umstellung der Wirtschaft auf eine Kreislaufwirtschaft ist für den Erfolg des Grünen Deals von entscheidender Bedeutung. Darum müssen beispielsweise die Stahl- und Zementindustrie (als große Energieverbraucher) und die Chemiebranche anders organisiert werden.

5.4.9.

Mit dem Kerngedanken der Umstellung auf eine Kreislaufwirtschaft kann das Konjunkturpaket notwendige Infrastrukturentwicklungen erheblich beschleunigen und Innovationen im Bereich alternativer Werkstoffe und neuer Technologien fördern. Erstens sollte die EU zur Vermeidung von Verschwendung Initiativen zur Gründung von Start-ups und sozialwirtschaftlichen Unternehmen im Bereich der Reparatur und Wiederverwendung sowie einschlägige (Um-)Schulungen für diejenigen unterstützen, die durch den Konjunktureinbruch ihren Arbeitsplatz verlieren. Dies könnte insbesondere auf „Gebiete eines gerechten Übergangs“ zentriert werden, um diesen Regionen zu helfen, den Übergang vom Bergbau zum „Urban mining“ (d. h. der Rückgewinnung nützlicher Stoffe aus Abfall) zu schaffen.

5.4.10.

Zweitens ist die getrennte Sammlung von Siedlungsabfällen eine wesentliche Voraussetzung für die wirksame Wertgewinnung aus Abfällen durch Recycling. Die EU sollte daher die lokalen Gebietskörperschaften bei der Schließung von Investitionslücken für Infrastrukturen für die Sammlung, die Trennung und das Recycling von Siedlungsabfällen in den nächsten fünf Jahren unterstützen.

5.4.11.

Die Coronakrise zeigt, dass die digitale Revolution ein wichtiges Element für eine größere Krisenresilienz unserer Gesellschaft ist. Investitionen in die Digitalisierung wesentlicher Dienstleistungen und die Verbesserung der Fähigkeit von Regierungen, gesetzgebenden Organen und öffentlichen Einrichtungen, ihre Dienste auch in einer Krise weiter zu erbringen, sind von größter Bedeutung. Gleichzeitig müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass digitale Technologien nicht das Endziel, sondern nur ein Hilfsmittel sind. Der Rahmen, in dem sich digitale Technologien bewegen, muss in öffentlicher Verantwortung nach hohen Nachhaltigkeitsstandards geregelt werden. Er muss starke demokratische und technische Schutzmaßnahmen umfassen, verbunden mit Maßnahmen zur Kostenstützung und Wissensförderung, die niemanden zurücklassen. Im Einklang mit dem EU-Rechtsakt über Barrierefreiheit muss daher sichergestellt werden, dass die digitale Revolution die Barrierefreiheit für die mehr als 100 Mio. Bürger mit Behinderungen in der EU gewährleistet.

5.4.12.

Die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ sollte eine klare Richtung für das Lebensmittelsystem der EU nach der derzeitigen Gesundheitskrise vorgeben und Maßnahmen zugunsten nachhaltigerer, widerstandsfähigerer und fairerer Lebensmittelversorgungsketten fördern. Mit kurzfristigen Maßnahmen muss einem saisonalen Arbeitskräftemangel und Störungen der Lieferketten entgegengewirkt werden. Längerfristig müssen die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ und die Gemeinsame Agrarpolitik die Widerstandsfähigkeit und Nachhaltigkeit unseres Lebensmittelsystems erhöhen. Dazu müssen stärker diversifizierte Bewirtschaftungsmodelle aufgebaut, lokale Lebensmittelverteilungszentren und kürzere Lieferketten gefördert und der Marktzugang für Kleinbauern und umweltschonend arbeitende Fischer und Aquakulturerzeuger verbessert werden.

5.4.13.

Nötig sind Investitionen in Umschulungsprogramme in Branchen, die wahrscheinlich nicht zukunftssicher sind (z. B. weil sie in hohem Maße auf fossile Brennstoffe angewiesen sind). Sie müssen also nach Wegen suchen, weniger fossile Brennstoffe einzusetzen und umweltfreundlicher zu werden. Wir plädieren für eine gezielte Investitionspolitik, mit der durch verlorengegangene Jobs freigesetzte Erwerbstätige behutsam in Branchen umgelenkt werden, in denen ein Arbeitskräftemangel herrscht, namentlich in der Sozialwirtschaft und in den Sektoren der grünen Wirtschaft.

5.4.14.

Die Mitgliedstaaten müssen mehr in öffentliche Dienste investieren, denn die Krise hat gezeigt, dass gerade sie eine entscheidende Rolle bei der Rettung von Menschenleben und der Eindämmung der Pandemie spielen. Daher sollten die europäischen Staats- und Regierungschefs bei der Anwendung der Haushaltsvorschriften der EU die „Goldene Regel“ berücksichtigen, sodass öffentliche Investitionen von der Defizitberechnung ausgenommen werden und die Tragfähigkeit des bestehenden Schuldenstands berücksichtigt wird. Die EU sollte die Liberalisierung strategischer öffentlicher Dienste auf der Grundlage des Wettbewerbsrechts eingehend bewerten. Auch der Zugang zu öffentlichen Diensten sollte verbessert werden.

5.5.   Soziale Maßnahmen

5.5.1.

Die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte auf europäischer Ebene und in allen Mitgliedstaaten ist ein wichtiger Schritt, um proaktiv einen Prozess der sozialen Konvergenz einzuleiten. Die europäische Säule sozialer Rechte ist das Instrument zur Schaffung eines neuen und verbesserten sozialpolitischen Scoreboards.

5.5.2.

Wir müssen die Beschäftigung in den Mittelpunkt der EU-Strategie stellen. Dabei ist die Bedeutung von Fachwissen und dessen kontinuierlicher Anwendung im Rahmen des Systems der allgemeinen und beruflichen Bildung und des lebenslangen Lernens zu unterstreichen. Dies ermöglicht die Anpassung der europäischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an den Wandel des Produktionssystems im Zuge der Umstellung auf eine digitale und grüne Wirtschaft.

5.5.3.

In der Wiederaufbauphase nach der COVID-19-Krise ist die Neugestaltung der Arbeitswelt von entscheidender Bedeutung. Sowohl im privaten als auch im öffentlichen Gesundheits- und Pflegebereich war das Streben nach mehr Produktivität der Dienstleistungsqualität abträglich, wobei die Arbeitserfahrung vernachlässigt wurde. Das hatte während der Gesundheitskrise in den meisten EU-Ländern dramatische Folgen. Die Verlagerung hin zu Dienstleistungen würde zu einer arbeitsintensiveren Wirtschaft führen, was wiederum die Prekarität der Arbeitsplätze in diesen Branchen ausgleichen, die Beschäftigung ankurbeln und wieder mehr Arbeitsplätze in der Realwirtschaft entstehen lassen würde. Deshalb sind Strategien zur Förderung hochwertiger Arbeit in arbeitsintensiven Branchen, die hochwertige Dienstleistungen erbringen, von zentraler Bedeutung.

5.5.4.

Der EWSA begrüßt das aktualisierte Arbeitsprogramm 2020 der Europäischen Kommission (10) als Kompromiss mit dem Ziel, die soziale Dimension in der Strategie zur Konjunkturbelebung beizubehalten. Es gibt mehrere legislative und nichtlegislative Initiativen, die nicht verzögert oder aufgeschoben werden können, da sie die Säulen der Sozialagenda sind. Dazu zählen die Umsetzung der angenommenen Richtlinien nach dem bereits vereinbarten Zeitplan (Richtlinie über die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern, Richtlinie über transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen). Die Kommission hat ferner alle Initiativen bestätigt, die einen gerechten und sozial nachhaltigen Wiederaufbau fördern sollten, einschließlich der Initiativen in den Bereichen Lohntransparenz, Mindestlöhne, Steuergerechtigkeit, Jugendbeschäftigung, europäische Arbeitslosenrückversicherung, Kompetenzagenda und digitale Bildung, Plattformarbeit und EU-Vorschriften zur wirtschaftspolitischen Steuerung. Im Arbeitsprogramm fehlt eine Aktualisierung der Vorschriften über die Gesundheit und Sicherheit bei der Arbeit durch wirksame Präventivmaßnahmen am Arbeitsplatz.

5.5.5.

Eine starke soziale Erholung impliziert auch einen besseren Zugang zu Gewerkschaften und besseren Schutz. Wir müssen Tarifverhandlungen und die Demokratie am Arbeitsplatz fördern. Die EU und die Mitgliedstaaten müssen die Sozialpartner bei einer erheblichen Steigerung der Tarifbindung unterstützen.

5.5.6.

Gleichstellungsfragen müssen ebenfalls Berücksichtigung finden. Der durch die derzeitige COVID-19-Pandemie verursachte Konjunktureinbruch hat erhebliche Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frauen und Männern, und zwar sowohl in der Abschwungphase als auch in der anschließenden Erholungsphase. Im Vergleich zu „gewöhnlichen“ Rezessionen, von denen Männern unter dem Aspekt der Beschäftigung härter betroffen sind als Frauen, hat der Beschäftigungsrückgang infolge der Maßnahmen zur sozialen Distanzierung erhebliche Auswirkungen auf Branchen mit hohem Frauenanteil. Darüber hinaus hat die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten zu einem beträchtlichen Anstieg des Bedarfs an Kinderbetreuung geführt, was sich besonders auf erwerbstätige Mütter auswirkt. Die Auswirkungen der Krise auf erwerbstätige Mütter dürften aufgrund des Wertes ihrer Erfahrung auf den Arbeitsmarkt bestehen bleiben.

5.6.   Gesundheitssysteme

5.6.1.

Nicht zuletzt lautet eine der wichtigsten Lehren aus der Coronavirus-Krise, dass die Gesundheitssysteme in fast allen europäischen Ländern gestärkt werden müssen, indem der Schwerpunkt in erster Linie auf Prävention gelegt wird. Die Auswirkungen des Coronavirus belasten die Gesundheitssysteme in ganz Europa enorm; einige Länder sind stärker betroffen als andere, da sie in Bezug auf Personal (Ärzte und Krankenpflegekräfte), Fachkräfte, medizinische Geräte und Krankenhauskapazitäten unterschiedlich aufgestellt sind. Zwar fällt die Gesundheitsversorgung in die Zuständigkeit der einzelnen Länder, doch kennt die Ausbreitung des Virus keine Grenzen. Das Virus verbreitet sich in ganz Europa — sowohl innerhalb als auch außerhalb unserer Grenzen —, mit gesundheits-, sozial- und wirtschaftspolitischen Folgen, die gemeinsame Reaktionen auf europäischer Ebene erfordern.

5.6.2.

Die Coronavirus-Krise hat gezeigt, dass die EU von der Einfuhr von Medizinprodukten aus Drittstaaten abhängig ist. Die erforderlichen Investitionen in Gesundheitsschutz, Pflege (insbesondere Langzeitpflegedienstleistungen), Gesundheitsvorsorge sowie Maßnahmen für die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz müssen im Rahmen eines Lebenszyklusansatzes von den EU-Institutionen unterstützt werden.

5.6.3.

Die Coronavirus-Krise verdeutlicht, dass multinationale Pharmaunternehmen eine große Macht haben. Um die Unabhängigkeit der Pharmaindustrie zu stärken, muss auch ein großer europäischer Forschungsfonds für die Entwicklung neuer Arzneimittel und Impfstoffe eingerichtet werden. Die EU-Organe sollten über die erforderlichen Befugnisse verfügen, um die Bereitstellung, den Vertrieb und die Preise von grundlegenden medizinischen und dem Schutz dienenden Ausrüstungen im Binnenmarkt zu koordinieren.

5.7.   Internationale Beziehungen

5.7.1.

Die Europäische Union fußt auf gemeinsamen Werten, die unter keinen Umständen verhandelbar sind (11): Wahrung der Menschenwürde und der Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Diese Werte dürfen auch dann nicht missachtet werden, wenn die EU und ihre Mitgliedstaaten mit einer Notlage und den sich daraus ergebenden wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen konfrontiert sind. Sicherlich bedarf es einer raschen Reaktion auf die derzeitige Krise, die bestimmte außerordentliche und zeitlich begrenzte Maßnahmen rechtfertigt. Diese dürfen aber weder gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen noch die Demokratie, die Gewaltenteilung und die Grundrechte der Unionsbürgerinnen und -bürger in Frage stellen. Der EWSA dringt darauf, dass alle in diesem Zusammenhang ergriffenen politischen Maßnahmen voll und ganz im Einklang mit unseren gemeinsamen Werten stehen müssen, wie sie in Artikel 2 EUV verankert sind.

5.7.2.

Die Coronavirus-Krise hat gezeigt, dass der internationale Freihandel — selbst angesichts der vorhandenen Bestände an Nahrungs-, Gesundheits- und Industrieprodukten — keine Garantie für die Versorgungssicherheit bietet. Hinzu kommt ein Mangel an Transparenz und Rückverfolgbarkeit.

5.7.3.

Einige europäische Unternehmen, die industrielle Kapazitäten in Drittländern aufgebaut haben, sollten ermutigt werden, diese Kapazitäten in die EU zu verlagern. Die Rückverlagerung von Aktivitäten in den Industrie-, Agrar- und Dienstleistungssektoren sollte es ermöglichen, eine größere Autonomie gegenüber den internationalen Märkten zu schaffen, die Kontrolle über die Produktionsmethoden wiederzuerlangen und eine ökologische und soziale Umstellung der Aktivitäten zu erreichen. In einer solchen Situation könnten die betroffenen Unternehmen finanzielle Unterstützung von den Regierungen der Mitgliedstaaten erhalten, ohne dass die Vorschriften über staatliche Beihilfen angewandt werden.

5.7.4.

Die Krise hat auch deutlich gemacht, dass die Abhängigkeit der EU von China für einen Großteil der Produktion große Risiken birgt, insbesondere im medizinischen Bereich (z. B. was Schutzausrüstungen angeht). Um die Gesundheitssysteme in fast allen europäischen Ländern zu stärken, ist es sehr wichtig, diese Abhängigkeit von Schlüsselprodukten zu verringern. Dies kann durch die Ausweitung der Produktion in der EU (EU-Produktions-/Lieferkette) und den Ausbau der Produktionskapazitäten in Zusammenarbeit mit anderen Ländern, z. B. in Afrika (Produktions-/Lieferkette EU-Afrika), erreicht werden. Der Zusatznutzen dieses Vorgehens besteht darin, dass auch die am wenigsten entwickelten Länder neue Wirtschaftstätigkeiten entwickeln und ihre Gesundheitsversorgung stärken könnten.

5.7.5.

Nach der Pandemie sollte weltweit ein neues System der internationalen Beziehungen, der globalen Wirtschaft und der Solidarität geschaffen werden, einschließlich der Verpflichtung, den Wohlstand der Welt zu teilen und Leben zu retten sowie gesundheitsbezogene, wissenschaftliche, intellektuelle und industrielle Errungenschaften zu schützen. Die EU sollte in diesem neuen System internationaler Beziehungen beruhend auf Solidarität und Entwicklungszusammenarbeit eine führende Rolle übernehmen. Zudem sollte sie ihre Verpflichtungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit aufrechterhalten und nach Möglichkeit ausbauen.

5.7.6.

Durch die Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen in der Weltwirtschaft kann einerseits der Ausbeutung von Arbeitskräften und andererseits den ungerechtfertigten, übermäßigen Vorteilen für Unternehmen ein Ende bereitet werden. Die Einbettung der Normen der IAO und der Standards der nachhaltigen Entwicklung in die Regeln der WTO und anderer mit den Vereinten Nationen verbundener Agenturen könnte wesentlich zum Aufbau einer neuen, fairen Wirtschaftsordnung und einer gerechten und intelligenten Globalisierung beitragen. Die Regeln sollten entsprechend angepasst und künftig konsequenter angewandt werden, um alle materiellen und verfügbaren personellen Ressourcen da einzusetzen, wo Hilfe am dringendsten benötigt wird.

5.7.7.

Jeder Eingriff in die Grundrechte muss objektiv gerechtfertigt und befristet sein. Es muss unbedingt für eine möglichst schnelle Rückkehr zur Normalität, einschließlich der Achtung der demokratischen Grundprinzipien, gesorgt werden — und dies weltweit. Die Einschränkung der Menschenrechte — wie etwa des Versammlungsrechts, der Pressefreiheit und des Rechts auf Privatsphäre — darf niemals die „neue Normalität“ werden.

5.7.8.

Die geopolitische und strategische Rolle der EU bei der Förderung von Friedensprozessen muss wiederbelebt werden, um neue Chancen für die wirtschaftliche Entwicklung in den EU-Nachbarländern zu schaffen: Westbalkan, Partner im Europa-Mittelmeerraum und in Osteuropa und andere Konfliktgebiete.

5.7.8.1.

In dieser Hinsicht müssen der Europa-Mittelmeerraum und der Westbalkan wieder Regionen mit Entwicklungsmöglichkeiten werden, so wie in der Vergangenheit, als sie das Zentrum des Austauschs von Menschen, Gütern und Ideen waren. Deshalb müssen der Europa-Mittelmeerraum und der Westbalkan im Zentrum einer europäischen strategischen Politik der Integration und Vernetzung in den Bereichen Verkehr und Handel und Kulturaustausch mit einer spezifischen eigenen makroregionalen Strategie stehen. Um diese Entwicklung zu fördern, müssen den makroregionalen Strategien für den Mittelmeerraum und der europäischen Strategie für die städtischen Gebiete neue Impulse verliehen werden.

5.8.   Migration und die Zeit nach COVID-19

5.8.1.

Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie, der daraus resultierenden gewaltigen Tragödie für die nationalen Gesundheitssysteme und dem wirtschaftlichen Kollaps in allen Ländern schien die Frage der Migration von der Tagesordnung zu verschwinden und zweitrangig zu werden, was mit einer gewissen Gleichgültigkeit seitens der Öffentlichkeit einherging. Wegen der derzeitigen Krise dürfen Asylsuchende aber nicht im Stich gelassen werden. Grundlegende Schutzrechte stehen im Zentrum der europäischen Werte und dürfen nicht aufgegeben werden, wenn die Zeiten dafür ungünstig sind. Folgende Maßnahmen müssen wiedereingeführt werden:

Wiederaufnahme der Verfahren zur Erlangung von Aufenthaltstiteln und zur Anerkennung des Rechts auf Asyl in fast allen europäischen Ländern;

Lösung der gesundheitlichen Folgen durch die Überbelegung in Migranten-Aufnahmezentren;

Bekämpfung der Arbeitsplatzunsicherheit (die bereits zu einem Rückgang, wenn nicht gar zu einer vollständigen Einstellung der Geldüberweisungen von Migranten in ihre Heimatländer geführt hat, die häufig die einzige Quelle der Unterstützung für die dort verbliebenen Familienangehörigen sind);

Regularisierung des Status von Migranten, die in den Bereichen Pflege oder Landwirtschaft tätig sind;

Entwicklung eines obligatorischen, sicheren und wirksamen Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) mit dem Ziel, dass alle EU-Mitgliedstaaten ihre gemeinsamen Aufgaben unverzüglich wahrnehmen;

Konzeption und Entwicklung realistischer, legaler, sicherer und praktikabler Möglichkeiten für die Arbeitsmigration in die EU;

Einrichtung eines ständigen und effektiven Dialogs mit den Herkunftsländern der Migranten zur Entwicklung von Strukturen und Kommunikationskanälen;

Verstärkung der wirtschaftlichen und technischen Unterstützung für die Agentur Frontex.

kurzfristig Gewährleistung der Verpflichtung, auch die Umverteilung aller Mittel innerhalb des mehrjährigen Haushaltsrahmens der EU für den Zeitraum 2021-2027 zu bewerten.

6.   Wiederaufbauplan

6.1.

Alle vorgenannten Maßnahmen erfordern die Schaffung eines neuen Systems der wirtschaftspolitischen Steuerung mit einer strategischen Industrie-, Wettbewerbs-, Sozial-, Umwelt- und Handelspolitik.

6.2.

Förderung der Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU, indem der Stabilitäts- und Wachstumspakt überarbeitet wird, um gleichzeitig Stabilität und Wachstum zu gewährleisten.

6.3.

Auf der Grundlage des Aufbauinstruments wird es notwendig sein, eine progressive Aufstockung der EU-Eigenmittel durch die Einführung relevanter und angemessener Einnahmen aus eigenen Quellen sicherzustellen, u. a. EU-Emissionshandelssystemen, einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), einer Digitalsteuer, einer Finanztransaktionssteuer und einer CO2-Abgabe sowie Seigniorage.

6.4.

Die EU muss dringend einen Koordinierungsmechanismus einrichten, der in der Lage ist, die aggressive Steuerplanung zu neutralisieren und die Steuerhinterziehung in den 27 Mitgliedstaaten zu bekämpfen — ein Phänomen, das im Zeitraum 2001-2016 zu einem durchschnittlichen jährlichen Verlust an Steuereinnahmen in Höhe von 46 Mrd. EUR für die EU-Mitgliedstaaten (0,46 % des BIP) geführt hat (12). Gleichzeitig muss die EU eine wirkungsvolle Strategie zur Bekämpfung der Geldwäsche auf den Weg bringen, da diese das Produktionssystem der EU unterwandert und gleiche Wettbewerbsbedingungen verhindert, was zu Verzerrungen im Binnenmarkt führt.

6.5.

Es ist wichtig, das europäische Modell der Rechte, der Standards und der Verbraucherpolitik beizubehalten. All dies macht die EU einzigartig. Im Bereich der Digitalisierung zum Beispiel beruht der Ethikkodex der EU bezüglich der künstlichen Intelligenz auf dem Ansatz human-in-command (Kontrolle durch den Menschen), wodurch sich der Standpunkt der EU von dem anderer Weltregionen unterscheidet. Dieser Ansatz, der auf Grundrechten und Grundfreiheiten fußt, ist Teil des EU-Modells und sollte trotz des gegenwärtig immer härteren Wettbewerbsklimas beibehalten werden.

6.6.

Die neuen, nachhaltigeren Unternehmensmodelle (Kreislaufwirtschaft, kollaborative Wirtschaft, Sozialwirtschaft usw.) müssen vollumfänglich genutzt werden. Diese Modelle sind auch Merkmale des Gesellschaftsmodells der EU; sie ermöglichen eine doppelte — wirtschaftliche und soziale — Wertschöpfung und stellen Instrumente zur Verwirklichung des europäischen Grünen Deals und der Ziele für nachhaltige Entwicklung dar. Diese Unternehmensmodelle bieten die Gelegenheit, die wirtschaftliche Erholung zu unterstützen und gleichzeitig gesellschaftliche Herausforderungen anzugehen. In dieser Hinsicht werden der Aktionsplan der EU für die Kreislaufwirtschaft und der angekündigte Aktionsplan für die Sozialwirtschaft (Frühjahr 2021) von entscheidender Bedeutung sein. Inspirierende Beispiele wie die europäische Cluster-Allianz sollten verbreitet werden.

6.7.

Die Digitalisierung bietet sowohl Chancen als auch Risiken für die Konjunkturerholung. Im Innovationsbereich kann die EU eine Vorreiterrolle spielen, beispielsweise im Bereich Blockchain, wo die EU bereits führend ist. Die Blockchain-Technologie (ohne sie auf Bitcoins zu reduzieren) vermittelt demokratische Werte und bietet dabei Transparenz und verbesserte Steuerungsstrukturen. Die mit der Digitalisierung verbundenen Risiken wie zunehmende Arbeitslosigkeit, digitale Kluft und soziale Ausgrenzung müssen jedoch angegangen werden. Außerdem müssen Möglichkeiten gefunden werden, um die Chancen zu nutzen und diese gleichzeitig gegen die Risiken abzuwägen — und dies in einem Kontext, in dem die EU weltweit wettbewerbsfähig bleiben will.

6.8.

Es gibt eine Chance zur Förderung der sozialen Innovation als Modell für den Wiederaufbau durch gemeinsames Entwickeln, Konzipieren und Produzieren. In einem komplexen sozialen Umfeld mit massiven gesellschaftlichen Herausforderungen besteht die einzige Möglichkeit darin, alle Ressourcen in der Gesellschaft zu mobilisieren und dabei bereichsübergreifend und multidisziplinär zu arbeiten, um Lösungen zu finden. Die organisierte Zivilgesellschaft ist ein Katalysator für soziale Innovation. Diese Dynamik trug zur Entwicklung von Sozialsysteme bei, die zu neuen Maßnahmen, Strukturen, Produkten, Dienstleistungen und Arbeitsmethoden geführt hat. Die Teilhabe der Zivilgesellschaft ist heute wichtiger denn je, doch kann es echte soziale Innovation nur geben, wenn die Zivilgesellschaft beteiligt wird.

6.9.

Entsteht ein neues Gesellschaftsmodell? Eine Erholung wird nur mit Produktivität, fiskalischen Anreizen und einer Verteilung des Wohlstands möglich sein. Vielleicht ist es wieder an der Zeit, das Konzept des „Sozialinvestitionspakets“ neu zu beleben, um auf proaktive und präventive Weise eine Verringerung der künftigen gesellschaftlichen Kosten zu erreichen. In diesem Sinne sollte die EU die Investitionen in die soziale Infrastruktur ankurbeln, d. h. 1) Bildung und lebenslanges Lernen, 2) Gesundheitsversorgung, Langzeitpflege und Sozialfürsorge, 3) erschwinglicher Wohnraum (13). All dies geht einher mit der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte auf allen Ebenen, einem System zur Überwachung des Europäischen Semesters basierend auf den Nachhaltigkeitszielen, dem europäischen Grünen Deal und einem auf den europäischen Werten beruhenden gerechten digitalen Wandel. Dadurch könnte die Grundlage für ein neues Gesellschaftsmodell der EU entstehen.

Brüssel, den 11. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Georgieva, C., 2020, „The Great Lockdown: Worst Economic Downturn Since the Great Depression.“ Pressemitteilung des IWF Nr. 20/98.

(2)  Die EU-Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU SILC) zeigt einen Anstieg von Armut und sozialer Ausgrenzungen von Menschen mit Behinderungen im Zeitraum 2010-2018 in Estland, Luxemburg, Deutschland, Schweden, Irland, Tschechien, Litauen, Italien, den Niederlanden, Malta und Spain.

(3)  Europäische Kommission, GD ECFIN.

(4)  Internationale Arbeitsorganisation, März 2020, „COVID-19 and the world of work: Impact and policy responses.“

(5)  Europäische Kommission, Frühjahr 2020, „Europäische Wirtschaftsprognosen.“ Institutional Paper 125, Mai 2020.

(6)  Europäische Kommission, GD ECFIN.

(7)  Eurofound, Leben, Arbeiten und Covid-19: Erste Ergebnisse — April 2020: Laut der Umfrage stehen mehr Haushalte aufgrund der wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie unter finanziellem Druck als vor Ausbruch der Krise. Beinahe die Hälfte aller befragten Haushalte (47 %) haben Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen. (…) Von den Befragten, die ihren Arbeitsplatz während der Krise dauerhaft verloren haben, gaben 90 % an, dass sich ihre finanzielle Lage verschlechtert hat. 44 % verfügen über keine Ersparnisse, 35 % haben gerade ausreichend Ersparnisse, um ihren aktuellen Lebensstandard für drei Monate aufrechtzuerhalten.

(8)  Nassim Nicholas Taleb (2007), Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse.

(9)  Host S., Grange D., Mettetal L, Dubois U. 2014. Précarité énergétique et santé: état des connaissances et situation en Île-de-France, Observatoire régional de santé Île-de-France, Paris, S. 14.

(10)  https://ec.europa.eu/info/publications/2020-commission-work-programme-key-documents_de.

(11)  Stellungnahme des EWSA SC/052 „Die Zukunft der EU: Vorteile für die Unionsbürgerinnen und -bürger und Wahrung der europäischen Werte“.

(12)  Europäische Kommission, 2019, „Estimating International Tax Evasion by Individuals“ [Schätzungen zur grenzüberschreitenden Steuerhinterziehung durch Einzelpersonen]. Arbeitspapier Nr. 76, 2019.

(13)  Bericht der hochrangigen Taskforce „Investitionen in die soziale Infrastruktur in Europa“: Boosting Investment in Social Infrastructure in Europe [Förderung von Investitionen in die soziale Infrastruktur in Europa]. European Economy Discussion Paper 074, Januar 2018.


ANHANG I

Dieser Anhang enthält eine strukturierte Übersicht über die Maßnahmen der EU, die in den letzten drei Monaten zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie ergriffen wurden.

Art der Maßnahme

Geldpolitische und Stabilisierungsmaßnahmen

Fiskalpolitische Maßnahmen

Garantien und Kredite

Regulierung und Verfahren

Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM): Pandemiekrisenhilfe — 240 Mrd. EUR; makroökonomische Stabilitätsdarlehen für die Länder im Euro-Währungsgebiet zur Behebung ihrer makroökonomischen Ungleichgewichte; entspricht 2 % des BIP der Eurozone

Investitionsinitiative; Investitionsinitiative Plus; vorrangig 37 Mrd. EUR; Umschichtung kohäsionspolitischer Mittel zur Bewältigung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie; zusätzlich 28 Mrd. EUR, die bisher nicht im ESIF-Rahmen zugewiesen wurden

SURE (Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Krise): 100 Mrd. EUR; Kredite zu vergünstigten Bedingungen zur Unterstützung von Arbeitnehmern und Selbstständigen; erster Teil des Unterstützungspakets

Vorschriften über staatliche Beihilfen: eine Möglichkeit zur Anpassung von Maßnahmen, die alle Unternehmen und Betriebe betreffen (Lohnfonds-Zuschüsse, Stundung von Körperschaftssteuern und Mehrwertsteuerzahlungen sowie Sozialversicherungsbeiträgen); direkte finanzielle Unterstützung von Verbrauchern (Entschädigung für Ausgaben für annullierte Dienstleistungen/Veranstaltungen); Möglichkeit direkter fiskalischer Maßnahmen für Unternehmen, die aufgrund der Pandemie ein Konkursrisiko tragen; Ausgleichszahlungen für Schäden, die nachweislich durch die Pandemie entstanden sind (hier ist eine Notifizierung der Europäischen Kommission erforderlich); Möglichkeit anderer Ausgleichszahlungen aus öffentlichen Mitteln für besonders stark betroffene Länder; Möglichkeit der direkten Unterstützung in Höhe bis zu 800 000 EUR pro Unternehmen

EZB — Pandemie-Notfallankaufprogramm: 750 Mrd. EUR; Programm der expansiven Geldpolitik zum Anleiheankauf zugunsten der Liquidität des Finanzsystems

Solidaritätsfonds der Europäischen Union: 800 Mio. EUR

Europaweiter Garantiefonds: 200 Mrd. EUR; vergünstigte EZB-Kredite vorrangig für KMU; zweiter Teil des Unterstützungspakets

Flexibilität der Kriterien für die öffentlichen Haushalte: flexiblere Auslegung der Kriterien für die Haushaltsdisziplin im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts und des Europäischen Semesters

 

Europäischer Fonds für die Anpassung an die Globalisierung: 179 Mio. EUR

Finanzierungsinstrument zur Unterstützung für die am stärksten betroffenen KMU: 8 Mrd. EUR auf der Grundlage der EU-Haushaltsgarantie für den EIF aus dem EFSI

Vorübergehende Aufhebung der Zölle und Mehrwertsteuer auf Einfuhren medizinischer Instrumente und Ausrüstungen aus Drittländern

 

Mehr Flexibilität, damit die gesamte noch nicht in Anspruch genommene ESIF-Unterstützung mobilisiert werden kann; das ermöglicht Mittelübertragungen zwischen EFRE, ESF und Kohäsionsfonds; 100 %-ige Deckung von Projektkosten aus EU-Mitteln; Flexibilität bei der Begründung der thematischen Konzentration usw.

 

Überprüfung und Schutz kritischer europäischer Anlagen und Technologien


STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

552. Plenartagung des EWSA (+ Videokonferenz über Interactio), 10.6.2020-11.6.2020

18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/19


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Ein Binnenmarkt für alle“

(Sondierungsstellungnahme)

(2020/C 311/02)

Berichterstatter:

Antonio LONGO

Befassung

Schreiben des kroatischen EU-Ratsvorsitzes 10.9.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Beschluss des Plenums

24.9.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

10.6.2020

Plenartagung Nr.

552

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

224/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen (1)

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) erachtet den europäischen Binnenmarkt in all seinen Dimensionen — wirtschaftlich, sozial und ökologisch — als einen Eckpfeiler der sozialen Marktwirtschaft. Er stellt das Schlüsselelement für eine harmonische und ausgewogene europäische Integration dar, damit das Vertrauen der Öffentlichkeit in die EU wiederhergestellt wird, neue Arbeitsplätze geschaffen werden, eine wettbewerbsfähigere Wirtschaft verwirklicht und die Rolle Europas in der Welt gestärkt wird.

1.2.

Nach Auffassung des EWSA könnte mit der Verwirklichung der Ziele des europäischen Grünen Deals ein entscheidender Beitrag zur Entwicklung des künftigen Binnenmarkts geleistet werden.

1.3.

Der EWSA ist der Überzeugung, dass der Binnenmarkt der Zukunft auf einer soliden wirtschaftlichen Grundlage in Verbindung mit einer starken sozialen Dimension aufbauen muss. Er betont die Notwendigkeit einer Aufwärtskonvergenz und einer wirksameren Sozialpolitik sowohl auf Ebene der EU als auch der Mitgliedstaaten.

1.4.

Der EWSA vertritt die Ansicht, dass bei einem neuen, integrierten und zukunftsorientierten Ansatz für den Binnenmarkt in allen relevanten Politikbereichen und für die Beseitigung der verbleibenden ungerechtfertigten Hindernisse — ohne die Schaffung neuer Barrieren — die Bürger, Verbraucher, Arbeitnehmer und Unternehmen unbedingt im Mittelpunkt stehen müssen, da sie zentrale Akteure bei der Gestaltung, Überprüfung und Überwachung des gesamten Prozesses sind.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass große Anstrengungen unternommen werden müssen, um das Niveau der digitalen Kompetenz und das Verständnis für die Risiken und Chancen der Datenverwaltung zu verbessern, damit die Bürger an vorausschauenden Entscheidungsprozessen teilnehmen und die damit verbundenen Möglichkeiten und Grenzen verstehen können.

1.6.

Überregulierung sowie mangelnde Umsetzung und Durchführung von EU-Richtlinien in regulatorischen Schlüsselbereichen für die Unternehmen sollten vermieden werden, weil sie vor allem Klein- und Kleinstunternehmen — auch vor dem Hintergrund des Small Business Acts — daran hindern, die Vorteile des Binnenmarktes voll auszuschöpfen.

1.7.

Nach Auffassung des EWSA müssen die Infrastrukturen zur Steuerung des Binnenmarkts dadurch gestärkt werden, dass Organisationen, die Bürger, Verbraucher und Unternehmen vertreten, proaktiv einbezogen werden, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf schutzbedürftige oder diskriminierungsgefährdete Bürger, die Sozialwirtschaft sowie Kleinst- und Kleinunternehmen gelegt werden muss. Ziel ist dabei, schlanke, benutzerfreundliche Ansätze zu entwickeln und für eine fristgerechte, transparente und effiziente Umsetzung und Anwendung der Normen des Binnenmarktes zu sorgen.

1.8.

Nach Ansicht des EWSA muss die internationale Dimension des Binnenmarktes vor dem Hintergrund des europäischen Grünen Deals gestärkt werden. Die Marktüberwachung muss intensiviert werden, damit verhindert wird, dass illegale oder gefälschte Produkte oder solche, die den Umwelt-, Sozial- und Sicherheitsnormen nicht gerecht werden, über den zunehmenden elektronischen Handel aus Drittländern auf den europäischen Markt gelangen. Es gilt, unlauteren Wettbewerb einzudämmen.

1.9.

Der EWSA drängt nachdrücklich auf eine Stärkung des europäischen technischen Normungssystems (ESS); dieses ist für den Binnenmarkt und insbesondere für technische, soziale, ökologische und sicherheitsbezogene Normen wesentlich, da es Bürgern, Verbrauchern und Unternehmen, insbesondere Klein- und Kleinstunternehmen, eine klare Vorstellung von den Regeln und Verfahren vermittelt und sicherstellt, dass sie auf ausgewogene und wirksame Weise in den Normungsprozess eingebunden werden.

1.10.

Der EWSA fordert, die Verbraucherinteressen im Rahmen des REFIT-Programms, in der digitalen Welt und in Bezug auf die Sicherheit von Produkten und Dienstleistungen zu wahren. Die Maßnahmen zur Verringerung der Energie- und Konsumarmut müssen verstärkt und der Zugang zu Lebensmitteln, Arzneimitteln und zur Grundversorgung muss für alle Europäer sichergestellt werden. Die neuen Paradigmen der Ziele für nachhaltige Entwicklung müssen durch geeignete Anreize — auf europäischer, nationaler und lokaler Ebene — unterstützt werden.

1.11.

Der EWSA unterstreicht, dass eine wirksame europäische Basisbewegung für Veröffentlichungen und interaktive Informationen mit einem Netz aus hochkarätigen Verbreitungszentren auf den Weg gebracht werden muss.

1.12.

Der EWSA vertritt die Ansicht, dass faire Bedingungen geschaffen werden müssen, damit Arbeitnehmer im gesamten Binnenmarkt, insbesondere in Grenzregionen, echte Freizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und Arbeitsfreiheit genießen können. Die Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (2) muss besser umgesetzt werden. Darüber hinaus müssen enorme gemeinsame Anstrengungen unternommen werden, um auf europäischer Ebene finanzielle und strukturelle Ressourcen für lebenslanges Lernen und die Weiterbildung in neuen „grünen“ und digitalen Fertigkeiten bereitzustellen.

2.   Hintergrund dieser Stellungnahme

2.1.

Der Binnenmarkt in all seinen Dimensionen — wirtschaftlich, sozial und ökologisch — steht im Mittelpunkt der europäischen Integration und bildet einen der Eckpfeiler der sozialen Marktwirtschaft in Europa und der neuen Strategie für nachhaltiges Wachstum gemäß dem neuen europäischen Grünen Deal (3).

2.2.

Daher sind ständige Anstrengungen erforderlich, um für eine weitere Stärkung des Binnenmarkts zu sorgen. Nur wenn der Binnenmarkt vollendet wird, wird es möglich sein, mit seiner Hilfe das Vertrauen der Menschen in das europäische Projekt wiederherzustellen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, eine wettbewerbsfähigere Wirtschaft zu verwirklichen und eine größere Rolle Europas in der Welt sicherzustellen.

2.3.

Die Vollendung des Binnenmarktes erfordert einen integrierten Ansatz, der es ermöglicht, einen Prozess zu steuern, bei dem alle maßgeblichen Politikbereiche und Dimensionen im Rahmen einer kohärenten und langfristigen Vision verknüpft werden. Damit soll den aktuellen und neu entstehenden globalen Herausforderungen in den Bereichen Technologie, Sicherheit und Nachhaltigkeit begegnet werden (4). Dafür wird der Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal von zentraler Bedeutung sein (5).

2.4.

Die Unternehmen — insbesondere Klein- und Kleinstunternehmen — sowie die Bürgerinnen und Bürger müssen im Mittelpunkt dieses Prozesses stehen und aktiv am Aufbau eines zukunftssicheren Binnenmarktes beteiligt werden. Dabei gilt es, einen stärker nutzerorientierten Ansatz zu verfolgen, der weitgehend auf einer eingehenden Analyse der Situation und der jeweiligen Bedürfnisse basiert. Bei einigen lebensnotwendigen Gütern und der Versorgung mit Arzneimitteln gibt es derzeit eine Abhängigkeit von Drittländern, die überwunden werden muss.

3.   Hindernisse für die Vollendung des Binnenmarkts

3.1.

Die nach wie vor offenkundigen Probleme bei der Vollendung des Binnenmarkts hängen mit folgenden Voraussetzungen und Hindernissen zusammen:

3.2.   Voraussetzungen

Folgende Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit alle Menschen unter gleichen Bedingungen Zugang zum Binnenmarkt haben und von ihm profitieren können:

a)

die vollständige und rechtzeitige Umsetzung der Rechtsvorschriften des Binnenmarkts und der Abbau von Umsetzungsdefiziten, die einheitliche und kohärente Anwendung der EU-Vorschriften sowie ein einfacher, transparenter und benutzerfreundlicher Zugang zu diesen Vorschriften für alle, wobei Überregulierung zu vermeiden ist;

b)

wirksame Vollendung des Binnenmarkts für Gas, Strom, digitale Infrastruktur und Verkehr;

c)

die vollständige Zugänglichkeit des Binnenmarkts für alle, indem allen schutzbedürftigen oder benachteiligten Bürgern — z. B. Menschen mit Behinderungen oder von Armut gefährdeten Personen — Dienstleistungen und Waren zugänglich gemacht werden;

d)

harmonisierte Mechanismen zur Marktüberwachung (z. B. Sicherheit chemischer Produkte, Energieeffizienz und Umweltleistung von Produkten); volle Funktionsfähigkeit von Mechanismen der gegenseitigen Anerkennung;

e)

ein reibungslos funktionierender und harmonisierter Markt für Sekundärrohstoffe und Kreislaufprodukte, durch den der Rücklauf von Altprodukten erleichtert wird;

f)

ein vollständig umgesetzter Rahmen mit hohen technischen und regulatorischen Standards, insbesondere Umwelt- und Sozialstandards. Öffentliche Auftraggeber und betroffene Unternehmen müssen in der Anwendung der neuen Vorschriften im Rahmen des Binnenmarktprogramms geschult werden, und es sind Sensibilisierungsmaßnahmen für den Kauf vor Ort produzierter Erzeugnisse („Null-Kilometer-Produkte“) notwendig, um die regionale Wirtschaft zu stabilisieren und die Auswirkungen auf die Umwelt zu verringern;

g)

gemeinsame Standards für das öffentliche Beschaffungswesen mit einheitlichen Beschaffungskriterien in der gesamten EU für ein umweltgerechtes und sozial integratives Beschaffungswesen;

h)

ein integriertes digitales Ökosystem auf EU-Ebene mit neuen Geschäfts-, Vertriebs- und Verbrauchsmodellen sowie neuen E-Government-Beziehungen;

i)

integrierte und entwickelte Kapitalmärkte mit für alle leicht zugänglichen Finanzdienstleistungen;

j)

eine faire Datenwirtschaft, die die Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Mobilität von Daten innerhalb des Binnenmarkts gewährleisten und gleichzeitig die Sicherheit und Privatsphäre von Bürgern, Verbrauchern und Unternehmen schützen kann;

k)

eine Europäische Cloud für offene Wissenschaft, die Daten von öffentlichen und privaten, mit europäischen Mitteln geförderten Forschungszentren nutzt;

l)

ein vollständig integrierter Dienstleistungsmarkt, der auch Logistik- und Netzwerkdienstleistungen umfasst;

m)

wirksame Schutzmaßnahmen gegen Sozial- und Steuerdumping;

n)

die EU-Organe müssen in Zusammenarbeit mit den unmittelbar betroffenen Akteuren die Auswirkungen der Vorschriften auf Unternehmen sorgfältig prüfen und untersuchen, bevor sie geltende Vorschriften ändern oder neue Vorschriften vorschlagen;

o)

die Förderung aller Arten von Unternehmertum durch politische und gesetzgeberische Maßnahmen der EU, um die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten anzukurbeln, was auch den Schutz von Klein- und Kleinstunternehmen sowie Unternehmen der Sozialwirtschaft umfasst.

3.3.   Hindernisse (6)

3.3.1.

Aus Sicht der Bürger, Verbraucher und Unternehmen wurden erhebliche Hindernisse für das Funktionieren des derzeitigen Binnenmarktes ermittelt. Diese betreffen folgende Aspekte:

a)

Komplexe Verwaltungsverfahren: Die Rechtsvorschriften zum Binnenmarkt umfassen oft Bestimmungen und Verfahren, die für die Endnutzer nur schwer zu verstehen oder zu befolgen sind.

b)

Unterschiedliche nationale technische Standards: Es gibt immer mehr technische Vorschriften auf nationaler Ebene, wie die zunehmende Zahl der behördlichen Notifizierungen (jährlich rund 700 für Güter) belegt.

c)

Schwierigkeiten beim Zugang zu Informationen über Standards und Anforderungen: Das einheitliche digitale Zugangstor ist ein Schritt in die richtige Richtung, um Unternehmen — insbesondere Kleinstunternehmen und KMU — den Zugang zu den einschlägigen Informationen zu erleichtern, allerdings gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Anlaufstellen. Eine zentrale Anlaufstelle in jedem Mitgliedstaat könnte bessere Orientierungshilfe zu den einzuhaltenden Vorschriften, Verfahren und erforderlichen Dokumenten sowie zu den behördlichen Ansprechpartnern bereitstellen.

d)

Mangelnde Koordinierung zwischen den einzelnen Ebenen der Marktüberwachung: Da die Überwachung in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und der Regionen fällt, können unterschiedliche Überwachungsebenen entstehen, wodurch es zu Verzerrungen zwischen auf dem Binnenmarkt befindlichen Produkten und solchen, die auf den Markt gelangen, kommen kann.

e)

Durch Überregulierung und mangelnde Umsetzung und Durchführung der EU-Richtlinien in regulatorischen Schlüsselbereichen für die Unternehmen entsteht ein kompliziertes Flickwerk von Rechtsvorschriften im Binnenmarkt, das vor allem KMU und Kleinstunternehmen daran hindert, die Vorteile des gesamten Binnenmarkts voll auszuschöpfen.

f)

Fehlen von Mechanismen zur Schulung und Zusammenarbeit, um sicherzustellen, dass die betroffenen Behörden, Einzelpersonen, Verbraucher und Unternehmen solide und einheitliche Kenntnisse über die (potenziell) anzuwendenden Standards besitzen.

g)

Versäumnisse in Bezug auf die Sicherstellung der Einheitlichkeit des Marktes in Schlüsselsektoren, z. B. Gas, Strom, digitale Infrastruktur und Verkehrsinfrastruktur.

4.   Der Binnenmarkt als wesentlicher Punkt auf der neuen strategischen Agenda der EU

4.1.

Der EWSA ist der Überzeugung, dass ein Binnenmarkt zum Nutzen aller ein Schlüsselelement der europäischen Integration ist, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die EU wiederherzustellen, Arbeitsplätze zu schaffen, eine wettbewerbsfähige Wirtschaft zu verwirklichen und den Einfluss Europas in der Welt zu wahren.

4.2.

Nach Auffassung des EWSA könnte mit der Verwirklichung der Ziele des europäischen Grünen Deals, einschließlich z. B. des neuen Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft (7) und der Null-Schadstoff-Strategie, ein entscheidender Beitrag zur Entwicklung des künftigen Binnenmarkts geleistet werden.

4.3.

Der EWSA begrüßt, dass dieser Prozess eine der vier wesentlichen Prioritäten der strategischen Agenda 2019-2024 (8) darstellt und „erstmals in den Zyklus des Europäischen Semesters aufgenommen“ wurde (9).

4.4.

Der EWSA vertritt nicht nur die Ansicht, dass bei einem neuen, integrierten und zukunftsorientierten Ansatz für den Binnenmarkt in allen relevanten Politikbereichen die Bürger, Verbraucher, Arbeitnehmer und Unternehmen als diejenigen, denen diese Ziele zugutekommen, im Mittelpunkt stehen müssen. Sie müssen auch die zentralen Akteure bei der Gestaltung, Überprüfung und Überwachung des Prozesses sein. Dieser Prozess muss auf ihren tatsächlichen Bedürfnissen beruhen sowie einfach und leicht zugänglich und nutzbar sein.

4.5.

Der EWSA hält eine radikale Vereinfachung der Verwaltungsverfahren für notwendig und weist auf das Problem der Verhältnismäßigkeit hin. KMU und Kleinstunternehmen tragen hohe Kosten, ohne die Gewissheit zu haben, den Rechtsvorschriften zu entsprechen. Die Umsetzung des „Small Business Act“ und des „Think Small First“ (Vorfahrt für KMU) sollte eine Priorität darstellen und im Rahmen der Strategie für KMU und Kleinstunternehmen auf die kurzfristige politische Agenda gesetzt werden. Im Gesetzgebungsprozess sollten die kombinierten Auswirkungen mehrerer Vorschriften auf Unternehmen untersucht werden.

4.6.

Für alle betroffenen Akteure sollte ein Verfahren zur Unterstützung bei der Digitalisierung und des intensiven Aufbaus von Kapazitäten auf den Weg gebracht werden. Darüber hinaus sollte der Binnenmarkt für Dienstleistungen auf faire und transparente Weise geöffnet werden.

4.7.

Zur Verwirklichung eines zukunftsorientierten Binnenmarkts müssen große Anstrengungen unternommen werden, um das Niveau der digitalen Kompetenz und die Kenntnisse über Daten und deren Verwaltung zu verbessern, damit Bürger und Kleinunternehmen an diesen Prozessen teilnehmen können. Die Ungewissheit und Komplexität der Rahmenbedingungen müssen anerkannt werden; ferner muss die erforderliche individuelle und soziale Resilienz aufgebaut werden, um diese Herausforderungen zu bewältigen und das Potenzial sowie die Grenzen digitaler Plattformen und ihrer zugrunde liegenden Geschäftsmodelle und Governancestrukturen besser zu verstehen und so Manipulationen vorzubeugen.

4.8.

Darüber hinaus bedarf es einer Infrastruktur für die Steuerung des Binnenmarkts, die zwar auf den bestehenden Steuerungsinstrumenten der EU (z. B. SOLVIT, Binnenmarktinformationssystem (IMI), Portal Ihr Europa — Beratung, Binnenmarktanzeiger) aufbaut, auf EU-Ebene und nationaler Ebene jedoch dadurch gestärkt wird, dass Organisationen, die Bürger, Verbraucher und Unternehmen vertreten, proaktiv einbezogen werden. Ziel ist dabei, schlanke, benutzerfreundliche Lösungen auszubauen. Es muss für eine fristgerechte, transparente und effiziente Umsetzung und Anwendung der Normen des Binnenmarktes gesorgt werden. Dies würde einen erfolgreichen Übergang zu einem digitalisierten, effizienten, kohärenten, ausgewogenen und nachhaltigen Europa erleichtern.

4.9.

Um unlauteren Wettbewerb zu unterbinden und Sicherheits- und Gesundheitsrisiken für die Verbraucher zu vermeiden, muss die Marktüberwachung verstärkt werden. Es gilt zu verhindern, dass illegale oder gefälschte Produkte über den elektronischen Handel aus Drittländern auf den europäischen Markt gelangen. Dringend notwendig sind Maßnahmen zur Sensibilisierung der Verbraucher.

5.   Der Binnenmarkt und die Bürgerinnen und Bürger

5.1.

Die Bürger müssen im Mittelpunkt des gesamten Prozesses zur Schaffung des künftigen Binnenmarkts stehen, und zwar nicht nur als Hauptnutznießer der Errungenschaften des Binnenmarkts, sondern auch als proaktive Akteure im Rahmen dieses Prozesses; dabei gilt es, ihre Bedürfnisse und Erwartungen zu berücksichtigen.

5.2.

In einer früheren Stellungnahme (10) betonte der EWSA die Notwendigkeit einer „breit angelegte[n] Agenda für die allgemeine und berufliche digitale Bildung […], damit alle Bürger mit dem erforderlichen Wissen ausgestattet werden, um den Übergang so gut wie möglich zu meistern“.

5.3.

Die Beteiligung aller EU-Bürger sollte in jeder Phase sichergestellt sein; dies gilt insbesondere für schutzbedürftige oder diskriminierungsgefährdete Bürger. Der Zugang von Menschen mit Behinderungen oder von Armut gefährdeten Menschen zu Dienstleistungen und Gütern muss im Einklang mit der Richtlinie (EU) 2019/882 (11) und anderen rechtlichen Verpflichtungen, z. B. dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen garantiert werden.

5.4.

Der EWSA unterstreicht, dass eine wirksame europäische Kampagne für die Erstellung und interaktive Verbreitung von Informationen mit einem Netz öffentlichkeitswirksamer Verbreitungszentren an zentralen und abgelegenen intermodalen Knotenpunkten des Binnenmarkts auf den Weg gebracht werden muss. Ziel ist es dabei, eine proaktive Beteiligung der Öffentlichkeit zu fördern, indem Anregungen, Schwierigkeiten und Lösungen mit der aktiven Unterstützung der organisierten Zivilgesellschaft aufgegriffen werden.

6.   Der Binnenmarkt und die Arbeitnehmer

6.1.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass der Binnenmarkt der Zukunft auf einer soliden wirtschaftlichen Grundlage in Verbindung mit einer starken sozialen Dimension aufbauen muss (12). Er spricht sich „seit jeher konsequent für eine Aufwärtskonvergenz und eine wirksamere Sozialpolitik sowohl auf Ebene der EU als auch der Mitgliedstaaten aus“ (13). Ebenso hat er „einen klaren und koordinierten Fahrplan“ gefordert, in dem „die Prioritäten für die Umsetzung der Säule und die Durchsetzung der geltenden sozialen Rechte und Standards festgelegt sind“.

6.2.

Der EWSA betont erneut, dass „mit einem neuen Europäischen Semester […] im Rahmen der Überwachung sozialer Ungleichgewichte soziale Ziele umgesetzt […] und […] neue, messbare Indikatoren sowie gezielte länderspezifische Empfehlungen für den sozialen Bereich eingeführt werden“ (14) sollten. Ferner unterstreicht er, dass übermäßige Unterschiede vermieden werden sollten: Sie sind zwar Ausdruck nationaler Eigenheiten, können aber zu Sozialdumping und ungleichen Wettbewerbsbedingungen für den gesamten europäischen Binnenmarkt führen.

6.3.

Nach Auffassung des EWSA müssen faire Bedingungen gewährleistet werden, damit Arbeitnehmer im gesamten Binnenmarkt, insbesondere in Grenzregionen, echte Freizügigkeit genießen können. Die Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (15) muss besser umgesetzt werden. Darüber hinaus müssen enorme gemeinsame Anstrengungen unternommen werden, um auf europäischer Ebene finanzielle und strukturelle Ressourcen für lebenslanges Lernen und die Weiterbildung in neuen „grünen“ und digitalen Fertigkeiten bereitzustellen.

6.4.

Der EWSA betont erneut, dass „die neuen Technologien, die künstliche Intelligenz und die Big Data […] Umwälzungen in den Produktionsverfahren und der Wirtschaft im Allgemeinen [bewirken] und […] auch den Arbeitsmarkt tief greifend verändern“ werden und dass „diese Veränderungen […] sich […] im Rahmen eines fruchtbaren sozialen Dialogs und unter Wahrung der Rechte und der Lebensqualität der Arbeitnehmer (16) vollziehen“ müssen, um Fallen zu vermeiden, die zu Armut und prekären Verhältnissen führen.

6.5.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die nachhaltige Entwicklung große gemeinsame Anstrengungen erfordert, um auf europäischer, nationaler und lokaler Ebene finanzielle und strukturelle Ressourcen für lebenslanges Lernen und die Weiterbildung in neuen „grünen“ und digitalen Fertigkeiten bereitzustellen, die den sich verändernden Arbeitsmarktbedingungen im Rahmen des neuen europäischen Grünen Deals gerecht werden.

7.   Der Binnenmarkt und die Verbraucher

7.1.

Die Verbraucherpolitik ist eine wesentliche Komponente im Prozess der Vollendung des Binnenmarktes, die auf die Interessen der Bürgerinnen und Bürger ausgerichtet und in der Lage ist, das Engagement der Menschen für den Prozess der Integration der EU zu beeinflussen. Nach Auffassung des EWSA muss mehr unternommen werden, um für einen wirksamen Schutz der Verbraucher zu sorgen, wenn die Wirtschaftsakteure die Vorschriften nicht einhalten und wenn nicht gegen die derzeitige fragmentierte Anwendung dieser Vorschriften in den Mitgliedstaaten vorgegangen wird und die anhaltenden Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten nicht abgebaut werden.

7.2.

Der EWSA fordert, die Verbraucherinteressen im Rahmen des REFIT-Programms, in der digitalen Welt und in Bezug auf die Sicherheit von Produkten und Dienstleistungen zu wahren. Die Maßnahmen zur Verringerung der Energie- und Konsumarmut müssen verstärkt und der Zugang zu Lebensmitteln, Arzneimitteln und zur Grundversorgung muss für alle Europäer verbessert werden.

7.3.

Das Problem der nicht durch objektive und überprüfbare Gründe gerechtfertigten Ungleichbehandlung von Verbrauchern in verschiedenen Ländern beim Direktkauf oder elektronischen Handel in Bezug auf Preise sowie Verkaufs- und Lieferbedingungen muss gelöst werden. Besonders gravierend ist nach wie vor das Problem des Geoblockings.

7.4.

Der EWSA begrüßt die bereitgestellten Informationen über die Ergebnisse, die im Verbraucherschutz mit der Plattform zur Online-Streitbeilegung (17) erreicht wurden, hofft jedoch, „dass die Instrumente zur außergerichtlichen Streitbeilegung, vor allem im grenzüberschreitenden Bereich, ausgebaut werden“.

7.5.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass Transparenz und Vergleichbarkeit der Informationen von entscheidender Bedeutung sind, damit Verbraucher intelligente Entscheidungen treffen können, nicht zuletzt im Hinblick auf die Auswirkungen auf die Umwelt und die Nachhaltigkeit.

8.   Der Binnenmarkt und die Unternehmen

8.1.

Nach Ansicht des EWSA bedarf es folgender Maßnahmen, um den Bedürfnissen der Unternehmen in Bezug auf die vollständige Umsetzung des Binnenmarkts gerecht zu werden:

8.1.1.

weitere Öffnung und Integration der Waren- und Dienstleistungsmärkte, einschließlich Logistik- und Netzwerkdienstleistungen, um das volle wirtschaftliche Potenzial der EU auszuschöpfen und eine solide Grundlage für den langfristigen globalen Wettbewerb zu schaffen. Die Vielfalt und der Pluralismus im Einzelhandel müssen geschützt und gefördert werden (18);

8.1.2.

stärkere Förderung der Digitalisierung als Schlüsselfaktor für die europäische Wettbewerbsfähigkeit, d. h. Schaffung eines Rahmens, der die Einführung digitaler Technologien erleichtert. Programme, die sich an KMU und Kleinstunternehmen richten, müssen die KMU-Kultur respektieren und lokale KMU-Verbände einbeziehen;

8.1.3.

mehr Maßnahmen, die Klein- und Kleinstunternehmen grundlegende und fortgeschrittene digitale Kompetenzen vermitteln und verschiedene technologische Lösungen an die Hand geben, sowie die Festlegung fairer Regeln für den Zugang zu Daten, den freien Datenfluss und entsprechende Verantwortlichkeiten mithilfe eines umfassenden politischen Ansatzes;

8.1.4.

Schaffung eines ordnungspolitischen und finanziellen Rahmens zur Förderung von Investitionen in die Infrastruktur, damit physische und digitale Infrastrukturen erheblich verbessert und interoperabel gemacht werden können; Innovation und Flexibilität für Unternehmen, um sie bei der Anpassung an eine sich rasch verändernde Welt zu unterstützen und neue Geschäftsmodelle zu fördern, sowie technologische Neutralität durch Binnenmarktrechtsvorschriften, die den Markteintritt durch den Abbau von Hindernissen erleichtern;

8.1.5.

vorrangige Berücksichtigung der Grundsätze der besseren Rechtsetzung und ihrer praktischen Umsetzung, damit der Binnenmarkt zum besten Wirtschafts- und Arbeitsstandort wird.

8.2.

Besonderes Augenmerk muss auf die Unterschiede zwischen den nationalen Steuersystemen gelegt werden. Nach Auffassung des EWSA muss das Sozial- und Steuerdumping im Binnenmarkt bekämpft werden, da es zu Wettbewerbsverzerrungen und ansonsten ungerechtfertigten Standortverlagerungen führt.

8.3.

Ebenso wichtig ist es, die Infrastruktur- und Regelungslücken bei der Verbindung lokaler Märkte im Binnenmarkt zu schließen, insbesondere in Schlüsselsektoren wie Gas, Elektrizität und Verkehr, da diese Lücken Hindernisse für einen fairen und transparenten Wettbewerb darstellen.

8.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass das europäische Normungssystem gestärkt werden muss, vor allem in Bezug auf technische Normen in den Bereichen Soziales, Umwelt und Sicherheit, damit Unternehmen, insbesondere Klein- und Kleinstunternehmen, eine klare Vorstellung von den zu befolgenden Regeln und Verfahren vermittelt wird und sichergestellt ist, dass alle einschlägigen Akteure auf ausgewogene und wirksame Weise in den Normungsprozess eingebunden werden.

Brüssel, den 10. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Die Kommission veröffentlichte am 10. März 2020 die Mitteilung „Langfristiger Aktionsplan für eine bessere Umsetzung und Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften“ und „Ermittlung und Beseitigung von Binnenmarkthindernissen“.

(2)  Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 255 vom 30.9.2005, S. 22).

(3)  COM(2019) 640 final.

(4)  9743/19 COMPET 437 MI 487.

(5)  EESC-2020-00463 ECO/505 (Berichterstatter: Trias Pintó) (siehe Seite 63 dieses Amtsblatts).

(6)  Die Kommission hat am 10. März 2020 eine wichtige Mitteilung veröffentlicht: „Hindernisse für den Binnenmarkt ermitteln und abbauen“ (COM(2020) 93 final).

(7)  COM(2020) 98 final, vorgelegt am 11. März 2020.

(8)  https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2019/06/20/a-new-strategic-agenda-2019-2024/.

(9)  IP/19/6770 vom 17. Dezember 2019.

(10)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 102.

(11)  ABl. L 151 vom 7.6.2019, S. 70.

(12)  ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 23.

(13)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 40; ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 145 und ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 135.

(14)  ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 1.

(15)  Siehe Fußnote 2.

(16)  ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 6.

(17)  Nach Angaben von Kommissionsmitglied Jourová konnten im ersten Jahr mehr als 24 000 Fälle gelöst werden.

(18)  ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 41.


18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/26


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Einfluss von Kampagnen auf die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungsprozessen“

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des kroatischen EU-Ratsvorsitzes)

(2020/C 311/03)

Berichterstatterin:

Marina ŠKRABALO

Mitberichterstatterin:

Cinzia DEL RIO

Befassung

Schreiben, 10.9.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

3.3.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

10.6.2020

Plenartagung Nr.

552

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

209/2/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt das Ersuchen des kroatischen Ratsvorsitzes um eine Stellungnahme zum Einfluss von Kampagnen auf die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungsprozessen, die hoffentlich in naher Zukunft zu einer politischen Debatte in den einschlägigen Ratsformationen und vorbereitenden Gremien darüber beitragen wird, in welchen zentralen Punkten die EU-Wahlen verbessert werden können. Der anstehende Bericht der Kommission im Nachgang zur Europawahl soll die Grundlage hierfür bilden. Diese politische Debatte soll den Mitgliedstaaten einen zeitnahen Beitrag zu der Agenda für den Aktionsplan für Demokratie der Kommission sowie zu der Konferenz zur Zukunft Europas (die während des kroatischen Ratsvorsitzes eröffnet wird) ermöglichen. Jetzt sind neue, koordinierte Anstrengungen zum Schutz und zur Stärkung der europäischen Demokratie im gesamten neuen Politikzyklus der EU-Institutionen gefragt. In diesem Zusammenhang möchte der EWSA dem kroatischen Ratsvorsitz nahelegen, eine enge Zusammenarbeit aller EU-Institutionen zu fördern und dabei vor allem das Europäische Parlament und die Kommission, aber auch den EWSA, den Ausschuss der Regionen, die EU-Bürgerbeauftragte und die Grundrechteagentur einzubeziehen.

1.2.

Die Einbeziehung der europäischen Öffentlichkeit in politische Entscheidungsprozesse in der EU, vor allem durch die Teilnahme an Wahlen, aber auch im Rahmen politischer Debatten und Konsultationen, ist eine entscheidende Voraussetzung für das Wiedererstarken der europäischen Demokratie und die Gewährleistung der Legitimität der EU-Institutionen und ihrer Instrumente. Der EWSA fordert die EU-Institutionen auf, die Erkenntnisse aus der Wahl 2019 zu beherzigen und rechtzeitig gemeinsam und koordiniert politisch zu handeln, um die gegenwärtigen Verfahren der Europawahlen zu verbessern und bei der Wahl 2024 und danach eine Wahlbeteiligung zu erzielen, mit der alle zufrieden sein können.

1.3.

Der historische Trend einer immer geringeren Beteiligung an den Europawahlen hält an, denn die relativ hohe Wahlbeteiligung 2019 liegt immer noch unter den Zahlen aus dem Zeitraum 1979 bis 1994 (1). Aus den jüngsten Wahlen müssen deshalb Lehren gezogen werden, um die Beteiligung einer gut informierten Öffentlichkeit am nächsten europäischen Wahlzyklus und auch danach langfristig zu stärken. Einzuräumen ist, dass die erheblich geringere Beteiligung an Europawahlen als an nationalen Wahlen ein anhaltender Trend (2) ist. Die höhere Beteiligung junger und gut ausgebildeter Wählerinnen und Wähler an der Europawahl 2019 sind daher als Chance für eine neue positive Entwicklung zu begreifen.

1.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass die EU-Institutionen ihre Einstellung ändern müssen, um die europäische Öffentlichkeit wirksamer zu erreichen: Sie müssen die Öffentlichkeit, die Zivilgesellschaft und die Sozialpartner bei jeder Form der Kommunikation einbeziehen, insbesondere bei Kampagnen, und sowohl mit emotionalen als auch mit rationalen Argumenten um deren Mitarbeit werben. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA den neuen wählerorientierten Ansatz des Europäischen Parlaments für öffentliche Informationskampagnen und unterstützt nachdrücklich dessen umfassenden Plan, auf dem Erfolg seiner jüngsten Wahlkampagne aufzubauen. Der EWSA fordert angemessene finanzielle und personelle Mittel für die Arbeit des Parlaments im Bereich von Kampagnen zur Vertiefung und Ausdehnung seines Netzes mit einer großen Bandbreite an Organisationen der Zivilgesellschaft, Freiwilligen und Meinungsbildnern, zur Umsetzung einer Reihe thematischer Kampagnen in den nächsten fünf Jahren und zur Vorbereitung einer lebhaften Wahlkampagne 2024.

1.5.

Der EWSA fordert eine noch engere Zusammenarbeit zwischen dem Parlament, der Kommission und den Mitgliedstaaten sowie mit dem EWSA, dem Ausschuss der Regionen und allen relevanten Interessenträgern im Hinblick auf eine durchdachte Gestaltung und sowohl dezentrale als auch zentrale Umsetzung künftiger Informationskampagnen über EU-Themen und die nächste Europawahl. Damit soll sichergestellt werden, dass die Kampagnen möglichst viele Europäerinnen und Europäer wirksamer erreichen, informieren und einbeziehen.

1.6.

Desinformation gefährdet nach Auffassung des EWSA nicht nur unmittelbar die Fähigkeit der Menschen, fundierte politische Entscheidungen zu treffen, sondern auch das Projekt der europäischen Integration und damit die Einheit, den Wohlstand und den Einfluss der Europäischen Union in der Welt. Es liegt durchaus im Interesse einer Reihe ausländischer Mächte sowie extremistischer Gruppen, die gegen Zusammenarbeit und mehr Zusammenhalt in Europa sind, die demokratische Entscheidungsfähigkeit der EU zu schwächen (3). Der EWSA bringt seine entschiedene Unterstützung für die gegenwärtigen Anstrengungen der EU zur Bekämpfung von Desinformation (4), sowohl von außen als auch von innen, zum Ausdruck und fordert die Kommission auf, für die umfassende Einhaltung des Verhaltenskodexes für den Bereich der Desinformation sowie darauf aufbauende ordnungspolitische Maßnahmen, die Weiterentwicklung des neu geschaffenen Frühwarnsystems und der Aufklärungseinheiten von StratCom sowie die Ausweitung der Maßnahmen des Europäischen Auswärtigen Dienstes gegen Desinformation zu sorgen. Zugleich sollten die Maßnahmen der EU gegen Desinformation aus der EU selbst erheblich aufgestockt werden.

1.7.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission und das Parlament auf, mehr zu unternehmen für die Bereitstellung angemessener finanzieller Ressourcen für Maßnahmen zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft gegen Desinformation, zur Ausweitung der Beobachtung auf ein breiteres Spektrum externer und interner Akteure, die eine Bedrohung darstellen, sowie zur Intensivierung des Informationsaustauschs zwischen den Institutionen und den Mitgliedstaaten sowie auf internationaler Ebene.

1.8.

Der EWSA unterstützt nachdrücklich den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Erarbeitung eines Europäischen Aktionsplans für Demokratie, der umfassend und langfristig angelegt sein, Änderungen bewirken und durch finanzielle Unterstützung und interinstitutionelle Koordinierung abgesichert sein sollte. Der Europäische Aktionsplan für Demokratie und entsprechende künftige Initiativen sollten verstärkt auf folgende Aspekte abzielen: freie und pluralistische Medien und unabhängigen Qualitätsjournalismus, die wirksame Regulierung der sozialen Medien, insbesondere zur Bekämpfung von Desinformation und zur Einbeziehung der Regulierung politischer Werbung im Internet sowie Haftung für Inhalte, ein moderneres Wahlverfahren und die Inklusion vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossener Gruppen, vor allem Menschen mit Behinderungen, sowie umfassende politische Bildung über die Europäische Union und ihre demokratischen Verfahren in allen Mitgliedstaaten. Der EWSA verweist auf seinen Vorschlag für eine ehrgeizige EU-Strategie für Kommunikation, Bildung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie (5).

1.9.

Der EWSA fordert die EU-Institutionen und den kroatischen Ratsvorsitz auf, im Rahmen des EU-Haushaltsverfahrens den Verhandlungen über Mittel für Bildung im Bereich EU-Werte, institutionelle Fragen und Bürgerschaft kontinuierlich Aufmerksamkeit zu schenken, da diese Punkte entscheidend für die europäische Demokratie sind. Für das gesamte Spektrum der EU-Bildungsanstrengungen sowie für im Europäischen Aktionsplan für Demokratie vorgeschlagene Maßnahmen sollten angemessene Mittel vorgesehen werden. Außerdem sollten die einzelnen Haushaltskomponenten besser aufeinander abgestimmt werden. Das erfolgreiche Programm Erasmus sollte auch künftig finanziell besser ausgestattet werden, wobei mehr Mittel aus anderen EU-Programmen und dem Europäischen Sozialfonds hierfür zur Verfügung gestellt werden sollten.

1.10.

Zur Förderung weiterer politischer Unterstützung für bessere politische Bildung im Hinblick auf die EU fordert der EWSA die EU-Institutionen (und den kroatischen Ratsvorsitz) auf, den Vorschlag des EWSA zur Einsetzung einer hochrangigen Expertengruppe zum Thema „Europa vermitteln“ auf europäischer Ebene mit Vertretern der Mitgliedstaaten und führenden Bildungsexperten zu unterstützen. Diese Gruppe könnte Vorschläge für politische Maßnahmen und Empfehlungen aufstellen, die von den Bildungsministern erörtert werden und in Schlussfolgerungen des Rates münden könnten. Die Gruppe könnte auch praktische Verbesserungen anstoßen, etwa eine zentrale Online-Plattform, auf der das vorhandene Unterrichtsmaterial erfasst ist, das im Rahmen EU-geförderter Projekte und nationaler Lehrpläne erarbeitet wurde, wie vom EWSA vorgeschlagen.

1.11.

Der EWSA fordert den Rat und die Kommission auf, der dringenden Frage der Inklusion von Menschen mit Behinderungen, ethnischen Minderheiten, Migranten, von Armut betroffener Landbevölkerung und weiteren benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, die bei den Europawahlen in allen EU-Mitgliedstaaten chronisch unterrepräsentiert sind. Der EWSA regt an, dass die Kommission im Rahmen des Europäischen Aktionsplans für Demokratie 1) einen Legislativvorschlag zu Mindeststandards für barrierefreie EU-Wahlen für Menschen mit Behinderungen und 2) einen EU-Fahrplan für ein inklusives Wahlrecht erarbeitet und dazu einen Finanzierungsvorschlag zur Unterstützung der Mitgliedstaaten bei ihren Bemühungen um die Modernisierung der Wahlverfahren und die soziale Inklusion vorlegt.

1.12.

Die neue Kommission sollte die Regeln für EU-Kampagnen und die Wahlen selbst so rasch wie möglich weiter modernisieren und dabei auf den von der letzten Kommission ergriffenen Maßnahmen (6) aufbauen. In diesem Zusammenhang unterstützt der EWSA nachdrücklich: 1) die kontinuierliche aktive Arbeit der Wahlkoordinierungsnetze mit den nationalen Kontaktstellen, die als Katalysator für rasche Verbesserungen wirken sollten, 2) eine stärkere ordnungspolitische Beaufsichtigung der europäischen Parteien in Bezug auf die Transparenz der Kampagnen und der Parteienfinanzierung, die Einhaltung der Datenschutzvorschriften und die Wahrung der EU-Werte, 3) zusätzliche Anreize für europäische Parteien zur Stärkung ihrer politischen Kohärenz und der Einbeziehung der Öffentlichkeit unter den nationalen Parteimitgliedern und über diese hinaus und 4) Maßnahmen, die allen marginalisierten und ausgeschlossenen gesellschaftlichen Gruppen die umfassende Teilnahme an der Demokratie ermöglichen. Die Kommission sollte auch die Durchsetzung der Vorschriften im Bereich der gemeinsamen Verantwortung für die Entwicklung von Medienkompetenz nicht nur der EU und der nationalen Institutionen und der Zivilgesellschaft, sondern auch der Unternehmen, die soziale Medien und digitale Plattformen betreiben, sowie unter politischen Akteuren stärken.

2.   Möglichkeiten zur Stärkung einer sachkundigen Beteiligung der Europäerinnen und Europäer an Wahlen

2.1.   Wirksamere Kampagnen zur Information der Öffentlichkeit

2.1.1.

Die Kontaktaufnahme der EU zu den Bürgerinnen und Bürgern in Form von Informations- und Kommunikationskampagnen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert, und es wurden bemerkenswerte Anstrengungen unternommen, um deutlich zu machen, wie sich EU-Maßnahmen auf konkrete Bereiche des täglichen Lebens auswirken, die Wirkung von EU-Initiativen anhand der Ansichten „normaler“ Menschen zu verdeutlichen und neue Technologien zur Verbreitung von Informationen zu nutzen. Die EU-Institutionen verfügen über umfassende Möglichkeiten zur Information der Öffentlichkeit — über ihre Verbindungsbüros in den Mitgliedstaaten, ihre Websites und die sozialen Medien, ihre Presse- und Medienarbeit, EU-Agenturen und zahlreiche Netze von Experten und Interessenträgern sowie durch ihre Besucherdienste.

2.1.2.

Die EU-Institutionen und die nationalen Regierungen sollten sich weiter und noch intensiver bemühen und untereinander besser koordinieren sowie enger mit der Zivilgesellschaft, den Sozialpartnern und den Vertretungen der EU-Institutionen in den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, korrekte Informationen über die Gesetzgebung sowie die Maßnahmen und Initiativen der EU zu verbreiten und es den Bürgerinnen und Bürgern und Organisationen zu ermöglichen, sich Wissen über EU-Themen anzueignen und sich diesbezüglich zu interessieren und einzubringen. Die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten sollten mehr in den Aufbau der Kapazitäten und die Stärkung repräsentativer Organisationen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner investieren, die den europäischen Gedanken in ihren eigenen basisorientierten Initiativen für europäische Werte verbreiten, und sie als Partner und Katalysatoren im Dialog mit der Öffentlichkeit nutzen.

2.1.3.

Die EU-Institutionen verfügen über umfangreiche Haushaltsmittel für Öffentlichkeitsarbeit, so auch für Kampagnen, auch wenn sich diese Mittel im Vergleich zu den Budgets für öffentliche Information und Kampagnen der nationalen Regierungen (und auch der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften der einzelnen Mitgliedstaaten) zweifellos bescheiden ausnehmen. Darüber hinaus unterstützen einige Generaldirektionen der Kommission auf unterschiedlichste Weise die Bemühungen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner zur Information und Einbeziehung der Europäerinnen und Europäer in die Debatten über konkrete EU-Politikbereiche. Die positive Rolle, die den EU-Institutionen, der europäischen und nationalen Zivilgesellschaft, den Sozialpartnern und den unabhängigen Medien zukommt, sollte mit dem neuen EU-Haushalt ausgebaut werden und darin angemessenen Ausdruck finden.

2.1.4.

Das Europäische Parlament setzt sich seit jeher besonders aktiv dafür ein, das Interesse an den Europawahlen und die Beteiligung daran zu fördern. Bei seiner Kampagne für die Wahl 2019 setzte es auf emotionale Botschaften, die auf die konkreten Anliegen der Wählerinnen und Wähler zugeschnitten waren. Ferner bemühte es sich, die Zivilgesellschaft und die Gewerkschaften wesentlich aktiver einzubinden und einen dezentralen Wahlkampf mit einer größeren Multiplikatorwirkung zu führen, der nicht so sehr auf die Institution ausgerichtet war. Über die Kampagne „Diesmal wähle ich“ erhielten die Organisationen der Zivilgesellschaft die Möglichkeit (und die finanziellen Mittel), eigene Maßnahmen und Öffentlichkeitsarbeit zu entfalten, um die Öffentlichkeit in die Wahlen einzubinden und eigene Ideen und Visionen für die Zukunft Europas zu formulieren. Zudem wurde ein breites Spektrum gesellschaftlicher Akteure, einschließlich der Wirtschaft, inspiriert, sich an Kampagnen für die Teilnahme an der Wahl zu beteiligen. Aus der EP-Umfrage nach der Europawahl (7) geht hervor, dass diese umfassende und interaktive Kampagne möglicherweise zum Anstieg der Wahlbeteiligung beigetragen hat.

2.1.5.

Bei künftigen Maßnahmen zur Förderung der politischen Beteiligung der Europäerinnen und Europäer ist zu berücksichtigen, dass die positive Identifikation mit der EU wächst. So nahm etwa die Zahl der Wähler, die angaben, sie betrachteten es als ihre staatsbürgerliche Pflicht, an den Europawahlen teilzunehmen, um 11 % zu. Im gleichen Maße stieg auch die Zahl der Wähler, die zur Wahl gingen, weil sie für die EU sind, und die Zahl derjenigen, die meinten, sie könnten durch die Teilnahme an der Wahl etwas bewegen, nahm um 6 % zu. Als entscheidende Faktoren mit dem wohl größten Einfluss auf die Bereitschaft, an den nächsten Europawahlen teilzunehmen, werden genannt: bessere Informationen über die EU und ihren Einfluss auf das tägliche Leben (43 %), mehr junge Kandidaten (31 %) und mehr Kandidatinnen (20 %). Die Europäerinnen und Europäer haben darüber hinaus eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass sie eine sachkundigere politische Beteiligung für nötig halten, ein inklusiveres Wahlrecht, eine politische Führung, die einer stärkeren Rechenschaftspflicht unterliegt, sowie einen wirksameren institutionellen Schutz gegen die Verfälschung von Wahlen durch politische Korruption, Desinformation und Cyberattacken (8).

2.1.6.

Bei künftigen Kampagnen zur Information der Öffentlichkeit sollten die EU-Institutionen Themen von besonderer Bedeutung für die Wähler in den Mittelpunkt stellen, und diese Kampagnen sollten über die gesamte Wahlperiode hinweg stattfinden und so bereits vor der nächsten Europawahl eine gemeinsame Wissensgrundlage und ein Gefühl der Verbundenheit mit der EU schaffen. Besondere Aufmerksamkeit sollte darauf gerichtet werden, dass die Informationskampagnen alle geografischen Gebiete und alle gesellschaftlichen Schichten erreichen, insbesondere jene mit minimaler politischer Beteiligung und Teilhabe an der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung, die aufgrund ihrer umfassenden sozialen Ausgrenzung möglicherweise besonders anfällig für böswillige Desinformationskampagnen sind (9). Eine aktive Öffentlichkeitsarbeit der EU-Institutionen erfordert einen tiefergehenden Dialog mit den Menschen vor Ort in der ganzen EU, und zwar durch engere Zusammenarbeit mit lokalen Medien, lokalen Gruppen der Zivilgesellschaft, lokalen Gebietskörperschaften und Programmen für politische Bildung.

2.2.   In die Freiheit und den Pluralismus der Medien sowie in den Journalismus investieren

2.2.1.

Freie und pluralistische Medien, die den Europäerinnen und Europäern korrekte und objektive Informationen liefern, sind von grundlegender Bedeutung für eine sachkundige Debatte über Wahlen und die politische Entscheidungsfindung. Sie sind zudem eine unverzichtbare Waffe gegen Desinformation. Freie und pluralistische Medien müssen für ihre Inhalte geradestehen und Eigentumsverhältnisse sowie wirtschaftliche Interessen offenlegen.

2.2.2.

Trotz des Niedergangs der „klassischen“ Medien (Presse und Rundfunk) infolge der massenhaften Nutzung digitaler und sozialer Medien werden Websites und Social-Media-Konten von Rundfunkanstalten, Zeitungen und Journalisten von den Menschen sehr häufig konsultiert, geteilt und online kommentiert.

2.2.3.

Während die europäischen Länder die Spitzenplätze der Weltrangliste der Pressefreiheit 2019 (10) dominieren („gute Lage der Pressefreiheit“ — in diese Kategorie fallen insgesamt 15 Länder, darunter 9 Mitgliedstaaten) und keines in die unterste Kategorie („sehr ernste Lage“) fällt, wird die Lage in 12 Mitgliedstaaten nur als „ausreichend“ bewertet, in 6 Mitgliedstaaten gibt es ein „spürbares Problem“, und in einem Mitgliedstaat herrscht eine „schwierige Situation“. Zunehmende Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten und ihre Einschüchterung in Mitgliedstaaten ist ein für die europäische Demokratie besorgniserregender Trend, ebenso wie jegliche Einmischung der Politik in die Tätigkeit der Medien.

2.2.4.

Aus den Ergebnissen des Überwachungsmechanismus für Medienpluralismus 2017 (11) geht hervor, dass Marktkonzentration in ausnahmslos allen EU-Ländern ein Faktor für ein mittleres bzw. hohes Risiko für den Medienpluralismus ist. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten verschiedener traditioneller Medienunternehmen deuteten zudem darauf hin, dass die Medienkonzentration auch künftig kaum nachlassen werde und ein möglicher Rückgang der Marktvielfalt ein nach wie vor allgegenwärtiger Risikofaktor sei. Die EU muss kartellrechtliche Maßnahmen ergreifen, um die Eigentumsverhältnisse bei Medien zu diversifizieren und Medienkonzentration und -monopole zu bekämpfen.

2.2.5.

Unabhängiger Journalismus ist ein öffentliches Gut, und es stellt ein klares Marktversagen dar, wenn es nicht gelingt, für vielfältige und pluralistische Medien zu sorgen. Qualität und Vielfalt im Journalismus erfordern die Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit sowie der Qualität der öffentlich-rechtlichen Medien und ihrer langfristigen unabhängigen Finanzierung. Diese wiederum erfordert neue Geschäftsmodelle. Die EU sollte mehr für die Unterstützung der öffentlich-rechtlichen Medien tun, etwa Initiativen zur Ermittlung neuer und nachhaltiger Finanzierungsmodelle ergreifen. In diesem Zusammenhang unterstützt der EWSA Vorschläge für den Haushaltszeitraum 2021-2027 zur Einführung eines Unterbereichs des Programms „Kreatives Europa“ mit einer Mittelausstattung von 61 Mio. EUR, die für Qualitätsjournalismus, einschließlich Medienpluralismus und Medienkompetenz, eingesetzt werden sollen (12). Er fordert jedoch wesentlich umfassendere und strategischer ausgerichtete öffentliche Investitionen in professionellen Journalismus und professionelle Medien.

2.2.6.

Auch sollte die EU unabhängige Medien und investigativen Journalismus stärker unterstützen, einschließlich transnationaler kollaborativen Plattformen. Sie sollte zudem Initiativen fördern, um neue Möglichkeiten der Finanzierung von Qualitätsjournalismus auszuloten, einschließlich nicht gewinnorientierter Modelle sowie neuer sozial nachhaltiger und inklusiver unternehmerischer Modelle.

2.2.7.

Darüber hinaus sollten nationale und europäische Rechtsvorschriften gegen Medienmonopole und marktbeherrschende Positionen gestärkt, überwacht und systematisch durchgesetzt werden. EU-Initiativen zur Überwachung der Unabhängigkeit und Eigentumsverhältnisse der Medien in Europa wie der Überwachungsmechanismus für Medienpluralismus sollten weiter unterstützt werden.

2.2.8.

Die EU sollte auch künftig Selbstregulierungsmaßnahmen und -gremien voranbringen, etwa Verhaltenskodizes und Presseräte zur Stärkung hoher journalistischer Standards, auch in digitalen und sozialen Medien. Die EU muss den gleichberechtigten Zugang zu Informationen für alle Medien fördern und dem politisch motivierten willkürlichen Ausschluss von Journalisten aus Pressekonferenzen und sonstigen Regierungsveröffentlichungen entgegentreten.

3.   Reaktion auf Chancen und Herausforderungen durch digitale und soziale Medien

3.1.

Digitale und soziale Medien erlauben den meisten Menschen einen schnelleren Zugriff auf ein größeres Spektrum an aktuellen Informationen und Standpunkten und bieten ihnen die Möglichkeit, wesentlich leichter an demokratischen Debatten teilzunehmen, die in sozialen Netzwerken geführt werden. Sie sollten es dem Einzelnen auch gestatten, eigene Entscheidungen darüber zu treffen, auf welche Informationen genau er zugreifen will. 2019 (13) nutzten bereits 86 % der Bürger in der EU-27 das Internet und 90 % der Haushalte hatten Internetzugang, allerdings mit Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten: Die Zahlen schwanken zwischen 98 % in den Niederlanden und 75 % in Bulgarien, was immer noch eine erhebliche Abdeckung darstellt (14).

3.2.

Obwohl die digitalen und sozialen Medien einer größeren Zahl von Menschen mehr Chancen auf Teilhabe bieten, besteht bei Plattformen für soziale Medien eine noch größere Konzentration des Eigentums als bei den klassischen Printmedien oder beim Rundfunk, und die für den Einzelnen über seine Konten verfügbaren Informationen werden durch komplizierte, auf wirtschaftlichen Gewinn ausgerichtete und geheime Algorithmen erheblich gefiltert. Im Ergebnis dessen ist das Spektrum an Informationen, die die Menschen erreichen, in Wirklichkeit möglicherweise sogar schmaler als bei den klassischen Medien wie Printjournalismus und Rundfunk. Das Aufkommen der sozialen Medien hat zur Verbreitung von Desinformation geführt — erfundenen Geschichten, die aus verschiedenen Gründen in Umlauf gebracht werden, auch um politische Debatten und Wahlergebnisse zu beeinflussen. Hinter dieser Desinformation stecken oftmals gefälschte Nutzerkonten. Wissenschaftler sind der Auffassung, dass Desinformation einen erheblichen Einfluss auf das Wählerverhalten bei der Präsidentschaftswahl 2016 in den USA hatte.

3.3.

Im Rahmen der Initiativen der Kommission zur Eindämmung von Desinformation und zur Gewährleistung transparenter, fairer und glaubwürdiger Online-Kampagnen im Vorfeld der letzten Europawahl unterzeichneten Online-Plattformen, soziale Netzwerke und die Werbebranche (einschließlich Facebook und Twitter) im September 2018 einen Verhaltenskodex (15) für die Selbstregulierung, um die Verbreitung von Desinformation und gezielten Falschmeldungen im Internet zu bekämpfen. Darin wird ein breites Spektrum an Verpflichtungen festgeschrieben, angefangen bei der Transparenz bei politischer Werbung bis hin zu Abschaltung von Scheinkonten und der Verringerung finanzieller Verdienstmöglichkeiten für Desinformationslieferanten (16). Dieser Verhaltenskodex gilt als wichtiges Element des Aktionsplans der Kommission gegen Desinformation und umfasst auch einen Anhang mit bewährten Methoden der Unterzeichner (17).

3.4.

Alle Plattformen haben im Vorfeld der Europawahl Vorkehrungen getroffen und politische Werbung gekennzeichnet und über eine Anzeigenbibliothek mit Suchfunktion öffentlich verfügbar gemacht (18). Aufgrund der von Facebook eingeführten Selbstregulierung durfte politische Werbung nur noch in dem Land angezeigt werden, für das die betroffenen Parteien eine entsprechende Genehmigung hatten. Als deutlich wurde, dass diese Vorschrift die Möglichkeit der europäischen Parteien, EU-weit Wahlkampf zu führen, beeinträchtigte, wurde ad hoc beschlossen, diese von der Regelung auszunehmen (19).

3.5.

Allerdings ergaben die ersten jährlichen Selbstbewertungsberichte der Unterzeichner des Verhaltenskodexes vom Oktober 2019 (20) sowie der Bericht der Gruppe europäischer Regulierungsstellen für audiovisuelle Mediendienste (ERGA) vom Juni 2019 (21), dass nicht jede politische Werbung in den entsprechenden Archiven der Plattformen korrekt als solche gekennzeichnet war und dass die Archive nach wie vor keine ausreichenden Angaben zum Mikrotargeting offenlegen, um Wählermanipulation zu verhindern und für mehr Transparenz politischer Kampagnen und politischer Werbung, einschließlich ihrer Finanzierungsquellen und Verbindungen zu konkreten Interessengruppen, zu sorgen. Darüber hinaus haben die Unterzeichner des Kodexes keine gemeinsamen Standards festgelegt, nach denen Forschern und Journalisten unter Achtung des Rechts der Nutzer auf Datenschutz und Zustimmung der Zugang zu personenbezogenen Daten gewährt wird.

3.6.

Mit Blick auf die festgestellten Mängel bei der Selbstregulierung und die laufende Bewertung des Verhaltenskodexes durch die Kommission fordert der EWSA die Kommission auf, legislative Maßnahmen zu ergreifen, wenn der freiwillige Verhaltenskodex allein nachweislich nicht ausreicht, um substanzielle Fortschritte zur Umsetzung der Ziele der Kommission zu bewirken. Die Selbstregulierung im Bereich der Desinformation im Internet muss erheblich verbessert werden. Zudem muss ein umfassendes Konzept für ihre Regulierung verabschiedet werden. Es ist an der Zeit, im neuen Wahlpaket der Kommission und im Europäischen Aktionsplan für Demokratie die Regulierung der sozialen Medien und digitalen Plattformen auszubauen und vorzuschlagen, wobei der Schwerpunkt auf der Transparenz aller Aspekte der politischen Werbung (Regeln für Finanzierung, Kennzeichnung und Offenlegung) und auf der Desinformation liegen sollte.

3.7.

Bei der Förderung der Rechenschaftspflicht im Internet sollte es nicht nur um Maßnahmen zur Transparenz gehen, bei denen die Informationsquellen offengelegt werden, sondern es sollte auch die Rechenschaftspflicht von Akteuren in einem Ökosystem eine Rolle spielen, das mit der Verbreitung irreführender und sensationsheischender Inhalte Gewinne erzielt. Desinformation ist ein Symptom konzentrierter, unkontrollierter digitaler Märkte, ständigen Trackings und illegalen Umgangs mit persönlichen Daten. Dominante Unternehmen im Bereich der sozialen Medien machen Gewinne, indem sie durch die Verbreitung von aufmerksamkeitsheischenden Inhalten, unabhängig von deren Wahrheitsgehalt, dem Profiling dienende Daten generieren. Dieser Art der Datenmanipulation muss mit einer umfassenden und korrekten Durchsetzung der Datenschutz-Grundverordnung entgegengewirkt werden, sodass für Unternehmen weniger Anreize gesetzt werden, ein auf Sensationsgier und Schock beruhendes Geschäftsmodell anzuwenden. Wenn das grundlegende Geschäftsmodell der Plattformen selbst das Problem begünstigt oder vergrößert, genügt es nicht, die Plattformen zur Verwendung von Verfahren zur Beseitigung oder Überprüfung anzuhalten. Daneben muss die marktbeherrschende Stellung von Unternehmen der Digitalwirtschaft und der sozialen Medien mittels nationaler und europäischer Rechtsvorschriften eingedämmt werden. Außerdem ist die Einführung einer Verpflichtung zur Interoperabilität zu prüfen, indem gemeinsame Protokolle geschaffen werden, damit ein Informationsfluss über Plattformen hinweg möglich ist.

3.8.

Bei der Bekämpfung von Desinformation müssen die EU-Institutionen, die Zivilgesellschaft, die Sozialpartner, die unabhängigen Medien, die sozialen Medien und die Online-Plattformen sowie die Öffentlichkeit stärker und umfassender einbezogen werden (22). Der EWSA begrüßt die Initiative der Europäischen Kommission in Gestalt der GD CONNECT, eine europäische Beobachtungsstelle für digitale Medien zu schaffen, eine Plattform für Faktenprüfer, Wissenschaftler und Forscher, auf der sie zusammenarbeiten und sich aktiv mit Medienorganisationen und Experten für Medienkompetenz vernetzen können und die politisch Verantwortliche unterstützt (23). Der EWSA empfiehlt, zusätzliche Mittel in die Entwicklung und den Ausbau dieser Beobachtungsstelle zu investieren.

4.   Verhinderung böswilliger Einmischung in die Europawahlen über das Internet

4.1.

Eine weitere Gefahr, die das Internet mit sich bringt, besteht in der leichteren Einflussnahme auf Wahlen über gefälschte Nutzerkonten, Trolle in sozialen Medien und staatlich gesteuerte Medien. Zwar ist in diesem Zusammenhang meist von Einmischung aus dem Ausland die Rede, doch ist die Wirklichkeit wesentlich komplexer: Desinformation aus der EU selbst ist ein mindestens ebenso großes Problem, und lokale Proxy-Server, neue Technologien und sonstige Entwicklungen (etwa die Verwendung geschlossener Gruppen) erschweren die Unterscheidung zwischen aus- und inländischer Desinformation zusätzlich. Russland beispielsweise wird vorgeworfen, Einfluss auf die US-Präsidentschaftswahl 2016, das Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich, einige Wahlen, die kürzlich in der EU stattgefunden haben (24), sowie die Wahl zum Europäischen Parlament im Mai 2019 (25) genommen zu haben. Die Einmischung weiterer Akteure aus dem In- und Ausland stellt jedoch eine ebenso besorgniserregende Gefahr dar.

4.2.

Im Aktionsplan gegen Desinformation der Europäischen Kommission heißt es, dass „Berichten zufolge […] mehr als 30 Länder Desinformation [einsetzen] und […] Aktivitäten [beeinflussen]“. (26) Der Europäische Auswärtige Dienst hat eine Dienststelle (East StratCom Task Force) eingerichtet, die Desinformation zugunsten des Kreml beobachtet und über eine eigene Website (27) enthüllt. Er hat ferner die Taskforces für strategische Kommunikation „Westbalkan“ und „Süden“ eingerichtet.

4.3.

Die EAD-Initiative zur Einrichtung eines Frühwarnsystems (ein Netz von Regierungsbeamten der Mitgliedstaaten, die im Bereich Desinformation tätig sind) ist begrüßenswert und sollte gestärkt und ausgeweitet werden. Dabei ist den Mitgliedstaaten nahezulegen, einen engen Informationsaustausch zwischen dem Frühwarnsystem und den jüngst geschaffenen nationalen Wahlnetzen sicherzustellen, die grundsätzlich auch einschlägige Organisationen der Zivilgesellschaft und Faktenprüfer einbeziehen sollten. Künftig sollte ferner in jedem Land und EU-weit ein regelmäßiger Informationsaustausch zwischen dem Frühwarnsystem und den Gremien der Beobachtungsstelle für digitale Medien stattfinden.

4.4.

Angesichts der Bedeutung der Instrumente zur Verhinderung einer Einmischung für die europäische Demokratie sollte die Arbeit der Initiativen der Dienststellen des EAD zur Bekämpfung von Desinformation ausgeweitet und gestärkt werden, auch zur Überwachung und Bekämpfung von Desinformation aus anderen Ländern und Regionen und zur Intensivierung des Informationsaustauschs mit vergleichbaren Präventionsinstrumenten, wie sie etwa von Kanada und Australien geschaffen wurden. Zugleich müssen die Maßnahmen der EU gegen Desinformation aus der EU selbst erheblich ausgeweitet werden, und zwar auf eine umfassende Art und Weise, die eine zeitnahe Überwachung ermöglicht, den professionellen Journalismus stärkt und der Medienkompetenz zugutekommt.

4.5.

Der EWSA weist darauf hin, dass es angesichts der COVID-19-Krise, die ausbrach, als diese Stellungnahme schon erstellt worden war, umso dringlicher ist, dass die Kommission weitere Maßnahmen ergreift, um Desinformation im Zusammenhang mit den Ursachen, der Ausbreitung und der Behandlung der Infektion zu bekämpfen, da diese der öffentlichen Gesundheit schaden kann. Der Inhalt der Informationen aus den sozialen Medien im Zusammenhang mit der Pandemie könnte, wenn diese nicht ordnungsgemäß kontrolliert und geleitet werden, zu schädigendem Verhalten führen und Panik verbreiten, wodurch die Gesundheit der Bevölkerung gefährdet wird. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, wachsam zu sein und mit den Mitgliedstaaten und den sozialen Akteuren zusammenzuarbeiten, um die überaus ernst zu nehmenden Folgen dieser Desinformation sowohl aus inländischen als auch aus ausländischen Quellen anzugehen (28).

5.   Ausbau der Medienkompetenz und der politischen Bildung der Europäer

5.1.

Um die EU widerstandsfähig gegenüber antidemokratischen Tendenzen und Bedrohungen zu machen, müssen die Medienkompetenz und die aktive Bürgerschaft der Europäerinnen und Europäer unbedingt systematisch gefördert werden. Wie der EWSA in seinen jüngsten Stellungnahmen (29) betont hat, fordert er eine neue Dynamik bei der Europabildung in der neuen Mandatsperiode der EU-Institutionen. Der EWSA interpretiert die Pariser Erklärung aus dem Jahr 2015 (30) und die Empfehlung des Rates aus dem Jahr 2018 (31) als klaren Auftrag der Mitgliedstaaten, der zudem durch die Entschließung des EP aus dem Jahr 2016 (32) unterstützt wird, die Vermittlung und den Erwerb von Wissen über die Europäische Union fest in der politischen Agenda zu verankern.

5.2.

Der EWSA betont, dass der erste Grundsatz der europäischen Säule sozialer Rechte („Jede Person hat das Recht auf allgemeine und berufliche Bildung und lebenslanges Lernen von hoher Qualität und in inklusiver Form.“ (33)) umgesetzt werden muss, und empfiehlt (34), die EU-Bildung und die Entwicklung einer EU-Identität in die Strategie Europa 2030 und den Strategierahmen für allgemeine und berufliche Bildung 2030 sowie in das Europäische Semester (in die entsprechenden länderspezifischen Empfehlungen) aufzunehmen, sofern präzise systematische Daten verfügbar sind.

5.3.

Zur Förderung weiterer politischer Unterstützung für bessere politische Bildung im Hinblick auf die EU fordert der EWSA die Einsetzung einer hochrangigen Expertengruppe zum Thema „Europa vermitteln“ auf europäischer Ebene mit Vertretern der Mitgliedstaaten und führenden Bildungsexperten. Diese Gruppe könnte Vorschläge für politische Maßnahmen und Empfehlungen aufstellen, die von den Bildungsministern erörtert werden und in Schlussfolgerungen des Rates münden könnten. Die Gruppe könnte auch praktische Verbesserungen anstoßen, etwa eine zentrale Online-Plattform, auf der das vorhandene Unterrichtsmaterial erfasst ist, das im Rahmen EU-geförderter Projekte und nationaler Lehrpläne erarbeitet wurde, wie vom EWSA vorgeschlagen.

5.4.

Der EWSA hält es für erforderlich, dass die tatsächliche Situation in den Mitgliedstaaten in Bezug auf die EU-Bildung an Schulen, die Lehrerausbildung und die berufliche Weiterbildung sowie von der Zivilgesellschaft und den Sozialpartnern entwickelte EU-Bildungsprogramme (35) auf der Grundlage der Studie von 2013 „Learning Europe at School“ (36) aufs Neue kritisch unter die Lupe genommen wird. Dies könnte Ausgangspunkt für umfassendere Maßnahmen sein. Darüber hinaus müssen die Kapazitäten in der Bildung sowie die Finanzierungsquellen umfassend überprüft werden mit dem Ziel, den Erwachsenen in der EU Kompetenzen für die aktive Bürgerschaft zu vermitteln, wie im überarbeiteten europäischen Referenzrahmen für Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen (37) niedergelegt.

5.5.

Die europäische Zivilgesellschaft und die Sozialpartner sprechen sich seit langem nachdrücklich für eine angemessene Finanzierung der politischen Bildung zu EU-Themen, Kultur und Bürgerschaft zur Ergänzung der nationalen Förderung aus. Die EU sollte die Mitgliedstaaten dabei unterstützen, dafür zu sorgen, dass Schulleiter, Lehrkräfte und sonstiges im Bildungsbereich tätiges Personal besser gerüstet sind, um kritisches Denken, demokratische Werte und Menschenrechte, Bürgerbeteiligung und den verantwortungsbewussten Umgang mit neuen Technologien zu fördern. Mobilitätsprogramme für den Austausch von Lehrkräften, Wissenschaftlern und Studierenden, die die Möglichkeit erhalten sollen, EU-Werte wie Demokratie, Freiheit und Toleranz in einem anderen Lernumfeld und in anderen Mitgliedstaaten zu erfahren, sollten gestärkt und ausgeweitet werden (38).

5.6.

Medienkompetenz für alle Generationen einer Gesellschaft sowie Schulungen von und für Journalisten sollten von der EU in allen Mitgliedstaaten erheblich gefördert und finanziell unterstützt werden. Dies muss systematisch und in enger Zusammenarbeit mit den nationalen Bildungseinrichtungen und unabhängigen nationalen Agenturen, die für die Medienaufsicht zuständig sind, erfolgen. Ziel ist, dass die Europäerinnen und Europäer angesichts der zunehmenden Bedrohungen durch weitverbreitete und oft böswillige Desinformation rasch zu einem wesentlich höheren Maß an Medienkompetenz gelangen.

5.7.

Die EU sollte die Mitgliedstaaten in ihren Bemühungen um die Umsetzung ihrer neuen Verpflichtung umgehend unterstützen, nämlich die Entwicklung von Medienkompetenz zu fördern und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, einschließlich neuer Bildungsprogramme und einer wirksamen Beaufsichtigung von Video-Sharing-Plattformen, wie in der kürzlich geänderten Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Richtlinie) festgelegt. In diesem Zusammenhang erwartet der EWSA eindeutige Leitlinien der Sachverständigengruppe „Medienkompetenz“, die am 30. März 2020 in Zagreb (Kroatien) im Rahmen der zweiten Woche der Medienkompetenz zusammenkommen wird. Bei dieser Veranstaltung handelt es sich um eine neue EU-weite Initiative zur Sensibilisierung, die im vergangenen Jahr angestoßen wurde.

6.   Ein inklusives Wahlrecht auch für die Europawahlen

6.1.

EU-weit besteht bei unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen die Gefahr, von Wahlen ausgeschlossen zu sein: Menschen mit Behinderungen, ethnische Minderheiten (vor allem Roma), Arbeitnehmer aus anderen europäischen Ländern und Immigranten sowie arme Menschen, Arbeitslose, Geringqualifizierte und Menschen im ländlichen Raum. Da immer noch die Hälfte der Europäerinnen und Europäer nicht an den Europawahlen teilnimmt, müssen strukturelle Ungleichheiten, die sich auf das Wahlverhalten auswirken, bei den geplanten Initiativen zur Stärkung der europäischen Demokratie und zur Gewährleistung der Gleichbehandlung aller Europäerinnen und Europäer bei der nächsten Europawahl angegangen werden.

6.2.

Wie in dem ausführlichen Informationsbericht (39) des EWSA von März 2019 herausgearbeitet, können viele Menschen in allen 27 Mitgliedstaaten aufgrund rechtlicher oder praktischer Hürden nicht an den Europawahlen teilnehmen. Dies bedeutet etwa, dass Menschen mit Behinderungen ihre politischen Rechte nicht wahrnehmen können. Etwa 800 000 Europäer aus 16 Mitgliedstaaten sind wegen ihrer Behinderung oder psychischer Probleme aufgrund nationaler Vorschriften vom Recht auf Teilnahme an den Wahlen zum EP ausgeschlossen, und weitere Millionen Europäer können aus praktischen Gründen (technische Hindernisse) nicht an der Wahl teilnehmen, da ihre Bedürfnisse aufgrund einer Behinderung nicht berücksichtigt werden.

6.3.

Der EWSA schlägt vor, in das neue Paket zur Wahlreform und in den Europäischen Aktionsplan für Demokratie einen EU-Fahrplan für ein inklusives Wahlrecht aufzunehmen, dem ein Vorschlag beigefügt ist, wie die Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der notwendigen Modernisierung des Wahlvorgangs finanziert werden kann. Dieser Vorschlag sollte auch technische Anpassungen und Unterstützungsdienste für benachteiligte gesellschaftliche Gruppen enthalten, die häufig von den Wahlen ausgeschlossen sind und ein geringeres Maß an politischer Teilhabe in einem bestimmten nationalen Kontext aufweisen. Der Fahrplan sollte auf einer gründlichen Erfassung der Hindernisse aufbauen, mit denen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen konfrontiert sind, die Gefahr laufen, von Wahlen ausgeschlossen zu werden. Nationale Wahlbehörden, Bürgerbeauftragte und die entsprechenden nationalen zivilgesellschaftlichen Organisationen und sowie ihre europäischen Netzwerke sollten daran mitwirken.

6.4.

Die geltenden Unionsvorschriften regeln bereits jetzt eine Reihe von Fragen bezüglich der Wahlen zum EP. Einer Einbeziehung von Regelungen zur Sicherstellung des Wahlrechts für Menschen mit Behinderungen in diese Vorschriften steht daher formal nichts im Wege. Würde man die bereits erprobten vorbildlichen Verfahrensweisen aus allen Mitgliedstaaten umsetzen, so ergäbe sich nach Auffassung des EWSA ein ideales System, in dem alle Europäer mit Behinderungen nicht nur ihr Wahlrecht in umfassender Weise ausüben, sondern auch die jeweils für sie am besten geeignete und bequemste Form dafür wählen könnten.

6.5.

Der EWSA schlägt deshalb im Kontext der anstehenden politischen Debatte über die Reform der Europawahlen und des Europäischen Aktionsplans für Demokratie vor, zusätzlich zu umfassenderen Maßnahmen, die in dem vorgeschlagenen EU-Fahrplan für ein inklusives Wahlrecht vorgesehen sind, eine Initiative zur Festlegung von Mindeststandards für die Teilnahme von Menschen mit Behinderungen an Wahlen zu erwägen. Der Vorschlag sollte in Form eines Politikdialogs mit den nationalen Wahlbehörden, Fachleuten für soziale Inklusion und Wahlen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Menschen mit Behinderungen vertreten, entwickelt werden.

7.   Mehr Bürgerorientierung und Rechenschaftspflicht der europäischen Parteien

7.1.

Im Vertrag von Maastricht 1992 heißt es: „Politische Parteien auf europäischer Ebene sind wichtig als Faktor der Integration in der Union. Sie tragen dazu bei, ein europäisches Bewusstsein herauszubilden und den politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck zu bringen.“ Die relativ neue und allmähliche Entwicklung europäischer Parteien hin zu überstaatlichen politischen Akteuren mit integrierten Leitungsstrukturen, die kohärente politische Agenden vorlegen und Wähler in der gesamten EU mobilisieren können, stellt eine strukturelle Herausforderung in Bezug auf die politische Teilhabe der Europäerinnen und Europäer dar. Insbesondere der Rechtsrahmen für die Verwaltung und Finanzierung der europäischen Parteien hat sich erst seit dem Vertrag von Nizza 2003 entwickelt und ist nach wie vor nicht sehr ausgeprägt in Bezug auf organisatorische und programmatische Kohärenz, die die Fähigkeit der europäischen Parteien, die politische Integration der EU auf der Grundlage gemeinsamer Werte und der Einbeziehung der Öffentlichkeit zu gestalten und zu stärken, begünstigen sollte.

7.2.

Die weitere Regulierung sollte darauf ausgerichtet sein, die aktive Förderung der Werte der EU durch die europäischen Parteien sowie ihre länderübergreifende politische Kohärenz und ihre organisatorischen Fähigkeiten zu stärken und Menschen innerhalb und außerhalb der sehr unterschiedlich zusammengesetzten nationalen Parteien in vielen verschiedenen Teilen der EU einzubinden.

7.3.

In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA den Vorschlag der Kommission, die geltende rechtliche Verpflichtung der europäischen Parteien und ihrer nationalen Mitgliedsparteien, die Grundwerte der EU gemäß Artikel 2 EUV zu respektieren, konsequenter durchzusetzen. Dies bezieht sich auf die Werte, die sie in ihren politischen Programmen und Kampagnen vertreten, auf ihre internen Verfahren im Hinblick auf Gleichstellung und Nichtdiskriminierung sowie auf die Achtung der Rechtsstaatlichkeit und die Bekämpfung von Korruption. Die Kommission könnte die Behörde für europäische politische Parteien und europäische politische Stiftungen gegebenenfalls auffordern, zu prüfen, ob die in der Verordnung festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind (40).

7.4.

Bei weiteren ordnungspolitischen Maßnahmen sollten die aktuellen politischen Diskussionen und Vorschläge, einschließlich einer Reihe von Ideen zur Entwicklung der europäischen Parteien hin zu mehr Bürgernähe und stärkerer Rechenschaftspflicht gegenüber der europäischen Öffentlichkeit, berücksichtigt werden, etwa durch Erklärungen der nationalen Parteien, welcher europäischen Partei sie sich anzuschließen gedenken, länderübergreifende Listen, transparente Mittelbeschaffung und Kampagnen, Einzelmitgliedschaften, von der Basis ausgehende Einbindung der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner sowie Rechenschaft für politische Inhalte, die eklatant gegen gemeinsame EU-Werte verstoßen (41). Diese Fragen sollten auch auf die Tagesordnung der Konferenz zur Zukunft Europas gesetzt werden, die hoffentlich beträchtliche Möglichkeiten für die umfassende und fundierte Beteiligung der Zivilgesellschaft, der Sozialpartner und der europäischen Öffentlichkeit an der demokratischen Reform der EU bieten wird.

Brüssel, den 10. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/1f2a7ac7-d8f7-11e9-9c4e-01aa75ed71a1. Die Wahlbeteiligung in Europa ist seit dem Beginn der 1990er-Jahre allerdings zurückgegangen, und zwar um 20 % in den sogenannten neuen und um 10 % in den sogenannten alten Mitgliedstaaten.

(2)  Bei der Wahl zum Europäischen Parlament 2004 lag die Beteiligung bei 45 %, 2009 bei 43 % und 2014 bei 42,6 %. 2019 stieg sie auf 50,66 % — damit gingen zum ersten Mal seit 1979 wieder mehr Menschen wählen als bei den vorherigen Wahlen. Quelle: https://blogs.eurac.edu/eureka/david-vs-goliath-of-voter-turnout-why-is-the-participation-in-eu-elections-so-low/.

(3)  https://medium.com/we-are-the-european-journalism-centre/more-than-meets-the-eye-tips-to-find-eu-funding-for-journalism-92f3f1143042.

(4)  Aktionsplan der EU gegen Desinformation, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1581956115933&uri=CELEX:52018JC0036.

(5)  ABl. C 282 vom 20.8.2019, S. 39, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat — Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union — Aktuelle Lage und mögliche nächste Schritte, 3. April 2019.

(6)  https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_18_5681.

(7)  https://www.europarl.europa.eu/at-your-service/files/be-heard/eurobarometer/2019/election2019/EB915_SP_EUROBAROMETER_POSTEE19_FIRSTRESULTS_EN.pdf.

(8)  Dies geht aus der bereits genannten Quelle hervor: EP-Umfrage nach der Europawahl vom Juni 2019, an der 22 464 Personen teilnahmen.

(9)  ABl. C 97 vom 24.3.2020, S. 53.

(10)  https://rsf.org/en/world-press-freedom-index.

(11)  https://cmpf.eui.eu/media-pluralism-monitor/mpm-2017-2/.

(12)  https://medium.com/we-are-the-european-journalism-centre/more-than-meets-the-eye-tips-to-find-eu-funding-for-journalism-92f3f1143042.

(13)  https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/tin00028/default/table?lang=en.

(14)  https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/tin00134/default/table?lang=en.

(15)  https://ec.europa.eu/commission/news/code-practice-against-disinformation-2019-jan-29_de.

(16)  https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/news/code-practice-disinformation.

(17)  In einem im Juni 2019 veröffentlichten Fortschrittsbericht heißt es unter anderem: „Facebook sperrte im ersten Quartal 2019 2,2 Mrd. Scheinkonten und ging gegen 1 574 nicht in der EU ansässige sowie 168 in der EU ansässige Seiten, Gruppen und Konten vor, die an auf EU-Mitgliedstaaten abzielendem fragwürdigem Handeln beteiligt waren“ und „Twitter berichtete über die Ablehnung von über 6 000 für die Verbreitung in der EU vorgesehenen Werbeanzeigen, die die Werberichtlinien zu inakzeptablen Geschäftspraktiken verletzten, sowie von etwa 10 000 weiteren Anzeigen, die den Richtlinien bezüglich Qualität von Werbeanzeigen nicht entsprachen“.

(18)  https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/de_communication_on_disinformation_factsheet_proof_1.pdf.

(19)  https://twitter.com/alemannoEU/status/1119270730280132610.

(20)  https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/news/annual-self-assessment-reports-signatories-code-practice-disinformation-2019.

(21)  http://erga-online.eu/wp-content/uploads/2019/06/ERGA-2019-06_Report-intermediate-monitoring-Code-of-Practice-on-disinformation.pdf.

(22)  https://eeas.europa.eu/sites/eeas/files/aktionsplan_gegen_desinformation.pdf.

(23)  https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/news/commission-launches-call-create-european-digital-media-observatory.

(24)  https://carnegieendowment.org/files/CP_333_BrattbergMaurer_Russia_Elections_Interference_FINAL.pdf.

(25)  https://www.politicalcapital.hu/pc-admin/source/documents/pc_russian_meddling_ep2019_eng_web_20190520.pdf.

(26)  https://eeas.europa.eu/sites/eeas/files/aktionsplan_gegen_desinformation.pdf.

(27)  https://euvsdisinfo.eu/de.

(28)  https://www.disinfo.eu/coronavirus/.

(29)  ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 52, ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 68.

(30)  Pariser Erklärung vom 17.3.2015.

(31)  Empfehlung des Rates vom 22. Mai 2018 zur Förderung gemeinsamer Werte, inklusiver Bildung und der europäischen Dimension im Unterricht (ABl. C 195 vom 7.6.2018, S. 1).

(32)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. April 2016 zum Erwerb von Kenntnissen über die EU an Schulen (2015/2138(INI)) (ABl. C 58 vom 15.2.2018, S. 57).

(33)  ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 68.

(34)  ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 68.

(35)  https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/83be95a3-b77f-4195-bd08-ad92c24c3a3c.

(36)  ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 52.

(37)  Empfehlung des Rates vom 22. Mai 2018 zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen (ABl. C 189 vom 4.6.2018, S. 1).

(38)  https://www.csee-etuce.org/images/attachments/ST_Citizenship_2018.pdf.

(39)  Informationsbericht des EWSA „Die praktische Ausübung des Wahlrechts durch Menschen mit Behinderungen bei der Europawahl“, 20. März 2019.

(40)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/DOC/?uri=CELEX:52019DC0343&from=DE.

(41)  https://www.idea.int/sites/default/files/publications/reconnecting-european-political-parties-with-european-union-citizens.pdf; https://carnegieeurope.eu/2019/11/06/six-ideas-for-rejuvenating-european-democracy-pub-80279; https://euroflections.se/globalassets/ovrigt/euroflections/euroflections_v3.pdf.


18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/36


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Finanzierung der Umstellung auf eine Niedrigemissionswirtschaft und Herausforderungen für die Finanzierung von Maßnahmen für die Anpassung an den Klimawandel“

(Sondierungsstellungnahme)

(2020/C 311/04)

Berichterstatter:

Toni VIDAN (HR-III)

Mitberichterstatter:

Dimitris DIMITRIADIS (EL-I)

Befassung

Kroatischer EU-Ratsvorsitz, 10.9.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

27.5.2020

Verabschiedung im Plenum

11.6.2020

Plenartagung Nr.

552

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

227/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt und unterstützt nachdrücklich die einschlägigen Schlussfolgerungen des Europäischen Rates und den angekündigten europäischen Grünen Deal (EGD) (1), in denen das gemeinsame Ziel festgeschrieben ist, „bis 2050 eine klimaneutrale Union zu erreichen“.

1.2.

Angesichts der Covid-19-Krise hat der Ausschuss bereits beispiellose Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten (2) und ein umfassendes europäisches Aufbauprogramm gefordert, damit die EU-Mitgliedstaaten, Bürger, Unternehmen und Arbeitnehmer die Folgen der Covid-19-Pandemie bestmöglich überwinden und eine nachhaltigere und widerstandsfähigere europäische Wirtschaft schaffen können. Das mit 750 Mrd. EUR dotierte Aufbauinstrument „Next Generation EU“ und die gezielten Aufstockungen des langfristigen EU-Haushalts für den Zeitraum 2021-2027 werden die finanzielle Schlagkraft des EU-Haushalts auf insgesamt 1,85 Billionen EUR erhöhen. Neben dem Aufbau liegt der Schwerpunkt dabei auf dem europäischen Grünen Deal und der Digitalisierung, um Beschäftigung und Wachstum zu fördern, die Resilienz unserer Gesellschaften zu stärken und die Gesundheit unserer Umwelt zu verbessern.

1.3.

Der EWSA unterstützt die am 17. April 2020 mit überwältigender Mehrheit angenommene Entschließung des Europäischen Parlaments, den EGD in den Mittelpunkt des Konjunktur- und Aufbaupakets zu stellen, „damit die Wirtschaft angekurbelt wird, ihre Widerstandsfähigkeit erhöht wird und Arbeitsplätze geschaffen werden und gleichzeitig zum ökologischen Wandel beigetragen wird, eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung […] gefördert wird“ (3).

1.4.

Der EWSA befürwortet den Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal (IPEGD) als erste tragende finanzielle Säule des Übergangs zu einer Niedrigemissionswirtschaft sowie den Mechanismus für einen gerechten Übergang (4). Der EWSA betrachtet diese Initiativen als erste Schritte in die richtige Richtung und fordert die EU-Institutionen dringend auf, transparente und partizipative Verfahren einzurichten, um unter wirksamer Einbeziehung aller einschlägigen Interessenträger die weiteren Schritte vorzubereiten und auf die konjunkturelle Erholung und einen gerechten Übergang hin zu einer Ökonomie des Wohlergehens (5) abzustimmen.

1.5.

Angesichts der beispiellosen Krise, in der wir uns befinden, fordert der EWSA einen ehrgeizigen Aufbauplan im Einklang mit dem Übereinkommen von Paris. Eine zentrale Rolle sollte dabei ein Klimaschutzbudget spielen, dessen Umfang mindestens der ermittelten Investitionslücke von ca. 300 Mrd. EUR jährlich entspricht. Hohe Priorität sollte der Förderung dezentraler Dekarbonisierungsprojekte eingeräumt werden, die gemeinsam von den Bürgern, KMU, Energiegemeinschaften und öffentlichen Einrichtungen auf lokaler und regionaler Ebene konzipiert und mitgetragen werden.

1.6.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass der Übergang und der Wiederaufbau nach der Covid-19-Krise gerecht gestaltet werden und zu einer gerechteren und nachhaltigen EU führen müssen, da sie sonst scheitern und das europäische Projekt als solches gefährden werden. Eine wesentliche Voraussetzung für einen gerechten Übergang ist die politische, soziale und wirtschaftliche Inklusion der Bürgerinnen und Bürger, Arbeitnehmer, Gemeinschaften und kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), insbesondere in ländlichen Regionen mit Entwicklungsrückstand in der EU, ohne dabei Mitgliedstaaten zu diskriminieren, die derzeit nicht dem Euro-Währungsgebiet angehören. Besonders wichtig ist es, Kriterien festzulegen, an denen ein gerechter Übergang ausgerichtet werden kann, woran alle Interessenträger auf allen Ebenen beteiligt werden müssen. Der EWSA hat zu dieser Debatte bereits einen Beitrag geleistet (6).

1.7.

Der EWSA unterstreicht, dass ein gerechter Übergang und der Wiederaufbau nach der Covid-19-Krise auch dazu beitragen müssen, dass Verbraucher und Gemeinschaften zu aktiven Prosumern (d. h. sowohl Erzeugern als auch Verbrauchern) nachhaltiger Erzeugnisse und Dienste im Energie- und Verkehrsbereich werden.

1.8.

Der EWSA fordert den raschen Abbau von Hemmnissen für die Umschichtung von öffentlichen und privaten Mitteln, vor allem bezüglich der bestehenden direkten und indirekten Beihilfen für fossile Brennstoffe sowie steuerlicher Hemmnisse.

1.9.

Der EWSA befürwortet ein starkes Mandat für die Europäische Kommission, eine neue EU-Strategie für Klimafolgenanpassung aufzustellen, und spricht sich dafür aus, auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Eindämmungs- und Anpassungsmaßnahmen zu achten. Seiner Ansicht nach sollte baldmöglichst eine inklusive strategische Debatte über die Entwicklung innovativer Finanzierungsmechanismen für Anpassungsmaßnahmen und eines spezifischen Fonds für eine gerechte Anpassung aufgenommen werden.

1.10.

Der EWSA fordert eine erhebliche Aufstockung der verfügbaren Mittel, die Auflage eines gezielten Jugendprogramms „Europäisches Solidaritätskorps für Klimaschutz“ sowie Mittel für die Zusammenarbeit zwischen lokalen Gebietskörperschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Entwicklung klimaverträglicher Bürgerenergie- und lokal verankerter Verkehrsvorhaben.

1.11.

Nach Meinung des EWSA sollte der EGD zur Förderung der Sicherheit und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der EU und insbesondere der KMU beitragen, die zunehmendem Wettbewerb aus aufstrebenden Volkswirtschaften ausgesetzt sind. Er unterstützt die Vorschläge für einen CO2-Grenzausgleichsmechanismus.

2.   Einleitung und allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der EWSA erarbeitet diese Stellungnahme auf Ersuchen des kroatischen EU-Ratsvorsitzes. Dieser möchte begrüßenswerterweise eine Debatte auf EU-Ebene darüber anregen, wie das Finanzierungssystem verbessert werden kann, um den wachsenden Mittelbedarf für den Übergang zu einer Niedrigemissionswirtschaft und für die Anpassung an den Klimawandel zu decken. In der späten Erarbeitungsphase dieser Stellungnahme wurden die Welt und die EU von der Covid-19-Pandemie erfasst, und es sollen einige erste Antworten auf diese neue Realität aufgegriffen werden.

2.2.

Wir erleben die Ausbreitung einer Katastrophe für die Menschheit mit Todesopfern, weit verbreiteter Krankheit, sozialen Härten und dem Verlust von Arbeitsplätzen von beispiellosem Ausmaß. Bei schlechtem Krisenmanagement drohen ebenso gravierende Folgen wie bei der Großen Depression von 1929. Bei gutem Management kann die EU diese Krise gemeinsam bewältigen, Leben und gesellschaftliches Wohlergehen retten, unsere sozioökonomischen Modelle auf die Menschen und die natürliche Welt ausrichten und globale Partnerschaften für nachhaltige Entwicklung fördern.

2.3.

Der EWSA begrüßt und unterstützt nachdrücklich die einschlägigen Schlussfolgerungen des Europäischen Rates und den angekündigten europäischen Grünen Deal (EGD) (7), in denen das gemeinsame Ziel festgeschrieben ist, „bis 2050 eine klimaneutrale Union zu erreichen“. Er befürwortet ferner den Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal (IPEGD) als erste tragende finanzielle Säule sowie den Mechanismus für einen gerechten Übergang, mit dem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Bevölkerung in den vom Übergang am stärksten betroffenen Regionen unterstützt werden sollen (8).

2.4.

Es ist nicht mehr von der Hand zu weisen, dass ein Klimanotstand, ein existenzbedrohender Rückgang der Artenvielfalt sowie gesellschaftlich unzumutbare Gesundheitsrisiken durch Chemikalien und Luftverschmutzung drohen und die Plastikvermüllung der Ozeane ins Unermessliche geht. Wissenschaftliche Forschungen (9) legen nahe, dass die Entstehung neuer Krankheiten des Menschen eng mit den Ursachen von Umweltkrisen verknüpft ist, denen durch vorrangige Umweltmaßnahmen im Rahmen des EGD begegnet werden soll.

2.5.

Neben existenzbedrohenden Umweltkrisen zeichnen sich große und weiter zunehmende Ungleichheiten ab, demografische Krisen, politische Radikalisierung und sinkendes Vertrauen in Regierungen, Governance und Politik. Durch die Covid-19-Krise sind eine Reihe von Schwachstellen unserer Wirtschafts- und Regierungssysteme einschließlich der Grenzen der Marktwirtschaft zutage getreten. Ebenso ist die Notwendigkeit wirksamer staatlicher Einrichtungen und effizienter Gesundheitssysteme deutlich geworden. Die Menschen konnten auch überdenken, was sie für wichtig halten. Die Auswirkungen der Produktions- und Verbrauchsniveaus müssen dringend überprüft werden. Es gilt, faire Entlohnung für wichtige Arbeit (z. B. öffentliche Dienstleistungen wie die Gesundheitsversorgung), Steuer- und Lohnpolitik und neue Instrumente wie universelles Grundeinkommen unter die Lupe zu nehmen, wie bereits in früheren EWSA-Stellungnahmen angeregt wurde (10).

2.6.

Die EU-Wirtschaft betrachtet den Übergang zu einer Niedrigemissionswirtschaft und den Wiederaufbau nach der Covid-19-Krise zunehmend als Entwicklungschance und als Möglichkeit, produktive Arbeitsplätze nach Europa zurückzuholen. Sieben führende europäische Energieversorgungsunternehmen forderten jüngst in einem Schreiben an die Minister für Umwelt und Klima der Mitgliedstaaten, dass die EU im Einklang mit einem kostenwirksamen Emissionsreduktionspfad bis 2050 ihr Emissionssenkungsziel für 2030 auf mindestens 55 % im Vergleich zum Stand von 1990 erhöhen sollte (11). Die Denkfabrik „Energy Transitions Commission“ fordert die Regierungen der Welt auf, die Konjunkturhilfen klug auszugeben und in die Wirtschaft der Zukunft zu investieren (12).

3.   Verstärkung der Klimaschutzbemühungen, neue finanzielle Ressourcen für einen gerechten Übergang, Wiederaufbau und Übergang zu einer Niedrigemissionswirtschaft und die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele bis 2030

3.1.

Es ist dringend geboten, eine ehrgeizige politische Agenda mit höher gesteckten Zielen für 2030 und 2050 aufzustellen, um genügend neue finanzielle Ressourcen für dringende Klimamaßnahmen zu mobilisieren und die vorhandenen Ressourcen besser zu nutzen. Der EWSA schließt sich daher der Forderung an, dass die Europäische Union sich auf die Erreichung von Klimaneutralität bis 2050 festlegen und dementsprechend ihr Emissionssenkungsziel für 2030 auf mindestens 55 % im Vergleich zum Stand von 1990 anpassen sollte.

3.2.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass der Übergang und der Wiederaufbau nach der Covid-19-Krise gerecht gestaltet werden und zu einer gerechteren EU führen müssen, da sie sonst scheitern und das europäische Projekt als solches gefährden werden. Eine wesentliche Voraussetzung für einen gerechten Übergang ist die politische, soziale und wirtschaftliche Inklusion der Bürgerinnen und Bürger, Arbeitnehmer, Gemeinschaften und KMU, insbesondere in ländlichen Regionen mit Entwicklungsrückstand in der EU, ohne dabei Mitgliedstaaten zu diskriminieren, die derzeit nicht dem Euro-Währungsgebiet angehören. Eine gerechte Verteilung der finanziellen Ressourcen des künftigen Klimaschutzhaushalts ist für diese Inklusion Voraussetzung. Deshalb muss der Tendenz proaktiv entgegengewirkt werden, den überwiegenden Teil der Mittel an starke Interessenträger zu vergeben, die über ausreichende Ressourcen und Kapazitäten verfügen, um bankfähige Projekte zu entwickeln.

3.3.

Der EWSA appelliert an die Europäische Kommission, die aktive Einbindung aller Interessenträger — Kommunen, Zivilgesellschaft, Sozialpartner, Industrie, Wissenseinrichtungen usw. — in die Entwicklung und Umsetzung des EGD und die wirtschaftliche Erholung und den Wiederaufbau nach der Covid-19-Krise sicherzustellen.

3.4.

Nach den ersten Schritten der Auflage des EGD und der Errichtung des IPEGD und angesichts der beispiellosen Krise, in der wir uns befinden, begrüßt der EWSA den Aufbaufonds mit einem ausreichenden Volumen. Er fordert ein anspruchsvolles Konjunkturprogramm im Einklang mit dem Übereinkommen von Paris. Eine zentrale Rolle sollte dabei ein Klimaschutzbudget spielen, dessen Umfang mindestens der ermittelten Investitionslücke von ca. 300 Mrd. EUR jährlich entspricht. Hohe Priorität sollte der Förderung dezentraler Dekarbonisierungsprojekte eingeräumt werden, die gemeinsam von den Bürgern, KMU, Energiegemeinschaften und öffentlichen Einrichtungen auf lokaler und regionaler Ebene mitgetragen werden. In seiner Stellungnahme „Europäischer Finanz-Klima-Pakt“ (13) hat der EWSA bereits Vorschläge zur Mobilisierung der benötigten Ressourcen unterbreitet und wird hier weitere einschlägige Empfehlungen aussprechen.

3.5.

Um eine optimale Kombination von Mechanismen zur Mobilisierung der künftigen Klimaschutzfinanzierung zu entwickeln, sollte nach Auffassung des EWSA parallel dazu eine solide Abschätzung des Finanzbedarfs für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele bis 2030 vorgenommen werden. Ferner sollte eine inklusive politische Debatte über Nachhaltigkeit und den gerechten Übergang im Spannungsfeld zwischen demografischer sowie technologischer Entwicklung und öffentlicher (Haushalts-)Politik geführt werden, u. a. auf Grundlage des anstehenden EUA-Berichts (14).

3.6.

Der EWSA hat bereits für einen europäischen Finanz-Klima-Pakt plädiert, der darauf abzielt, „Kapital, das zu einer neuen Finanzblase führen könnte, wieder in die Bekämpfung des Klimawandels und in die Realwirtschaft zurückzuführen. Er muss darüber hinaus durch neue Finanzmittel unterstützt werden, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen.“ Er schlug u. a. folgende Finanzierungsquellen vor:

Neuausrichtung der Finanzierung auf nachhaltige Investitionen mittels einer „grünen Zweckbindung“ und Förderung von „grünen“ Darlehen der Europäischen Investitionsbank (EIB);

Nutzung der quantitativen Lockerung durch die Europäische Zentralbank (EZB) als Finanzierungsquelle;

Festlegung von Kriterien für nachhaltige Investitionen.

Der Finanz-Klima-Pakt bietet bspw. Gelegenheit, in einem Zug die Klimakrise zu bekämpfen, den Mangel an guten Arbeitsplätzen zu beheben und Zweifel am europäischen Projekt zu entkräften. Der Finanz-Klima-Pakt sieht mit einer europäischen Bank für Klima- und Biodiversitätsschutz und einem europäischen Fonds für Klima- und Biodiversitätsschutz zwei Instrumente vor, die zur Europäischen Klimabank vereinigt werden könnten.

3.7.

Der EWSA begrüßt und unterstützt die Ankündigung der EIB, im Zeitraum 2021-2030 Investitionen in Klimaschutz und ökologische Nachhaltigkeit in Höhe von 1 Billion EUR zu unterstützen. Gemäß den geltenden Vorschriften kann die EIB ihr jährliches Darlehensportfolio ausweiten. Wenn die EU oder die EZB mehr Haushaltsgarantien für Finanzierungen der EIB bereitstellen würden, dann könnte das jährliche Portfolio noch stärker erweitert werden.

3.8.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen auf, die Bestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu überarbeiten und über eine flexiblere goldene Regel mehr nationale Klimaschutzinvestitionen als Teil des EU-Klimaschutzbudgets aus den Haushaltsdefiziten herauszurechnen, wobei geeignete Vorkehrungen gegen einen Missbrauch vorzusehen wären (15). Erste Möglichkeiten wurden bereits im Jahresbericht 2019 (16) des Europäischen Fiskalausschusses angesprochen. Sie sollten nun aufgegriffen und in die Praxis umgesetzt werden. Während der Aussetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts aufgrund der Covid-19-Krise fordert der EWSA die EU-Mitgliedstaaten auf, die verfügbaren Haushaltsmittel so weit wie möglich zur Ankurbelung von Klimaschutzinvestitionen einzusetzen.

3.9.

Der EWSA fordert die EZB auf, eine wichtige Rolle bei der direkten und indirekten Klimaschutzfinanzierung zu übernehmen. Neben der durch ihr Programm zum Ankauf von Vermögenswerten (APP) und das Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP) entfalteten Wirkung kann die EZB über die Festlegung einschlägiger Bestimmungen sowie die Ausübung ihrer regulativen Befugnisse und über eine Koordinierung mit den Zentralbanken der Nicht-Euro-Länder im Rahmen des Europäischen Systems der Zentralbanken die Zentralbanken dazu bewegen, ihrem Beispiel zu folgen, und dadurch die Klimaschutzfinanzierung fördern. Die Eigenkapitalquote könnte kreativer gehandhabt werden, indem für gemäß der EU-Taxonomie „grüne“ Darlehen und Investitionen günstigere Bestimmungen gelten. Die EZB „[muss] in der Lage sein […], durch weitere unkonventionelle geldpolitische Maßnahmen […] Liquidität bereitzustellen“ (17), und diese Bereitstellung sämtlicher erforderlichen Liquidität sollte sich positiv auf den Klimaschutz auswirken.

3.10.

Eine Möglichkeit zur verstärkten Förderung der Klimaschutzfinanzierung ist die Ausgabe grüner Anleihen des öffentlichen und des privaten Sektors, gestützt auf ein robustes Regelwerk und das EU-weite Klassifizierungssystem für nachhaltige Investitionen (Taxonomie). Entsprechende Förderkonzepte werden dringend benötigt. Die EIB kann in zweierlei Hinsicht eine noch größere Rolle bei der Gewährung von Darlehen für Klimaschutzvorhaben übernehmen, indem sie zum einen entsprechende Mittelbindungen vorsieht und zum anderen mehr grüne Anleihen begibt. Diese Anleihen könnten dann von der EZB im Rahmen des Programms des Eurosystems zum Ankauf von Vermögenswerten (APP) in weitaus größerem Umfang als bisher erworben werden.

3.11.

Da letztlich die Bürgerinnen und Bürger und die Privatwirtschaft den überwiegenden Teil der Investitionen tätigen werden, betont der EWSA, dass Umweltsteuermaßnahmen und alle Facetten der Bepreisung von CO2-Emissionen als wesentliche Instrumente eingesetzt werden müssen, um nachhaltige Investitionen rentabel zu machen. Des Weiteren weist er darauf hin, dass die Kombination von CO2-Bepreisung und grünen Anleihen zur Förderung von Umweltwirksamkeit, Kapitalakkumulation, Schuldentragfähigkeit und Generationengerechtigkeit beiträgt (18).

3.12.

Als weitere Finanzierungsmöglichkeit kämen Verbriefungen in Frage, die durch ein Sicherheitenportfolio aus Kreditforderungen — den Sicherheitenpool — abgesichert sind, die grüne und braune Vermögenswerte enthalten könnten. Die Verbriefung gilt als grün, wenn die Erlöse für die Finanzierung grüner Vorhaben aufgewendet werden.

3.13.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Durchführung des IPEGD ist nach Meinung des EWSA die Entwicklung einer Investitionsprojekt-Pipeline, die auf die strategischen Ziele der EU abgestimmt ist. Allerdings gibt es noch nicht genügend Investitionsvorhaben. Technische Hilfe und Beratung auf allen Ebenen der öffentlichen Verwaltung werden dazu beitragen, nachhaltige Projekte zu identifizieren und zu planen sowie Projektträger beim Aufbau von Kapazitäten zu unterstützen. Die Ermittlung und Entwicklung dieser Projekte sollte sich auf das EU-weite Klassifizierungssystem für nachhaltige Investitionen (Taxonomie) (19) stützen.

3.14.

Bei der Finanzierung eines gerechten Übergangs zu einer Niedrigemissionswirtschaft muss das Entwicklungspotenzial neuer Technologien und Unternehmen aktiv auf die größtmögliche Teilhabe der Verbraucher und Gemeinschaften — insbesondere derjenigen, die bislang von den betreffenden Produktionsprozessen ausgeschlossen waren — an neuen Erzeugungskapazitäten ausgerichtet werden, um sie zu Prosumern (d. h. sowohl Erzeugern als auch Verbrauchern) nachhaltiger Erzeugnisse und Dienste im Energie- und Verkehrsbereich zu machen.

3.15.

Die Nutzung erneuerbarer Energieträger erfolgt im Prinzip über eine Privatisierung wertvoller natürlicher Ressourcen. Bei öffentlich geförderten Projekten sollte deshalb eine Teilhabe der Gemeinschaften vor Ort, bspw. über eine angemessene Gewinnbeteiligung oder eine Trägerschaft, vorgesehen werden.

3.16.

Der EWSA hält eine umfangreiche finanzielle Unterstützung von Einrichtungen für dringend erforderlich, die aktiv die Entwicklung und Bündelung kleiner dezentraler Einzelvorhaben von Bürgern, Gemeinden oder KMU fördern könnten, um bankfähigere Projektgrößen zu erreichen. Da die Zivilgesellschaft mit immer mehr Initiativen dieser Art aufwartet, ist dem EWSA daran gelegen, zur Entwicklung eines institutionellen Rahmens und von Leitlinien für eine EU-seitige Unterstützung und eine aktive Zusammenarbeit bei diesen Initiativen beizutragen.

4.   Vorhandene Finanzierungsmechanismen, Hemmnisse für öffentliche sowie private Investitionen und staatliche Beihilfen

4.1.

Im Übereinkommen von Paris wird vorgegeben, dass die Finanzmittelflüsse in Einklang mit einem Weg hin zu einer emissionsarmen und klimaresilienten Entwicklung gebracht werden müssen. In Anbetracht dessen sowie der Ziele des EGD fordert der EWSA, dass alle bestehenden EU-Finanzierungsmechanismen im Einklang mit dem Übereinkommen von Paris stehen bzw. einer Klimaschutzprüfung unterzogen werden sowie den Zielen des EGD und der Agenda 2030 entsprechen sollten.

4.2.

Zu den bestehenden Finanzierungsmechanismen hat der EWSA bereits folgende Empfehlungen ausgesprochen (20):

Erhöhung des für die Bekämpfung des Klimawandels vorgesehenen Anteils des Europäischen Fonds für strategische Investitionen auf 40 %;

die EU muss ein Maß an Engagement an den Tag legen, das der Herausforderung der Bekämpfung des Klimawandels entspricht;

durchschnittlich müssen 40 % des Gesamthaushaltsplans (MFR 2021-2027) diesem Ziel zugewiesen werden, und der Anteil des Europäischen Kohäsionsfonds muss über die derzeitigen 20 % hinaus erhöht werden.

4.3.

Es gibt mehrere erhebliche Hemmnisse für einen angemessenen öffentlichen und privaten Mitteleinsatz für Klimaschutz auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten, sodass der Umfang der für Anpassungs- und Eindämmungsmaßnahmen bereitgestellten Mittel vergleichsweise unzulänglich ist (21). An dieser Stelle sollen drei davon herausgestellt werden.

4.4.

Erstens gibt es nach wie vor umfangreiche direkte und indirekte Beihilfen für fossile Brennstoffe, die sich dem IWF (22) zufolge in der EU im Jahr 2015 auf 289 Mrd. USD beliefen. Diese Beihilfen gibt es auf nationaler wie auch auf EU-Ebene und sie verursachen enorme Umwelt- und Sozialkosten sowie wirtschaftliche (Opportunitäts-)Kosten, die Erfolge im Klimaschutz konterkarieren. Da sie auch den CO2-Preis nach unten drücken, müssen sie nach Meinung des EWSA dringend eingestellt werden. In den nationalen Energie- und Klimaplänen der Mitgliedstaaten muss dafür ein klarer zeitlicher Rahmen aufgestellt werden.

4.5.

Zweitens sind die Möglichkeiten zur Klimaschutzfinanzierung auch dadurch eingeschränkt, dass die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten normalerweise den Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakt und den Beihilfevorschriften unterworfen ist, was den Handlungsspielraum der Staaten bei der Förderung transformativer Maßnahmen begrenzt. Die derzeitige Anwendung der allgemeinen Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts (23) und der Befristete Rahmen für staatliche Beihilfen (24) sind Ausnahmen. Der EWSA hofft, dass diese so weit wie möglich für die Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen genutzt werden.

4.6.

Drittens gibt es Hemmnisse bei der Privatsektorfinanzierung, insbesondere für KMU und für Investitionen in Forschung und Innovation. Parallel zur Umsetzung des EGD sollten nach Auffassung des EWSA die Bankenunion und die Kapitalmarktunion vollendet werden, wobei besonders darauf zu achten ist, dass KMU allgemeinen und einfachen Zugang zu breiter gefächerten und umfangreichen Finanzierungsmöglichkeiten zur Umstellung auf klimaneutrale Technologien haben.

4.7.

Überdies ist die Beteiligung an der Verwaltung von wichtigen EU-Programmen häufig begrenzt, sodass die Vorteile einer echten Einbeziehung der Interessenträger — demokratische Partizipation und Überwachung sowie die gezielte Einsetzung öffentlicher Mittel für gesellschaftlich am meisten wünschenswerte Zwecke — nicht umfassend zum Tragen gebracht werden können. Deshalb ist eine umfassendere Beteiligung von Interessenträgern aus Regierungen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Sozialpartnern, Wissenschaft und Wirtschaft erforderlich.

4.8.

Die Preise auf dem Kohlenstoffmarkt in der EU brechen aufgrund des wirtschaftlichen Shutdowns im Zuge der Covid-19-Krise ein. Daher muss das System gestärkt werden, um ähnliche Schocks besser abzufedern. Unmittelbar vor der Krise lag der Kohlenstoffpreis im Emissionshandelssystem (EHS) der EU bei 25 EUR pro Tonne, was beim Kohleausstieg behilflich war. Aufgrund des aktuellen Preisrückgangs hat sich die Rentabilität der Braunkohlekraftwerke leider wieder verbessert. Der Preisrückgang bedeutet auch geringere Einkünfte der Mitgliedstaaten bei der Versteigerung von Emissionszertifikaten. Ein niedrigerer CO2-Preis bedeutet eine geringere Inzidenz des CO2-Preissignals als Anreiz zur Emissionsminderung. Dies gilt insbesondere für große umweltschädliche Industriebranchen (Stahl-, Chemie- und Zementindustrie) und den Luftverkehr. Mit der Marktstabilitätsreserve für das EU-EHS konnte seit Anfang 2019 das Überangebot an Emissionsberechtigungen auf dem Markt absorbiert werden, was der Hauptgrund für den Preis von 25 EUR ist. Sie wird auch weiterhin die Überschüsse vom Markt nehmen und diese Berechtigungen später löschen. Mit der Marktstabilitätsreserve soll jedoch das über die Jahre aufgelaufene Überangebot bewältigt werden. Sie ist nicht dafür geeignet, gegenwärtige oder künftige Überschüsse zu bewältigen. Die Marktstabilitätsreserve (25) muss im Zuge der Umsetzung des EU-Klimagesetzes und der kommenden Überprüfung der Vorschriften der EU für den Kohlenstoffmarkt gestärkt werden.

4.9.

Der EWSA unterstützt einen Vorschlag der Kommission, für Mitgliedstaaten mit hohen Kapitalkosten im Rahmen des EU-Haushalts 2021-2027 die Möglichkeit vorzusehen, im Wege eines EU-Haushaltsgarantiemechanismus finanzielle Unterstützung für die Entwicklung von Erneuerbare-Energien-Vorhaben zu erhalten. Durch eine Verringerung der Kapitalkosten könnten die Stromgestehungskosten von Onshore-Windparks in Griechenland (26) im Vergleich zu einem Szenario ohne Risikominderung um 20 % gesenkt werden (von 5,7 ct/kWh auf 4,6 ct/kWh).

4.10.

Nach Meinung des EWSA würden verständlichere und transparentere Vorschriften über staatliche Beihilfen für sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure mehr Klarheit in der Frage schaffen, welche politischen Maßnahmen und Sektoren auf welche Weise finanziert werden sollten. Er spricht sich ferner dafür aus, an die Bewertung nationaler Regelungen für staatliche Beihilfen strengere Maßstäbe anzulegen und zwischen der Finanzierung von Verursachern von Umweltverschmutzung und der Förderung des Übergangs zu einer Niedrigemissionswirtschaft zu unterscheiden.

4.11.

Der EWSA weist darauf hin, dass die überarbeiteten Fassungen der AGVO und der Leitlinien klar formuliert werden müssen (27). Sie sollten beispielhaft Vorhaben oder Akteure (wie Erneuerbare-Energien-Gemeinschaften) anführen, die die Mitgliedstaaten fördern könnten. Ferner sollten im Umweltschutz tätige zivilgesellschaftliche Organisationen als „Beteiligte“ gemäß Artikel 1 Buchstabe h der Verfahrensverordnung für staatliche Beihilfen (28)(29) anerkannt werden.

5.   Herausforderungen der Finanzierung der Anpassung an den Klimawandel

5.1.

Im Einklang mit dem Übereinkommen von Paris müssen sowohl die Ursachen des Klimawandels eingedämmt als auch seine Folgen bewältigt werden. Den Ursachen des Klimawandels soll durch eine drastische Senkung der Treibhausgasemissionen (sog. Eindämmung) und seinen Auswirkungen durch entsprechende massive Investitionen in Klimaresilienz (sog. Anpassung) begegnet werden.

5.2.

Einer neueren Studie zufolge beläuft sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis von Anpassungsprogrammen (Frühwarnsysteme, Verbesserung der Widerstandsfähigkeit der Infrastrukturen, Verbesserung der Landwirtschaft in Trockengebieten, Bewirtschaftung von Wasserressourcen) auf 1:5 bis 1:10 (30). In dieser Studie wird davon ausgegangen, dass Anpassungsmaßnahmen eine dreifache Dividende abwerfen könnten: Vermeidung von klimawandelbedingten Verlusten, wirtschaftlicher Gewinn aus den Investitionsprogrammen sowie sozialer und ökologischer Nutzen.

5.3.

Der EWSA befürwortet ein starkes Mandat für die Entwicklung einer neuen EU-Anpassungsstrategie und hebt die dringende Notwendigkeit hervor, einen sachkundigen und glaubwürdigen Beschlussfassungsprozess auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten zu entwickeln, um die geforderte gleichwertige Finanzierung von Eindämmungs- und Anpassungsmaßnahmen in eine optimale Verteilung der gegenwärtig und künftig verfügbaren Mittel auf diese beiden Prioritäten zu übertragen. Ebenso wichtig ist es, eine Debatte über die Möglichkeiten einer innovativen Mobilisierung finanzieller Ressourcen für Anpassungsmaßnahmen zu führen.

5.4.

Nach Meinung des EWSA könnten Anpassungsmaßnahmen erheblich zu einer gerechteren Gestaltung des Übergangs und des Wiederaufbaus nach der Covid-19-Krise beitragen. Gemeinden und Regionen, die negativen Auswirkungen des Klimawandels in überdurchschnittlichem Maße ausgesetzt sind, sollten bei der Eindämmung der Auswirkungen und der wahrgenommenen Risiken unterstützt werden. Dies gilt insbesondere für Gemeinden und Regionen, die seit jeher einen unterdurchschnittlichen Klimagasausstoß aufweisen.

5.5.

Im Hinblick auf einen gerechten Zugang zu den bereitgestellten Mitteln für Anpassungsmaßnahmen fordert der EWSA, den betroffenen Regionen technische und organisatorische Hilfestellung zu geben und einen spezifischen Fonds für eine gerechte Anpassung — ggf. auf regionaler, nationaler und EU-Ebene — einzurichten.

5.6.

Eindämmungsziele sind eingängig (bspw. Begrenzung der Erderwärmung auf unter 1,5 oC oder Emissionssenkungen in Bezug auf ein Referenzjahr), Anpassungsziele hingegen sind schwer fassbar. Für einen effizienten Anpassungsprozess sind sie jedoch unverzichtbar. Der EWSA spricht sich für die Aufstellung von Vulnerabilitätsindices (VI) als Anhaltspunkte für die Anpassungsstrategie und als Grundlage für die Festlegung von Anpassungszielen aus. Vulnerabilitätsindices sollten für drei Dimensionen entwickelt werden: geografische oder regionale Vulnerabilität, sektorale oder wirtschaftliche Vulnerabilität und soziale Vulnerabilität.

6.   Neue Finanzierungsmöglichkeiten für nichtstaatliche Klimaschutzakteure

6.1.

Zivilgesellschaftliche Organisationen und nationale, regionale sowie lokale Behörden benötigen nicht nur Zugang zu den Finanzinstrumenten. Sie müssen auch aktiv in die Gestaltung und Durchführung von Projekten, Initiativen und Tätigkeiten einbezogen werden, die Emissionssenkungen und Klimaresilienz fördern (31).

6.2.

Der EWSA unterstützt das Programm für das Europäische Solidaritätskorps, das junge Menschen zusammenbringt, um eine inklusivere Gesellschaft aufzubauen, schutzbedürftige Menschen zu unterstützen und gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen (32). Angesichts des Klimanotstands und des Engagements der jungen Menschen in der ganzen EU fordert der EWSA eine erhebliche Aufstockung der verfügbaren Mittel und die Auflage eines gezielten Jugendprogramms Europäisches Solidaritätskorps für Klimaschutz, das es allen interessierten jungen Menschen und Aufnahmeorganisationen ermöglichen würde, EU-weit an Gemeinschaftsinitiativen für dringende Klimaschutzmaßnahmen teilzunehmen.

6.3.

Der EWSA plädiert für eine erhebliche Aufstockung der verfügbaren Finanzmittel der EU und der Mitgliedstaaten, insbesondere für die Zusammenarbeit zwischen lokalen Gebietskörperschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Entwicklung klimaverträglicher Bürgerenergie- und lokal verankerter Verkehrsvorhaben. Der EWSA gibt zu bedenken, dass sich die Klimaschutzfinanzierung während des Wiederaufbaus nach der Covid-19-Krise noch schwieriger gestalten könnte, da die Verfügbarkeit öffentlicher und privater Quellen sinken dürfte, während der Finanzierungsbedarf weiter ansteigt.

6.4.

Der EWSA ist im Allgemeinen der Auffassung, dass die EU in die Krisenresilienz unseres sozioökonomischen Systems investieren und die Grundlagen schaffen muss für eine grüne Kreislaufwirtschaft, die auf natürlichen Lösungen basiert und auf das Wohlergehen der Bürger ausgerichtet ist. Jetzt ist es an der Zeit, den systemischen wirtschaftlichen Wandel voranzubringen. Erfreulicherweise haben wir dafür ein Konzept: die Kombination der Agenda 2030 der Vereinten Nationen (17 Nachhaltigkeitsziele) mit dem EGD der Europäischen Kommission.

7.   Globale und geopolitische Aspekte

7.1.

In der Covid-19-Krise wird deutlich, welch unverzichtbare Rolle Strom in unserem Alltag spielt und welch entscheidender Wertfaktor die Strominfrastruktur und das entsprechende Fachwissen darstellen. In der Krise zeichnet sich ab, wie diese Rolle in Zukunft ausgebaut und weiterentwickelt wird. Wie kann die Energiewende zur Ankurbelung der Wirtschaft beitragen? Sie kann eine ehrgeizige Agendasetzung für Arbeitsplatzschaffung und Klimaschutzziele unterstützen: z. B. kann die Modernisierung der Energiesysteme zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zum Wirtschaftswachstum beitragen und gleichzeitig das Klima schützen. Über 70 % der weltweiten Energieinvestitionen werden direkt oder indirekt von den Regierungen bestimmt. In dieser Krisenzeit ist ihr Handeln wichtiger denn je. Unter entsprechenden politischen Rahmenbedingungen lassen sich energiebezogene Investitionen auf einen Nachhaltigkeitspfad lenken. Anreizprogramme in der Energiewirtschaft sollten vorrangig auf die Unterstützung der Beschäftigten, Schaffung neuer Arbeitsplätze und Emissionsminderung abzielen.

7.2.

Die globalen Ölmärkte sind in einer beispiellosen Lage: könnte es zu einem Wettlauf — oder doch eher zu Verzögerungen — auf dem Weg zu erneuerbaren Energien kommen? Allgemein niedrige (negative) Ölpreise machen grüne Energien weniger wettbewerbsfähig. Aber für Ölexporteure bieten die Schleuderpreise für Öl größere wirtschaftliche Anreize für Investitionen in erneuerbare Energien. Investoren könnten diesen Schritt indes als Zeichen dafür auslegen, dass die Profitspannen bei Öl niedrig sein werden, und folglich stärker in grüne Ressourcen investieren.

7.3.

Nach Meinung des EWSA sollte der EGD zum Ziel haben, eine Beeinträchtigung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der EU und insbesondere der KMU, die zunehmendem Wettbewerb aus Schwellenländern ausgesetzt sind, durch die Risiken zu vermeiden, die mit den Maßnahmen zur Verwirklichung des Übergangs zu Klimaneutralität einhergehen.

7.4.

Die Umsetzung des EGD wird ganz klar den Interessen der Importeure von fossilen Brennstoffen in die EU (sowohl Unternehmen als auch Staaten) zuwiderlaufen. Der EWSA hält es für dringend geboten, dass die EU ihre Resilienz gegen möglicherweise verstärkte interessensbedingte Bemühungen von außerhalb, die Umsetzung des EGD zu verlangsamen, ausbaut und belastbarere Mechanismen entwickelt, um laufende diesbezügliche Versuche zu ermitteln und dagegenzuhalten.

7.5.

Der EWSA plädiert für die Einbeziehung des Übereinkommens von Paris in Form einer wesentlichen Klausel in allen künftigen EU-Handelsvereinbarungen sowie für eine aktive europäische Klimadiplomatie in Zusammenarbeit zwischen der EU und den Mitgliedstaaten mit dem Ziel der weltweiten Bekämpfung des Klimawandels, der Eindämmung seiner Auswirkungen und der Anpassung daran. Die EU sollte sich mit den Fragen in Verbindung mit den steigenden Versicherungskosten aufgrund der zunehmenden physischen Risiken des Klimawandels, der Umsetzung von Artikel 6 des Übereinkommens von Paris und der Durchsetzung eines globalen CO2-Preises durch eine globale Vernetzung der Kohlenstoffmärkte auseinandersetzen.

7.6.

Der EWSA befürwortet das vorgeschlagene CO2-Grenzausgleichssystem sowie Maßnahmen zur Beseitigung von Hemmnissen für energieeffiziente und emissionsarme Produkte und zur Förderung von Investitionen in erneuerbare Energien in Handelsvereinbarungen.

Brüssel, den 11. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/european-green-deal-communication_de.pdf.

(2)  https://www.eesc.europa.eu/de/news-media/presentations/reaktion-der-europaeischen-union-auf-die-covid-19-pandemie-und-notwendigkeit-beispielloser-solidaritaet-zwischen-den.

(3)  https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2020-0054_DE.pdf.

(4)  „Der Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal und der Mechanismus für einen gerechten Übergang — Fragen und Antworten“, 14. Januar 2020, Brüssel.

(5)  https://www.eesc.europa.eu/de/our-work/opinions-information-reports/opinions/sustainable-economy-we-need-own-initiative-opinion.

(6)  https://www.eesc.europa.eu/de/our-work/opinions-information-reports/opinions/leaving-no-one-behind-when-implementing-2030-sustainable-development-agenda-own-initiative-opinion.

(7)  https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/european-green-deal-communication_de.pdf.

(8)  „Der Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal und der Mechanismus für einen gerechten Übergang — Fragen und Antworten“, 14. Januar 2020, Brüssel.

(9)  https://www.nature.com/articles/s41893-019-0293-3#ref-CR101.

(10)  https://www.eesc.europa.eu/de/node/60014.

(11)  https://www.statkraft.com/media/news/2019/energy-companies-call-for-more-ambitious-EU-2030-climate-target/.

(12)  http://www.energy-transitions.org/sites/default/files/COVID-Recovery-CoverLetter.pdf.

(13)  https://www.eesc.europa.eu/de/our-work/opinions-information-reports/opinions/european-finance-climate-pact-own-initiative-opinion.

(14)  Bericht der EUA „The sustainability transition in Europe in an age of demographic and technological change“.

(15)  https://www.bruegel.org/2019/12/the-european-green-deal-needs-a-reformed-fiscal-framework/.

(16)  https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/2019-efb-annual-report_en.pdf.

(17)  https://www.eesc.europa.eu/de/news-media/presentations/reaktion-der-europaeischen-union-auf-die-covid-19-pandemie-und-notwendigkeit-beispielloser-solidaritaet-zwischen-den.

(18)  http://documents.worldbank.org/curated/en/808771566321852359/pdf/Financing-Low-Carbon-Transitions-through-Carbon-Pricing-and-Green-Bonds.pdf.

(19)  https://ec.europa.eu/info/publications/sustainable-finance-teg-taxonomy_de.

(20)  https://www.eesc.europa.eu/de/our-work/opinions-information-reports/opinions/european-finance-climate-pact-own-initiative-opinion.

(21)  EWSA-Stellungnahme „Erleichterung des Zugangs nichtstaatlicher Akteure zur Klimaschutzfinanzierung“ (ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 14).

(22)  https://www.imf.org/en/Publications/WP/Issues/2019/05/02/Global-Fossil-Fuel-Subsidies-Remain-Large-An-Update-Based-on-Country-Level-Estimates-46509.

(23)  https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2020/03/23/statement-of-eu-ministers-of-finance-on-the-stability-and-growth-pact-in-light-of-the-covid-19-crisis/.

(24)  https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_20_496.

(25)  https://carbonmarketwatch.org/publications/avoiding-a-carbon-crash-how-to-phase-out-coal-and-strengthen-the-eu-ets/.

(26)  https://www.agora-energiewende.de/fileadmin2/Projekte/2019/De-risking_SEE/161_Unlocking_SEE_EN_WEB.pdf.

(27)  Siehe auch den Beitrag von ClientEarth zur öffentlichen Konsultation zur Bewertung der Leitlinien für staatliche Beihilfen für Umweltschutz und Energie vom Juli 2019 unter https://www.documents.clientearth.org/library/download-info/clientearths-response-to-the-targeted-consultation-for-the-evaluation-of-the-guidelines-on-state-aid-for-environmental-protection-and-energy-2014-2020/.

(28)  Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. L 248 vom 24.9.2015, S. 9).

(29)  Siehe die EWSA-Stellungnahme „Eine konstruktivere Rolle für die Zivilgesellschaft bei der Umsetzung von Umweltvorschriften“ (ABl. C 47 vom 11.2.2020, S. 50), Ziffer 2.1.13 sowie die EWSA-Stellungnahme „Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik“ (ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 83), Ziffern 3.5.8 und 3.5.9.

(30)  Global Commission on Adaptation, World Resources Institute, September 2019.

(31)  EWSA-Stellungnahme „Erleichterung des Zugangs nichtstaatlicher Akteure zur Klimaschutzfinanzierung“ (ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 14); Studie des EWSA zum Thema „Instrumentarium für Multi-Stakeholder-Klimapartnerschaften –Ein politischer Rahmen für die Förderung von Bottom-up-Klimaschutzmaßnahmen“.

(32)  https://europa.eu/youth/solidarity_de.


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

552. Plenartagung des EWSA (+ Videokonferenz über Interactio), 10.6.2020-11.6.2020

18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/45


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Das jährliche Arbeitsprogramm der Union für europäische Normung 2020“

(COM(2019) 486 final)

(2020/C 311/05)

Berichterstatter:

Gerardo LARGHI

Mitberichterstatterin:

Elżbieta SZADZIŃSKA

Befassung

Europäische Kommission, 19.12.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

2.3.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

10.6.2020

Plenartagung Nr.

552

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

206/0/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) stimmt mit der Kommission darin überein, dass die Normung für die Binnenmarktstrategie von entscheidender Bedeutung ist und kontinuierlich aktualisiert werden muss.

1.2.

Der EWSA hält eine Modernisierung des europäischen Normungssystems für dringend geboten, um den globalen Herausforderungen mit einem innovativen Kooperationsprozess zu begegnen und Normen vor dem Hintergrund des raschen technologischen Wandels rechtzeitig zu entwickeln.

1.3.

Nach Auffassung des EWSA macht der neue, an bereichsübergreifenden Erfordernissen (z. B. im Zusammenhang mit Umweltschutz, dem Grünen Deal oder der Kreislaufwirtschaft) orientierte modulare Ansatz ein sektorübergreifendes Vorgehen notwendig.

1.4.

Der EWSA stellt fest, dass das jährliche Arbeitsprogramm 2020 neben der Entwicklung und Integration bereits festgelegter Prioritäten neue Zielsetzungen enthält.

1.5.

Nach Ansicht des EWSA muss das Normungsverfahren mit der Forschungs- und Entwicklungsphase beginnen und von der Industrie, den Vertretungsorganisationen der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), der Sozialwirtschaft, der Verbraucher, der Sozialpartner sowie den Umweltschutzverbänden und den einschlägigen Akteuren der Zivilgesellschaft unterstützt werden.

1.6.

Der EWSA hält es für wichtig, dass ein mehrjähriger Finanzrahmen erstellt wird, um die vorgesehenen Maßnahmen konkret umzusetzen und die integrative Beteiligung derjenigen Organisationen und Vertretungsorganen, die weniger einflussreich und schlechter ausgestattet sind, finanziell und organisatorisch zu unterstützen.

1.7.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die künstliche Intelligenz (im Folgenden „KI“) für den Binnenmarkt von wesentlicher Bedeutung ist und dass die geltenden Rechtsvorschriften in diesem Bereich aktualisiert werden müssen. Insbesondere sollten die 2019 entwickelten ethischen Leitlinien zur Förderung einer anthropozentrischen KI in die Normung im Bereich der technologischen Sicherheit einbezogen werden.

1.8.

Der EWSA fordert, die ökologischen Mindestkriterien im öffentlichen Auftragswesen als verbindliche Norm festzulegen und die Verwendung von Sekundärrohstoffen als zu berücksichtigendes Kriterium zu betrachten.

1.9.

Der EWSA begrüßt die Möglichkeit der Erteilung eines neuen Normungsauftrags in den Bereichen des Internets der Dinge und der Cybersicherheit zum Schutz von Sicherheit, Privatsphäre und Konnektivität.

1.10.

Der EWSA hofft, dass das „europäische Austauschformat für elektronische Patientenakten“ dazu beiträgt, die Netzsicherheit und die Sicherheit des Informationssystems durch die Entwicklung modernster Standards sicherzustellen.

1.11.

Der EWSA stellt fest, dass die Möglichkeit von Systemstörungen in den Bereichen autonomes Fahren, Datensicherheit, Cybersicherheit, Kommunikation ebenso wie ethische Fragen die Entwicklung spezifischer Normen erforderlich machen.

1.12.

Der Ausschuss begrüßt den Auftrag der Kommission zur Entwicklung oder Überarbeitung harmonisierter Normen in Schlüsselbereichen wie Umweltschutz, soziale Inklusion und dem Binnenmarkt für Waren; befürwortet den Vorschlag zur Entwicklung von Normen für das Recycling und die Wiederverwendung von Kunststoff-Fanggeräten, die Sicherheit von pyrotechnischen Gegenständen, Migrationsgrenzwerte für in für Verbrauchsartikeln verwendete beschränkte chemische Stoffe, die Energieeffizienz von Elektromotoren und Haushaltsgeräten sowie für Düngemittel und Bauprodukte; misst dem Beschluss zur Bereitstellung von Mitteln für die Harmonisierung von Produktionstechnologien im Bereich der Eisen- und Stahlproduktion besondere Bedeutung zu.

1.13.

Der EWSA drängt auf einen integrativen Ansatz bei der Normung, der auch die Ziele in puncto Beschäftigungsfähigkeit, soziale Rechte, Wahrung der biologischen Vielfalt und Umwelt miteinschließt. Der EWSA ist der Auffassung, dass dies den Übergang von der Übereinstimmung zur Vereinbarkeit erleichtert und zudem ein positiver Wettbewerbsfaktor des europäischen Systems ist.

1.14.

Nach Auffassung des EWSA sollte die überholte Praktik der geplanten Obsoleszenz von Produkten mithilfe des Rechts und der Normung abgeschafft werden.

1.15.

Der EWSA befürwortet die Entwicklung von Normen, die dazu beitragen, dass Menschen mit Behinderungen und digitale Analphabeten einen leichteren Zugang zu Produkten und Dienstleistungen im Binnenmarkt erhalten.

1.16.

Der EWSA unterstützt den politischen Dialog mit internationalen Normungsorganisationen und die bilateralen Verhandlungen mit Drittstaaten.

1.17.

Der EWSA begrüßt die Maßnahmen der Kommission zur Unterstützung der Beteiligung von Interessenträgern im Normungsverfahren.

1.18.

Der EWSA fordert alle Beteiligten auf, ein Ad-hoc-Forum zur Inklusivität des europäischen Normungssystems einzurichten und dazu jährlich eine öffentliche Anhörung zu veranstalten, auf der die Fortschritte auf diesem Gebiet bewertet werden.

1.19.

Der EWSA teilt die Ansicht der Kommission in Bezug auf die Ausarbeitung eines Aktionsplans für die Normung im Verteidigungsbereich und im Bereich der Weltraumtechnologien, für die Entwicklung von Normen im Bereich der Kreislaufwirtschaft und die Entwicklung von Standards im Bereich der Sozialwirtschaft.

1.20.

Der EWSA fordert, dass die europäische Normung in einer für die Endnutzer, darunter KMU und Verbraucher, leicht verständlichen Sprache abgefasst wird.

2.   Vorschläge der Europäischen Kommission

2.1.

Die Kommission hat mit der Mitteilung das jährliche Arbeitsprogramm der Union für die europäische Normung 2020 gemäß Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 vorgelegt. Darin werden die Maßnahmen dargelegt, die die Kommission 2020 zur Verbesserung der Governance, Inklusivität und internationalen Wirkung des Europäischen Normungssystems umzusetzen beabsichtigt.

2.2.

Dem Arbeitsprogramm zufolge sind dies die strategischen Prioritäten für die europäische Normung zur Unterstützung von Rechtsvorschriften und politischen Maßnahmen der Union:

Maßnahmen im Hinblick auf das Recycling und die Wiederverwendung von Kunststoff-Fanggeräten (1);

Maßnahmen im Hinblick auf die umweltgerechte Gestaltung/Ökodesign zur Ergänzung der zu den spezifischen Produktkategorien gehörenden Durchführungsrechtsakte (2);

Maßnahmen im Hinblick auf pyrotechnische Gegenstände und die jüngsten technologischen Entwicklungen in dem Bereich (3);

Maßnahmen im Hinblick auf die Auslegung, Herstellung, Montage, Verwendung und Leistungsüberprüfung von Radionuklid-Kalibratoren (4);

Maßnahmen im Hinblick auf Geräte und Schutzsysteme zur bestimmungsgemäßen Verwendung in explosionsgefährdeten Bereichen zwecks Berücksichtigung der technologischen Entwicklung (5);

Maßnahmen im Hinblick auf Düngemittel (6);

Maßnahmen im Hinblick auf die Entwicklung von Migrationsgrenzwerten für die beschränkten Stoffe (polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe) in für Verbrauchsartikel verwendeten Gummi- und Plastikmaterialien (7);

Maßnahmen im Hinblick auf die für Bauprodukte verwendete Fachsprache (8);

Maßnahmen im Hinblick auf die Akkreditierung und Konformitätsbewertung (9);

Maßnahmen im Hinblick auf die Einhaltung von Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (10);

Maßnahmen im Hinblick auf künstliche Intelligenz (11), das Internet der Dinge (IoT) und Cybersicherheit (12);

Maßnahmen im Hinblick auf den Austausch elektronischer Patientenakten in Europa;

Maßnahmen im Hinblick auf die Interoperabilität von kooperativen Systemen, die sämtliche Fahrzeugklassen erfassen;

Maßnahmen im Hinblick auf die Digitalisierung, die Automatisierung und die Cybersicherheit, die für den Eisenbahnsektor entscheidend sind (13);

Maßnahmen im Hinblick auf das Europäische Programm zur industriellen Entwicklung im Verteidigungsbereich (EDIDP) (14).

2.2.1.

Darüber hinaus wird die Kommission

die Zusammenarbeit mit internationalen Normungsorganisationen fortsetzen,

an den Verhandlungen über Handelsabkommen (mit China, Singapur, Australien, Neuseeland, Indonesien, den Mercosur-Staaten usw.), in denen die Normung ein Schwerpunktthema ist, mitwirken mit dem Ziel, die Handelsbeziehungen auszubauen und Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und Wachstum in Europa zu stärken;

den Governance-Prozess weiterhin mit allen ihr in diesem Zusammenhang zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen, nämlich durch den Ausschuss für Normen (CoS), die Multi-Stakeholder-Plattform (MSP) zur Normung im IKT-Bereich und die strukturellen Dialoge mit den europäischen Normungsorganisationen;

weiterhin die Beteiligung von Interessenträgern unterstützen, KMU, Verbraucher, Umweltschutzinteressen und Gewerkschaften im Normungsverfahren vertreten (im Folgenden „Organisationen“ (15) gemäß Anhang III (16));

die Auswirkungen des „Binnenmarktprogramms“ (17) im Rahmen von Halbzeit- und Abschlussbewertungen sowie durch die kontinuierliche Überwachung einer Reihe von übergeordneten wichtigen Leistungsindikatoren bewerten;

im Jahr 2019 eine Studie über die Funktionen und Auswirkungen der Normung und der Normierung in der EU auf den Weg bringen, deren Ergebnisse 2021 vorliegen sollen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA hält wie die Kommission die Normung für die Binnenmarktstrategie für entscheidend.

3.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Sicherheitsnormen und -vorschriften in diesem Bereich insbesondere angesichts der mit den modernsten Technologien verbundenen Risiken kontinuierlich aktualisiert werden sollten.

3.3.

Nach Ansicht des EWSA sollte sich neben der Konformitätsanforderung, wozu auch die Erfüllung von Normen und Leistungskriterien (Wirksamkeit, Haltbarkeit usw.) gehören, ein an bereichsübergreifenden Erfordernissen (z. B. im Zusammenhang mit Umweltschutz, dem Grünen Deal und der Kreislaufwirtschaft) orientierter modularer Ansatz herausbilden. Die Kommission hat daher ihren im Grünen Deal und im übergreifenden Arbeitsprogramm für 2020 dargelegten Ansatz zu Recht aktualisiert.

3.4.

Der EWSA bekräftigt (18) die Dringlichkeit einer wirksamen und effizienten Modernisierung des europäischen Normungssystems. Er hält eine neue gemeinsame Vision und konkrete Maßnahmen für unverzichtbar, um — stets auf freiwilliger Basis — auf die globalen Herausforderungen im Bereich der Normung mit einer innovativen, konsensbasierten Zusammenarbeit für die rechtzeitige Entwicklung von Normen in einem sich rasch wandelnden technologischen Umfeld zu reagieren.

3.5.

Der EWSA stellt fest, dass das jährliche Arbeitsprogramm 2020 neben der Entwicklung und Integration bereits festgelegter Prioritäten neue Zielsetzungen enthält, um das System der europäischen Normung den sich wandelnden internationalen Rahmenbedingungen und den Herausforderungen auf dem Weltmarkt anzupassen.

3.6.

Nach Auffassung des EWSA muss das Normungsverfahren ab der Forschungs- und Entwicklungsphase an mit prä- und konormativen Maßnahmen einsetzen. Die Mechanismen für die Übertragung europäischer Normen auf die internationale Ebene sind zu stärken, wobei die Unterstützung der Industrie, der Vertretungsorganisationen der KMU und der Sozialwirtschaft, der Verbraucher, der Sozialpartner, der Umweltschutzverbände und der einschlägigen Akteure der Zivilgesellschaft unverzichtbar ist.

3.7.

Der EWSA fordert alle Partner auf, sich für eine rasche und wirksame Koordinierung der verschiedenen europäischen Referenzsysteme für die Planung, Ausarbeitung und Überwachung einzusetzen.

3.8.

Es sollte ein angemessener mehrjähriger Finanzrahmen erstellt werden, um die geplanten Maßnahmen konkret umzusetzen (19) und die integrative Beteiligung derjenigen Organisationen und Vertretungsorgane, die weniger einflussreich und schlechter ausgestattet sind, finanziell und organisatorisch mit Maßnahmen für die Entwicklung technischer Normen und in den Bereichen „Sensibilisierung und Weiterbildung“ und „europäische“ Integration sowie bei der „internationalen Dimension“ zu unterstützen.

3.9.

Der EWSA unterstützt die Erarbeitung von Normen im Bereich der Kreislaufwirtschaft, damit ein entscheidender Beitrag zur nachhaltigen Produktion und damit auch zum Schutz der natürlichen Ressourcen und der biologischen Vielfalt geleistet wird (20).

3.10.

Der EWSA fordert zudem die Entwicklung von Standards im Bereich der Sozialwirtschaft. Es gilt, bewährte Verfahrensweisen zu verbreiten und das soziale und wirtschaftliche Potenzial dieses für unsere Wirtschaft so wichtigen Sektors zu festigen.

3.11.

Der EWSA fordert, die ökologischen Mindestkriterien im öffentlichen Auftragswesen als verbindliche Norm festzulegen und die Verwendung von Sekundärrohstoffen als zu berücksichtigendes Kriterium zu betrachten.

3.12.

Der EWSA teilt die Einschätzung in Bezug auf die große Bedeutung der KI für den Binnenmarkt und ist der Ansicht, dass die geltenden Normen und Rechtsvorschriften im Bereich der Sicherheit unter Berücksichtigung der 2019 erarbeiteten ethischen Leitlinien zur Förderung einer anthropozentrischen KI aktualisiert werden müssen, um den mit KI verbundenen Risiken Rechnung zu tragen.

3.13.

Der EWSA begrüßt die Möglichkeit, einen neuen Normungsauftrag in den Bereichen des Internets der Dinge und der Cybersicherheit zu erteilen, damit Sicherheit, Privatsphäre und Konnektivität geschützt werden.

3.14.

Der Ausschuss hofft, dass das „europäische Austauschformat für elektronische Patientenakten“ dazu beiträgt, die Netzsicherheit und die Sicherheit des Informationssystems durch die Entwicklung modernster Standards sicherzustellen.

3.15.

Autonom gesteuerte Fahrzeuge zählen ebenfalls zu den stark risikobehafteten Produkten und bedürfen entsprechender spezifischer Normen.

3.16.

Der EWSA begrüßt den Auftrag der Kommission zur Einführung oder Überarbeitung harmonisierter Normen in Schlüsselbereichen wie Binnenmarkt, Produktionstechnologien in der Eisen- und Stahlindustrie, Verteidigung und Raumfahrttechnik, Umweltschutz und soziale Integration. Dies steht mit der Entscheidung für einen neuen Grünen Deal in Einklang. Der EWSA befürwortet den Vorschlag zur Entwicklung von Normen für das Recycling und die Wiederverwendung von Kunststoff-Fanggeräten, die Sicherheit von pyrotechnischen Gegenständen, Migrationsgrenzwerte für die in für Verbrauchsartikel verwendeten beschränkten chemischen Stoffe, die Energieeffizienz von Elektromotoren und Haushaltsgeräten sowie für Düngemittel und Bauprodukte.

3.17.

Der EWSA stellt fest, dass die Verbraucher durch die geplante Obsoleszenz von Produkten mit etwa 100 Mrd. EUR pro Jahr belastet werden. Daher sollte diese Praktik gesetzlich verboten und mithilfe der Normung abgeschafft werden.

3.18.

Der EWSA befürwortet die Entwicklung von Normen, die dazu beitragen, dass Menschen mit Behinderungen einen leichteren Zugang zu Produkten und Dienstleistungen im Binnenmarkt erhalten. Der EWSA betont, dass die spezifische Normung für den Bereich Behinderungen auch Normen in den Bereichen Beschäftigung und soziale Integration umfassen sollte.

3.19.

Der EWSA unterstützt den politischen Dialog mit internationalen Normungsorganisationen und die bilateralen Verhandlungen mit Drittstaaten.

3.20.

Der EWSA fordert erneut eine gründliche Überwachung der Maßnahmen der wesentlichen Normungsakteure, die auf die Beteiligung eines möglichst breiten Spektrums an Akteuren am europäischen Normungssystem abzielen. Der EWSA schlägt insbesondere vor, jede Maßnahme zur Verbreitung, Koordinierung und zum Verständnis des Problems der Normen zu fördern, eventuell mittels Einrichtung eines Ad-hoc-Forums zur Inklusivität des europäischen Normungssystems, das die Fortschritte auf diesem Gebiet jährlich bewerten könnte.

3.21.

Der EWSA weist die Kommission darauf hin, dass Entscheidungen im Zusammenhang mit der Normung Konsequenzen für das soziale Leben — z. B. bei Fragen der Mobilität u. a. — haben können, wie der Austausch zwischen der Kommission und Interessenträgern gezeigt hat. Deshalb wird dazu aufgerufen, den Dialog über dieses heikle Thema nicht zu vernachlässigen, sondern mit allen europäischen Gremien und Interessenträgern gemeinsam weiter an dem Thema zu arbeiten.

3.22.

Nach Ansicht des EWSA sollte berücksichtigt werden, welche Auswirkungen die Zugänglichkeit der Normen auf Bevölkerungsgruppen haben kann, die weniger offen für neue Entwicklungen sind, wie mitunter ältere Menschen und digitale Analphabeten, und welche wirtschaftlichen Folgen dies für KMU haben kann.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Was die „umweltgerechte Gestaltung/Ökodesign“ (21) anbelangt, so ist es wichtig, geeignete beispielhafte Verfahren mit technischen Vorgaben zu entwickeln, die bei neuen, noch nicht technisch genormten Themen kurzfristig und auf freiwilliger Basis als erste Referenz dienen können.

4.2.

Die Kommission erließ im Rahmen des Arbeitsprogramms 2016-2019 (22) über Ökodesign und Energiekennzeichnung (23) eine Reihe von Verordnungen (24). Zu diesen Maßnahmen wurden mehr als 40 noch laufende Normungsaufträge erteilt.

4.3.

Die Kommission hat eine Empfehlung (25) mit Leitlinien für Selbstregulierungsmaßnahmen der Industrie als Alternative und Unterstützung der Regulierung herausgegeben, in der Überprüfungsklauseln vorgesehen sind. Im Rahmen der Überprüfung sollten Aspekte im Hinblick auf Kreislaufwirtschaft, Ressourceneffizienz, Reparierbarkeit, Recycelbarkeit und Haltbarkeit aufgenommen werden.

4.4.

Integration: Der EWSA hat bereits betont, wie wichtig es ist, „den KMU und den gesellschaftlichen Akteuren sowie ihren Vertretern auf nationaler Ebene den Zugang zum Normungsverfahren zu erleichtern“ und „dass die Maßnahmen der wesentlichen Normungsakteure gründlich begleitet werden, um die Dimension der Integration des europäischen Normungssystems zu stärken“ (26). Der EWSA betrachtet seine Veranstaltung vom 5. November 2019 zur Inklusivität des europäischen Normungssystems als positives Beispiel für die Zusammenarbeit und den konstruktiven Austausch zwischen Einrichtungen und Interessenträgern.

4.5.

Unterstützung für die europäischen Normen auf globaler Ebene: Die Einflussmöglichkeiten wie auch die Kapazitäten für Präsenz, Fachkompetenz und Kohärenz müssen insbesondere für Kleinunternehmen, Verbraucher und ökologische Interessen vor allem im Rahmen von ISO/IEC/ITU sowie in multilateralen Foren und Freihandelsabkommen gestärkt werden.

4.5.1.

Der EWSA ist in Übereinstimmung mit seinen Leitlinien im Bereich der Kreislaufwirtschaft der Ansicht, dass auch die Entscheidung zur Harmonisierung der Mobilitätspolitik einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer nachhaltigen Mobilität für Europa darstellt (27).

4.6.

Nach Auffassung des EWSA ist es entscheidend, wie schnell im Bereich der Normung auf die Bedürfnisse der europäischen Wirtschaft reagiert wird. Diesbezüglich muss der im Bereich neuer Arbeitsmethoden entstandene strukturelle Rückstand abgebaut werden.

4.7.

Der EWSA stimmt den von der Kommission ermittelten strategischen Bereichen zu: KI, Internet der Dinge, Blockchain, Cybersicherheit (insbesondere in Bezug auf kritische Infrastrukturen wie Kommunikations- und Verkehrsnetze), Zugänglichkeit und Unterstützung beim Aufbau sicherer elektronischer Datenaustauschsysteme im Gesundheitswesen auf europäischer Ebene (eHealth).

4.8.

Der EWSA bekräftigt erneut, dass laufende Unterhandlungen mit den anderen internationalen Wettbewerbern dringend geboten sind. Der Abschluss des Handelsübereinkommens mit Japan und die geplante Fortführung der Gespräche mit den USA und China sowie die Freihandelsabkommen mit Australien, Neuseeland, Indonesien und den Mercosur-Staaten müssen zu den zentralen Schwerpunkten der Arbeit der Kommission im Jahr 2020 und den Folgejahren gehören.

Brüssel, den 10. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Siehe die Maßnahmen im Hinblick auf Fanggeräte in der europäischen Strategie für Kunststoffe in der Kreislaufwirtschaft (COM(2018) 28 final) und Maßnahme 13 im Anhang der Mitteilung.

(2)  Siehe Einzelheiten in den Maßnahmen 1 bis 3 im Anhang der Mitteilung.

(3)  Siehe Maßnahme 7 im Anhang der Mitteilung.

(4)  Siehe Maßnahme 8 im Anhang der Mitteilung.

(5)  Siehe Maßnahme 6 im Anhang der Mitteilung.

(6)  Siehe Maßnahme 5 im Anhang der Mitteilung.

(7)  Siehe Maßnahme 4 im Anhang der Mitteilung.

(8)  Siehe Maßnahme 9 im Anhang der Mitteilung.

(9)  Siehe Maßnahme 11 im Anhang der Mitteilung.

(10)  Siehe Maßnahme 12 im Anhang der Mitteilung.

(11)  COM(2018) 237 final.

(12)  COM(2017) 477 final.

(13)  Siehe Maßnahme 10 im Anhang der Mitteilung.

(14)  Verordnung (EU) 2018/1092.

(15)  Normen für Kleinunternehmen (Small Business Standards), Europäische Vereinigung zur Koordinierung der Verbrauchervertretung in Normungsangelegenheiten (ANEC), Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB) und Europäische Umweltorganisation der Bürger für Normung (ECOS).

(16)  Anhang III der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 zur europäischen Normung.

(17)  COM(2018) 441 final.

(18)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 69.

(19)  Siehe Anhang der gemeinsamen Normungsinitiative im Rahmen der Binnenmarktstrategie, abrufbar unter https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/3/2016/DE/3-2016-3211-DE-F1-1-ANNEX-1.PDF.

(20)  ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 98; ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 97; ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 61 und ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 207.

(21)  Punkte 1, 2 und 3 im Anhang zu COM(2019) 486, vorgesehen in der Richtlinie 2005/32/EG, neu gefasst in der Richtlinie 2009/125/EG.

(22)  COM(2016) 773 final.

(23)  Zur Umsetzung der Richtlinie 2009/125/EG.

(24)  Delegierte Verordnungen (EU) 2019/2013, (EU) 2019/2014, (EU) 2019/2015, (EU) 2019/2016, (EU) 2019/2017, (EU) 2019/2018, (EU) 2019/2019, (EU) 2019/2020, (EU) 2019/2021, (EU) 2019/2022, (EU) 2019/2023 und (EU) 2019/2024 der Kommission (ABl. L 315 vom 5.12.2019).

(25)  C (2016) 7770.

(26)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 81.

(27)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 254.


18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/52


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Kontrolle des Erwerbs und des Besitzes von Waffen (kodifizierter Text)“

(COM(2020) 48 final — 2020/0029 (COD))

(2020/C 311/06)

Befassung

Europäisches Parlament, 9.3.2020

Rat, 27.2.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Verabschiedung auf der Plenartagung

10.6.2020

Plenartagung Nr.

552

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

210/0/4

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt und sich bereits in seinen Stellungnahmen CES 1166/1987 (1), CESE 1157/2006 (2) und CESE 6789/2015 (3) zu dieser Thematik geäußert hat, beschloss er auf seiner 552. Plenartagung am 10./11. Juni 2020 (Sitzung vom 10. Juni) mit 210 Stimmen bei 4 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme abzugeben und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in den vorgenannten Stellungnahmen vertreten hat.

Brüssel, den 10. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 35 vom 8.2.1988, S. 5.

(2)  ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 83.

(3)  ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 77.


18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/53


Stellungnahme des Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/1628 hinsichtlich ihrer Übergangsbestimmungen zur Bewältigung der Folgen der COVID-19-Krise

(COM(2020) 233 final — 2020/0113 (COD))

(2020/C 311/07)

Berichterstatter:

Gerardo LARGHI

Befassung

Rat, 8.6.2020

Europäisches Parlament, 17.6.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Präsidiumsbeschluss

9.6.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

11.6.2020

Plenartagung Nr.

552

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

226/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Verordnungsvorschlag, den er als angemessene und verhältnismäßige Reaktion auf die Folgen der COVID-19-Krise erachtet.

1.2.

Der Vorschlag wird zwei Zielen gerecht: der Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarktes und gleichzeitig der Sicherstellung eines hohen Maßes an öffentlicher Sicherheit und Umweltschutz.

2.   Inhalt des Kommissionsvorschlags

2.1.

Die Verordnung (EU) 2016/1628 des Europäischen Parlaments und des Rates (1) legt neue Emissionsgrenzwerte („Stufe V“) fest, um die derzeit von Motoren für nicht für den Straßenverkehr bestimmte mobile Maschinen und Geräte ausgestoßenen Luftschadstoffemissionen zu verringern.

2.2.

Die COVID-19-Pandemie hat eine erhebliche Störung der Lieferkette verursacht, sodass die Hersteller von nicht für den Straßenverkehr bestimmten mobilen Maschinen und Geräten nicht in der Lage sind, manche der Fristen einzuhalten, die in der Verordnung für nicht für den Straßenverkehr bestimmte mobile Maschinen und Geräte vorgeschrieben sind.

2.3.

Mit dem Vorschlag sollen die Fristen für die Herstellung und das Inverkehrbringen von mit Übergangsmotoren ausgerüsteten nicht für den Straßenverkehr bestimmten mobilen Maschinen und Geräten und Zugmaschinen um zwölf Monate verlängert werden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA bekräftigt seine Überzeugung, dass die Reduzierung der schädlichen Kohlenmonoxid-, Stickoxid-, Kohlenwasserstoff- und Partikelemissionen aus Motoren in land- und forstwirtschaftlichen Zugmaschinen als Beitrag zur Erreichung der von der EU festgelegten Luftqualitätsziele unerlässlich ist.

3.2.

In seiner Stellungnahme (2) zu der Verordnung (EU) 2016/1628 empfahl der EWSA, in Anbetracht der starken Gesundheitsbedenken bezüglich bei Verbrennungsprozessen entstehenden Nanopartikeln und des hohen Schutzniveaus, das durch die Umsetzung der vorgeschlagenen Stufe V für Motoren mobiler Maschinen und Geräte erreicht werden kann, die neue Verordnung zügig zu erlassen.

3.3.

Der EWSA ist sich im Klaren darüber, dass sich die außergewöhnlichen Umstände infolge der COVID-19-Krise auf verschiedene Bereiche auswirken. Insbesondere verursachte sie Totalunterbrechungen der Belieferung mit Teilen und Bauteilen, sodass die Hersteller über große Lagerbestände an unfertigen Motoren und Erzeugnissen verfügen.

3.4.

In der Folge werden viele Hersteller von Motoren sowie Maschinen und Geräten die in der Verordnung festgelegten Fristen nicht einhalten können, ohne ernsthaften wirtschaftlichen Schaden zu nehmen.

3.5.

Zudem ist sich der EWSA voll und ganz bewusst, dass die Krise unerwartet kam und auch nicht hätte vorhergesehen werden können.

3.6.

Daher befürwortet der EWSA die in dem Vorschlag vorgesehene Verlängerung um ein Jahr als angemessene und verhältnismäßige Maßnahme, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts sowie ein hohes Maß an öffentlicher Sicherheit und Umweltschutz zu gewährleisten.

Brüssel, den 11. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Verordnung (EU) 2016/1628 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. September 2016 über die Anforderungen in Bezug auf die Emissionsgrenzwerte für gasförmige Schadstoffe und luftverunreinigende Partikel und die Typgenehmigung für Verbrennungsmotoren für nicht für den Straßenverkehr bestimmte mobile Maschinen und Geräte, zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1024/2012 und (EU) Nr. 167/2013 und zur Änderung und Aufhebung der Richtlinie 97/68/EG (ABl. L 252 vom 16.9.2016, S. 53) — Stellungnahme des EWSA (ABl. C 251 vom 31.7.2015, S. 31).

(2)  ABl. C 251 vom 31.7.2015, S. 31.


18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/55


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds“

(COM(2020) 22 final — 2020/0006 (COD))

und zu „Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit gemeinsamen Bestimmungen für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds Plus, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit Haushaltsvorschriften für diese Fonds und für den Asyl- und Migrationsfonds, den Fonds für die innere Sicherheit und das Instrument für Grenzmanagement und Visa“

(COM(2020) 23 final — 2018/0196 (COD))

(2020/C 311/08)

Berichterstatterin:

Ester VITALE

Mitberichterstatter:

Petr ZAHRADNÍK

Befassung

Rat der Europäischen Union, 23.1.2020

Europäisches Parlament, 29.1.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 175 Absatz 3 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

13.5.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

10.6.2020

Plenartagung Nr.

552

Abstimmungsergebnis

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

210/1/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist fest davon überzeugt, dass der Fonds für einen gerechten Übergang den ersten konkreten Beitrag zu dem sehr ehrgeizigen Ziel der CO2-Neutralität bis 2050 darstellt und mit dem europäischen Grünen Deal im Einklang steht.

1.2.

Der EWSA ist darüber besorgt, dass die für den gerechten Übergang vorgesehenen Investitionen nicht dem anspruchsvollen Grünen Deal der Europäischen Kommission entsprechen. Er ist der Auffassung, dass mittels der Einführung neuer Eigenmittel oder durch die Erhöhung des Beitrags der Mitgliedstaaten zusätzliche Mittel bereitgestellt werden sollen. Die EU muss ein Maß an Engagement an den Tag legen, das der Herausforderung der Bekämpfung des Klimawandels entspricht; durchschnittlich müssen 40 % des Gesamthaushaltsplans (MFR 2021-2017) diesem Ziel zugewiesen werden.

1.3.

Der EWSA empfiehlt, den Finanzrahmen des Fonds für einen gerechten Übergang genauer festzulegen, da laut dem Vorschlag nur 30 Mrd. EUR garantiert sind und der Rest auf einer freiwilligen Entscheidung der Mitgliedstaaten beruht. Der EWSA ist nicht überzeugt, dass der Finanzrahmen auf einem konservativen Ansatz und vorsichtig veranschlagten Voraussetzungen beruht.

1.4.

Der EWSA ist sich bewusst, dass der Erfolg des Fonds für einen gerechten Übergang (sowie des gesamten Investitionsplans für ein zukunftsfähiges Europa) von einer neuen Art von Partnerschaft zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor bezüglich Finanzierung und gemeinsame Verantwortung abhängt. Erforderlich ist ein neuer Pakt zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor, der alle wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Akteure einschließt und in dem die Finanzierung und die gemeinsamen Zuständigkeiten festgelegt sind. Da der Finanzbedarf des europäischen Grünen Deals enorm ist und die gemeinsamen EU-Haushaltsmittel recht begrenzt sind, wird der Privatsektor eine bedeutende Rolle spielen. Nichtregierungsorganisationen (NGO) sollten maßgeblich darauf einwirken, dass bei der Verwendung des Fonds für einen gerechten Übergang alle gesellschaftlichen Gruppen umfassend einbezogen werden. Dies setzt eine bessere Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen und für ältere Menschen voraus.

1.5.

Der EWSA unterstützt den umfassenden Ansatz unter Beteiligung der lokalen Akteure, Sozialpartner und NGO, der den wirtschaftlichen, sozialen, industriellen und technologischen Dimensionen des Übergangs zu einer kohlenstoffneutralen Wirtschaft Rechnung trägt. Die Sozialpartner müssen in die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen und Strategien für einen gerechten Übergang einbezogen werden. Die Gewerkschaften sollten in allen Phasen des gerechten Übergangs vertreten sein, um die Interessen der Arbeitnehmer auf verschiedenen Ebenen zu schützen.

1.6.

Der EWSA hofft, dass der Dialog zwischen der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten in Sachen Europäisches Semester mit einer aktiven und maßgeblichen Beteiligung der Sozialpartner und der NGO einhergeht.

1.7.

Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass den territorialen Plänen und etwaigen spezifischen Programmen Überwachungsausschüsse zur Seite gestellt werden, für die auch die in der Dachverordnung für europäische Struktur- und Investitionsfonds vorgesehenen Vorschriften gelten.

1.8.

Der EWSA empfiehlt die umfassende und substanzielle Einbeziehung der Sozialpartner und der NGO in die territorialen Pläne und etwaigen spezifischen Programme des Fonds für einen gerechten Übergang.

1.9.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich die Flexibilität der Vorschriften über staatliche Beihilfen und die zu erwartenden Folgen, die auch die Bedeutung des Grünen Deals insbesondere in den kohle- und kohlenstoffintensiven Mitgliedstaaten und Regionen widerspiegeln sollten. Staatliche Beihilfen, insbesondere grüne Beihilfen, sollten den Übergang zu einer umweltfreundlicheren und integrativeren Wirtschaft unterstützen, wobei kontinuierlich und gezielter darauf zu achten ist, dass staatliche Beihilfen zur Förderung der Beschäftigung von Menschen verwendet werden, die vom offenen Arbeitsmarkt häufig abgeschnitten sind, wie z. B. Menschen mit Behinderungen.

1.10.

Da sich die nachhaltige Entwicklung und Klimaschutzmaßnahmen positiv auf die öffentlichen Ausgaben auswirken und eine Reihe negativer externer Effekte (in puncto Gesundheit, Sanierung, Wiederaufbau usw.) beseitigen, müssen öffentliche Investitionen in Umwelt- und Klimaschutz von den Beschränkungen des Stabilitätspakts ausgenommen werden. Angesichts der derzeitigen beispiellosen Krise ist dies jetzt wichtiger denn je. COVID-19 kann erhebliche Auswirkungen auf die Unionsbürgerinnen und -bürger, ihre Gesundheit und die Wirtschaft im Allgemeinen haben.

1.11.

Die COVID-19-Pandemie stellt derzeit die oberste Priorität dar. Sie untergräbt unser soziales und wirtschaftliches Leben und beeinflusst auch die derzeitige und künftige Finanzpolitik der EU. Gleichzeitig schafft sie auch eine beispiellose Unsicherheit, die zu umfassenden Änderungen bei der Ausrichtung und Zuweisung der EU-Haushaltsmittel führen könnte. In ihren jüngsten vorgelegten Dokumenten empfiehlt die Kommission, die restlichen für 2014-2020 verfügbaren EU-Haushaltsmittel in erster Linie für die Abmilderung der Folgen der Pandemie bereitzustellen. Der EWSA wird alle notwendigen angemessenen Änderungen im Rahmen der Verhandlungen über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) respektieren, die zur Bewältigung dieser katastrophalen Lage beitragen können.

1.12.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Kommission „Nächste Generation EU“ zur Stärkung des Übergangsmechanismus als Reaktion auf die Krise und ihren neuen Vorschlag für den nächsten langfristigen EU-Haushalt.

1.13.

Der EWSA begrüßt, dass die Mitgliedstaaten für sich ein spezifisches Programm für den Fonds für einen gerechten Übergang auflegen können. Der EWSA respektiert und unterstützt die wichtige Rolle der Regionen bei der Planung, Verwaltung und Umsetzung des Fonds für einen gerechten Übergang nach Maßgabe des Subsidiaritätsprinzips. Darüber hinaus empfiehlt der EWSA, dem unterschiedlichen Vorbereitungsstand der Mitgliedstaaten und Regionen beim Übergang zur CO2-Neutralität sowie dem unterschiedlichen Potenzial für die Erzeugung sauberer Energie in der EU Rechnung zu tragen. Es gilt auch, die unterschiedliche Haltung der Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten und Regionen beim aktiven Beitrag zum Klimaschutz zu berücksichtigen.

1.14.

Der EWSA würde es sehr begrüßen, wenn eine Liste nachhaltiger Projekte veröffentlicht würde, um den Austausch bewährter Verfahren zu fördern. Die Unterstützung durch bestimmte Verwaltungsbehörden sollte ebenfalls öffentlich gemacht werden, um zu günstigen Investitionsbedingungen beizutragen. Dadurch wird die Transparenz erhöht und das Risiko uneinheitlicher Informationen vermieden.

1.15.

Der EWSA weist darauf hin, dass die durch den Fonds für einen gerechten Übergang finanzierten Maßnahmen und jene, die durch InvestEU im Rahmen der zweiten Säule und durch die Darlehensfazilität für den öffentlichen Sektor im Rahmen der dritten Säule des Mechanismus für einen gerechten Übergang kofinanziert werden, einander unbedingt ergänzen müssen.

1.16.

Der EWSA unterstreicht nachdrücklich, dass zwischen wirtschaftlichen Umstrukturierungsmaßnahmen und Maßnahmen für den Schutz und die Umschulung von Arbeitnehmern, die von den Übergangsprozessen betroffen sind, ein ausgewogenes Verhältnis gewährleistet werden muss.

1.17.

Das Bildungs- und Ausbildungssystem ist für die Unterstützung der Übergangsprozesse von zentraler Bedeutung. Der EWSA empfiehlt, die kohäsionspolitischen Mittel für die Stärkung und Wiederbelebung des Sekundar- und Hochschulbildungssystems im Rahmen gezielter und auf die aktuellen Bedürfnisse ausgerichteter wissenschaftlicher und technologischer Leitlinien aufzustocken.

1.18.

Der EWSA spricht sich dafür aus, einen wesentlichen Teil der Mittel des Fonds für einen gerechten Übergang für die Mobilisierung von Investitionen aufzuwenden, die erforderlich sind, um den Beschäftigungsübergang der Arbeitnehmer zu begleiten. Es sollte jedoch ein ausgewogenes Verhältnis gewährleistet werden zwischen Investitionen in die Umschulung von Arbeitnehmern, die in neue Formen umweltfreundlicherer Beschäftigung wechseln, und der Ausstattung jener, die in den betroffenen Gemeinschaften in den Arbeitsmarkt eintreten, mit den für die neuen Beschäftigungsformen erforderlichen Qualifikationen. Besonderer Schwerpunkt sollte auf die Unterstützung der Beschäftigung von am weitesten vom Arbeitsmarkt entfernten Menschen (u. a. junge Menschen und Menschen mit Behinderungen) gelegt werden.

2.   Hintergrund

2.1.

Die Europäische Kommission hat ihre strategische, langfristige Vision für eine wohlhabende, moderne, wettbewerbsfähige und klimaneutrale Wirtschaft bis 2050 vorgestellt. Wie in ihrer Mitteilung zum europäischen Grünen Deal dargelegt, schlägt die Kommission einen Mechanismus für einen gerechten Übergang vor, der die bereits für den Zeitraum 2021-2027 vorgelegten Haushalts- und Legislativvorschläge ergänzt. Zwischen 2021 und 2027 werden Mittel von 100 Mrd. EUR in den gesamten Mechanismus für einen gerechten Übergang fließen, um die Umstellung von Aktivitäten mit schädlichen Emissionen, die Senkung des Steinkohleverbrauchs, die Förderung der Energieeffizienz und den Übergang zu saubereren Technologien in allen Produktionssektoren zu fördern und zu erleichtern. Der Fonds wird zunächst über Mittel von 7,5 Mrd. EUR verfügen, die dank nationaler Kofinanzierungen, dem Finanzierungsinstrument InvestEU und der Europäischen Investitionsbank (EIB) auf voraussichtlich 100 Mrd. EUR ansteigen werden.

2.2.

Der Mechanismus für einen gerechten Übergang umfasst drei Säulen:

einen Fonds für einen gerechten Übergang im Rahmen der Kohäsionspolitik. Dieser Fonds wird mittels einer eigenen Verordnung eingerichtet, in der sein spezifisches Ziel, seine geografische Ausdehnung, die Methode für die Zuweisung der Finanzmittel und der Inhalt der territorialen Pläne für einen gerechten Übergang festgelegt werden, die für eine solide Planung notwendig sind. Mit dem Fonds werden vor allem Zuschüsse für Regionen gewährt, um die Arbeitnehmer zu unterstützen und ihnen bspw. beim Erwerb von Fähigkeiten und Kompetenzen zu helfen, die auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft genutzt werden können. Zudem sollen die Zuschüsse KMU, Start-up-Unternehmen und Gründerzentren zugute kommen, die in den betreffenden Regionen neue wirtschaftliche Möglichkeiten schaffen. Ferner sollen Investitionen in die Umstellung auf saubere Energien und in die Energieeffizienz unterstützt werden;

eine spezielle InvestEU-Regelung für Projekte in den Bereichen Energie- und Verkehrsinfrastruktur, einschließlich Gasinfrastruktur und Fernwärme, sowie Dekarbonisierungsprojekte;

eine Darlehensfazilität der EIB für den öffentlichen Sektor, um zusätzliche Finanzmittel für die betroffenen Regionen zu mobilisieren. Die Finanzierung aus dem EU-Haushalt könnte durch Zins- oder Investitionszuschüsse in Verbindung mit Darlehen der EIB ergänzt werden.

2.3.

Zusätzliche öffentliche und private Mittel werden erschlossen und sektorspezifische Vorschriften für staatliche Beihilfen sind vorgesehen, um die Nutzung nationaler Mittel für Projekte zu erleichtern, die den Zielen des gerechten Übergangs entsprechen.

2.4.

Beratung und technische Hilfe für die Regionen werden fester Bestandteil des Mechanismus für einen gerechten Übergang sein.

2.5.

Der Fonds für einen gerechten Übergang unterliegt der geteilten Mittelverwaltung und steht allen Mitgliedstaaten zur Verfügung. Bei den Zuweisungen werden die Herausforderungen des Übergangs für die Regionen mit den höchsten CO2-Emissionen und die gesellschaftlichen Probleme aufgrund des möglichen Verlusts von Arbeitsplätzen berücksichtigt.

2.6.

Die Mitgliedstaaten werden die ihnen aus dem Fonds für einen gerechten Übergang zugewiesenen Mittel durch für sie bestimmte Mittel aus EFRE und ESF+ ergänzen. Diese Übertragungen werden mindestens dem Anderthalbfachen und höchstens dem Dreifachen der Zuweisung aus dem Fonds für einen gerechten Übergang entsprechen. Gleichwohl sollte kein Mitgliedstaat mehr als 20 % seiner ursprünglichen Zuweisungen aus dem EFRE und dem ESF verwenden, wobei diese zusätzlichen Mittel begründet werden müssen. Die Mitgliedstaaten werden auch mit eigenen Mitteln eingreifen.

2.7.

Die Planung einschließlich der Festlegung der Interventionsgebiete erfolgt im Dialog zwischen der Kommission und den einzelnen Mitgliedstaaten im Rahmen des Europäischen Semesters. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, ihre territorialen Pläne vorzulegen, in denen der Übergangsprozess bis 2030 festgelegt wird. In diesem Zusammenhang werden sie für jedes Gebiet die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Herausforderungen sowie den Bedarf an Umschulung und Umweltsanierung darlegen. Der Fonds wird sich auf Gebiete konzentrieren, die den Regionen der NUTS-3-Ebene entsprechen.

2.8.

Die Genehmigung der territorialen Pläne ermöglicht eine Unterstützung aus dem Fonds für einen gerechten Übergang und aktiviert die Mechanismen für die Nutzung des Fonds InvestEU und der EIB-Mittel. Die geförderten Programme werden ebenso wie alle kohäsionspolitischen Programme einer Halbzeitüberprüfung unterzogen.

2.9.

Der Fonds für einen gerechten Übergang ergänzt die kohäsionspolitischen Mittel. Dies bedeutet, dass der Vorschlag für eine Dachverordnung für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds Plus, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Meeres- und Fischereifonds, den Asyl- und Migrationsfonds, den Fonds für die innere Sicherheit und das Instrument für Grenzmanagement und Visa geändert werden muss, um den Fonds für einen gerechten Übergang als neuen kohäsionspolitischen Fonds aufzunehmen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA befürwortet die EU-Strategie zur langfristigen Senkung der Treibhausgasemissionen und das damit verbundene Ziel, die Europäische Union bis 2050 auf eine klimaneutrale Wirtschaft umzustellen. Der EWSA begrüßt, dass „grüne“ Ziele zu den wichtigsten Prioritäten der künftigen Kohäsionspolitik gehören, für die mindestens 30 % der Mittel aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und 37 % der Kohäsionsmittel vorgesehen sind. Er hegt indes die Sorge, dass die geplanten Investitionen für den gerechten Übergang dem ehrgeizigen Grünen Deal der Europäischen Kommission nicht gerecht werden. Die für den zehnjährigen Zeitraum vorgeschlagene Finanzierung müsste jährlich aufgebracht werden, um bis 2050 auf gerechte Weise Klimaneutralität zu erreichen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Ausgabenschätzungen des MFR erhöht werden müssen. Wenn die ehrgeizigen Ziele des Grünen Deals tatsächlich erreicht werden sollen, muss der EU-Haushalt entweder durch die Einführung neuer Eigenmittel oder durch die Erhöhung des Beitrags der Mitgliedstaaten aufgestockt werden.

3.2.

Der EWSA würdigt die Anstrengungen zur Anpassung des MFR 2021-2027 der EU an die Bedürfnisse und Herausforderungen in puncto Klima mithilfe des Fonds für einen gerechten Übergang, und im breiteren Kontext mithilfe des gesamten Investitionsplans für ein zukunftsfähiges Europa, deren wichtigster Teil der Fonds für einen gerechten Übergang ist. Der Fonds für einen gerechten Übergang ist der erste konkrete Schritt zur Lösung des Problems in finanzieller und investitionsspezifischer Hinsicht. Der EWSA stellt jedoch nachdrücklich fest, dass auch die anderen Aufgaben, die in der Vereinbarung über den europäischen Grünen Deal vorgesehen sind, umgesetzt werden müssen. Andernfalls wäre die Wirksamkeit des Fonds für einen gerechten Übergang begrenzt.

3.3.

Wie bereits in früheren Stellungnahmen (1) dargelegt, stimmt der EWSA der Tatsache zu, dass im Rahmen der Kohäsionspolitik gezielte Finanzmittel über den Mechanismus für einen gerechten Übergang bereitgestellt werden sollten. Allerdings sollten die Mittel aus angemessenen Ad-hoc-Zuweisungen stammen, um weitere Kürzungen bei den Mitteln aus dem Kohäsionsfonds zu vermeiden.

3.4.

Zudem könnte im Falle des ESF+ eine obligatorische Übertragung zu unbeabsichtigten Interessenkonflikten führen: sollen bspw. armutsgefährdete Personen oder vom Verlust ihres Arbeitsplatzes bedrohte Industriearbeiter unterstützt werden? Solche Interessenkonflikte könnten die Akzeptanz der Klimapolitik insgesamt beeinträchtigen. In jedem Fall muss die Ausweitung des Anwendungsbereichs des ESF+ mit einer Erhöhung der Mittelausstattung einhergehen.

3.5.

Da sich die nachhaltige Entwicklung und Klimaschutzmaßnahmen positiv auf die öffentlichen Ausgaben auswirken und eine Reihe negativer externer Effekte (in puncto Gesundheit, Sanierung, Wiederaufbau usw.) beseitigen, müssen öffentliche Investitionen in Umwelt- und Klimaschutz von den Beschränkungen des Stabilitätspakts ausgenommen werden. Angesichts der derzeitigen beispiellosen Krise ist dies jetzt wichtiger denn je. COVID-19 könnte erhebliche Auswirkungen auf die Unionsbürgerinnen und -bürger, ihre Gesundheit und die Wirtschaft im Allgemeinen haben.

3.6.

Der EWSA ist überzeugt, dass es bei den verschiedenen Lösungen zur Bewältigung der Pandemie und der Herausforderungen des Grünen Deals viele gemeinsame Interessen und Ziele gibt. Allerdings sollte die Verwirklichung einiger Ziele des Grünen Deal neu definiert werden, insbesondere in Bezug auf den Zeitrahmen. Eine gewisse Flexibilität (in Anlehnung an die Steuer- und Beihilfevorschriften) wird dringend empfohlen.

3.7.

Große Investitionen in die Bekämpfung des Klimawandels und den ökologischen Wandel sind nicht vorstellbar, wenn die Defizitauflagen fortbestehen. Dies bedeutet natürlich keine Abkehr von der üblichen Auflage, die öffentlichen Finanzen zu sanieren. Vielmehr geht es darum, zwischen zwei Alternativen zu wählen: Entweder wollen wir den Prozess der Erderwärmung wirklich eindämmen, und dann müssen wir enorme Summen für Investitionen aufbringen, oder wir wollen nur einige Korrekturmaßnahmen ergreifen, um das Gewissen zu beruhigen und die öffentlichen Finanzen in gutem Zustand zu halten.

3.8.

Um den Übergang wirtschaftlich robuster und politisch glaubwürdiger zu machen, müssen nach Auffassung des EWSA schnellstmöglich die direkten und indirekten Subventionsregelungen für fossile Brennstoffe abgeschafft werden, die enorme ökologische, soziale und wirtschaftliche Kosten verursachen und die Fortschritte bei den Klimaschutzmaßnahmen zunichtemachen.

3.9.

Durch die schrittweise Einstellung der Subventionierung fossiler Energieträger und die Förderung eines aufstrebenden Sektors wie der erneuerbaren Energien sowie die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen kommen die erneuerbaren Energien den Verbrauchern in Bezug auf Erschwinglichkeit, wirtschaftlichen Wohlstand und Klimaschutz zugute.

3.10.

Der Mechanismus für einen gerechten Übergang stellt eine ausgewogene Symbiose zwischen Zuschüssen und Finanzierungsinstrumenten zum einen und zwischen einem koordinierten Ansatz und einem zentral verwalteten Ansatz zum anderen dar. Erforderlich ist ein neuer Pakt zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor, der alle wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Akteure einschließt und in dem die Finanzierung und die gemeinsamen Zuständigkeiten festgelegt sind. Für seine wirksame Umsetzung sind jedoch neue Management- und Steuerungskapazitäten erforderlich. Der EWSA begrüßt, dass die Europäische Kommission die Behörden und die Träger nachhaltiger Projekte in allen Phasen — von der Planung bis zur Umsetzung — unterstützen wird.

3.11.

Die Mobilisierung privaten Kapitals für den Mechanismus ist für seinen Erfolg von entscheidender Bedeutung. Es wird notwendig sein, eine neue Partnerschaft zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor auf der Grundlage des Win-win-Prinzips zu schließen.

3.12.

Der EWSA unterstützt den umfassenden Ansatz unter Beteiligung der lokalen Akteure, Sozialpartner und NGO, der den wirtschaftlichen, sozialen, industriellen und technologischen Dimensionen des Übergangs zu einer kohlenstoffneutralen Wirtschaft Rechnung trägt. Die nachhaltige Entwicklung muss in allen Politikbereichen kohärent verfolgt werden, und sie muss auf Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten abzielen. Der EWSA empfiehlt, die Beteiligung aller Interessenträger auf allen Ebenen wirksam sicherzustellen und die Auswirkungen des Wandels des Wirtschaftsmodells auf die Beschäftigung im Rahmen eines sozialen Dialogs unter Verbindung der nationalen mit der europäischen Ebene anzugehen.

3.13.

Nach Auffassung des EWSA hängt der Übergang zu einer CO2-neutralen Wirtschaft auch von Investitionen in zugängliche und nachhaltige öffentliche Verkehrssysteme und in die bebaute Umgebungen ab. Die Investitionen aus dem Fonds für einen gerechten Übergang und aus dem EFRE sollten in die Förderung der CO2-Neutralität in diesen Bereichen fließen, allen Mitgliedern der Gesellschaft zugute kommen und für Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen zugänglich sein.

3.14.

Der EWSA ist der Auffassung, dass ein gerechter Übergang aus sozialer Sicht grundlegend ist, um die Unterstützung und das Vertrauen der Arbeitnehmer, der Unternehmen und der Zivilgesellschaft zu gewinnen und die großen wirtschaftlichen Veränderungen zu erleichtern, die erforderlich sind, um die Welt vor dem Klimawandel zu retten. Das Ende der Ära fossiler Brennstoffe in Europa muss mit den erforderlichen Investitionen einhergehen, um den Schutz der Beschäftigten in Europa, die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Förderung der Entwicklung vor Ort sicherzustellen. Der Prozess der Umstellung muss mit den Sozialpartnern und den Organisationen der Zivilgesellschaft ausgehandelt sowie an Transparenz und eine wirksame Kommunikationspolitik geknüpft werden.

3.15.

Der EWSA unterstreicht nachdrücklich, dass zwischen wirtschaftlichen Umstrukturierungsmaßnahmen und Maßnahmen für den Schutz und die Umschulung von Arbeitnehmern, die von den Übergangsprozessen betroffen sind, ein ausgewogenes Verhältnis gewährleistet werden muss. Es sollte auch ein Gleichgewicht gewährleistet werden zwischen Investitionen in die Umschulung von Arbeitnehmern, die in neue Formen umweltfreundlicherer Beschäftigung wechseln, und der Ausstattung jener, die in den betroffenen Gemeinschaften in den Arbeitsmarkt eintreten, mit den für die neuen Beschäftigungsformen erforderlichen Qualifikationen. Besonderer Schwerpunkt sollte auf die Unterstützung der Beschäftigung von am weitesten vom Arbeitsmarkt entfernten Menschen (u. a. junge Menschen und Menschen mit Behinderungen) gelegt werden.

3.16.

Der EWSA begrüßt, dass die Lösungen des Fonds für einen gerechten Übergang darauf abzielen, die Folgen des Rückgangs der mineralgewinnenden Industrie abzufedern, den Sektoren der Schwerindustrie die erforderliche Unterstützung zukommen zu lassen, damit sie ihren Betrieb nachhaltig fortsetzen können, und die entsprechenden sozialen Auswirkungen aufzufangen. Er weist jedoch darauf hin, dass der Fonds nicht auf die Finanzierung von Dekarbonisierungsprozessen beschränkt werden darf. Nach Auffassung des EWSA sollte ein Teil der Mittel des Fonds für einen gerechten Übergang für Investitionen verwendet werden, die von der Wertschöpfungskette der Dekarbonisierungsprozesse betroffene Arbeitnehmer und Gemeinschaften zur Erleichterung des Beschäftigungsübergangs benötigen.

3.17.

Das Bildungs- und Ausbildungssystem ist für die Unterstützung der Übergangsprozesse von zentraler Bedeutung. Der EWSA empfiehlt, die Mittel für die Stärkung und Wiederbelebung des Sekundar- und Hochschulbildungssystems im Rahmen gezielter und auf die aktuellen Bedürfnisse ausgerichteter wissenschaftlicher und technologischer Leitlinien aufzustocken und dafür auch im Rahmen der Kohäsionspolitik verfügbare Mittel einzusetzen.

3.18.

Der EWSA unterstützt die Entscheidung, innovative und nachhaltige Patente und Start-up-Unternehmen zu fördern und zu unterstützen. Die Unterstützung von Unternehmen, die verantwortungsvolle und nachhaltige Tätigkeiten ausüben und ökologische Lösungen für das Wohlergehen der Gemeinschaft entwickeln, muss sich lohnen.

3.19.

Die Ressourcenplanung des Fonds für einen gerechten Übergang wird eng mit dem Europäischen Semester verknüpft, wie dies bereits in den Verordnungen über die Mittel der Kohäsionspolitik 2021-2027 vorgesehen ist. Der EWSA geht davon aus, dass zusätzlich zu der Überwachung im Rahmen der kohäsionspolitischen Bestimmungen auch der Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung der EU dazu genutzt wird, die Umsetzung des Fonds für einen gerechten Übergang in den Mitgliedstaaten mittels des jährlichen strukturierten Dialogs zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission zu überwachen. Der EWSA hofft, dass die Sozialpartner und NGO in diesen Dialog zwischen der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten aktiv und umfassend eingebunden werden.

3.20.

Der EWSA begrüßt, dass der Fonds für einen gerechten Übergang auf einem oder mehreren territorialen Plänen für einen gerechten Übergang basiert, in dem bzw. denen der Übergangsprozess bis 2030 umrissen wird — in Übereinstimmung mit den nationalen Energie- und Klimaplänen und dem Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft. Der EWSA begrüßt, dass die Mitgliedstaaten für sich ein spezifisches Programm für den Fonds für einen gerechten Übergang auflegen können.

3.21.

Der EWSA empfiehlt die umfassende und substanzielle Einbeziehung der Sozialpartner und der NGO in die territorialen Pläne und etwaigen spezifischen Programme des Fonds für einen gerechten Übergang.

3.22.

Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass den territorialen Plänen und etwaigen spezifischen Programmen Überwachungsausschüsse zur Seite gestellt werden, für die auch die in der Dachverordnung für europäische Struktur- und Investitionsfonds vorgesehenen Vorschriften gelten.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Nach Überzeugung des EWSA sollte der Finanzrahmen nicht nur für den Fonds für einen gerechten Übergang, sondern auch für den gesamten Mechanismus für einen gerechten Übergang und den Investitionsplan für ein zukunftsfähiges Europa detaillierter ausgearbeitet werden. Der EWSA stellt zudem fest, dass die Mobilisierung von Mitteln über 30 Mrd. EUR hinaus nicht garantiert ist (d. h., dass die Zuweisung von Mitteln, die die Ausstattung des Fonds für einen gerechten Übergang um das Anderthalbfache übersteigen, nicht obligatorisch ist). Auch bei der Sonderregelung im Rahmen des Programms InvestEU und der Darlehensfazilität der EIB für den öffentlichen Sektor besteht noch Klärungsbedarf.

4.2.

Der EWSA befürchtet, dass die Entscheidung, in zehn Jahren rund 1 000 Mrd. EUR für den ökologischen Wandel auch mittels Mobilisierung öffentlicher und privater Investitionen durch den Einsatz von InvestEU aufzuwenden, dazu führt, dass Mittel aus anderen Bereichen, die von diesem Fonds profitieren, abgezogen werden könnten. Der EWSA weist darauf hin, dass die durch den Fonds für einen gerechten Übergang finanzierten Maßnahmen und jene, die durch InvestEU im Rahmen der zweiten Säule und durch die Darlehensfazilität für den öffentlichen Sektor im Rahmen der dritten Säule des Mechanismus für einen gerechten Übergang kofinanziert werden, einander unbedingt ergänzen müssen.

4.3.

Die Ziele des Grünen Deals werden auch aus Mitteln der Gemeinsamen Agrarpolitik unterstützt, die für 40 % der Gesamtzuweisung für die Unterstützung von Klimazielen aufkommen wird. In diesem Zusammenhang wird es wichtig sein, dass sich die nationalen Regierungen und die EU-Institutionen weiterhin für Investitionen in den Zusammenhalt einsetzen.

4.4.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich die Verfahren für eine flexiblere Auslegung der Beihilfevorschriften und für die laufende Vereinfachung, die die Kommission als Teil des umfassenderen politischen Rahmens vorgeschlagen hat, der in der Mitteilung zum Investitionsplan für ein zukunftsfähiges Europa festgelegt ist. Verschiedene Vorschriften sind erforderlich, um Spielraum für zu neuem Wachstum führende Investitionen zu schaffen.

4.5.

Der EWSA versteht und begrüßt die gut quantifizierten Kriterien für die Förderwürdigkeit im Rahmen des Fonds für einen gerechten Übergang.

4.6.

Grüne Beihilfen:

Umweltauflagen für Beihilfen für Unternehmen in Branchen mit großem CO2-Abdruck und/oder materiellem Fußabdruck anwenden;

ähnliche Umweltauflagen für neue und verlängerte Bankdarlehen (mit oder ohne öffentliche Bürgschaften) für diese Branchen anwenden;

Beihilfen für Unternehmen und Branchen ablehnen, wenn diese nicht in der Lage oder willens sind, kohlenstoffarme und kreislauforientierte Technologien anzuwenden, und ihre Arbeitnehmer für neue Arbeitsplätze umschulen;

Planungsverfahren für erneuerbare Energien, ÖPNV und kreislauforientierte Gebäude und Infrastrukturen beschleunigen. Die Unternehmen kämpfen um ihr Überleben und müssen die Beihilfen rasch bekommen. Die Unternehmen kämpfen um ihr Überleben und müssen die Beihilfen rasch bekommen.

Zur Verringerung des Verwaltungsaufwands im Vorfeld können die Regierungen sich bei der Gewährung der Beihilfen für eine vereinfachte Umweltprüfung entscheiden, die mit einer eingehenderen Umweltprüfung im Nachgang einhergeht. Wenn ein Unternehmen gegen die vereinbarten Umweltauflagen verstößt, müssen die Beihilfen — je nach Schwere des Verstoßes — teilweise oder vollständig zurückgezahlt werden. Es wird zudem vorgeschlagen, kohlenstoff- und materialintensive Schlüsselsektoren ins Visier zu nehmen, um den Verwaltungsaufwand so gering wie möglich zu halten (2).

4.7.

Der EWSA begrüßt ferner, dass auch angegeben wird, welchen Bereichen Mittel des Fonds für einen gerechten Übergang zugewiesen werden können und welchen nicht. Die Methode der Zuweisung trägt dazu bei, dass die Mittel in ausreichendem Maße auf diejenigen Mitgliedstaaten konzentriert werden, die vor den größten Herausforderungen stehen, und dass gleichzeitig alle Mitgliedstaaten maßgeblich unterstützt werden. Insbesondere Mitgliedstaaten, deren Pro-Kopf-BNE unter 90 % des EU-Durchschnitts liegt, würden etwa zwei Drittel der Fondsmittel erhalten.

4.8.

In Anbetracht der Umstände empfiehlt der EWSA, auch Wirtschaftssubjekten, die keine KMU sind, mehr Aufmerksamkeit zu gewähren. Denn die wichtigsten Unternehmen im Bergbau und der Schwerindustrie, die von Klimaschutzmaßnahmen betroffen sind, sind tendenziell Großunternehmen. Darüber hinaus bieten insbesondere diese Unternehmen häufig eine große Zahl angemessener Arbeitsplätze und sind für das wirtschaftliche Wohlergehen der Regionen von entscheidender Bedeutung. Die Verhinderung von Arbeitslosigkeit sollte zu einem zentralen Ziel der territorialen Pläne werden. Dies sollte nicht nur die Unterstützung der derzeitigen Arbeitnehmer beim Übergang zu neuen Beschäftigungsformen umfassen. Auch junge Menschen und Menschen, die vom offenen Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind (beispielsweise Menschen mit Behinderungen), sollten bei der erfolgreichen Arbeitssuche in diesen neuen Sektoren unterstützt werden.

4.9.

Der EWSA begrüßt die neuen Möglichkeiten für die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften, unmittelbare Verantwortung für das Projektmanagement zu übernehmen und konkret einen ortsbezogenen Ansatz umzusetzen, da die NUTS-3-Regionen die Grundeinheiten für die territorialen Pläne für den gerechten Übergang bilden.

4.10.

Die Sozialpartner und die in diesem Bereich tätigen NGO sollten in die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen und Strategien zur ehrgeizigen Emissionsminderung einbezogen werden, um einen gerechten Übergang zu menschenwürdigen Arbeitsplätzen zu gewährleisten und saubere Energiesysteme mit nachhaltiger Qualität der Beschäftigung in Einklang zu bringen. Die Gewerkschaften sollten in allen Phasen des gerechten Übergangs vertreten sein, um die Interessen der Arbeitnehmer auf verschiedenen Ebenen zu schützen.

4.11.

Um die angestrebten Ziele zu erreichen, verfolgt die Kommission bei der Förderfähigkeit der Gebiete einen restriktiven Ansatz, da die Mittel nur Ländern zugewiesen werden können, die einen territorialen Plan für einen gerechten Übergang vorlegen und anwenden. Deshalb ruft der EWSA alle Mitgliedstaaten auf, ihre Pläne möglichst bald zu erarbeiten, damit viele Arbeitnehmer in Europa in den in diesen Plänen ermittelten Regionen unterstützt werden können.

4.12.

Der EWSA begrüßt die Anpassung der Dachverordnung, um eine klare und transparente Rechtsgrundlage für die künftige EU-Kohäsionspolitik und ihre Klimaorientierung zu schaffen.

4.13.

Angesichts der großen Unsicherheit hinsichtlich der beschäftigungspolitischen Auswirkungen des Übergangs und der möglichen geografischen Verteilung sollten nach Auffassung des EWSA Fondsmittel besser nicht vorab geografisch zugewiesen werden. Ein weiteres Problem ist die Verwaltung des Fonds. Die Ausweisung der förderfähigen Gebiete und sämtliche Zuweisungen zwischen ihnen werden vollständig den nationalen Regierungen übertragen. Da es ohnehin keine regionalen Mittelzuweisungen geben wird, besteht die Gefahr, dass dies zu Ungleichgewichten bei der Verteilung der Mittel auf subnationaler Ebene führen könnte und dass von den negativen Auswirkungen des Klimawandels weniger betroffene Gebiete keine Mittel erhalten werden.

4.14.

Der EWSA stellt fest, dass das Bestreben, auf InvestEU und EIB zurückzugreifen, um 45 Mrd. EUR bzw. 25-30 Mrd. EUR zu mobilisieren, genau überwacht werden muss, um nicht die Fehler bei den EFSI-Investitionen zu wiederholen (3). Es muss sichergestellt werden, dass diese Investitionen vollständig mit dem Übereinkommen von Paris im Einklang stehen und Europa aufgrund der Ziele der EU zum ersten klimaneutralen Kontinent wird.

4.15.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Kommission „Nächste Generation EU“ zur Stärkung des Übergangsmechanismus als Reaktion auf die Krise und ihren neuen Vorschlag für den nächsten langfristigen EU-Haushalt. Der EWSA hofft, dass der Fonds für einen gerechten Übergang insgesamt auf 40 Mrd. EUR aufgestockt und dass die Regelung für einen gerechten Übergang innerhalb von InvestEU gestärkt wird. Der EWSA begrüßt auch den Kommissionsvorschlag für eine Darlehensfazilität für den öffentlichen Sektor, mit der 25 bis 30 Mrd. EUR mobilisiert werden sollen. Auf diese Weise werden im Rahmen des Mechanismus für einen gerechten Übergang mindestens 150 Mrd. EUR an öffentlichen und privaten Investitionen mobilisiert werden können.

4.16.

Die Beibehaltung eines ehrgeizigen Haushalts für die Kohäsionspolitik nach 2020 muss die oberste Priorität bei der Bekämpfung des Klimawandels auf territorialer Ebene bleiben. Mit anderen Worten: Die Einrichtung eines zusätzlichen Fonds sollte nicht als Vorwand zur Rechtfertigung weiterer Mittelkürzungen bei der Kohäsionspolitik im Zusammenhang mit den Verhandlungen über den MFR dienen.

4.17.

Der EWSA ist besorgt über das Planungsverfahren, da der Rechtstext noch verabschiedet und die Dachverordnung geändert werden muss. Die Kommission geht davon aus, dass die territorialen Pläne im zweiten Halbjahr 2020 genehmigt und die Programme des Fonds für einen gerechten Übergang im Laufe des Jahres 2021 angenommen werden. Dies könnte zu Verzögerungen bei der Umsetzung einiger kohäsionspolitischer Programme führen.

Brüssel, den 10. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Siehe Stellungnahme des EWSA zur „Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen 2021-2027“ (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 83).

(2)  Die folgenden Sektoren weisen einen relativ großen CO2-Abdruck und materiellen Fußabdruck auf: 1. Verkehr: Straßen-, Luft- und Schiffsverkehr wird überwiegend mit fossilen Brennstoffen betrieben; 2. Industrie: viele Hersteller verwenden nach wie vor energie- und materialintensive Technologien; 3. Bau: viele Bauunternehmen verwenden nach wie vor nicht recycelbare und energieintensive Materialien wie Zement; 4. Energie: der Übergang von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien verläuft sehr langsam.

(3)  Sonderbericht Nr. 3/2019 des Europäischen Rechnungshofs. Einige EFSI-Beihilfen haben lediglich andere Finanzierungen der EIB und der EU ersetzt. Ein Teil der Finanzmittel floss in Projekte, die auch aus anderen öffentlichen oder privaten Quellen hätten finanziert werden können. Letztendlich waren die Schätzungen der zusätzlich durch den EFSI eingeworbenen Investitionen manchmal überhöht, und die meisten Investitionen wurden in einigen größeren EU-15-Mitgliedstaaten mit gut etablierten nationalen Förderbanken getätigt.


18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/63


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Investitionsplan für ein zukunftsfähiges Europa — Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal“

(COM(2020) 21 final)

(2020/C 311/09)

Berichterstatter:

Carlos TRIAS PINTÓ

Mitberichterstatter:

Petr ZAHRADNÍK

Befassung

Europäische Kommission, 6.2.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

13.5.2020

Verabschiedung im Plenum

10.6.2020

Plenartagung Nr.

552

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

220/1/8

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Bewältigung der Coronavirus-Pandemie hat derzeit oberste Priorität für Europa. Die damit verbundenen Unwägbarkeiten könnten zu einer deutlichen Neuausrichtung des EU-Haushalts und zu einer Umorientierung der Mittelzuweisungen führen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) empfiehlt nachdrücklich, den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) zu verstärken und die Obergrenze für die Ausgaben vorübergehend auf 2 % zu erhöhen. Dadurch könnten die nötigen Steuermittel beschafft und die Auflage von Gemeinschaftsanleihen als Teil eines starken Konjunkturprogramms unterstützt werden.

1.2.

Der EWSA begrüßt, dass die Eurogruppe (1) sich vor Kurzem darauf geeinigt hat, 540 Mrd. EUR für die Unterstützung der Arbeitnehmer, Unternehmen und Mitgliedstaaten bereitzustellen und gleichzeitig die Regeln des Europäischen Fiskalpakts flexibler zu handhaben.

1.3.

Der Rat der Europäischen Union sollte vor der Sommerpause im Einklang mit dem Vorschlag der Europäischen Kommission vom 27. Mai eine Einigung über den Aufbaufonds (2) und den MFR erzielen, um den Weg für die wirtschaftliche Erholung Europas zu ebnen und den im europäischen Grünen Deal vorgesehenen ökologischen und digitalen Wandel voranzutreiben.

1.4.

Der Ausschuss würdigt auch die rasche und abgestimmte solidarische Reaktion aller betroffenen Organe der EU (3).

1.5.

Die Coronavirus-Pandemie wird gravierende Auswirkungen auf die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele und der Ziele des europäischen Grünen Deals haben. Aus diesem Grund fordert der EWSA nachdrücklich, dieser sich abzeichnenden Gefahr so rasch wie möglich entgegenzutreten und die Konjunkturbelebungsmaßnahmen der EU unverzüglich auf die Nachhaltigkeitsziele und den Grünen Deal auszurichten.

1.6.

Über die befristeten Solidaritätsmaßnahmen hinaus spricht sich der EWSA dafür aus, die Europäische Investitionsstabilisierungsfunktion (EISF) zu aktivieren und umgehend das Haushaltsinstrument für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit anzuwenden und seine Mittelausstattung im MFR 2021-2027 aufzustocken

1.7.

Es ist ein neuer grüner und sozialer Pakt nötig, der die Bürgerinnen und Bürger in all ihrer Vielfalt eint und in dessen Rahmen die nationalen, regionalen und lokalen Behörden, die Sozialpartner, die organisierte Zivilgesellschaft und die Industrie eng mit den Organen und beratenden Einrichtungen der EU zusammenarbeiten.

1.8.

Mit dem Investitionsplan für ein zukunftsfähiges Europa wurde die erste umfassende politische Maßnahme vorgelegt, um im Einklang mit dem europäischen Grünen Deal die außerordentlich ehrgeizigen Klimaneutralitätsziele bis 2050 zu verwirklichen.

1.9.

Der EWSA begrüßt die Ziele des europäischen Grünen Deals, bedauert indes die dafür im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen vorgesehenen unzureichenden Haushaltsmittel, die weit unterhalb der 1,3 % des BNE der Mitgliedstaaten liegen, die das Europäische Parlament und der EWSA als notwendig erachtet hatten, um sicherzustellen, dass das Potenzial jeder einzelnen Aktion umfassend zum Tragen gebracht werden kann und auf keine Aktion verzichtet werden muss.

1.10.

Der EWSA hegt auch Zweifel an der Wirksamkeit einer übergreifenden Berücksichtigung des Klimaschutzes in allen EU-Programmen und fordert die Mitgliedstaaten auf, sich gemeinsam mit den Organisationen der Zivilgesellschaft für die Klimaverträglichkeit von EU-Ausgaben einzusetzen. Besonders relevant ist eine Einbeziehung von Umwelt- und Bürgerrechtsgruppen in die nationalen Energie- und Klimapläne (NECP) und die nationalen Reformprogramme (NRP).

1.11.

Der EWSA begrüßt den Mechanismus für einen gerechten Übergang, kritisiert jedoch die deutlich unzureichende Mittelausstattung aus dem EU-Haushalt (7,5 Mrd. EUR, womit 100 Mrd. EUR mobilisiert werden sollen). Ergänzt werden muss dies durch Übertragungen aus dem EFRE/ESF+, nationale Kofinanzierungen sowie hoffentlich umfangreiche private Investitionen und die Darlehensfazilität der EIB für den öffentlichen Sektor.

1.12.

Voraussetzung hierfür sind Bündnisse (UN-Nachhaltigkeitsziel 17 „Partnerschaften zur Erreichung der Ziele“) zwischen dem privaten und öffentlichen Sektor für eine gemeinsame Finanzierung und Verantwortung, wie sich in dem Boom auf dem Markt für grüne Anleihen zeigt.

1.13.

Der EWSA befürwortet den ganzheitlichen Ansatz und begrüßt die Anreize für öffentliche und private Investitionen und Finanzierung, insbesondere die Förderung einer umweltgerechten Beschaffung sowie den geplanten flexibleren Beihilferahmen.

1.14.

Der EWSA unterstützt ferner die Verbesserung der haushaltspolitischen Steuerung der EU durch die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsrisiken auf der Grundlage der Überprüfung von bewährten Verfahren der umweltgerechten Haushaltsplanung und Haushaltsplänen. Zur Abrundung der Förderpolitik ist auch eine geeignete steuerliche Behandlung von Schwarmfinanzierern und Geldgebern erforderlich.

1.15.

Des Weiteren muss die europäische Wirtschafts- und Währungsunion vollendet werden (Reform des ESM-Vertrags wie auch des Haushaltsinstruments für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit und des europäischen Einlagenversicherungssystems (EDIS)), um eine effiziente und integrierte Kapitalmarktunion und eine Bankenunion zu entwickeln, denen alle Mitgliedstaaten angehören und die eine weitere Harmonisierung zum Ziel haben.

1.16.

Der EWSA plädiert dafür, die Nachhaltigkeitsziele zum Dreh- und Angelpunkt der Politikgestaltung der EU zu machen und dadurch den Prozess des Europäischen Semesters im Kontext des Grünen Deals zu verbessern. Er spricht sich ebenfalls für eine um die soziale Dimension erweiterte EU-Taxonomie aus.

1.17.

Nach Auffassung des EWSA sollten der öffentliche und der private Sektor die gleichen Standards verwenden, nicht nur im Zusammenhang mit der Taxonomie, sondern auch für die Angabe nichtfinanzieller Informationen. Er begrüßt die kommende Überprüfung der Richtlinie über die Angabe nichtfinanzieller Informationen und hofft, dass damit die Unternehmen von der Relevanz dieser Informationen überzeugt werden können. Dies sollte mit der Anwendung standardisierter Umwelt- und Sozialklauseln im öffentlichen Beschaffungswesen verknüpft werden.

1.18.

Der EWSA fordert eine eingehendere und bessere Nutzung öffentlicher statistischer Quellen und dementsprechend die Stärkung der Rolle von Eurostat und öffentlichen Registern, um die Bereitstellung robuster Daten zur Nachhaltigkeitsleistung sicherzustellen.

1.19.

Der EWSA hält es für wichtig, für alle potenziellen Nutzer präzise, leicht zugängliche Informationen bereitzustellen, um eine bedarfsgerechte beratende und technische Hilfestellung weiter zu erleichtern. Niemand darf zurückgelassen werden!

1.20.

Voraussetzung für den Übergang zu einer grüneren und gerechten Wirtschaft sind die passenden Kompetenzen für grüne Arbeitsplätze. Der EWSA plädiert für klare Strategien für Kompetenzvorschau und Berufsbildung sowie für entsprechende Kompetenz-Fahrpläne, damit die Arbeitskräfte auf die künftigen Anforderungen in allen Bereichen vorbereitet sind und bleiben.

1.21.

Der EWSA regt an, dass die Mitgliedstaaten ihre Programme zur Vermittlung von Finanzwissen um nachhaltiges Finanzwesen erweitern. Die öffentlichen Verwaltungen auf allen Ebenen sollten mittels über steuerliche Anreize für Unternehmen und Einzelpersonen Investitionen in grüne Initiativen mit sozialer Relevanz fördern.

2.   Hintergrund

2.1.

Der Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal bzw. Investitionsplan für ein zukunftsfähiges Europa ist die erste konkrete politische Maßnahme zur Verwirklichung der im europäischen Grünen Deal festgeschriebenen, außerordentlich ehrgeizigen Klimaneutralitätsziele bis 2050. Er ist somit die Investitionssäule des europäischen Grünen Deals und wird zwischen 2020 und 2030 voraussichtlich zusätzliche Investitionen in Höhe von 260 Mrd. EUR jährlich (also ca. 1,5 % des BIP von 2018) bereitstellen, und zwar hauptsächlich im Energie- und Verkehrssektor sowie für die entsprechenden Infrastrukturen.

2.2.

Für einen Erfolg dieser Strategie ist die Einbeziehung privater Finanzierungsquellen entscheidend. Im Rahmen dieser Strategie schließen der private und öffentliche Sektor letztlich eine neue Art Gesellschaftsvertrag ab, um hochwichtige Vorhaben im öffentlichen Interesse zu finanzieren.

2.3.

Im Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021-2027 sollen insgesamt 25 % der Mittel für die durchgängige Berücksichtigung der Klimaschutzbelange in allen EU-Programmen aufgewendet werden. Der europäische Grüne Deal muss unverzüglich konkret und weitreichend umgesetzt werden, um diese enorme globale Herausforderung mit politischem Ehrgeiz und hoher technischer Effizienz zu bewältigen. Der europäische Grüne Deal kann mithin als tragendes Element des künftigen wirtschaftlichen Gefüges der EU, als möglicher Auftakt eines grundlegenden Wandels und als Wendepunkt begriffen werden. Er könnte zum Symbol für gemeinsamen europäischen Mehrwert und globale Führungsstärke der EU werden.

2.4.

Die finanziellen Ressourcen und geeigneten Instrumente müssen zusammengestellt und mit den Mitgliedstaaten, ihren Regionen und Städten koordiniert und für das internationale Umfeld geöffnet werden. Dementsprechend erstrecken sich die wichtigsten Maßnahmen des Fahrplans für die Umsetzung des Grünen Deals auf Klimaschutz, Energie, Mobilität, eine Industriestrategie für eine saubere Kreislaufwirtschaft, Agrarpolitik, Biodiversität und Digitalisierung. Über einen Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal und eine neue Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen sollen Nachhaltigkeitsbelange übergreifend berücksichtigt werden. Mithilfe dieses grundlegend wichtigen Investitionsplans sollen bis 2030 private und öffentliche nachhaltige Investitionen im Umfang von 1 Billion EUR mobilisiert und ferner die daraus resultierenden sozialen Auswirkungen abgefedert werden.

2.5.

Der Mechanismus für einen gerechten Übergang, der in Ergänzung des Kommissionsvorschlags für den nächsten MFR einen Fonds für einen gerechten Übergang (4) (JTF) umfasst, soll 2021-2027 Investitionen in Höhe von 100 Mrd. EUR mobilisieren. Ziel des Mechanismus ist es, die wirtschaftlichen, sozialen, beschäftigungspolitischen und ökologischen Auswirkungen des Übergangs der Union zur Klimaneutralität auf regionaler Ebene abzufedern.

2.6.

Für den Übergang der EU zur Klimaneutralität werden auch Mittel aus dem Innovationsfonds und dem Modernisierungsfonds bereitgestellt (mindestens 25 Mrd. EUR über die nächsten zehn Jahre), die mit einem Teil der Einnahmen aus dem Emissionshandelssystem finanziert werden. Allerdings erhalten nur 10 Mitgliedstaaten Fördermittel aus dem Modernisierungsfonds.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Europa befindet sich derzeit in einer durch die Coronavirus-Pandemie ausgelösten gesundheitlichen und wirtschaftlichen Notlage. Alle europäischen Institutionen müssen auf beide Krisen mit koordinierten, zeitlich ausreichend bemessenen Maßnahmen reagieren.

3.2.

Der EWSA begrüßt die Bereitstellung umfassender Mittel zur Bewältigung der Gesundheits- und Wirtschaftskrise. Die Mitgliedstaaten sollen dabei unterstützt werden, Investitionen zu fördern, die Liquidität der Unternehmen zu gewährleisten (5), Arbeitsplätze zu erhalten und Arbeitslose zu schützen. Ergänzend zu diesen wichtigen Maßnahmen sollte auch die europäische Arbeitslosenrückversicherung eingeführt werden.

3.3.

Der Erfolg des Plans hängt von den 20 Mio. Unternehmen in Europa ab, doch der Umfang der mobilisierten Investitionen muss der Größenordnung der Herausforderungen angemessen sein. Es ist in diesem Zusammenhang unerlässlich, dass die Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen bereit sind, ihre Meinungsverschiedenheiten zu überwinden.

3.4.

Gleichzeitig sollte die EU-Finanzierung so strukturiert werden, dass Doppelarbeit und Überschneidungen vermieden und den Kommissionsvorschlägen Genüge getan wird (6).

3.5.

Der EWSA stellt infrage, dass der Bedarf des Investitionsplans für den europäischen Grünen Deal tatsächlich durch den Kommissionsvorschlag zum MFR 2021-2027 gedeckt werden kann. In Anbetracht der Feststellung, dass bis 2030 2,6 Billionen EUR „zusätzlich investiert werden“ müssen, bleibt die 1 Billion Euro, die durch den Plan mobilisiert werden soll, weit dahinter zurück. Der Mangel an genauen Angaben zu einigen der geplanten Instrumente und Programme erschwert eine Einschätzung der realen Größenordnung.

3.6.

Der EWSA empfiehlt, den Finanzierungsrahmen des Investitionsplans für ein zukunftsfähiges Europa eingehender zu erläutern. So hängen die drei wesentlichen Säulen des Mechanismus für einen gerechten Übergang von sehr ehrgeizigen Anforderungen ab, sowohl für den Fonds für einen gerechten Übergang selbst als auch für die Hebelwirkung der Darlehensfazilität der EIB für den öffentlichen Sektor.

3.7.

Der EWSA spricht sich dafür aus, die spezielle, auf den Grünen Deal bezogene Regelung im Rahmen des InvestEU-Programms genauer zu erklären.

3.8.

Der EWSA befürwortet nachdrücklich die Schaffung zusätzlicher Kriterien und vereinfachter Verfahren, insbesondere für grüne Anleihen, zur Mobilisierung umfangreicherer privater Investitionen. Aus empirischen Untersuchungen geht klar hervor, dass in den letzten Jahren immer mehr wirklich umweltorientierte Anleihen aufgelegt werden. Grüne Anleihen steigern das Ansehen des Emittenten (Sensibilisierung für Klimaanliegen und Engagement für Nachhaltigkeit). Grüne Anleihen sind bei einem breiten Spektrum an Investoren beliebt geworden — bei Anlegern in der EU, bei internationalen Anlegern sowie bei ESG-Anlegern (die sich nach Umwelt-, Sozial- und Governance-Kriterien (ESG) richten). Auch große Investitionsbanken legen verstärkt grüne Anleihen auf und fördern so eine grüne Denkweise.

3.9.

Der EWSA begrüßt flexible Beihilfevorschriften für Investitionen nach Maßgabe ihres Beitrags zur Verwirklichung der Ziele des Grünen Deals und plädiert dafür, den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) mehr Spielraum für ihre Umstellung auf eine Kreislaufwirtschaft zu geben. Als Übergangslösung während des Wiederaufbaus nach der Coronavirus-Krise sollte die EU ferner die Anwendung einer „sozialen und grünen goldenen Regel“ in Erwägung ziehen, derzufolge Investitionen, die unmittelbar auf die Eindämmung der Klimawandelfolgen und auf die Verringerung von sozialen Ungleichheiten und Armut (die seit der Finanzkrise weitgehend unverändert fortbestehen) abzielen, von den finanzpolitischen Vorschriften ausgenommen sind. Damit könnten in der wirtschaftlichen Erholung nach der COVID-19-Pandemie dringend benötigte Investitionen mobilisiert und gleichzeitig sowohl die Auswirkungen des Klimawandels bekämpft als auch der soziale Zusammenhalt gefördert werden.

3.10.

Das Engagement der Kommission, grünes Finanzwesen und grüne Investitionen zu fördern und gleichzeitig einen gerechten Übergang für die betroffenen Branchen und Regionen zu sicherzustellen, sollte allen Arten von Unternehmen zugutekommen und Gelegenheit für lokale Behörden bieten, Partnerschaften mit örtlichen Initiativen wie Bürgerenergiegenossenschaften einzugehen.

3.11.

Die im Fahrplan für die Umsetzung des europäischen Grünen Deals formulierte Umweltambition, über die Gewährleistung der Vergleichbarkeit von Maßnahmen Drittstaaten zum Handeln zu bewegen, sollte in eine Staatenkoalition für das Klima münden, die die Staaten entsprechend der Empfehlungen der Nobelpreisträger Tirole (2017) und Nordhaus (2018) anhand ihrer Treibhausgasemissionen einstuft, um die Welthandelsorganisation (WTO) zur Einführung eines CO2-Preises zu bewegen. Ein Kohlenstoffmindestpreis-Mechanismus könnte entweder im Rahmen des europäischen Emissionshandelssystems oder der Energiebesteuerungsrichtlinie, die im Zuge des europäischen Grünen Deals überprüft werden soll, umgesetzt werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Gewährleistung von Haushaltswirksamkeit

4.1.1.

Zwecks Eindämmung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie befürwortet der EWSA sämtliche vorgeschlagene Maßnahmen zur Bereitstellung von Liquiditätshilfen für Sektoren und Unternehmen über Garantieinstrumente der EIB. Dadurch könnte die Umwandlung der EIB in die Klimabank der EU begünstigt werden.

4.1.2.

Als eine der wichtigsten Lehren aus der beispiellosen menschlichen und wirtschaftlichen Krise infolge der Coronavirus-Pandemie zeichnet sich die Notwendigkeit ab, die Europäische Investitionsstabilisierungsfunktion (EISF) auszubauen, um dem spezifischen Bedarf der einzelnen Länder angemessene öffentliche Investitionen zu ermöglichen. Des Weiteren sind Maßnahmen erforderlich, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, über ihre Besteuerungssysteme und öffentliche Anreize (7) ihre Wirtschaft anzukurbeln.

4.1.3.

Der EWSA weist ferner darauf hin, dass die geplante Reform des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) auf das Haushaltsinstrument für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit sowie das europäische Einlagenversicherungssystem (EDIS) abgestimmt werden sollte. Im Bankensektor wurden bereits umfangreiche Maßnahmen zur Risikominderung ergriffen (Abbau notleidender Kredite, Mindestanforderung an Eigenmittel und berücksichtigungsfähige Verbindlichkeiten, Insolvenzvorschriften usw.).

4.1.4.

Der EWSA befürwortet nachdrücklich die Rolle der Europäischen Investitionsbank (EIB) als Klimabank der EU und unterstreicht die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit anderen Finanzinstitutionen. Im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss eine ausreichende Liquidität aller Banken gewährleistet sein, die an der Finanzierung des Grünen Deals beteiligt sein könnten.

4.2.   Optimierung der Leistung geplanter Instrumente und Mechanismen, die die Nachhaltigkeitsziele in den Mittelpunkt der Politikgestaltung und des Handelns der EU stellen und somit das Europäische Semester neu ausrichten

4.2.1.

Ein solides und ehrgeizigeres Klassifizierungssystem für nachhaltige Tätigkeiten wird benötigt, das soziale Aspekte einbezieht und durch eine angemessene Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele im Europäischen Semester Synergien und Übereinstimmungen mit den Fortschritten der Vereinten Nationen ermöglicht. Entscheidungen über die Ausgaben der Mittel des EU-Aufbaufonds sollte von einer unionsweiten Taxonomie für ein grünes Finanzwesen angeleitet werden, die auf Förderung von Investitionen in saubere Technologien abzielt.

4.2.2.

Der EWSA fordert eine eingehendere und bessere Nutzung öffentlicher statistischer Quellen und die Stärkung der Rolle von Eurostat bei der Bereitstellung robuster Daten zur Nachhaltigkeitsleistung. Dabei könnte verstärkt auf die Indikatoren der UN-Nachhaltigkeitsziele sowie auf die Kriterien der EIB zurückgegriffen werden.

4.2.3.

Es werden Technologiekonzepte benötigt, um granulare Daten unterschiedlicher Art (bis hin zu Geoinformationen) zu erheben und Ländervergleiche anstellen zu können. Eine Überarbeitung der Richtlinie 2014/95/EU über die Angabe nichtfinanzieller Informationen könnte im Einklang mit den Empfehlungen der Taskforce „Klimabezogene Finanzinformationen“ zur Offenlegung standardisierter hochwertiger, vollständiger, aussagekräftiger und dank einer harmonisierten Methodik vergleichbarer Informationen beitragen (8).

4.2.3.1.

KMU sollten die Möglichkeit haben, nichtfinanzielle Informationen offenzulegen. Sie sollten technische Unterstützung erhalten, um leicht auffindbare wichtige Daten (für die Aufstellung ihrer KPI (9)) zu ermitteln.

4.2.4.

Eine dynamische Taxonomie nachhaltiger Tätigkeiten: Marktpraktiken in Verbindung mit aussagekräftigen Indikatoren sollten bewertet und integriert werden. Der EWSA hebt hervor, dass Markttests für die Auswahl geeigneter Projekte wichtig sind (10).

4.2.4.1.

Der EWSA betont, dass die Anwendung präziserer Verfahrensweisen, sofern vorhanden, unerlässlich ist, um Systeme für die Bewertung („scorings“) auf der Grundlage zuverlässiger Informationen der Unternehmen zu entwickeln und sämtlichen Finanzproduktstandards (Labels, grünen Anleihen und Nachhaltigkeitsbenchmarks) gerecht zu werden, die im Aktionsplan für nachhaltige Finanzierung aufgeführt sind.

4.2.4.2.

Es werden Informationen über die Überprüfung von Auswirkungsberechnungen durch verschiedene UN-Arbeitsgruppen benötigt (insbesondere in Verbindung mit CO2-Abgaben und Emissionshandel, die für zuverlässige Nachhaltigkeitsbenchmarks relevant sind).

4.2.5.

Der EWSA begrüßt den Plan, nach einer Folgenabschätzung die Emissionsreduktionsziele der EU bis 2030 zu erhöhen und einschl. einer Analyse des damit verbundenen Investitionsbedarfs im Sommer 2020 zu veröffentlichen. Der EWSA drängt ferner auf eine Wirkungsanalyse in Verbindung mit den Fortschritten bei der Umsetzung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen und der europäischen Säule sozialer Rechte.

4.2.6.

Kontrollbehörden und andere öffentliche Prüfgremien, wie bspw. der Europäische Rechnungshof, sollten eine ergänzende Rolle bei der Überwachung der sozialen Auswirkungen der oben genannten Reduktionsziele übernehmen.

4.2.7.

Der EWSA verweist auf das Potenzial von Massendaten und künstlicher Intelligenz bei der Lenkung von Anlegerpräferenzen und Investitionsentscheidungen. Auch Lösungen des maschinellen Lernens sollten geprüft werden, um Investitionen in spezifische Branchen oder Tätigkeiten umzulenken, die ESG-Grundsätze (Umwelt-, Sozial- und Governance-Kriterien) berücksichtigen.

4.3.   Technische Unterstützung

4.3.1.

Der bisherige Kapazitätsaufbau der Europäischen Kommission und der Europäischen Plattform für Investitionsberatung ist eine gute Grundlage für die Entwicklung einer Pipeline nachhaltiger Projekte, doch es müssen belastbarere Methoden angewandt werden, die tatsächlich eine Umlenkung der Finanzströme in die grüne Wirtschaft ermöglichen.

4.3.2.

Der EWSA befürwortet die Einrichtung einer einheitlichen Anlaufstelle zur Vereinfachung des Zugangs zu Finanzierungen für öffentliche und private Projektträger sowie für Finanzmittler. Was KMU anbelangt, so unterstützt er eine strukturelle Zusammenarbeit mit ihren Vertretungsorganisationen.

4.4.   Finanzbildung (in Verbindung mit technischer Unterstützung)

4.4.1.

Zielgruppe sind die Bürgerinnen und Bürger ab dem Vorschulalter. Die europäischen Bürgerinnen und Bürger sind zunehmend daran interessiert, ihre Ersparnisse und Investitionen mit sozialen und ökologischen Zielen zu verknüpfen. Finanzkompetenz (ein grundlegendes Verständnis des Finanzwesens) kann die Handlungskompetenz der Bürgerinnen und Bürger und ihr Verständnis von nachhaltiger Finanzierung erhöhen und zur Klärung der gesellschaftlichen Bedeutung des Finanzwesens beitragen.

4.4.2.

Dies betrifft alle an der Umsetzung des Grünen Deals beteiligten Fachgremien und die einschlägigen Organisationen der Zivilgesellschaft.

4.5.   Nachhaltigkeitskompetenz für die Wirtschaft

4.5.1.

Des EWSA betont, dass die Einführung und Verbreitung sauberer Technologien Fachkenntnisse in den Bereichen Anwendung, Anpassung und Wartung voraussetzt. Fachkenntnisse sind auch für Wirtschaftssysteme und Unternehmen, Arbeitnehmer und Arbeitgeber entscheidend für die rasche Anpassung an Veränderungen infolge umweltpolitischer bzw. klimaschutzbedingter Maßnahmen. Voraussetzung für die Umstellung auf eine grünere Wirtschaftsweise sind die passenden Kompetenzen für grüne Arbeitsplätze.

4.5.2.

Eine wesentliche Zielsetzung für die Anpassung an neue Arbeitsplätze und veränderte Arbeitsplatzanforderungen ist die Weiterbildung der Arbeitnehmer zum Erwerb der in der grünen Wirtschaft erforderlichen neuen Kompetenzen. Der EWSA plädiert für eine klare Strategie für Kompetenzvorschau sowie für einen Kompetenz-Fahrplan, um die Arbeitskräfte auf die künftigen Anforderungen der Industrie einzustellen. Investitionen in Bildungs- und Schulungsmaßnahmen sowie die Förderung einer Kultur lebenslangen Lernens sollten eine Grundlage eines gerechten regionalen Übergangs sein.

4.6.   Sozial verantwortliches öffentliches Beschaffungswesen

4.6.1.

Ein sozial verantwortliches öffentliches Beschaffungswesen ist die Voraussetzung für umweltgerechte Veränderungen in Verwaltungstätigkeiten sowie für die Bekämpfung von Korruption und fördert zudem verantwortliche Praktiken auf Seiten der Dienstleister.

4.6.2.

Der EWSA unterstützt verpflichtende grüne Mindestkriterien oder -ziele für das öffentliche Beschaffungswesen in sektorbezogenen Initiativen, für die Unionsfinanzierung oder produktspezifische Rechtsvorschriften unter Anwendung von Umweltindikatoren im Zuge der Entwicklung der EU-Taxonomie. Diesbezüglich werden verstärkt holistische, transparente und bereichsübergreifende Umweltkennzeichnungs- bzw. -informationssysteme benötigt, die Auskunft über die Einhaltung strenger Nachhaltigkeitsauflagen geben.

4.7.   Der Mechanismus für einen gerechten Übergang

4.7.1.

Der EWSA begrüßt den Mechanismus für einen gerechten Übergang und sein großes Potenzial zur Erleichterung des grünen Wandels in spezifischen Branchen und Regionen. Er weist darauf hin, dass dieser Mechanismus nicht nur zur Finanzierung von Defossilierungsmaßnahmen, sondern parallel zu den einschlägigen Stabilisierungsmechanismen eingesetzt werden sollte, um auch anderen Branchen und Regionen zugute zu kommen, die unter wirtschaftlichen Schwierigkeiten leiden und Strukturreformen durchlaufen müssen.

4.7.2.

Der Mechanismus für einen gerechten Übergang besteht aus einer ausgewogenen Kombination verschiedener Finanzhilfe- und Finanzierungsinstrumente im Rahmen von zentral oder gemeinsam verwalteten Programmen, aus verschiedenen Arten von Finanzquellen und mit Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten auf diversen Ebenen (Union, Einzelstaaten, Regionen und Kommunen). Dieser neuartige Mix erfordert deshalb eine neuartige Governance und Verwaltung.

4.7.3.

Der Mechanismus für einen gerechten Übergang sollte in den betroffenen Regionen zur Schaffung neuer hochwertiger Arbeitsplätze beitragen. Der EWSA gibt zu bedenken, dass die IAO Qualifikationslücken in einer ganzen Reihe Branchen als einen wesentlichen Engpassfaktor ausgemacht hat, bspw. bei erneuerbaren Energieträgern, bei Energie- und Ressourceneffizienz, energetische Gebäudesanierung, emissionsfreie Gebäude, Umweltdienstleistungen und Fertigung.

4.7.4.

Der EWSA fordert eine enge Abstimmung zwischen dem für 2021 vorgesehenen Aktionsplan für die Sozialwirtschaft und dem Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal, um sozialwirtschaftliche Investitionen in die Umsetzung des Mechanismus für einen gerechten Übergang einzubeziehen.

4.7.5.

Im Mechanismus für einen gerechten Übergang müssen auch die von den Ländern und ihren Regionen (11) seit 1990 unternommenen Emissionssenkungsanstrengungen berücksichtigt werden, damit sie nicht für bereits geleistete Arbeit bestraft werden, indem ihnen der Mittelzugang verwehrt wird. Dazu sollte Eurostat die Veröffentlichung der Indikatoren für regionale Konvergenz und regionale Abweichungen (einschl. Bevölkerungsrückgang und -alterung) verbessern, damit auch für diese Gebiete Fördermittel zugänglich sind.

4.8.   Eine globale Anstrengung durch internationale Zusammenarbeit

4.8.1.

Der EWSA begrüßt die vor Kurzem errichtete Internationale Plattform für nachhaltige Finanzierungen (12), die privates Kapital für ökologisch nachhaltige Investitionen auf globaler Ebene mobilisiert. Dieses Forum sollte auch genutzt werden, um die weltweite Übernahme des Emissionshandelssystems zu fördern.

4.8.2.

Der EWSA stellt fest, dass auch Umwelt- und Klimaschutzinvestitionen zur Unterstützung von Maßnahmen außerhalb der EU, insbesondere im Rahmen der Afrika-Strategie, erforderlich sind.

4.8.3.

Im Rahmen der weltweiten Coronavirus-Krisenreaktion unterstützt der EWSA nachdrücklich den weltweiten Spendenmarathon, eine weltweite Anstrengung zur Mobilisierung von Geldern für die Diagnose, die Behandlung und Impfstoffe im Zusammenhang mit dem Coronavirus.

Brüssel, den 10. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2020/04/09/report-on-the-comprehensive-economic-policy-response-to-the-covid-19-pandemic.

(2)  Next Generation EU, Umfang 750 Mrd. EUR.

(3)  Insbesondere die Vorschläge der Europäischen Kommission, die zum Ziel haben, die Nutzung der derzeitigen Haushaltsmittel umfassend zu optimieren, besser zugänglich zu machen und flexibler zu gestalten: insbesondere der Solidaritätsfonds der Europäischen Union, die Investitionsinitiative zur Bewältigung der Coronavirus-Krise (CRII und CRII+) und die Reaktivierung des Soforthilfeinstruments, das Instrument zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in der durch den COVID-19-Ausbruch verursachten Krise (SURE), der Europäische Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (FEAD), das Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP) der Europäischen Zentralbank einschl. einer Ausweitung der Bandbreite notenbankfähiger Wertpapiere und einer Lockerung der Kreditbedingungen; ein zeitlich angemessener Umgang der Aufsichtsbehörden mit den regulatorischen Anforderungen im Finanzbereich; die Einrichtung eines europäischen Garantiefonds der EIB-Gruppe zur Unterstützung vor allem kleiner und mittlerer Unternehmen, die Krisenreaktionsinitiative des Europäischen Innovations- und Technologieinstituts (EIT).

(4)  COM(2020) 22 final.

(5)  Anpassungen betreffend die Aufsichtsregeln im Bankwesen zur Maximierung der Fähigkeit der Kreditinstitute, Kredite zu vergeben und Verluste auszugleichen, während zugleich ihre Widerstandsfähigkeit gewährleistet bleibt.

(6)  Stellungnahme des EWSA vom 19. September 2018 zum „Mehrjährigen Finanzrahmen nach 2020“ (ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 106).

(7)  Zur Förderung positiver externer Effekte.

(8)  Stellungnahme des EWSA vom 17. Oktober 2018 zur „Mitteilung der Kommission — Aktionsplan: Finanzierung nachhaltigen Wachstums“ (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 73).

(9)  Wesentliche Leistungsindikatoren.

(10)  Stellungnahme des EWSA vom 17. Oktober 2018 zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufstellung des Programms ‚InvestEU‘“ (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 131).

(11)  Von der Stilllegung von Bergwerken gemäß dem Beschluss des Rates 2010/787/EU betroffene Gebiete.

(12)  Die Internationale Plattform für nachhaltige Finanzierungen wurde am 18. Oktober 2019 durch Behörden Argentiniens, Kanadas, Chiles, Chinas, Indiens, Kenias, Marokkos und der Europäischen Union gegründet. Auf diese Länder entfällt nahezu die Hälfte des weltweiten Klimagasausstoßes.


18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/71


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 575/2013 und (EU) 2019/876 aufgrund von Anpassungen infolge der COVID-19-Pandemie“

(COM(2020) 310 final — 2020/0066 (COD))

(2020/C 311/10)

Hauptberichterstatter:

Giuseppe GUERINI

Befassung

Rat der Europäischen Union, 6.5.2020

Europäisches Parlament, 13.5.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 114 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Beschluss des Präsidiums

30.4.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

10.6.2020

Plenartagung Nr.

552

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

208/2/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 575/2013 und (EU) 2019/876 aufgrund von Anpassungen infolge der COVID-19-Pandemie.

1.2.

Da sich die EU in einer beispiellosen Krise befindet, ist auch eine entsprechend außergewöhnliche Antwort nötig. Der Vorschlag muss so bald wie möglich angenommen werden, damit die bereitgestellten Mittel möglichst effizient eingesetzt werden können, um die aktuellen und künftigen Auswirkungen von COVID-19 einzudämmen.

1.3.

Der EWSA befürwortet die Entscheidung, die Umsetzung der letzten Bestandteile des vom Baseler Ausschuss angenommenen und von der Europäischen Kommission gebilligten Basel-III-Rahmens zu verschieben. Gleichwohl ist es ebenso wichtig, dass der Aufschub nicht lediglich eine Bestätigung der derzeitigen Regelung ist. Daher erscheint der Vorschlag sinnvoll, die Richtlinien und Verordnungen zu überprüfen.

1.4.

Nach Auffassung des EWSA müssen vor dem Neustart der Umsetzung zudem unbedingt die Veränderungen sorgfältig bewertet werden, denen die Einrichtungen im Bereich Wirtschaft und Finanzen in diesen schwierigen Zeiten unterzogen werden, um das europäische Regulierungssystem anzupassen. Neue Folgenabschätzungen könnten erforderlich werden.

1.5.

Der EWSA ist auch darüber besorgt, dass es aufgrund der operativen Herausforderungen für Banken und Behörden unmöglich sein könnte, in dieser Phase weitere anstehende rechtliche Fristen einzuhalten. Dies betrifft eindeutig den neuen Rechtsrahmen für das Zinsrisiko im Bankbuch (IRRBB-Leitlinien), der im Juni 2021 in Kraft treten soll, für den aber die entsprechenden Durchführungsverordnungen noch nicht vorliegen. Das trifft ebenso auf die verbindliche strukturelle Liquiditätsquote (NSFR) zu, die ab Juni 2021 in Kraft treten soll.

1.6.

Deshalb könnte für die betreffenden Teile der Eigenkapitalverordnung (CCR II) und der Eigenkapitalrichtlinie (CRD V) sowie für die Leitlinien der Europäischen Bankaufsichtsbehörde (EBA) bezüglich der Herkunft und Überwachung von Darlehen und der Leitlinien für die neue Ausfalldefinition ein angemessener Aufschub sinnvoll sein. Oder es könnte wie bei der NSFR und analog zur Liquiditätsdeckungsquote (LCR) könnte auch eine dreijährige Übergangsphase vorgesehen werden. Dabei sollte die von den Gesetzgebern ursprünglich beabsichtigte einjährige Frist zwischen Verabschiedung und Inkrafttreten der neuen Regelungen beibehalten werden.

1.7.

Ähnliche Überlegungen sollten für die Einhaltung der Verpflichtungen gemäß Richtlinie (EU) 2019/879 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie für die Verordnung (EU) 2019/877 in Bezug auf die Verlustabsorptions- und Rekapitalisierungskapazität von Kreditinstituten angestellt werden. Angesichts des Drucks auf das Kreditgeschäft und der Aufforderungen der Aufsichtsbehörden, Kapitalreserven zur Vermeidung einer Kreditklemme einzusetzen, wäre es sinnvoll, die Fristen, die in der genannten Richtlinie und der genannten Verordnung für das Erreichen der verbindlichen Ziele der Mindestanforderung an Eigenmittel und berücksichtigungsfähige Verbindlichkeiten (MREL) vorgesehen sind, zu überprüfen und folglich zu verschieben.

1.8.

Der EWSA befürwortet den Vorschlag der Kommission zur Anpassung der Übergangsvorschriften. Diese ermöglichen es den Kreditinstituten, die Auswirkungen der Rückstellungen und Wertberichtigungen infolge des Kreditrisikos (ECL) gemäß IFRS 9 auf die Eigenmittel zu verringern. Gleichwohl hält der EWSA den Vorschlag nur für einen ersten Schritt, um die Auswirkungen der Rezession abzufedern. Faire Wettbewerbsbedingungen unter den europäischen Intermediären können damit nicht wirkungsvoll und angemessen gewahrt werden. Er ist deshalb der Auffassung, dass der Vorschlag durch folgende Maßnahmen ergänzt werden könnte:

Ausweitung der neuen dynamischen, mit Bezug auf den 1. Januar 2020 berechneten Komponente auf Kredite, die nach dem 1. Januar 2020 (oder einem anderen geeigneten späteren Zeitpunkt, der dem Beginn der Pandemie entspricht) notleidend wurden;

der Skalierungsfaktor sollte nicht durch das im Kleinkundengeschäft verwendete Standardrisikogewicht von 100 % ersetzt werden. Eine solche Maßnahme würde nicht dem unterschiedlichen Risikograd der Kategorien typischer Kreditnehmer von Geschäftsbanken im Allgemeinen und von lokalen Banken im Besonderen gerecht werden. Dies betrifft vor allem private Haushalte und KMU. Diese Kategorien von Kreditnehmern erhalten eine besondere aufsichtliche Behandlung von Risikopositionen in Bezug auf Kapitalanforderungen. Zudem könnten Banken, die auf die Standardmethode zurückgreifen und das offizielle Verfahren für die Berichterstattung verwenden, den Skalierungsfaktor nur schwer bzw. gar nicht durch ein Standardrisikogewicht von 100 % ersetzen. Alternativ zu der von der Kommission vorgeschlagenen Bestimmung und im Sinne einer wirksamen operativen Vereinfachung könnte eine Maßnahme bezüglich der entsprechenden steuerlichen Behandlung nach Absatz 7 Buchstabe a) erwogen werden, anstatt Buchstabe b) zu streichen;

die Verlängerung der Übergangszeit auch für die statische Komponente (berechnet zum Stichtag 1. Januar 2018), mit dem neu eingeführten International Financial Reporting Standard (IFRS) 9, der die Banken zwingt, den Auswirkungen im Rahmen des First Time Adoption (FTA) besondere Aufmerksamkeit zu schenken, wirkt sich auch auf die Bewertungsmethoden notleidender Kredite bei einem Verkaufsszenario aus, auf die heute der größte Teil der FTA-Rückstellungen entfällt.

1.9.

Der EWSA begrüßt die Ausweitung der derzeitigen Behandlung ausfallgefährdeter Risikopositionen (NPE), die von staatlichen Exportversicherungsagenturen durch Bürgschaften abgesichert werden, auch auf NPE infolge der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, die durch die verschiedenen Bürgschaftsregelungen der Mitgliedstaaten abgesichert sind. Wenn das Ziel dieser Änderung allerdings darin besteht, den öffentlichen Bürgschaften dieselbe Risikominderungswirkung wie die der Bürgschaften offizieller Exportversicherungsagenturen zuzugestehen, sollten auch die Fristen vereinheitlicht werden. Soll tatsächlich eine vollständige Gleichstellung in der Behandlung dieser Bürgschaften erreicht werden, muss die von der Kommission vorgeschlagene siebenjährige Befristung der Regelung geändert werden.

1.10.

Da die Banken nachdrücklich zur besseren Unterstützung der Realwirtschaft bewegt werden müssen, unterstützt der EWSA den Vorschlag, den Geltungsbeginn einiger der wichtigsten Neuausrichtungen der Kapitalabsorption, die zwar in der CRR vorgesehen, aber noch nicht anwendbar sind, vorzuziehen. Dazu gehören die Bestimmungen über die Behandlung einiger Arten pensions- oder lohnbesicherter Darlehen bzw. der Faktor zur Unterstützung von KMU und der neue Faktor zur Unterstützung der Finanzierung von Infrastruktur.

1.11.

Infrastrukturinvestitionen werden in Zukunft große Bedeutung erlangen. Daher hält der EWSA eine Vereinfachung der umfangreichen und aufwendigen, in Artikel 501a der CRR festgelegten Kriterien für erforderlich, um eine einfachere Anerkennung im Sinne der vorgesehenen günstigeren aufsichtlichen Behandlung (z. B. mittels Streichen der in Absatz 1 Buchstaben b), d), g), i) und l) sowie in Absatz 2 Buchstabe a) festgelegten Anforderungen zu gestatten.

1.12.

Im größeren Rahmen der Überprüfung des mehrjährigen Finanzrahmens der EU kommt der von der Kommission am 28. Mai vorgestellten Aufbaustrategie namens „Next Generation EU“ größte Bedeutung zu, da darin die außerordentlichen Maßnahmen zur Bewältigung der von der Pandemie verursachten Krise festgelegt werden. Dieser Plan sollte den Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal ergänzen, der im ersten Quartal 2020 zur Unterstützung des Übergangs zu einer nachhaltigen europäischen Wirtschaft aufgelegt wurde.

1.13.

Bezüglich der Unterstützungsfaktoren der CRR betont der EWSA, dass ein grüner und sozialer Unterstützungsfaktor eingeführt werden muss, mit dem sich die Kapitalabsorption bei Bankenfinanzierungen für Unternehmen der Sozialwirtschaft und für solche Unternehmen, die sich effektiv in Programmen der nachhaltigen und inklusiven Entwicklung engagieren, verringern lässt.

1.14.

Was den Rechtsrahmen für notleidende Kredite betrifft, dürfte COVID-19 den Markt für diese Kredite unweigerlich auf vielerlei Weise beeinflussen. Der EWSA fordert diesbezüglich und angesichts der unausweichlichen Auswirkungen der aktuellen Notlage auf den Markt und der Verlangsamung der Veräußerungsverfahren eine vorübergehende Änderung der Verordnung (EU) 2019/630 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf die Mindestdeckung notleidender Risikopositionen.

1.15.

Die Privatmärkte für notleidende Kredite müssen unbedingt stabilisiert und es muss für die größtmögliche Zahl von Marktteilnehmern und Käufern gesorgt werden, um eine Vermögensverlagerung vom Banksektor zum Bereich der Anlagefonds (die nicht denselben Vorschriften unterliegen) und von der Wirtschaft auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene hin zu Akteuren mit rechtlichem und steuerlichem Sitz in anderen Weltregionen zu vermeiden.

1.16.

Der EWSA hält es für notwendig, einen zeitlich befristeten „aufsichtlichen Korrekturposten“ einzuführen, der bereits im Rahmen von Basel II vorgesehen war, um die Bilanzen um nicht realisierte Gewinne oder Verluste zu bereinigen. Denn die Pandemie führt zu einem markanten Anstieg der Volatilität auch von normalerweise weniger anfälligen Wertpapieren. Unter diesen Marktbedingungen und angesichts der Tatsache, dass die Banken einen erheblichen Teil der öffentlichen Schulden tragen, müssen zur Erhöhung der Stabilität des Eigenkapitals die Volatilitätseffekte auf die Wertpapiere, die nicht im Handelsbuch enthalten sind, verringert werden.

1.17.

In Bezug auf das Marktrisiko und im Einklang mit den Leitlinien der EZB vom 16. April sollte außer dem Kommissionsvorschlag auch der Rahmen für Ebene I geändert werden, um die derzeitige Verbindung zwischen Volatilität und Kapitalabsorption der Banken (Multiplikator für das Risikokapital) zu kappen. Dies ist notwendig, da der Markt aufgrund von COVID-19 bereits eine hohe Volatilität aufweist, was mit einem erheblichen Anstieg der Kapitalabsorption der Institute einhergeht.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Aufgrund der gravierenden Folgen der COVID-19-Pandemie müssen Notmaßnahmen zur Unterstützung der europäischen Wirtschaft und zur Wiederankurbelung der wirtschaftlichen Aktivitäten in den Mitgliedstaaten der Union ergriffen werden. Vor diesem Hintergrund ist unbedingt zu vermeiden, dass die Rezession wegen fehlender angemessener rechtlicher Schutzmaßnahmen die bereits bedrohte Artenvielfalt des Bankensektors der EU weiter dezimiert. Der EWSA ist insbesondere der Auffassung, dass die regional verwurzelten gemeinschaftlichen Banken, insbesondere die mit breitgestreuter Beteiligung wie Genossenschaftsbanken, die eine besondere Aufgabe erfüllen, geschützt und gestärkt werden müssen.

2.2.

Die Europäische Kommission hat am 28. April 2020 ein Maßnahmenpaket für Banken vorgelegt, um ihre Aufgabe der Bereitstellung von Mitteln für Unternehmen und private Haushalte zur Abfederung der gravierenden wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Krise zu erleichtern. Mit dem Paket werden die jüngsten Erklärungen zur verstärkten Flexibilität im Bereich der Rechnungsführungs- und Aufsichtsregeln im Rahmen internationaler Standards sowie der entsprechenden europäischen Behörden bestätigt. Zudem wurden einige rasch anzunehmende Änderungen der EU-Bankenvorschriften vorgeschlagen, um die Kreditvergabekapazitäten des Bankensystems zu verbessern und die Verluste infolge der COVID-19-Pandemie abzufedern, ohne gegen die Aufsichtsvorschriften zu verstoßen.

2.3.

Der EWSA begrüßt die ersten beschlossenen Maßnahmen und die ersten Äußerungen der einschlägigen EU-Behörden wie EBA, ESMA und EZB/SSM. Diese Beschlüsse und Leitlinien zur Gewährleistung verstärkter Flexibilität des derzeitigen Rechtsrahmens geht in die richtige Richtung, um die erste Phase dieser Notlage zu überstehen. Der EWSA begrüßt die Mitteilung, mit der die einheitliche Auslegung und Anwendung der von den verschiedenen Akteuren im europäischen Aufsichtssystem ergriffenen Maßnahmen sichergestellt werden soll. Die einheitliche Auslegung und Anwendung gewährleistet eine größere Wirksamkeit dieser Maßnahmen.

2.4.

Gleichwohl reichen die vorgeschlagenen Maßnahmen nach Ansicht des EWSA nicht aus, um die infolge der Pandemie drohende Rezession abwenden zu können. COVID-19 ist eine außergewöhnliche Notlage mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Alle Institutionen der EU müssen reagieren, um die Auswirkungen auf die Realwirtschaft abzufedern, auch mit mutigen Entscheidungen, die nicht der bisherigen Linie entsprechen.

2.5.

Der EWSA weist diesbezüglich darauf hin, dass auf die Anwendung von Maßnahmen zur Stundung und zum Zahlungsaufschub sowie auf deren Auswirkungen auf eine potenzielle Neueinstufung von Schuldnern nach den Aufsichtsregeln und den IFRS-Rechnungslegungsgrundsätzen sowie auf die Behandlung öffentlicher Bürgschaften und notleidender Kredite besonderes Augenmerk gelegt wurde.

2.6.

Der EWSA unterstreicht, dass bei der Bewältigung der Notlage alle europäischen Finanzinstitutionen verschiedene Instrumente zur Unterstützung der Realwirtschaft bereitstellen. So bieten z. B. Banken Möglichkeiten des Zahlungsaufschubs, der Stundung, der Barvorschüsse auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit und andere außergewöhnlichen Hilfen für Kapitalgesellschaften, Midcap-Unternehmen, KMU und private Haushalte. Diese finanzielle Unterstützung basiert auf nationalen Erlassen oder auf freiwilligen Regelungen.

2.7.

Trotzdem hält der EWSA die genannten Maßnahmen angesichts der schwerwiegenden und beispiellosen Folgen der Pandemie für unzureichend.

2.8.

Vor diesem Hintergrund begrüßt der EWSA den von Vorschlag der Kommission über Anpassungen infolge der COVID-19-Pandemie vom 28. April 2020.

2.9.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass neben der Ausschöpfung der im bestehenden Rahmen möglichen Flexibilität in einigen Bereichen der CRR begrenzte Änderungen erforderlich sind, um die Fähigkeit der Kreditinstitute zu maximieren, die Wirtschaft zu unterstützen und gleichzeitig Verluste im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie auszugleichen, wobei in jedem Fall ihre Widerstandsfähigkeit gewährleistet bleiben muss. Außerdem hat der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht auf internationaler Ebene eine einjährige Fristverlängerung für die Umsetzung der letzten Bestandteile des Basel-III-Rahmens gewährt, von denen einige bereits in die CRR überführt worden waren, und größere Flexibilität bei den Auswirkungen von IFRS 9 auf die Eigenmittel eingeräumt. Diese Änderungen müssen sich in den geltenden Vorschriften widerspiegeln.

2.10.

Die Auswirkungen der Pandemie wird den Markt für notleidende Kredite auf vielfältige Weise beeinflussen: So befanden sich die Gerichte mehrere Wochen lang in einer Zwangspause und/oder haben bestimmte Handlungen aufgeschoben, weshalb sich die Verfahren zur Beitreibung notleidender Kredite verzögern. Zudem sind auch die außergerichtlichen Verfahren zur Beitreibung von Forderungen in Verzug geraten.

2.11.

Folglich sind auch die Verfahren zur Veräußerung notleidender Kredite betroffen, und der Preisrückgang für diese Kredite wird mindestens 24 Monate andauern. Das könnte für darauf spezialisierte Käufer außerhalb des Bankensektors, die nicht den europäischen Aufsichtsvorschriften unterliegen, ein weiterer Vorteil sein und für die Banken in der EU eindeutig benachteiligen. Es könnte zu einer Vermögensverlagerung vom Bankensektor zu nicht regulierten Akteuren führen. Und das genau zu einem Zeitpunkt, da die Banken zur Unterstützung der wirtschaftlichen Wiederbelebung benötigt werden, nachdem sie auch die Dividenden gestrichen haben.

2.12.

In diesem Kontext und angesichts der unausweichlichen Folgen der derzeitigen Notlage auf den Markt und der Verzögerung der Veräußerungsverfahren fordert der EWSA eine zeitlich befristete Änderung der Backstop-Verordnung für notleidende Kredite wie oben beschrieben.

2.13.

Artikel 473a CRR enthält Übergangsbestimmungen, die es den Instituten ermöglichen, die Auswirkungen der Rückstellungen, die sich durch die Einführung des neuen Wertminderungsmodells für ECL gemäß IFRS 9 ergeben, teilweise wieder zu ihrem Kernkapital hinzuzuaddieren. Die neuen Bestimmungen ermöglichen es in erster Linie, die Auswirkungen infolge der Anwendung des neuen Wertminderungsmodells für Risikopositionen teilweise zu neutralisieren. Zum zweiten können die Auswirkungen des zusätzlichen Anstiegs der über einen Zeitabschnitt aufgelaufenen Abschreibungen abgefedert werden.

2.14.

Diese Bestimmung ist ein Schritt hin zur angestrebten Abschwächung der gravierenden Folgen der Rezession. Sie reicht aber nicht aus, gleiche Wettbewerbsbedingungen für die europäischen Kreditinstitute zu gewährleisten. Da eine der Hauptfolgen der Krise ein Anstieg der Wertminderung sein wird, muss die Abfederung der Krisenfolgen durch alleinigen Bezug auf die Komponente vertragsgemäß bedienter Risikopositionen auch auf Kredite ausgedehnt werden, die nach dem Ausbruch der Pandemie in Europa (Januar 2020) notleidend geworden sind.

2.15.

Wie bereits gesagt, wird das sozioökonomische System der Union durch die Auswirkungen der Pandemie auf die Realwirtschaft in den nächsten Monaten auf eine harte Probe gestellt werden. Das gesamte produktive Gefüge Europas muss überdacht werden. Daher ist der EWSA der Auffassung, dass diese enorme Herausforderung eine Chance für die Neugestaltung eines ökologisch nachhaltigeren und sozial inklusiveren europäischen Wirtschaftsmodells sein kann. In diesem Szenario könnten oder sollten die lokalen Banken jedweder Rechtsform (Kapital- oder Personengesellschaften oder Genossenschaften), die von ihrem Wesen her dezentral und engmaschig über das ganze Gebiet verteilt sind, eine grundlegende Rolle bei der Verteilung der Anreize spielen. Sie sind perfekt dafür geeignet, die Rolle einer Wertverteilungskette von den zentralen Einrichtungen bis in die entlegeneren Gebiete zu spielen. Deshalb muss die strategische Bedeutung der gemeinschaftlichen Banken anerkannt und gestärkt werden.

2.16.

Die Pandemie hat zum einen gezeigt, dass eine solidarische Antwort mit einem stabilen sozialen Gefüge und der maßgeblichen Präsenz sozialwirtschaftlicher Organisationen — auch in Form sozialer Unternehmen — erheblich zur Resilienz beigetragen hat. Zum anderen hat sich die Präsenz von Organisationen des sozialen Unternehmertums als sehr wichtig für die Reaktivierung eines inklusiven und nachhaltigen Wirtschaftssystems erwiesen. Sie können die Gefahr abwenden, dass ganze Wirtschaftsbranchen kollabieren. Daher betont der EWSA, dass ein grüner und sozialer Unterstützungsfaktor der CRR eingeführt werden muss, der die Kapitalabsorption bei Bankenfinanzierungen für Unternehmen der Sozialwirtschaft verringert.

2.17.

Außerdem ist in Artikel 501 c des CRR II vorgesehen, dass die EBA bis 2025 eine eingehende Untersuchung fördert, um zu prüfen, ob eine spezielle aufsichtliche Behandlung von Risikopositionen im Zusammenhang mit Vermögenswerten oder Tätigkeiten mit solchen Eigenschaften gerechtfertigt wäre.

2.18.

Der EWSA hält die Einführung dieser Unterstützungsfunktion noch vor 2025 für sinnvoll. Dieser Zeitpunkt könnte sich als zu spät und fatal erweisen für die Annahme einer Unterstützungsmaßnahme, die den Kreditinstituten eine größere Vergabe von Krediten und Mitteln für diese strategische Sektoren, die heute in Schwierigkeiten sind, ermöglicht.

2.19.

In dieser Notsituation war zu sehen, wie Sozialunternehmen die Resilienz der Gemeinschaften, für die sie ihre Dienste erbringen, steigern können. In vielen Fällen haben sie sogar die öffentlichen Verwaltungen ergänzt oder ersetzt, wenn diese die notwendigen Dienste vor Ort nicht erbringen konnten. Daher empfiehlt der EWSA, die Frist des von den Gesetzgebern der EBA erteilten Mandats erheblich zu verkürzen und den Faktor zur Unterstützung der Nachhaltigkeit schneller einzuführen. Die Perspektive der Finanzaufsicht auf Mikroebene muss in diesem Fall sinnvollerweise korrigiert und neu ausgerichtet werden auf eine systemische, makroprudenzielle und gleichzeitig soziale Perspektive.

2.20.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass das Vorziehen der Umsetzung der zwei Unterstützungsfaktoren (günstigere Behandlung bestimmter Software-Vermögenswerte sowie einiger pensions- oder lohnbesicherter Darlehen) auf den 1. Juli 2020 Eigenmittel der Institute freisetzen und die Banken befähigen würde, die notwendige Kreditvergabe in und nach der COVID-19-Pandemie ausweiten. Es würde sich ebenfalls sehr positiv auswirken, wenn auch die Unterstützungsfaktoren für die reale Sozialwirtschaft und die grüne Wirtschaft bereits zum 1. Januar 2021 eingeführt würden (1).

2.21.

Die von der Kommission vorgebrachten Änderungsvorschläge werden den Aufsichtsrahmen nicht wesentlich verändern und würden gemeinsame Anstrengungen zur Abmilderung der Folgen der Pandemie und folglich eine rasche Erholung erleichtern. Diesbezüglich wäre es sinnvoll, die aktuellen Rückstellungskurven bezüglich notleidender Kredite für einen Zeitraum von 24 Monaten auszusetzen, um notwendige und angemessene Finanzierungsströme sicherzustellen, die die Auswirkungen der Pandemie eingrenzen können. Ohne diese Aussetzung würden sich die Banken in einer Zwickmühle gegensätzlicher Anreize befinden: auf der einen Seite all die Maßnahmen, die tendenziell dazu angelegt sind, Bankkapital für neue Finanzierungen freizusetzen oder jedenfalls einen übermäßigen Druck auf dieses Kapital zu vermeiden (wie z. B. die Überarbeitung der IFRS-9-Übergangsbestimmungen); auf der anderen Seite die Vorschriften, die letztlich einen großen Druck auf ihr Kapital ausüben bzw. die Banken davon abhalten können, in einer schwierigen Konjunkturlage Darlehen zu vergeben, um negative Auswirkungen auf das Kapital zu vermeiden. Ohne eine Überarbeitung würde es beim „prudenziellen Backstop“ ähnlich sein: er wäre eine Vorschrift, die in einer wirtschaftlichen Stresssituation und Rezession eher abschreckend wirkt. Die Anpassungen sollten sich sowohl auf besicherte als auch nicht besicherte notleidende Kredite beziehen.

Brüssel, den 10. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Siehe Artikel 501c — Aufsichtliche Behandlung von Risikopositionen im Zusammenhang mit ökologischen und/oder sozialen Zielen.


18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/76


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU, um der dringenden Notwendigkeit einer Verlängerung bestimmter Fristen für die Vorlage und den Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung infolge der COVID-19-Pandemie Rechnung zu tragen“

(COM(2020) 197 final — 2020/0081 (CNS))

zum „Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Änderung der Richtlinien (EU) 2017/2455 und (EU) 2019/1995 in Bezug auf die Umsetzungsfrist und den Geltungsbeginn aufgrund des Ausbruchs der COVID-19-Krise“

(COM(2020) 198 final — 2020/0082 (CNS))

und zum „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2454 in Bezug auf den Geltungsbeginn aufgrund des Ausbruchs der COVID-19-Krise“

(COM(2020) 201 final — 2020/0084 (CNS))

(2020/C 311/11)

Hauptberichterstatter:

Petru Sorin DANDEA

Befassung

Rat, 13.5.2020 und 15.5.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 113 und 115 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Beschluss des Präsidenten

14.5.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

10.6.2020

Plenartagung Nr.

552

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

218/2/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Angesichts der durch die COVID-Pandemie verursachten Krise und der starken Störungen im Unternehmensumfeld aufgrund der außergewöhnlichen Maßnahmen der Mitgliedstaaten befürwortet der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) das von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Maßnahmenpaket. Es dient dazu, einige Fristen im Zusammenhang mit der Anwendung der Richtlinie über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden in Steuersachen (DAC-Richtlinie) und der Mehrwertsteuerregelung für den grenzübergreifenden elektronischen Geschäftsverkehr zu verlängern.

1.2.

Die Analysen der Kommission haben ergeben, dass die Mitgliedstaaten bei einer Verlängerung der Fristen für die Mehrwertsteuerregelung im grenzüberschreitenden elektronischen Geschäftsverkehr finanzielle Verluste von ca. 3 Mrd. EUR erleiden werden. Die Kommission gibt jedoch zu bedenken, dass das System erst ab dem Zeitpunkt einsatzbereit sein kann, wenn alle Mitgliedstaaten dazu bereit sind. Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, damit das System unmittelbar nach Überwindung der derzeitigen Krise funktionsfähig ist.

1.3.

Die DAC-Richtlinie und das Mehrwertsteuerpaket für den grenzüberschreitenden elektronischen Geschäftsverkehr sind Teil der EU-Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung. Der EWSA begrüßt, dass die Kommission gegen diese negativen Phänomene vorgeht, weist jedoch darauf hin, dass nur durch eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten substanzielle Ergebnisse erzielt werden können. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, einen größtmöglichen Konsens in kürzester Zeit anzustreben, damit diese Maßnahmen rasch umgesetzt werden können.

1.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Europäische Kommission ebenfalls die Schulung des Personals für das neue IT-System unterstützen sollte, das für die Umsetzung der neuen Mehrwertsteuerregelung für den grenzüberschreitenden elektronischen Handel erforderlich ist.

2.   Kontext des Vorschlags

2.1.

Nachdem die Weltgesundheitsorganisation COVID-19 zur Pandemie erklärt hat, haben einige Mitgliedstaaten der Kommission signalisiert, dass sie aufgrund ihrer nationalen Sondermaßnahmen einige Bestimmungen der DAC-Richtlinie und die Bestimmungen des Mehrwertsteuerpakets für den elektronischen Geschäftsverkehr nicht umsetzen können.

2.2.

Die Kommission hat ein Bündel von Vorschlägen unterbreitet, um die Mitgliedstaaten in dieser schwierigen Lage zu unterstützen. Die Vorschläge der Europäischen Kommission (1) bezwecken eine Fristenverlängerung bei der Anwendung bzw. Umsetzung der Steueramtshilferichtlinie (DAC), der Richtlinien (EU) 2017/2455 und (EU) 2019/1995 sowie der Verordnung (EU) 2017/2454, die eine Mehrwertsteuerregelung für den grenzüberschreitenden elektronischen Geschäftsverkehr enthält.

2.3.

Bezüglich der DAC-Richtlinie schlägt die Kommission vor, die Fristen gemäß den Richtlinien DAC2 und DAC6 um drei Monate zu verschieben. Genauer gesagt wird der in beiden Richtlinien vorgesehene Austausch von Informationen über Finanzkonten von Gebietsfremden und grenzüberschreitende Steuergestaltungen erst ab dem Zeitpunkt stattfinden, bis zu dem die Kommission die Verschiebung vorschlägt. Sollten die Mitgliedstaaten gezwungen sein, die Geltungsdauer der Sondermaßnahmen zu verlängern, schlägt die Kommission vor, dass die im Rahmen des derzeitigen Pakets festgelegten Fristen im Wege eines delegierten Rechtsakts verlängert werden können.

2.4.

Bezüglich der Umsetzung des Mehrwertsteuerpakets für den elektronischen Geschäftsverkehr schlägt die Kommission vor, die Anwendung der Vorschriften um sechs Monate zu verschieben. Die Mehrwertsteuerregelung für den elektronischen Geschäftsverkehr erfordert in Bezug auf den Mechanismus einer einzigen Anlaufstelle für die Einfuhr ein völlig neues IT-System.

2.5.

Die Initiative der Kommission steht im Einklang mit den anderen bisher eingeführten Maßnahmen. Sie ist die Antwort auf die begründeten Ersuchen einiger Mitgliedstaaten, aber auch von Postbetreibern und Kurierdiensten, die in der COVID-19-Krise Probleme haben, ihre Dienstleistungen an die neue Mehrwertsteuerregelung für den grenzüberschreitenden elektronischen Geschäftsverkehr anzupassen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die COVID-19-Gesundheitskrise hat enorme soziale und wirtschaftliche Turbulenzen ausgelöst. Die Mitgliedstaaten standen in vielen Bereichen vor ungekannten Herausforderungen. Die Steuerverwaltungen mussten feststellen, dass sie in dieser komplizierten Lage außerstande sind, gewisse Vorschriften anzuwenden. Mit dem von der Kommission vorgeschlagenen Regelungspaket werden bestimmte in der DAC-Richtlinie vorgesehene Fristen, aber auch die Frist für die Umsetzung der Mehrwertsteuerregelung für den grenzüberschreitenden elektronischen Geschäftsverkehr verlängert. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hält die Fristenverlängerung für angezeigt und stimmt den von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen zu.

3.2.

Angesichts der von der Kommission geschätzten Einnahmeverluste der Mitgliedstaaten aufgrund der in der Mehrwertsteuerregelung für den grenzüberschreitenden elektronischen Geschäftsverkehr vorgesehenen Fristenverlängerung empfiehlt der EWSA den Mitgliedstaaten, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die derzeit herrschende Krise zu überwinden und so bald wie möglich zu einer normalen Situation zurückzukehren.

3.3.

Da nicht abzusehen ist, wie lange es dauern wird, bis sich das Leben der Bürger und die Geschäftstätigkeit der Unternehmen normalisiert haben, erklärt sich der EWSA damit einverstanden, dass die Kommission die in diesem Paket vorgesehenen Fristen im Wege delegierter Rechtsakte verlängern kann.

3.4.

Die Kommission leistet den Mitgliedstaaten technische Unterstützung bei der Einführung des erforderlichen IT-Systems für den grenzübergreifenden elektronischen Geschäftsverkehr. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission auch die Schulung des Personals, das mit dem neuen System arbeiten wird, unterstützen sollte.

3.5.

Hauptziel der DAC-Richtlinie und der Mehrwertsteuervorschriften für den grenzübergreifenden elektronischen Geschäftsverkehr ist die Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung. Der EWSA begrüßt, dass die Kommission gegen diese negativen Phänomene vorgeht, weist jedoch darauf hin, dass nur durch eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten substanzielle Ergebnisse erzielt werden können. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, einen größtmöglichen Konsens in kürzester Zeit anzustreben, damit diese Maßnahmen rasch umgesetzt werden können.

Brüssel, den 10. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  COM(2020) 197 final — Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU, um der dringenden Notwendigkeit einer Verlängerung bestimmter Fristen für die Vorlage und den Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung infolge der COVID-19-Pandemie Rechnung zu tragen.

COM(202hyperlinks0) 198 final — Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Änderung der Richtlinien (EU) 2017/2455 und (EU) 2019/1995 in Bezug auf die Umsetzungsfrist und den Geltungsbeginn aufgrund des Ausbruchs der COVID-19-Krise.

COM(2020) 201 final — Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2454 in Bezug auf den Geltungsbeginn aufgrund des Ausbruchs der COVID-19-Krise.


18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/79


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 hinsichtlich spezifischer Maßnahmen zur Gewährung einer befristeten Sonderunterstützung im Rahmen des ELER als Reaktion auf den Ausbruch von COVID-19“

(COM(2020) 186 final — 2020/0075 (COD))

(2020/C 311/12)

Alleinberichterstatter:

Arnold PUECH d’ALISSAC

Befassung

Rat der Europäischen Union, 12.5.2020

Europäisches Parlament, 13.5.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 42 und Artikel 43 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

27.5.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

10.6.2020

Plenartagung Nr.

552

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

208/1/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die COVID-19-Pandemie hat erhebliche negative Auswirkungen auf den Agrar- und Lebensmittelsektor der EU. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt daher den neuen Maßnahmenvorschlag der Europäischen Kommission, den er als dringend geboten erachtet, und fordert die EU-Organe zur umgehenden Annahme auf.

1.2.

Die Krise macht den geostrategischen Charakter des Agrar- und Lebensmittelsektors und die Notwendigkeit deutlich, die Nahrungsmittelautarkie in der Europäischen Union aufrechtzuerhalten. Daher sind Unterstützungsmaßnahmen für die Liquiditätslage landwirtschaftlicher Betriebe und KMU in der Agrar- und Ernährungswirtschaft unerlässlich, um ihr wirtschaftliches Überleben in dieser Krisenzeit zu sichern, insbesondere in benachteiligten oder abgelegenen Gebieten wie Inseln oder Bergregionen.

1.3.

Da einige EU-Länder ihre ELER-Mittel jedoch bereits ausgeschöpft oder gebunden haben, sollte die Europäische Kommission nach Ansicht des EWSA einen außerordentlichen Fonds außerhalb des GAP-Haushalts einrichten und diesen mit Mitteln des Aufbauplans ausstatten, um die Umsetzung dieser Maßnahme zu ermöglichen, ohne ELER-Mittel einschränken zu müssen. Andernfalls sollte der ELER durch den erörterten Legislativvorschlag in bestimmten Punkten flexibler gestaltet werden. In diesem Sinn ersucht der EWSA die Kommission, den Rat und das Europäische Parlament, seinen in dieser Stellungnahme vorgetragenen allgemeinen Bemerkungen Gehör zu schenken.

2.   Wesentlicher Inhalt des Vorschlags der Kommission

2.1.

Die Europäische Kommission schlägt eine Änderung der ELER-Verordnung vor, damit die Verwaltungsbehörden bis zu 1 % der Haushaltsmittel für den Zeitraum 2014-2020 für eine neue Maßnahme (Artikel 39 b) mobilisieren können, bei der es sich um eine „befristete Sonderunterstützung für Landwirte und in der Verarbeitung, Vermarktung und/oder Entwicklung landwirtschaftlicher Erzeugnisse tätige KMU handelt, die von der COVID-19-Krise besonders stark betroffen sind“.

2.2.

Bei der vorgeschlagenen Maßnahme handelt es sich um eine Pauschalbeihilfe von bis zu 5 000 EUR pro landwirtschaftlichem Betrieb und bis zu 50 000 EUR pro KMU, die anhand objektiver und nichtdiskriminierender Kriterien verteilt werden soll und bis zum 31. Dezember 2020 auszuzahlen ist.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt den Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission und ihr rasches Handeln, um die Liquiditätslage der Unternehmen zu entlasten, die infolge der COVID-19-Pandemie in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind.

3.2.

Er befürwortet die vorgeschlagene Maßnahme, deren umgehende Annahme durch die EU-Organe er als sehr wichtig erachtet.

3.3.

Allerdings ist der EWSA der Auffassung, dass einige Aspekte verbessert werden könnten:

3.3.1.

Zur Finanzierung dieser Maßnahme sollte ein zusätzlicher spezifischer Fonds vorgeschlagen werden, der mit Mitteln aus dem anstehenden Aufbauplan ausgestattet werden soll, damit es zu keinen Einschränkungen von ELER Mitteln kommt.

3.3.2.

In diesem letzten Jahr des mehrjährigen Finanzrahmens 2014-2020 fällt die Höhe der in den jeweiligen Mitgliedstaaten im Rahmen des ELER verfügbaren Mittel sehr unterschiedlich aus. Die vorgeschlagene Obergrenze von 1 % der Mittelausstattung ist notwendig und gewährleistet die vom EWSA stets angestrebte europäische Harmonisierung.

3.3.3.

Damit die Mitgliedstaaten diese Obergrenze erreichen können, sollte sie jedoch von den Haushaltszwängen der Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 ausgenommen werden. Die Mitgliedstaaten müssen dementsprechend die Möglichkeit haben, die verfügbaren Mittel zu verwenden und dabei von Artikel 59 Absatz 5 der Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 abzuweichen ungeachtet der Herkunft der Mittel, wobei eine Überkompensation durch zielgerichtete Kriterien verhindert werden muss.

Brüssel, den 11. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/81


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung (kodifizierter Text)“

(COM(2020) 49 final — 2020/0022 (CNS))

(2020/C 311/13)

Befassung durch den Rat

25.2.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 113 und 115 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Verabschiedung auf der Plenartagung

10.6.2020

Plenartagung Nr.

552

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

221/1/3

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und sich bereits in seinen Stellungnahmen zum „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 im Hinblick auf die Stärkung der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden bei der Betrugsbekämpfung“ vom 15. Mai 2019 (1), zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Modelle“ vom 18. Januar 2018 (2), zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU im Hinblick auf den verpflichtenden automatischen Informationsaustausch im Bereich der Besteuerung und zum Vorschlag für eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts“ vom 28. April 2016 (3), zum Thema „Vollendung der WWU — die Rolle der Steuerpolitik“ vom 10. Dezember 2014 (4) und zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung“ vom 16. Oktober 2013 (5) zu dieser Thematik geäußert hat, beschloss er auf seiner 552. Plenartagung vom 10./11. Juni 2020 (Sitzung vom 10. Juni 2020) mit 221 Stimmen gegen 1 Stimme bei 3 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme abzugeben und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in den vorgenannten Stellungnahmen vertreten hat.

Brüssel, den 10. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 240 vom 16.7.2019, S. 29.

(2)  ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 29.

(3)  ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 93.

(4)  ABl. C 230 vom 14.7.2015, S. 24.

(5)  ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 68.


18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/82


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 223/2014 in Bezug auf die Einführung spezifischer Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Krise“

(COM(2020) 223 final — 2020/0105 (COD))

(2020/C 311/14)

Befassung

Europäisches Parlament, 17.6.2020

Rat, 8.6.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 175 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Verabschiedung im Plenum

10.6.2020

Plenartagung Nr.

552

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

225/2/3

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und sich bereits in seinem dem Rat und dem Europäischen Parlament am 15. April 2020 übermittelten Positionspapier SOC/651 — „Europäischer Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (FEAD)COVID-19-Krise“ (EESC-2020-01741-00-01-PAC-TRA-DE) zu dieser Thematik geäußert hat, beschloss er auf seiner 552. Plenartagung am 10./11. Juni 2020 mit 225 gegen 2 Stimmen bei 3 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme abzugeben und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in dem vorgenannten Positionspapier vertreten hat.

Brüssel, den 10. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


18.9.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 311/83


Stellungnahme Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 hinsichtlich der Mittel für die besondere Mittelzuweisung zugunsten der Beschäftigungsinitiative für junge Menschen“

(COM(2020) 206 final — 2020/0086 (COD))

(2020/C 311/15)

Befassung

Europäisches Parlament, 27.5.2020

Rat, 2.6.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 177 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Verabschiedung auf der Plenartagung

10.6.2020

Plenartagung Nr.

552

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

219/0/2

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt, beschloss er auf seiner 552. Plenartagung am 10./11. Juni 2020 (Sitzung vom 10. Juni) mit 219 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 2 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme abzugeben.

Brüssel, den 10. Juni 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER