ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 97

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

63. Jahrgang
24. März 2020


Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

548. Plenartagung des EWSA, 11.12.2019-12.12.2019

2020/C 97/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Besteuerung, Privatinvestitionen und Nachhaltigkeitsziele — die Zusammenarbeit mit dem Sachverständigenausschuss der Vereinten Nationen für internationale Zusammenarbeit in Steuerfragen (Initiativstellungnahme)

1

2020/C 97/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Ein verbindliches UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte (Initiativstellungnahme)

9

2020/C 97/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Außenhilfe, Investitionen und Handel als Instrumente zur Verringerung der Ursachen von Wirtschaftsmigration mit besonderem Schwerpunkt auf Afrika (Initiativstellungnahme)

18

2020/C 97/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: Der Gebrauchswert zählt wieder: neue Perspektiven und Herausforderungen für europäische Produkte und Dienstleistungen (Initiativstellungnahme)

27

2020/C 97/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Gemeinsame EU-Mindeststandards im Bereich der Arbeitslosenversicherung — ein konkreter Schritt zur wirksamen Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte (Initiativstellungnahme)

32

2020/C 97/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Gestaltung der EU-Agenda für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2020-2030: Beitrag des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (Initiativstellungnahme)

41

2020/C 97/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Populismus und Grundrechte im stadtnahen und ländlichen Raum (Initiativstellungnahme)

53


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

548. Plenartagung des EWSA, 11.12.2019-12.12.2019

2020/C 97/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bericht über die Wettbewerbspolitik 2018 (COM(2019) 339 final)

62

2020/C 97/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 in Bezug auf die Haushaltsdisziplin ab dem Haushaltsjahr 2021 sowie der Verordnung (EU) Nr. 1307/2013 in Bezug auf die Flexibilität zwischen den Säulen für das Kalenderjahr 2020 (COM(2019) 580 — 2019/0253(COD))

69


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

548. Plenartagung des EWSA, 11.12.2019-12.12.2019

24.3.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 97/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Besteuerung, Privatinvestitionen und Nachhaltigkeitsziele — die Zusammenarbeit mit dem Sachverständigenausschuss der Vereinten Nationen für internationale Zusammenarbeit in Steuerfragen“

(Initiativstellungnahme)

(2020/C 97/01)

Berichterstatter:

Krister ANDERSSON

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Beschluss des Plenums

24.1.2019

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

29.11.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

11.12.2019

Plenartagung Nr.

548

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

129/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Steuerpolitik ist für die Nachhaltigkeitsziele von grundlegender Bedeutung, denn sie steckt den wirtschaftlichen Rahmen für Investitionen, Beschäftigung und Innovationen ab und verschafft der Regierung gleichzeitig Mittel für die Finanzierung ihrer öffentlichen Ausgaben. Eine bessere Abstimmung der Politik sowie Maßnahmen zur Steigerung der Glaubwürdigkeit würden erheblich zur Erhöhung der Privatinvestitionen und zur Schließung der globalen Investitionslücke beitragen, indem Anreize für Kapitalströme von wohlhabenden Ländern in Entwicklungsländer mit Investitionsbedarf geschaffen würden.

1.2.

Unternehmen liefern bzw. erbringen wertvolle Waren und Dienstleistungen und regen somit maßgeblich Investitionen, Produktivität, breitenwirksames Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen an. Aufgrund ihrer Vielfalt und der verschiedenen Größenordnung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) bis hin zu multinationalen Unternehmen stellen sie zudem eine der wichtigsten Quellen für Fachwissen, Kreativität und Innovation dar. Diese tragen wiederum dazu bei, zahlreiche Herausforderungen der nachhaltigen Entwicklung zu bewältigen.

1.3.

Ein hoher Anteil der Schattenwirtschaft führt zu geringen Besteuerungsgrundlagen, was mögliche Steuereinnahmen weiter schmälert und Verzerrungen verstärkt. Die Besteuerungsgrundlage sollte jedoch so breit wie möglich sein, um verzerrte Steuersätze möglichst zu vermeiden.

1.4.

Der EWSA betont, dass eine erfolgreiche Mobilisierung einheimischer Ressourcen voraussetzt, dass 1. Steuervorbescheide offen und transparent ergehen, 2. Systeme eingerichtet wurden, um die Rechenschaftspflicht von Organisationen der Zivilgesellschaft und Parlamentariern zu gewährleisten, 3. Regierungen in Bezug auf Steuern und Ausgaben transparent sind, und 4. Steuern sichtbar sind.

1.5.

Der Privatsektor spielt für die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter eine wichtige Rolle. Die Lohnpolitik sowie die Aus- und Weiterbildung am Arbeitsplatz sind wichtig, um die Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern, beim beruflichen Vorankommen und bei der beruflichen Entwicklung zu fördern. Die Teilhabe von Frauen an der Weltwirtschaft birgt enorme Chancen und sollte als Anreiz für breitenwirksames Wirtschaftswachstum, Innovation und Produktivität dienen.

1.6.

Politische Maßnahmen für die Besteuerung der digitalisierten Wirtschaft sollten darauf ausgerichtet sein, das Wirtschaftswachstum sowie den grenzüberschreitenden Handel und Investitionen zu fördern, anstatt diese zu behindern. Angesichts der zunehmenden Bedeutung digitalisierter Unternehmen ist die Entwicklung einer neuen Methodik für steuerliche Anknüpfungsmerkmale und die Zuordnung von Gewinnen erforderlich. Damit sollen die Besteuerungsrechte zwischen den Absatzländern und den Standortländern der Digitalkonzerne ermittelt werden.

1.7.

Nach Auffassung des EWSA müssen sämtliche neuen Regeln für die zwischenstaatliche Aufteilung von Besteuerungsrechten sowohl zwischen kleinen und großen Verbraucherländern als auch zwischen Industrie- und Entwicklungsländern gerecht sein. Beiträge in Form von Innovationen, Unternehmertum usw. sind angemessen zu vergüten. Die Körperschaftsteuereinnahmen mögen im Verhältnis zum Gesamtsteueraufkommen gering erscheinen, jedoch spielen sie eine wichtige Rolle für die Mobilisierung von Ressourcen und die Finanzierung der erforderlichen Infrastruktur, der Forschung und Entwicklung sowie der Bildung und Gesundheitsversorgung usw.

1.8.

Der EWSA stellt fest, dass die EU-Mitgliedstaaten zu den Spitzenreitern bei der Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung zählen. Er hebt jedoch hervor, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen und tragfähige Finanz- und Steuersysteme sicherstellen müssen, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu verwirklichen. Die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen auf sämtlichen Ebenen ist für die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele von entscheidender Bedeutung, da die Zivilgesellschaft die wichtigsten Interessenträger für die Umsetzung der Agenda 2030 stellt und die erforderlichen Investitionen zu großen Teilen aus dem Privatsektor stammen.

1.9.

Der EWSA begrüßt die gemeinsam von den Vereinten Nationen, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbankgruppe (WBG) gegründete Plattform für die Zusammenarbeit im Steuerbereich, da mit ihrer Hilfe die Interaktionen bei der Normung, beim Aufbau von Kapazitäten sowie bei der technischen Unterstützung im Bereich der internationalen Besteuerung vereinfacht werden. Der EWSA ist der Ansicht, dass sich die Europäische Union ebenfalls an der Plattform beteiligen sollte.

1.10.

Nach Auffassung des EWSA sind die Arbeiten des Sachverständigenausschusses der Vereinten Nationen für internationale Zusammenarbeit in Steuerfragen zur Thematik Besteuerung/Privatinvestitionen und Nachhaltigkeitsziele von größter Bedeutung, um den globalen Dialog voranzubringen. Sie leisten auch einen wichtigen Beitrag zum Peer-Learning und zum Austausch bewährter Verfahren. Der EWSA betont, dass die europäische Zivilgesellschaft bei dieser wichtigen internationalen Debatte eine aktive Rolle spielen muss.

2.   Investitionen, Besteuerung und Nachhaltigkeitsziele — einführende Bemerkungen

2.1.

Die Agenda 2030 beruht auf 17 Nachhaltigkeitszielen (1) und 169 Zielvorgaben für die Bewältigung ökologischer, politischer und wirtschaftlicher Herausforderungen unserer Welt.

2.2.

Für die Verwirklichung der Ziele spielen Privatinvestitionen eine bedeutende Rolle, und die weitere Angleichung der Investitions- und Steuerpolitik ist notwendig, um Investitionen, die Schaffung von Arbeitsplätzen und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum auf globaler Ebene zu fördern. Die OECD hat in dieser Hinsicht bereits wichtige Vorarbeit geleistet, wie etwa das Projekt gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS) (2) und die Initiative für Politikkohärenz im Interesse nachhaltiger Entwicklung (2018) (3).

2.3.

Für die Nachhaltigkeitsziele ist die Steuerpolitik von grundlegender Bedeutung, da durch sie der wirtschaftliche Rahmen für Investitionen, Beschäftigung und Innovationen abgesteckt wird und der Staat gleichzeitig Mittel zur Finanzierung der öffentlichen Ausgaben erhält. Eine bessere Abstimmung der Politik sowie Maßnahmen zur Steigerung der Glaubwürdigkeit würden erheblich zur Erhöhung der Privatinvestitionen und zur Schließung der globalen Investitionslücke beitragen, indem Anreize für Kapitalströme von wohlhabenden Ländern in Entwicklungsländer mit Investitionsbedarf geschaffen würden.

2.4.

Die Bekämpfung von Steuervermeidung und die Verringerung des weltweiten Steuerwettbewerbs ist für die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele von hoher Bedeutung. Vor dem Hintergrund der Spar- und Haushaltszwänge wirkt sich der Rückgang der Einnahmen aus der Unternehmensbesteuerung negativ auf die Tragfähigkeit der Sozialschutzsysteme aus und kann zu regressiver Besteuerung führen, wenn die Steuerlast auf die Verbraucher und Geringverdiener verlagert wird.

2.5.

Die Entwicklungsländer mit dem größten Ressourcenbedarf haben noch immer Probleme bei der Erhebung von Steuern. In den Entwicklungsländern sind die Einnahmen aus der Einkommensteuer äußerst gering und stellen nur einen sehr geringen Anteil am BIP dar, während dieselben Steuern in den Industrieländern einen Großteil der Steuereinnahmen darstellen, insbesondere unter Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge.

2.6.

Die Verwaltung und Nutzung des Steueraufkommens ist ebenfalls wichtig. Überdies ist festzustellen, dass insbesondere afrikanische Länder zwischen 25 % und 35 % mehr in ihr Bildungs- und Gesundheitswesen investieren und dabei dieselben Ergebnisse wie Länder auf einem höheren Fortschritts- und Effizienzniveau erzielen (4). Aus diesem Grund muss sichergestellt werden, dass öffentliche Mittel kostenwirksam ausgegeben werden.

3.   Besteuerung als Instrument für den Umweltschutz

3.1.

Einige Nachhaltigkeitsziele im Bereich Klimaschutz könnten mit einem kohärenten Rahmen und einem Umsetzungsplan für die Besteuerung des Verbrauchs natürlicher Ressourcen besser verwirklicht werden. Ökologisch ausgerichtete Steuern könnten sowohl der Bekämpfung des Klimawandels (Ziel 13) (5) als auch dem Schutz der terrestrischen und marinen Ökosysteme (Ziel 14 und 15 (6)) dienen. Durch eine Änderung der Preisstruktur für Rohstoffe kann die Steuerpolitik zur Förderung bezahlbarer und sauberer Energien beitragen (Ziel 7) (7) und Anreize für einen verantwortungsvollen Umgang mit den gemeinsamen natürlichen Ressourcen schaffen (Ziel 12) (8).

3.2.

Umweltsteuern dienen wirtschaftlich gesehen dazu, negative externe Effekte zu kompensieren, d. h. in Fällen, in denen Verursacher die aus Umweltschäden entstehenden Kosten auf die Gesellschaft umlegen können, wie beispielsweise bei Treibhausgasemissionen. Bei der Ausgestaltung dieser Art von Steuern wäre die Einbeziehung von Zivilgesellschaft und Unternehmen von großem Vorteil. Denn so könnte sichergestellt werden, dass durch die politischen Maßnahmen zur Stärkung des Rechtsrahmens die Anreize für den Privatsektor mit den öffentlichen Zielen in Einklang gebracht werden (9).

3.3.

Ein Beispiel für die Kombination verschiedener politischer Maßnahmen im Steuerbereich wäre die schrittweise Beendigung von Subventionen für ineffiziente fossile Brennstoffe (Zielvorgabe 12.c) (10). Regierungen könnten somit bedeutende Haushaltseinsparungen erzielen, während solche Brennstoffe für Unternehmen und Verbraucher an Attraktivität verlieren würden. Würden diese Einsparungen sodann zur Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energiequellen an der globalen Energieversorgung (Zielvorgabe 7.2) (11) eingesetzt, kann der allgemeine Zugang zu sauberen Energien gefördert werden (Zielvorgabe 7.1) (12). Zusätzliche politische Maßnahmen als Anreiz für Investitionen in eine saubere Energieinfrastruktur (Zielvorgabe 7.b) (13) würden darüber hinaus die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Umweltzerstörung erleichtern (Zielvorgabe 8.4) (14).

3.4.

Die Angleichung der Anreize für Unternehmen an die öffentlichen Ziele steht in Einklang mit der Aktionsagenda von Addis Abeba (15), durch die Unternehmen angeregt werden, in ihrem Kerngeschäft den Folgen ihres Handelns für Umwelt, Gesellschaft und Governance Rechnung zu tragen. Unternehmen liefern bzw. erbringen wertvolle Waren und Dienstleistungen und regen somit maßgeblich Investitionen, Produktivität, breitenwirksames Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen an. Aufgrund ihrer Vielfalt und der verschiedenen Größenordnung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) bis hin zu multinationalen Großunternehmen stellen sie zudem eine der wichtigsten Quellen für Fachwissen, Kreativität und Innovation dar, welche wiederum dazu beitragen, viele der Herausforderungen der nachhaltigen Entwicklung zu bewältigen. Um die Nachhaltigkeitsziele zur Bekämpfung des Klimawandels zu erreichen, sollte sich der Privatsektor an einen Verhaltenskodex halten, mit dem grüne Investitionen erheblich gesteigert und Investitionen mit negativen Umweltauswirkungen verringert oder beseitigt werden sollen.

3.5.

In Anbetracht der Verflechtung der Nachhaltigkeitsziele untereinander ist die Beteiligung der Zivilgesellschaft von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass die drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung (Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt) bei Ausgestaltung und Umsetzung der politischen Maßnahmen beachtet werden. Umweltbezogene Steuern sind gewöhnlich regressiver Natur, d. h., sie belasten vor allem Haushalte mit niedrigem Einkommen. Infolgedessen ist es ebenfalls wichtig, weiterhin für die soziale Nachhaltigkeit der politischen Maßnahmen zu sorgen.

3.6.

Der EWSA lehnt eine willkürliche Besteuerung ab, die negative und überproportionale Auswirkungen auf die Armen und die weniger wohlhabenden Menschen in der Gesellschaft haben und ebenfalls verschiedene Nachhaltigkeitsziele konterkarieren würde. Zum Beispiel wäre die erhebliche Erhöhung der Besteuerung von Gütern und Dienstleistungen, für die es keine gangbaren Alternativen gibt, lediglich eine Belastung, ohne die Ziele zu erreichen.

3.7.

Der EWSA hebt die Rolle der Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Überwachung der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele, bei der Sicherstellung sozial verträglicher Maßnahmen und beim Aufzeigen der Notwendigkeit einer Überarbeitung der Indikatoren hervor (16).

3.8.

Nach Auffassung des EWSA müssen geeignete Bedingungen geschaffen werden, damit sowohl private als auch öffentliche Mittel in nachhaltige langfristige Investitionen fließen, die für eine nachhaltige Wirtschaft erforderlich sind (17).

4.   Besteuerung der Schattenwirtschaft

4.1.

Für die Finanzierung der öffentlichen Investitionen und Ausgaben, die für die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele erforderlich sind, ist es wichtig, die Besteuerungsgrundlage der Regierungen auf die Schattenwirtschaft auszuweiten. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation verdienen mehr als 61 % aller weltweit Erwerbstätigen (2 Mrd. Menschen) ihren Lebensunterhalt in der Schattenwirtschaft, wovon wiederum 93 % vorrangig in den Schwellen- und Entwicklungsländern informell beschäftigt sind. Deshalb müssen unbedingt eine Steuerpolitik und ein institutioneller Rahmen zur Integration der Schattenwirtschaft in die formelle Wirtschaft konzipiert werden.

4.2.

Die dominante Rolle der Schattenwirtschaft — vor allem in den Entwicklungsländern — hat zur Folge, dass sich die täglichen wirtschaftlichen Aktivitäten von Bürgern und Unternehmen der Besteuerung entziehen. Häufig ist die Aktivität außerhalb der formellen Wirtschaft keine bewusste Entscheidung, sondern vielmehr der einzig gangbare Weg für Unternehmen und Arbeitnehmer, die keinen Zugang zum formellen Sektor haben oder aus diesem ausgeschlossen wurden. Die Integration der Schattenwirtschaft muss durch wirksame Einrichtungen gefördert werden (Zielvorgaben 16.a und 16.6) (18), die es Arbeitnehmern, Unternehmen und Verbrauchern ermöglichen, zur Besteuerungsgrundlage ihres Landes beizutragen und Sozialschutz und soziale Dienstleistungen zu erhalten. Insbesondere sollten Fairness, Transparenz, Effizienz und Wirksamkeit von Steuersystemen als Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung im Mittelpunkt stehen.

4.3.

Aufgrund der versteckten Kosten für KMU außerhalb der formellen Wirtschaft und der Vorteile nach einem Übergang in die formelle Wirtschaft sind viele von ihnen bereit, diesen Schritt zu vollziehen. Diese Vorteile beinhalten einen vereinfachten Zugang zu Krediten und anderen Finanzierungsinstrumenten (Zielvorgabe 8.10) (19), Schulungen und Unterstützungsprogrammen, Teilnahme an der öffentlichen Auftragsvergabe, Eigentumsrechte sowie die Möglichkeit für Geschäfte mit größeren Unternehmen. Die mit dem Übergang in die formelle Wirtschaft verbundenen Kosten beziehen sich auf die Eintragung und Zulassung, die Einhaltung von Steuervorschriften sowie die Einhaltung der Bestimmungen des Arbeitsrechts und anderer nationaler Rechtsvorschriften. Unternehmen könnten zum Übergang in die formelle Wirtschaft angeregt werden, wenn die Verfahren für ihre Eintragung und Zulassung sowie für die Verwaltung der Einhaltung von Steuervorschriften vereinfacht würden.

4.4.

In vielen Bereichen, in denen die informelle Wirtschaft sehr weit verbreitet ist, können Unternehmen im Allgemeinen und mitunter Genossenschaften im Besonderen hier einen wichtigen Beitrag leisten. Viele Menschen ohne größere Ressourcen können so schon mit einer kleinen Kapitalspritze wirtschaftlich und unternehmerisch aktiv werden.

4.5.

Würden Kleinstunternehmen und KMU zum Übergang in die formelle Wirtschaft angeregt, könnten wiederum politische Maßnahmen ergriffen werden, um Arbeitsplätze zu schaffen und das Unternehmenswachstum zu fördern (Zielvorgabe 8.5) (20). Die Arbeitsmarktregelungen zur Schaffung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen sind unbedingt einzuhalten (Zielvorgabe 8.5). Ähnlich würden ein besserer Überblick über die wirtschaftlichen Aktivitäten sowie deren regelmäßige Kontrolle es den Regierungen ermöglichen, ihre Politik und insbesondere ihre Finanz-, Lohn- und Sozialschutzpolitik darauf auszurichten, schrittweise eine bessere Gleichstellung herbeizuführen (Zielvorgabe 10.4).

4.6.

Während die Vorteile eines funktionierenden Steuererhebungssystems auf der Hand liegen, bereitet der Ausbau der dafür erforderlichen staatlichen Kapazitäten immer noch Probleme. Es hat sich gezeigt, dass viele solcher Anstrengungen zu Verzerrungen, geringen Erträgen, hohen Erhebungskosten, Herausforderungen bei der Durchsetzung oder sogar Kapitalflucht führen. Da viele Entwicklungsländer nur über beschränkte Mittel verfügen, sollten Maßnahmen zur Steigerung der Verwaltungseffizienz und der Wirksamkeit der Steuersysteme Vorrang haben. Der Privatsektor kann den Kapazitätsaufbau durch Wissenstransfer hochentwickelter Staaten und Wirtschaftssysteme unterstützen (21).

4.7.

Wenn die Regierungen sämtliche Einnahmelücken aus direkten oder indirekten Steuern schließen wollen, müssen auch die Verwaltungs- und Befolgungskosten berücksichtigt werden. Besonderes ist dabei auf die Lage von Geringverdienern und die Verteilung der Steuerlast auf die verschiedenen Einkommensschichten zu achten. Zunehmende Ungleichheiten können die Steuermoral gefährden. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass ein richtig konzipiertes progressives Steuersystem eine gerechte Verteilung der Steuerlast gewährleisten und erheblich zum Abbau von Ungleichheiten und zur Verringerung von Armut beitragen könnte.

4.8.

Ein hoher Anteil der Schattenwirtschaft führt zu geringen Besteuerungsgrundlagen, was mögliche Steuereinnahmen weiter schmälert und Verzerrungen verstärkt. Wichtig ist, dass Ressourcen mobilisiert werden, um die inländische Steuererhebung zu verbessern (Zielvorgabe 17.1) (22) und Steuerhinterziehung und Geldwäsche zu bekämpfen. Die Zusammenarbeit der Länder bei der Bekämpfung rechtswidriger Finanzströme muss verbessert werden. Die die EU sollte eine abgestimmte Liste möglicher Gegenmaßnahmen erwägen.

4.9.

Der EWSA betont, dass eine erfolgreiche Mobilisierung einheimischer Ressourcen voraussetzt, dass 1. Steuervorbescheide offen und transparent ergehen, 2. Systeme eingerichtet wurden, um die Rechenschaftspflicht von Organisationen der Zivilgesellschaft und Parlamentariern zu gewährleisten, 3. Regierungen in Bezug auf Steuern und Ausgaben transparent sind, und 4. Steuern sichtbar sind (23).

5.   Besteuerung und die Gleichstellung der Geschlechter

5.1.

Ziel 5 zielt darauf ab, alle Formen der Diskriminierung von Frauen und Mädchen zu beenden, politische Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter zu fördern und die Rolle von Frauen und Mädchen zu stärken. Als Voraussetzung für die Stärkung der Rolle der Frau müssen gleiche Rechte auf wirtschaftliche Ressourcen ebenso gewährleistet werden, wie die Möglichkeit, Eigentum an Land sowie andere Formen von Eigentum zu halten und darüber zu verfügen und Finanzdienstleistungen, Erbschaften und natürliche Ressourcen in Anspruch zu nehmen (Zielvorgabe 5.a) (24). Durch die wirtschaftliche Emanzipation der Frau werden die volle und wirksame Teilhabe von Frauen sowie ihre Chancengleichheit bei der Übernahme von Führungsrollen auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung im politischen, wirtschaftlichen und öffentlichen Leben gefördert (Zielvorgabe 5.5) (25). Durch die Verwirklichung dieses Ziels und die Gewährleistung der wirtschaftlichen Rechte der Frau wird auch die Verwirklichung der anderen Nachhaltigkeitsziele gefördert, wie etwa Ziel 8 (Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum) und Ziel 16 (Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen).

5.2.

Der Privatsektor spielt für die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter eine wichtige Rolle. Die Lohnpolitik sowie die Aus- und Weiterbildung am Arbeitsplatz sind wichtig, um die Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern, beim beruflichen Vorankommen und bei der beruflichen Entwicklung zu fördern. Die Teilhabe von Frauen an der Weltwirtschaft birgt enorme Chancen und sollte Impulse für breitenwirksames Wirtschaftswachstum, Innovation und Produktivität geben.

5.3.

Der Abbau des informellen Sektors und die Gleichstellung der Geschlechter sind eng miteinander verknüpft. Wenn Unternehmen keine Steuern zahlen, verfügt die öffentliche Hand (der Staat, die Regionen und Kommunen) über weniger Mittel für öffentliche Dienstleistungen, nachhaltige Infrastruktur und Sozialschutz, die für die Gleichstellung wichtig sind. Ohne angemessene Sozialausgaben und ohne angemessene Infrastruktur trifft das die Armen — und häufig insbesondere Frauen.

6.   Besteuerung der digitalisierten Wirtschaft

6.1.

Die rasante Digitalisierung der Wirtschaft ist ein wichtiger Motor des weltweiten Wirtschaftswachstums. Darüber hinaus können Steuerbehörden Informationen effektiver sammeln und Steuerzahlern stehen bessere Dienstleistungen zur Verfügung. Durch die Digitalisierung der Wirtschaftssysteme wurde allerdings die Frage aufgeworfen, wo die Gewinne erzielt und wie sie zwischen den Ländern aufgeteilt werden. Digitale Dienstleistungen können über große Entfernungen bereitgestellt werden, ohne dass eine physische Präsenz innerhalb der gerichtlichen Zuständigkeit des Absatzmarktes erforderlich wäre, in dem die Nutzung erfolgt.

6.2.

Maßnahmen zur Besteuerung der digitalisierten Wirtschaft sollten darauf ausgerichtet sein, das Wirtschaftswachstum sowie den grenzüberschreitenden Handel und Investitionen zu fördern, anstatt diese zu behindern. Angesichts der zunehmenden Bedeutung digitalisierter Unternehmen ist die Entwicklung einer neuen Methodik für die Zuordnung von Gewinnen und steuerliche Anknüpfungsmerkmale erforderlich, um so die Besteuerungsrechte zwischen Absatzländern und den Ländern festzulegen, in denen die digitalisierten multinationalen Unternehmen ansässig sind (26).

6.3.

Hierfür ist jedoch eine international anerkannte Lösung für die Besteuerung dieser neuen Geschäftsmodelle erforderlich, die die Bedürfnisse der Industrieländer und der Entwicklungsländer berücksichtigt (27). Um ein Besteuerungsmodell für die digitalisierte Wirtschaft umsetzen zu können, muss ein Rahmen für die engere Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungen der nationalen Steuerbehörden und ein Mechanismus für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen mehreren Parteien geschaffen werden.

6.4.

Im Zwischenbericht der OECD, Steuerliche Herausforderungen der Digitalisierung — Zwischenbericht 2018 (März 2018) (28) wird die vereinbarte Arbeitsrichtung des Inklusiven Rahmens (29) im Bereich Digitalisierung und internationale Steuerregelungen bis 2020 dargelegt. Es wird erläutert, wie sich die Digitalisierung auch auf andere Bereiche des Steuersystems auswirkt. Den Steuerbehörden werden neue Instrumente an die Hand gegeben, mit denen sich die Dienstleistungen für Steuerzahler verbessern, die Effizienz des Steuereinzugs steigern und Steuerhinterziehung erkennen lassen. Für 2020 wird ein Abschlussbericht des Inklusiven Rahmens der OECD erwartet.

6.5.

Nach Auffassung des EWSA müssen sämtliche neuen Regeln für die zwischenstaatliche Aufteilung von Besteuerungsrechten sowohl zwischen kleinen und großen Verbraucherländern als auch zwischen Industrie- und Entwicklungsländern gerecht sein. Beiträge in Form von Innovationen, Unternehmertum usw. sind angemessen zu vergüten. Die Körperschaftsteuereinnahmen sind zwar im Verhältnis zum Gesamtsteueraufkommen gering. Sie spielen jedoch eine wichtige Rolle für die Mobilisierung von Ressourcen und für die Finanzierung der erforderlichen Infrastruktur, Forschung und Entwicklung sowie für die Bildung und Gesundheitsversorgung usw.

7.   Die Rolle von Privatinvestitionen für die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele

7.1.

Der EWSA stellt fest, dass bei der Verwirklichung vieler Nachhaltigkeitsziele die EU-Mitgliedstaaten zu den Spitzenreitern zählen. Er hebt jedoch hervor, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen und zukunftsfähige Finanz- und Steuersysteme sicherstellen müssen, um die Nachhaltigkeitsziele zu verwirklichen.

7.2.

Die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen auf sämtlichen Ebenen ist für die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele von entscheidender Bedeutung, da die Zivilgesellschaft die wichtigsten Interessenträger für die Umsetzung der Agenda 2030 stellt und die erforderlichen Investitionen zu großen Teilen aus dem Privatsektor stammen.

7.3.

Unternehmen sind der weltweite Motor für Produktivität, breitenwirksames Wirtschaftswachstum, Schaffung von Arbeitsplätzen, Investitionen und Innovation. Das im Privatsektor gebündelte Fachwissen ist der Schlüssel zur Bewältigung zahlreicher Herausforderungen in Verbindung mit der nachhaltigen Entwicklung.

7.4.

Investitionen, einschließlich ausländischer Direktinvestitionen, sind wichtig für die Beseitigung der Armut, die Bekämpfung des Klimawandels und die Sicherstellung eines breitenwirksamen und nachhaltigen Wachstums (30). Beispielsweise sind weitere Investitionen des Privatsektors zur Umsetzung von Ziel 8 (31) notwendig. Dies ist im Sinne der Aktionsagenda von Addis Abeba (2015), denn „die wirtschaftlichen Aktivitäten, Investitionen und Innovationen des Privatsektors gehören zu den wichtigsten Impulsgebern für Produktivität, breitenwirksames Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen“.

7.5.

Der EWSA hebt hervor, dass verlässliche Steuervorschriften unerlässlich sind für den grenzüberschreitenden Handel, Unternehmensinvestitionen, Arbeitsplätze und Wachstum. Durch Steuerabkommen könnte Unternehmen mehr Sicherheit geboten, Doppelbesteuerung verringert und ein Mechanismus zur Bekämpfung aggressiver Steuerplanung und Steuerhinterziehung eingerichtet werden, wodurch letztendlich der Handel gefördert würde. Die Regierungen müssen sich auf akzeptable Formen des Steuerwettbewerbs einigen und Unternehmen müssen zur Einhaltung der Vorschriften und Grundsätze verpflichtet werden, die von und zwischen den Staaten vereinbart wurden.

7.6.

Als Reaktion auf die zunehmenden Bedenken der Staats- und Regierungschefs der G20 hinsichtlich der Rechtsunsicherheit in Steuerbelangen und deren Auswirkungen auf grenzüberschreitende Geschäfte und Investitionen, insbesondere im Rahmen der Besteuerung auf internationaler Ebene, haben die OECD und der IWF jüngst einen gemeinsamen Bericht über Rechtssicherheit im Steuerbereich veröffentlicht.

7.7.

In ihrem Bericht „Paying Taxes 2018“ (32) stellt die Weltbank fest, dass die Steuerlast für viele Unternehmen in den Entwicklungsländern bereits sehr hoch ist. Beispielsweise liegt der effektive Steuersatz für mittelständische Unternehmen in Afrika südlich der Sahara 7 Prozentpunkte über dem Weltdurchschnitt. Steuerpolitische Maßnahmen, die insbesondere in Entwicklungsländern Investitionen und Innovationen fördern, würden die Attraktivität für ausländische Direktinvestitionen erheblich erhöhen. Als Folge würden menschenwürdige Arbeit, Innovation und Produktivität gefördert und das Bruttoinlandsprodukt wirksam gesteigert.

7.8.

Unternehmen müssen für die Steuerbehörden transparent sein. Das Hauptziel der länderbezogenen Berichterstattung ist es laut OECD, ein hochwertiges Instrument für Risikobewertungen zu entwickeln, damit sich die Steuerbehörden einen besseren Überblick über die Aktivitäten und gezahlten Steuern multinationaler Unternehmen verschaffen können. Es dient ausdrücklich nicht zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlage. Andererseits müssen auch die Regierungen transparent sein bezüglich Höhe und Verwendung der Steuereinnahmen.

7.9.

Mitunter wird fälschlicherweise davon ausgegangen, dass Entwicklungspolitik vollständig oder zu großen Teilen durch das Vorgehen gegen die fragwürdigen Steuerpraktiken multinationaler Unternehmen finanziert werden kann. Unabhängigen OECD Schätzungen zufolge betrug die Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung multinationaler Unternehmen zwischen 100 Mrd. und 240 Mrd. USD, bevor Gegenmaßnahmen ergriffen wurden (33). Laut Schätzungen beläuft sich dieser Betrag in der EU auf 0,3 % des BIP (34). Das ist zwar ein beträchtlicher Betrag, doch er reicht nicht aus, um die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele zu finanzieren. Zudem ist es wahrscheinlich, dass diese Mittel nicht den Ländern mit dem größten Finanzierungsbedarf zugutekommen. Die wichtigste Einnahmequelle für die Finanzierung der Nachhaltigkeitsziele ist nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Daher bedarf es einer Steuerpolitik, die ein nachhaltiges Wachstum der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Umwelt fördert, um diese Ziele zu erreichen.

7.10.

Der EWSA begrüßt die gemeinsam von den Vereinten Nationen, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbankgruppe (WBG) gegründete Plattform für die Zusammenarbeit im Steuerbereich, da mit ihrer Hilfe die Interaktionen bei der Normung, beim Aufbau von Kapazitäten sowie bei der technischen Unterstützung im Bereich der internationalen Besteuerung vereinfacht werden. Der EWSA ist der Ansicht, dass sich die Europäische Union ebenfalls an der Plattform beteiligen sollte.

7.11.

Nach Auffassung des EWSA sind die Arbeiten des Sachverständigenausschusses der Vereinten Nationen für internationale Zusammenarbeit in Steuerfragen zur Thematik Besteuerung/Privatinvestitionen und Nachhaltigkeitsziele von größter Bedeutung, um den globalen Dialog voranzubringen. Sie leisten auch einen wichtigen Beitrag zum Peer-Learning und zum Austausch bewährter Verfahren. Der EWSA betont, dass die europäische Zivilgesellschaft bei dieser wichtigen internationalen Debatte eine aktive Rolle spielen muss.

Brüssel, den 11. Dezember 2019

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  https://sustainabledevelopment.un.org/topics/sustainabledevelopmentgoals.

(2)  http://www.oecd.org/tax/beps/.

(3)  http://www.oecd.org/publications/policy-coherence-for-sustainable-development-2018-9789264301061-en.htm.

(4)  https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/8325/wps3645.pdf?sequence=1&isAllowed=y.

(5)  Ziel 13 — Umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen.

(6)  Ziel 14 — Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen; Ziel 15 — Landökosysteme schützen, wiederherstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern, Wälder nachhaltig bewirtschaften, Wüstenbildung bekämpfen, Bodenverschlechterung stoppen und umkehren und den Biodiversitätsverlust stoppen.

(7)  Ziel 7 — Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie für alle sichern.

(8)  Ziel 12 — Für nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sorgen.

(9)  Weitere Informationen: Unternehmenscharta für nachhaltige Entwicklung der Internationalen Handelskammer, https://iccwbo.org/content/uploads/sites/3/2015/09/ICC-Business-Charter-for-Sustainable-Development-Business-contributions-to-the-UN-Sustainable-Development-Goals.pdf.

(10)  Zielvorgabe 12.c — Marktverzerrungen in Einklang mit den nationalen Gegebenheiten abbauen, um so ineffiziente Subventionen für fossile Brennstoffe, die Verschwendung begünstigen, zu rationalisieren, etwa durch die Umgestaltung der Besteuerung und schrittweise Beendigung dieser schädlichen Subventionen, um deren Auswirkungen auf die Umwelt aufzuzeigen und den spezifischen Bedürfnissen der Entwicklungsländer und den dort vorherrschenden Bedingungen vollumfänglich Rechnung zu tragen und etwaige negative Auswirkungen auf ihre Entwicklung weitestgehend zu verringern, sodass arme und betroffene Gemeinschaften geschützt werden.

(11)  Zielvorgabe 7.2 — Den Anteil der erneuerbaren Energien am weltweiten Energieträgermix bis 2030 deutlich erhöhen.

(12)  Zielvorgabe 7.1 — Den allgemeinen Zugang zu bezahlbaren, verlässlichen und modernen Energiedienstleistungen bis 2030 sichern.

(13)  Zielvorgabe 7.b — Bis 2030 die Infrastruktur ausbauen und Technologien weiterentwickeln, um allen Menschen in Entwicklungsländern den Zugang zu modernen und nachhaltigen Energiedienstleistungen zu ermöglichen, insbesondere in den am wenigsten entwickelten Ländern, in kleinen Inselentwicklungsländern sowie in Entwicklungsländern ohne Meereszugang und in Einklang mit ihren jeweiligen Unterstützungsprogrammen.

(14)  Zielvorgabe 8.4 — In Einklang mit dem Zehnjahres-Programmrahmen für nachhaltigen Konsum und nachhaltige Produktion unter Führung der Industrieländer die weltweite Ressourceneffizienz bei Verbrauch und Produktion bis 2030 kontinuierlich verbessern und Anstrengungen zur Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Umweltzerstörung unternehmen.

(15)  https://sustainabledevelopment.un.org/index.php?page=view&type=400&nr=2051&menu=35.

(16)  In Erarbeitung befindliche Stellungnahme des EWSA Die nachhaltige Wirtschaft, die wir brauchen (noch nicht veröffentlicht), Ziffer 1.10. Der EWSA fordert die Kommission auf, ein Konzept für eine ökologisch orientierte Steuerreform in den Mitgliedstaaten zu entwickeln und die Angleichung von Steuern, Beihilfen und prädistributiven Maßnahmen zu unterstützen, um einen gerechten Übergang zu einer Ökonomie des Wohlergehens zu erreichen.

(17)  EWSA-Stellungnahme „Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft — Europäische Nachhaltigkeitspolitik“ (ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 91).

(18)  Zielvorgabe 16.a — Die zuständigen nationalen Institutionen namentlich durch internationale Zusammenarbeit beim Kapazitätsaufbau auf allen Ebenen zur Verhütung von Gewalt und zur Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität unterstützen, insbesondere in den Entwicklungsländern.

Zielvorgabe 16.6 — Wirksame, rechenschaftspflichtige und transparente Institutionen auf sämtlichen Ebenen schaffen.

(19)  Zielvorgabe 8.10 — Die Leistungsfähigkeit einheimischer Finanzinstitutionen stärken, um den Zugang zu Bank-, Versicherungs- und Finanzdienstleistungen für alle zu fördern und auszubauen.

(20)  Zielvorgabe 8.5 — Bis 2030 produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle Frauen und Männer, einschließlich junger Menschen und Menschen mit Behinderungen, sowie gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit erreichen.

(21)  Der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen (IPCC) hat ein solches Programm ins Leben gerufen.

(22)  Zielvorgabe 17.1 — Die Mobilisierung einheimischer Ressourcen mithilfe internationaler Unterstützung für Entwicklungsländer fördern, um die nationalen Kapazitäten zur Erhebung von Steuern und anderen Abgaben zu verbessern.

(23)  Einige dieser Punkte werden in folgendem Artikel erörtert: Promoting Tax Bargains in Uganda and Beyond: The Importance of Civil Society and Parliamentarians.

(24)  Zielvorgabe 5.a — Reformen umsetzen, um Frauen in Einklang mit der nationalen Gesetzgebung gleiche Rechte auf wirtschaftliche Ressourcen zu gewähren und ihnen die Möglichkeit einzuräumen, Eigentum an Land sowie andere Formen von Eigentum zu halten und darüber zu verfügen und Finanzdienstleistungen, Erbschaften und natürliche Ressourcen in Anspruch zu nehmen.

(25)  Zielvorgabe 5.5 — Die volle und wirksame Teilhabe von Frauen sowie ihre Chancengleichheit bei der Übernahme von Führungsrollen auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung im politischen, wirtschaftlichen und öffentlichen Leben sicherstellen.

(26)  Siehe EWSA-Stellungnahme „Besteuerung der digitalisierten Wirtschaft“ (ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 17).

(27)  Siehe EWSA-Stellungnahmen „Besteuerung der Gewinne der digitalen Wirtschaft“ (ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 73) und zur Besteuerung der digitalisierten Wirtschaft (ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 17).

(28)  http://www.oecd.org/tax/tax-challenges-arising-from-digitalisation-interim-report-9789264293083-en.htm.

(29)  Der Inklusive Rahmen der OECD.

(30)  Siehe Wirtschaftscharta für die nachhaltige Entwicklung der ICC (2015).

(31)  Ziel 8 — Dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern.

(32)  https://www.doingbusiness.org/en/reports/thematic-reports/paying-taxes.

(33)  BEPS-Bericht (2015), OECD.

(34)  siehe EWSA-Stellungnahme „Besteuerung — Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit“ (ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 90).


24.3.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 97/9


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Ein verbindliches UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte“

(Initiativstellungnahme)

(2020/C 97/02)

Berichterstatter:

Thomas WAGNSONNER

Beschluss des Plenums

24.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

28.11.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

11.12.2019

Plenartagung Nr.

548

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

136/23/12

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Schlussfolgerungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt uneingeschränkt die Menschenrechte, die universell, unveräußerlich und unteilbar sind, sich gegenseitig bedingen und miteinander verknüpft sind, als unabdingbare Voraussetzung für jedwedes gesellschaftliche Engagement. Die Menschenrechte bilden eine Grundlage für Europas Wohlstand und ein friedliches Leben. Der EWSA betont, dass alle sozialen und politischen Menschenrechte allen Menschen ein menschenwürdiges Leben gewährleisten müssen und dass aus ihrer Verletzung kein Profit geschlagen werden darf.

1.2.

Verletzungen der Menschenrechte können besser verhindert werden, wenn es verbindliche international vereinbarte Standards gibt, die von den Staaten umgesetzt und geschützt werden müssen. Der EWSA begrüßt einen Ansatz, der davon ausgeht, dass es die Pflicht der Staaten ist, die Menschenrechte zu schützen, zu fördern und umzusetzen, und dass Unternehmen diese Rechte achten müssen.

1.3.

Der EWSA begrüßt, dass von der EU vorgeschlagene wesentliche Aspekte im vorliegenden Textentwurf berücksichtigt wurden, wie die Empfehlungen zur Anwendung auf sämtliche Unternehmen und eine stärkere konzeptionelle Orientierung an den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte (UNGP). Im Sinne einer einfacheren Umsetzung und zur Vermeidung von Überschneidungen sind die Vorschriften im Einklang mit den bestehenden Sorgfaltspflichtregelungen, insbesondere mit den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte, zu gestalten.

1.4.

Da sich der Anwendungsbereich des Entwurfs des Abkommens entsprechend den Empfehlungen der EU nunmehr auf sämtliche Geschäftstätigkeiten (grundsätzlich ohne Berücksichtigung ihres Umfangs) erstreckt, fordert der EWSA die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen zu ergreifen, um Unternehmen bei der Umsetzung ihrer Menschenrechtsverpflichtungen zu unterstützen. Ausgangspunkt könnten, gerade mit Blick auf internationale Aktivitäten, die bereits vorhandenen freiwilligen Verpflichtungen im Bereich der sozialen Verantwortung von Unternehmen sein. Der EWSA verweist auf die Schwierigkeiten, mit denen KMU bei der Durchführung der in einem derartigen Abkommen vorgesehenen Maßnahmen konfrontiert sind, und fordert die EU und ihre Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, kleinen und mittleren Unternehmen eine entschiedene Unterstützung sowie einfache praktische Rahmenbedingungen zu bieten, damit diese Unternehmen im Rahmen ihrer Tätigkeiten die Einhaltung der Menschenrechte gewährleisten können.

1.5.

Der EWSA betont, dass nicht-verbindliche und verbindliche Maßnahmen einander nicht ausschließen, sondern ergänzen müssen.

1.6.

Systeme wie die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen und die Standards für die Berichterstattung im Rahmen der Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte zeigen, dass es bereits praktische Wege gibt, auf Unternehmensseite strenge Verhaltensnormen im Bereich der Menschenrechte umzusetzen. Denjenigen Unternehmen, die sich bereits zur Einhaltung dieser Standards verpflichtet haben, sollten keine zusätzlichen Belastungen entstehen. Zur Vermeidung von Überschneidungen ist das im Rahmen des Umsetzungsmechanismus vorgesehene Fakultativprotokoll an dem System der nationalen Kontaktstellen der OECD auszurichten, das an verbindliche Regeln oder andere bestehende nationale Menschenrechtsinstitutionen (NMRI) angepasst werden müsste.

1.7.

Trotz der äußerst anerkennenswerten großen Fortschritte, die vor allem in Europa bei unverbindlichen Leitlinien zur Achtung der Menschenrechte in der Wirtschaft erzielt wurden (etwa UNGP, OECD-Leitsätze), ist ein verbindliches Abkommen mit Blick auf diejenigen Unternehmen wichtig, die noch nicht bereit sind, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Auf diese Weise wird weltweit Einheitlichkeit bei den Menschenrechtsnormen sowie bei der gerichtlichen Zuständigkeit und dem anwendbaren Recht gewährleistet und sichergestellt, dass Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen einen fairen und wirksamen Zugang zur Justiz erhalten. Damit können auch gleiche Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen sowie Rechtssicherheit und ein gerechterer globaler Wettbewerb geschaffen werden.

1.8.

Der EWSA empfiehlt, dass die gerichtliche Zuständigkeit für die Durchführung eines fairen Verfahrens bei einem Forum (1) liegt‚ insbesondere, wenn nicht feststeht, ob die Muttergesellschaft, eine ihrer Tochtergesellschaften oder einer ihrer Zulieferer potenziell haftbar ist, selbst wenn diese Unternehmen in verschiedenen Ländern ansässig sind. Der EWSA betont, dass strenge Vorschriften über gegenseitige Rechtshilfe der Wahl des jeweils günstigsten Gerichtsstands (Forum Shopping) einen Riegel vorschieben können.

1.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die unbefristete zwischenstaatliche Arbeitsgruppe ihre Arbeit fortsetzen muss, und ist auch bereit, seinen Beitrag zu leisten und den Standpunkt der organisierten Zivilgesellschaft zu formulieren. Der EWSA bekräftigt, dass der soziale Dialog, die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft einen erheblichen Beitrag zur Einhaltung der Menschenrechte leisten.

Empfehlungen

1.10.

Im Interesse der Stärkung und Förderung der Menschenrechte und der Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen auf der Grundlage kohärenter und strenger weltweiter Standards fordert der EWSA die Organe der EU, insbesondere die Europäische Kommission und den Europäischen Rat, ebenso wie die Mitgliedstaaten auf, das laufende Verfahren zur Ausarbeitung des Abkommens zu unterstützen und sich konstruktiv an diesen Verhandlungen zu beteiligen.

1.11.

Der vorliegende Entwurf lässt Spielraum für grundlegende Verbesserungen, der wahrgenommen werden muss. Die Europäische Kommission benötigt ein klares Mandat, um das erforderliche europäische Engagement zu koordinieren.

1.12.

Der EWSA empfiehlt darüber hinaus Bestimmungen, die eine gewisse Flexibilität zwischen angemessenen (und nicht übermäßig belastenden) Vorgaben für KMU einerseits und strengeren Vorschriften für mit hohem Risiko behaftete Industriezweige andererseits ermöglichen. Zudem muss die EU besondere Unterstützungsinstrumente anbieten, um KMU bei der Bewältigung der mit einem derartigen Abkommen verbundenen Herausforderungen zu unterstützen (z. B. eine Agentur, Unterstützung des kollegialen Lernens).

1.13.

Der EWSA befürwortet die Entschließungen des Europäischen Parlaments (EP) (2) ohne jeden Vorbehalt. Vor allem fordert er einen entschiedenen Einsatz für die Entwicklung eines verbindlichen Instruments und verweist insbesondere auf die Notwendigkeit eines internationalen Beschwerde- und Überwachungsmechanismus. Der EWSA stellt fest, dass auch internationale Systeme wie das Beschwerdeverfahren der IAO existieren, die als Muster für eine ehrgeizigere internationale Durchsetzung dienen können, da verbindliche Vorschriften ohne ein starkes Engagement der Staaten und Durchsetzungsmechanismen keine Wirksamkeit entfalten werden.

1.14.

Zur Gewährleistung der Sorgfaltspflicht im Bereich der Menschenrechte müssen dort, wo derartige Pläne noch nicht bestehen, nationale Aktionspläne ausgearbeitet werden. Nötig ist zudem ein europäischer Aktionsplan. Bei der Entwicklung, Umsetzung und Durchsetzung der Aktionspläne muss die organisierte Zivilgesellschaft einbezogen werden.

1.15.

Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission, zu prüfen, inwieweit für den Bereich Menschenrechte im wirtschaftlichen Kontext eine EU-Ratingagentur in öffentlicher Hand realisierbar ist.

1.16.

Der EWSA empfiehlt einen starken internationalen Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismus, der die Möglichkeit bietet, Beschwerden einem internationalen Ausschuss vorzulegen. Darüber hinaus muss es einen unabhängigen UN-Beamten (Ombudsmann) geben, der im Falle von Menschenrechtsverletzungen Untersuchungen durchführt und gegebenenfalls Ansprüche der Opfer unterstützt sowie erhobene Vorwürfe zu Verstößen unabhängig weiterverfolgt und dem Ausschuss vorlegt.

1.17.

Die Definition des Begriffs Menschenrechte ist im Entwurf sehr weit gefasst. In der Präambel des Abkommensentwurfs muss auf die „Dreigliedrige Grundsatzerklärung der IAO über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik“ sowie auf die Ziele für nachhaltige Entwicklung als für die Auslegung des Abkommens grundlegende Texte verwiesen werden. Insbesondere muss deutlicher auf Menschenrechte wie das Recht auf eine gesunde Umwelt, Bildung und Datenschutz Bezug genommen werden. Diese Rechte sind in den Geltungsbereich des Abkommens einzubeziehen.

1.18.

Im Entwurf wird bereits eine Auswahl verschiedener zuständiger Gerichtsbarkeiten genannt, die noch einer weiteren Präzisierung bedarf. Wenn ein Unternehmen im Rahmen seiner Geschäftstätigkeit in transnationalen Lieferketten tätig ist, muss nach Auffassung des EWSA sichergestellt sein, dass eine gerichtliche Zuständigkeit im Niederlassungsland des Unternehmens geltend gemacht werden kann. Außerdem muss deutlich gemacht werden, dass lokale Tochterunternehmen und Zulieferer in dem Land verklagt oder zumindest gemeinsam in Anspruch genommen werden können, in dem das Mutter- bzw. begünstigte Unternehmen ansässig ist.

1.19.

Der EWSA verweist auf die Bedeutung von Zeugen und die Rolle von Hinweisgebern. Er begrüßt die im vorliegenden Textentwurf enthaltenen Schutzbestimmungen. Nichtregierungsorganisationen, die in diesem Bereich aktiv sind, sind zu unterstützen.

1.20.

Der EWSA ist der Ansicht, dass das Zusammenspiel von Sorgfaltspflicht und Haftung präzisiert werden muss. Dazu gehören auch eindeutige und praktische Bestimmungen, mit denen sichergestellt wird, dass zur Sorgfaltspflicht auch eine kontinuierliche Beobachtung in den Lieferketten und (sollte diese versagen) auch die entsprechende Haftung gehören. Bei der weiteren Präzisierung ist von den Konzepten auszugehen, die bereits für die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte entwickelt wurden.

1.21.

Nach Ansicht des EWSA muss grobe Fahrlässigkeit eine strafrechtliche Haftung begründen. Bei weniger schweren Verstößen, wie etwa der Vernachlässigung der Verpflichtung zur regelmäßigen Berichterstattung, ist eine verwaltungsrechtliche Haftung festzulegen.

1.22.

Der Textentwurf enthält für die zivilrechtliche Haftung eine Bestimmung über die Umkehr der Beweislast. Diese ist zu präzisieren, damit in den verschiedenen Gerichtsbarkeiten eine einheitliche Anwendung sichergestellt ist und gewährleistet wird, dass Opfer gegebenenfalls auf die Anwendung dieser Bestimmung vertrauen können.

1.23.

Mit Blick auf Handels- und Investitionsabkommen ist deutlich zu machen, dass Durchführungsmaßnahmen für ein Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte gerechtfertigt sind und nicht im Rahmen der Beilegung von Investitionsstreitigkeiten umgangen werden dürfen (3).

1.24.

Der vorliegende Entwurf sieht die Möglichkeit vor, sich über eine Opt-in-Klausel einem Streitbeilegungssystem anzuschließen. Dies ist mit Blick auf die bestehenden Rahmen zu überdenken, da diejenigen der neun wichtigsten Menschenrechtsinstrumente, die eine Streitbeilegung vorsehen, eine Opt-out-Klausel enthalten.

1.25.

Der EWSA begrüßt, dass in dem vorliegenden Entwurf der Aspekt der Rechtshilfe behandelt wird. Allerdings gab es bei den Bestimmungen über die Verfahrenskosten wesentliche Änderungen. Außer im Falle missbräuchlicher Klagen dürfen Opfer nicht verpflichtet werden, die Kosten des Verfahrens zu tragen.

1.26.

Der EWSA unterstützt ein rechtsverbindliches Instrument zu Wirtschaft und Menschenrechten. Er plädiert jedoch nachdrücklich für eine enge Zusammenarbeit mit Sozialpartnern und zivilgesellschaftlichen Organisationen.

2.   Hintergrund

2.1.

Die Nachhaltigkeitsziele sind auf verschiedene Weise auf Verbesserungen der Arbeitsbeziehungen, nachhaltige Produktion und nachhaltigen Konsum sowie auf ein verlässliches Bekenntnis zur Achtung der Menschenrechte gerichtet. Ein rechtsverbindliches Abkommen, das einen internationalen Haftungsrahmen setzt, könnte diese Bemühungen erheblich voranbringen.

2.2.

Zu den internationalen Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte gehören die UNGP und der Globale Pakt der Vereinten Nationen (UNGC) sowie die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, die diesen bei ihrer Tätigkeit im Ausland und der Nutzung globaler Lieferketten einen Rahmen für Strategien für die soziale Verantwortung von Unternehmen sowie Wege der rechtlichen Umsetzung durch Strukturierung ihrer Verträge vorgeben. Darüber hinaus stellt die OECD für eine Reihe von Branchen Leitlinien zur Verfügung. Deren Wirkung als Anreiz für die Umsetzung der Sorgfaltspflicht in Lieferketten (4) zeigt, dass es im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen durchaus möglich ist, Risiken zu bewältigen und strenge Standards umzusetzen.

2.3.

Eine Verletzung der Menschenrechte hat Auswirkungen auf das Leben der Menschen, ihre Gemeinschaften, die Umwelt oder ihr Eigentum. Der EWSA begrüßt daher Initiativen wie die vorliegende (5) und betont‚ dass die Beteiligung der Zivilgesellschaft und der Gewerkschaften an den Verfahren zur Erfüllung der Sorgfaltspflicht wichtig ist. Der Stellenwert eines verantwortungsvollen unternehmerischen Handelns wird in der Wirtschaft nicht mehr angezweifelt. Die Zivilgesellschaft stellt ebenso wie die Gewerkschaften fest, dass Unternehmen bestrebt sind, die praktische Anwendung der Menschenrechte und ein besseres Geschäftsgebaren auszuweiten. In den laufenden Diskussionen über das Abkommen unterstreichen die Wirtschaftsvertreter, wie wichtig die weltweite Anwendung der Menschenrechte für alle Beschäftigten und die wirksame Umsetzung der IAO-Normen sowie der Vorschriften für die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sind. Berichte über die soziale Verantwortung von Unternehmen sind keine Marketinginstrumente, sondern zeigen, dass die Verantwortung tatsächlich ernst genommen wird. Der EWSA ruft die Mitgliedstaaten dazu auf, entschiedene Maßnahmen zur Umsetzung ihrer Menschenrechtspolitik zu ergreifen und Unternehmen bei ihrem freiwilligen Engagement im Bereich ihrer sozialen Verantwortung zu unterstützen, insbesondere im Rahmen internationaler Aktivitäten.

2.4.

Freiwillige Maßnahmen allein reichen jedoch nicht aus, um sämtliche Rechtsverletzungen zu verhindern (6). Rechtsverbindliche und mit angemessenen Sanktionen bewehrte Maßnahmen würden die Einhaltung gesetzlicher Mindestvorgaben sicherstellen, auch durch diejenigen Unternehmen, die ihre moralische Verantwortung nicht so ernst nehmen wie Unternehmen, die hohe Menschenrechtsstandards anwenden, etwa auf der Grundlage der Leitprinzipien der Vereinten Nationen. Im Sinne einer einfachen Umsetzung und zur Vermeidung von Überschneidungen müssen verbindliche Vorschriften im Einklang mit den bestehenden Sorgfaltspflichtregelungen, insbesondere mit den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte, gestaltet werden. Freiwillige und verbindliche Maßnahmen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen einander.

2.5.

Der EWSA erkennt an, dass sich die meisten Unternehmen, insbesondere in der EU, für die Achtung der Menschenrechte einsetzen. Laut den Statistiken der Internationalen Arbeitsorganisation werden jedoch weltweit von Unternehmen, die sich nicht ausreichend zur Umsetzung der Menschenrechte in ihrer Wertschöpfungskette verpflichtet haben, in den Bereichen Baugewerbe, verarbeitendes Gewerbe, Bergbau, Versorgung und Landwirtschaft durch Zwangsarbeit 43 Mrd. USD erwirtschaftet.

2.6.

Professionelle Anleger haben zusammen mit Menschenrechtsorganisationen den „Corporate Human Rights Benchmark“ (Menschenrechtsbezugsrahmen für Unternehmen) (7) ins Leben gerufen. Dieser Bezugsrahmen soll es Anlegern ermöglichen, festzustellen, welche Unternehmen verantwortungsvoll handeln, weshalb ein gutes Abschneiden im Interesse der Unternehmen liegt. Hier zeigt sich, dass die Leitprinzipien der Vereinten Nationen in vielen im Bezugsrahmen bewerteten Unternehmen nur unzureichend umgesetzt werden. Besonders hervorzuheben sind weltweit und besonders in Europa tätige Unternehmen wie McDonalds und Starbucks, die bei der Bewertung ihrer Umsetzung der Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte schlecht abschneiden. Auf internationaler Ebene verschaffen sich außereuropäische Unternehmen so stets aufs Neue Wettbewerbsvorteile gegenüber europäischen Unternehmen, die sich zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet haben. Mehr als 40 % der bewerteten Unternehmen erhalten mit Blick auf die Sorgfaltspflicht im Bereich der Menschenrechte überhaupt keine Punkte, und zwei Drittel der im Bezugsrahmen bewerteten Unternehmen, darunter auch europäische, liegen bei der Umsetzung der UNGP unter 30 %.

2.7.

Auch wenn sich die große Mehrheit der Unternehmen den Menschenrechten verpflichtet fühlt, kommt es im Rahmen von Geschäftstätigkeiten immer wieder zu Verstößen. Ein verbindliches Abkommen würde im Interesse der Opfer sicherstellen, dass weltweit einheitliche Menschenrechtsnormen, ein anwendbares Recht und ein fairer Zugang zu Behörden und Gerichten gegeben sind. Damit könnten auch gleiche Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen sowie Rechtssicherheit und ein gerechterer globaler Wettbewerb geschaffen werden.

2.8.

Die EU hat es sich zur Aufgabe gesetzt, in ihrer Außenpolitik die Menschenrechte zu fördern und zu verbreiten. Die EU-Verordnung über Mineralien aus Konfliktgebieten, die Richtlinie über die Angabe nichtfinanzieller Informationen und die Holzverordnung sind Beispiele, wie die Sorgfaltspflicht im Bereich der Menschenrechte gestärkt wurde. Freihandelsabkommen enthalten Bestimmungen zum Schutz dieser Rechte. Einige Mitgliedstaaten der EU, insbesondere Frankreich, aber auch das Vereinigte Königreich und die Niederlande, haben Gesetze zur Verbesserung der Rechenschaftspflicht von Unternehmen und strengere Rahmenvorgaben für eine Sorgfaltspflicht im Bereich der Menschenrechte verabschiedet. Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte hat die europäischen Zuständigkeiten in den Bereichen Wirtschaft und Menschenrechte untersucht und kommt zu dem Schluss, dass stichhaltige Gründe dafürsprechen, dass sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten über Zuständigkeiten verfügen (8). Dementsprechend rät sie eine offene Methode der Koordinierung an. Die Frage der Zuständigkeiten muss geklärt werden, bevor das Abkommen förmlich ratifiziert wird. Grundsätzlich ist jedoch von einer gemischten Zuständigkeit auszugehen. Verfahren wegen Grundrechtsverletzungen durch Unternehmen werden indirekt über das Verwaltungs-, Zivil- oder Strafrecht abgewickelt. Es werden Fragen des internationalen Privatrechts und des internationalen (Unternehmens-)Strafrechts aufgeworfen, die in der EU bis zu einem gewissen Grad harmonisiert wurden.

2.9.

Das EP hat eine Reihe von Entschließungen zu diesem Thema verabschiedet und sich nachdrücklich für eine aktive Beteiligung an den Verhandlungen über ein rechtsverbindliches Instrument ausgesprochen. Es hat außerdem eine Studie zum Thema „Access to legal remedies for victims of corporate human rights abuses in third countries“ (9) [Zugang zu Rechtsmitteln für Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen in Drittländern] in Auftrag gegeben, in der konkrete Empfehlungen zur Verbesserung eines derartigen Zugangs an die EU-Organe gerichtet werden.

2.10.

Der Rat hat bei der Grundrechteagentur eine Stellungnahme zum Thema „Improving access to remedy in the area of business and human rights at the EU level“ [Verbesserung des Zugangs zu Rechtsmitteln im Bereich der Wirtschaft und der Menschenrechte auf Ebene der EU] in Auftrag gegeben. In dieser Stellungnahme wurde festgestellt, dass in vielen Bereichen Verbesserungen nötig sind.

2.11.

2014 verabschiedete der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen die Resolution 26/9. Darin wurde beschlossen, eine unbefristete zwischenstaatliche Arbeitsgruppe zu transnationalen Unternehmen und anderen Firmen in Bezug auf Menschenrechte einzusetzen, die im Rahmen der internationalen Menschenrechtsnormen ein internationales rechtsverbindliches Instrument zur Regulierung der Tätigkeiten transnationaler Unternehmen und anderer Firmen ausarbeitet. Die Resolution wurde von vielen Entwicklungsländern unterstützt. Der vorliegende Entwurf wurde im Juli 2019 vorgelegt.

2.12.

Die EU war an der Arbeitsgruppe beteiligt, hat sich jedoch mit Verweis auf eine Reihe von Punkten von den Ergebnissen der Arbeitsgruppensitzung im Oktober 2018 distanziert. Die strittigsten Punkte waren offenbar Fragen der Anwendbarkeit auf alle und nicht nur auf transnationale Unternehmen, die stärkere Ausrichtung auf die UNGP und ein transparenteres Verfahren. Der vorliegende Entwurf des Textes legt nahe, dass wesentliche von der EU vorgeschlagene Punkte Berücksichtigung gefunden haben. Angesichts der rechtlichen Aspekte der Harmonisierung sollte sich die EU mit Blick auf die Vertretung der Interessen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten mit einem offiziellen Verhandlungsmandat intensiv an dem Verfahren beteiligen.

2.13.

Einige große Wirtschaftsnationen beteiligen sich bisher gar nicht aktiv (z. B. die USA) oder anscheinend nur geringfügig (z. B. China) an der Aushandlung des Abkommens. Dabei dient ein breit gefasstes Abkommen der Förderung eines verantwortungsvollen unternehmerischen Handelns, auch von Unternehmen aus diesen wirtschaftlich wichtigen Staaten. Auch wenn sie das verbindliche Abkommen nicht ratifizieren, wird durch das Abkommen mit der Aufnahme ihrer Geschäftstätigkeit im europäischen Binnenmarkt eine potentielle Haftung in Europa begründet. Wenn diese Länder dann weiterhin von den europäischen Märkten profitieren wollen, müssten sie strengere Vorschriften über die Sorgfaltspflicht im Bereich der Menschenrechte anwenden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA unterstützt uneingeschränkt die Menschenrechte, die universell, unveräußerlich und unteilbar sind, sich gegenseitig bedingen und miteinander verknüpft sind, als unabdingbare Voraussetzung jedwedes gesellschaftlichen Engagements, sei es in der Politik, in der internationalen Zusammenarbeit, im sozialen Dialog, in der Wirtschaft oder im Geschäftsleben. Die Menschenrechte bilden eine Grundlage für Europas Wohlstand und ein friedliches Leben auf unserem Kontinent. Darüber hinaus sind sie sowie das europäische Sozialstaatsmodell (einschließlich universeller Bildungssysteme) seit jeher Garant für wirtschaftliche Entwicklung und materiellen Wohlstand. Der EWSA betont, dass alle sozialen und politischen Menschenrechte allen Menschen in der Welt ein menschenwürdiges Leben gewährleisten müssen und dass aus ihrer Verletzung kein Profit geschlagen werden darf.

3.2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen das vorrangige Ziel eines verbindlichen Abkommens sein sollte. Wenn es einen international vereinbarten verbindlichen Mindeststandard für unternehmerisches Handeln gibt, benötigen Unternehmen noch mehr Unterstützung und Hilfestellung bei der Umsetzung von Maßnahmen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen sich deshalb ihrer Verantwortung stellen und gewährleisten, dass verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln nicht zu einer Verzerrung des Wettbewerbs führt.

3.3.

Der EWSA befürwortet die Entschließungen des EP ohne jeden Vorbehalt. Er fordert erneut einen entschiedenen Einsatz für die Entwicklung eines verbindlichen Instruments unter Berücksichtigung der in den Entschließungen genannten Notwendigkeit eines Beschwerdemechanismus und eine aktive Beteiligung an dem entsprechenden Verfahren in Genf. Die Europäische Kommission sollte auf Grundlage dieser Entschließungen tätig werden und sich nachdrücklich für die entsprechenden Ziele einsetzen.

3.4.

Der EWSA stimmt außerdem den Ausführungen des EP zu, dass das verbindliche Abkommen folgende Kriterien erfüllen muss:

Es muss auf den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte beruhen;

es muss verbindliche Sorgfaltspflichten für transnationale und sonstige Wirtschaftsunternehmen sowie für deren Tochterunternehmen festlegen;

es muss die extraterritorialen Menschenrechtsverpflichtungen von Staaten und die Verabschiedung entsprechender Regulierungsmaßnahmen anerkennen;

es muss die strafrechtliche Haftung von Unternehmen vorsehen;

es muss Mechanismen für die Koordinierung und die Zusammenarbeit zwischen Staaten zur Untersuchung, strafrechtlichen Verfolgung und Durchsetzung grenzüberschreitender Fälle vorsehen sowie

die Einführung internationaler gerichtlicher und außergerichtlicher Mechanismen für die Überwachung und Durchsetzung umfassen.

3.5.

Der EWSA teilt auch die Auffassung des EP, dass die Möglichkeit der Wahl der gerichtlichen Zuständigkeit durch die Beschwerdeführer einen Anreiz für die Staaten darstellt, strenge Regeln und gerechte Rechtssysteme zu schaffen, damit derartige Fälle in ihrer Zuständigkeit verbleiben. Die Durchsetzungsmechanismen sollten jedoch sicherstellen, dass es im Interesse der Staaten liegt, Rechtsvorschriften für eine verbindliche Sorgfaltspflicht bezüglich Unternehmen und Menschenrechte zu erlassen. Es bestehen auch internationale Systeme wie das Beschwerdeverfahren der IAO, die als Muster für eine ehrgeizigere internationale Durchsetzung dienen können.

3.6.

Verbindliche Regeln dürfen nicht dazu führen, dass Unternehmen, die ein verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln an den Tag legen, Ziel missbräuchlicher Klagen werden. Es ist eindeutig festzulegen, in welchem Maße Unternehmen aufgrund eines verbindlichen Rechtsakts für Verstöße verantwortlich sind. Dementsprechend können Rechtsverletzungen besser verhindert werden, wenn es verbindliche international vereinbarte Standards gibt, die von den Staaten umgesetzt und geschützt werden. Dem entspricht auch der derzeitige Ansatz des Textentwurfs: Den Unternehmen werden keine unmittelbaren Verpflichtungen auferlegt, sondern die Staaten werden entsprechend ihren eigenen Rechtssystemen zur Umsetzung eines vereinbarten Standards verpflichtet.

3.7.

In der EP-Studie und in der oben genannten Stellungnahme der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte werden konkrete Probleme untersucht, die regelmäßig auftreten, wenn Menschen vor europäischen Gerichten versuchen, Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen, deren Tochtergesellschaften oder in ihrer Lieferkette geltend zu machen.

3.7.1.

Die Zuständigkeit europäischer Gerichte beschränkt sich in der Regel auf europäische Beklagte, was bedeutet, dass es möglich ist, ein in Europa ansässiges Unternehmen vor einem europäischen Gericht zu verklagen, in der Regel aber nicht dessen Tochterunternehmen, die ihren Sitz in dem Land haben, in dem der Schaden eingetreten ist. Noch weiter entfernt von dem entsprechenden europäischen Unternehmen sind Lieferanten und Zwischenhändler in der Lieferkette. Der EWSA stellt fest, dass Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen im Rahmen der Menschenrechte Zugang zu fairen Verfahren, Gerichten und Behörden haben müssen. Insbesondere wenn nicht feststeht, ob die Muttergesellschaft, eine ihrer Tochtergesellschaften oder einer ihrer Zulieferer haftbar ist, muss die gerichtliche Zuständigkeit für die Durchführung eines fairen Verfahrens bei einem einzigen Forum liegen.

3.7.2.

In der EP-Studie wird auch auf Vermittlungsverfahren eingegangen, in denen Opfer ihre Ansprüche geltend machen können. Der EWSA begrüßt ausdrücklich solche wertvollen freiwilligen Verfahren, wie sie von der OECD, den UNGP und dem Globalen Pakt breiter bekannt gemacht wurden, stellt jedoch fest, dass diese Verfahren keine Lösung bieten, wenn Menschenrechte von Unternehmen verletzt werden, die die Menschenrechtsaspekte einer sozialen Verantwortung der Unternehmen nicht anwenden. Daher ist auch ein offizieller Verfahrensweg erforderlich.

3.7.3.

Aus praktischen Gründen fällt es Klägern häufig nicht leicht, Beweise vorzulegen. In vielen Verfahren ist eine große Anzahl von Menschen betroffen, und es bestehen Sprachbarrieren. Auch wenn der Nachweis, dass es sich bei einem Unternehmen vor Ort um ein Tochterunternehmen oder einen Zulieferer eines europäischen Unternehmens handelt, in der Regel nicht sonderlich schwer zu erbringen ist, gestaltet es sich für Opfer häufig äußerst schwierig, zu zeigen, wie groß die Kontrolle, die das europäische Unternehmen ausübt, tatsächlich ist. Wenn ein Gerichtsstand in der EU geltend gemacht werden kann, können enorme Verfahrenskosten anfallen, selbst wenn Opfer von Menschenrechtsverletzungen letztendlich mit ihrer Klage Erfolg haben. Die internationale justizielle Zusammenarbeit birgt erhebliches Verbesserungspotenzial. Der EWSA begrüßt, dass in dem vorliegenden Entwurf der Aspekt der Rechtshilfe behandelt wird, fordert allerdings, dass Opfer außer im Falle missbräuchlicher Klagen nicht verpflichtet sein dürfen, die Kosten des Verfahrens zu tragen.

3.8.

Wenn einzelne EU-Mitgliedstaaten beginnen, strengere verpflichtende Rahmenvorgaben für die Sorgfaltspflicht zu schaffen, wird dies innerhalb der EU zu einem Ungleichgewicht führen. Unternehmen, die in Mitgliedstaaten der EU mit strengeren Sorgfaltspflichten ansässig sind, dürfen im Wettbewerb gegenüber Unternehmen in Mitgliedstaaten mit weniger strengen Sorgfaltspflichten nicht benachteiligt werden. Der EWSA stellt fest, dass Unternehmen gleiche Wettbewerbsbedingungen und Rechtssicherheit bei klaren Pflichten haben müssen.

3.9.

Der EWSA hält das aktive Engagement und die Beteiligung von Vertretern der EU am bevorstehenden Verfahren deshalb für entscheidend. Es kann auch nicht im Interesse der EU und ihrer Mitgliedstaaten liegen, sich nicht aktiv an der Ausarbeitung eines Menschenrechtsabkommens mit potenziell weitreichenden Auswirkungen auf das internationale Handelssystem (10) zu beteiligen. Der vorliegende Entwurf lässt Spielraum für grundlegende Verbesserungen, der wahrgenommen werden muss. Die Organe der EU müssen ebenso wie die Mitgliedstaaten aktiv werden, und die Europäische Kommission benötigt ein klares Mandat, um das europäische Engagement koordinieren zu können.

3.10.

Da das Abkommen von den Mitgliedstaaten und der EU um- und durchgesetzt werden muss, sind in den Mitgliedstaaten, wo derartige Pläne noch nicht bestehen, nationale Aktionspläne auszuarbeiten, in denen dargelegt wird, wie die Sorgfaltspflicht im Bereich der Menschrechte umzusetzen ist. Es ist auch ein europäischer Aktionsplan zu erarbeiten, um sicherzustellen, dass alle Governance-Ebenen der EU entsprechend ihren Zuständigkeiten mitwirken. Bei der Entwicklung, Umsetzung und Durchsetzung der Aktionspläne muss die organisierte Zivilgesellschaft einbezogen werden.

3.11.

Die Europäische Kommission muss prüfen, inwieweit für den Bereich Menschenrechte im wirtschaftlichen Kontext eine EU-Ratingagentur in öffentlicher Hand realisierbar ist, und ein System entwickeln, auf dessen Grundlage Prüfungsgesellschaften zertifiziert und regelmäßig kontrolliert werden können (Kriterien, Überwachung). Eine derartige Agentur könnte Unternehmen (insbesondere KMU) unterstützen, indem sie versucht, deren menschenrechtsrelevante Tätigkeiten zu definieren und zu verbessern, was sich für die Unternehmen positiv auf Haftungsfragen auswirkt. In einer späteren Stellungnahme könnte intensiver auf dieses Konzept eingegangen werden.

3.12.

Die Verantwortung für die Menschenrechte sollte im Wirtschaftsbereich und in den entsprechenden Lehrplänen und Schulungen obligatorisch behandelt werden. Dieser Bildungsschwerpunkt könnte durch Bildungsprogramme der EU unterstützt werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Das Abkommen wird derzeit von einer Arbeitsgruppe des für die Umsetzung der UN-Menschenrechtsübereinkommen zuständigen Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen ausgearbeitet. Da es sich bei den Adressaten des Abkommens um Staaten und nicht um natürliche oder juristische Einzelpersonen (wie Unternehmen oder Personen, die Opfer eines Verstoßes geworden sind) handelt, ist die Einsetzung einer derartigen Arbeitsgruppe im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen sinnvoll, und andere Organisationen wie die IAO und die WTO können problemlos einbezogen werden. Der EWSA ist der Auffassung, dass die unbefristete zwischenstaatliche Arbeitsgruppe ihre Arbeit fortsetzen muss.

4.2.

Das Mandat der unbefristeten zwischenstaatlichen Arbeitsgruppe umfasst insbesondere transnationale Sachverhalte. Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften haben sich für einen breiteren Anwendungsbereich ausgesprochen, der sämtliche Unternehmen abdeckt (so z. B. auch staatseigene und inländische Unternehmen). Der EWSA begrüßt, dass in dem überarbeiteten Textentwurf diesen Forderungen grundsätzlich Rechnung getragen wird. Der Entwurf bedarf jedoch einer weiteren Präzisierung. In diesem Zusammenhang fordert der EWSA eine aktive Beteiligung der Organe der EU.

4.3.

Nötig ist ein starker internationaler Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismus, der die Möglichkeit bietet, einzelne Beschwerden dem internationalen Ausschuss vorzulegen. Darüber hinaus muss es für Opfer von Menschenrechtsverletzungen einen unabhängigen UN-Beamten (Ombudsmann) geben, der Untersuchungen durchführt und gegebenenfalls Ansprüche unterstützt sowie Vorwürfe zu Verstößen unabhängig weiterverfolgt und dem Ausschuss vorlegt.

4.4.

Die Definition des Begriffs Menschenrechte ist im Entwurf sehr weit gefasst. Der EWSA begrüßt den Verweis auf das IAO-Übereinkommen Nr. 190 in der Präambel. Allerdings enthält die Dreigliedrige Grundsatzerklärung der IAO über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik auch einen umfassenden Katalog von Erklärungen und Rechten in Bezug auf multinationale Unternehmen und Arbeit, in denen insbesondere auf die Übereinkommen und Empfehlungen zu Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz verwiesen wird. Die jüngsten Entwicklungen auf dem Gebiet der Menschenrechte machen auch zunehmend deutlich, wie wichtig das Recht auf eine gesunde Umwelt und das Recht auf Datenschutz ist, und sind ebenfalls zu berücksichtigen. Die oben genannten Dokumente und Rechte gehören zu dem grundlegenden Kanon der Menschenrechte, der weltweit gilt und daher im Anwendungsbereich des Abkommens Berücksichtigung finden muss. Der EWSA begrüßt, dass in dem Teil des Abkommens zur Prävention der häufig außer Acht gelassene Aspekt der geschlechtsspezifischen Dimension von Menschenrechtsverletzungen besser verankert worden ist.

4.5.

Im Entwurf wird grundsätzlich bereits eine Auswahl verschiedener zuständiger Gerichtsbarkeiten genannt, die noch einer weiteren Präzisierung bedarf. Wenn ein Unternehmen im Rahmen seiner Geschäftstätigkeit in transnationalen Lieferketten (etwa als Empfänger von Waren oder Ressourcen) tätig ist, ist dafür zu sorgen, dass der Gerichtsstand im Niederlassungsland des Unternehmens liegen kann. Außerdem ist deutlich zu machen, dass lokale Tochterunternehmen und Zulieferer in dem Land verklagt oder zumindest gemeinsam in Anspruch genommen werden können, in dem das Mutter- bzw. begünstigte Unternehmen ansässig ist.

4.6.

Darüber hinaus muss das Zusammenspiel zwischen Sorgfaltspflicht und Haftung präzisiert werden. Dazu gehören auch eindeutige und praktische Bestimmungen, mit denen sichergestellt wird, dass zur Sorgfaltspflicht auch eine kontinuierliche Beobachtung in den Lieferketten im Sinne eines Systems von Überprüfungen und Kontrollen und (sollte dies versagen) auch die entsprechende Haftung gehören. In der englischen Rechtsprechung hat sich mit Blick auf Verstöße von Tochtergesellschaften eine Kontrollnorm für Muttergesellschaften herausgebildet (11), die eventuell als Modell für klarere Vorschriften zur Haftung konkret für Tochterunternehmen dienen könnte. In dem vorliegenden Entwurf liegt der Schwerpunkt auf Vertragsverhältnissen, wodurch sich eine zuverlässige Bestimmung der Haftung entlang globaler Wertschöpfungsketten als schwierig erweisen könnte, da Geschäftsbeziehungen in diesen Ketten unterschiedliche Formen annehmen können. Der vorliegende Text bietet noch Raum für Verbesserungen. Bei der weiteren Präzisierung ist von den Konzepten auszugehen, die bereits für die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte entwickelt wurden. Das muss eine Priorität der EU sein.

4.7.

Da der Anwendungsbereich nunmehr nicht nur grenzüberschreitende, sondern sämtliche Geschäftstätigkeiten umfasst, müssen die Bestimmungen weiterhin eine gewisse Flexibilität zwischen angemessenen (und nicht übermäßig belastenden) Vorgaben für KMU einerseits und strengeren Vorschriften für mit hohem Risiko behaftete Tätigkeiten andererseits ermöglichen. Zudem muss die EU besondere Unterstützungsinstrumente anbieten, um KMU bei der Bewältigung der mit einem derartigen Abkommen verbundenen Herausforderungen zu unterstützen (z. B. eine Agentur, Unterstützung des kollegialen Lernens).

4.8.

Der EWSA nimmt die Bestimmungen über Rechtshilfe und internationale Zusammenarbeit im vorliegenden Entwurf zur Kenntnis. Beides kann eventuell durch die bereits erwähnten internationalen Stellen eines Ombudsmanns der Vereinten Nationen erleichtert werden.

4.9.

Der Textentwurf enthält eine Bestimmung über die Umkehr der Beweislast in Fällen zivilrechtlicher Haftung. Diese ist zu präzisieren, damit in den verschiedenen Gerichtsbarkeiten eine einheitliche Anwendung sichergestellt ist und gewährleistet wird, dass Opfer gegebenenfalls auf die Anwendung dieser Bestimmung vertrauen können. Das hieße zumindest, dass Kläger gegen Menschenrechtsverletzungen lediglich nachzuweisen hätten, dass eine eindeutige Verbindung zwischen dem Verursacher der Menschenrechtsverletzung (z. B. einem Lieferanten oder einem Tochterunternehmen) und dem (begünstigten bzw. Mutter-) Unternehmen besteht, das wiederum schlüssig darlegen müsste, dass die Verstöße außerhalb seiner Kontrolle erfolgten. Der EWSA stellt in Zweifel, dass es der Rechtssicherheit und einer einheitlichen Anwendung dient, wenn die Umkehr der Beweislast dem Ermessen der Richter überlassen wird, statt sie gesetzlich zu verankern.

4.10.

Der EWSA verweist auf die Bedeutung von Zeugen und die Rolle von Hinweisgebern. Er begrüßt die im vorliegenden Textentwurf enthaltenen Schutzbestimmungen. Nichtregierungsorganisationen, die in diesem Bereich aktiv sind, sind zu unterstützen.

4.11.

Grobe Fahrlässigkeit muss eine strafrechtliche Haftung begründen. Bei weniger schweren Verstößen, wie etwa der Vernachlässigung der Verpflichtung zur regelmäßigen Berichterstattung, ist eine verwaltungsrechtliche Haftung festzulegen.

4.12.

Der EWSA begrüßt die Aufnahme einer Bestimmung über die Kohärenz mit anderen bilateralen und multilateralen Abkommen. Mit Blick auf Handels- und Investitionsabkommen ist allerdings klarzustellen, dass Durchführungsmaßnahmen für ein Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte gerechtfertigt sind und nicht im Rahmen der Beilegung von Investitionsstreitigkeiten umgangen werden dürfen.

4.13.

Staaten muss es untereinander möglich sein, die Umsetzung eines verbindlichen Abkommens durchzusetzen. Es gibt bereits Verfahren, die als Vorbild dienen können, wie z. B. die Beschwerdeverfahren gemäß der Verfassung der IAO, die den Sozialpartnern und Staaten ermöglichen, Beschwerden wegen der Nichteinhaltung von IAO-Übereinkommen einzureichen. Eine weltweite Umsetzung könnte erreicht werden, wenn Staaten gegen andere Staaten Beschwerden erheben können. Verantwortungsbewusste Unternehmen wären so besser vor unlauterem Wettbewerb geschützt. Solche Beschwerdemöglichkeiten haben auch Sozialpartner- und Nichtregierungsorganisationen offenzustehen. Wird ein derartiges System unabhängig von den Verfahren der IAO geschaffen, muss es unbeschadet des IAO-Systems und seiner Bestimmungen funktionieren.

4.14.

Der vorliegende Entwurf sieht die Möglichkeit vor, sich über eine Opt-in-Klausel einem Streitbeilegungssystem anzuschließen. Dies ist mit Blick auf die bestehenden Rahmen zu überdenken, da diejenigen der neun wichtigsten Menschenrechtsinstrumente, die eine Streitbeilegung vorsehen, eine Opt-out-Klausel enthalten.

4.15.

In dem überarbeiteten Entwurf sind die Bestimmungen über die Verjährungsfristen und das anwendbare Recht im Vergleich zum ersten Vorentwurf nicht mehr so weit gefasst. Da Opfern aus diesen Bestimmungen wichtige Verfahrensrechte erwachsen, empfiehlt der EWSA die Rückkehr zum Text des ersten Vorentwurfs.

4.16.

Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft, insbesondere Wirtschaftsvertreter, haben darauf hingewiesen, dass die Entwürfe im Rahmen der laufenden Verhandlungen über das Abkommen in Genf erst spät zugänglich gemacht und veröffentlicht werden. Dies muss verbessert werden, damit ausgewogene und konstruktive Rückmeldungen gegeben werden können. Transparenz muss in allen Phasen für alle Teilnehmer sichergestellt sein.

4.17.

Der EWSA unterstützt ein rechtsverbindliches Instrument zu Wirtschaft und Menschenrechten. Er plädiert jedoch nachdrücklich für eine enge Zusammenarbeit mit Sozialpartnern und zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Brüssel, den 11. Dezember 2019

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Oxford Dictionary of Law (7. Auflage): „forum“ [dt. Forum] — Ort oder Land, in dem ein Fall verhandelt wird.

(2)  Siehe u. a. Entschließung des EP vom 4. Oktober 2018 (2018/2763(RSP)).

(3)  ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 145.

(4)  http://www.oecd.org/daf/inv/mne/oecd-portal-for-supply-chain-risk-information.htm.

(5)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 17.

(6)  Einige Beispiele aus jüngster Vergangenheit: Haselnusspflücker in der Türkei: https://www.nytimes.com/2019/04/29/business/syrian-refugees-turkey-hazelnut-farms.html, Kinderarbeit bei der Grabsteinherstellung: https://kurier.at/politik/ausland/blutige-grabsteine-was-friedhoefe-mit-kinderarbeit-zu-tun-haben/400477447, Mineralienabbau für Akkus von Elektroautos: https://www.dw.com/de/kinderarbeit-f%C3%BCr-elektro-autos/a-40151803.

(7)  https://www.corporatebenchmark.org/.

(8)  Stellungnahme der Grundrechteagentur „Improving access to remedy in the area of business and human rights at the EU level“ [Verbesserung des Zugangs zu Rechtsmitteln im Bereich der Wirtschaft und der Menschenrechte auf Ebene der EU], S. 62.

(9)  EP/EXPO/B/DROI/FWC/2013-08/Lot4/07, Februar 2019 — PE603.475.

(10)  Der EWSA hat in seiner Stellungnahme REX/501 auf die Bedeutung eines rechtsverbindlichen Instruments der Vereinten Nationen hingewiesen (ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 145), Ziffer 2.19.

(11)  Siehe Fußnote 9, S. 40.


24.3.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 97/18


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Außenhilfe, Investitionen und Handel als Instrumente zur Verringerung der Ursachen von Wirtschaftsmigration mit besonderem Schwerpunkt auf Afrika“

(Initiativstellungnahme)

(2020/C 97/03)

Berichterstatter:

Arno METZLER

Mitberichterstatter:

Thomas WAGNSONNER

Beschluss des Plenums

23.-24.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

28.11.2019

Verabschiedung im Plenum

12.12.2019

Plenartagung Nr.

548

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

152/0/9

1.   Allgemeine Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die EU-Entwicklungspolitik bezweckt die Förderung der nachhaltigen Entwicklung der Entwicklungsländer mit dem vorrangigen Ziel, die Armut zu beseitigen, nachhaltiges Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu unterstützen sowie Frieden und Sicherheit, Stabilität, verantwortungsvolle Staatsführung und die Wahrung der Menschenrechte zu fördern. Sie ist ein Eckpfeiler der Beziehungen der EU zum Rest der Welt und trägt neben der Außen-, Sicherheits- und Handelspolitik (und den internationalen Aspekten weiterer Politikbereiche wie Umwelt, Landwirtschaft und Fischerei) zu den Zielen des auswärtigen Handelns der EU bei. Die Maßnahmen zur Umsetzung dieser Ziele sollten in jedem Fall ein menschenwürdiges Leben gewährleisten, Rechtsstaatlichkeit garantieren und für gute Arbeitsbedingungen sorgen. In diesem Zusammenhang betont der EWSA ausdrücklich die Notwendigkeit, die Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung zu befähigen.

1.2.

Auch wenn die Welt stetig im Wandel ist, werden Afrika und Europa enge Nachbarn bleiben. Die 54 Länder Afrikas und die 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind sich geografisch nahe und haben eine gemeinsame Geschichte sowie eine gemeinsame Zukunft. Der EWSA betont, dass hinsichtlich der gemeinsamen Zukunft der beiden Kontinente die Fehler der Vergangenheit unbedingt zu vermeiden sind.

1.3.

Vor siebzig Jahren war Europa ein Kontinent der Nettoabwanderung. Seine Bürger flohen vor Katastrophen wie Krieg, Hunger, Armut, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Unterdrückung und Diskriminierung. Die Möglichkeiten, die die EU ihren Bürgern eröffnet hat, machten Europa dann zu einem Kontinent mit Nettozuwanderung. Wir sollten mit afrikanischen Ländern zusammenarbeiten, um ihnen einen ähnlichen Fortschritt zu eröffnen.

1.4.

Es ist schwierig, eine kohärente Wirtschaftsstrategie der EU für Afrika als Ganzes aufzustellen. Der EWSA möchte seine Bereitschaft betonen, sich bei allen entsprechenden Abkommen der EU als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft und als aktiver Partner an einem solchen transparenten und kohärenten Ansatz zu beteiligen. Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) hat erklärt, dass die EU bereits ein starker politischer Partner Afrikas ist und dass der nächste Schritt darin besteht, echte Wirtschaftspartner zu werden und unsere Handels- und Investitionsbeziehungen zu vertiefen. Bei der Bestandsaufnahme der zivilgesellschaftlichen Beziehungen im Rahmen des Cotonou-Abkommens kam dem EWSA eine wichtige Rolle zu. Jetzt ist es wichtig, dass ein kontinuierliches und noch größeres Engagement des EWSA und seiner Strukturen zu einem wesentlichen Bestandteil des Cotonou-Nachfolgeabkommens wird. Das gibt der Zivilgesellschaft der EU die Möglichkeit, die Zivilgesellschaft afrikanischer Länder dabei zu unterstützen, ein zuverlässiger und vertrauenswürdiger Partner für Investoren zu werden. Zu erreichen ist dies nur durch den Ausbau einer Partnerschaft auf Augenhöhe und unter angemessener Berücksichtigung der aktuellen Asymmetrie bei der Wirtschaftslage.

1.5.

Um gemeinsame Ziele zu erreichen, muss die wirtschaftliche Zusammenarbeit unbedingt verstärkt werden. In den letzten Jahren haben sich Konzepte für ein neues Paradigma in den Beziehungen zwischen der EU und Afrika (zum Beispiel in der Landwirtschaft) entwickelt, da man sich verstärkt auf die politische Zusammenarbeit und die Förderung nachhaltiger Investitionen sowie ein stabiles, verantwortungsvolles und integratives Geschäftsumfeld konzentrierte. Dieses Paradigma muss sowohl im Agrarsektor als auch in anderen Sektoren erfolgreich entwickelt werden und mehr Menschen vor Ort einbeziehen.

1.6.

Der EWSA empfiehlt, auf EU-Ebene eine zentrale Anlaufstelle und einen geeigneten Konsultationsmechanismus für die Bereitstellung von Informationen und Kontakten für diejenigen einzurichten, die in Afrika investieren und mit Afrika zusammenarbeiten wollen. Dies würde als eine Form eines politischen Instruments auch der Beobachtung dienen. Die Einrichtung einer zentralen Anlaufstelle für alle Initiativen mit Bezug zu Afrika würde Überschneidungen von Projekten vermeiden und die Transparenz und Effizienz der Unterstützung der EU sicherstellen.

1.7.

Außerdem empfiehlt der EWSA die Schaffung einer geeigneten Plattform, mit der ein besserer Austausch von Informationen über bewährte Investitions- und Zusammenarbeitspraktiken zwischen europäischen und afrikanischen KMU gewährleistet werden soll.

1.8.

Es bedarf einer klaren und transparenten institutionellen Architektur der EU-Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika auf der Grundlage des neuen Konsenses über die Entwicklungspolitik (1), der eine realistischere Analyse und Umsetzung der Entwicklungsperspektive ermöglicht. Der EWSA hofft, dass im Cotonou-Nachfolgeabkommen eine pragmatische Plattform für eine reformierte Politik der Entwicklungszusammenarbeit vorgeschlagen wird, die mit der Komplexität des Entwicklungsprozesses im Einklang steht. Diese Plattform sollte auf einer Zusammenarbeit zwischen allen Mitgliedstaaten und Institutionen der EU basieren, damit alle Programme, Projekte und Initiativen auf nationaler und europäischer Ebene erfasst werden können. In bestimmten Bereichen ließen sich so Überschneidungen und Doppelarbeit ebenso vermeiden wie Versäumnisse bei der Unterstützung in anderen Bereichen.

1.9.

Gleichzeitig spricht sich der EWSA für ein Verfahren zur Maximierung der Auswirkungen anderer EU-Politiken auf die soziale und wirtschaftliche Entwicklung (2) aus. So müssen insbesondere die Handels-, Investitions-, Steuer- (3) und Außenhilfepolitik (4), die Bekämpfung der international organisierten Kriminalität und die Klimapolitik mit den Zielen der Entwicklungszusammenarbeit im Einklang stehen.

1.10.

Der EWSA setzt sich nachdrücklich dafür ein, die europäische Entwicklungsfinanzierung effizienter und wirksamer zu gestalten. Unter Berücksichtigung der Investitionsfonds der EU, die bereits in Afrika investieren, empfiehlt der EWSA die Einrichtung eines Investitionsfonds nach dem Vorbild des ESF, der in Partnerschaften neben privaten und öffentlichen Investitionen als Ko-Investor auftritt. Dieser Fonds sollte auf den Kriterien und Grundsätzen der Agenda 2030 und der Anerkennung international anerkannter grundlegender Standards (5) beruhen. Die geförderten Projekte sollten überwacht und in zentrale Register oder Plattformen aufgenommen werden. Der EWSA mahnt bei allen Projekten eine noch stärkere Zusammenarbeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen (insbesondere des EWSA) in Bezug auf ihre ethischen Werte an.

1.11.

Der EWSA fordert die Umsetzung eines Konzepts, bei dem der Schwerpunkt von der Vergabe von Hilfsgeldern auf die Unterstützung eigenverantwortlicher, eigenständiger Wirtschaftsakteure und interkontinentaler wirtschaftlicher Projekte auf der Grundlage der Zusammenarbeit unter gleichen Bedingungen verlagert wird.

1.12.

Die finanziellen Strukturen in Afrika selbst sollten gestärkt werden, um langfristige Finanzierungen sowohl für private als auch für öffentliche Investitionen zu fördern. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für eine dauerhafte, nachhaltige Entwicklung. Die europäischen Erfahrungen mit dem Genossenschaftsbankwesen und den nationalen Entwicklungsbanken, auf die insbesondere die Kommunen zurückgreifen, können hierfür eventuell als Vorlage dienen. Insbesondere könnten sich Mikrokredite und Investitionen als Schlüssel zur Zukunft der afrikanischen Wirtschaft erweisen. Eine nachhaltige Entwicklung wird es nur dann geben, wenn regionale Wertschöpfungsketten und auf eine Mittelschicht ausgerichtete Verbrauchermärkte Unterstützung finden (6).

1.13.

Der EWSA ist der Auffassung, dass sich die Entwicklungszusammenarbeit der EU darauf konzentrieren sollte, auf eine auf die Menschen ausgerichtete Partnerschaft hinzuarbeiten und dabei die Beteiligung der Zivilgesellschaft, der Gewerkschaften und des Privatsektors zu gewährleisten und den Bürgerinnen und Bürgern Afrikas und Europas direkte Vorteile zu bieten.

1.14.

Der EWSA betont, dass die organisierte Zivilgesellschaft in Partnerschaft mit afrikanischen Strukturen und mithilfe von Instrumenten, die den Zugang zum Rechtssystem, wirksame Sicherheit und Korruptionsbekämpfung gewährleisten, dazu beitragen könnte, durch die Strukturierung der afrikanischen Zivilgesellschaft ein vertrauenswürdiges Umfeld aufzubauen. Dies sollte der Mehrwert der europäischen Zivilgesellschaft für die Entwicklung Afrikas auf der Grundlage der gleichen gemeinsamen Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie politische Rechte und Bürgerrechte sein.

1.15.

Freihandelsabkommen und WPA der EU mit afrikanischen Ländern enthalten keinerlei Mechanismus für den Dialog mit der organisierten Zivilgesellschaft. Die EU sollte sich im Rahmen der Überarbeitung dieser Abkommen um die Einrichtung solcher Dialogmechanismen für nichtstaatliche Akteure bemühen.

1.16.

Ausgehend von dem Ansatz und den ersten Erfahrungen mit den Plattformen nachhaltiger Unternehmen für Afrika („Sustainable Business for Africa“ — SB4A), die sich vor allem auf die Beteiligung des Privatsektors konzentrieren, sollte die EU ihre Hilfe stärker bündeln und eine ähnliche Initiative für die Zivilgesellschaft insgesamt fördern — entweder im Rahmen der SB4A-Plattformen, als Begleitmaßnahme oder parallel dazu. Diese könnten zu nachhaltigen Handels- und Investitionsplattformen für Afrika werden, an denen mehrere Interessenträger beteiligt werden.

1.17.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU einen Teil ihrer Mittel für Handelshilfe („Aid for Trade“) unter Berücksichtigung nachhaltiger Handels- und Investitionsbemühungen für die Unterstützung der Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen und den Aufbau von Kapazitäten bereitstellen sollte.

1.18.

Durch einen Multi-Stakeholder-Ansatz, an dem auch die Organisationen der Zivilgesellschaft beteiligt sind, fördert der EWSA Initiativen und Anpassungen der handelspolitischen Regelungen von Freihandelsabkommen/WPA/APS, die eine wirksame und nachhaltige Umsetzung des Afrikanischen Freihandelsabkommens (AfCFTA) und die afrikanische Marktintegration begünstigen. So sollte insbesondere der innerafrikanische Handel sowie die regionale und kontinentale Integration gestärkt und wichtige Wirtschaftszweige in ganz Afrika entwickelt werden.

1.19.

Ein zentraler Punkt bei der Verbesserung der Lebensbedingungen in Europa waren Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, insbesondere in die Bildung. Ein Kernziel unserer Entwicklungspolitik in Afrika muss darin liegen, das dortige Bildungsniveau insbesondere wirtschaftlich schutzbedürftiger Gruppen zu heben.

1.20.

Der EWSA begrüßt die von der EU für den nächsten Haushaltszeitraum geplante Aufstockung der Mittel für Afrika auf 40 Mrd. EUR (46,5 Mrd. USD) und hofft auf eine enorme Hebelwirkung durch private Investoren.

2.   Hintergrund

2.1.

Als weltweit größter Entwicklungshilfegeber übernimmt Europa eine führende Rolle in der öffentlichen Entwicklungshilfe. Mit über 50 % aller Entwicklungshilfe weltweit sind die EU und ihre Mitgliedstaaten zusammen genommen der weltweit führende Geber.

2.2.

Nach Angaben der Weltbank (7) beliefen sich die Überweisungen in Entwicklungsländer von im Ausland lebenden Staatsangehörigen im Jahr 2016 auf etwa 426 Mrd. USD, was etwa dem Dreifachen der weltweiten offiziellen Entwicklungshilfe entspricht. Ein erheblicher Beitrag zu Afrikas Entwicklung besteht darin, Migranten aus Afrika die Möglichkeit zu geben, in Europa legal einer Beschäftigung nachzugehen und Geld sicher zu überweisen.

2.3.

Afrika und Europa sind unmittelbare Nachbarn, die durch eine gemeinsame Geschichte miteinander verbunden sind. Sie teilen gemeinsame Werte und Interessen, um ihre Zusammenarbeit in Zukunft zu steuern. Heute befassen sie sich gemeinsam mit globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Frieden und Sicherheit. Afrika wird besonders anfällig für den Klimawandel sein, obwohl es für weniger als 4 % der weltweiten Emissionen verantwortlich ist. 27 der 33 am stärksten vom Klimawandel bedrohten Länder befinden sich in Afrika.

2.4.

Die Zusammenarbeit zwischen Afrika und der Europäischen Union auf kontinentaler Ebene orientiert sich an einer strategischen Partnerschaft, die auf gemeinsamen Werten und Interessen beruht. 2007 wurde die Gemeinsame Strategie Afrika-EU von der EU und der Afrikanischen Union angenommen, um die Verbindungen zwischen den beiden Kontinenten in Schlüsselbereichen der Zusammenarbeit zu stärken, den politischen Dialog zu vertiefen und einen konkreten Fahrplan für künftige gemeinsame Arbeiten vorzulegen.

2.5.

Die EU hat die am längsten bestehende Zusammenarbeit mit der Gruppe der Staaten in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean (AKP), die 1975 im Abkommen von Lomé verankert und 2000 mit dem Cotonou-Abkommen aktualisiert wurde. 48 afrikanische Staaten südlich der Sahara sind Vertragsparteien des Cotonou-Abkommens.

2.6.

Die EU führt derzeit mit den AKP-Staaten Verhandlungen über ein Nachfolgeabkommen zum für den Zeitraum 2000-2020 geltenden Cotonou-Abkommen. Der politische und wirtschaftliche Kontext hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten enorm verändert, wobei angesichts der (mittlerweile weitgehend durch bilaterale und regionale Wirtschaftspartnerschaftsabkommen geregelten) Handelsbeziehungen zwischen der EU und den AKP-Staaten sowie der Bedeutung des Rahmens der Afrikanischen Union (AU) Kohärenz, Komplementarität und Synergie zwischen den Rahmen der AKP-Staaten und der AU in Frage gestellt werden.

2.7.

Ein Nachfolgeabkommen zum Cotonou-Abkommen bietet eine Gelegenheit, die Vorschriften zu Aspekten wie Investitionen, Dienstleistungen, fairer Handel, Menschenrechte, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Migration zu aktualisieren. Die Zusammenarbeit muss jedoch auf einer neuen Grundlage ausgehend von der Agenda 2030 stattfinden, und es sind die afrikanischen Staaten, die entscheiden müssen, ob sie bei den Verhandlungen gemeinsam als Kontinent auftreten wollen.

2.8.

Aus diesen Gründen besteht der EWSA auf einer kohärenten sozioökonomischen Strategie für die Beziehungen zwischen der EU und Afrika, bei der die Zivilgesellschaft und die Einbindung der Sozialpartner in die Verhandlungen über das Cotonou-Nachfolgeabkommen angemessen berücksichtigt werden.

2.9.

Der EWSA hat festgestellt, dass es kein zentrales Verzeichnis bzw. keine Erfassung sämtlicher Initiativen, Programme und Partnerschaften auf Ebene der Mitgliedstaaten und der EU gibt. Darüber hinaus weiß niemand, wieviel Mittel genau nach Afrika fließen.

3.   Problembereiche

3.1.

Die zunehmende Heterogenität des afrikanischen Kontinents muss gebührende Beachtung finden, und die EU sollte ihre Politik an die Gegebenheiten anpassen. Wir brauchen einen viel pragmatischeren und realistischeren Ansatz für die Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU und Afrika.

3.2.

Die direkte Beziehung zwischen der EU und der Afrikanischen Union hat seit der Veröffentlichung der Gemeinsamen Strategie Afrika-EU im Jahr 2007 an Sichtbarkeit gewonnen. Die EU hat auch andere Initiativen vorangetrieben, etwa den Nothilfe-Treuhandfonds, die Investitionsfazilität für Afrika, die Investitionsoffensive für Drittländer und eine Reihe subregionaler Übereinkommen. Die Vielschichtigkeit der Modalitäten in den Beziehungen EU-Afrika führt zu einer komplexen und zuweilen inkohärenten Struktur‚ in der Elemente anderer Politikbereiche mit der Entwicklungszusammenarbeit kombiniert werden. Diese Unübersichtlichkeit wird aufgrund der unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten noch verstärkt.

3.3.

Die Förderung von Investitionen des Privatsektors setzt Frieden, Sicherheit und Stabilität sowie ein günstiges Investitionsklima und Geschäftsumfeld voraus. Aus Umfragen unter Anlegern (8) geht eindeutig hervor, dass in diesem Bereich noch viel mehr getan werden muss, um das Potenzial Afrikas im Wettbewerb um Investitionskapital zu verbessern. Rechtsstaatlichkeit, die Bekämpfung der Korruption, eine unabhängige Justiz und eine vorhersehbare Besteuerung sowie Frieden und Stabilität gehören zu den Schlüsselfaktoren, die die Entscheidungen in- und ausländischer Investoren beeinflussen. Es wird davon ausgegangen, dass die Kosten für die Gründung eines Unternehmens in fragilen Staaten etwa dreimal höher sind als anderswo, wodurch private Investitionen erheblich behindert werden (9).

3.4.

In der Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die zentrale Bedeutung von Handel und Investitionen für die Erreichung und Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele“ (10) heißt es: „Zur Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung ist die direkte Einbeziehung der Zivilgesellschaft erforderlich, nicht zuletzt deshalb, weil es die Rechtsstaatlichkeit begünstigen und zur Korruptionsbekämpfung beitragen dürfte.“ In der Stellungnahme wurde auch darauf hingewiesen, wie wichtig der Aufbau von Infrastruktur in Afrika ist, der derzeit von China vorangetrieben wird. Der innerafrikanische Handel, insbesondere mit Agrarerzeugnissen, ist sehr schwach entwickelt und macht lediglich zwischen 10 % und 15 % des gesamten Handelsvolumens Afrikas aus. Dies wird sich mit der Umsetzung des WTO-Übereinkommens 2017 über Handelserleichterungen hoffentlich verbessern.

3.5.

Prognosen zufolge sind für die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung in Afrika jährlich Mittel in Höhe von rund 600 Mrd. USD erforderlich (11). Selbst unter Berücksichtigung ausländischer Investitionen und öffentlicher Entwicklungshilfe wird die nachhaltige Entwicklung in Afrika von der Mobilisierung und Generierung heimischer Ressourcen abhängen. Solche Ressourcen basieren auf langfristigen Investitionen und langfristiger Wertschöpfung, um hochwertige Arbeitsplätze sowie lokale und regionale Wertschöpfungsketten zu schaffen. Eine bessere Bildung und der private Verbrauch sind die größten Wachstumsmotoren in Afrika, was bedeutet, dass für afrikanische Produkte die Schaffung von Märkten — Verbrauchern — in Afrika eine wesentliche Rolle für die Entwicklung spielt. Die öffentliche Infrastruktur ist extrem wichtig, um auch langfristige private Investitionen zu ermöglichen.

3.6.

Der EWSA weist darauf hin, wie wichtig das Programm Erasmus+ für einen breiteren Zugang der afrikanischen Jugend zu hochwertiger Bildung ist.

3.7.

Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Migration sollte nicht außer Acht gelassen werden. Studien haben gezeigt‚ dass das Bedürfnis nach Migration sinkt, sobald ein bestimmtes Pro-Kopf-Einkommen erreicht wird (je nach Studie zwischen 6 000 und 10 000 USD pro Kopf und Jahr) (12). Abgesehen davon, dass der Großteil der Migration in Afrika innerhalb des Kontinents stattfindet, zeigen diese Zahlen die Notwendigkeit einer Entwicklungspolitik, die darauf ausgerichtet ist, den Menschen ein menschenwürdiges Leben, Beschäftigung und Perspektiven in ihren eigenen Ländern zu ermöglichen. Dies wird eine gewaltige Herausforderung darstellen, da nach demografischen Prognosen im Jahr 2050 2,5 Mrd. Menschen in Afrika leben werden (13).

3.8.

Im Rahmen der Ziele für nachhaltige Entwicklung soll die Gleichstellung der Geschlechter erreicht und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigt werden; die entwicklungsrelevanten Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, weisen einen besonderen geschlechtsspezifischen Aspekt auf, der bei der Konzipierung politischer Maßnahmen berücksichtigt und bei deren Umsetzung aufgegriffen werden muss.

3.9.

Korruption ist — nicht nur in Afrika — ein gewaltiges Problem. Eine gute wirtschafts- und finanzpolitische Steuerung muss gefördert werden, indem die transparente Verwaltung öffentlicher Finanzen gestärkt und zur Bekämpfung von Korruption ein glaubwürdiges System geschaffen wird, das auf der Unabhängigkeit der Justiz beruht, und indem das Geschäftsklima und die Rahmenbedingungen für sozialen Fortschritt verbessert werden.

3.10.

Die organisierte Zivilgesellschaft könnte eine wichtige Kontrollfunktion übernehmen. Die Stärkung der Rolle von NGO, Gewerkschaften und Unternehmensverbänden sowie die Unterstützung solcher Initiativen in den Partnerländern dienen der Förderung einer verantwortungsvollen Regierungsführung, der Rechtstaatlichkeit und der Demokratisierung.

3.11.

Europa verliert in Afrika gegenüber anderen globalen Akteuren wie China, das Milliarden in den Kontinent investiert, an Boden. Die Mitgliedstaaten der EU befürchten, dass sie bald nur noch in der zweiten Liga spielen. Wenn sich sowohl Europa als auch China nicht ausschließlich auf Gewinne, sondern auch auf eine nachhaltige Entwicklung in Afrika konzentrieren würden, um einen angemessenen Lebensstandard zu fördern, könnte der Migrationsdruck verringert werden.

3.12.

Der EWSA fordert die Umsetzung eines Konzepts, bei dem der Schwerpunkt von der Vergabe von Hilfsgeldern auf die Unterstützung eigenverantwortlicher, eigenständiger Wirtschaftsakteure und interkontinentaler wirtschaftlicher Projekte auf der Grundlage der Zusammenarbeit unter gleichen Bedingungen verlagert wird.

3.13.

Die zögerliche Haltung konservativer Strukturen (z. B. Kirchen) zur Steuerung des Bevölkerungswachstums verringert die Möglichkeiten für die Entwicklung einer Strategie für nachhaltiges wirtschaftliches und soziales Wachstum.

4.   Investitionen

4.1.

Seit vielen Jahren zeichnet sich die Afrikapolitik der EU durch gute Absichten und nicht erfüllte Versprechen aus. Seit der Flüchtlingskrise hat sich das Interesse an einer neuen Strategie für die Zusammenarbeit mit dem Kontinent jedoch stark erhöht. Die EU plant, mehr in Afrika zu investieren, und sie möchte die Handelsbeziehungen intensivieren, da der nächste notwendige Schritt darin besteht, zu echten Wirtschaftspartnern zu werden. Eine solche Partnerschaft sollte auf einer Chancengleichheit beruhen, in deren Rahmen die offenkundigen Asymmetrien zwischen Afrika und Europa Berücksichtigung finden müssen.

4.2.

Bei den Investitionen in Afrika ergibt sich ein uneinheitliches Bild, das eine globale Unsicherheit widerspiegelt, wobei die Ströme ausländischer Direktinvestitionen nach Afrika schwanken und nicht den erforderlichen starken Aufwärtstrend zeigen. 2016 flossen insgesamt 58 % der ausländischen Direktinvestitionen nach Südafrika, Nigeria, Kenia, Ägypten und Marokko, während weniger fortgeschrittene und fragilere Länder sich aufgrund systemischer Herausforderungen schwertun, private Investitionen anzuziehen.

4.3.

Die EU ist der größte Investor in Afrika, da ihre Mitgliedstaaten für rund 40 % der ausländischen Direktinvestitionen (291 Mrd. EUR im Jahr 2016) (14) verantwortlich sind. Afrika lässt aufgrund der starken wirtschaftlichen Fortschritte in den letzten zwanzig Jahren erhebliches Zukunftspotenzial erkennen, das vielversprechende weitere Möglichkeiten eröffnet. Die demografischen Prognosen für Afrika machen deutlich, dass es auch notwendig ist, Millionen neuer, hochwertiger Arbeitsplätze zu schaffen, insbesondere für junge Menschen, die in den Arbeitsmarkt eintreten wollen. Makroökonomische Indikatoren alleine führen nicht zu einem besseren Lebensstandard für alle. Die Politik muss sicherstellen, dass die wirtschaftliche Entwicklung für die Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung insgesamt von Nutzen ist.

4.4.

Um eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen und hochwertige Arbeitsplätze für die afrikanische Bevölkerung zu schaffen, die sich bis 2050 wohl verdoppeln wird, müssen die öffentlichen und insbesondere die privaten Investitionen zunehmen.

4.5.

Investitionen sind zu einer Schlüsselfrage für die künftige Entwicklung Afrikas geworden und ein Aspekt, der in den Verhandlungen über ein Cotonou-Nachfolgeabkommen zur Sprache kommen wird. Angesichts der Vielzahl der bestehenden Instrumente ist ein besonders großer Mehrwert von den Verhandlungen über eine Investitionsregelung zu erwarten, bei der ein angemessener gleichberechtigter Investorenschutz mit Nachhaltigkeitsverpflichtungen verknüpft wird, insbesondere in Bezug auf die Menschenrechte, den Schutz der Umwelt und die Schaffung eines angemessenen Lebensstandards.

4.6.

In der nächsten Haushaltsperiode plant die EU eine Aufstockung der Mittel für Afrika auf 40 Mrd. EUR (46,5 Mrd. USD). Die Hoffnung besteht darin, dass dieses Geld dann von privaten Investoren multipliziert wird. Als Anreiz möchte die EU Risikogarantien bereitstellen, um den Privatsektor zu ermutigen, Verpflichtungen einzugehen und Investitionen in afrikanischen Ländern zu tätigen. Investitionen, mit denen die in der Agenda 2030 festgelegten Nachhaltigkeitsziele anvisiert und eindeutig erfüllt werden, sollten bei der Unterstützung vorrangig berücksichtigt werden. Neben dem Risikogarantiesystem ist auch ein angemessenes System für die Kontrolle und Überwachung erforderlich, um sicherzustellen, dass die Ziele für nachhaltige Entwicklung erfüllt werden. Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, dass die organisierte Zivilgesellschaft einen Beitrag zur Bekämpfung des Missbrauchs europäischer Fonds leistet.

4.7.

Potenzielle Investoren, vor allem aus den Reihen der KMU, berichten mit Blick auf die politische Stabilität, Justiz, Rechte des geistigen Eigentums, Zugang zu Märkten und die Situation bei der Umsetzung von Handelsabkommen von mangelndem Vertrauen in das Investitionsumfeld.

4.8.

Der EWSA empfiehlt die Einrichtung eines Investitionsfonds nach dem Vorbild des ESF, der in Partnerschaften neben privaten und öffentlichen Investitionen als Ko-Investor auftritt. Dieser Fonds sollte auf den Kriterien und Grundsätzen der Agenda 2030 und der Anerkennung international anerkannter grundlegender Standards (15) beruhen. Die geförderten Projekte sollten überwacht und in zentrale Register oder Plattformen aufgenommen werden. Der EWSA betont eine noch intensivere Zusammenarbeit mit der organisierten Zivilgesellschaft (hier ist besonders der EWSA zu nennen) bei allen Projekten in Bezug auf ihre ethischen Werte.

4.9.

Der EWSA befürwortet die Schaffung eines Umfelds, in dem der Zugang zu Finanzmitteln sowohl für afrikanische als auch für europäische KMU und Kleinstunternehmen erleichtert und der Rechtsrahmen sowohl für öffentliche als auch für private Investitionen verbessert wird, die öffentlichen Beschaffungssysteme effizienter werden, die Investitionen den Menschen vor Ort zugutekommen und die Schaffung von hochwertigen Arbeitsplätzen im eigenen Land sowie gegebenenfalls internationale Normen gefördert werden.

4.10.

Die Finanzstrukturen in Afrika sollten auch dahin gehend gestärkt werden, dass sie eine langfristige Finanzierung unterstützen. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für eine dauerhafte, nachhaltige Entwicklung. So war beispielsweise das Genossenschaftsbankenwesen ein Eckpfeiler der Entwicklung in zahlreichen europäischen Ländern, während nationale Entwicklungsbanken, auf die insbesondere die Kommunen zurückgreifen, Investitionen in Europa gefördert haben. Auf diesem Wege finanzierten europäische Länder insbesondere soziale und lokale öffentliche Infrastrukturen, die nicht nur eine wichtige Grundlage für private Investitionen und ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum, sondern auch für die Entwicklung der europäischen Wohlfahrtsstaaten bildeten.

4.11.

Zur Vermeidung eines destruktiven Wettbewerbs sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre Finanzinstrumente auf spezifische Ziele und Einrichtungen konzentrieren. Der Wettbewerb zwischen unterschiedlichen europäischen und internationalen Einrichtungen hat zu Missverständnissen und Schwierigkeiten beim Zugang zu afrikanischen Märkten geführt. Erforderlich sind mehr gemeinsames und direktes Engagement sowie Kontrolle und Transparenz. In diesem Zusammenhang könnte der Zivilgesellschaft eine institutionelle Rolle als unabhängiger Beobachter zukommen.

4.12.

Eine Investitionspolitik, die europäische private Investitionen in Afrika fördert, sollte sich insbesondere auf die Schaffung regionaler Wertschöpfungsketten konzentrieren, durch die Güter hergestellt werden, die in erster Linie in Afrika verbraucht werden können, wodurch heimische Märkte entstehen. So könnte das europäische Wachstumsmodell in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg widergespiegelt werden, das in hohem Maße auf die heimischen Märkte angewiesen war, um die Industrie zu entwickeln.

4.13.

Die nichtstaatlichen afrikanischen und europäischen Organisationen, vor allem diejenigen mit afrikanischen Wurzeln, könnten Brücken für die wirtschaftliche Entwicklung schlagen und sich aktiv an der Unterstützung einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung in ihren Heimatländern beteiligen.

5.   Handel

5.1.

Die EU ist mit 36 % aller Ausfuhren nach wie vor der größte Handelspartner Afrikas vor China und den USA. Ziel der Europäischen Kommission ist es, diese Zusammenarbeit zu intensivieren und auf eine neue vertragliche Grundlage zu stellen.

5.2.

Als wichtigster Handelspartner ist es die Absicht der EU, afrikanischen Ländern ihre großzügigsten Handelspräferenzen anzubieten, entweder im Rahmen des allgemeinen Präferenzsystems (und der Sonderregelung „Alles außer Waffen“ (EBA) für die am wenigsten entwickelten Länder, von denen viele in Afrika liegen) oder im Rahmen von Freihandelsabkommen, insbesondere im Rahmen von Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die in erster Linie auf die Entwicklung abzielen.

5.3.

Im Gegensatz zu den Bestimmungen in der neuen Generation von Freihandelsabkommen der EU und im karibischen WPA enthalten die Freihandelsabkommen und die WPA der EU mit afrikanischen Ländern jedoch keinerlei Mechanismus für den Dialog mit der organisierten Zivilgesellschaft. Freihandelsabkommen mit nordafrikanischen Ländern enthalten bisher keine Klauseln zu internen Beratungsgruppen und kein Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung. WPA wiederum, bei denen es um Entwicklung geht, beinhalten keine Klauseln zu beratenden Ausschüssen zur Förderung des Dialogs mit nichtstaatlichen Akteuren über die nachhaltige Umsetzung und die Auswirkungen des WPA.

5.4.

Der Kontakt und der Dialog mit der organisierten Zivilgesellschaft können auch außerhalb von (oder parallel zu) Handelsabkommen stattfinden. Da die Handels- und Investitionsbeziehungen zwischen der EU und Afrika eine nachhaltige Entwicklung fördern sollen, sollten nicht nur staatliche Akteure, sondern alle Interessenträger eingebunden werden.

5.5.

Es gibt Entwicklungsprobleme, die sich aus der derzeitigen Struktur des Handels zwischen Afrika und Europa ergeben. Selbst nach Ratifizierung werden nicht alle WPA von den Partnerländern auch tatsächlich umgesetzt. Dies ist auch nicht völlig unbegründet, da es zahlreiche Berichte über europäische Exporte gibt, die die Entwicklung lokaler Industrien und Branchen erdrücken (16). Der erweiterte Freihandel ist ein eindeutiger struktureller Wandel für die Partnerländer, die bisher ihre Wirtschaftssektoren durch Vorzugssysteme regulieren konnten. Die WPA werden überdies mit wirtschaftlichen Blöcken ausgehandelt, deren Mitglieder sich häufig in unterschiedlichen Situationen befinden, was unterschiedliche handelspolitische Ansätze rechtfertigen könnte. Schließlich könnten die Verhandlungen über umfassende Handelsabkommen an sich bereits eine organisatorische Herausforderung für Entwicklungsländer und Schwellenländer darstellen.

5.6.

Ein stärkeres Zugehen auf die Zivilgesellschaft ginge mit Kapazitätsaufbau und Kosten einher, die im Hinblick auf wirksame Mechanismen für ihre Einbindung angegangen werden sollten. Die EU sollte einen Teil ihrer Handelshilfe (es könnte ein Prozentsatz festgelegt werden) mit Blick auf nachhaltige Handels- und Investitionsbemühungen auf die Unterstützung der Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen, den sozialen Dialog und den Aufbau von Kapazitäten ausrichten.

5.7.

Afrika arbeitet des Weiteren an seinem kontinentalen Freihandelsabkommen (AfCFTA), mit dem ein afrikanischer Binnenmarkt geschaffen werden soll und das bereits mehr als 40 Staaten unterzeichnet haben. Überall in Afrika wird diesem Abkommen von vielen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren eine enorm hohe Bedeutung beigemessen. Hiermit soll der innerafrikanische Handel sowie die regionale und kontinentale Integration gestärkt und wichtige Wirtschaftszweige in ganz Afrika entwickelt werden. Die EU kann diese Bemühungen wirksam unterstützen und mit ihren präferentiellen Handelsregelungen mit afrikanischen Ländern und Regionen (Freihandelsabkommen der EU mit Nordafrika, WPA und APS-Regelung) dazu beitragen, die Integration des kontinentalen Handels zu unterstützen und den Weg für ein Handelsabkommen zwischen beiden Kontinenten zu ebnen.

6.   Eine neue „Allianz Afrika-Europa“

6.1.

Afrika braucht keine Wohltätigkeit, es braucht eine echte und faire Partnerschaft. Das ist die Botschaft der im September 2018 vorgeschlagenen Allianz für nachhaltige Investitionen und Arbeitsplätze zwischen Europa und Afrika, die erklärt, dass dies zur Entstehung von bis zu zehn Millionen Arbeitsplätzen in Afrika allein in den nächsten fünf Jahren beitragen könnte. Diese Arbeitsplätze müssten selbstverständlich ein Einkommen garantieren, das einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht. Bei der Allianz geht es darum, private Investitionen zu mobilisieren und die enormen Chancen zu erkunden, die für die Menschen und die Wirtschaft in Afrika und in der EU gleichermaßen von Nutzen sein können. Die EU sollte den Ausbau der zahlreichen Handelsabkommen zwischen der EU und Afrika zu einem Freihandelsabkommen zwischen den beiden Kontinenten in Erwägung ziehen, und zwar als Wirtschaftspartnerschaft auf Augenhöhe. Damit wird durch die Allianz ein wichtiges politisches Zeichen gesetzt. Eine solche Partnerschaft sollte gleichberechtigt sein und die Asymmetrien sowie die jeweiligen Fähigkeiten berücksichtigen.

6.2.

Um zu einem echten Bündnis zu werden, muss auf beiden Seiten nachgedacht werden. Dazu erforderlich ist neben einem besseren Verständnis, einer besseren Koordinierung und einer Zusammenarbeit beider Seiten

die Eigenverantwortung Afrikas,

das Handeln über die Regierungen hinaus,

die Einbeziehung aller nichtstaatlichen Akteure,

das Ziel, ein menschenwürdiges Leben für alle Menschen in Afrika zu schaffen.

7.   Das Cotonou-Nachfolgeabkommen und die Rolle der Zivilgesellschaft

7.1.

Die Europäische Kommission hat Verhandlungen über eine neue ehrgeizige Partnerschaft mit 79 AKP-Staaten aufgenommen. Sowohl die AKP als auch die EU schätzen die „politische Dimension“ als Erfolg des Cotonou-Abkommens und hegen den Wunsch, diese beizubehalten. Der Schwerpunkt liegt auf dem politischen Dialog über nationale, regionale und globale Fragen von beiderseitigem Interesse sowie auf einem Engagement für Menschenrechte, verantwortungsvolle Regierungsführung und Frieden und Stabilität.

7.2.

Eine solche, gemeinsam mit afrikanischen Ländern entwickelte neue und faire Handelsbeziehung dürfte menschenwürdige Arbeit fördern und öffentliche Dienstleistungen stützen. Im Rahmen der Handelspolitik muss die uneingeschränkte Achtung und der Schutz der Menschenrechte, hochwertiger Arbeitsplätze und der Umwelt sichergestellt und auch den Entwicklungserfordernissen weniger entwickelter Länder Rechnung getragen werden. Handel bietet nur dann große Chancen, wenn er hochwertige Arbeitsplätze schafft und nachhaltiges Wachstum fördert. Die Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft, eine verantwortungsvolle Führung und Transparenz sollten Teil jedweden Handelsabkommens sein.

7.3.

Bei der Förderung der zivilgesellschaftlichen Beziehungen im Rahmen des Cotonou-Abkommens kam dem EWSA eine zentrale Rolle zu. Jetzt ist es wichtig, dass ein kontinuierliches und noch größeres Engagement des EWSA und seiner Strukturen zu einem wesentlichen Bestandteil des Cotonou-Nachfolgeabkommens wird. Das gibt der Zivilgesellschaft der EU die Möglichkeit, die Zivilgesellschaft afrikanischer Länder dabei zu unterstützen, ein zuverlässiger und vertrauenswürdiger Partner für Investoren zu werden.

Brüssel, den 12. Dezember 2019

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 246 vom 28.7.2017, S. 71.

(2)  https://www.africa-eu-partnership.org//sites/default/files/documents/eas2007_joint_strategy_en.pdf.

(3)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 29.

(4)  Im Sinne von Katastrophen- und humanitärer Hilfe, Konfliktprävention, Demokratisierung, Entwicklungszusammenarbeit, nicht aber militärischer und grenzpolizeilicher Unterstützung und Zusammenarbeit.

(5)  So z. B. die dreigliedrige Grundsatzerklärung der IAO über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik.

(6)  Aus Studien geht hervor, dass ein gewisses Mindesteinkommen zur Verringerung des Migrationsdrucks führt, siehe z. B. Clemens, Does Development Reduce Migration? (2014) (http://ftp.iza.org/dp8592.pdf).

(7)  http://pubdocs.worldbank.org/en/992371492706371662/MigrationandDevelopmentBrief27.pdf.

(8)  Siehe u. a. den Weltbankbericht „Doing Business 2017“.

(9)  Strategische Mitteilung des Europäischen Zentrums für politische Strategie, „The Makings of an African Century“ (2017).

(10)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 27.

(11)  Deutsches Entwicklungsministerium, „Afrika und Europa — Neue Partnerschaft für Entwicklung, Frieden und Zukunft — Eckpunkte für einen Marshallplan mit Afrika“ und Unctad, „Economic Development in Africa Report 2016“.

(12)  Siehe u. a. Clemens, Does Development Reduce Migration? (2014) (http://ftp.iza.org/dp8592.pdf).

(13)  Africa's Development Dynamics 2018: Growth, Jobs and Inequalities, AUC/OECD 2018.

(14)  Eurostat, 2018.

(15)  So z. B. die dreigliedrige Grundsatzerklärung der IAO über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik.

(16)  Bspw. https://www.deutschlandfunk.de/das-globale-huhn-ghanas-bauern-leiden-unter-gefluegel.766.de.html?dram:article_id=433177; https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wirtschaft/international/835163_Was-Altkleider-fuer-Afrikas-Wirtschaft-bedeuten.html; https://www.dialog-milch.de/im-fokus-eu-milchpulver-und-der-milchmarkt-in-afrika/.


24.3.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 97/27


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: „Der Gebrauchswert zählt wieder: neue Perspektiven und Herausforderungen für europäische Produkte und Dienstleistungen“

(Initiativstellungnahme)

(2020/C 97/04)

Berichterstatter:

Dimitris DIMITRIADIS

Beschluss des Plenums

24.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 GO

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

19.11.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

11.12.2019

Plenartagung Nr.

548

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

191/3/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) vertritt die Auffassung, dass innovative, hoch spezialisierte Produkte und Dienstleistungen mit anerkannten und zertifizierten Schlüsselmerkmalen, die sowohl den Bedürfnissen der Kunden als auch den Kriterien der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit gerecht werden, zur Hauptstärke und zum Schwerpunkt der modernen europäischen Wettbewerbsfähigkeit werden können. In der vorliegenden Stellungnahme geht es darum, Europa angesichts des systemischen und sozioökonomischen Wandels in der Welt als Standort zu profilieren.

1.2.

Nach Ansicht des EWSA erlangt der Gebrauchswert aufgrund jüngster Entwicklungen wieder große Bedeutung im modernen Wettbewerb. Dies fördert eine nachhaltige Neuausrichtung der europäischen Produktion über alle Branchen und Industrien hinweg. Die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in Europa fallen anerkanntermaßen nicht nur sozioökonomisch stark ins Gewicht, sondern können auch die weltweite Nachfrage nach Vielfalt bedienen und damit zu einem wichtigen Faktor bei der Neupositionierung Europas in der modernen Arbeitsteilung werden.

1.3.

Das „Comeback des Gebrauchswerts“ passt zu den grundlegenden Qualitäten Europas, das eine erhebliche soziokulturelle, geologische und klimatische Vielfalt aufweist. Deshalb ist es so wichtig, hoch spezialisierte Produkte und Dienstleistungen anzustreben. Im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit sollten die Produktionsprozesse auch mit der politischen Ausrichtung auf die soziale und ökologische Nachhaltigkeit im Einklang stehen.

1.4.

Angesichts der in Schwellen- und Entwicklungsländern erzielten gewaltigen Größenvorteile und der Ablehnung sozialer und ökologischer Verantwortung bei gleichzeitiger Rückkehr zu einem aggressiven Protektionismus in vielen Industrieländern ist die Einführung spezialisierter, hochwertiger und nachhaltiger Produktionsstrukturen nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt wahrscheinlich der beste (wenn nicht der einzige) Ausweg.

1.5.

Deshalb empfiehlt der EWSA auf politischer Ebene Folgendes: (a) Maßnahmen der einzelnen Staaten und der EU zur Umsetzung eines Politikmix, der sich am Gebrauchswert orientiert und gebietsbezogen den örtlichen Bedingungen und Bedürfnissen angepasst ist; (b) Entwicklung einer gleichermaßen ehrgeizigen Industriepolitik für Europa, in deren Rahmen die Clusterbildung und der Kooperatismus (semi-)automonomer Hersteller gefördert wird, um in spezifischen Segmenten des Produktlebenszyklus die Vielfalt zu erhalten und dennoch Größenvorteile zu erzielen; (c) Verbreitung von Industriesymbiosen zur Förderung der Kreislaufwirtschaft; (d) Verbesserung des Zugangs zu Finanzmitteln durch Umsetzung des Aktionsplans für die Kapitalmarktunion und Förderung seiner Mikrofinanzinstrumente sowie durch grüne und gebrauchswertbezogene Konzepte im Bankwesen.

1.6.

Berufliche Bildung und lebenslanges Lernen bieten hervorragende Chancen für die Netzwerk- und Clusterbildung. So können die Kosten der menschlichen Entwicklung gesenkt und entscheidende horizontale Fähigkeiten gestärkt werden.

1.7.

Tätig werden muss die Politik auch im Bereich Datenzugang und -verwaltung. Allerdings kann es sich technisch und rechtlich schwierig gestalten, sowohl die digitale Souveränität als auch die Privatsphäre natürlicher und juristischer Personen sicherzustellen. Weiterhin müssen Produkthersteller und Dienstleistungsanbieter auch die Möglichkeit haben und in der Lage sein, die notwendigen Methoden und Verfahren — ob digital oder analog — zu nutzen. Zusammen mit der Bereitstellung von Open-Source-Software (OSS) schließt sich hier der Kreis zur notwendigen beruflichen Bildung und zum lebenslangen Lernen.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

Der „Gebrauchswert“ ist die Antwort auf die Frage: „Wozu dient ein Produkt oder eine Dienstleistung?“. In einem allgemeineren ganzheitlichen Ansatz umfasst er alle positiven oder negativen Verwendungen, egal ob diese direkt oder indirekt sind. Der Gebrauchswert bezieht sich auf alle echten, objektiven bzw. subjektiv antizipierten Merkmale eines Produkts oder einer Dienstleistung über den gesamten Lebenszyklus („von der Wiege bis zur Bahre“). Alles — ob materiell oder nicht —, was einen Gebrauchswert hat, ist ein „wirtschaftliches Gut“. In einer Zeit der „kommerzialisierten Wirtschaft“ hat der Tauschwert (der Preis) den Gebrauchswert auf dem Markt aus dem Blickfeld verdrängt, sodass der Gebrauchswert höchstens noch als durch den Tauschwert ausgedrückt wahrgenommen wurde.

2.2.

Aufgrund der immer schneller wachsenden Arbeitsproduktivität wandeln sich die Bedürfnisse der Menschen heute allmählich, wobei zunehmend der Wunsch nach Vielfalt im Vordergrund steht, während das Bedürfnis nach Menge auf den führenden Weltmärkten längst gesättigt ist. Die Verbraucherpräferenzen verschieben sich allgemein hin zu spezialisierten und differenzierten Produkten von zertifizierter Qualität. Dies gilt selbst in Schwellenländern in besonderen Segmenten der lokalen Nachfrage (je nach Alter, Bildungsstand, Art der Beschäftigung, Grad der Urbanisierung usw.).

2.3.

So überrascht es kaum, dass es bei den neuesten technologischen und verfahrenstechnischen Aktualisierungen um eine Steigerung der Produktivität geht, und zwar nicht nur, um große Quantitäten, sondern vor allem differenzierte Qualitäten herzustellen und so die Produktion besser den bestehenden Präferenzen anzupassen.

2.4.

Außerdem löst der immer schnellere technische Wandel einen Prozess der schrittweisen Entkommerzialisierung der Produkte aus, wenn auch in den verschiedenen Branchen in unterschiedlichem Ausmaß. Das alles führt dazu, dass der Gebrauchswert im aktuellen Wettbewerb wieder große Bedeutung erlangt. Dies könnte als Basis für eine nachhaltige Neuausrichtung der europäischen Produktion über alle Branchen hinweg dienen.

2.5.

Die EU-Institutionen haben diese strukturellen Veränderungen offenbar erkannt. Die Kommission konzentriert sich in ihrer Mitteilung COM(2017) 479 auf die Notwendigkeit einer intelligenten, innovativen und nachhaltigen europäischen Industrie. Der EWSA hat hierauf mit einer Stellungnahme (1) reagiert, in der er auf die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der KMU und der Förderung relevanter Innovationen hinweist.

2.6.

In einer neueren Sondierungsstellungnahme fordert der EWSA einen ganzheitlichen Ansatz, der Wachstum, Klima, ökologischen Herausforderungen und gesellschaftlichen Problemen mit einem Konzept für einen fairen Übergang gerecht wird. Auf dieser Grundlage forderte der EWSA die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten darüber hinaus auf, „eine langfristige und umfassende Strategie mit einer globalen Perspektive“ zu entwickeln, in der „die Attraktivität Europas eine vorrangige Frage in einer auf Innovation und Wettbewerbsfähigkeit basierenden Industriepolitik sein […] muss“ (2).

2.7.

Unlängst untersuchte der EWSA in seiner Initiativstellungnahme „Eine konsistente Klima- und Energiepolitik aus Sicht der Industrie“ (3) vor dem Hintergrund des Dilemmas hoher Kosten und des Umgangs mit dem Treibhausgaseffekt die technische und rechtliche Machbarkeit von Grenzausgleichsmaßnahmen für den Binnenpreis von Treibhausgasemissionen. Darin empfahl der EWSA der Kommission, diese und weitere politische Optionen wie z. B. ein reformiertes Emissionshandelssystem (ETS), ein CO2-Grenzausgleichssystem und einen an der CO2-Intensität orientierten Mehrwertsteuersatz eingehender zu prüfen.

2.8.

Die vorliegende Initiativstellungnahme soll einen Schritt weitergehen. Es geht darum, welche Elemente ein umfassendes industriepolitisches Konzept beinhalten sollte, um die europäische Produktion von Gütern und Dienstleistungen im globalen Kontext neu zu positionieren, und zwar auf der Grundlage eines ökosozialen und durch einen offenen Markt gekennzeichneten Modells, das der Tradition und der Zukunft der EU gerecht wird.

3.   Die Mikroebene

3.1.

Die genannten strukturellen Änderungen bringen den „Nutzen“ von KMU auf den neuesten Stand: Neben ihrer nachgewiesenen sozioökonomischen Wirkung — erhebliche zusätzliche Wertschöpfung in einer modernen Gesellschaft und Schaffung neuer Arbeitsplätze — können KMU ein wesentlicher Faktor für die Neupositionierung der europäischen Produktion werden, da sie in der Lage sind, die spezifischen Bedürfnisse von Nischenmärkten und die wachsende weltweite Nachfrage nach Vielfalt zu bedienen.

3.2.

Dadurch, dass die heutige Bedeutung von KMU anerkannt wird, sind diese nicht automatisch besser vor Risiken gefeit. Daher geht es in dieser Stellungnahme auch darum, neue Wege aufzuzeigen, wie kleine und mittlere europäische Hersteller dabei unterstützt werden können, größenbedingte Nachteile zu überwinden. Der EWSA bekräftigt seine Forderung, neue Methoden der Netzwerk- und der Clusterbildung sowie des Kooperatismus zu fördern. Es gilt, die Autonomie der Hersteller im Sinne der Produktion differenzierter Qualitätsprodukte zu erhalten und zugleich einige Segmente des Lebenszyklus des produzierten Outputs gemeinsam zu bedienen, um Größenvorteile zu nutzen. Das gilt zum Beispiel für die Bereiche Design und Vermarktung von Produkten, Einrichtung von Start-up-Inkubatoren oder Vorinkubatoren, Transport und Logistik, Zugang zu finanziellen Mitteln, Zugang und Verwendung von Big Data und spezialisierten Datenbanken sowie Interkonnektivität mit Blick auf die Kreislaufwirtschaft.

3.3.

Ein verbesserter Zugang zu finanziellen Ressourcen und Dienstleistungen ist für europäische Unternehmen und insbesondere für KMU von entscheidender Bedeutung. Die Umsetzung des Aktionsplans für die Kapitalmarktunion ist wesentlich, da dieser Mikrofinanzinstrumente für Innovation, Start-ups und nicht börsennotierte Unternehmen vorsieht. Dadurch wird es einfacher, auf Märkten für öffentliche Aufträge tätig zu werden, Kapital zu akquirieren usw. Darüber hinaus sollten aufgrund der (direkten oder indirekten) ökologischen und sozialen Aspekte von Produkten und Dienstleistungen grüne und gebrauchswertbezogene Konzepte im Bankwesen stärker gefördert werden. Geeignete Kompetenzzentren könnten die KMU dabei unterstützen, Nachhaltigkeitsprinzipien in ihren Betrieb zu integrieren.

3.4.

Besondere Aufmerksamkeit sollte auch dem Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft gelten, denn die Hersteller müssen zur Zusammenarbeit und effizienten gemeinsamen Nutzung von Ressourcen veranlasst werden. Aus diesem Grund und aufgrund der Notwendigkeit, den europäischen Verbrauchern möglichst objektive Informationen zur Verfügung zu stellen, befürwortet der EWSA die Schaffung von Ökoindustrieparks und -distrikten. Gemeinschaften aus produzierendem und Dienstleistungsgewerbe können zu einer besseren ökologischen und wirtschaftlichen Bilanz beitragen, da umwelt- und ressourcenbezogene Herausforderungen in den Bereichen Energie, Wasser und Material gemeinsam angegangen werden. Diese räumliche „Symbiose“ fördert die gemeinsame Nutzung von Ressourcen zwischen Unternehmen der gleichen Branche oder sogar über verschiedene Branchen hinweg.

3.5.

Die Vorteile von Industriesymbiosen sind auf allen Nachhaltigkeitsebenen spürbar: Durch die Ausweitung der vor- und nachgelagerten Verflechtungen in Industrieparks und Produktionsdistrikten werden die Kosten der Abfallentsorgung und -behandlung zu einem Profitcenter, da damit die Rohstoffkosten gesenkt, die Verwendung zu wenig genutzter Ressourcen und Anlagen maximiert und die Kosten für neue Infrastruktur verteilt werden und in eine Zusammenarbeit mit Interessenträgern aus der gleichen oder sogar anderen Branchen investiert wird.

3.6.

Darüber hinaus wird Ressourcenmanagement zu einer Quelle der Innovation, wodurch „nutzlose“ oder „nicht verwertbare“ Ressourcen an Wert gewinnen und sich neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnen, während zugleich für eine bessere Einhaltung von Vorschriften gesorgt und das Risiko von Geldstrafen verringert wird. Gleichermaßen wichtig sind die Vorteile für die Umwelt: Durch Industriesymbiosen gehen der Rohstoffverbrauch, das Nettoabfallaufkommen und die CO2-Emissionen zurück, ohne dass die wirtschaftliche Tätigkeit beeinträchtigt wird. Diese Faktoren können als Grundlage für eine globale Zertifizierung mit Wiedererkennungswert von Endprodukten dienen, was die Qualität europäischer Produkte und Dienstleistungen weiter heben würde.

3.7.

Wird die Fähigkeit europäischer Unternehmen und insbesondere kleiner und mittlerer Hersteller verbessert, relevante Daten und Informationen effizient zu verwalten (Business Intelligence ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger neuer Begriff), verbessern sich ihre Überlebenschancen und ihre Fähigkeit, sich an einen globalen Markt im Wandel anzupassen:

intelligentere Nutzung von Ressourcen, da Echtzeitdaten zum Status von Produkten wie Fahrzeugen und anderen Maschinen Unternehmen in die Lage versetzen, mögliche Ausfälle zu identifizieren und eine vorausschauende Wartung und Reparatur entsprechend zu planen. So kann die Lebensdauer von Produkten verlängert werden;

größere Versorgungssicherheit dank des derzeitigen Übergangs zu einer Kreislaufwirtschaft. Dies sorgt für eine geringere Abhängigkeit von „unberührten“ Rohstoffen und eine zunehmende Verwendung recycelter Waren. So verringert sich das Risiko, das für Unternehmen durch volatile Rohstoffpreise entsteht, wodurch sich die Resilienz der Unternehmen verbessert;

Bereitstellung von Produkten als Dienstleistung und Verwendung von Sensoren zur Überwachung der Nutzung — Verbraucher zahlen dann entsprechend ihrem Verbrauch, während Unternehmen weiterhin Eigentümer des Produkts sind. So können Produkte länger genutzt werden und zahlen die Verbraucher nur für die tatsächliche Nutzung;

erhöhte Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit, da Herausforderungen wie höhere Volatilität, Kundeninteraktion und -bindung sowie die kostspielige Entsorgung von Abfällen richtig angegangen werden;

neue Wege des kreativen Umgangs mit Kunden, die es Unternehmen erlauben, persönlichere Beziehungen zu ihren Kunden aufzubauen und Produkte und Dienstleistungen besser auf sie zuzuschneiden.

3.8.

Last but not least sind Netzwerk- und Clusterbildung ebenfalls relevant, wenn es darum geht, Mitarbeitern die erforderlichen Fähigkeiten zu vermitteln. Das Cedefop hat betont, dass insbesondere beim arbeitsbasierten Lernen eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Institutionen der beruflichen Bildung, Universitäten, Forschungszentren und Unternehmen erforderlich ist. Horizontale Fähigkeiten sollten durch Ausbildung und auch lebenslanges Lernen gestärkt werden, um flexiblere Herstellungsverfahren zu schaffen und Kreativität und Innovation zu verbessern, auch im Hinblick auf die digitale Transformation usw.

4.   Die Makroebene

4.1.

Die Reindustrialisierung im Sinne des Wiederaufbaus einer multisektoralen Produktionsstruktur in Europa kam nach einer Periode der Deindustrialisierung und zunehmendem Outsourcing in andere, vornehmlich außereuropäische Regionen auf. Die Wiederherstellung eines vielfältigen, produktiven und nachhaltigen „Ökosystems“ wirkt sich anerkanntermaßen in vielerlei Hinsicht positiv auf die sozioökonomische Entwicklung aus. Dies ist auf Folgendes zurückzuführen: (a) Es entstehen produktive vor- und nachgelagerte Verflechtungen; (b) lokale Märkte werden gestärkt; (c) die produktive Abhängigkeit verringert sich und die Widerstandsfähigkeit der lokalen Wirtschaft nimmt zu; und (d) es kommt zu interdisziplinären Aktivitäten im Bereich FuE, was zu mehr Innovation bei Produktionsprozessen und in Bezug auf die Eigenschaften der angebotenen Produkte und Dienstleistungen führt.

4.2.

Um eine Wende in der europäischen Produktion herbeizuführen und bestehende globale Trends im Bereich des „Reshoring“ (Produktionsrückverlagerung) zu nutzen, muss die europäische Wettbewerbsfähigkeit im Rahmen der aktuellen internationalisierten Märkte neu aufgestellt werden. Die globalen Wertschöpfungsketten erfahren erhebliche Veränderungen: (a) Sie schrumpfen seit der weltweiten Finanzkrise beständig; (b) „Regionalisierung“ dient als Strategie, um näher an die entscheidenden Verbrauchermärkte zu rücken; (c) die räumliche Aufteilung von Produktionsketten wird neu strukturiert.

4.3.

Die Priorisierung von Qualität neben dem Preis und die Entkommerzialisierung der Waren entsprechen dem Wesen Europas als soziokulturell, geologisch und klimatisch vielfältige Region, in der — vielleicht genau aus diesem Grund — KMU in der Wirtschaft weiterhin eine entscheidende Rolle als „Verstärker“ spielen. Innovative, hoch spezialisierte Produkte und Dienstleistungen mit anerkannten und zertifizierten Schlüsselmerkmalen bereitzustellen, die den Bedürfnissen der Kunden und der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit gerecht werden, kann zur Hauptstärke und zum Schwerpunkt der modernen europäischen Wettbewerbsfähigkeit werden.

4.4.

Dieses Argument gewinnt noch mehr an Schlagkraft angesichts dessen, dass eine neue bipolare Welt entsteht: gewaltige Größenvorteile in Schwellen- und Entwicklungsländern und die Ablehnung sozialer und ökologischer Verantwortung bei gleichzeitiger Rückkehr zu einem aggressiven Protektionismus in vielen Industrieländern — und Europa liegt genau zwischen den Fronten (zum Beispiel im Handelskrieg zwischen den USA und China). Spektakuläre technische, soziale und demografische Veränderungen führen zu dramatischen Transformationen in der Ausgestaltung und Struktur der Weltwirtschaft und es entstehen neue lokale Märkte und neue Bedürfnisse. Sich an systemische Entwicklungen anzupassen und die oben genannten Kriterien einer spezialisierten, hochwertigen und nachhaltigen Produktion zu übernehmen, könnte ein Ausweg sein, nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt.

5.   Maßnahmenvorschlag für die lokale, nationale und EU-Ebene

5.1.

Um alle Herausforderungen anzugehen, die mit der Profilierung des Standorts Europa und der Stärkung der Rolle einhergehen, die europäische Produkte und Dienstleistungen in der globalen Wirtschaft spielen, müssen die EU und die Mitgliedstaaten erheblich mehr in Forschung und Entwicklung, Bildung, Infrastruktur, Marketing und innovative Technologien investieren. Dazu bedarf es — wie von den europäischen Sozialpartnern, der Zivilgesellschaft und weiteren Interessenträgern gefordert — einer ehrgeizigen Industriepolitik für Europa, mit einem Schwerpunkt auf Innovation, intelligenter Regulierung, Sozialpartnerschaft, Freihandel und sozialer und ökologischer Verantwortung.

5.2.

Da sich der globale Wettbewerb rasch verändert und intensiviert, geht es zwingend auch um die Handelspolitik. Diese ist darüber hinaus ein wesentliches Instrument, um intern erzeugtes Marktversagen anzugehen. Allerdings darf die Handelspolitik nicht in eine Protektionismusspirale münden. Vielmehr sollten die nationale und die EU-Ebene einen Politikmix entwickeln und umsetzen, der sich am Gebrauchswert und lokalen Charakteristika und Bedürfnissen orientiert: (a) Standardisierungs- und Zertifizierungsmaßnahmen zum Schutz europäischer Marken im Inland und international als Werbung; (b) (pro-)aktive Wirtschaftsdiplomatie, die auf internationalen politischen, kulturellen und sozioökonomischen Beziehungen fußt; (c) das öffentliche Beschaffungswesen als Instrument zur Durchsetzung qualitativer Standards auf den europäischen Märkten; (d) Förderung notwendiger Infrastrukturinvestitionen und institutioneller Vereinbarungen, die die Wettbewerbsfähigkeit der lokalen Produktion weiter stärken.

5.3.

Die oben genannten intelligenten Handelsbestimmungen sollten einhergehen mit einer intelligenten Industriepolitik der EU und der Mitgliedstaaten: (a) Digitalisierung sowie IT- und KI-gestützte Anwendungen in der Produktion; (b) Investitionen in die Entwicklung stärker differenzierter und spezialisierter Produkte und Dienstleistungen; (c) Investitionen in die technische Fähigkeit, eine differenziertere Produktvielfalt effizient herzustellen; (d) Förderung der Clusterbildung und des Kooperatismus (semi-)autonomer Hersteller, um in spezifischen, sorgfältig ausgewählten Segmenten des Produktlebenszyklus die Vielfalt zu erhalten und dennoch Größenvorteile zu erzielen; (e) Verbreitung von Industriesymbiosen zur Förderung der Kreislaufwirtschaft; (f) weitere Stärkung der Verknüpfung von Produktion und FuE, auch in weniger ingenieurtechnischen Bereichen (siehe die diesbezügliche Diskussion über das neue Programm Horizont Europa 2020–2025).

5.4.

Insbesondere für die oben genannte Förderung einer gezielten Clusterbildung und der Industriesymbiose bedarf es regionaler branchenspezifischer Studien, um diejenigen Segmente lokaler Produktion aufzuzeigen, in denen die verschiedenen Arten der Netzwerkbildung und des Kooperatismus etabliert werden könnten.

5.5.

Wie bereits erwähnt, sind berufliche Bildung und lebenslanges Lernen Instrumente der Netzwerk- und der Clusterbildung, anhand derer Größenvorteile mit Blick auf die von den Arbeitgebern zu tragenden Kosten der menschlichen Entwicklung erzielt werden können. Auch können über berufliche Bildung und lebenslanges Lernen entscheidende Fähigkeiten gestärkt werden, die Kreativität, Innovation und Anpassungsfähigkeit im Produktionsprozess fördern. Im Rahmen künftiger Strategien der europäischen beruflichen Bildung und des lebenslangen Lernens müssen diese horizontalen Fähigkeiten auf allen Ebenen priorisiert werden. Dabei sind neue Lernmethoden, aktuelle Technologien und neue Finanzierungsmechanismen anzuwenden, um Betrieben dabei zu helfen, die neuesten Errungenschaften zu nutzen und sie für die Entwicklung neuer differenzierter Produkte heranzuziehen.

5.6.

Tätig werden muss die Politik auch im Bereich Datenzugang und -verwaltung. Hierbei geht es darum, europäische Hersteller und Dienstleistungsanbieter dabei zu unterstützen, auf die aktuelle Entwicklung der globalisierten Märkte zu reagieren und ihren Wettbewerbsvorteil bei hoch spezialisierten Waren und Dienstleistungen auszuschöpfen. Gerade für KMU ist dies besonders wichtig. Allerdings ist ein freierer Zugang zu Daten mit einem höheren Risiko des Datenmissbrauchs verbunden. Sowohl die digitale Souveränität als auch die Privatsphäre natürlicher und juristischer Personen sicherzustellen, kann eine technisch und rechtlich schwierige Aufgabe sein, ist jedoch unabdingbar.

5.7.

Neben dem einfacheren Zugang zu einer exponentiell wachsenden Menge an Daten müssen Produkthersteller und Dienstleistungsanbieter außerdem die Möglichkeit haben und in der Lage sein, das notwendige Instrumentarium der Datenverwaltung zu nutzen, das aus — digitalen und analogen — Methoden und Prozessen besteht. „Business Intelligence“ ist ein relativ neuer Begriff in der einschlägigen Literatur und beschreibt genau diese Fähigkeit, nämlich Informationen und Datensätze zu nutzen. Darüber hinaus sind technische und rechtliche Maßnahmen zur Bereitstellung von Open-Source-Software (OSS) zu ergreifen. Hier schließt sich der Kreis zu den nötigen horizontalen Fähigkeiten, die durch berufliche Bildung und lebenslanges Lernen vermittelt werden müssen.

Brüssel, den 11. Dezember 2019

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 70.

(2)  ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 10.

(3)  ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 59.


24.3.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 97/32


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Gemeinsame EU-Mindeststandards im Bereich der Arbeitslosenversicherung — ein konkreter Schritt zur wirksamen Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte“

(Initiativstellungnahme)

(2020/C 97/05)

Berichterstatter:

Oliver RÖPKE

Beschluss des Plenums

15.3.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 GO

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

15.11.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

11.12.2019

Plenartagung Nr.

548

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

141/65/14

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Auf dem EU-Sozialgipfel am 17. November 2017 in Göteborg wurde feierlich die europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) proklamiert. Damit die Säule mit Leben gefüllt wird, bedarf es konkreter Schritte zur wirksamen Umsetzung durch die EU und durch die Mitgliedstaaten.

1.2.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) verweist auf Grundsatz 13 der ESSR über Leistungen bei Arbeitslosigkeit: Danach haben Arbeitslose das Recht auf angemessene Unterstützung öffentlicher Arbeitsverwaltungen bei der (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt und auf angemessene Leistungen von angemessener Dauer entsprechend ihren Beiträgen und den nationalen Bestimmungen zur Anspruchsberechtigung. Diese Leistungen sollten die Empfänger nicht davon abhalten, schnell wieder in Beschäftigung zurückzukehren.

1.3.

Die Arbeitslosenversicherung ist — trotz unterschiedlicher nationaler Ausgestaltungen — ein zentraler Bestandteil der Sozialsysteme aller Mitgliedstaaten. Der EWSA folgt der Auffassung der Kommission, wonach verbesserte Standards bei den Arbeitslosenversicherungssystemen der Mitgliedstaaten ein besseres Funktionieren der Arbeitsmärkte ermöglichen und es Mitgliedstaaten mit großzügigeren Arbeitslosenversicherungssystemen und höheren Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik und -maßnahmen besser gelingt, Arbeitslose wieder nachhaltig in den Arbeitsmarkt zu integrieren (1). Gleichzeitig unterstreicht der EWSA die wichtige Funktion als automatischer Stabilisator.

1.4.

Derzeit besteht unter den Mitgliedstaaten eine große Divergenz bei den Leistungen bei Arbeitslosigkeit. Der EWSA verweist auf den Gemeinsamen Beschäftigungsbericht 2019, wonach die Bereitstellung auf angemessene Dauer von ausreichenden Arbeitslosengeldern, zu denen alle Arbeitnehmer Zugang haben und die von wirksamen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen begleitet werden, von entscheidender Bedeutung ist, um Arbeitsuchende beim Übergang auf den Arbeitsmarkt zu unterstützen (2).

1.5.

Der EWSA bekräftigt seine Forderung nach hohen Beschäftigungs- und Sozialstandards (3) und empfiehlt daher die Festlegung von Zielvorgaben für die Leistungen bei Arbeitslosigkeit der Mitgliedstaaten. Zielvorgaben sollten für Nettoersatzrate, Anspruchsdauer und Abdeckungsquote erstellt werden. Darüber hinaus empfiehlt der EWSA Zielvorgaben für Weiterbildung und Aktivierung.

1.6.

In einem ersten Schritt sollten Zielvorgaben für die Leistungen bei Arbeitslosigkeit in einem Benchmark-Prozess im Rahmen des Europäischen Semesters festgelegt und überwacht werden. Der EWSA bekräftigt seine Empfehlung, wonach sich die ESSR auch auf die wirtschaftspolitische Steuerung in der EU auswirken soll (4). Nach Ansicht des EWSA sollten die länderspezifischen Empfehlungen an die Mitgliedstaaten im Rahmen des Europäischen Semesters konkrete Zielvorgaben in Bezug auf Nettoersatzrate, Anspruchsdauer und Abdeckungsquote der Leistungen bei Arbeitslosigkeit enthalten, ebenso wie für Weiterbildung und Aktivierung. Die länderspezifischen Empfehlungen werden von der Kommission erstellt, vom Rat beschlossen und vom Europäischen Rat gebilligt.

1.7.

Grundlage für die länderspezifischen Empfehlungen sollten die integrierten Leitlinien sein (5). Gemäß Leitlinie 7 der beschäftigungspolitischen Leitlinien 2018 (6) , die für 2019 weiterhin aufrecht bleiben (7), sollten die Mitgliedstaaten Arbeitslosen angemessene Leistungen von angemessener Dauer entsprechend ihren Beiträgen und den nationalen Bestimmungen zur Anspruchsberechtigung gewähren. Diese Leistungen sollten jedoch die Empfänger nicht davon abhalten, schnell wieder in Beschäftigung zurückzukehren.

1.8.

Die ESSR wird von einem sozialpolitischen Scoreboard flankiert, welches die Umsetzung der Säule überwacht, indem es Trends und Fortschritte in den Mitgliedstaaten verfolgt und diese in das Europäische Semester einfließen lässt. Der EWSA empfiehlt, künftig auch die Arbeitslosenleistungen im sozialpolitischen Scoreboard zu überwachen. Darüber hinaus empfiehlt er einen Benchmark-Prozess für Leistungen bei Arbeitslosigkeit als Ergänzung zum sozialpolitischen Scoreboard. Der EWSA begrüßt daher ausdrücklich die aktuellen Bemühungen der Kommission um einen Benchmark-Prozess für Leistungen bei Arbeitslosigkeit, wobei diese Anstrengungen intensiviert und mit einem dauerhaften Monitoring-Prozess verbunden werden sollten.

1.9.

Das Ziel des vorgeschlagenen Benchmark-Prozesses für Leistungen bei Arbeitslosigkeit ist die soziale Aufwärtskonvergenz der Mitgliedstaaten und ein besseres Funktionieren der Arbeitsmärkte. Der Benchmark-Prozess muss auf einer Analyse des Status quo beruhen, die nicht verkürzt oder beschönigend sein darf. Der Benchmark-Prozess darf sich nicht auf Monitoring und Evaluation beschränken. Die Mitgliedstaaten sollen durch Analyse der Bestleister (Benchlearning) voneinander lernen und Verbesserungen umsetzen (Benchaction).

1.10.

Der Benchmark-Prozess für Leistungen bei Arbeitslosigkeit sollte von der Kommission gesteuert werden. Die Festlegung von Benchmarks sollte unter ständiger und intensiver Einbeziehung der Sozialpartner erfolgen.

1.11.

Soziale Zielvorgaben müssen mit der Zeit zu sozialer Konvergenz führen. Die Menschen müssen erfahren, dass die Grundsätze der ESSR nicht nur auf dem Papier festgeschrieben sind, sondern auch konkret umgesetzt werden und ihre Lebensbedingungen schrittweise verbessern.

1.12.

Der EWSA empfiehlt die genaue Überwachung und Evaluierung der Ergebnisse des Benchmark-Prozesses. Wenn kein ausreichender Fortschritt in Richtung der gewünschten Effekte stattfindet, sollte ein rechtlich verbindliches Instrument eingeführt werden, um die Mitgliedstaaten bei ihren Bemühungen, die Systeme der Arbeitslosenversicherung zu modernisieren, zu unterstützen und zu ergänzen. Neben einer Empfehlung des Rates als Richtschnur für die Mitgliedstaaten empfiehlt der EWSA die Einführung einer Richtlinie gemäß Artikel 153 AEUV zur Festlegung rechtlich verbindlicher Mindeststandards für die Systeme der Arbeitslosenversicherung der Mitgliedstaaten. Diese Richtlinie sollte Vorgaben für EU-weite Mindeststandards für Nettoersatzrate, Anspruchsdauer und Abdeckungsquote der Leistungen bei Arbeitslosigkeit enthalten. Der EWSA spricht sich darüber hinaus auch für EU-weite Mindeststandards für Weiterbildung und Aktivierung im Rahmen der Arbeitslosenversicherung aus.

1.13.

Rechtlich verbindliche Mindeststandards wären schrittweise anzuwenden. Eine angemessene Zeitdauer sollte festgelegt werden, damit alle Mitgliedstaaten die gemeinsamen Standards erreichen können.

1.14.

Nach Artikel 153 AEUV dürfen die anerkannte Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen, und das finanzielle Gleichgewicht dieser Systeme dadurch nicht erheblich beeinträchtigt werden. Dieser Grundsatz sollte unabhängig von der Form oder dem Inhalt des Systems in dem betreffenden Mitgliedstaat beachtet werden. Mitgliedstaaten wären nicht daran gehindert, das vertraglich vorgesehene Recht wahrzunehmen, höhere (strengere) Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu treffen. Auf die unterschiedliche Organisation der nationalen Versicherungssysteme, die Einbindung der Sozialpartner sowie die Finanzierung ist dabei besonders Bedacht zu nehmen.

2.   Ausgangslage und Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

Nach den schmerzhaften Erfahrungen der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008 und den darauffolgenden Instabilitäten wächst die Wirtschaft nun wieder und die Arbeitslosenquoten sind rückläufig. Die aktuelle Erholung der Arbeitsmärkte verläuft jedoch nicht für alle Mitgliedstaaten, Regionen und Bevölkerungsgruppen gleich. Der EWSA verweist diesbezüglich auf den Gemeinsamen Beschäftigungsbericht 2019 (8).

2.2.

Der EWSA teilt die Ansicht des Rates, wonach sich die Mitgliedstaaten und die EU mit den sozialen Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise befassen und darauf hinarbeiten sollten, eine inklusive Gesellschaft aufzubauen. Ungleichheiten und Diskriminierung sollten bekämpft werden. Zugangsmöglichkeiten und Chancen sollten für alle sichergestellt und Armut und soziale Ausgrenzung sollten abgebaut werden, insbesondere indem für gut funktionierende Arbeitsmärkte und soziale Schutzsysteme gesorgt wird (9).

2.3.

Die EU hat sich mit der Europa-2020-Strategie zum Ziel gesetzt, die Anzahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen bis zum Jahr 2020 um 20 Mio. zu verringern. Dieses Ziel liegt in weiter Ferne. Zwar erleben wir seit dem Jahr 2012 (als beinahe 25 % der gesamten EU-Bevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht waren) kontinuierliche Verbesserungen, nach wie vor steht Europa aber vor enormen Herausforderungen. Im Jahr 2018 waren knapp 22 % der EU-Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht (10).

2.4.

Die Arbeitslosenversicherung ist ein zentraler Bestandteil der Sozialsysteme aller Mitgliedstaaten. Sie bietet ein Sicherheitsnetz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für den Fall des Verlustes des Arbeitsplatzes und schützt vor Armut. Gleichzeitig sind Arbeitslosenleistungen automatische Stabilisatoren, weil bei einem allgemeinen Anstieg von Arbeitslosigkeit die Einkommen und damit der Konsum nicht so stark einbrechen. Effektive und adäquate Arbeitslosenleistungen ermöglichen es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern außerdem, Jobs zu finden, die ihren Erwartungen und Qualifikationen entsprechen bzw. im Rahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik Umschulungen zu absolvieren.

2.5.

Der soziale Schutz hat sich in den letzten Jahren infolge der Krisenpolitik in einigen Mitgliedstaaten verschlechtert. Viele Menschen sehen ihre sozialen Interessen und Anforderungen in der EU zunehmend nicht gewährleistet. Mit dem Brexit kommt es erstmals zu einer Umkehr der europäischen Integration. Diese Entwicklungen müssen als Warnsignal verstanden werden. Um die EU zukunftsfähig zu machen und das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen, braucht es aus Sicht des EWSA eine Stärkung der sozialen Dimension der EU und müssen zugleich auch andere aktuelle Herausforderungen wie Klimawandel und Digitalisierung angegangen werden. Dazu ist auf der Basis einer stabilen, nachhaltigen und inklusiven Wirtschaft ein Engagement auf allen Ebenen nötig, auch das der Mitgliedstaaten, Sozialpartner und Akteure der Zivilgesellschaft (11).

2.6.

Auf dem EU-Sozialgipfel am 17. November 2017 in Göteborg proklamierten das Europäische Parlament, der Rat und die Europäische Kommission feierlich die europäische Säule sozialer Rechte (ESSR). Damit diese mit Leben gefüllt wird, bedarf es konkreter Schritte zur wirksamen Umsetzung durch die EU und durch die Mitgliedstaaten. Die neu gewählte Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen kündigt in den politischen Leitlinien für die Europäische Kommission 2019-2024 einen Aktionsplan für die vollständige Umsetzung der ESSR an. Der EWSA möchte mit seinem Vorschlag für Zielvorgaben für Leistungen bei Arbeitslosigkeit der Mitgliedstaaten einen Beitrag zur Umsetzung der ESSR leisten.

2.7.

Der EWSA verweist auf Grundsatz 13 der europäischen Säule sozialer Rechte (Leistungen bei Arbeitslosigkeit): Arbeitslose haben das Recht auf angemessene Unterstützung öffentlicher Arbeitsverwaltungen bei der (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen sowie auf angemessene Leistungen von angemessener Dauer entsprechend ihren Beiträgen und den nationalen Bestimmungen zur Anspruchsberechtigung. Diese Leistungen sollten die Empfänger nicht davon abhalten, schnell wieder in Beschäftigung zurückzukehren.

2.8.

In diesem Zusammenhang verweist der EWSA auch auf Grundsatz 17 der ESSR, wonach Menschen mit Behinderungen das Recht auf Einkommensbeihilfen haben, die ein würdevolles Leben sicherstellen, sowie auf Dienstleistungen, die ihnen Teilhabe am Arbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Beim Anspruchszeitraum in der Arbeitslosenversicherung sollte berücksichtigt werden, dass die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz oder Umschulungsmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen deutlich schwieriger sind und mehr Zeit erfordern.

2.9.

Die Arbeitslosenversicherung ist ein zentraler Bestandteil der Sozialsysteme aller Mitgliedstaaten. Die nationalen Bestimmungen der Arbeitslosenversicherungssysteme sind sehr unterschiedlich ausgestaltet, sowohl was die Anspruchsberechtigung als auch die Höhe, Dauer und den Berechnungsmodus betrifft. Der EWSA empfiehlt die Festlegung von Zielvorgaben für Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Rahmen des Europäischen Semesters. Darüber hinaus weist der EWSA auf die Notwendigkeit der Absicherung fundamentaler Sozialleistungen aufgrund gemeinsamer Regeln auf EU-Ebene hin (12). Er empfiehlt eine laufende Evaluierung des Benchmark-Prozesses. Durch eine Empfehlung des Rates könnten in den Mitgliedstaaten Debatten und Reformen in Bezug auf die Einführung gemeinsamer Mindeststandards angestoßen und angeleitet werden und eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in diesem Bereich ermöglicht werden.

2.10.

Wenn mit der Zeit kein ausreichender Fortschritt in Richtung der gewünschten Effekte stattfindet, empfiehlt der EWSA die Einführung einer Richtlinie gemäß Artikel 153 AEUV zur Festlegung rechtlich verbindlicher Mindeststandards für die Systeme der Arbeitslosenversicherung der Mitgliedstaaten. Diese Richtlinie sollte Vorgaben für EU-weite Mindeststandards für Nettoersatzrate, Anspruchsdauer und Abdeckungsquote der Leistungen bei Arbeitslosigkeit enthalten. Der EWSA spricht sich darüber hinaus auch für EU-weite Mindeststandards für Weiterbildung und Aktivierung im Rahmen der Arbeitslosenversicherung aus. Mindestvorschriften sollen die Mitgliedstaaten nicht davon abhalten, höhere Standards festzusetzen (siehe Punkt 16 der Präambel der europäischen Säule sozialer Rechte). Bereits bestehende Standards in Mitgliedstaaten sollen nicht abgesenkt werden. Der EWSA empfiehlt, Mindestvorschriften für die Arbeitslosenversicherungssysteme der Mitgliedstaaten unter gebührender Anwendung einer Nicht-Rückschrittsklausel (Verbot eines Rückschritts aus Anlass der Einführung von Mindeststandards) festzusetzen. Auf diese Weise wird dem EU-Ziel Rechnung getragen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern im Sinne einer Angleichung nach oben (Artikel 151 AEUV).

2.11.

Bei der Unterstützung arbeitsloser Personen ist zwischen Leistungen der sozialen Sicherheit (Versicherungsleistungen) und Sozialhilfe zu unterschieden. Versicherungsleistungen beruhen in der Regel auf Beiträgen und setzen eine bestimmte Beschäftigungsdauer voraus. Bei der Sozialhilfe handelt es sich um eine beitragsunabhängige, steuerfinanzierte Fürsorgeleistung, die der Unterstützung von Menschen dient, die für ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft nicht aufkommen können und die einer Bedarfsprüfung unterliegt. Der EWSA behandelt mit der vorliegenden Initiativstellungnahme Leistungen der sozialen Sicherheit.

2.12.

Im Zusammenhang mit der Debatte über die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion schlägt die Kommission die Schaffung einer Stabilisierungsfunktion für die Eurozone (mit Beteiligungsmöglichkeit für Mitgliedstaaten außerhalb der Eurozone) vor, die es ermöglichen soll, in Zukunft besser auf asymmetrische Schocks zu reagieren. Als eine mögliche Option für eine Stabilisierungsfunktion nennt die Kommission die Schaffung einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung als „Rückversicherungsfonds“ für die nationalen Arbeitslosenversicherungssysteme (13). Dieser fiskalpolitische Vorschlag, der derzeit kontrovers diskutiert wird, ist von der vorliegenden Initiativstellungnahme, die einen sozialpolitischen Vorschlag zur Stärkung der sozialen Dimension der EU darstellt, klar zu trennen.

2.13.

Der EWSA hat sich kürzlich dafür ausgesprochen, die Möglichkeit EU-weiter Mindeststandards in den nationalen Arbeitslosenregimen zu prüfen, damit u. a. jeder Arbeitsuchende bezugsberechtigt ist (14). Diesem Auftrag kommt der Ausschuss mit der vorliegenden Stellungnahme nunmehr nach.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Gemäß Leitlinie 7 der beschäftigungspolitischen Leitlinien 2018 (15) , die für 2019 weiterhin aufrecht bleiben (16), sollten die Mitgliedstaaten Arbeitslosen angemessene Leistungen von angemessener Dauer entsprechend ihren Beiträgen und den nationalen Bestimmungen zur Anspruchsberechtigung gewähren. Mit dieser Empfehlung wird der ESSR in den beschäftigungspolitischen Leitlinien Rechnung getragen.

3.2.

Die Senkung der Anzahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen oder bedrohten Menschen ist eines von fünf Zielen der Strategie Europa 2020 sowie eines von 17 Zielen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (SDG) der Vereinten Nationen. Auch mit dem im Zusammenhang mit der ESSR eingeführten sozialpolitischen Scoreboard werden Trends und Fortschritte in den Mitgliedstaaten in Bezug auf die von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffenen oder bedrohten Personen überwacht.

3.3.

Der EWSA verweist auf die Feststellung der Kommission, wonach sich die Anspruchsdauer der Arbeitslosenversicherungsleistung direkt auf die Armutsgefährdung der Arbeitslosen auswirkt. Mitgliedstaaten mit großzügigeren Arbeitslosenversicherungssystemen und höheren Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik und -maßnahmen gelingt es besser, Arbeitslose wieder nachhaltig in den Arbeitsmarkt zu integrieren (17). Zwischen den Mitgliedstaaten existieren große Unterschiede. Die maximale Anspruchsdauer bei Arbeitslosenleistungen reicht von 90 Tagen in Ungarn bis zu einer unbefristeten Anspruchsdauer in Belgien (18).

3.4.

Nach Ansicht des EWSA müssen Leistungen der sozialen Sicherheit so gestaltet sein, dass bei Eintritt eines Risikofalls wie Arbeitslosigkeit ein angemessener Lebensstandard gewährleistet ist. Die Höhe der Arbeitslosenversicherungsleistung, d. h., die Nettoersatzrate muss daher angemessen sein. Auch hier zeigen sich innerhalb der EU erhebliche Unterschiede. Die Nettoersatzraten für einen geringverdienenden Beschäftigten mit einer erst kurzen Erwerbsphase (von einem Jahr) reichen von weniger als 20 % des letzten (Netto-)Einkommens in Ungarn bis zu rund 90 % in Luxemburg (19).

3.5.

Die Anzahl jener Arbeitslosen, die Arbeitslosenversicherungsleistungen beziehen, im Verhältnis zur Gesamtanzahl der Arbeitslosen wird durch die Abdeckungsquote (Erfassungsrate) ausgedrückt. Die Abdeckungsquote wird jeweils in Bezug auf eine bestimmte Dauer der Arbeitslosigkeit angegeben (z. B. Anteil jener Arbeitslosen, die nach einem Jahr Arbeitslosigkeit eine Leistung beziehen). Auch hier existiert eine große Divergenz zwischen den Mitgliedstaaten. Im Durchschnitt beläuft sich der Anteil an Kurzzeitarbeitslosen (Personen, die seit weniger als einem Jahr ohne Beschäftigung sind), die Arbeitslosengeld beziehen, auf nur ein Drittel der arbeitslosen Personen. Deutschland hat mit rund 63 % die höchste Abdeckungsquote. Im Gegensatz dazu liegen die Abdeckungsquoten in Malta, Kroatien, Polen, Rumänien und Bulgarien deutlich unter 15 % (20).

3.6.

Eine niedrige Abdeckungsquote in einem Mitgliedstaat kann unterschiedliche Ursachen haben. Eine Ursache ist Jugendarbeitslosigkeit. Jugendliche Arbeitslose, die den Eintritt in das Erwerbsleben nicht schaffen, können mangels absolvierter Beschäftigungszeiten oftmals keine Anspruchsberechtigung erwerben. Arbeitslose Jugendliche beziehen daher in vielen Fällen keine Leistungen.

3.7.

Der EWSA betont einmal mehr, dass der Übergang junger Menschen von der (Schul-)Ausbildung in den Arbeitsmarkt von zentraler Bedeutung ist. Ihnen ist die größtmögliche Unterstützung zu gewähren, um eine möglichst rasche Integration in den Arbeitsmarkt sicherzustellen.

3.8.

Auch die Dauer der Arbeitslosigkeit wirkt sich auf die Abdeckungsquote aus. Während die Abdeckungsquote bei Kurzzeitarbeitslosen im EU-Durchschnitt bei rund einem Drittel liegt, fällt sie bei Langzeitarbeitslosigkeit geringer aus, weil die Anspruchsdauer der Arbeitslosenleistungen in den meisten Mitgliedstaaten zeitlich befristet ist. Der EWSA empfiehlt die Festlegung einer Zielvorgabe für die Abdeckungsquote bezogen auf Kurzzeitarbeitslose (Personen, die seit weniger als einem Jahr ohne Beschäftigung sind).

3.9.

Eine weitere Ursache für eine niedrige Abdeckungsquote sind neue Formen der Beschäftigung sowie atypische und prekäre Beschäftigung, die es schwierig machen, eine Anspruchsberechtigung zu erwerben. Bezugnehmend auf die politische Einigung des Rates über eine Empfehlung zum Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbstständige plädiert der EWSA für eine umfassende Lösung im Sinne einer Anerkennung von Sozialversicherungsansprüchen für die Arbeitnehmer in den neuen Formen der Beschäftigung (21).

3.10.

Gemäß Grundsatz 1 der europäischen Säule sozialer Rechte hat jede Person das Recht auf allgemeine und berufliche Bildung und lebenslanges Lernen von hoher Qualität und in inklusiver Form, damit sie Kompetenzen bewahren und erwerben kann, die es ihr ermöglichen, vollständig am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und Übergänge auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu bewältigen. Der EWSA befürwortet deshalb Zielvorgaben für Weiterbildung und Aktivierung und bekräftigt seine Auffassung, wonach die Gewährleistung des Rechts auf lebenslanges Lernen für alle Menschen auf der Tagesordnung der EU stehen sollte (22).

3.11.

Der EWSA folgt der Auffassung der Kommission, wonach verbesserte Standards bei den Arbeitslosenversicherungssystemen der Mitgliedstaaten ein besseres Funktionieren der Arbeitsmärkte ermöglichen. Niedrigstandards bedeuten hingegen nicht notwendiger Weise geringere staatliche Ausgaben, weil Arbeitslose, die keine Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten, in den meisten Fällen eine andere Form staatlicher Unterstützung erhalten (z. B. Arbeitslosenhilfe oder Mindesteinkommen). In Übereinstimmung mit der Kommission ist es plausibel anzunehmen, dass die Mehrausgaben für verbesserte Standards in der Arbeitslosenversicherung — gemeinsam mit aktiver Arbeitsmarktpolitik -in relativ kurzer Zeit durch einen Anstieg der Beschäftigung und durch dadurch generierte höhere Steuereinnahmen sowie durch ein schnelleres Wirtschaftswachstum kompensiert werden (23).

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Derzeit besteht unter den Mitgliedstaaten eine große Divergenz bei den Leistungen bei Arbeitslosigkeit. Der EWSA verweist auf den Gemeinsamen Beschäftigungsbericht 2019, wonach die Bereitstellung auf angemessene Dauer von ausreichenden Arbeitslosengeldern, zu denen alle Arbeitnehmer Zugang haben und die von wirksamen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen begleitet werden, von entscheidender Bedeutung ist, um Arbeitsuchende beim Übergang auf den Arbeitsmarkt zu unterstützen (24).

4.2.

Der EWSA empfiehlt daher die Festlegung von Zielvorgaben für die Leistungen bei Arbeitslosigkeit der Mitgliedstaaten. Zielvorgaben sollten für Nettoersatzrate, Anspruchsdauer und Abdeckungsquote erstellt werden. Darüber hinaus empfiehlt der EWSA Zielvorgaben für Weiterbildung und Aktivierung.

4.3.

Der EWSA begrüßt ausdrücklich die Bemühungen der Kommission, die ESSR unter anderem im Europäischen Semester umzusetzen und einen Benchmark-Prozess für die Leistungen der nationalen Arbeitslosenversicherungen voranzutreiben (u. a. durch den gemeinsamen Beschäftigungsbericht). Benchmarking wird richtigerweise als ein wichtiges Instrument zur Umsetzung der ESSR verstanden. Diese Bemühungen sollten intensiviert und mit einem dauerhaften Monitoringprozess verbunden werden. Der Benchmark-Prozess für Leistungen bei Arbeitslosigkeit muss das Ziel verfolgen, zu einer sozialen Aufwärtskonvergenz in der EU und einem besseren Funktionieren der Arbeitsmärkte beizutragen.

4.4.

Nach Ansicht des EWSA sollten die länderspezifischen Empfehlungen konkrete Zielvorgaben in Bezug auf Nettoersatzrate, Anspruchsdauer und Abdeckungsquote enthalten, ebenso wie für Weiterbildung und Aktivierung. Hierbei ist der Ansatz der Kommission zu unterstützen, dass großzügigere Leistungen mit einer entsprechenden Aktivierung der arbeitslosen Menschen einhergehen müssen.

4.5.

Der Erfolg des Binnenmarktes hängt weitgehend von der Effizienz der Arbeitsmärkte und des Sozialsystems sowie von der Fähigkeit der europäischen Volkswirtschaften zur Anpassung an Erschütterungen ab. Unter dieser Prämisse wurde die Strategie Europa 2020 als Strategie für die Umwandlung der EU in eine intelligente, nachhaltige und integrative Wirtschaft ausgearbeitet, um eine hohe Beschäftigung und Produktivität sowie einen starken sozialen Zusammenhalt zu erreichen (25). Der EWSA weist darauf hin, dass die EU das Ziel der Strategie Europa 2020, die Anzahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen oder bedrohten Personen um 20 Mio. zu senken, nicht erreichen wird.

4.6.

Nach Ansicht des EWSA muss es nach den Wahlen zum Europäischen Parlament von 23. bis 26. Mai 2019 eine vordringliche Aufgabe der neu konstituierten Kommission sein, Maßnahmen für das bessere Funktionieren der Arbeitsmärkte und für eine soziale Aufwärtskonvergenz der Mitgliedstaaten vorzuschlagen. Es braucht außerdem eine neue Strategie zur sozialen Dimension Europas nach 2020.

4.7.

Die Mitgliedstaaten beraten derzeit über die soziale Dimension Europas nach 2020. Dabei stellt sich unter anderem die Frage, welche Schlüsselaspekte für die künftige soziale Dimension bestimmend sein sollen (26). Nach Ansicht des EWSA sind das bessere Funktionieren der Arbeitsmärkte und die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung Schlüsselaspekte der sozialen Dimension Europas nach 2020. Zielvorgaben für die Leistungen bei Arbeitslosigkeit der Mitgliedstaaten könnten hier einen wesentlichen Beitrag leisten.

4.8.

Soziale Zielvorgaben müssen mit der Zeit zu sozialer Konvergenz führen. Die Menschen müssen erfahren, dass Rechte und Grundsätze wie in der ESSR nicht nur auf dem Papier festgeschrieben sind, sondern auch konkret umgesetzt werden und ihre Lebensbedingungen schrittweise verbessern.

4.9.

Sollten Zielvorgaben im Rahmen des Europäischen Semesters keine ausreichende Wirkung zeigen, so empfiehlt der EWSA im Hinblick auf die soziale Dimension Europas nach 2020 die Einführung einer Richtlinie gemäß Artikel 153 AEUV zur Festlegung rechtlich verbindlicher Mindeststandards für die Systeme der Arbeitslosenversicherung der Mitgliedstaaten. Diese Richtlinie sollte Vorgaben für EU-weite Mindeststandards für Nettoersatzrate, Anspruchsdauer und Abdeckungsquote der Leistungen bei Arbeitslosigkeit enthalten. Der EWSA spricht sich darüber hinaus auch für EU-weite Mindeststandards für Weiterbildung und Aktivierung im Rahmen der Arbeitslosenversicherung aus.

Brüssel, den 11. Dezember 2019

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Themenblatt Europäisches Semester — Leistungen bei Arbeitslosigkeit — 2017.

(2)  COM(2018) 761 final vom 21.11.2018, EPSCO Rat ST 7619/2019 INIT vom 15.3.2019.

(3)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 165.

(4)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 145.

(5)  ABl. L 224 vom 5.9.2018, S. 4.

(6)  ABl. L 224 vom 5.9.2018, S. 4.

(7)  ABl. L 185 vom 11.7.2019, S. 44.

(8)  COM(2018) 761 final vom 21.11.2018, EPSCO Rat ST 7619/2019 INIT vom 15.3.2019.

(9)  ABl. L 224 vom 5.9.2018, S. 4.

(10)  Eurostat, 16.10.2019.

(11)  ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 1.

(12)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 40.

(13)  COM(2017) 822 final vom 6.12.2017.

(14)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 7.

(15)  ABl. L 224 vom 5.9.2018, S. 4.

(16)  ABl. L 185 vom 11.7.2019, S. 44.

(17)  Themenblatt Europäisches Semester — Leistungen bei Arbeitslosigkeit — 2017.

(18)  COM(2018) 761 final vom 21.11.2018, EPSCO Rat ST 7619/2019 INIT vom 15.3.2019.

(19)  COM(2018) 761 final vom 21.11.2018, EPSCO Rat ST 7619/2019 INIT vom 15.3.2019.

(20)  COM(2018) 761 final vom 21.11.2018, EPSCO Rat ST 7619/2019 INIT vom 15.3.2019.

(21)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 7.

(22)  ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 8 und EWSA-Stellungnahmen ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 1 und ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 46.

(23)  Themenblatt Europäisches Semester — Leistungen bei Arbeitslosigkeit — 2017.

(24)  COM(2018) 761 final vom 21.11.2018, EPSCO Rat ST 7619/2019 INIT vom 15.3.2019.

(25)  COM(2018) 761 final vom 21.11.2018, EPSCO Rat ST 7619/2019 INIT vom 15.3.2019.

(26)  Tagung des Rates (Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz), ST 6622 2019 INIT, 27.2.2019.


ANHANG

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen (Artikel 59 Absatz 3 der Geschäftsordnung):

1.   Ziffer 1.12

Ändern:

Der EWSA empfiehlt die genaue Überwachung und Evaluierung der Ergebnisse des Benchmark-Prozesses. Wenn kein ausreichender Fortschritt in Richtung der gewünschten Effekte stattfindet, sollte ein rechtlich verbindliches Instrument eingeführt verbindlicher Rechtsrahmen in Erwägung gezogen werden, um die Mitgliedstaaten bei ihren Bemühungen, die Systeme der Arbeitslosenversicherung zu modernisieren, zu unterstützen und zu ergänzen. Neben einer Empfehlung des Rates als Richtschnur für die Mitgliedstaaten empfiehlt der EWSA, einen verbindlichen Rechtsrahmen die Einführung einer Richtlinie gemäß Artikel 153 AEUV zur Festlegung von rechtlich verbindlicher Mindeststandards für die Systeme der Arbeitslosenversicherung der Mitgliedstaaten in Betracht zu ziehen. Diese Richtlinie Dieser Rechtsrahmen sollte Vorgaben für EU-weite Mindeststandards für Nettoersatzrate, Anspruchsdauer und Abdeckungsquote der Leistungen bei Arbeitslosigkeit enthalten. Der EWSA spricht sich darüber hinaus auch für EU-weite Mindeststandards für Weiterbildung und Aktivierung im Rahmen der Arbeitslosenversicherung aus.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

64

Nein-Stimmen:

119

Enthaltungen:

19

2.   Ziffer 2.10

Wenn nach sorgfältiger Beobachtung und Evaluierung der Ergebnisse mit der Zeit kein ausreichender Fortschritt in Richtung der gewünschten Effekte stattfindet, empfiehlt der EWSA die Einführung Erwägung eines verbindlichen Rechtsrahmens einer Richtlinie gemäß Artikel 153 AEUV zur Festlegung von rechtlich verbindlicherMindeststandards für die Systeme der Arbeitslosenversicherung der Mitgliedstaaten. Diese Richtlinie Dieser Rechtsrahmen sollte Vorgaben für EU-weite Mindeststandards für Nettoersatzrate, Anspruchsdauer und Abdeckungsquote der Leistungen bei Arbeitslosigkeit enthalten. Der EWSA spricht sich darüber hinaus auch für EU-weite Mindeststandards für Weiterbildung und Aktivierung im Rahmen der Arbeitslosenversicherung aus. Mindestvorschriften sollen die Mitgliedstaaten nicht davon abhalten, höhere Standards festzusetzen (siehe Punkt 16 der Präambel der europäischen Säule sozialer Rechte). Bereits bestehende Standards in Mitgliedstaaten sollen nicht abgesenkt werden. Der EWSA empfiehlt, Mindestvorschriften für die Arbeitslosenversicherungssysteme der Mitgliedstaaten unter gebührender Anwendung einer Nicht-Rückschrittsklausel (Verbot eines Rückschritts aus Anlass der Einführung von Mindeststandards) festzusetzen. Auf diese Weise wird dem EU-Ziel Rechnung getragen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern im Sinne einer Angleichung nach oben (Artikel 151 AEUV).

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

63

Nein-Stimmen:

122

Enthaltungen:

18

3.   Ziffer 4.9

Sollten Zielvorgaben im Rahmen des Europäischen Semesters nach sorgfältiger Beobachtung und Evaluierung der Ergebnisse keine ausreichende Wirkung zeigen, so empfiehlt der EWSA, im Hinblick auf die soziale Dimension Europas nach 2020 die Einführung einer Richtlinie gemäß Artikel 153 AEUV einen verbindlichen Rechtsrahmen zur Festlegung von rechtlich verbindlicher Mindeststandards für die Systeme der Arbeitslosenversicherung der Mitgliedstaaten zu erwägen. Diese Richtlinie Dieser Rechtsrahmen sollte Vorgaben für EU-weite Mindeststandards für Nettoersatzrate, Anspruchsdauer und Abdeckungsquote der Leistungen bei Arbeitslosigkeit enthalten. Der EWSA spricht sich darüber hinaus auch für EU-weite Mindeststandards für Weiterbildung und Aktivierung im Rahmen der Arbeitslosenversicherung aus.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

63

Nein-Stimmen:

122

Enthaltungen:

21


24.3.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 97/41


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Gestaltung der EU-Agenda für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2020-2030: Beitrag des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses“

(Initiativstellungnahme)

(2020/C 97/06)

Berichterstatter:

Ioannis VARDAKASTANIS

Beschluss des Plenums

24.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

15.11.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

11.12.2019

Plenartagung Nr.

548

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

178/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) fordert die Europäische Kommission auf, bei der Erstellung der EU-Agenda für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2020-2030 (im Folgenden kurz: Agenda) die folgenden Empfehlungen und Schlussfolgerungen ernsthaft in Erwägung zu ziehen, das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (im Folgenden kurz: VN-Übereinkommen) umfassender umzusetzen und ihren Verpflichtungen gemäß der Agenda 2030 und den Nachhaltigkeitszielen (SDG) — in denen das Thema „Behinderung“ elf Mal erwähnt wird — nachzukommen. Insbesondere spricht der EWSA folgende Empfehlungen aus:

1.2.

In allen Generaldirektionen (GD) und Agenturen der Kommission sowie in allen anderen Organen und Institutionen der EU sollten Anlaufstellen für die Angelegenheiten von Menschen mit Behinderungen eingerichtet werden. Aufgrund des bereichsübergreifenden Charakters der Belange von Menschen mit Behinderungen sollte die zentrale Anlaufstelle im Generalsekretariat der Kommission angesiedelt werden. Zudem sollte die Umsetzung der Agenda von einem Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen überwacht werden, der sich aus diesen Anlaufstellen zusammensetzt. Da es künftig eine EU-Kommissarin für Chancengleichheit geben wird, ist es wichtig, dass auch in der GD Justiz eine Anlaufstelle eingerichtet wird.

1.3.

Es sollte ein interinstitutioneller Mechanismus zwischen Kommission, Parlament und Rat geschaffen werden (1), deren Präsidenten zu Beginn jeder Legislaturperiode zu einem Treffen zusammenkommen sollten. Um dies zu erleichtern, fordert der EWSA außerdem, dass im Rat eine Arbeitsgruppe für die Belange von Menschen mit Behinderungen geschaffen wird.

1.4.

Die EU-Organe sollten den EU-Überwachungsrahmen für das VN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen mit den notwendigen Ressourcen, dem entsprechenden Personal und den finanziellen Mitteln ausstatten, die für die Erfüllung der Aufgaben gemäß Artikel 33 Absatz 2 des VN-Übereinkommens erforderlich sind.

1.5.

Ferner sollte ein Europäischer Ausschuss für Barrierefreiheit eingerichtet werden, um die Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften zur Barrierefreiheit zu überwachen.

1.6.

Die Kommission muss außerdem die Zuständigkeiten prüfen, die sie gemäß dem VN-Übereinkommen und dem EU-Recht mit den Mitgliedstaaten teilt, um jene Bereiche zu ermitteln, in denen die EU gemeinsam mit den Mitgliedstaaten an der Umsetzung arbeiten kann. Zu diesem Zweck sollten eine Zuständigkeitserklärung zur Änderung der Erklärung über die ausschließlichen Zuständigkeiten der EU vorgelegt und das Fakultativprotokoll zum VN-Übereinkommen abgeschlossen werden.

1.7.

Die Kommission sollte die Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte im Rahmen der Agenda durchgängig berücksichtigen und insbesondere Vorschläge zur Umsetzung von Grundsatz 17 zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen vorlegen.

1.8.

Des Weiteren sollten konkrete Schritte zur Umsetzung der Agenda gesetzt werden. Am dringlichsten sollten folgende Maßnahmen ergriffen werden: Annahme von Rechtsvorschriften zur Bekämpfung sämtlicher Formen von Diskriminierung aufgrund einer Behinderung (2) sowie einer Richtlinie zur Vereinheitlichung der EU-weiten Anerkennung der Bewertung von Behinderungen, um Menschen mit Behinderungen die Wahrnehmung ihres Rechts auf Freizügigkeit zu erleichtern, Maßnahmen zur Wahrung der Rechte von Menschen mit Behinderungen auf politische Teilhabe auf EU-Ebene sowie Leitlinien für die Mitgliedstaaten, damit dies auch auf nationaler Ebene gewährleistet ist, bindende Rechtsvorschriften zur Harmonisierung der technischen Normen für die Barrierefreiheit der bebauten Umwelt, Maßnahmen zur Angleichung der Mindeststandards für angemessene Vorkehrungen am Arbeitsplatz sowie die Festlegung von Leitlinien zur Mindesthöhe der Leistungen bei Behinderung und die Erbringung von Dienstleistungen, einschließlich der Unterstützung für ein unabhängiges Leben und, soweit möglich, der Bereitstellung persönlicher Assistenz in den Mitgliedstaaten.

1.9.

Der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen sollte durchgängig bei allen wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen Maßnahmen der EU sowie insbesondere bei der Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern, der Jugendgarantie, dem europäischen Grünen Deal, der Garantie gegen Kinderarmut und dem angekündigten Grünbuch zum Altern Rechnung getragen werden.

1.10.

Die EU-Organe und die Mitgliedstaaten sollten sich auf eine Garantie der Rechte von Menschen mit Behinderungen in Anlehnung an die Jugendgarantie einigen, um Menschen mit Behinderungen einen Arbeitsplatz, Praktika, die Vermittlung eines Arbeitsplatzes und Weiterbildung zu ermöglichen.

1.11.

Menschen mit Behinderungen sollten besser aus dem EU-Haushalt unterstützt werden, indem in die Entwicklung neuer assistiver Technologien investiert wird, die Barrierefreiheit der Erasmus+-Programme im Hinblick auf eine stärkere Beteiligung von Menschen mit Behinderungen verbessert wird, die Deinstitutionalisierung, d. h. der Übergang von der Betreuung in Einrichtungen hin zur Betreuung in der Familie und in der lokalen Gemeinschaft sowie zur selbständigen Lebensführung finanziell unterstützt wird, wobei robuste Überwachungs- und Bewertungsmechanismen auf der Ebene der Mitgliedstaaten vorzusehen sind, sowie indem EU-Mittel strategisch eingesetzt werden, um das VN-Übereinkommen in den Mitgliedstaaten umzusetzen, insbesondere in Bereichen, in denen die EU nicht über die ausschließliche Zuständigkeit verfügt.

1.12.

Die Agenda sollte dazu beitragen, die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Rahmen des auswärtigen Handelns der EU zu stärken.

1.13.

Die Verbesserung der Datenerhebung und der Veröffentlichungen zu Menschen mit Behinderungen durch Eurostat sollte ein zentrales Anliegen der Agenda sein.

1.14.

Die Agenda muss klare und greifbare Richtwerte sowie messbare Indikatoren umfassen, insbesondere für Frauen und Mädchen mit Behinderungen, junge und ältere Menschen mit Behinderungen sowie für Flüchtlinge, Migranten und LGBTI-Menschen mit Behinderungen.

1.15.

Die Kommission sollte über das Europäische Semester Druck auf die Mitgliedstaaten ausüben, damit sie eigene nationale Strategien für die durchgängige Berücksichtigung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen entwickeln und in den nationalen Reformprogrammen auf die Umsetzung des VN-Übereinkommens eingehen.

1.16.

In der Agenda sollten zudem Sensibilisierungsmaßnahmen in Bezug auf die Rechte vorgesehen sein, die Menschen mit Behinderungen gemäß dem VN-Übereinkommen genießen.

1.17.

Im Rahmen des sozialen Dialogs auf der europäischen und nationalen Ebene und bei Tarifverhandlungen der Sozialpartner sind die Rechte von Menschen mit Behinderungen und die Umsetzung des VN-Übereinkommens mittels breiter Konsultation und unter Einbindung der Organisationen, die Menschen mit Behinderungen vertreten, umfassend zu berücksichtigen.

1.18.

Organisationen von Menschen mit Behinderungen sollten vollumfänglich und aktiv in die Erstellung, Umsetzung und Verwaltung der neuen Agenda eingebunden werden.

2.   Einleitung

2.1.

Die EU und die Mitgliedstaaten haben das VN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet und ratifiziert und erstellen vor diesem Hintergrund nun die Agenda und setzen sie um. Entsprechend betont der EWSA, dass die Agenda in allererster Linie ein Instrument sein sollte, mit dem jeder einzelne der Artikel des Übereinkommens angegangen wird.

2.2.

Anders als bei der aktuellen Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen sollte im Rahmen der Agenda 2020-2030 auch die untrennbare Verknüpfung zwischen den Verpflichtungen gemäß dem VN-Übereinkommen sowie dem Bekenntnis zu den SDG und zur europäische Säule sozialer Rechte berücksichtigt werden. Der EWSA schlägt daher vor, der Agenda den Titel „Europäische Agenda für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2020-2030“ zu geben.

2.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass der VN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2015 die Lage von Menschen mit Behinderungen in der EU analysiert hat und die abschließenden Bemerkungen und Empfehlungen im Rahmen der Agenda zu berücksichtigen sind.

2.4.

Die neue Agenda sollte auf einer bereichsübergreifenden und vollständigen Überprüfung der Rechtsvorschriften und Politik der EU basieren und mit anderen Initiativen und Strategien der EU abgeglichen werden, um eine vollständige Übereinstimmung mit dem VN-Übereinkommen sicherzustellen. Des Weiteren muss sie dem Menschenrechtsansatz in Behinderungsfragen entsprechen. Außerdem müssen die jüngsten Entwicklungen bei den sozialen und digitalen Rechten berücksichtigt werden.

2.5.

Im Rahmen der Agenda ist der besonderen Schutzbedürftigkeit bestimmter Gruppen von Menschen mit Behinderungen Rechnung zu tragen, und dementsprechend ist insbesondere auf Frauen, Kinder, junge und ältere Menschen, Flüchtlinge, Migranten, LGBTI sowie Obdachlose mit Behinderungen einzugehen.

3.   Grundsätze der Europäischen Agenda für die Rechte von Menschen mit Behinderungen

3.1.

In Übereinstimmung mit den in Artikel 3 des VN-Übereinkommens festgeschriebenen Grundsätzen ist der EWSA der Ansicht, dass das Thema Behinderung mithilfe der Agenda durchgängig in allen Strategien und Rechtsvorschriften der EU mit Auswirkungen auf das Leben von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt werden sollte. Auch gilt es, für die Wahrung der Grundsätze der Nichtdiskriminierung, Barrierefreiheit, Teilhabe und Inklusion, Chancengleichheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau und der Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde und seiner individuellen Autonomie zu sorgen sowie sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit akzeptiert und ihr Entwicklungspotenzial sowie ihr Recht auf Wahrung ihrer Identität anerkannt werden.

4.   Anwendungsbereich der Europäischen Agenda für die Rechte von Menschen mit Behinderungen

4.1.   Bekämpfung von Diskriminierung und Ungleichheit (3)

4.1.1.

Die Hälfte der europäischen Bevölkerung ist der Ansicht, dass Diskriminierung aufgrund von Behinderung in der EU weit verbreitet ist, und die Tendenz ist steigend (4). Der EWSA erhebt daher folgende Forderungen:

4.1.2.

Die EU-Organe müssen Maßnahmen zur Annahme einer horizontalen Richtlinie zur Bekämpfung von Diskriminierung (aufgrund von Behinderung) ergreifen, um Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen vor Diskriminierung zu schützen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Versagung angemessener Vorkehrungen in jedwedem Lebensbereich als Diskriminierung aufgrund von Behinderung gilt und auch weitere Formen der Diskriminierung wie Diskriminierung durch Assoziation sowie Mehrfachdiskriminierung und intersektionale Diskriminierung anerkannt werden.

4.1.3.

Die EU-Organe sollten die Annahme des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Übereinkommen von Istanbul) einschließlich konkreter Maßnahmen zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung geschlechtsspezifischer Gewalt beschleunigen.

4.1.3.1.

Sämtliche Organe und Institutionen der EU sollten in ihrer Funktion als öffentliche Arbeitgeber Barrierefreiheit sicherstellen, z. B. indem sie für barrierefreie Intra- und Internetseiten sorgen, Personalstrategien und -verfahren zur Anhebung der Anzahl von Mitarbeitern mit Behinderungen einsetzen und die Inklusivität der Europäischen Schulen stärken.

4.1.3.2.

Zudem sollten die EU-Organe durch die Bereitstellung von EU-Mitteln der fehlenden Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen entgegenwirken. Menschen, die mit Mehrfachdiskriminierung und intersektionaler Diskriminierung aufgrund von Nationalität, Alter, Rasse oder Ethnie, Religion, Weltanschauung, Geschlechtsidentität oder sexueller Orientierung konfrontiert sind, ist mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

4.1.3.3.

Wie vom EWSA bereits früher empfohlen, sollte Artikel 7 der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (5) über die Strukturfonds (Dachverordnung 2014-2020) in die vorgeschlagene neue Dachverordnung 2021-2027 übernommen und dieser Grundsatz direkt in den Hauptteil der vorgeschlagenen EFRE-Verordnung aufgenommen werden. Programme sollten nur dann aus EU-Fonds gefördert werden, wenn Menschen mit Behinderungen barrierefrei daran teilhaben können.

4.1.3.4.

Die EU-Organe sollten der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen durchgängig bei allen wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen Maßnahmen der EU sowie insbesondere bei der Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern, der Jugendgarantie, dem europäischen Grünen Deal, der Garantie gegen Kinderarmut und dem angekündigten Grünbuch zum Altern Rechnung tragen.

4.1.3.5.

Die Kommission sollte sich dafür einzusetzen, dass die Mitgliedstaaten ihre Rechtsvorschriften zur Rechtsfähigkeit in Einklang mit dem VN-Übereinkommen bringen (6), und den Austausch von Fachwissen zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern.

4.2.   Uneingeschränkte Teilhabe und Freizügigkeit

4.2.1.

Menschen mit Behinderungen können ihr Recht auf Freizügigkeit in der EU noch immer nicht ausüben, da die Anerkennung der Bewertung des Grads von Behinderungen nicht harmonisiert ist und Ansprüche auf Unterstützungsdienste und -leistungen bei einem Umzug in einen anderen Mitgliedstaat nicht übertragen werden können. Auch die noch immer praktizierte Unterbringung in Einrichtungen, fehlende Investitionen in gemeindebasierte Dienste und die in der Regel mangelnde Barrierefreiheit allgemeiner Dienstleistungen erschweren die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Der EWSA erhebt daher folgende Forderungen:

4.2.2.

Die Kommission sollte eine Richtlinie vorschlagen, mit der die Anerkennung der Bewertung des Grads von Behinderungen im Falle eines Umzugs von einem Mitgliedstaat in einen anderen harmonisiert wird. Die EU-Organe müssen mit einer solchen Richtlinie für die Wahrung des Rechts von Menschen mit Behinderungen auf Freizügigkeit sorgen, indem sie die Übertragbarkeit von Sozialversicherungsleistungen dadurch sicherstellen, dass diese Leistungen entweder weiterhin vom Herkunftsland oder vom neuen Wohnsitzland bzw. im Rahmen eines schrittweisen Übergangs vom einem zum anderen erbracht werden. Es ist außerdem sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen, die in einen anderen Mitgliedstaat umziehen, gleichwertige Rechte und Ansprüche auf Dienste genießen. Dies muss auf koordinierte Art und Weise geschehen und eine reibungslose und rasche Übertragbarkeit dieser Ansprüche (7), einschließlich auf persönliche Assistenz, ermöglichen.

4.2.2.1.

Die EU-Organe müssen sicherstellen, dass EU-Gelder unter keinen Umständen für eine verstärkte Unterbringung von Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen (8) verwendet, sondern bewusst in Dienste für die Betreuung in der lokalen Gemeinschaft und in der Familie investiert werden. Entscheidend ist auch, dass junge Menschen, die sich am EU-Solidaritätskorps beteiligen, nicht an institutionelle Betreuungseinrichtungen vermittelt werden, die die Segregation weiter aufrecht erhalten. Investiert werden sollte auch in die Weiterbildung von Arbeitnehmern, die derzeit in Betreuungseinrichtungen tätig sind, damit eine von Menschen mit Behinderungen mitgestaltete und mit dem VN-Übereinkommen übereinstimmende Betreuung in der lokalen Gemeinschaft angeboten werden kann. Die Kommission sollte ferner für negativen Folgen sensibilisieren, die die Unterbringung in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen hat, und so in den Mitgliedstaaten den Übergang hin zu alternativen Betreuungsangeboten in der lokalen Gemeinschaft fördern.

4.2.2.2.

Die EU-Organe sollten EU-Mittel prioritär für den Zugang zu Kultur und Freizeitaktivitäten zuweisen, indem sie insbesondere die Nutzung des EU-Behindertenausweises in allen Mitgliedstaaten — auch finanziell — fördern und formalisieren.

4.2.2.3.

Die Organe und Institutionen der EU sollten auf entsprechenden Antrag sicherstellen, dass in ihren Kontakten mit den Bürgerinnen und Bürgern Zeichensprache, Braille und leicht lesbare Texte genutzt werden.

4.2.2.4.

Die EU-Organe sollten politische Initiativen ergreifen, um sämtliche Hindernisse zu beseitigen, die der politischen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen im Wege stehen und sie von der Ausübung ihres aktiven und passiven Wahlrechts abhalten. Insbesondere gilt dies für Menschen mit intellektuellen Einschränkungen und psychischen Gesundheitsproblemen, die besonders stark diskriminiert werden. Die Kommission hat außerdem für uneingeschränkte Barrierefreiheit des Wahlverfahrens zu sorgen. In diesem Sinne sollte sich die Kommission dafür einsetzen, dass alle Mitgliedstaaten die politische Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderungen an nationalen, regionalen und kommunalen Wahlverfahren sicherstellen.

4.2.2.5.

Die EU-Organe sollten zudem angemessene Maßnahmen ergreifen, damit alle Menschen mit Behinderungen sämtliche in den Verträgen und Rechtsvorschriften der EU verankerten Rechte ausüben können, Maßnahmen ohne Zwangscharakter und unterstützte Entscheidungsfindung für Menschen mit Behinderungen fördern und Freiheit und Sicherheit für alle Menschen mit Behinderungen sicherstellen.

4.2.2.6.

Des Weiteren sollten die EU-Organe die strukturelle Beteiligung von Menschen mit Behinderungen und deren Organisationen — auch jener, die sich für Kinder mit Behinderungen einsetzen — an der Entscheidungsfindung sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene fördern und den Kapazitätsaufbau der vorgenannten Organisationen finanziell unterstützen. Die Kommission und andere EU-Einrichtungen sollten zudem sicherstellen, dass sich Menschen mit Behinderungen problemlos an öffentlichen Konsultationen beteiligen können.

4.3.   Barrierefreiheit in allen Bereichen verwirklichen

4.3.1.

Nicht barrierefreie öffentliche Räume, Gebäude, Verkehrsmittel und Technologien hindern immer noch viel zu viele Menschen mit Behinderungen daran, eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu spielen, und gefährden deren Sicherheit. Der EWSA erhebt daher folgende Forderungen:

4.3.1.1.

Die Kommission sollte konkrete Schritte in Bezug auf die Einrichtung eines Europäischen Ausschusses für Barrierefreiheit unternehmen, der für die Überwachung der Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften im Bereich Barrierefreiheit zuständig ist und für die Entwicklung von Standards und Leitlinien zu Barrierefreiheit, für den Austausch bewährter Verfahren sowie für eine sinnvolle Einbindung von Vertretern von Behindertenorganisationen in diesen Bereich sorgt.

4.3.2.

Die Organe und Institutionen der EU sollten für physische Infrastrukturen, Dienste sowie im digitalen Bereich eine optimale Barrierefreiheit anstreben und dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderungen barrierefreien Zugang zu allen Websites und Kontaktformularen der EU-Verwaltung erhalten.

4.3.2.1.

Die EU-Institutionen sollten Rechtsakte und andere Instrumente (wie etwa Normierung) heranziehen, um Lücken im europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit zu schließen und die Mindeststandards für die Barrierefreiheit aller Aspekte der baulich gestalteten Umwelt sowohl in der Stadt als auch auf dem Land zu harmonisieren (9), wobei Vorkehrungen für Menschen mit intellektuellen Einschränkungen und/oder psychosozialen Behinderungen nicht vergessen werden dürfen.

4.3.2.2.

Die Kommission sollte die Fahrgastrechte von Menschen mit Behinderungen überprüfen, erweitern und stärken, beispielsweise durch Veröffentlichung eines Legislativvorschlags zum multimodalen Verkehr. Außerdem sollte sie die bestehende Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 (10) über die Rechte von behinderten Flugreisenden überarbeiten, die Fälle der „Verweigerung der Anbordnahme“ beseitigen, harmonisieren und genau definieren sowie andere bestehende Verordnungen verbessern.

4.3.2.3.

Die EU-Organe sollten sich dafür starkmachen, dass die vorgeschriebenen Voranmeldungszeiträume für Hilfeleistungen in der neuen Verordnung über die Rechte von Fahrgästen im Eisenbahnverkehr entfallen.

4.3.2.4.

Die Kommission sollte die Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen im Eisenbahnverkehr weiter verbessern (11), indem sie sicherstellt, dass die Mitgliedstaaten für die Barrierefreiheit aller Bahnsteige und Waggons sorgen, und zwar nicht nur bei Neubauten, sondern auch bei der bestehenden Infrastruktur.

4.3.2.5.

Die Kommission sollte den Mitgliedstaaten Leitlinien dafür an die Hand geben, wie die EU-Richtlinien über gemeinsame Mindeststandards für Verfahrensrechte von Opfern von Straftaten oder Personen, die einer Straftat verdächtigt oder angeklagt werden, in Bezug auf Behinderungen umzusetzen sind (12), einschließlich Fortbildungsmaßnahmen zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen für Justizbedienstete. Organisationen von Menschen mit Behinderungen sollten als Kooperationspartner betrachtet werden und bei Gericht über einen speziell legitimierten Status verfügen.

4.3.2.6.

Die Kommission sollte Barrierefreiheit zu einem Förderfähigkeitskriterium machen (13).

4.3.2.7.

Die Kommission sollte in Forschung zur Entwicklung neuer assistiver Technologien und Geräte für Menschen mit Behinderungen investieren.

4.3.2.8.

Barrierefreiheit sollte Hand in Hand mit der Nachhaltigkeit gehen, z. B. im Baugewerbe und im Verkehr, und als Voraussetzung dafür betrachtet werden, dass ein grüneres Europa für alle verwirklicht werden kann.

4.3.2.9.

Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten dabei unterstützen, die neu zu gestaltende und bestehende bebaute Umwelt insbesondere mit Blick auf den Bereich Wohnen barrierefreier zu gestalten und die Mitarbeiter in allen Verkehrsbereichen besser in Bezug auf Hilfeleistungen zur Gewährleistung der Barrierefreiheit zu schulen.

4.3.2.10.

Die Mitgliedstaaten sollten Unterstützung von der Kommission erhalten, wenn es darum geht, Menschen mit Behinderungen Zugang zu und finanzielle Unterstützung für assistive Geräte, Technologien und Dienste zu bieten, und zwar unabhängig davon, in welchem EU-Mitgliedstaat diese angeboten werden.

4.3.2.11.

Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten zudem dabei unterstützen, dass bei der Vergabe öffentlicher Aufträge auf Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen als Bürgerinnen und Bürger, Begünstigte und öffentliche Bedienstete geachtet wird.

4.3.2.12.

Überdies sollte die Kommission den Mitgliedstaaten die notwendige Unterstützung zukommen lassen, damit diese die Richtlinie über den barrierefreien Zugang zu Websites ordnungsgemäß und fristgerecht umsetzen können.

4.4.   Förderung hochwertiger Beschäftigung und beruflicher Bildung

4.4.1.

Mit 48,1 % ist die Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderungen im Vergleich zu Menschen ohne Behinderungen (73,9 %) unverhältnismäßig niedrig. Die Beschäftigungsquote von Frauen mit Behinderungen ist noch deutlich niedriger (14). Der EWSA erhebt daher folgende Forderungen:

4.4.2.

Die Kommission sollte Maßnahmen vorschlagen, um die Anforderungen in Bezug auf die Verpflichtungen von Arbeitgebern sowie die staatliche Unterstützung, die Arbeitgebern geboten werden muss, zu harmonisieren, damit angemessene Vorkehrungen für Arbeitnehmer mit Behinderungen getroffen werden (15).

4.4.3.

Die Organe und Institutionen der EU sollten mit Blick auf die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen eine Vorbildrolle einnehmen, indem sie den Anteil der Beschäftigten mit Behinderungen in ihren Dienststellen und in der EU-Verwaltung erhöhen.

4.4.3.1.

Die Kommission sollte die Wirksamkeit der Quotenregelungen prüfen, die von vielen Mitgliedstaaten genutzt werden, um die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen zu fördern. Das Ziel besteht darin, bewährte Verfahren zu fördern und ggf. ähnliche Regelungen für die EU-Verwaltung einzuführen.

4.4.3.2.

Die EU-Organe sollten Maßnahmen ergreifen, um Initiativen für die Ausbildung, Beschäftigung und berufliche Mobilität von Menschen mit Behinderungen über EU-Mittel zu fördern, einschließlich der Unterstützung für soziales Unternehmertum und Unternehmen der Sozialwirtschaft, wobei sämtliche Formen inklusiver Beschäftigung im Einklang mit dem VN-Übereinkommen gefördert und ein besonderer Schwerpunkt auf junge Menschen, Frauen, Migranten und Flüchtlinge sowie ältere Arbeitnehmer mit Behinderungen (16) zu legen ist. Insbesondere ist darauf zu achten, dass Menschen mit Behinderungen in ihrem Berufszweig Entscheidungsmöglichkeiten haben und auch in die berufliche Rehabilitation, in Arbeitsplatzerhaltung, in das berufliche Vorankommen sowie in Wiedereingliederungsmaßnahmen investiert wird. Im Speziellen ist auch die Entwicklung von Kompetenzen für neue Berufsbilder zu berücksichtigen.

4.4.3.3.

Die EU-Organe und die Mitgliedstaaten sollten sich auf eine Garantie der Rechte von Menschen mit Behinderungen in Anlehnung an die Jugendgarantie einigen, um Menschen mit Behinderungen einen Arbeitsplatz, Praktika, die Vermittlung eines Arbeitsplatzes und Weiterbildung zu ermöglichen. Im Rahmen einer Beschäftigungsinitiative für Menschen mit Behinderungen sollten Finanzmittel zur Verwirklichung dieses Ziels bereitgestellt werden.

4.4.3.4.

Die Kommission sollte den Mitgliedstaaten die erforderliche Unterstützung gewähren, um sicherzustellen, dass die Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlaments und des Rates (17) zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige vollständig umgesetzt wird, sodass die Eltern von Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben, angemessene Freizeit und flexible Arbeitsregelungen in Anspruch zu nehmen. Zudem sollte sich die Kommission dafür einsetzen, dass auch Menschen mit Behinderungen selbst Anspruch auf diese Flexibilität haben.

4.4.3.5.

Das Europäische Semester und Rechtsvorschriften sollten genutzt werden, um sicherzustellen, dass Arbeitnehmer mit Behinderungen angemessen/tariflich in gleicher Höhe wie Arbeitnehmer ohne Behinderungen entlohnt werden und unter keinen Umständen weniger als den Mindestlohn erhalten. Die Kommission sollte die Überprüfung von bewährten Verfahren und arbeitsrechtlichen Vorschriften zur Wiedereingliederung und Rehabilitation von Arbeitnehmern, die nach langer krankheitsbedingter Abwesenheit möglicherweise eine Behinderung erworben haben, über EU-Mittel fördern.

4.4.3.6.

Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten bei der Verringerung der Risiken unterstützen, die mit der Eingliederung in den Arbeitsmarkt einhergehen. So sollten sie flexiblere Leistungs- und Beihilfesysteme für Menschen mit Behinderungen anbieten, um den Verlust von Sicherheitsnetzen zu verhindern, die vor Armut schützen, und gleichzeitig Anreize für eine Beschäftigung setzen.

4.4.3.7.

Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten dazu bewegen, Arbeitgeber besser bei der Suche nach Informationen über — und der Inanspruchnahme von Fördermitteln für — assistive Technologien, barrierefreiere Arbeitsplätze und flexiblere Arbeitszeiten in Abhängigkeit von den Bedürfnissen des Einzelnen zu unterstützen. Insbesondere sollte die Kommission Forschungsarbeiten zur Erstellung eines Geschäftsszenarios für behindertengerechte Arbeitsplätze unterstützen.

4.4.3.8.

Die Kommission sollte den Mitgliedstaaten die notwendige Unterstützung für die vollständige Umsetzung der Richtlinie 2000/78/EG des Rates (18) zuteilwerden lassen, mit der Diskriminierung im Bereich der Beschäftigung untersagt wird. Außerdem sollten die Kommission und die Mitgliedstaaten die Annahme des Entwurfs einer horizontalen Nichtdiskriminierungsrichtlinie über den Zugang zu Waren und Dienstleistungen voranbringen, da Diskriminierung in diesem Bereich zu Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt führen kann.

4.4.3.9.

Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten ferner dabei unterstützen, Maßnahmen im Bereich der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen und Behinderungen vorzusehen, damit Behinderungen bei der Einstellungspolitik von Unternehmen Berücksichtigung finden. Darüber hinaus sollte die Kommission die Mitgliedstaaten dabei unterstützten, dass Aspekte von Behinderung und Barrierefreiheit in den nichtfinanziellen Informationen, die Unternehmen bereitstellen, stärker berücksichtigt werden.

4.4.3.10.

Die Kommission sollte die Rechte von Menschen mit Behinderungen in der gesamten Union fördern, damit Menschen mit Behinderungen ihre Arbeits- und Gewerkschaftsrechte gleichberechtigt ausüben können. Dies sollte in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern geschehen. Insbesondere sollte bei den europäischen Verfahren zur Erarbeitung der Chartas der Vielfalt der Schwerpunkt stärker auf die Förderung von Arbeitskräften mit vielfältigen Fähigkeiten gelegt werden.

4.4.3.11.

Die Sozialpartner sollten im sozialen Dialog auf EU-Ebene und beim Abschluss von Tarifverträgen die Umsetzung des Übereinkommens und die Rechte von Arbeitnehmern mit Behinderungen in Konsultation mit den europäischen Organisationen von Menschen mit Behinderungen berücksichtigen.

4.5.   Hochwertige inklusive Bildung und lebenslanges Lernen

4.5.1.

Der Zugang zum regulären Bildungssystem ist für Menschen mit Behinderungen weiterhin schwierig, und oftmals führt der Weg über getrennte Bildungseinrichtungen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit Behinderungen die Schule frühzeitig abbrechen, ist in der EU 13 % höher als bei Menschen ohne Behinderung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Hochschule besuchen, ist 14 % geringer (19). Der EWSA erhebt daher folgende Forderungen:

4.5.2.

Die EU-Organe sollten EU-Gelder für inklusive Lernumgebungen und die frühkindliche Förderung sowie für Programme für lebenslanges Lernen und berufliche Bildung bereitstellen, um Menschen mit Behinderungen den Übergang von der Ausbildung in den Beruf zu erleichtern. Die berufliche Mobilität von Menschen mit Behinderungen sollte ebenfalls gefördert werden.

4.5.2.1.

Die EU-Organe sollten spezifische Maßnahmen ergreifen, um in ihrem eigenen Schulsystem — den Europäischen Schulen für die Kinder von EU-Bediensteten — sicherzustellen, dass die Kinder und jungen Menschen mit Behinderungen dort inklusiv unterrichtet werden.

4.5.2.2.

Die Kommission sollte konkrete Maßnahmen ergreifen, um den Anteil von Menschen mit Behinderungen mit einem tertiären Bildungsabschluss zu erhöhen, indem sie Unterstützung für Assistenz und Kosten im Studium oder während der Ausbildung bietet.

4.5.2.3.

Die Kommission sollte die Barrierefreiheit von Erasmus+-Programmen und die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen verbessern, indem sie Unterstützung für Assistenz und Kosten im Studium oder während der Ausbildung im Ausland bietet.

4.5.2.4.

Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten bei der Fortbildung der Lehrkräfte regulärer Schulen sowie bei der Ausbildung von Inklusionsassistentinnen und -assistenten unterstützen, die auf Behinderungen spezialisiert sind, um so die Inklusion von Kindern mit Behinderung in Regelschulen zu fördern. Im Fokus der Fortbildung sollte zudem die Frage stehen, wie assistive Technologien genutzt werden können, um Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen besser zu integrieren. Ebenso sollte auf die Schaffung guter Arbeitsbedingungen im Klassenzimmer und auf die Verringerung der Klassengrößen geachtet werden.

4.6.   Bekämpfung von Prekarität, Armut und sozialer Ausgrenzung

4.6.1.

Menschen mit Behinderungen in der EU sind im Durchschnitt um 9 % stärker gefährdet, in die Armut abzurutschen und soziale Ausgrenzung zu erfahren, als ihre Mitbürger ohne Behinderungen (20). Der EWSA erhebt daher folgende Forderungen:

4.6.1.1.

Die EU-Organe sollten sicherstellen, dass die neue Agenda spezifische Maßnahmen zur Förderung eines inklusiven Sozialsystems umfasst. Darüber hinaus sollte die Kommission für die Mitgliedstaaten Leitlinien zu einem sozialen Basisschutz für Menschen mit Behinderungen und Betreuungspersonen erstellen, der diesen einen angemessenen Lebensstandard sichert (21). Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen und insbesondere Personen, die im Verlauf ihres Erwerbslebens eine Behinderung erworben und daher kürzere Beitragszeiten zur Rentenversicherung haben, vor und nach dem Renteneintrittsalter in den Genuss eines angemessenen Sozialschutzes kommen.

4.6.1.2.

Die Kommission sollte Leitlinien für eine Überarbeitung des Beihilfesystems bereitstellen, damit die zusätzlichen Kosten für im Zusammenhang mit einer Behinderung erforderliche Geräte, für assistive Technologien, Wohnraum, Transport usw. abgedeckt sind. Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten außerdem dazu bewegen, flexibler zu werden, sodass Menschen mit Behinderungen Beihilfen auch dann erhalten, wenn sie ins Berufsleben einsteigen, unverhältnismäßig hohe Ausgaben auszugleichen, das Risiko von Erwerbsarmut zu verringern und Anreize für Beschäftigung zu setzen.

4.6.1.3.

Die Kommission sollte den Mitgliedstaaten Leitlinien für die Verfahren zur Bewertung des Grads von Behinderungen an die Hand geben, damit Menschen mit seltenen Erkrankungen oder Mehrfachbehinderungen nicht außen vor bleiben. Die Kommission muss im Rahmen des Europäischen Semesters zudem starke Negativanreize für die Mitgliedstaaten setzen, damit diese die Beihilfen für Menschen mit Behinderungen nicht kürzen, wodurch das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung erhöht würde. Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten dazu auffordern, die Gewährung von Beihilfen über die gesamte Lebensspanne von Menschen mit Behinderungen im Hinblick auf ihre Fairness zu überprüfen, damit älter werdende Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen, die eine Behinderung erwerben, nicht etwa ihre Anspruchsberechtigung verlieren.

4.6.1.4.

In Ergänzung zu der immer stärkeren Verknüpfung von Europäischem Semester und europäischer Säule sozialer Rechte sollten in das sozialpolitische Scoreboard spezifisch auf Menschen mit Behinderungen ausgerichtete Messwerte aufgenommen werden.

4.6.1.5.

Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten bei der ordnungsgemäßen Umsetzung der Empfehlung des Rates zu sozialer Absicherung bei atypischen Beschäftigungsverhältnissen angemessen unterstützen und sicherstellen, dass keinem Menschen mit Behinderungen, ob erwerbstätig oder nicht, das Recht auf angemessene Gesundheitsversorgung und andere Leistungen verweigert wird.

4.6.1.6.

Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten dahin gehend unterstützen, dass Menschen mit Behinderungen denselben Zugang zu Gesundheitsversorgung erhalten wie andere Menschen (22).

4.6.2.

Die Kommission sollte sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen, die in der EU-Verwaltung tätig waren, sind oder sein werden, sowie unterhaltsberechtigte Familienmitglieder mit Behinderung eine umfassende Krankenversicherung erhalten, die ihnen die bestmögliche medizinische Versorgung und Lebensqualität bietet.

4.7.   Auch jenseits der Grenzen wird niemand zurückgelassen: Die EU als globaler Vorreiter

4.7.1.

Die EU ist der größte Geber von Entwicklungshilfe weltweit. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten als Vertragsstaaten des VN-Übereinkommens die Rechte von Menschen mit Behinderungen in ihrem auswärtigen Handeln fördern. Der EWSA erhebt daher folgende Forderungen:

4.7.2.

Die EU-Organe sollten Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass sämtliche von der EU geförderten Maßnahmen in Drittstaaten wie in Ziffer 3.1 erläutert den allgemeinen Grundsätzen des VN-Übereinkommens entsprechen.

4.7.2.1.

Die EU-Organe sollten tätig werden, um zu gewährleisten, dass Kandidatenländer und potenzielle Kandidatenländer für einen EU-Beitritt nachweisen, dass sie die Rechte von Menschen mit Behinderungen gleichermaßen schützen wie die EU-Mitgliedstaaten. Die Kommission sollte darüber hinaus sicherstellen, dass die Finanzinstrumente für die Heranführungshilfe so eingesetzt werden, dass sie die Lage von Menschen mit Behinderungen verbessern.

4.7.2.2.

Die Kommission sollte im Rahmen der Soforthilfe und ihrer humanitären Hilfe Sensibilisierungsmaßnahmen in Bezug auf das VN-Übereinkommen und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen umsetzen, einschließlich Barrierefreiheit, und auch EU-Delegationen für Behinderungsfragen sensibilisieren.

4.7.2.3.

Die EU-Organe sollten für klare Folgemaßnahmen zum Europäischen Entwicklungskonsens sorgen und sich bei Kooperationsprogrammen, Projekten und Maßnahmen der EU in der ganzen Welt für die Berücksichtigung der Inklusionsmarker des OECD-Entwicklungsausschusses einsetzen.

4.7.2.4.

Die EU-Organe sollten sich nachdrücklich dafür einsetzen, dass die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die in der EU als Asylbewerber oder Flüchtlinge ankommen, gewahrt werden und ihnen ausreichende und angemessene Unterstützung zuteilwird. Ebenfalls sind Menschen zu unterstützen, deren Behinderung im Zuge der Flucht aus ihrer Heimat entstanden ist.

4.7.2.5.

Die Kommission sollte den Mitgliedstaaten zur Seite zu stehen, wenn diese im Dialog mit Drittstaaten Behinderungsfragen thematisieren. Die Kommission sollte sich darüber hinaus in internationalen Foren (Vereinte Nationen, Europarat, OECD) für eine Einigung und Engagement in Behinderungsfragen einsetzen.

4.7.2.6.

Die Kommission sollte vor dem Hintergrund des Brexits gemeinsam mit den Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass sowohl Unionsbürgerinnen und -bürger, die aktuell im Vereinigten Königreich ansässig sind, sowie in der EU ansässige Britinnen und Briten auch in Zukunft die Unterstützung erhalten, die ihr Herkunftsland derzeit bietet.

5.   Steuerung, Durchführung und Überwachung

5.1.

Unter Berücksichtigung der abschließenden Bemerkungen und Empfehlungen des VN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen an die EU empfiehlt der EWSA nachdrücklich, in jedem Organ und in jeder Institution, Agentur und Einrichtung der EU, d. h. im Europäischen Parlament, im Rat der Europäischen Union, im Europäischen Auswärtigen Dienst, im Ausschuss der Regionen usw., sowie in den Agenturen wie der Agentur für Grundrechte und im Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen, eine Anlaufstelle einzurichten. Derartige Anlaufstellen sollten auch in allen Generaldirektionen der Kommission eingerichtet werden. Da Behinderungsfragen naturgemäß bereichsübergreifend sind, sollte die zentrale Anlaufstelle im Generalsekretariat der Kommission angesiedelt werden. Dies ist notwendig, um die Umsetzung des VN-Übereinkommens und der Agenda durch die EU-Organe zu überwachen. Der EWSA geht mit gutem Beispiel voran und hat bereits eine Anlaufstelle für Behinderungsfragen eingerichtet, nämlich die Studiengruppe Rechte von Menschen mit Behinderungen, die vom Sekretariat der Fachgruppe SOC unterstützt wird. Der EWSA erhebt zudem folgende Forderungen:

5.2.

Da es künftig eine EU-Kommissarin für Chancengleichheit geben wird, sollte in der GD Justiz eine Anlaufstelle eingerichtet werden, um sie bei ihren Aufgaben zu unterstützen. Dies ist von entscheidender Bedeutung.

5.3.

Die derzeit bestehende Gruppe hochrangiger Beamter für Behinderungsfragen sollte durch einen „Ausschuss für Behinderungsfragen“ ersetzt werden, der als Plattform für regelmäßige Treffen aller Anlaufstellen für Behinderungsfragen der einzelnen Direktionen, Institutionen und Agenturen sowie der verschiedenen Mitgliedstaaten dient. Dieser Ausschuss sollte auch das Recht haben, die Umsetzung der Agenda auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten zu überwachen und Empfehlungen an die Kommission und die nationalen Regierungen auszusprechen.

5.4.

Die Kommission sollte die sich aus dem VN-Übereinkommen und dem EU-Recht ergebenden mit den Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeiten überprüfen, um festzustellen, wo die EU gemeinsam mit den Mitgliedstaaten an der Umsetzung arbeiten kann. Hierfür sollte eine Erklärung zu den Zuständigkeiten vorgelegt werden.

5.5.

Eingerichtet werden sollte auch ein interinstitutioneller Mechanismus zwischen Kommission, Parlament und Rat (23). Die Präsidenten der drei EU-Organe sollten zu Beginn jeder Legislaturperiode zusammentreffen, um ihr Bekenntnis zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen zu bekräftigen. Im Rat ist eine Arbeitsgruppe für Behinderungsfragen einzurichten, um die Organisation dieser Treffen zu erleichtern.

5.6.

Die EU-Organe sollten die Agenda um klare, greifbare und spezifische Richtwerte und messbare Indikatoren erweitern, damit Lücken bei der Umsetzung aufgezeigt und erzielte Fortschritte wirksam gemessen werden können.

5.7.

Die Kommission sollte bereits beim Entwurf von Legislativvorschlägen und -initiativen wirksame Überwachungsmechanismen einplanen und sicherstellen, dass ausreichend Ressourcen und Gelder für diese Mechanismen bereitstehen. Die Agenda sollte die deutliche Verpflichtung zu einer entsprechenden Mittelausstattung sowie eine ungefähre Angabe der Höhe der Finanzmittel beinhalten, die für Überwachungsmechanismen vorgesehen sind.

5.8.

Die Kommission sollte den EU-Rahmen für das VN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen mit angemessenen Mitteln ausstatten, damit dieser unabhängig und angemessen funktionieren kann.

5.9.

Die EU-Organe müssen die Organisationen von Menschen mit Behinderungen und die Organisationen der Zivilgesellschaft aktiv und umfassend in den Entwurf, die Umsetzung und Steuerung der Agenda einbeziehen (24). Die Organisationen von Menschen mit Behinderungen sollten außerdem fortlaufend zur Ausgestaltung, Annahme, Umsetzung und Überwachung von aus dieser Agenda resultierenden Rechtsakten, Strategien und Programmen konsultiert und entsprechend einbezogen werden sowie Zugang zu Mitteln erhalten, die ihre sinnvolle Beteiligung unterstützen. Die Konsultationsverfahren sollten außerdem verständlich formuliert und für Menschen mit Behinderungen barrierefrei zugänglich sein.

5.10.

Die Kommission sollte angemessene Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Eurostat in Zusammenarbeit mit den nationalen Statistikbehörden und Vertretern der Organisationen von Menschen mit Behinderungen ein menschenrechtsbasiertes Indikatorensystem sowie ein System zur Erhebung umfassender vergleichender Daten zur Situation von Menschen mit Behinderungen in der EU entwickelt und darüber hinaus aussagekräftigere und aufgeschlüsselte Analysen zum Thema Behinderung veröffentlicht. Dabei sollten die Intersektionalität der Probleme und Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt werden, die auf Aspekte wie Geschlecht, Alter, Flüchtlings-, Asylbewerber- oder Migrantenstatus, Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit sowie auf die verschiedenen Arten von Behinderung und die Art und Weise zurückzuführen sind, wie diese das Wohlbefinden und die Leistung beeinflussen (25). Auch zur Zahl der in Einrichtungen untergebrachten Menschen mit Behinderungen und der nicht im Haushalt lebenden Kinder mit Behinderungen müssen Daten erhoben werden.

5.11.

Die Kommission sollte über das Europäische Semester Druck auf die Mitgliedstaaten ausüben, damit sie eigene nationale Strategien für Menschen mit Behinderungen entwickeln und in den nationalen Reformprogrammen auf die Umsetzung des VN-Übereinkommens eingehen.

5.12.

Die Kommission sollte den EU-Überwachungsrahmen für das VN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen mit den notwendigen Ressourcen, dem entsprechenden Personal und den finanziellen Mitteln ausstatten, die für die Erfüllung der Aufgaben gemäß Artikel 33 Absatz 2 des VN-Übereinkommens erforderlich sind.

6.   Kommunikation und Informationsverbreitung (26)

6.1.

Die EU-Organe sollten auf die Hindernisse aufmerksam machen, die Menschen mit Behinderungen noch immer einschränken, sie sollten Vorurteile ausräumen und sich gemeinsam mit den nationalen und regionalen Regierungen dafür einsetzen, dass diese Informationen Entscheidungsträger und andere Interessenträger auf sämtlichen Ebenen erreichen. Die Kommission sollte die Arbeit von auf EU-Ebene tätigen Organisationen von Menschen mit Behinderungen und von NGO unterstützen, die in diesem Bereich aktiv sind.

6.2.

Die Kommission sollte Kampagnen und Weiterbildungsmaßnahmen konzipieren, um die Öffentlichkeit, die politischen Akteure und Entscheidungsträger, die Mitarbeiter im öffentlichen und privaten Sektor, Menschen mit Behinderungen und ihre Familien usw. für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren. Zudem sollten die Mitgliedstaaten zu ähnlichen Kampagnen angeregt werden.

6.3.

Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten insbesondere auf Mehrfachdiskriminierung und intersektionale Diskriminierung eingehen, von der bestimmte Gruppen von Menschen mit Behinderungen betroffen sind, insbesondere Frauen und Mädchen, LGBTI-Personen und Angehörige ethnischer Minderheiten.

Brüssel, den 11. Dezember 2019

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Empfehlungen des VN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen an die EU aus dem Jahr 2015.

(2)  In Übereinstimmung mit Artikel 1 des VN-Übereinkommens zählen zu Menschen mit Behinderungen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.

(3)  Artikel 1, 21 und 26 der EU-Grundrechtecharta sowie Artikel 10 und 19 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

(4)  Spezial Eurobarometer 437. Abrufbar unter: https://data.europa.eu/euodp/data/dataset/S2077_83_4_437_ENG.

(5)  Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates (ABl. L 347 vom 20.12.2013, S. 320).

(6)  Allgemeine Bemerkung Nr. 1 (2014) des VN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zur gleichen Anerkennung vor dem Recht.

(7)  Empfehlungen des VN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Artikel 18.

(8)  Artikel 19 des VN-Übereinkommens und Allgemeine Bemerkung Nr. 5.

(9)  Artikel 9 und 20 des VN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

(10)  Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität (ABl. L 204 vom 26.7.2006, S. 1).

(11)  Im Rahmen der nächsten Überarbeitung der Verordnung (EU) Nr. 1300/2014 der Kommission vom 18. November 2014 über die technischen Spezifikationen für die Interoperabilität bezüglich der Zugänglichkeit des Eisenbahnsystems der Union für Menschen mit Behinderungen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität (ABl. L 356 vom 12.12.2014, S. 110).

(12)  Artikel 13 des VN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

(13)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 83.

(14)  https://www.disability-europe.net/theme/employment.

(15)  Artikel 5 und 27 des VN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

(16)  Artikel 27 des VN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

(17)  Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige und zur Aufhebung der Richtlinie 2010/18/EU des Rates (ABl. L 188 vom 12.7.2019, S. 79).

(18)  Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303 vom 2.12.2000, S. 16).

(19)  ANED auf Basis von Eurostat 2016; Menschen mit und ohne Behinderung (Alter 30-34 Jahre), Unterschiede in Prozent.

(20)  EU-Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) 2016.

(21)  Artikel 28 des VN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

(22)  Empfehlung des VN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Ziffer 63.

(23)  Empfehlungen des VN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen an die EU aus dem Jahr 2015.

(24)  Allgemeine Bemerkung zum VN-Übereinkommen.

(25)  Artikel 31 des VN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

(26)  Artikel 8 des VN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.


24.3.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 97/53


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Populismus und Grundrechte im stadtnahen und ländlichen Raum“

(Initiativstellungnahme)

(2020/C 97/07)

Berichterstatterin:

Karolina DRESZER-SMALEC

Mitberichterstatter:

Jukka AHTELA

Beschluss des Plenums

20.2.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

27.11.2019

Verabschiedung im Plenum

11.12.2019

Plenartagung Nr.

548

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

145/3/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Populistische Parteien konnten bei der Europawahl 2019 erhebliche Zugewinne verzeichnen. Der Populismus untergräbt die Stabilität politischer Institutionen, führt zu einer größeren Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft und macht das Umfeld für Investitionsentscheidungen der Unternehmen zunehmend riskanter.

1.2.

Der Erfolg populistischer Bewegungen und Parteien hat verschiedenste Ursachen. Ganz allgemein gesagt lässt sich dieser Erfolg auf Globalisierungsprozesse zurückführen, die alle Arten von Industrieländern betreffen. Bei genauerer Betrachtung lässt sich der Populismus sowohl mit kulturellen und identitätsbildenden Faktoren als auch mit sozioökonomischen Entwicklungen erklären. Außerdem ist der Populismus besonders ausgeprägt an „abgehängten“ Orten (1), wobei es keine Rolle spielt, ob sie in Randgebieten oder im Zentrum der Europäischen Union liegen.

1.3.

Es muss klar unterschieden werden zwischen den Ängsten, den Sorgen und der Wut auf der einen Seite, die Menschen in die Arme populistischer Parteien treiben, und den politischen Akteuren auf der anderen Seite, die bewusst versuchen, aus diesen Ängsten politisches Kapital zu schlagen. Die Unzufriedenheit der Bürger, die oft einen rational begründbaren Hintergrund hat, muss ernst genommen werden. Sie ist zu unterscheiden von der Rhetorik populistischer Anführer, die versuchen, sich diese Unzufriedenheit zunutze zu machen.

1.4.

In der Geografie der Unzufriedenheit vermengt sich das kontinentale Nord-Süd-Gefälle und das Ost-West-Gefälle in der EU mit der Kluft zwischen den Zentren und der Peripherie innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten. Je nach Ort lässt sich die Unzufriedenheit auf unterschiedliche Formen von Not zurückführen. Strategien zur Populismusbekämpfung müssen diesen komplexen Beziehungen Rechnung tragen, wenn sie Erfolg haben sollen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält das Schmieden von Bündnissen zwischen lokalen Behörden, zivilgesellschaftlichen Organisationen, den Sozialpartnern und weiteren Akteuren, z. B. lokalen Führungspersönlichkeiten und sozialen Bewegungen, für ein zentrales Element, wenn es darum geht, gegen die Ursachen des Populismus vorzugehen.

1.5.

Je weniger die Menschen am Erfolg der Wachstumspole ihres Landes teilhaben, desto negativer ist in der Regel ihre Einstellung gegenüber Führungseliten, Parteisystemen und postmodernen Lebensstilen. Zivilgesellschaftliche Aktivisten werden häufig diesen Gruppen zugerechnet, was die negative Haltung ihnen gegenüber verschärft.

1.6.

Für die Zivilgesellschaft wird die Lage besonders ernst, wenn Populisten an die Macht gekommen und in der Lage sind, maßgeblichen Einfluss auf die staatliche Agenda zu nehmen und auf ein autoritäres System zuzusteuern. Zivilgesellschaftliche Organisationen geraten massiv unter Druck, nicht nur aufgrund des kleiner werdenden Raums für ihre Tätigkeiten, sondern auch durch persönliche Bedrohungen und Verfolgung.

1.7.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die politische Bildung in Bezug auf die Grundsätze der Demokratie, die Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit intensiviert werden sollte, um diesen Entwicklungen zu begegnen. Er verweist auf die in der Stellungnahme „Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union“ (2) ausgesprochene Empfehlung an die Mitgliedstaaten, diese Themen in die Lehrpläne der Schulen und Hochschulen aufzunehmen, und ruft die Europäische Kommission auf, eine ehrgeizige Kommunikations-, Bildungs- und Öffentlichkeitssensibilisierungsstrategie für die Grundrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie sowie für die Rolle unabhängiger Medien vorzuschlagen.

1.8.

Die Menschen verlangen nach ehrgeizigen und wirksamen politischen Visionen. Daher hält es der EWSA für erforderlich, dass die Europäische Union Narrative für eine erstrebenswerte Zukunft entwickelt und Kerngrundsätze, die im Prozess der europäischen Integration eine wichtige Rolle gespielt haben, wie etwa Partnerschaft und Subsidiarität, wieder stärker in den Vordergrund rückt.

1.9.

Der EWSA unterstützt die Entschließung des Europäischen Parlaments zur „Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von ländlichen Gebieten, Bergregionen und entlegenen Gebieten“ (2018/2720 (RSP)) (3), „um die sozioökonomische Entwicklung, das Wirtschaftswachstum und die Diversifizierung, das soziale Wohlergehen, den Naturschutz sowie die Zusammenarbeit und die Vernetzung mit städtischen Gebieten zu fördern, damit der Zusammenhalt unterstützt und die Gefahr einer territorialen Fragmentierung vermieden wird“. Der Ausschuss schließt sich folglich auch der Forderung des Europäischen Parlaments nach Einführung eines Paktes für intelligente Dörfer an, in den im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip alle Regierungsebenen einbezogen werden.

1.10.

Der EWSA bekräftigt seine Empfehlung aus der Stellungnahme „Eine widerstandsfähige Demokratie durch eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft“ (4), wie unter anderem „die Schaffung eines Demokratie-Scoreboards, das […] die Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Engagement erfasst und zu konkreten Reformempfehlungen führt“.

1.11.

Die Behörden sollten in ihren Maßnahmen einen menschenrechtsbasierten Ansatz (5) verfolgen — insbesondere sollten wirtschaftspolitische Reformmaßnahmen systematisch auf Folgenabschätzungen in Bezug auf die Menschenrechte (6) gestützt sein. Dies sollte eine Voraussetzung für sachkundige und inklusive nationale Debatten und die Anpassung politischer Entscheidungen sowie für eine reibungslose Umsetzung der Reformen sein.

1.12.

Der EWSA empfiehlt eine stärkere Berücksichtigung der neuen Wirtschaftstätigkeiten in ländlichen Gebieten, von denen viele auf den Grundsätzen der Gegenseitigkeit und Fürsorge beruhen. Er ruft zu Maßnahmen auf, die eine bessere Unterstützung und Verknüpfung solcher Initiativen zum Ziel haben, um von der isoliert-experimentellen Phase zu emanzipatorischen politischen und sozialen Bündnissen zu gelangen.

1.13.

Der EWSA fordert die EU und ihre Mitgliedstaaten zu einem Ausbau der Infrastruktur auf der subnationalen Ebene auf. Die Stilllegung von Bus- und Bahnverbindungen und die Schließung von Schulen und Gesundheitseinrichtungen gehören eindeutig mit zu den Ursachen des populistischen Protestes in Europa.

1.14.

Die EU-Organe sollten den Kapazitätsaufbau bei europäischen, nationalen und lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen stärken und sie mit Ressourcen darin unterstützen, den Umfang und die Qualität ihres Handelns zu verbessern. Sie sind wichtig dafür, die Bedürfnisse der einzelnen Bevölkerungsgruppen zu erkennen und darauf einzugehen. Verschlechterungen in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Demokratie treffen sie besonders hart.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Populistische Parteien konnten bei der Europawahl 2019 erhebliche Zugewinne verzeichnen. Der EWSA hält diese Entwicklung für äußerst besorgniserregend und ruft zu umfassenden Initiativen für ihre Bewältigung auf, angefangen mit Bemühungen um ein besseres Verständnis der ihr zugrunde liegenden Ursachen.

2.2.

Der EWSA meint, dass man sich gerade auch der Lage der zivilgesellschaftlichen Organisationen zuwenden muss, die von Verschlechterungen in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Demokratie besonders hart getroffen werden. In vielen Ländern wird der Handlungsspielraum zivilgesellschaftlicher Organisationen gegenwärtig eingeschränkt. Die weitere Zunahme des Populismus geht wahrscheinlich auch mit einer geringeren wirtschaftlichen Stabilität und einer ineffizienteren Regierungsführung und Politik einher, was schlecht für das Investitionsklima ist.

2.3.

Der EWSA hat bereits seine große Beunruhigung „angesichts der Verschlechterung der Menschenrechtslage, der um sich greifenden populistischen und autoritären Tendenzen und der Gefahren, die dies für die Qualität der Demokratie und den Schutz der Grundrechte bedeutet“ (7), zum Ausdruck gebracht. Er hat die EU-Institutionen aufgefordert, „einen proaktiven und präventiven Ansatz im Rahmen ihrer politischen Tätigkeiten zu wählen, um Probleme frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden“.

2.4.

In seiner Initiativstellungnahme zum Thema „Eine widerstandsfähige Demokratie durch eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft“ (8) betonte der EWSA, dass er der Ansicht ist, dass der Zivilgesellschaft „eine zentrale Rolle beim Erhalt der liberalen Demokratie in Europa“ zukommt und dass „nur eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft Demokratie und Freiheit verteidigen und Europa vor der autoritären Versuchung bewahren“ kann.

2.5.

Zur vollständigen Erfassung des Phänomens „Populismus“ müssen mehrere Dimensionen berücksichtigt werden. Einige Beobachter setzen in erster Linie bei kulturellen Faktoren an, um die Ursachen des Populismus zu finden. Andere vernachlässigen die Bedeutung dieser Faktoren zwar nicht, argumentieren aber, dass der zunehmende Populismus im Wesentlichen auf sozioökonomische Faktoren zurückzuführen und der Komplexität der Globalisierung zuzuschreiben sei.

2.6.

Viele Sorgen, auf denen die Unzufriedenheit der Menschen beruht, sind rational begründet und rufen nach Lösungen der Politik. Diese legitimen Anliegen müssen von den Versuchen einiger politischer Akteure unterschieden werden, die sich diese Unzufriedenheit zunutze machen und sie durch demagogische, aber irrationale Vorschläge für ihre eigenen Wahlzugewinne einsetzen.

2.7.

Die am häufigsten genannten Faktoren, die zur Erklärung der Empfänglichkeit für Populismus genannt werden, sind das Alter (hoch), der Bildungsgrad (niedrig), der relative Wohlstand (niedrig), Arbeitslosigkeit (hoch), die Art der Beschäftigung (atypisch, befristet). Diese sozioökonomischen Faktoren sind in ländlichen Gebieten und außerhalb der Großstädte häufiger verbreitet.

2.8.

Das Brexit-Referendum in Großbritannien, die Gelbwestenbewegung in Frankreich und die Erfolge der AfD in Ostdeutschland, der Lega in Italien und der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen unterscheiden sich in vielen Aspekten. Gemeinsam ist jedoch all diesen Entwicklungen, dass sie den dramatischen Vertrauensverlust in Institutionen, Politiker und Medien widerspiegeln.

2.9.

Je weniger die Menschen am Erfolg der Wachstumspole ihres Landes teilhaben können, desto negativer ist in der Regel ihre Einstellung gegenüber Führungseliten, Parteisystemen und postmodernen Lebensstilen. Zivilgesellschaftliche Aktivisten werden häufig diesen Gruppen zugerechnet, was die negative Haltung ihnen gegenüber verschärft und erhebliche Auswirkungen auf die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen hat.

3.   Allgemeine und ortsbezogene Faktoren des Populismus

3.1.

Die Zunahme des Populismus ist grob zwei Bereichen zuzuschreiben. Ein Bereich betrifft kulturelle Aspekte wie die Identitätsbildung und veränderte Wahrnehmung infolge von Entwicklungstendenzen in den letzten 20 bis 30 Jahren. Der andere Blickwinkel lässt sozioökonomische Aspekte als Hauptursachen für den Erfolg des Populismus hervortreten. Trotz der Relevanz beider Erklärungen haben die Faktoren der politischen Ökonomie bei der Betrachtung der Rolle des Raumes und des Gebiets deutlich mehr Gewicht (9).

3.2.

Der Populismus ist ein spezifischer Ausdruck dessen, was als Übergang in ein neues Zeitalter, Zeitenwende oder epochaler Umbruch bezeichnet werden kann. In unterschiedlichem Ausmaß sind alle Länder von den Auswirkungen dieses Wandels betroffen, unabhängig von der betreffenden Region. Alle wichtigen Dimensionen der gesellschaftlichen Ordnung sind mehr oder weniger diesem Wandel unterworfen — der Staat ebenso wie der Markt oder die Gemeinschaft (in Vertretung der Zivilgesellschaft).

3.3.

Ausgelöst durch Prozesse der Kommerzialisierung der sozialen und politischen Beziehungen tritt Populismus zunächst auf der Ebene bestimmter Teile der Gesellschaft auf. Wahlgemeinschaften wie Interessenvereinigungen, soziale Bewegungen und andere zivilgesellschaftliche Organisationen sind zunehmend von der Organisationsunwilligkeit betroffen. Sie kämpfen um ihren Fortbestand und um die Mitgliederbindung. Auch Schicksalsgemeinschaften wie Familien, Stadtviertel- bzw. Dorfgemeinschaften und lokale Gruppen leiden unter Fragmentierung, abnehmender Solidarität, Entfremdung und Auflösung.

3.4.

In einer zunehmend komplexen Welt schürt eine solche soziale und politische Fragmentierung tendenziell Unsicherheit und Ängste und führt zu einer Suche nach klaren Antworten. Traditionelle Gemeinschaften können solche Antworten häufig nicht mehr geben. Unabhängig vom Alter und der sozialen Schicht suchen viele Menschen nach neuen Wegen der Zugehörigkeit und nach einer sicheren Identität. Populistische politische Akteure haben sich darauf verlegt, solche einfachen Antworten zu geben, die oft mit verklärenden Visionen einer glorreichen Vergangenheit verwoben sind, an die es anzuknüpfen gilt.

3.5.

Wenn solche einfachen Antworten erst einmal in gut klingende politische Programme übersetzt sind, wirken sie in den Bereich der Politik und des Staates hinein — also in Bereiche, die ihrerseits von der Zersplitterung der Parteiensysteme und einem schwindenden Vertrauen in die politische Steuerung betroffen sind.

3.6.

Die allgemeinen Ursachen für den Populismus werden durch die territoriale Zersplitterung, von der ländliche und stadtnahe Gebiete betroffen sind, weiter verschärft. Deren Bewohner fühlen sich von der Wirtschaftsentwicklung und der öffentlichen Infrastruktur für Verkehr, Gesundheit, Altenpflege, Bildung und Sicherheit abgeschnitten. Daher sind eine antielitäre Denkweise und Vorurteile gegenüber einer kosmopolitischen Lebensweise hier sehr verbreitet.

4.   Globalisierung und Wirtschaftskrise

4.1.

Die Globalisierung hat Chancen und Risiken mit sich gebracht, wobei die Risiken für stadtnahe und ländliche Gebiete schwerer wiegen. Dies führte zu einer Investitionslücke in diesen Gebieten und zu einem berechtigten Gefühl der Unsicherheit angesichts der Gefahr einer Verlagerung von industriellen Infrastrukturen und Arbeitsplätzen, verbunden mit der Ablehnung einer allgemein als ungerecht empfundenen Steuerpolitik. Bestimmte Handelsabkommen, wie das jüngste mit dem Mercosur, haben in einigen Mitgliedstaaten ebenfalls Bedenken hervorgerufen, da sie als existenzgefährdend für die europäischen Landwirte und als Bedrohung des europäischen Modells bäuerlicher Familienbetriebe angesehen werden.

4.2.

Diese „politische Ökonomie des Populismus“ wird in einem von der Gruppe Vielfalt Europa des EWSA in Auftrag gegebenen Bericht (10) untersucht‚ in dem es heißt, dass „ein höheres Niveau bei verfügbarem Einkommen, Beschäftigungsquote, Sozialausgaben und BIP mit einem geringeren populistischen Wahlerfolg auf regionaler Ebene in Verbindung gebracht werden kann“. Ein Rückgang des verfügbaren Einkommens wird mit einer Zunahme der Unterstützung für populistische Parteien in Verbindung gebracht.

4.3.

Trotz der insgesamt positiven Entwicklungen im Beschäftigungsbereich in Europa sind Arbeitslosigkeit, atypische Beschäftigungsverhältnisse sowie soziale und wirtschaftliche Marginalisierung in vielen Mitgliedstaaten gerade bei jungen Menschen besonders ausgeprägt. Die Altersgruppe der 20- bis 30-Jährigen könnte die erste Generation seit Gründung der EU sein, der es schlechter geht als der Elterngeneration. Angaben von Eurostat zeigen, dass 44 % der Beschäftigten in Europa im Alter von 19 bis 24 Jahren nur einen befristeten Arbeitsvertrag haben. In der Gesamtbevölkerung liegt dieser Anteil hingegen bei 14 %.

4.4.

Ländliche, stadtnahe und Randgebiete sind tendenziell anfälliger für den Einfluss des Populismus, der ein Modell bietet, das gerade die Faktoren infrage stellt, auf denen das jüngste Wirtschaftswachstum beruht: offene Märkte, Migration, wirtschaftliche Integration und Globalisierung (11).

4.5.

Ein strukturell schwaches Wirtschaftswachstum lässt generell die Steuereinnahmen der EU-Staaten sinken und die Ausgaben in die Höhe schnellen. Der Ausgabendruck ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen, darunter die Bevölkerungsalterung, die Schuldenlast und die steigenden Kosten für die öffentliche Sicherheit. Gleichzeitig ist der Druck auf die Einnahmen auf Faktoren wie volkswirtschaftliche Entscheidungen, die Sparpolitik und Steuerhinterziehung oder -vermeidung zurückzuführen. Knappe öffentliche Mittel schränken die Staaten daher in ihrer Rolle als Pflichtenträger im Bereich der Umverteilungspolitik ein, die für die Wahrung der sozialen und wirtschaftlichen Rechte von zentraler Bedeutung ist. Öffentliche und private Investoren wenden sich vom Wirtschaftsgefüge vor allem in ländlichen und stadtnahen Gebieten ab, was in Teilen der Bevölkerung das Gefühl entstehen lässt, von staatlichen Strukturen und öffentlichen Diensten verlassen und abgekoppelt zu sein.

4.6.

Der EWSA fordert europäische und einzelstaatliche Organe auf, Inklusivität, den Zugang zu Rechten und den Erhalt von Wirtschaft und Industrie sowie Beschäftigungspools als Schlüsselkriterien der Wirtschafts-, Kohäsions- und Regionalpolitik zu betrachten.

5.   Der Faktor Migration

5.1.

Ebenso wie die Globalisierung betrifft auch die Migration alle Länder, seien es Industrie- oder Entwicklungsländer. Es ist wenig wahrscheinlich, dass sie verschwinden wird — eher wird sie im Laufe der Zeit noch zunehmen. Der zunehmende Druck durch populistische Bewegungen macht es den Mitgliedstaaten zwar schwer, entbindet sie aber nicht von der Pflicht, sich auf eine dringend benötigte gerechte, mitfühlende und verantwortungsvolle europäische Migrations- und Asylpolitik zu einigen, die mit internationalen Menschenrechtsnormen vereinbar ist.

5.2.

Die populistische Rhetorik ist nicht rational auf die regulatorischen Aspekte der Migrationspolitik ausgerichtet. Vielmehr stigmatisiert sie Migranten direkt als Kriminelle, Terroristen oder Eindringlinge, was eine Stimmung erzeugt, die direkte Angriffe auf sie begünstigt.

5.3.

In der Migrationsfrage hängen die geografisch gesehen bedeutsamsten Trennlinien mit Unterschieden bei den Sozialsystemen und den Arbeitsmärkten zusammen. Die Sozialsysteme und die Arbeitsmärkte sind in manchen Ländern relativ zugänglich für Einwanderer, während sie in anderen Ländern abgeschottet und ausgrenzend sind. Mit dem Zustrom einer größeren Anzahl an Migranten unterscheiden sich die Reaktionen jener Teile der örtlichen Bevölkerung, die marginalisiert sind oder Angst haben, marginalisiert zu werden, je nach der Art der politischen Ökonomie.

5.4.

In einigen Ländern und in bestimmten Regionen dieser Länder besteht die Befürchtung, dass die Sozialsysteme überlastet werden, während in anderen Ländern Migranten als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen werden. Subjektiv gesehen können Migranten ein Problem in Bezug auf einen sicheren Arbeitsplatz oder den Erhalt von Sozialleistungen darstellen. Unter den Bewohnern ländlicher und stadtnaher Gebiete können derartige Befürchtungen besonders ausgeprägt sein.

5.5.

Es gibt also eine Vielzahl möglicher Ursachen für die Zunahme populistischer Bewegungen, die von den nationalen Regierungen, den Organen der Europäischen Union und den zivilgesellschaftlichen Organisationen bei der Entwicklung geeigneter Gegenstrategien politischer und/oder wirtschaftlicher Art berücksichtigt werden sollten. Ebenso wichtig ist, dass das Gefühl des sozialen Abstiegs und der wirtschaftlichen Marginalisierung in Teilen der EU nicht auf Zuwanderung, sondern vielmehr auf Abwanderung zurückzuführen ist. Vor allem in Teilen Osteuropas hat die Abwanderung hochqualifizierter Fachkräfte ein dramatisches Ausmaß angenommen, das das sozioökonomische Gefüge dieser Länder erschüttert.

5.6.

Der EWSA widerspricht der Auffassung, dass es einen Konkurrenzkampf um öffentliche Mittel zwischen Migranten und der örtlichen Bevölkerung gebe. Er ruft zivilgesellschaftliche Organisationen auf, ihre Aktivitäten zu verstärken, um den Ängsten und Besorgnissen in Teilen der Bevölkerung zu begegnen. Ferner befürwortet er die Schaffung von Bildungs- und Sozialprogrammen, die auf die Bandbreite der Motive eingehen, die dem Populismus insbesondere in den abgelegenen Teilen der EU Vorschub leisten. Den nationalen und europäischen Plattformen und Netzwerken der Zivilgesellschaft sollte mehr Unterstützung geboten werden, um das Phänomen genauer zu analysieren und die Verbreitung verlässlicher Informationen sowie Aufklärungsmaßnahmen, die für ein besseres Verständnis sorgen, zu fördern.

6.   Die Geografie der Unzufriedenheit

6.1.

Populistische Parteien haben in ländlichen Randgebieten und ehemaligen Industrieregionen in der EU überdurchschnittlich große Erfolge erzielt (12). Dies gilt für das Brexit-Referendum in Großbritannien sowie für Österreich, wo der Kandidat der FPÖ bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2018 62 % der Stimmen der Landbevölkerung errungen hatte.

6.2.

In der Geografie der Unzufriedenheit vermengt sich das kontinentale Nord-Süd-Gefälle und das Ost-West-Gefälle in der EU mit der Kluft zwischen den Zentren und der Peripherie innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten. Diese vielfältige Fragmentierung der Gesellschaften und Gebiete hat die Zunahme des Populismus im Laufe der Jahre begünstigt. Die Infrastruktur- und die Verkehrspolitik sind daher von besonderer Bedeutung, da sie die territoriale Kontinuität gewährleisten und eine materielle Grundvoraussetzung für den Zugang der Allgemeinheit zu staatsbürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechten sind.

6.3.

Der EWSA empfiehlt den europäischen und nationalen Behörden, die Politik in den Bereichen Verkehr, Infrastruktur und Internetanbindung als Mittel zur Bekämpfung von Populismus zu betrachten. Die Behörden sollten diese sowie kohäsions- und sozialpolitische Maßnahmen und Armutsbekämpfungsstrategien aus einem menschenrechtsbasierten Blickwinkel gestalten (13). Sie sollten ferner sicherstellen, dass Maßnahmen, insbesondere wirtschaftspolitische Reformmaßnahmen, auf systematischen Ex-ante- und Ex-post-Folgenabschätzungen (14) der Menschenrechtslage beruhen‚ um sachkundige und inklusive nationale Debatten über die Schlichtung und Anpassung politischer Entscheidungen zu begünstigen.

6.4.

Eine Folge der sozialen, wirtschaftlichen und regionalen Fragmentierung ist eine wachsende politische Entrechtung eines großen Teils der Bevölkerung im stadtnahen und ländlichen Raum. Diese kommt zum Ausdruck in einer hohen Zahl von Nichtwählern, der Ablehnung der repräsentativen Demokratie und der intermediären Organisationen, einschließlich der politischen Parteien und Gewerkschaften, und in der Unterstützung radikaler populistischer Bewegungen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die politische Bildung in Bezug auf die Grundsätze der Demokratie, die Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit intensiviert werden sollte, um diesen Entwicklungen zu begegnen. Er verweist auf die in der Stellungnahme „Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union“ (15) ausgesprochene Empfehlung an die Mitgliedstaaten, diese Themen in die Lehrpläne der Schulen und Hochschulen aufzunehmen, und ruft die Europäische Kommission auf, eine ehrgeizige Kommunikations-, Bildungs- und Öffentlichkeitssensibilisierungsstrategie für die Grundrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie vorzuschlagen.

6.5.

Gerade wegen der sich überschneidenden Politikfelder Identität, Zugehörigkeit, Anerkennung und Umverteilung muss berücksichtigt werden, dass Religion, Geschlechterdynamik, Ort und kulturelle Identität wichtig sind, ebenso wie Klasseninteressen und Ungleichheit. Alternativen zu der Vereinnahmung durch regressive politische Kräfte zu mobilisieren, ist nicht einfach. Neue Kampagnen und Narrative sind erforderlich. Eine besonders wichtige Möglichkeit, hierhin zu gelangen, ist der Blick auf die vielen neuen Wirtschaftstätigkeiten, die auf dem Land entstehen und auf Gemeinschaftsdenken, Gegenseitigkeit und Fürsorge basieren. Die Aufgabe besteht dann darin, diese miteinander zu verbinden und über die isoliert-experimentelle Phase hinauszugehen und sie untereinander und mit emanzipatorischen politischen Bündnissen zu verknüpfen.

7.   Der Einfluss des Populismus auf die Zivilgesellschaft außerhalb der Großstädte

7.1.

Die Zivilgesellschaft ist vom Aufstieg populistischer Bewegungen und Parteien in ganz Europa und auf verschiedenen territorialen Ebenen stark betroffen. Da politische Räume in vielen Teilen Europas zunehmend von autoritärer Propaganda, fremdenfeindlichen und rassistischen Haltungen und faschistischer Gewalt betroffen sind, sind soziale Bewegungen, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände gleichermaßen unmittelbar betroffen.

7.2.

Für die Zivilgesellschaft wird die Lage besonders dort ernst, wo Populisten an die Macht gekommen und in der Lage sind, maßgeblichen Einfluss auf die staatliche Agenda zu nehmen. Wenn populistische Parteien Schlüsselpositionen im Parlament und in der Exekutive einnehmen, neigen sie dazu, eine vormals liberale Gesellschaft in die Richtung eines autoritären Regimes zu steuern. Organisationen der Zivilgesellschaft sind durch die Einschränkung der für ihre Tätigkeit nötigen Spielräume massiv bedroht. Gleichzeitig wird die ungehinderte Arbeit bestehender Organisationen der Zivilgesellschaft zusätzlich erschwert durch manche Pseudo- oder Schein-NRO, die auf Anordnung von oben gegründet werden und sich häufig einen radikaldemokratischen Anstrich geben.

7.3.

Die Frage, in welchem Ausmaß die Zivilgesellschaft in ländlichen und stadtnahen Gebieten durch Populismus eingeengt wird, ist schwer zu beantworten. Aktivisten im ländlichen Raum verfügen häufig nicht über die notwendigen Ressourcen, um die Art von Bündnissen zu schmieden, wie man sie von großstädtischen Gebieten kennt. Dies gilt auch für Bündnisse z. B. mit Verbraucherverbänden und Lebensmittelaktivisten in Städten, die in der Frage der Nachhaltigkeit von Lebensmitteln oft weiter fortgeschritten sind. Durch das Fehlen starker sozialer Bewegungen und politischer Parteien, die die Interessen der Landbewohner vertreten könnten, lässt sich der Wahlerfolg rechtspopulistischer Parteien in ländlichen Gebieten Europas teilweise erklären.

8.   Möglichkeiten zur Bekämpfung von Populismus

8.1.

Als Instrumente zur Bekämpfung von Populismus werden zweierlei Maßnahmenpakete empfohlen. Das erste bezieht sich auf die Bedrohung durch den Populismus im Allgemeinen und mögliche Instrumente, die von der Europäischen Union eingesetzt werden könnten. Das zweite Paket mit Empfehlungen bezieht sich stärker auf bestimmte Regionen, ländliche und stadtnahe Gebiete.

8.2.

Mehrere Strategien können zur Bekämpfung der Ursachen des Populismus geeignet sein. Die erste setzt an der Art und Weise an, wie Politiker und Institutionen vorgehen und mit denjenigen ins Gespräch kommen, die effektiv unter sozioökonomischen Härten leiden. Auf soziale, wirtschaftliche und politische Komplexitäten kann keine Institution allein, die EU eingeschlossen, einfache und unmissverständliche Antworten geben, die diese Komplexität durch das Zurückversetzen in einen idealisierten sozioökonomischen Status quo ante verringern würden. Politiker und Institutionen sollten sich auf die Bekämpfung der Ursachen von Populismus konzentrieren und dabei die Rhetorik widerlegen, die behauptet, prompte und unfehlbare Antworten auf komplexe Probleme zu haben.

8.3.

Die zweite Strategie ist direkt mit dem Image und dem Schicksal der Europäischen Union verbunden. Zu den vielen Enttäuschungen derer, die anfälliger für populistische Propaganda sind, gehört das Fehlen wirklich wünschenswerter politischer Projekte, die eine glaubwürdige Hoffnung auf eine bessere Zukunft schaffen, sowie von Maßnahmen zur Verbesserung der alltäglichen Lebensbedingungen. Populisten haben sich diese Enttäuschung zunutze gemacht und eine rückwärtsgewandte Vision entwickelt, die in einer scheinbar glorreichen Vergangenheit angesiedelt ist. Um ihren Fortbestand zu sichern, bleibt der Europäischen Union keine andere Wahl, als den Menschen wieder Lust auf das europäische Projekt zu machen.

8.4.

Der Gründungsmythos der EU allein reicht heute nicht mehr aus, um auf die Menschen in Europa zu wirken. Die EU sollte Narrative für eine erstrebenswerte Zukunft entwickeln und zentrale Grundsätze, die im Projekt der europäischen Integration eine wichtige Rolle gespielt haben, wie Partnerschaft und Subsidiarität, wieder in den Vordergrund rücken.

8.5.

Der EWSA fordert die EU, die Mitgliedstaaten und alle einschlägigen Interessenträger auf, den Grundsätzen Subsidiarität und Partnerschaft neuen Schwung zu geben. Wie in der Empfehlung der Gruppe Vielfalt Europa „Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die EU wiedergewinnen“ (16) dargelegt, hält der EWSA es für erforderlich, Bemühungen zu unternehmen, um „den Bürgerinnen und Bürgern das Subsidiaritätsprinzip zu erklären und vor Augen zu führen, dass die EU sowohl die kulturelle Vielfalt als auch die örtlichen Traditionen achtet“. Funktionale Subsidiarität würde eine stärkere Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen in die Regionalplanung und die EU-Regionalpolitik ebenso wie in die Verteidigung von Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichbehandlung aller Bewohner ländlicher und abgelegener Gebiete bedeuten. Territoriale Subsidiarität würde die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften stärken, sodass sie Mitverantwortung für die Gestaltung, Umsetzung und Bewertung strukturpolitischer Maßnahmen übernehmen könnten.

8.6.

Der EWSA empfiehlt die Stärkung eines Instruments, das im Zusammenhang mit der europäischen Kohäsionspolitik eingesetzt wird, nämlich die von der örtlichen Bevölkerung betriebene lokale Entwicklung (Community-Led Local Development, CLLD). Lokale Akteure und Anwohner hätten dabei die Gelegenheit, über Lösungen für Probleme mitzuentscheiden, die sie unmittelbar betreffen, und könnten somit maßgeblich zur Verbesserung ihrer Lebensqualität beitragen.

8.7.

Partnerschaft ist sowohl im Hinblick auf die Kommunikation als auch auf Solidarität und gegenseitige Hilfe unter zivilgesellschaftlichen Organisationen verschiedener Länder unerlässlich. Ebenso wichtig ist Partnerschaft, wenn es um den Aufbau von Bündnissen zwischen Behörden und zivilgesellschaftlichen Gruppen auf lokaler Ebene geht.

8.8.

Die EU und die Mitgliedstaaten müssen besser auf Verstöße gegen die Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit reagieren, die durch Handlungen populistischer Bewegungen (einschließlich derjenigen, die an der Macht sind) hervorgerufen werden. Der EWSA verweist auf seine Empfehlung in der Stellungnahme „Eine widerstandsfähige Demokratie durch eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft“ (17), wie unter anderem „die Schaffung eines Demokratie-Scoreboards, das […] die Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Engagement erfasst und zu konkreten Reformempfehlungen führt“, sowie auf seine in der Stellungnahme „Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union“ (18) vorgetragenen Empfehlungen.

8.9.

Der EWSA empfiehlt, die Erwägungen dieser Stellungnahme in ein solches Demokratie-Scoreboard sowie in einen künftigen Überwachungsmechanismus für Rechtsstaatlichkeit aufzunehmen. Eine wohldurchdachte Kommunikation sollte deutlich machen, dass die EU und die Mitgliedstaaten gewillt sind, Verstöße gegen die Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit, die durch bestimmte populistische Maßnahmen hervorgerufen werden, zu ahnden, anstatt die Wähler populistischer Parteien ins Visier zu nehmen, deren berechtigte Bedenken durch eine gerechte, diskriminierungsfreie und wirksame Politik ausgeräumt werden müssen.

9.   Eine von der Basis ausgehende Reaktion auf den Populismus

9.1.

Das Problem, vor dem die Zivilgesellschaft auf dem Land steht, ist nicht unbedingt eine Frage „schrumpfender Räume“. Das Problem ist, dass diese Räume erst einmal geschaffen werden müssen. Eine Reaktion auf die Zunahme des Populismus sollte die Ursachen der Unzufriedenheit in den Blick nehmen. Außerdem sollte sie so weit wie möglich von der Basis ausgehen. Der EWSA spricht sich für ein Tätigwerden aus, das bei verschiedenen Gruppen von Lebensmittelherstellern und -verbrauchern das Gefühl erzeugt, gemeinsame Interessen und Ziele zu haben, und zwar über gesellschaftliche Schichten, Geschlechter, Generationen und das Stadt-Land-Gefälle hinweg. Die Ernährungshoheit und die vielfältigen Fragen im Zusammenhang mit dem Recht auf Nahrung und auf eine gesunde Umwelt sind Beispiele für spezielle Herausforderungen, die besser durch die Stärkung der Solidarität, einer kollektiven Identität und der politischen Teilhabe im ländlichen Europa angegangen werden könnten.

9.2.

In Bezug auf eine stärkere Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger sollten sich Mitgliedstaaten, die eine Stärkung der direkten Demokratie durch lokale Referenden erwägen, darüber im Klaren sein, dass dies genau das Mittel ist, für das populistische Parteien zurzeit in ganz Europa werben. Die direkte Demokratie kann ein zweischneidiges Schwert sein. Die lokalen Behörden und die Akteure der Zivilgesellschaft sollten durch geeignete Schritte sicherstellen, dass ihr Einsatz auf Situationen beschränkt ist, in denen ein echter Nutzen davon erwartet werden kann.

9.3.

Der EWSA hält das Schmieden von Bündnissen zwischen lokalen Behörden, zivilgesellschaftlichen Organisationen, den Sozialpartnern und weiteren Akteuren, z. B. lokalen Führungspersönlichkeiten und sozialen Bewegungen, für ein zentrales Element, wenn es darum geht, gegen die Ursachen des Populismus vorzugehen. Dies wird Teil der Bemühungen sein, auf das Gefühl des Zurückgelassenseins der Bewohner ländlicher und stadtnaher Gebiete einzugehen. Ferner wird auf diese Weise auch die Rolle der Sozialpartner gestärkt, die durch ihren Dialog und ihr Handeln dazu beitragen können, Ungleichheiten zu verringern, Investitionen anzuziehen und die wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln.

9.4.

Auch die Interessen und Anliegen von Verbänden kleiner Unternehmen, Handwerkern und Landwirten dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Die Investitionsfreudigkeit von Wirtschaftsakteuren könnte abnehmen, wenn autoritäre Gruppen (auf kommunaler Ebene) an die Macht kommen. Darüber hinaus könnten Migranten, die eine Arbeit suchen, solche Orte meiden, auch wenn hier Beschäftigungsmöglichkeiten vorhanden sind. Daher muss dieser Teufelskreis in stadtnahen und ländlichen Gebieten durchbrochen werden.

9.5.

Das ungenutzte Potenzial von Gebieten, die als abgehängt gelten, für private und öffentliche Investitionen ist ein absolut ausbaufähiger Ansatz. Der Schwerpunkt auf Transfer- oder Sozialleistungen sollte ergänzt werden, indem die Möglichkeiten, die diese Regionen bieten, gestärkt werden, wobei der spezifische lokale Kontext zu berücksichtigen ist. Hierfür müssen Ineffizienz und Engpässe bei den Institutionen angegangen werden und Maßnahmen zur Förderung von Weiterbildung, unternehmerischer Initiative und der Aneignung von Wissen und Innovationen ergriffen werden (19).

9.6.

Um gegen die Ursachen des Populismus vorzugehen, müssen neben sozioökonomischen Faktoren auch Faktoren wie Religion, Geschlechterdynamik, Wohnort, kulturelle Identität und Bildung berücksichtigt werden. Alternativen zu den einfachen Antworten regressiver politischer Kräfte zu mobilisieren, ist nicht einfach. Die Antworten müssen der spezifischen Gemengelage, in der in bestimmten lokalen Situationen Not auftritt, angepasst sein.

9.7.

Neue Narrative wären ebenfalls hilfreich, um gegen die Art von Desinformation vorzugehen, der durch Kampagnen in den sozialen Medien zum Durchbruch verholfen wird und die die Aushöhlung europäischer Werte zum Ziel haben, wodurch sie das Entstehen separatistischer und nationalistischer Forderungen und Einstellungen begünstigen. Wichtig ist es, die Rolle der traditionellen Medien (öffentlich-rechtliches Fernsehen, unabhängige Zeitungen) zu stärken, damit sie ihre Aufgabe der sachlichen Informationsbereitstellung richtig ausüben können. Zwar ist die Kommission bereits in dieser Hinsicht tätig geworden (siehe COM(2018) 236), doch wäre mehr Dringlichkeit angebracht.

9.8.

Der EWSA dringt auf eine stärkere Berücksichtigung der neuen Wirtschaftstätigkeiten in ländlichen Gebieten, von denen viele auf den Grundsätzen der Gegenseitigkeit und Fürsorge beruhen. Er ruft zu Maßnahmen auf, die eine bessere Unterstützung und Verknüpfung solcher Initiativen zum Ziel haben, um von der isoliert-experimentellen Phase zu emanzipatorischen politischen und sozialen Bündnissen zu gelangen.

9.9.

Der EWSA fordert die EU und ihre Mitgliedstaaten zu einem Ausbau der Infrastruktur auf der subnationalen Ebene auf. Die Stilllegung von Bus- und Bahnverbindungen und die Schließung von Schulen und Gesundheitseinrichtungen gehören eindeutig mit zu den Ursachen des populistischen Protestes in Europa. Finanzielle Unterstützung ist für den Ausbau der örtlichen Infrastruktur sowohl in materieller (Verkehr und öffentliche Dienstleistungen) als auch in immaterieller Hinsicht (Netze zwischen verschiedenen Arten von Ortschaften, Institutionen und Organisationen) erforderlich.

9.10.

Der EWSA, seine Mitgliedsorganisationen und weitere EU-Institutionen sollten den Kapazitätsaufbau örtlicher zivilgesellschaftlicher Organisationen unterstützen und ihnen mit den nötigen Ressourcen dabei helfen, den Umfang und die Qualität ihres Handelns zu verbessern. Zivilgesellschaftliche Organisationen und ihre europäischen Netzwerke sollten mehr Unterstützung für die Schulung von Mitgliedern lokaler zivilgesellschaftlicher Organisationen erhalten.

Brüssel, den 11. Dezember 2019

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Andrés Rodriguez-Pose 2018, The revenge of places that don't matter (and what to do about it), S. 32 (LSE Online-Forschung): http://eprints.lse.ac.uk/85888/1/Rodriguez-Pose_Revenge%20of%20Places.pdf.

(2)  Stellungnahme des EWSA „Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union. Aktuelle Lage und mögliche nächste Schritte“ (ABl. C 282 vom 20.8.2019, S. 39)

(3)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 3. Oktober 2018 zur Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von ländlichen Gebieten, Bergregionen und entlegenen Gebieten (ABl. C 11 vom 13.1.2020, S. 15).

(4)  Stellungnahme des EWSA „Eine widerstandsfähige Demokratie durch eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft“ (ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 24)

(5)  OHCHR, Principles and Guidelines for a Human Rights Approach to Poverty Reduction Strategies (Grundsätze und Leitlinien für einen menschenrechtsbasierten Ansatz bei Strategien zur Armutsreduzierung), https://www.ohchr.org/Documents/Publications/PovertyStrategiesen.pdf.

(6)  OHCHR, Guiding principles on human rights impact assessments of economic reforms (Leitprinzipien für Folgenabschätzungen in Bezug auf die Menschenrechte bei wirtschaftspolitischen Reformmaßnahmen), 19. Dezember 2018, https://ap.ohchr.org/documents/dpage_e.aspx?si=A/HRC/40/57.

(7)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ein EU-Kontrollmechanismus für Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte“ (ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 8).

(8)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine widerstandsfähige Demokratie durch eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft“ (ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 24).

(9)  Gesellschaft außerhalb der Großstädte: die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen bei der Bekämpfung des Populismus, EWSA, Brüssel 2019: https://www.eesc.europa.eu/sites/default/files/files/qe-04-19-236-en-n.pdf.

(10)  Gesellschaft außerhalb der Großstädte: die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen bei der Bekämpfung des Populismus, EWSA, Brüssel 2019: https://www.eesc.europa.eu/sites/default/files/files/qe-04-19-236-en-n.pdf.

(11)  Andrés Rodriguez-Pose, The revenge of places that don't matter (and what to do about it), S. 32 (LSE Online-Forschung): http://eprints.lse.ac.uk/85888/1/Rodriguez-Pose_Revenge%20of%20Places.pdf.

(12)  Caroline de Gruyter, Commentary: The revenge of the countryside, 21. Oktober 2016.

(13)  OHCHR, Principles and Guidelines for a Human Rights Approach to Poverty Reduction Strategies (Grundsätze und Leitlinien für einen menschenrechtsbasierten Ansatz bei Strategien zur Armutsreduzierung), https://www.ohchr.org/Documents/Publications/PovertyStrategiesen.pdf.

(14)  OHCHR, Guiding principles on human rights impact assessments of economic reforms (Leitprinzipien für Folgenabschätzungen in Bezug auf die Menschenrechte bei wirtschaftspolitischen Reformmaßnahmen), 19. Dezember 2018, https://ap.ohchr.org/documents/dpage_e.aspx?si=A/HRC/40/57.

(15)  Stellungnahme des EWSA „Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union. Aktuelle Lage und mögliche nächste Schritte“ (ABl. C 282 vom 20.8.2019, S. 39).

(16)  „Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die EU wiedergewinnen: 7 Prioritäten der Gruppe Vielfalt Europa“; Gruppe Vielfalt Europa.

(17)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine widerstandsfähige Demokratie durch eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft“ (ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 24).

(18)  Stellungnahme des EWSA „Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union. Aktuelle Lage und mögliche nächste Schritte“ (ABl. C 282 vom 20.8.2019, S. 39).

(19)  Andrés Rodriguez-Pose, The revenge of places that don't matter (and what to do about it), S. 32 (LSE Online-Forschung): http://eprints.lse.ac.uk/85888/1/Rodriguez-Pose_Revenge%20of%20Places.pdf.


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

548. Plenartagung des EWSA, 11.12.2019-12.12.2019

24.3.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 97/62


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bericht über die Wettbewerbspolitik 2018

(COM(2019) 339 final)

(2020/C 97/08)

Berichterstatter:

Gerardo LARGHI

Befassung

Europäische Kommission, 15.10.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

19.11.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

11.12.2019

Plenartagung Nr.

548

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

197/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Bericht der Europäischen Kommission über die Wettbewerbspolitik 2018, in dem ein Konzept entwickelt wird, das auf die Stärkung des Binnenmarkts, die wirtschaftliche Entwicklung sowie sozialpolitische Ziele ausgerichtet ist.

1.2.

Der EWSA betrachtet, wie bereits mehrfach hervorgehoben wurde, eine wirksame und prinzipientreue Wettbewerbspolitik als eine der Säulen der Europäischen Union und als unverzichtbares Instrument für die Schaffung eines Binnenmarktes im Sinne des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der Ziele der nachhaltigen Entwicklung, des Aufbaus einer sozialen Marktwirtschaft und der Ziele der Säule sozialer Rechte. (1)

1.3.

Der EWSA und die Europäische Union müssen zu diesem Thema in einem ständigen Dialog mit den anderen Institutionen, der Zivilgesellschaft und insbesondere den Verbraucherverbänden stehen.

1.4.

Daher fordert der EWSA bei der Gewährung von Beihilfen ein Höchstmaß an Transparenz, was die Weitergabe der Kosten an die Verbraucher angeht, und dass die Verbraucher in den Rechnungen klar über diese Kosten informiert werden. (2) Der EWSA begrüßt das Bestreben der Kommission, gegen vertikale und horizontale Wettbewerbsbeschränkungen vorzugehen, was insbesondere für den Bereich des elektronischen Handels gilt, in dem die Auswirkungen wettbewerbswidrigen Verhaltens zu spüren sind.

1.5.

Besondere Aufmerksamkeit ist der künstlichen Intelligenz (KI) in Bezug auf Diskriminierungspraktiken zu widmen. Die EU-Rechtsvorschriften müssen angepasst werden, um Diskriminierung durch die Erstellung von Verbraucherprofilen mit Hilfe der KI zu verbieten.

1.6.

Die Massendaten (Big Data) lassen sich gegen die Verbraucher und ganz klar zu ihrem Nachteil einsetzen, da durch die Profilerstellung ihre Möglichkeiten der freien Wahl eingeschränkt werden.

1.7.

Der EWSA plädiert dafür, die Wettbewerbsbehörden mit den erforderlichen Fachkenntnissen, Kompetenzen und Ressourcen auszustatten, damit sie spezifische Rechtsvorschriften anwenden und die schwerwiegenden Wettbewerbsprobleme lösen können, die den Verbrauchern schaden.

1.8.

In Bezug auf staatliche Beihilfen begrüßt der EWSA, dass die Behörden durch die Modernisierung der Kontrollen in die Lage versetzt wurden, sich auf die wichtigsten und relevantesten Dossiers zu konzentrieren, wozu auch die Beihilfentransparenzdatenbank (Transparency Award Module) beiträgt.

1.9.

Der EWSA betont das Erfordernis der Kohärenz zwischen der Umweltpolitik und den Maßnahmen gegen staatliche Beihilfen. Insbesondere nimmt er die laufende Überarbeitung der Leitlinien zum Umweltschutz und zur Energie zur Kenntnis.

1.10.

Der EWSA begrüßt, dass die Leitlinien der Kommission für staatliche Beihilfen den freien Wettbewerb auf dem europäischen Energiemarkt durch technologieneutrale Ausschreibungen gewährleisten sollen. Solche Ausschreibungen sind für das Aufkommen unterschiedlicher Technologien für erneuerbare Energien und für einen belastbaren und wettbewerbsorientierten europäischen Energiemarkt, der die Versorgungssicherheit garantiert, von grundlegender Bedeutung. Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, statt eines Ansatzes, der sich auf kurzfristige Korrekturmaßnahmen stützt, die weder Wachstum noch die konkrete und nachhaltige Schaffung von Arbeitsplätzen ermöglichen, eine umfassende und langfristige Strategie zu verfolgen. In diesem Zusammenhang wäre es hilfreich, wenn die Kommission eine vergleichende Studie zu den jüngst in den USA, in China und in Korea angenommenen Plänen zur Unterstützung des verarbeitenden Gewerbes erstellen würde (3).

1.11.

Um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten, fordert der EWSA, dass Unternehmen aus Drittstaaten im Wettbewerb die gleichen Sozial- und Umweltnormen einhalten.

1.12.

Im Hinblick auf die Schaffung eines freien sozialen Marktes unterstreicht der EWSA die Bedeutung einer Wettbewerbspolitik, die die Realisierung der sozialen und wirtschaftlichen Ziele von Arbeitnehmern und Verbrauchern mit der Aufrechterhaltung einer wettbewerbsfähigen und effektiven Produktionsstruktur in Einklang bringt.

1.13.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Binnenmarktbestimmungen in Bezug auf die Freizügigkeit (insbesondere von Personen, aber auch von Dienstleistungen, Waren und Kapital) die Grundpfeiler des EU-Rechts sind und dass die Entsendung von Arbeitnehmern und der freie Dienstleistungsverkehr garantiert werden müssen, um jede Form von Sozialdumping zu vermeiden.

1.14.

Der EWSA zeigt sich überrascht, dass in diesem Bericht nicht mehr auf den offensichtlichen Stillstand bei den Verhandlungen zwischen Rat und EP über Sammelklagen im Zusammenhang mit dem Vorschlag zur Neugestaltung der Rahmenbedingungen für die Verbraucher eingegangen wird, obgleich Sammelklagen doch eine zentrale Ergänzung des Systems wären, mit dem durch Kartellverstöße geschädigte Verbraucher wirksam Schadenersatz erlangen können.

2.   Wesentlicher Inhalt des Berichts über die Wettbewerbspolitik 2018

2.1.

Der Bericht von 2018 behandelt Themen wie die digitale Wirtschaft, Finanzdienstleistungen, Energie und Umwelt, Landwirtschaft und Lebensmittel, Verkehr und verarbeitendes Gewerbe sowie Fragen wie die dezentrale Anwendung der kartellrechtlichen Befugnisse in den Mitgliedstaaten und umfassende internationale Zusammenarbeit.

2.2.

Die tägliche Durchsetzungspraxis der Kommission basiert auf den Grundsätzen der Nichtdiskriminierung, der Verfahrensgerechtigkeit, der Transparenz, der Vorhersehbarkeit, des kontradiktorischen Verfahrens und des Schutzes der Vertraulichkeit. Der „Schutz des Wohls der Verbraucher“ ist ein ausdrückliches Ziel der wettbewerbsrechtlichen Maßnahmen der Europäischen Kommission.

2.3.

Das digitale Zeitalter stellt das Wettbewerbsrecht vor neue Herausforderungen wie etwa die Nutzung von Massendaten, die Algorithmen und die KI.

2.4.

Die Europäische Kommission hat mit dem Ziel, „die Verfahren in Wettbewerbsfällen zu straffen“, aktualisierte Erläuterungen für Unternehmen zum Thema Betriebsgeheimnisse und andere vertrauliche Informationen während eines Kartellverfahrens veröffentlicht. Darin wurde auch die Nutzung von Vertraulichkeitskreisen behandelt.

2.5.

Die Belohnung von Unternehmen, die in Kartellverfahren kooperieren, hat sich für die Kommission als wirksames Instrument erwiesen, um die Untersuchungen zu beschleunigen und damit die Relevanz und Wirkung ihrer Entscheidungen zu verbessern.

2.6.

Die Richtlinie (EU) 2019/1 des Europäischen Parlaments und des Rates (4) („ECN+-Richtlinie“) versetzt die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten in die Lage, die Wettbewerbsregeln der EU wirksamer anzuwenden.

2.7.

Die Modernisierung der Beihilfevorschriften hat die Durchführung von Maßnahmen zur Förderung von Investitionen, Wirtschaftswachstum und Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Mitgliedstaaten erleichtert. Die rasche Umsetzung der Beihilfemaßnahmen in den Mitgliedstaaten hat sich spürbar in Form einer Verringerung des Verwaltungsaufwands für weniger wettbewerbsschädliche Beihilfen ausgewirkt.

2.8.

Das Vergleichsverfahren der Kommission ermöglichte die raschere Aufdeckung von Kartellen und damit die Freisetzung von Ressourcen für andere Untersuchungen und die Senkung der Kosten der Untersuchungen selbst. Außerdem profitieren auch die Unternehmen von schnelleren Entscheidungen.

2.9.

Im Bericht für 2018 werden die im Berichtsjahr (und in den Jahren davor) in Bezug auf Kartelle im Automobilsektor erlassenen Beschlüsse und die Einleitung einer eingehenden Prüfung möglicher Absprachen zwischen Automobilherstellern über die technische Entwicklung von Emissionsminderungssystemen für Pkw hervorgehoben.

2.10.   Digitale Wirtschaft

2.10.1.

Die Wettbewerbspolitik ist eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung eines funktionierenden digitalen Binnenmarkts. In diesem Sinne muss verhindert werden, dass die Internetriesen ihre Marktmacht dazu zu nutzen, die Konkurrenz und folglich die Innovation in den digitalen Märkten zu schwächen.

2.10.2.

Die vertikale Preisbindung auf e-Commerce-Plattformen ist eine der am weitesten verbreiteten Beschränkungen der digitalen Wirtschaft. Es ist ein vermehrter Rückgriff auf Preisbildungsalgorithmen zu diesem Zweck zu verzeichnen.

2.11.

Die staatlichen Beihilfen im Bereich der grünen Wirtschaft unterstützen die Investitionen, die zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit erforderlich sind, und tragen zugleich zur Dekarbonisierung des Energiesystems Europas bei.

2.12.   Energiesektor

2.12.1.

Die 2018 erteilten Genehmigungen von staatlichen Beihilfen im Bereich erneuerbarer Energien haben die Mitgliedstaaten dazu veranlasst, nachhaltige Energieträger zu fördern und die Kosten für die Verbraucher im gesamten Stromnetz zu senken.

2.12.2.

Die Kommission hat die Auffassung vertreten, dass die staatlichen Beihilfemaßnahmen dazu beitragen werden, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, ohne zu höheren Strompreisen für die Verbraucher zu führen oder grenzüberschreitende Stromflüsse in der EU zu behindern.

2.12.3.

Die EU muss im Hinblick auf die Diversifizierung der Gasversorgung den Anteil der erneuerbaren Energien an ihrem Energiemix erhöhen und dafür sorgen, dass auf EU- und nationaler Ebene zielgerichtete Energiegesetze erlassen werden.

2.13.   Wettbewerb im Binnenmarkt

2.13.1.

Die Europäische Kommission hat die Übernahme von Alstom durch Siemens untersagt. Sie hat den Zusammenschluss von Bayer und Monsanto im Agrar- und Lebensmittelsektor unter der Bedingung genehmigt, dass einige Geschäftsbereiche veräußert werden. Im Hinblick auf den Stahlmarkt wurde die Übernahme von ILVA durch ArcelorMittal unter der Bedingung genehmigt, dass einige Veräußerungen vorgenommen werden. Die vorgesehene Übernahme von Alstom durch Siemens wurde untersagt, weil sie dem Wettbewerb geschadet hätte.

2.14.   Finanzsektor

2.14.1.

Die allgemeine Stabilisierung des Finanzsektors hat zu weniger Interventionen aus dem öffentlichen Haushalt in Beihilfefällen in diesem Sektor geführt. Allerdings wurden die notleidenden Kredite in einigen Mitgliedstaaten noch nicht völlig abgebaut.

2.15.   Gleiche Bedingungen im Steuerbereich

2.15.1.

Für einen leistungsbasierten Wettbewerb müssen gleiche Bedingungen für die Unternehmen geschaffen werden. Die Mitgliedstaaten dürfen multinationalen Unternehmen keine Steuervorteile anbieten, die KMU benachteiligen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Im Bericht von 2018 wird ein Konzept entwickelt, das auf die Stärkung des Binnenmarkts, der wirtschaftlichen Entwicklung und der sozialpolitischen Ziele ausgerichtet ist.

3.2.

Um die Konnektivitätsziele zu erreichen, werden für die digitale Wirtschaft in den nächsten zehn Jahren umfangreiche Investitionen in Höhe von rund 500 Mrd. EUR erforderlich sein. Eine solide Wettbewerbspolitik ist vor allem in ländlichen und weniger besiedelten Gebieten von entscheidender Bedeutung.

3.3.

Das digitale Zeitalter stellt das Wettbewerbsrecht vor neue Herausforderungen wie etwa die Nutzung von Massendaten, Algorithmen und KI. Daher muss Sorge dafür getragen werden, dass die Technologieriesen nicht ihre Marktmacht nutzen, um ihre Wettbewerber zu schwächen. Die Wettbewerbsbehörden sollten über die erforderlichen Fachkenntnisse, Kompetenzen und Ressourcen verfügen, damit sie spezifische Rechtsvorschriften anwenden und rechtzeitig die schwerwiegenden Wettbewerbsprobleme lösen können, die den Verbrauchern schaden.

3.4.

Bei der Anwendung sollten auch proaktiv Instrumente für die Erhebung von Informationen und branchenspezifische Untersuchungen eingesetzt werden.

3.5.

In Fällen, in denen der Wettbewerb und die Verbraucher eindeutig geschädigt werden, gilt es, Verzögerungen bei der Anwendung der Vorschriften durch eine proaktive Nutzung des Wettbewerbsinstrumentariums (z. B. einstweiliger Maßnahmen) zu vermeiden.

3.6.

Bei Fusionen in der digitalen Wirtschaft muss die Beweislast unbedingt auf die Unternehmen übertragen werden, sodass sie nachweisen können, dass ihre Vereinbarungen nicht wettbewerbswidrig sind.

3.7.

Es sollte gründlicher geprüft werden, ob die Anbieter den Marktzugang blockieren können und dadurch in der Lage sind, die Wahlmöglichkeiten der Verbraucher und den Informationsfluss einzuschränken und so das Nutzerverhalten zu manipulieren.

3.8.

Im Interesse einer Sensibilisierung für die durch bestimmte Praktiken entstehenden Wettbewerbsprobleme wäre es wichtig, den Unternehmen Leitlinien an die Hand zu geben und sie so bei der Einhaltung der Rechtsvorschriften zu unterstützen.

3.9.

Die KI hat inzwischen Auswirkungen auf die Preispolitik und die Preisüberwachung mit nicht ungefährlichen Konsequenzen. Die Algorithmen ermöglichen es den Onlinehandel-Plattformen, die freie Bepreisung durch die Einzelhändler und den Wettbewerb im Handel (mit unlauteren Praktiken, die kaum Fortbestand haben dürften) zu kontrollieren und einzuschränken.

3.10.

Das gleiche gilt für den Tourismussektor, in dem die Vertriebsplattformen für Tourismusprodukte ihre marktbeherrschende Stellung missbrauchen. Es gibt vier große Vertriebsnetze, die enormen Druck auf Hotels, kleine Anbieter und KMU ausüben.

3.11.

Besondere Aufmerksamkeit ist der KI in Bezug auf Diskriminierungspraktiken zu widmen. Die EU-Rechtsvorschriften müssen angepasst werden, um Diskriminierung durch die Erstellung von Profilen mit Hilfe der KI zu verbieten.

3.12.

Der EWSA begrüßt die Entscheidung der Kommission, Unternehmen, die Algorithmen nutzen, als allein für die davon abhängenden Aktionen verantwortlich zu betrachten. Die Massendaten (Big Data) lassen sich gegen die Verbraucher und ganz klar zu ihrem Nachteil einsetzen, da das extreme Profiling ihre Wahlmöglichkeiten einschränkt.

3.13.

Aus der Sicht des EWSA ist das Thema der Auswirkungen der Massendaten auf den Wettbewerb von großer Bedeutung und wird stetig an Bedeutung zunehmen. Ein übermäßiger Interventionismus könnte allerdings die Innovationsanreize reduzieren (d. h. bessere Dienstleistungen und niedrigere Preise, die von Innovationen im Bereich des Produktvertriebs und der Einkaufsplattformen abhängen könnten).

3.14.

Über mehr Megadaten (Big Data) als die Konkurrenz zu verfügen, kann es den großen Unternehmen ermöglichen, den Markt zu beherrschen. Massenanalysetechniken (Datenhandel, Online-Marketing, Mustererkennung, Nachfrageschätzung, Preisoptimierung) lassen sich missbräuchlich einsetzen.

3.15.

Die Untersuchungen der Europäischen Kommission im Rahmen der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt haben gezeigt, dass Beschränkungen im Bereich der Wiederverkaufspreise im elektronischen Handel bei Weitem die häufigste Wettbewerbsbeschränkung darstellen. Im Jahr 2018 hat die Europäische Kommission eine Reihe von Beschlüssen erlassen, in denen Geldbußen gegen Unternehmen verhängt wurden, weil sie entgegen den Wettbewerbsvorschriften der EU Beschränkungen für die Online-Wiederverkaufspreise auferlegt hatten.

3.16.

Was das Thema Steuern angeht, begrüßt der EWSA die von der Kommission 2018 ergriffenen Maßnahmen. Zugleich ist es wichtig, dass auch in diesem Bereich ein fairer Wettbewerb zwischen den verschiedenen Ländern sichergestellt wird. Eine verstärkte Überwachung ist insbesondere im Hinblick auf die Frage der Steuervorbescheide sowie hinsichtlich der unlauteren Wettbewerbsvorteile erforderlich, die durch Vereinbarungen einiger Länder mit großen Marktteilnehmern erzielt werden. Diese Praktiken verzerren den freien Markt, schaden den KMU und führen überdies zu einem unlauteren Wettbewerb zwischen den Ländern.

3.17.

Was den Bereich der Energie angeht, stellt der EWSA fest, dass in einigen Ländern nach wie vor keine vollständige und allgemeine Transparenz der Stromrechnungen garantiert ist. Das Fehlen dieser Transparenz schränkt den Verbraucher in seiner Möglichkeit ein, eine bewusste Wahl zu treffen, und begünstigt den Status quo, der den großen Marktteilnehmern zum Vorteil gereicht.

3.18.

Landwirtschaft und Lebensmittel. In diesem Sektor scheint es wichtig, die Erzeugnisse mit einer europäischen Ursprungsbezeichnung im Agrar- und Lebensmittelbereich zu schützen. Die Bereiche Saatgut und Pflanzenschutzmittel sind von grundlegender Bedeutung für Landwirte und Verbraucher, doch bereiten auch sie Probleme, die über den Schutz der Verbraucher, die Lebensmittelsicherheit und die Gewährleistung der Einhaltung der Umwelt- und Klimaschutzvorschriften hinausgehen.

3.19.

Im Hinblick auf das Thema Verkehr wird der Kommission nahegelegt zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Kerosinsteuerbefreiung eine unrechtmäßige Beihilfe für die Fluggesellschaften gegenüber dem Eisenbahnverkehr darstellt.

3.20.

Um das Gleichgewicht zwischen Marktfreiheit und Unternehmenszusammenschlüssen zu gewährleisten, scheint es nicht auszureichen, sich auf den Wettbewerbsdruck durch andere große globale Akteure zu berufen, insbesondere dann nicht, wenn diese aus Ländern kommen, die dem Wettbewerb durch ausländische Unternehmen verschlossen sind. Diesbezüglich wird empfohlen, dass anstelle von Unternehmenszusammenschlüssen, die den Wettbewerb schwächen, zielgerichtete Maßnahmen ergriffen werden, um die Barrieren für den Zugang zu Drittmärken zu überwinden, umfassendere steuerliche Anreize für Forschung und Entwicklung geschaffen werden und Vereinbarungen zwischen europäischen Herstellern getroffen werden, um die Strategien für Ausfuhren und Auslandsinvestitionen zu koordinieren.

3.21.

In jedem Fall muss der Verbraucherschutz in einem ausgewogenen Verhältnis zur Unterstützung und Förderung innovativer Unternehmen und KMU stehen (mit Instrumenten, die den dynamischen Wettbewerb auf dem Markt nicht beeinträchtigen). Dadurch können am besten hochwertige Beschäftigung geschaffen und die dynamische Nachhaltigkeit des Produktionssystems erreicht werden.

3.22.

Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt und den Schutz des Wettbewerbs vertritt der EWSA die Auffassung, dass zu den Bereichen, in denen der freie Wettbewerb zwischen den Unternehmen im aktuellen Markt durch Eingriffe gewährleistet werden muss, auch der Rechtsrahmen zählt, darunter die Wahrung der sozialen Grundrechte und die Achtung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und des freien Dienstleistungsverkehrs.

3.23.

Es geht darum, jeder Form von Sozialdumping (unfairer Wettbewerb in Bezug auf Löhne und Arbeitsbedingungen, der eine Abwärtsspirale bedingt) vorzubeugen, um die Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer, ganz gleich, wo sie arbeiten oder woher sie kommen, und die Nichtdiskriminierung der Arbeitnehmer und Unternehmen an dem Ort der Betriebsstätte zu garantieren.

3.24.

Der EWSA zeigt sich überrascht, dass die Kommission in diesem Bericht und in der dazugehörigen Arbeitsunterlage (SWD(2019) 297 final) im Gegensatz zu allen Wettbewerbsberichten der letzten Jahre erstmals in keiner Weise auf die fehlenden Fortschritte bei der Thematik Sammelklagen eingeht. Sammelklagen als Mittel, mit dem durch Kartellverstöße geschädigte Verbraucher wirksam Schadenersatz erlangen können, sind nicht in der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (5) über Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen vorgesehen. Dies ist besonders verwunderlich angesichts der Stellungnahme des EWSA (6) zum Vorschlag der Kommission zur Neugestaltung der Rahmenbedingungen für die Verbraucher (7) und des Beschlusses des Rates, den Bereich Sammelklagen ganz aus der jüngst angenommenen Richtlinie auszuklammern (8), die der EWSA im Übrigen als eindeutig unzureichend einschätzt.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Im Hinblick auf die Digitalisierung stimmt der EWSA der Entscheidung der Europäischen Kommission zu, ihr Vorrang einzuräumen und den Schwerpunkt des den Wettbewerb betreffenden Programms für den Zeitraum 2021–2027 auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit Massendaten, Algorithmen und KI zu legen. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, Folgemaßnahmen zu dem Bericht „Wettbewerbspolitik für das digitale Zeitalter“ vom April 2019 insbesondere in Bezug auf Folgendes zu ergreifen:

4.1.1.

Umsetzung von Strategien, um jeder Beschränkung des Wettbewerbs und des freien Marktes durch digitale Plattformen auch im Handel und Tourismus zu begegnen;

4.1.2.

tatsächliche und vollständige Kenntnis und Übertragbarkeit der personenbezogenen Daten von jeder Plattform seitens des Nutzers/Verbrauchers;

4.1.3.

Maßnahmen gegen jede Form des Ausschlusses von Unternehmen durch bestimmte digitale Plattformen, die um ihre marktbeherrschende Stellung fürchten;

4.1.4.

Schutz des freien Marktes durch den Schutz kleiner Start-ups mit Marktpotenzial, die häufig von den großen Akteuren des digitalen Sektors, die in ihnen künftige gefährliche Konkurrenten sehen, geschluckt werden.

4.2.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass diejenigen, die digitalen Plattformen Aufgaben von allgemeinem Interesse übertragen haben, auch über die Rechtsinstrumente verfügen müssen, um Zugang zu den von diesen Plattformen verwendeten Algorithmen zu erhalten und sie zu kontrollieren.

4.3.

Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission, die Maßnahmen zur Kontrolle der Anwendung der Freihandelsabkommen zu stärken und die Freiheit des Zugangs der europäischen Unternehmen zu den weltweiten Märkten zu schützen.

4.4.

In diesem Sinn muss auf den weltweiten öffentlichen Beschaffungsmärkten eine echte Gegenseitigkeit garantiert werden.

Brüssel, den 11. Dezember 2019

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Artikel 7, 9, 11 und 12 AEUV.

(2)  Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 2012/27/EU (ABl. L 158 vom 14.6.2019, S. 125).

(3)  ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 10.

(4)  Richtlinie (EU) 2019/1 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts (ABl. L 11 vom 14.1.2019, S. 3).

(5)  Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl. L 349 vom 5.12.2014, S. 1).

(6)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 66.

(7)  Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG, COM(2018) 184 final — 2018/0089 (COD).

(8)  Siehe Dokument PE-CONS 83/19 vom 18. Oktober 2019.


24.3.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 97/69


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 in Bezug auf die Haushaltsdisziplin ab dem Haushaltsjahr 2021 sowie der Verordnung (EU) Nr. 1307/2013 in Bezug auf die Flexibilität zwischen den Säulen für das Kalenderjahr 2020

(COM(2019) 580 — 2019/0253(COD))

(2020/C 97/09)

Befassung

Europäisches Parlament, 13.11.2019

Rat der Europäischen Union, 15.11.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Verabschiedung auf der Plenartagung

11.12.2019

Plenartagung Nr.

548

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

191/1/1

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 548. Plenartagung am 11./12. Dezember 2019 (Sitzung vom 11. Dezember) mit 191 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 1 Enthaltung, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 11. Dezember 2019

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER