ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 353

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

62. Jahrgang
18. Oktober 2019


Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

2019/C 353/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Blockchain- und Distributed-Ledger-Technologie als ideale Infrastruktur für die Sozialwirtschaft  (Initiativstellungnahme)

1

 

STELLUNGNAHMEN

2019/C 353/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Förderung eines Binnenmarkts für Unternehmertum und Innovationen — Unterstützung neuer Geschäftsmodelle zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen und Übergänge  (Initiativstellungnahme)

6

2019/C 353/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Verbraucher in der Kreislaufwirtschaft  (Initiativstellungnahme)

11

2019/C 353/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Besteuerung der digitalisierten Wirtschaft  (Initiativstellungnahme)

17

2019/C 353/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu Eine krisenfestere und nachhaltige europäische Wirtschaft  (Initiativstellungnahme)

23

2019/C 353/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Eine neue Vision für die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion  (Initiativstellungnahme)

32

2019/C 353/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Das Europäische Semester und die Kohäsionspolitik — Plädoyer für eine neue europäische Strategie nach 2020  (Initiativstellungnahme)

39

2019/C 353/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die neue Rolle der öffentlichen Arbeitsverwaltungen (ÖAV) in Zusammenhang mit der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte  (Initiativstellungnahme)

46

2019/C 353/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Europa vermitteln — Entwicklung eines Instrumentariums für Schulen  (Initiativstellungnahme)

52

2019/C 353/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Eine konsistente Klima- und Energiepolitik aus Sicht der Industrie  (Initiativstellungnahme)

59

2019/C 353/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Förderung kurzer und alternativer Lebensmittelversorgungsketten in der EU: Die Rolle der Agrarökologie  (Initiativstellungnahme)

65

2019/C 353/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Der Beruf des Landwirts angesichts des Rentabilitätsdrucks  (Initiativstellungnahme)

72

2019/C 353/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Verkehr, Energie und Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und ihr durch die Digitalisierung ermöglichter Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung in Europa  (Initiativstellungnahme)

79


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

2019/C 353/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat: Auf dem Weg zu einer effizienteren und demokratischeren Beschlussfassung in der EU-Steuerpolitik  (COM(2019) 8 final)

90

2019/C 353/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Vierter Bericht zur Lage der Energieunion  (COM(2019) 175 final)

96

2019/C 353/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank zur Umsetzung des strategischen Aktionsplans für Batterien: Aufbau einer strategischen Wertschöpfungskette für Batterien  (COM(2019) 176 final)

102


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Blockchain- und Distributed-Ledger-Technologie als ideale Infrastruktur für die Sozialwirtschaft“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 353/01)

Berichterstatter: Giuseppe GUERINI

Beschluss des Plenums

13.12.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.7.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

179/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen zur Entwicklung einer europäischen Blockchain-Partnerschaft auf der Grundlage der Beobachtungsstelle und des Forums der EU für die Blockchain-Technologie.

1.2.

Der EWSA fordert die Institutionen auf, die Beteiligung von Organisationen der Zivilgesellschaft an der EU-Beobachtungsstelle und der europäischen Blockchain-Partnerschaft zu fördern. Denn eine erfolgreiche Entwicklung der Blockchain und der neuen digitalen Infrastruktur ist nicht nur eine Frage der Informationstechnologien, sondern auch eine echte bahnbrechende soziale Innovation.

1.3.

Der EWSA ist der Ansicht, dass sozialwirtschaftliche Organisationen zu einem größeren und fundierten Wissen über das Potenzial der Blockchain beitragen können, insbesondere im Hinblick auf die Schaffung einer kulturellen und methodischen Grundlage mit offener und partizipativer Governance. Es gilt, ein hohes Maß an Transparenz und Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger an der Entwicklung sicherzustellen, die durch diese neuen Technologien herbeigeführt werden kann.

1.4.

Die praktischen Anwendungen der Blockchain-Technologie können die Leistung sozialwirtschaftlicher Organisationen erheblich verbessern, was diesen Organisationen, ihren Mitgliedern und vor allem den Endnutzern zugute kommt.

1.5.

Unternehmerische Projekte auf der Grundlage von Distributed-Ledger-Technologien (DLT) bedürfen solider ordnungspolitischer Strukturen, die Aufgaben und Zuständigkeiten klarstellen und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Interessenträgern fördern.

1.6.

Der EWSA fordert die Behörden auf sicherzustellen, dass die Entwicklung der Blockchain-Technologie im Einklang mit den Vorschriften über die Verarbeitung personenbezogener Daten und die Cybersicherheit erfolgt. Dabei gilt es zu überwachen, dass Daten von Bürgern und Unternehmen nicht unrechtmäßig gehortet oder genutzt werden.

1.7.

Im Hinblick auf die tiefgreifenden Veränderungen, die durch die neuen Technologien bewirkt werden, empfiehlt der EWSA, Bürger und Arbeitnehmer — auch mittels ordnungsgemäßer Beteiligung der Sozialpartner — insbesondere bezüglich der Bedingungen für die Ausübung ihrer Aufgaben und der Bereitstellung angemessener Schulungs- und Fortbildungspläne angemessen zu schützen.

1.8.

Der EWSA hält eine echte Einbindung sozialwirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Organisationen für unerlässlich, um sicherzustellen, dass die großen Möglichkeiten, die die neuen Technologien bieten, tatsächlich zu Vorteilen, Zugänglichkeit, Transparenz und Teilhabe für alle führen — und nicht nur für eine „Elite der digitalen Wirtschaft“.

2.   Hintergrund und Gegenstand der Initiative

2.1.

Diese Initiativstellungnahme geht auf die Schlussfolgerungen des luxemburgischen Ratsvorsitzes zurück, die die Aufforderung enthalten, das Innovationspotenzial der neuen Digitaltechnologien im Bereich der Sozialwirtschaft zu untersuchen.

2.2.

Unter diesen neuen Technologien stechen die verschiedenen Formen der „Distributed-Ledger-Technologie“ (DLT), auch als „Blockchain“ bekannt, aufgrund ihres enormen Innovationspotenzials hervor. Sie ermöglichen die Entwicklung sehr interessanter Anwendungen in verschiedenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen.

2.3.

Einige Merkmale dieser Technologien machen die Blockchain zu einer digitalen Infrastruktur, die von Organisationen der Sozialwirtschaft zum besseren Erreichen ihrer Ziele erfolgreich genutzt werden könnte, indem ihre Fähigkeit zur Entfaltung einer positiven sozialen Wirkung und zur Förderung der sozialen Innovation gestärkt wird.

2.4.

Der EWSA fordert die Institutionen auf, die Beteiligung von Organisationen der Zivilgesellschaft an der EU-Beobachtungsstelle für die Blockchain-Technologie zu fördern, da die erfolgreiche Entwicklung der Blockchain und der neuen digitalen Infrastruktur weder von IT-Lösungen noch von Technik allein abhängen kann. Vielmehr ist eine Umsetzung nur möglich, wenn es gelingt, mit diesen Mitteln eine bahnbrechende soziale Innovation voranzutreiben.

2.5.

Es sei darauf hingewiesen, dass DLT das Vertrauen zwischen Partnern, die zusammenarbeiten möchten, gewährleisten. Sie zertifizieren vorwiegend die Transaktionen, nicht den Inhalt oder die Qualität der einzelnen in die Blockchain eingefügten Elemente. Wenngleich diese neue Technologie optimistischen Bewertungen zufolge als neuer vertrauensbildender Faktor bezeichnet wird, muss folglich klar festgestellt werden, dass die Technologie kein Ersatz für die Loyalität und das gegenseitige Vertrauen der Parteien sein kann.

3.   Kurzbeschreibung der Blockchain- und Distributed-Ledger-Technologie

3.1.

Die Blockchain-Technologie ist ein IT-Protokoll, das in den 90er Jahren entwickelt wurde. Ihre Nutzung in großem Maßstab und ihr Erfolg gingen jedoch erst mit der Verbreitung von Kryptowährungen einher, von denen Bitcoin am bekanntesten ist. Es wäre jedoch ein Fehler, Blockchains gänzlich mit Kryptowährungen gleichzusetzen. Denn dank der Kombination wachsender Rechner- und Datenanalyseleistung der Informationssysteme, der zunehmenden Vernetzung in Europa und der ständigen Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) wachsen die Verwendungsmöglichkeiten der DLT für vielfältige Zwecke exponentiell an.

3.2.

Die Blockchain ist gleichzeitig ein Code, d. h. ein Kommunikationsprotokoll und ein öffentliches Verzeichnis, in dem alle durchgeführten Transaktionen zwischen den Netzteilnehmern in fortlaufender Reihenfolge, mit einem hohen Maß an Transparenz und unveränderbar „registriert“ werden.

3.3.

Diese Reihenfolge der Registrierung bildet eine Gesamtheit von Datenblöcken (Teile des Codes), die kryptografisch miteinander verkettet sind. Dadurch wird jeder verkettete Block rückverfolgbar und unveränderlich. Diese „Blockketten“ werden gleichzeitig auf jedem Gerät registriert, mit dem sich die Teilnehmer mit der Blockchain verbinden. Jeder Teilnehmer ist ein Glied der Kette, das hilft, die ausgetauschten Daten zu validieren und zu speichern.

3.4.

Auf diese Weise finden Transaktionen horizontal statt und werden von einer Vielzahl von Teilnehmern validiert. Dadurch kann ein einziger Betreiber keinesfalls Registrierungen ändern oder löschen. Somit sollte die Datenverarbeitung sicher sein und das gegenseitige Vertrauen der an der Blockchain Beteiligten, die am Prozess der verteilten und dezentralen Validierung teilnehmen, gestärkt werden. Die Blockchain ist daher interessant für die Neudefinition des Konzepts der Sicherheit digitaler Transaktionen.

3.5.

Deshalb hat die Blockchain-Technologie vor allem als Infrastruktur für virtuelle Währungen fungiert. Aus den gleichen Gründen kann sie jedoch auch von gesellschaftlichem, kulturellem, politischem und wirtschaftlichem Wert sein. Gleichwohl ist zu bedenken, dass DLT bei jeder anderen Verwendung in physischen und nicht virtuellen wirtschaftlichen Bereichen die Qualität des jeweiligen Inhalts nicht gewährleistet. Anders ausgedrückt: es kann zwar verifiziert werden, dass ein bestimmtes Produkt Teil einer bestimmten und mittels DLT sicher rückverfolgbaren Lieferkette ist. Aber es ist keine Aussage darüber möglich, dass dieses Produkt auch hochwertig ist.

3.6.

Die verschiedenen Teilnehmer an einer Blockchain üben direkte Kontrolle über jeden Teil der gesamten Kette aus. Somit wird die Blockchain zu einem dezentralen System, das schwerlich von einem einzigen Akteur beherrscht werden kann. Dadurch wird die Sicherheit mit Blick auf Angriffe oder Sabotage erhöht. Denn selbst wenn ein Glied der Kette angegriffen oder beschädigt wird, sind die anderen Knoten des verteilten Registers immer noch funktionsfähig.

3.7.

Die im verteilten Register durchgeführten Transaktionen werden dank der Blockchain für alle Teilnehmer rückverfolgbar und sichtbar. Daher sind die Vorgänge transparent, ohne dass eine „zentrale Stelle“ oder eine dritte Partei als obligatorisches Zwischenglied oder Mittler eingreifen würde. Gleichwohl ist die Gefahr einer Konzentration oder Kontrolle der DLT sowie der Datenhortung bzw. -konzentration aufgrund der Entwicklung von Quantencomputern sowie der theoretischen Möglichkeit, eine beträchtliche Anzahl von Knotenpunkten im Netz zu „kontrollieren“, nicht gänzlich gebannt.

3.8.

Dank dieser Eigenschaften können mit der Blockchain-Technologie auch echte sog. „smart contracts“ (automatisch ausführbare Verträge) entwickelt werden, die eine personalisierte, rasche und horizontale Ausführung der Verträge ermöglichen. Auf diese Weise werden zertifizierte Basisinformationen zu durchsetzbaren Rechtsansprüchen, was Auswirkungen auf zahlreiche soziale, wirtschaftliche und politische Praktiken haben könnte.

3.9.

Genannt seien z. B. die mögliche Weiterentwicklung der elektronischen Behördendienste in Bezug auf Wahlen und Abstimmungssysteme, Leistungen der Sozialschutz- und Gesundheitssysteme sowie die Verwaltung öffentlicher Ausschreibungen.

3.10.

Die Schlüsselwörter der Blockchain-Technologie wie Dezentralisierung, Transparenz, Sicherheit, Konsens, Peer-to-Peer-Beteiligung, Verlässlichkeit und gegenseitiges Vertrauen finden zahlreiche Übereinstimmungen in den wichtigsten Organisationsformen der Unternehmen und Einrichtungen der Sozialwirtschaft. Dies gilt umso mehr, wenn DLT-Netze mit hoher Interoperabilitätsfähigkeit konzipiert werden, was es den Nutzern gestattet, diese Technologien über verschiedene Geräte und Instrumente gemeinschaftlich zu nutzen.

4.   Europäische Union und Blockchains

4.1.

Der EWSA befürwortet und unterstützt den Einsatz der Europäischen Kommission und vieler Mitgliedstaaten für die Entwicklung einer europäischen Blockchain-Partnerschaft. Es ist von strategischer Bedeutung, dass Europa im laufenden internationalen Wettbewerb um die Entwicklung sämtlicher digitaler Technologien nicht zurückfällt und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen öffentlichen und privaten Akteuren für die Schaffung einer europäischen Blockchain-Infrastruktur anregt und fördert.

4.2.

Das Europäische Parlament hat sich mit den Entschließungen 2017/2772 (RSP) und 2018/2085 (INI) ebenfalls zu diesen Themen geäußert und ferner die Kommission aufgefordert, sich für eine Bewertung der sozialen Auswirkungen der DTL einzusetzen.

4.3.

Ebenso wichtig war die Einrichtung der Beobachtungsstelle und des Forums der EU für die Blockchain-Technologie am 1. Februar 2018 durch die Europäische Kommission‚ das bereits verschiedene thematische Berichte veröffentlicht hat. (1)

4.4.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass für eine angemessene Entwicklung der Vorteile der Blockchain-Technologie ein geeigneter Rechtsrahmen erforderlich ist, um die Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor und der organisierten Zivilgesellschaft anzuregen und zu fördern und eine positive soziale, kulturelle und regulatorische Konvergenz zu erzielen. Dies ist notwendig, um umfassende Möglichkeiten zur Verbesserung der Dienstleistungen und Prozesse sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor zu schaffen.

5.   Können Blockchain und DLT geeignete Infrastrukturen für die Sozialwirtschaft sein?

5.1.

Wenn die Blockchain-Technologie ein nützliches Instrument ist, um Vertrauen im Rahmen einer globalen digitalen Wirtschaft neu zu definieren, dann können die Organisationen der Sozialwirtschaft mithilfe dieser Technologien zur weiteren Demokratisierung der Wirtschaft und zur Verbreitung einer digitalen Sozialwirtschaft beitragen.

5.2.

Die Finanzkrisen haben das Vertrauen der Bürger in die Finanzinstitute geschwächt. Vertrauen ist derweil zu einer knappen sozialen Ressource geworden, und die wachsende Besorgnis bezüglich der Sicherheit von Daten, die von einigen großen Wirtschaftsteilnehmern erhoben und gespeichert werden, verschärft dieses Phänomen.

5.3.

Die Unternehmen der Sozialwirtschaft, die sehr weit verbreitet und lokal bzw. vor Ort verwurzelt sind, können eine wichtige Rolle dabei spielen, die Chancen möglichst aller Unionsbürger umfassend zu fördern. Deshalb können sie einen positiven Beitrag zur Förderung einer starken ethischen und wertebezogenen Konvergenz zwischen der Sozialwirtschaft und der technologischen Innovation leisten und auf ein Entwicklungsmodell ausgerichtet werden, das den gemeinsamen Interessen Rechnung trägt.

5.4.

Es sind zahlreiche konkrete operative Anwendungen der Blockchain-Technologie für sozialwirtschaftliche Organisationen denkbar.

5.5.

Zunächst lässt sich feststellen, dass eine Technologie, die Transparenz und Vertrauen steigert, leicht dafür eingesetzt werden kann, Spendenaktionen und die Mittelbeschaffung sicher und rückverfolgbar zu machen. Zum Beispiel kann ein Geldgeber, der eine NGO finanziell unterstützt, den Fluss und die Bestimmung der von ihm gespendeten Mittel verfolgen. Andererseits könnte sich diese NGO ein System zur genauen Verfolgung jedes einzelnen Ausgabenpostens zulegen. Dadurch wird sichergestellt, dass die Mittel auch tatsächlich für die vorgesehenen Zwecke verwendet werden.

5.6.

Durch die Einführung der Blockchain-Technologie könnten viele sozialwirtschaftliche Organisationen die Maßnahmen ihrer Mitgliederverwaltung (Konsultation der Mitglieder und Abstimmungsverfahren) erheblich verbessern und sicher und rückverfolgbar gestalten. Dadurch würden auch die Beteiligung und Teilhabe erleichtert, selbst wenn sich die Mitglieder in dezentralen Gebieten befinden oder so zahlreich sind, dass sie nur schwerlich im Rahmen einer traditionellen Versammlung zusammenkommen könnten.

5.7.

Viele Aktivitäten der Kulturproduktion — von der Ausbildung bis zur Kunst — werden von Organisationen der Sozialwirtschaft durchgeführt. Verbände und Genossenschaften, die im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung, aber auch der darstellenden Künste und des künstlerischen oder geistigen Schaffens tätig sind, werden die Blockchain-Technologie nutzen können, um dezentrale Aktivitäten zu authentifizieren oder sie entsprechend den Bedürfnissen der Nutzer zu personalisieren. Insbesondere aber geht es darum, die Rechte des geistigen Eigentums und das Urheberrecht durch die Vergabe von „smart contracts“ bei der Übertragung von Inhalten klarer und eindeutiger zu gestalten.

5.8.

Im Bereich der Bildung und Ausbildung kann die Blockchain für die Zertifizierung von Kompetenzen, die Speicherung von Studienabschlüssen in digitaler Form oder die Ausstellung digitaler Zertifikate zur automatischen Aktualisierung des Lebenslaufs von Arbeitnehmern und Studierenden genutzt werden.

5.9.

Sehr wichtig sind die vielfältigen Anwendungen in den Bereichen Gesundheit, Pflege und Sozialhilfe sowohl für die sichere Speicherung von Daten und Informationen als auch für den Zugang und die Identifizierung der Unterstützungsempfänger. In diesen Bereichen sind zahlreiche sozialwirtschaftliche Organisationen an bürgernahen Diensten für besonders bedürftige Menschen beteiligt, auch in dezentralen Gebieten. Dort kann die mögliche Einführung sicherer Systeme der Telemedizin und Fernversorgung die Lebensqualität der Menschen erheblich verbessern.

5.10.

Häufig erfordern diese Technologien Kompetenzen und Ressourcen, die nicht allen Menschen zur Verfügung stehen. Dies gilt umso mehr für die Schutzbedürftigsten, wie ältere Menschen, Arme, Menschen mit Behinderungen, Kinder und marginalisierte Familien. Die sozialwirtschaftlichen Organisationen können für diese Bevölkerungsgruppen, für die gesorgt werden muss, einen elementaren Zugangskanal einrichten.

5.11.

Viele landwirtschaftliche Genossenschaften ziehen die neuen Technologien in Betracht, um ihre Produkte rückverfolgbar und identifizierbar zu machen und so Betrug und Fälschungen zu verhindern, die den Erzeugern und Verbrauchern schaden. Auch hier könnte die Blockchain-Technologie die Beziehungen zwischen einer landwirtschaftlichen Genossenschaft und ihren produzierenden Mitgliedern sicherer und transparenter machen. Dadurch könnten auch die Kosten für Dienstleistungen wie die Versicherung gegen Risiken im Zusammenhang mit Naturkatastrophen verringert werden.

5.12.

Bekanntlich dienten die ersten Anwendungen der Blockchain für die Entwicklung von Kryptowährungen und Peer-to-Peer-Zahlungssystemen. Das könnte auch für die Sozialwirtschaft nützlich sein, um Crowdfunding zu organisieren, zusätzliche Zahlungssysteme für Mikrokredite für Personen ohne Bankzugang zu steuern oder Netze ethischer Mikroinvestitionen für gemeinschaftliche Wirtschaftskreisläufe zu betreiben.

5.13.

Umweltverbände und Sozialunternehmen sind auch wichtige Akteure bei der Verringerung von Verschwendung und der getrennten Sammlung und Behandlung von Abfällen. Auch in diesem Zusammenhang kann das Potenzial der DLT genutzt werden, um die bürgernahen Dienstleistungen zu verbessern.

5.14.

Die bereits über 1 500 Genossenschaften für die Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen in Europa, die über 1 Mio. Bürger aktiv in die Energiewende einbinden, könnten ihre Verteilernetze und ihre Umstellungsverfahren unter Nutzung der Blockchain-Technologie optimieren.

5.15.

Die Energiefrage ist für die Blockchain von großer Bedeutung, weil die gleichzeitige Registrierung der Daten und Blockketten auf einer Vielzahl dezentraler Server und Geräte einen sehr hohen Energieverbrauch verursacht. In dieser Hinsicht muss die Energienutzung noch optimiert werden, um die Blockchain-Technologie nachhaltiger nutzen zu können.

5.16.

Die Blockchain-Technologie kann wichtige positive Entwicklungen anstoßen, weshalb darauf hingewiesen werden muss, dass mittels Blockchain erfasste Daten nicht geändert werden können. Daher muss durch staatliche Regelungen gewährleistet werden können, dass die Entwicklung dieser Technologie im Einklang mit den Vorschriften über die Verarbeitung personenbezogener Daten („DSGVO“) und unter besonderer Berücksichtigung des sog. Rechts auf Vergessenwerden erfolgt.

5.17.

Es ist wichtig, dass die derzeitigen einschlägigen Vorschriften direkt oder durch Auslegung fortlaufend an den raschen technologischen Wandel angepasst werden. Nur so kann verhindert werden, dass die erwarteten positiven Entwicklungen der Blockchain-Technologie mit nachteiligen Erscheinungen und problematischen Folgen einhergehen.

5.18.

Die Blockchain-Technologie wird erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben. Einige Tätigkeiten werden verschwinden, andere dürften sich grundlegend verändern; gleichzeitig können neue Formen der Beschäftigung entstehen und sich weiterentwickeln. Der EWSA hält es für wichtig, dass die Arbeitnehmer angemessen geschützt werden, insbesondere durch die Erstellung geeigneter Schulungspläne und aktiver Arbeitsmarktmaßnahmen unter Beteiligung der Sozialpartner.

5.19.

Aufgrund der enormen Möglichkeiten der neuen digitalen Technologien und der erforderlichen hohen Investitionskosten ist auch die Blockchain-Technologie dem Risiko der Konzentration der für den Betrieb nötigen Anlagen ausgesetzt. Daher bietet die Technologie zwar Möglichkeiten zur Demokratisierung des Netzes; es besteht aber auch die Gefahr der Konzentration von Daten und Technologienetzen zu Spekulationszwecken in den Händen weniger Akteure oder Länder, die große Investitionen tätigen können. Die partizipative Entwicklung und die Zugänglichkeit dieser Technologien müssen deshalb durch die öffentliche Hand gefördert werden.

Brüssel, den 17. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  „Blockchain Innovation in Europe“; Juli 2018, „Blockchain and the GDPR (General Data Protection Regulation), Oktober 2018; „Blockchain for Government and Public Services“, Dezember 2018; „Scalability, Interoperability and Sustainability of Blockchains“, März 2019 und „Blockchain and Digital Identity“, Mai 2019.


STELLUNGNAHMEN

18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/6


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Förderung eines Binnenmarkts für Unternehmertum und Innovationen — Unterstützung neuer Geschäftsmodelle zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen und Übergänge“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 353/02)

Berichterstatter: Giuseppe GUERINI

Beschluss des Plenums

24.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.7.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

185/0/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Es steht mittlerweile außer Frage, dass eine soziale Marktwirtschaft angestrebt werden muss, in der sich unter intelligentem Einsatz der neuen Technologien die großen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit, dem Klimawandel und der Verringerung der Ungleichheiten bewältigen lassen.

1.2.

Nach Ansicht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) kann neben den öffentlichen Einrichtungen auch das Unternehmertum einen aktiven und wichtigen Beitrag dazu leisten. Vor allem all jene Unternehmen der Realwirtschaft, die Werte und Beschäftigung schaffen, ohne spekulative Hebelfinanzierungen dafür einzusetzen.

1.3.

Angesichts der großen Vielfalt an Geschäftsmodellen und Unternehmensformen in Europa ist es wichtig, dass die die Unternehmen, die Wirtschaft und den Binnenmarkt betreffenden Legislativvorschläge nicht vereinheitlicht werden. Ein Pauschalansatz ist abzulehnen; stattdessen sollte auf die „unternehmerische Artenvielfalt“ gesetzt werden.

1.4.

Die EU-Institutionen müssen die Entwicklung der künstlichen Intelligenz und die lautere Nutzung von Big Data unterstützen, und zwar einerseits durch geeignete Regeln, die die Entwicklung dieser Technologien unter Achtung der Rechte des Einzelnen gewährleisten, und andererseits durch koordinierte öffentliche Investitionen auf europäischer und staatlicher Ebene, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU in der Welt zu sichern. Insbesondere sollten auch KMU Zugang zu Big Data und ihrem Potenzial haben.

1.5.

Die neuen Technologien, die künstliche Intelligenz und die Big Data bewirken Umwälzungen in den Produktionsverfahren und der Wirtschaft im Allgemeinen und werden auch den Arbeitsmarkt tief greifend verändern. Diese Veränderungen müssen sich jedoch im Rahmen eines fruchtbaren sozialen Dialogs und unter Wahrung der Rechte und der Lebensqualität der Arbeitnehmer vollziehen.

1.6.

Mit Maßnahmen für einen besseren Zugang der KMU zu Krediten, zum Beispiel der Investitionsoffensive für Europa, dem COSME-Programm oder dem künftigen Programm „InvestEU“ sollten weiterhin KMU und Sozialunternehmen unterstützt werden, die aufgrund von Liquiditätsproblemen und Unterkapitalisierung oft Schwierigkeiten haben. Auch die Entwicklung eines europäischen Risikokapitalmarktes sollte aktiv gefördert werden.

1.7.

Mit Blick auf die notwendige Gewährleistung von Zusammenhalt und sozialer Gerechtigkeit in der zunehmend alternden und schrumpfenden europäischen Bevölkerung wird den sozialwirtschaftlichen Unternehmen und den Unternehmen auf Gegenseitigkeit in Zukunft eine wichtige Rolle zukommen. Größere Anstrengungen sind daher nötig, damit die Rolle dieser Unternehmen gestärkt wird, denn sie geben den Menschen die Möglichkeit, sich zu organisieren und zusammenzuarbeiten, um den ständig wachsenden sozialen Bedürfnissen gerecht zu werden.

1.8.

Der EWSA bekräftigt, dass die Rolle der KMU, der Familienbetriebe, der Unternehmen der Sozialwirtschaft, der Handwerksbetriebe, der kleinen Gewerbetreibenden und der Landwirte bei der Förderung und Verbreitung eines Unternehmergeistes, bei dem der Mensch und die lokale Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen, sowie beim Aufbau eines europäischen Modells für einen inklusiven Binnenmarkt, anerkannt und gefördert werden muss. Darüber hinaus ermöglichen diese Unternehmen breiteren Bevölkerungsgruppen die Aufnahme einer wirtschaftlichen bzw. unternehmerischen Tätigkeit und tragen somit zur Wirtschaftsdemokratie bei.

2.   Hintergrund und Gegenstand der Initiative

2.1.

Mit dieser Initiativstellungnahme soll ein Beitrag für die EU-Organe erarbeitet werden, damit diese im Rahmen der Maßnahmen zur Stärkung des Binnenmarktes die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für die Entwicklung verschiedenster Unternehmensformen fördern, die für die vor der Gesellschaft stehenden Herausforderungen gewappnet sind.

2.2.

Es steht mittlerweile außer Frage, dass eine soziale Marktwirtschaft angestrebt werden muss, in der sich unter intelligentem Einsatz der neuen Technologien die großen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit, der Eindämmung der schädlichen Auswirkungen des Klimawandels, der Verringerung der Ungleichheiten, den demografischen Spannungen, dem großen Migrationsdruck an den EU-Außengrenzen sowie der Energiewende bewältigen lassen.

2.3.

Nach Ansicht des EWSA kann gerade das Unternehmertum einen wichtigen Beitrag dazu leisten — neben den öffentlichen Einrichtungen natürlich. Die im vorstehenden Absatz angesprochenen großen Veränderungen können nämlich auch unter Nutzung des innovativen Potenzials der unternehmerischen Tätigkeit in all ihren Formen angegangen werden. Einige wirtschaftliche Entwicklungsmodelle und Unternehmensformen übernehmen jedoch bereitwilliger die sozialen Innovationen, die für eine erfolgreiche Umsetzung einer nachhaltigeren und integrativeren Wirtschaft zunehmend unerlässlich sind.

2.4.

Nach Ansicht des EWSA bestehen potenziell erhebliche Konvergenzen zwischen einem Binnenmarkt, der Innovation und neue Formen des Unternehmertums begünstigt, und der Agenda 2030 der Vereinten Nationen zur Verwirklichung der 17 Nachhaltigkeitsziele: Die für die Aufrechterhaltung des Wohlstands in den EU-Mitgliedstaaten unverzichtbaren Wachstums- und Innovationsziele müssen nämlich nicht nur solide, sondern auch nachhaltig sein.

2.5.

Der EWSA hat in den letzten Jahren eine ganze Reihe spezifischer Stellungnahmen zu folgenden grundlegenden Themen verabschiedet:

Entwicklung neuer nachhaltiger Wirtschaftsmodelle (1);

die verschiedenen Formen von Unternehmertum (2);

digitaler Wandel (3).

2.6.

Nach Auffassung des EWSA gibt es eine Reihe wirtschaftlicher Ökosysteme, denen der europäische Gesetzgeber besonderes Augenmerk widmen sollte, um die Funktionsweise des Binnenmarktes zu verbessern. Das Wirtschaftssystem in der EU ist vielgestaltig und umfasst multinationale und nationale Unternehmen und unzählige Firmen der lokalen Wirtschaft. Diese Unternehmen agieren häufig in territorialen Produktionsketten, Ballungs- und Großräumen mit dicht besiedelten Stadtgebieten und ländlichen und abgelegenen Gebieten, in denen es nicht immer einfach ist, Wohlstand und soziale Zusammenhalt zu gewährleisten, wenn der Zugang zur technischen Innovation nicht auch in den dezentralen Gebieten durch spezifische Maßnahmen sichergestellt wird.

2.7.

Es muss dafür gesorgt werden, dass die unterschiedlichen Unternehmensformen unter all diesen verschiedenen Rahmenbedingungen koexistieren und sich integrieren können, wobei jedoch jeder dieser Bereiche besondere Aufmerksamkeit in Bezug auf die jeweiligen legislativen Maßnahmen und öffentlichen Investitionen verdient. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass die vorgeschlagenen Vorschriften zur rechtlichen und wirtschaftlichen Regulierung von Unternehmen, Wirtschaft und Binnenmarkt nicht vollständig vereinheitlicht sind; ein Pauschalkonzept für alle ist abzulehnen.

3.   Auf dem Weg zu einer neuen europäischen Wirtschaft im Zeichen der Technik, Nachhaltigkeit und Inklusion

3.1.

Es müssen neue Produktionsmuster für Waren und Dienstleistungen auf der Grundlage der digitalen Wirtschaft und der neuen Technologien entwickelt werden, die die Modalitäten der Tätigkeit der europäischen Unternehmen verändern können.

3.2.

Dafür ist es unbedingt erforderlich, dass die EU die Entwicklung der künstlichen Intelligenz angemessen unterstützt, und zwar durch geeignete Regeln, die die Entwicklung dieser Technologie unter Wahrung der Rechte des Einzelnen gewährleisten, und durch koordinierte öffentliche Investitionen auf europäischer und staatlicher Ebene, um im Vergleich zu Akteuren wie den USA und China nicht an Boden zu verlieren.

3.3.

Auch die Erstellung, Verwendung und Speicherung von Big Data sind in Zukunft entscheidende Faktoren für die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Marktes, denn die Kapazitäten, Daten zu verarbeiten und in den Dienst der Strategien zur wirtschaftlichen Entwicklung und der Dienstleistungen für den Menschen zu stellen, wachsen stetig. Dabei muss jedoch sichergestellt werden, dass die Erstellung und Verarbeitung dieser Daten unter Achtung der Rechte des Einzelnen, der Grundrechte und der neuen Datenschutz-Grundverordnung erfolgt.

3.4.

Das unternehmerische und wirtschaftliche Gefüge in Europa zeichnet sich durch bestimmte Elemente aus, die es in die Lage versetzen, den digitalen Wandel zu bewältigen: Es ist von der Struktur her ein sich gegenseitig verstärkendes Ökosystem aus vielfältigen internationalen und lokalen Unternehmen, die das Potenzial für eine globale Ausrichtung haben. Um dies zu bewerkstelligen, brauchen wir dringend ein geeintes, vernetztes und von Zusammenhalt und Wettbewerbsfähigkeit geprägtes Europa. Eine positive Erfahrung in dieser Hinsicht sind die Zentren für digitale Innovation (Digital Innovation Hub), die derzeit in vielen lokalen Wirtschaftssystemen eingeführt werden.

3.5.

Die neuen Technologien, die künstliche Intelligenz und die Big Data bewirken große Umwälzungen in den Produktionsverfahren und der Wirtschaft im Allgemeinen und werden auch den Arbeitsmarkt tief greifend verändern. Berufsprofile werden verschwinden, neu entstehen oder tief greifende Veränderungen erfahren. Diese Veränderungen müssen sich im Rahmen eines fruchtbaren sozialen Dialogs und unter Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer vollziehen, die im Hinblick auf ihren Schutz und die Weiterbildung unterstützt werden müssen.

3.6.

Ein weiterer entscheidender Faktor für das Wachstum ist die Steuerpolitik. Die Europäische Kommission hat in dieser Amtszeit umfassende Arbeiten im Bereich Steuern geleistet. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Wirksamkeit und eine angemessene Harmonisierung der Steuervorschriften wesentliche Elemente für die Stärkung des Binnenmarktes bilden. Die auf EU-Ebene geförderten steuerpolitischen Maßnahmen sollten überdies zu spezifischen Instrumenten beitragen, die das Unternehmenswachstum fördern, wie zum Beispiel Investitionen in Forschung und Entwicklung und Zugang zu Finanzkapital durch Kapitalbeteiligungen (Equity).

3.7.

Die europäischen KMU und die Unternehmen der Sozialwirtschaft haben mit strukturellen Problemen zu kämpfen, und es fehlen ihnen geeignete Bedingungen, die ihre Entwicklung begünstigen, obwohl zahlreiche Anstrengungen zu ihrer Förderung unternommen wurden. Darüber hinaus konzentriert sich die KMU-Tätigkeit häufig auf die Produktion mit geringem bis mittlerem technischem Niveau und auf weniger wissensintensive Dienstleistungen, und die KMU haben Schwierigkeiten beim Eintritt in den grenzüberschreitenden Markt. Wie die Kommission richtig anmerkt, sind 99 % aller europäischen Unternehmen KMU, auf die 67 % aller Arbeitsplätze entfallen (4). Aus diesem Grund müssen diese Unternehmen eine angemessene Unterstützung in Form industrie- und steuerpolitischer Maßnahmen erhalten, die auf die gemeinsame Wertschöpfung und nicht so sehr auf die Konzentration von Reichtum ausgerichtet sind, allerdings unter Achtung der Grundsätze des freien Markts und Wettbewerbs.

3.8.

Unter diesem Gesichtspunkt sollten mit Maßnahmen für einen besseren Zugang der KMU zu Krediten, wie zum Beispiel der Investitionsoffensive für Europa mit ihren öffentlichen Bürgschaften, dem COSME-Programm oder dem Programm „InvestEU“, KMU und Sozialunternehmen weiterhin unterstützt werden. Vor diesem Hintergrund sollte die Beteiligung privater Investoren an Start-ups und an kleinen und mittleren Unternehmen besser unterstützt werden. Dazu muss der europäische Markt für Wagnis- bzw. Risikokapital, der sich in der Größe noch grundlegend von dem der USA unterscheidet, weiter ausgebaut werden. Die Förderung privater Investitionen in europäische Unternehmen sollte zudem durch konkrete Maßnahmen flankiert werden, die darauf abzielen, Talente und Kompetenzen aus Drittstaaten in die EU zu holen.

3.9.

Nach Angaben der Weltbank rangiert die Europäische Union (5) im Durchschnitt auf dem 53. Platz der Weltrangliste in Bezug auf die Einfachheit der Aufnahme einer unternehmerischen Tätigkeit und auf dem 29. Platz der Rangliste in Bezug auf die reibungslose Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit. Die Vereinigten Staaten dagegen liegen bei der reibungslosen Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit auf Platz 8. In diesem Zusammenhang betont EWSA, dass unternehmerische Tätigkeiten der Produktion von Waren und der Erbringung von Dienstleistungen durch eine Vereinfachung der Verwaltungslasten für die europäischen Unternehmer unterstützt und gefördert werden müssen.

3.10.

Heute werden öffentliche Aufträge im Wert von 1,9 Billionen Euro vergeben, was etwa 16 % des BIP in der EU entspricht. In den neuen, 2014 angenommenen Richtlinien über die Vergabe öffentlicher Aufträge (6) und Konzessionen (7) wurde vorgeschlagen, bei den Vergabeverfahren nationaler Behörden soziale und ökologische Aspekte stärker zu berücksichtigen. Dieses Ziel ist jedoch bei weitem noch nicht erreicht, wie die Kommission selbst einräumt. Der EWSA empfiehlt der Kommission, soziale und ökologische Aspekte in diesem für den europäischen Binnenmarkt schon immer so wichtigen Bereich stärker und wirksamer zu berücksichtigen.

3.11.

Aus den wachsenden Herausforderungen auf internationaler Ebene und der Notwendigkeit, Zusammenhalt und soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten, ergibt sich für die Sozialunternehmen im aktuellen Kontext eine wichtige Rolle. Größere Anstrengungen sind daher nötig, damit die Existenz und Bedeutung von Unternehmen anerkannt werden, in denen der Wille der Menschen zum Ausdruck kommt, sich autonom zu organisieren, um Antworten auf soziale Bedürfnisse zu geben.

3.12.

In kleinen und sozialen Unternehmen gehen das Handeln und die Motivation stets vom Menschen und nicht vom Kapital aus, denn Letzteres sucht nach Bereichen, die eine Rendite garantieren. Diese Unternehmen, bei denen der Mensch im Mittelpunkt steht, sind über dauerhafte Bindungen fest in die Gemeinschaft vor Ort eingebunden und tragen dort zum Wohlergehen und zum sozialen Zusammenhalt bei. Ein wichtiges Beispiel hierfür sind die belgischen und schwedischen (8) Dienstleistungsschecksysteme für hausarbeitsbezogene Dienstleistungen. Diese Systeme sehen spezifische Steuernachlässe für die Nutzer vor und dienen der Bekämpfung der Schwarzarbeit, wobei sowohl die Erbringer der Dienstleistungen, die einen stärkeren Schutz genießen, als auch der Fiskus profitieren.

3.13.

Die Ortsverbundenheit und Verankerung in der lokalen Gemeinschaft werden zu einem Wettbewerbsfaktor, denn sie sind Quelle von Motivation und schaffen einen sozialen und beziehungsbezogenen Mehrwert. So bieten sozialwirtschaftliche Unternehmen einer größeren Zahl von Menschen die Möglichkeit, eine unternehmerische Tätigkeit aufzunehmen, und tragen so zu einem inklusiven Entwicklungsmodell bei.

3.14.

Ein weiterer wesentlicher Nutzen der Sozialunternehmen liegt mit Sicherheit in ihrem Beitrag zur Wirtschaftsdemokratie, da sie Millionen von Menschen die Möglichkeit bieten, eine wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen und sich entsprechend ihren Fähigkeiten, Fertigkeiten und Zielen ihre eigene Beschäftigung zu schaffen.

3.15.

Dieses Ziel verfolgen beispielsweise Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften, Stiftungen mit kommunaler Mitträgerschaft oder Sozialunternehmen. Diese Unternehmen finden zunehmend Anerkennung, auch aufgrund der von der Europäischen Kommission 2011 ins Leben gerufenen Initiative für soziales Unternehmertum, die nun durch eine ehrgeizigere und stärker basisverbundene Initiative ergänzt werden könnte.

3.16.

Besonders genannt werden müssen die kleinen kommunalen und regionalen Banken, die Millionen von Menschen eine unersetzliche Chance auf den Zugang zu Krediten bieten. Diese Banken werden durch den von der EU verfolgten Regulierungsansatz, der gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt, nach wie vor zu stark benachteiligt. Dabei werden nämlich weltweit agierende Banken und ausschließlich auf lokaler Ebene tätige Institute den gleichen Regeln unterworfen (one size fits all).

4.   Europäische Unternehmen im sozialen und globalen Makroszenario

4.1.

Wir müssen uns der Tatsache bewusst sein, dass sich das globale Umfeld in den nächsten Jahren erheblich verändern wird, insbesondere in Bezug auf die Bevölkerungsentwicklung, die Produktionskapazität und die wirtschaftliche Bedeutung der einzelnen Staaten und Kontinente.

4.2.

Bei diesem Wandel wird Europa mit seinen 500 Mio. Einwohnern an zentraler Bedeutung verlieren gegenüber einer Weltbevölkerung, die von derzeit 7,6 Mrd. auf 9,8 Mrd. Menschen im Jahr 2050 steigen wird. Vor allem in neun Ländern wird dieser Zuwachs besonders stark sein (Indien, Nigeria, Kongo, Pakistan, Äthiopien, Tansania, USA, Uganda und Indonesien) (9).

4.3.

Gleichzeitig wird der Anteil älterer Menschen weiter zunehmen. Bis 2050 wird sich die Zahl der über 80-Jährigen von heute 137 Mio. auf über 425 Mio. verdreifachen. Diese Entwicklung wird in Europa besonders ausgeprägt sein, wo das Durchschnittsalter heute bereits bei 40 bis 45 Jahren liegt, während es in den „Schwellenländern“ 25 bis 30 Jahre beträgt.

4.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass angesichts der sich gegenwärtig vollziehenden tief greifenden Veränderungen ein ganzheitlicher Ansatz notwendig ist, bei dem die wirtschaftspolitischen und legislativen EU-Maßnahmen und die Maßnahmen für den sozialen Zusammenhalt und für den Schutz der schwächsten Bevölkerungsgruppen aufeinander abgestimmt werden und ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, benachteiligte Personen und besonders bedürftige Gruppen nicht außen vor bleiben.

4.5.

Neben den Plänen zur industriellen Entwicklung und den wirtschaftspolitischen Maßnahmen stellt sich bei der Schaffung eines Innovation und Unternehmertum begünstigenden Marktes die Herausforderung, den Menschen als den einzigen sicheren Wert, auf den in dieser immer unsicherer werdenden Welt Verlass ist, ins Zentrum zu stellen.

4.6.

Von der Aufwertung des Humankapitals kann das gesamte Wirtschaftsgefüge profitieren, wobei sich bestätigt, dass das wirtschaftliche Verhalten der Menschen und Unternehmen nicht allein auf die Gewinnmaximierung ausgerichtet ist. Dies untermauert die These, dass die Beweggründe für wirtschaftliches Handeln und den Wunsch, unternehmerisch tätig zu werden, weit über das bloße Bedürfnis der Vermögensanhäufung hinausgehen. Damit soll nicht die Bedeutung des wirtschaftlichen Erfolgs geschmälert werden; vielmehr soll der Wert dieses Erfolgs anders gemessen werden.

4.7.

In den letzten Jahrzehnten wurde der Unternehmenserfolg insbesondere bei großen Unternehmen der Digitalwirtschaft vor allem daran gemessen, inwieweit Werte finanziell abgeschöpft werden können (value extraction), und nicht so sehr an der Schaffung von Wert und Beschäftigung durch Arbeit.

4.8.

Schließlich hält der EWSA Investitionen in die Weiterbildung der europäischen Bürger für erforderlich, damit diese die immer neuen Veränderungen in dieser wichtigen Zeit erfolgreich bewältigen können. Von entscheidender Bedeutung sind daher Investitionen in Bildungsprogramme, die die unternehmerische Initiative fördern und schon jungen Menschen Instrumente und Kompetenzen für die Selbstorganisation an die Hand geben, ebenso wie Kenntnisse zur Unterstützung von Initiativgeist, Kreativität und Risikobereitschaft. Gleichzeitig muss durch Schulungs- und Unterstützungsmaßnahmen sichergestellt werden, dass die immer ältere (Stichwort Silver economy) und im Weltmaßstab schrumpfende europäische Bevölkerung eine gute Lebensqualität hat und einen aktiven Beitrag leisten kann.

4.9.

Jede Person muss als wertvoll betrachtet werden — ein Konzept, mit dem Sozialunternehmen im Bereich der Arbeitsmarktintegration erfolgreiche Erfahrungen gemacht haben. Dabei wurden benachteiligte oder aus dem traditionellen Arbeitsmarkt ausgeschlossene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in soliden und wettbewerbsfähigen Unternehmen eingestellt.

Brüssel, den 17. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 57; ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 33; ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 1 und ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 28.

(2)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 20; ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 1; ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 8; ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 152; ABl. C 458 vom 19.12.2014, S. 14 und ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 15.

(3)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 73; ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 102; ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 33; ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 70; ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 6 und ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 131.

(4)  https://ec.europa.eu/growth/smes/business-friendly-environment/performance-review_en

(5)  http://www.doingbusiness.org/content/dam/doingBusiness/media/Annual-Reports/English/DB2019-report_print-version.pdf

(6)  ABl. L 94 vom 28.3.2014, S. 65.

(7)  ABl. L 94 vom 28.3.2014, S. 1.

(8)  http://impact-phs.eu/national-practices/sweden-rot-rut-avdrag/

(9)  Vereinte Nationen, revidierte Weltbevölkerungsprognose 2017; https://population.un.org/wpp/Publications/Files/WPP2017_KeyFindings.pdf


18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/11


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Verbraucher in der Kreislaufwirtschaft“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 353/03)

Berichterstatter: Carlos TRIAS PINTÓ

Beschluss des Plenums

24.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.7.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

200/4/9

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) plädiert für eine neu ausgerichtete Strategie — auf europäischer, nationaler und lokaler Ebene —, die neue Kreislaufmodelle nachdrücklich fördert und dabei nicht nur sämtliche beteiligten Akteure koordiniert, sondern auch die Verbraucher in den Mittelpunkt der öffentlichen Maßnahmen stellt.

1.2.

Um mit der erforderlichen Intensität und Effizienz eine Kreislaufwirtschaft zu schaffen und den Überkonsum zurückzudrängen, muss daher die Rolle der Verbraucher bei der Überwindung des derzeitigen Produktions- und Konsummodells gestärkt werden. Der Hebel für den Wandel lässt sich nämlich am wirksamsten bei den täglichen Verbrauchsgewohnheiten ansetzen.

1.3.

Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, um Bildung und lebenslanges und eigenständiges Lernen zu gewährleisten und die Verbraucher möglichst objektiv über Verbrauchsoptionen zu informieren und mit dem Ziel der Übernahme kreislaufwirtschaftlicher Verhaltensweisen zu beraten. Der EWSA betont, dass den örtlichen öffentlichen Behörden und Verbraucherorganisationen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zukommt.

1.4.

Der Erfolg der Maßnahmen wird in Zukunft mittels Wirkungsindikatoren auf Grundlage des Nachhaltigkeitsziels Nr. 12 (1) der Vereinten Nationen und der damit verbundenen Unterziele gemessen, was zu neuen Standardisierungsprozessen führt.

1.5.

Mit Blick auf die durchgängige Berücksichtigung des bewussten Konsums werden die Folgenabschätzungen durch die übrigen 16 Nachhaltigkeitsziele und ihre jeweiligen Unterziele ergänzt; mithilfe von Ziel 17 der „Partnerschaften“ sollen Räume für die gemeinsame Gestaltung und Verantwortung geschaffen und damit sowohl der Multiplikatoreffekt als auch die angestrebte Skalierbarkeit begünstigt werden.

1.6.

Die Berechnung des sozialen und ökologischen Fußabdrucks der Produkte in den verschiedenen Wertschöpfungsketten ist sehr wichtig dafür, den Verbrauchern relevante Informationen für ihre Konsumentscheidungen in einer digitalisierten Gesellschaft an die Hand zu geben. Der EWSA dringt auf die Verwendung zuverlässiger, vergleichbarer und überprüfbarer Wirkungsindikatoren und betont insbesondere, dass es wichtig ist, auf die Indikatoren zu achten, die sich auf chemische Stoffe (auch ihre Handhabung) beziehen.

1.7.

Die Maßnahmen müssen sich am „Win-Win“-Ansatz orientieren und sollten keinem Pauschalkonzept folgen. Vielmehr sollten sie den Eigenheiten der verschiedenen Gebiete und Tätigkeitsbereiche Rechnung tragen und sich dabei auf Bottom-up-Methoden stützen, die von Fall zu Fall die Einbeziehung aller betroffenen Akteure gewährleisten. Diese Initiativen sollten eng mit der Entwicklung der lokalen Wirtschaft verflochten sein und durch institutionelle Impulse und eine Stärkung der Rolle der Verbraucherorganisationen gesteuert werden.

1.8.

Die Führungsrolle Europas bei verschiedenen Kreislaufwirtschaftsmodellen muss mit der Schaffung eines Unternehmensumfelds einhergehen, das die Internationalisierung von Gütern und Dienstleistungen der Kreislaufwirtschaft fördert, wobei die bahnbrechenden Erfahrungen in Ländern wie Südkorea als Vorbild dienen können (2). Diese Modelle sollten durch spezifische Leitlinien für einen gerechten Übergang zu einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft (3) flankiert werden, die auch gleiche Wettbewerbsbedingungen für Trittbrettprodukte aus Drittländern gewährleisten müssen.

1.9.

Werbung und Geschäftsmethoden spielen bei den Entscheidungen der Verbraucher eine Schlüsselrolle. Maßnahmen der sozialen Verantwortung von Unternehmen müssen notwendigerweise dazu beitragen, die Praktiken des greenwashing und des social washing zu überwinden. In diesem Zusammenhang ist es von wesentlicher Bedeutung, den derzeitigen institutionellen Rahmen für die Überwachung und Akkreditierung der verschiedenen Übergangsprozesse zur Kreislaufwirtschaft zu stärken.

1.10.

Besteuerung und ein verantwortliches öffentliches Beschaffungswesen sind wirksame Instrumente, um Anreize für eine verantwortungsvolle Produktion und einen verantwortungsvollen Konsum im Zuge einer schrittweisen Standardisierung von Produkten und Dienstleistungen zu schaffen. Im ersten Fall sollten die Mitgliedstaaten wirksame Maßnahmen für die Annahme eines anreizorientierten Ansatzes erwägen, mit dem eine schrittweise Konvergenz einer kreislauforientierten Besteuerung angestrebt wird, die zum europäischen Binnenmarkt beiträgt; im zweiten Fall müssen die lokalen Behörden Pläne zur Begleitung „nachhaltiger Anbieter“ erstellen, um die Anpassung und Skalierbarkeit ihrer Produktion zu erleichtern, denn diese Anbieter haben bei der Erfüllung der derzeitigen Vergabeanforderungen häufig mit Defiziten zu kämpfen.

1.11.

Der EWSA befürwortet auch die freiwillige Kennzeichnung als Zwischenschritt auf dem Weg zur Kennzeichnungspflicht, sofern sie sich auf freiwillige, unabhängige und überprüfte Umweltleistungsmechanismen stützt. Das EU-Umweltzeichen (4) könnte durch Förderung und Ausweitung auf weitere Produkte zu einer „Marke“ für Nachhaltigkeit in Europa werden.

1.12.

Der EWSA betont die Dringlichkeit der Verbesserung des Ökodesigns durch eine systematische Untersuchung von Kriterien wie Lebensdauer, Reparatur oder chemische Bestandteile, durch die Berücksichtigung sozialer Kriterien und durch gleichzeitige Förderung von lokalen Verbrauchsnetzen und Prosument-Praktiken.

2.   Einleitung und Hintergrund

2.1.

Nachhaltiges Wachstum und nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit sollten auch qualitative Faktoren berücksichtigen, z. B. den Verzicht auf die Ausbeutung von Arbeitskraft und Umwelt, mit den Ressourcen des Planeten im Einklang stehende gerechte Lebensbedingungen sowie letztlich ein Modell, bei dem ein ausgewogenes Verhältnis zwischen wirtschaftlichem Wohlstand, Umweltaspekten und sozialer Inklusion gewahrt wird (5).

2.2.

Die Kreislaufwirtschaft muss ein Modell für Verhaltensweisen sein, die mit den Funktionsregeln der Natur im Einklang stehen und auf die Erhaltung und Regeneration des Naturkapitals ausgerichtet sind.

2.3.

Es wurden bereits zahlreiche Studien, Vorschläge und Stellungnahmen zum Übergang von einem linearen Wirtschaftssystem zu einer Kreislaufwirtschaft erarbeitet, in denen der Schwerpunkt auf die Produktion gelegt, die entscheidende Rolle der Verbraucher bei der Bewältigung der Herausforderungen der Kreislaufwirtschaft jedoch kaum thematisiert wurde.

2.4.

Eingangs ist gleich eine große Diskrepanz zu konstatieren: Die Verbraucher sind nach eigenen Bekundungen einerseits für Probleme der Gesellschaft und der Umwelt sehr sensibilisiert (6), andererseits sind jedoch ihre Verhaltensmuster häufig von einer „Low-cost“-Mentalität geprägt, bei der der Preis (der ohne Einrechnung der negativen externen Effekte gebildet wird) wichtiger ist als die Gesamtqualität des Produkts bzw. der Dienstleistung.

2.5.

Die Zahlen sind niedriger, wenn es nicht um Überzeugungen und Erwartungen geht, sondern um eigenes Handeln und Engagement. Hier offenbart sich ein Spannungsfeld zwischen dem Erschwinglichen und dem Nachhaltigen. Aufklärung und Bildung werden dabei zu Schlüsselfaktoren für eine bessere Verbraucherbeteiligung.

2.6.

Ausdrückliche Verweise auf das Verbraucherverhalten finden sich in Bezug auf das Paket zur Kreislaufwirtschaft, das der EWSA begrüß hat (7):

2.7.

Der Europäische Ausschuss der Regionen hat in seiner Stellungnahme „Ein Aktionsplan der EU für die Kreislaufwirtschaft“ (8) das Verbraucherverhalten und die Tendenzen in der Gesellschaft thematisiert und dabei betont, dass den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften eine herausragende Rolle zukommt. Sie können die Maßnahmen der allgemeinen und beruflichen Bildung und beruflichen Qualifizierung verstärken und so für ein besseres Verständnis nachhaltiger Verbrauchsmuster, die Erhaltung der Ressourcen und die Abfallvermeidung sowie die Herstellerverantwortung in den Phasen der Produktentwicklung und Vermarktung sorgen.

2.8.

Der EWSA betont auch, dass bestimmte innovative Verbrauchsformen auch die Entwicklung der Kreislaufwirtschaft unterstützen können: die gemeinsame Nutzung von Produkten oder Infrastrukturen (kollaborative Wirtschaft), die Nutzung von Dienstleistungen anstelle von Produkten, die Nutzung von IT- oder digitalen Plattformen usw.

3.   Die Kreislaufwirtschaft in der EU-Politik

3.1.

Die eigentliche Herausforderung der Politik der Kreislaufwirtschaft in der EU besteht neben regulatorischen und produktionstechnischen Aspekten darin, die Menschen in ihrem Verhalten als Verbraucher bei ihren täglichen Konsummustern und -entscheidungen zu mobilisieren. Um das Handeln vieler Einzelner zu summieren und daraus eine Hebelwirkung für den Wandel zu erzielen, müssen die Verbraucher in vollem Umfang beteiligt sein.

3.2.

Die Schlussfolgerung der Mitteilung „Den Kreislauf schließen — Ein Aktionsplan der EU für die Kreislaufwirtschaft“ (9) lautet: „Die Konsumentscheidungen, die Millionen von Verbrauchern treffen, können die Kreislaufwirtschaft fördern oder behindern.“

3.3.

Ferner heißt es darin: „Angesichts der Vielzahl von Etiketten und Umweltangaben finden es europäische Verbraucher oft schwierig, zwischen Produkten zu differenzieren und den vorhandenen Angaben zu vertrauen. Umweltaussagen erfüllen nicht immer die gesetzlichen Anforderungen an Zuverlässigkeit, Genauigkeit und Klarheit.“

3.4.

„Der Preis ein entscheidender Faktor bei Kaufentscheidungen, sowohl in der Wertschöpfungskette als auch für den Endverbraucher. Die Mitgliedstaaten werden daher aufgefordert, Anreize zu schaffen und wirtschaftliche Instrumente wie Steuern zu nutzen, um sicherzustellen, dass Produktpreise die Umweltkosten besser widerspiegeln. Garantieaspekte wie die gesetzliche Garantiefrist und die Umkehr der Beweislast […] können Verbraucher vor fehlerhaften Produkten schützen und fördern deren Langlebigkeit und Reparierbarkeit.“

3.5.

Dabei berücksichtigt werden zwar viele Schlüsselparameter der Nachhaltigkeit, nicht jedoch die vielfältigen Interaktionen, die in den verschiedenen Wertschöpfungsketten entstehen, womit die Verbraucher zu zweitrangigen Akteuren degradiert werden.

4.   Der State of the Art in der EU-Politik

4.1.

Die EU verfügt bereits über den rechtlichen Rahmen für die Förderung einer verantwortungsvollen öffentlichen Auftragsvergabe (10), die aufgrund ihres Potenzials (11) eine Zugmaschine der Kreislaufwirtschaft ist. Es gibt jedoch noch viele Schwierigkeiten bei der wirksamen Einführung der Kreislaufwirtschaft, weshalb genauer geklärt werden muss, welche Produkte und Dienstleistungen als kreislauffähig angesehen werden.

4.2.

Da es sich hier um einen Übergangsprozess handelt, in den die bewährten Verfahren verschiedener Wertschöpfungsketten einfließen, müssen ausgehend von einer dynamischen Terminologie weltweite Standardisierungsprozesse auf der Grundlage neuer Messsysteme in Gang gebracht werden, da die multilaterale und globalisierte Wirtschaft eine gemeinsame Sprache erfordert.

4.3.

Eine neue Reihe von Indikatoren für soziale und ökologische Auswirkungen werden im Aktionsplan der Europäischen Kommission für ein nachhaltiges Finanzwesen und in der Verordnung über die neue Taxonomie für nachhaltige Tätigkeiten (12) eingeführt und stehen voll und ganz im Einklang mit den Leitlinien der Vereinten Nationen.

4.4.

Mit Unterstützung der Mittel der Europäischen Kommission, die jetzt im Rahmen von InvestEU verstärkt und gebündelt werden, soll eine deutliche Verlagerung der Investitionen auf Maßnahmen erreicht werden, die zur Eindämmung des Klimawandels und zur Erhaltung der natürlichen Ressourcen beitragen. Hier geht es insbesondere um unmittelbar von der Entscheidung der Verbraucher abhängige Maßnahmen wie z. B. die Renovierung von Wohngebäuden und die Nutzung der Erdwärme (13).

4.5.

Die „Neugestaltung der Rahmenbedingungen für die Verbraucher“ (New Deal for Consumers) wird zur Stärkung des Vertrauens der Verbraucher beitragen, auch wenn es dabei Licht- wie Schattenseiten gibt (14). Nach Ansicht des EWSA (15) ist die Verbesserung des Rahmens für die Umsetzung der Verbraucherschutzvorschriften von wesentlicher Bedeutung für eine ausgewogene Entwicklung der Kreislaufwirtschaft.

4.6.

Besonders erwähnenswert ist die gemeinsame Initiative der Europäischen Kommission und des EWSA für eine europäische Plattform der Interessenträger der Kreislaufwirtschaft (European Circular Economy Stakeholder Platform (16)) — ein „Netz der Netze“, das einen Treffpunkt bietet, um besondere Herausforderungen zu erörtern und die besten Methoden und Lösungen auszutauschen. Eine wichtige Rolle spielen u. a. auch das Retail Forum for Sustainability (17) (REAP) (EU-Einzelhandelsforum zur Nachhaltigkeit) und die EU Platform on Food Losses and Food Waste (18) (EU-Plattform für Lebensmittelverluste und -verschwendung).

5.   Zusagen der Europäischen Kommission

5.1.

Bei ihren Arbeiten zum Thema Ökodesign wird es der Kommission insbesondere um angemessene Anforderungen an die Haltbarkeit, die Informationen über die gemeinsame Nutzung und die Reparatur sowie die Verfügbarkeit von Ersatzteilen gehen. Sie wird auch die Einführung einer Angabe über die Haltbarkeit auf der Energieverbrauchskennzeichnung erwägen.

5.2.

In ihren überarbeiteten Vorschlägen für Abfälle erwägt die Kommission neue Vorschriften, um Tätigkeiten zur Vorbereitung einer Wiederverwendung zu fördern.

5.3.

Die Kommission wird sich um eine bessere Durchsetzung der Garantien für materielle Produkte bemühen, Verbesserungsmöglichkeiten prüfen und gegen falsche Umweltangaben vorgehen.

5.4.

Die Kommission wird im Rahmen von Horizont Europa ein unabhängiges Prüfprogramm entwickeln, um Fortschritte im Zusammenhang mit dem Problem der vorzeitigen Obsoleszenz zu erreichen (19).

5.5.

Zugleich wird die Kommission die Umsetzung des umweltorientierten öffentlichen Beschaffungswesens vorantreiben und dabei den Schwerpunkt auf die Einbeziehung der Kreislaufwirtschaft in die neuen bzw. überarbeiteten Kriterien legen.

6.   Befinden wir uns wirklich im Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft?

6.1.

„Nachhaltigkeit ist ein zukunftsweisender Prozess, [...bei dem die] Verhaltensweisen, Handlungen und Entscheidungen von Regierungen, Unternehmern, Arbeitnehmern, Bürgern und Verbrauchern […] in Kenntnis ihrer ökonomischen, ökologischen und sozialen Folgen verantwortungsvoll gesteuert [werden]“ (20).

6.2.

Nach Ansicht des EWSA stellen die EU-Organe die Aspekte Umwelt und Produktion in den Mittelpunkt der Kreislaufwirtschaft, berücksichtigen dabei aber kaum die soziale Dimension und die Verbraucherperspektive, weshalb die Gefahr eines zirkulären Übergangs zu einer anderen, ebenfalls linear strukturierten Wirtschaft besteht.

6.3.

Im Rahmen eines Gesamtkonzepts sollte die Rolle des Verbrauchers sich nicht auf seine rein asymmetrische Einbeziehung als urbaner Akteur beim Recycling von Haushaltsabfällen beschränken, sondern eine proaktive Rolle sein, bei der er im gesamten Kreislauf des Prozesses mitwirken kann.

6.4.

Aus positiver Sicht steht mit den 17 Nachhaltigkeitszielen und den damit verbundenen Unterzielen sowie den verbindlichen Protokollen der COP 21 (21) zur Eindämmung des Klimawandels ein geeignetes Instrumentarium für die Kreislaufwirtschaft zur Verfügung, das einen universellen Rahmen mit einem enormen Potenzial bietet.

6.5.

Der EWSA betont, dass der Übergang im Rahmen der Verwirklichung der Agenda 2030 effizienter und besser auf das Nachhaltigkeitsziel Nr. 12 (verantwortungsvolle Konsum- und Produktionsmuster) ausrichten wird, wenn Angebot und Nachfrage besser miteinander verknüpft werden und die Kreislaufwirtschaft auf der Gebietsebene verankert wird.

7.   Vorschläge des EWSA für eine stärkere Rolle der Verbraucher in Kreislaufwirtschaftsmodellen

7.1.

Verantwortungsvolle Forschung und Innovation (Responsible Research and Innovation) im Rahmen von Horizont Europa: eine ausgewogene Beteiligung aller Akteure, insbesondere der Verbraucher und/oder ihrer Vertreter, sollte ermöglicht werden.

7.2.

Öko-Design und Öko-Innovation: Auf der Grundlage einer ökologischen Mitverantwortung sollte die aktive Beteiligung der Verbraucher durch Verfahren der gemeinsamen Wertschöpfung gestärkt werden, was durch offizielle Gütesiegel zertifiziert werden kann.

7.3.

Die Verbraucher sollten ermutigt werden, sich an der Planung von Maßnahmen im Bereich der sozialen Unternehmensverantwortung zu beteiligen, indem sie neue Produkte oder Dienstleistungen im Hinblick auf deren gemeinsame Validierung vor dem Inverkehrbringen testen.

7.4.

Es ist geplant, bewährte Verfahren der Kreislaufwirtschaft zu sammeln und dabei auch die Verbraucher mitreden zu lassen. Die Verfahren mit dem höchsten Multiplikatoreffekt sollen in großem Maßstab verbreitet werden.

7.5.

Es sollten Anreize eingeführt werden für die freiwillige Kennzeichnung mit Angaben zur Emissionsreduktion, zur Erhaltung der biologischen Vielfalt, zur Ressourceneffizienz und zum Verzicht auf Komponenten mit erheblichen Umweltauswirkungen. Diese Instrumente sollen verstärkt eingesetzt werden und schließlich verpflichtend sein. Eingeführt werden sollte eine neue Produktkennzeichnung mit Angaben zur Haltbarkeit des Produkts in Abhängigkeit davon, ob Ersatzteile erhältlich sind und Reparaturen durchgeführt werden können. Angesichts des Drucks der Verbraucher sollten durch offizielle Gütesiegel, steuerliche Maßnahmen und das öffentliche Beschaffungswesen längere Gewährleistungszeiträume (Garantiedauer) für die Produkte gefördert werden.

7.6.

Im Rahmen der Neugestaltung der Rahmenbedingungen für die Verbraucher sollten Schadenersatzmechanismen für die Verbraucher eingeführt werden, die von vorzeitiger Obsoleszenz betroffene Waren bzw. Produkte erworben haben.

7.7.

Die Verwendung von sehr kurzlebigen Materialien (z. B. Einwegplastik) (22) und Produktverpackungen sollte überwacht werden (23). Zugleich gilt es, die Verwendung von Chemikalien im Rahmen eines Gesamtansatzes stärker zu überwachen, um kontraproduktive Recyclingpraktiken zu verhindern.

7.8.

Die Verbraucher sollten einfachen Zugang zu verständlichen und wahrheitsgemäßen Informationen über den ökologischen Fußabdruck erhalten. Missbräuchliche Praktiken, bei denen empirisch nicht ausreichend gestützte Behauptungen verbreitet werden, sollten überwacht und gegebenenfalls an den Pranger gestellt werden.

7.9.

Es sollten Informationskampagnen für Verbraucher und insbesondere für junge Menschen über nachhaltige Produktions- und Verbrauchsmuster unter Einbeziehung von verschiedenen „Machst du auch mit?“-Techniken und unter Berücksichtigung kultureller und idiosynkratischer Faktoren (24) durchgeführt werden.

7.10.

Wir brauchen ein lückenloses Bildungsangebot (ab dem Kindergarten), in dem in allen Bereichen die Methoden des Produktlebenszyklus (Herstellung aus Teilen, Baukastenprinzip, Haltbarkeit, Reparierbarkeit, Wiederverwendung und Energieeffizienz) stark praxisorientiert vermittelt werden.

7.11.

Die Beschäftigungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit den Tätigkeiten im Bereich Wiederverwendung, Reparatur und Recycling mit hohem Mehrwert (Superrecycling) im Rahmen der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt (25) sollten verbessert werden.

7.12.

Die zuständigen Behörden müssen in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen ausreichende Infrastrukturen und Ressourcen für die getrennte Sammlung in jedem Abfall produzierenden Bereich sicherstellen.

7.13.

Gemeinden, Schulen und Hochschulen sowie andere Einrichtungen, die Protokolle für eine basisdemokratische Verbraucherbeteiligung an Kreislaufwirtschaftsmaßnahmen eingeführt haben, müssen gewürdigt werden.

7.14.

Es müssen Erfahrungen mit den neuen Wirtschaftsmodellen gemacht und verbreitet werden, vor allem mit der kollaborativen Wirtschaft und der Functional Economy und innerhalb eines bestimmten geografischen Gebiets, wobei in Anlehnung an die geschützten Ursprungsbezeichnungen ein Gütesiegel „Kommune mit Kreislaufwirtschaft“ eingeführt werden sollte.

7.15.

Die Rolle der Verbraucherverbände in der Kreislaufwirtschaft sollte durch fachliche Unterstützung und die punktuelle Bereitstellung von Finanzmitteln gestärkt werden.

7.16.

Notwendig ist auch die Ermittlung, Veröffentlichung und Verbreitung der besten Unternehmenspraktiken in der Kreislaufwirtschaft durch die Verbraucherorganisationen.

7.17.

Lokale Netze für beispielhafte Praktiken in Bezug auf Verbrauch, Prosumenten und Make/Do-it-yourself-Methoden sind zu fördern.

Brüssel, den 17. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  https://www.undp.org/content/undp/en/home/sustainable-development-goals/goal-12-responsible-consumption-and-production.html

(2)  Auf dem Forum der Zivilgesellschaft über das Handelsabkommen zwischen der EU und Südkorea, das im April 2018 in Seoul stattfand, stand die Kreislaufwirtschaft im Mittelpunkt der Diskussionen über die Übereinkommen der IAO.

(3)  Leitlinien der IAO für einen gerechten Übergang hin zu einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft für alle.

(4)  Der Beirat für das EU-Umweltzeichen führt derzeit auf der Grundlage der Produktlebenszyklus-Methode neue Kriterien und Indikatoren für die Verwendung und Verfügbarkeit von Produkten ein.

(5)  Siehe Stellungnahme der EWSA „Sibiu und darüber hinaus“‚ ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 37.

(6)  Eurobarometer-Sonderumfrage von September bis Oktober 2017: Für 94 % der Europäer ist der Umweltschutz ein sehr wichtiges oder ziemlich wichtiges Anliegen, wobei die steigende Abfallmenge als eines der Hauptprobleme wahrgenommen wird. Und 87 % glauben, dass sie eine sehr oder ziemlich wichtige Rolle spielen können.

(7)  Siehe ABl. C 230 vom 14.7.2015, S. 99; ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 98; ABl. C 389 vom 21.10.2016, S. 80; ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 102; ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 61 und ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 97.

(8)  ABl. C 88 vom 21.3.2017, S. 83.

(9)  COM(2015) 614 final.

(10)  Siehe die Richtlinien 2014/23/EU/, 2014/24/EU und 2014/25/EU.

(11)  Das öffentliche Beschaffungswesen in der EU hat ein Volumen von fast 15 % des BIP.

(12)  COM(2018) 353 final, die im März 2019 von den Gesetzgebungsorganen angenommen wurde.

(13)  Die Gesetzgebungsorgane haben im März 2019 eine Klassifizierung nachhaltiger Aktivitäten angenommen.

(14)  Dem enttäuschenden Dokument des IMCO-Ausschusses des Europäischen Parlaments zur Thematik fehlerhafter Produkte (Februar 2018) folgte ein positives Ergebnis: der bessere Schutz bei Online-Einkäufen sowie die erklärte Absicht, die Vermarktung von Lebensmitteln von zweierlei Qualität zu ahnden (April 2018).

(15)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 66.

(16)  https://circulareconomy.europa.eu/platform/

(17)  http://ec.europa.eu/environment/industry/retail/about.htm

(18)  https://webgate.ec.europa.eu/flwp/

(19)  Im Rahmen des Projekts H2020 „PROMPT“ wird die Prüfung vorzeitiger Obsoleszenz getestet. Zudem sollen Vorschläge zur Verbesserung der Lebensdauer des Produkts (einschließlich der Reparatur) erarbeitet werden. Das Konsortium besteht aus Verbraucherorganisationen wie ANEC/BEUC/ICRT und Test Achats, UFC Que Choisir, OCU, Stiftung Warentest und Consumentenbond sowie Forschungseinrichtungen (TU Delft; Fraunhofer IZM) und Reparaturorganisationen (RUSZ, Ifixit).

(20)  Stellungnahme des EWSA „Für eine nachhaltige Zukunft Europas auf die Menschen hören (Sibiu und darüber hinaus)“, ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 37.

(21)  https://unfccc.int/process-and-meetings/the-paris-agreement/the-paris-agreement

(22)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 207.

(23)  Die von Marketingstrategien vorgegebenen Produktverpackungen sind häufig unverhältnismäßig und unangemessen.

(24)  Beispielsweise ist das Einpacken nicht verzehrter Reste von Mahlzeiten (doggy bag) in Südeuropa verpönt.

(25)  Siehe Abschlussbericht über ICT for Work: Digital Skills in the Workplace (IKT für den Job — Digitale Kompetenzen am Arbeitsplatz).


18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/17


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Besteuerung der digitalisierten Wirtschaft“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 353/04)

Berichterstatter: Krister ANDERSSON

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Beschluss des Plenums

15.2.2018

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

2.7.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

167/7/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA sieht in der Digitalisierung der Wirtschaft eine große Chance und in der Digitalen Agenda der EU einen zentralen Politikbereich der Europäischen Union. Da die Digitalisierung ein wichtiger Faktor für das globale Wirtschaftswachstum bleibt, ist der EWSA der Ansicht, dass mit Maßnahmen zur Besteuerung der digitalisierten Wirtschaft das Wirtschaftswachstum sowie der grenzüberschreitende Handel und Investitionen gefördert und nicht behindert werden sollten.

1.2.

Der EWSA hebt hervor, dass bei steuerlichen Regelungen neuen Geschäftsmodellen Rechnung getragen werden muss. Die Grundsätze eines fairen Steuersystems — Einheitlichkeit, Vorhersehbarkeit, Neutralität — sind auch in Zukunft für öffentliche Verwaltungen, Unternehmen und Verbraucher von Belang.

1.3.

Der Ausschuss unterstützt daher die Absicht der Kommission, weiterhin aggressive Steuerplanung von Unternehmen sowie Intransparenz seitens der Mitgliedstaaten zu verhindern, um eine Gleichbehandlung der Unternehmen und die Förderung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit zu gewährleisten.

1.4.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass im Rahmen der Digitalisierung der Wirtschaft etwaige Änderungen der Zuweisung der Gewinnbesteuerungsrechte zwischen den Staaten unter Anwendung geeigneter globaler Steuerungsmaßnahmen und Regelungen weltweit koordiniert werden müssen, um die Vorteile der Globalisierung besser zu nutzen. Der EWSA begrüßt daher die enge Zusammenarbeit zwischen der Kommission, den Mitgliedstaaten und der OECD/G20, um die Entwicklung einer Lösung auf internationaler Ebene voranzutreiben, mit der das Risiko einer internationalen Doppelbesteuerung begrenzt wird. Kann eine internationale Lösung jedoch nicht gefunden werden, muss die EU einen Alleingang in Erwägung ziehen.

1.5.

Der EWSA regt an, dass Mitgliedstaaten, die eigene nationale Systeme schaffen, mit Sorgfalt die effizientesten Lösungen auswählen, um zusätzliche Komplikationen und Kosten sowohl für die Steuerverwaltungen als auch für Unternehmen zu vermeiden.

1.6.

Der EWSA bestärkt die Kommission und die Mitgliedstaaten darin, sorgfältig alle Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen, um für Verkäufe in Mitgliedstaaten unabhängig vom Sitz des Unternehmens eine Unterbesteuerung digitaler Dienstleistungen zu verhindern. Dienstleistungen, die über Plattformen bereitgestellt und von europäischen Verbrauchern genutzt werden, sollten vollständig in das Mehrwertsteuersystem eingebunden werden, da es sich hierbei um ein wesentliches Element bei der Behandlung der Frage der Besteuerung handelt. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass Kunden digitaler Kommunikation (bspw. Facebook usw.) scheinbar kostenlos auf diese Dienste zugreifen, was die Frage aufwirft, wie die Mehrwertsteuer sinnvoll erhoben werden kann.

1.7.

Es könnte der für die Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) vorgeschlagene Zuweisungsschlüssel mit seinen drei Faktoren herangezogen und zunächst für die Zuweisung des Residualgewinns angewandt werden, wenn diese Methode im Rahmen der OECD vereinbart wird. Der EWSA befürwortet einen derartigen Ansatz.

1.8.

Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass die für Forschung und Entwicklung aufgewendeten Ressourcen für die Entwicklung immaterieller Güter wichtig sind und dass das Land, in dem solche Tätigkeiten stattfinden, dafür vergütet werden sollte. Dementsprechend schlägt der EWSA vor, für die Verteilung des Residualgewinns eine Formel mit vier Faktoren zu verwenden, statt der drei Faktoren, die in der GKKB-Formel berücksichtigt werden. Der EWSA erkennt uneingeschränkt an, dass die Berechnung der internationalen Besteuerungsrechte kompliziert ist. Gleichzeitig ist eine akzeptable und gerechte Zuweisung der Besteuerungsrechte zwischen den Ländern erforderlich.

1.9.

Soweit sich im Rahmen des bestehenden Verrechnungspreissystems keine Neuzuweisung internationaler Besteuerungsrechte erreichen lässt, spricht sich der EWSA für eine Verteilung der Residualgewinne aus immateriellen Vermögenswerten gemäß einer Vier-Faktoren-Formel aus.

1.10.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Größe von Märkten außerhalb Europas, insbesondere in Ländern wie China, Indien und Brasilien, würde die Zuweisung der Besteuerungsrechte für die gesamte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage oder auch nur für den gesamten Residualgewinn in zahlreichen Mitgliedstaaten erhebliche Einnahmeeinbußen nach sich ziehen, und europäische Staaten könnten dadurch Probleme bekommen, die Ziele im sozialen Bereich zu erreichen.

1.11.

Der EWSA hält es für notwendig, bei der Neuzuweisung der Rechte zur Erhebung von Körperschaftsteuern ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen Nettoexportländern und Nettoimportländern zu schaffen, damit kein Land Gefahr läuft, seine Ziele im sozialen und ökologischen Bereich nicht zu erreichen.

1.12.

Die vereinbarten Änderungen der internationalen Bestimmungen über die Zuweisung der Besteuerungsrechte zwischen den Ländern sollten für alle Mitgliedstaaten und den Binnenmarkt vorteilhaft sein.

2.   Hintergrund

2.1.

Die derzeit auf der Welt bestehenden Körperschaftsteuersysteme und die Bekämpfung von Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS, Base Erosion Profit Shifting) basieren auf einer Bewertung des Unternehmensgewinns nach dem Ort, an dem durch Tätigkeiten Gewinne erwirtschaftet werden und Wert geschaffen wird. Durch die Digitalisierung der Wirtschaftssysteme wurde allerdings die Frage aufgeworfen, wo die Gewinne erzielt und wie sie aufgeteilt werden. Allgemein gesagt können digitale Dienstleistungen über große Entfernungen bereitgestellt werden, ohne dass eine physische Präsenz am Ort der Nutzung erforderlich wäre.

2.2.

Infolge des BEPS-Projekts vollzieht sich im internationalen Steuersystem bereits ein tief greifender Wandel, der zahlreiche Änderungen bei der Besteuerung von Unternehmen nach sich zieht (1). Das BEPS-Projekt wurde eingeleitet, um Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung zu bekämpfen, nicht um geltende internationale Standards im Hinblick auf die Zuweisung von Besteuerungsrechten für grenzüberschreitendes Einkommen zwischen Staaten zu ändern (2).

2.3.

Maßnahme 1 von BEPS war auf die durch die digitale Wirtschaft entstehenden Herausforderungen ausgerichtet (3). Da kein Konsens über die Besteuerung dieser neuen Geschäftsmodelle erreicht wurde, wurde 2018 vom Inclusive Framework on BEPS (Inklusiver Rahmen gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung) der OECD/G20 ein Zwischenbericht herausgegeben (4). In diesem Bericht wird die vereinbarte Arbeitsrichtung des Inklusiven Rahmens im Bereich Digitalisierung und internationale Steuerregelungen bis 2020 dargelegt. Es wird erläutert, wie sich die Digitalisierung auch auf andere Bereiche des Steuersystems auswirkt, und Steuerbehörden werden neue Instrumente an die Hand gegeben, mit denen sich die Dienstleistungen für Steuerzahler verbessern, die Effizienz des Steuereinzugs steigern und Steuervermeidung erkennen lassen.

2.4.

Am 13. Februar 2019 hat die OECD ein Dokument für die öffentliche Konsultation mit dem Titel „Addressing the Tax Challenges of the Digitalisation of the Economy“ (Steuerliche Herausforderungen durch die Digitalisierung der Wirtschaft) herausgegeben (5). Darin werden die Vorschriften zur Zuordnung von Gewinnen und zu den steuerlichen Anknüpfungsmerkmalen sowie ein Vorschlag zur weltweiten Bekämpfung von Gewinnverkürzung erörtert.

2.5.

Für 2020 wird ein Abschlussbericht der OECD/des Inklusiven Rahmens erwartet. Die Finanzminister der USA und Frankreichs haben allerdings bereits bekundet, dass sie die Gespräche im Rahmen der OECD beschleunigen möchten, um bereits im Verlauf von 2019 eine Lösung zu finden (6). Die USA haben einen Vorschlag vorgelegt, nach dem die Hoheitsgebiete der jeweiligen Märkte Erträge für die in diesem Hoheitsgebiet genutzten marketingbezogenen immateriellen Güter besteuern dürfen, auch wenn die Investitionen für die Entwicklung dieser marketingbezogenen immateriellen Güter in anderen Ländern getätigt wurden. Zudem gibt es einen deutsch-französischen Vorschlag für einen Mindestsatz bei der Körperschaftsteuer. Diese Stellungnahme des EWSA sollte als Beitrag zu der laufenden Debatte angesehen werden.

2.6.

Die Kommission hat bereits 2014 einen Bericht zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft (7) herausgegeben. Die Hochrangige Expertengruppe „Besteuerung der digitalen Wirtschaft“ kam zu dem Schluss, dass die digitale Technologie Europa hervorragende Chancen bietet. Europa könne seine Wachstums- und Beschäftigungsaussichten verbessern, wenn es den digitalen Binnenmarkt verwirklicht und das digitale Potenzial des Europäischen Binnenmarkts erschließt. Die Expertengruppe hat die Grundsätze, denen die internationale Besteuerung unterliegen sollte, intensiv diskutiert.

2.7.

Diese Grundsätze sind auch für diese Stellungnahme wichtig. Die Expertengruppe gelangte zu dem Schluss, dass es keine besonderen Steuerregelungen für digitale Unternehmen geben sollte. Vielmehr sollten die allgemeinen Vorschriften angewandt oder so angepasst werden, dass „digitale“ Unternehmen auf die gleiche Weise wie andere Unternehmen behandelt werden.

2.8.

Die Kommission hat am 21. März 2018 eine Mitteilung mit dem Titel „Zeit für einen modernen, fairen und effizienten Steuerstandard für die digitale Wirtschaft“ veröffentlicht und darin ihr Legislativpaket für eine Reform zur Harmonisierung der Körperschaftsteuer-Vorschriften der EU für digitale Tätigkeiten vorgestellt. Das Paket umfasst zwei Richtlinien des Rates und eine nicht verbindliche Empfehlung in Bezug auf die Unternehmensbesteuerung einer signifikanten digitalen Präsenz.

2.9.

Im Juli 2018 verabschiedete der EWSA unter dem Titel „Besteuerung der Gewinne multinationaler Konzerne in der digitalen Wirtschaft“ eine Stellungnahme zu den Kommissionsvorschlägen (8), in der auf die negativen Auswirkungen umsatzbasierter Steuern und die Notwendigkeit eines internationalen Konsenses eingegangen wurde.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA sieht in der Digitalisierung der Wirtschaft eine große Chance und in der Digitalen Agenda der EU einen zentralen Politikbereich der Europäischen Union. Da die Digitalisierung ein wichtiger Faktor für das globale Wirtschaftswachstum bleibt, ist der EWSA der Ansicht, dass mit Maßnahmen zur Besteuerung der digitalisierten Wirtschaft das Wirtschaftswachstum sowie der grenzüberschreitende Handel und Investitionen gefördert und nicht behindert werden sollten.

3.2.

Das Internet bietet Unternehmen den Zugang zu Märkten, ohne dass sie dort eine Präsenz haben müssten — ein Merkmal, das insbesondere kleinen Unternehmen hilft, in nie da gewesenem Maß zu exportieren. Im Zuge der Digitalisierung wächst auch die Bedeutung immaterieller Vermögenswerte, etwa von geistigem Eigentum und Daten.

3.3.

Der EWSA hebt hervor, dass bei steuerlichen Regelungen neuen Geschäftsmodellen Rechnung getragen werden muss. Die Grundsätze eines fairen Steuersystems — Einheitlichkeit, Vorhersehbarkeit, Neutralität — sind auch in Zukunft für öffentliche Verwaltungen, Unternehmen und Verbraucher von Belang.

3.4.

Der EWSA misst gleichen Wettbewerbsbedingungen im Bereich der Besteuerung von Unternehmensgewinnen sehr große Bedeutung bei. In den letzten Jahren ist es einzelnen Unternehmen gelungen, die in einigen Mitgliedstaaten geltenden besonderen Steuerregelungen so in Anspruch zu nehmen, dass der effektive Steuersatz gegen Null tendierte. Die mangelnde Transparenz hat dazu beigetragen. In einigen Fällen waren multinationale Unternehmen im Bereich digitaler Dienstleistungen daran beteiligt.

3.5.

Der Ausschuss unterstützt daher die Absicht der Kommission, weiterhin aggressive Steuerplanung sowohl digitaler als auch herkömmlicher Unternehmen sowie Intransparenz seitens der Mitgliedstaaten zu verhindern, um eine Gleichbehandlung der Unternehmen und die Förderung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit zu gewährleisten.

3.6.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass etwaige Änderungen der Zuweisung der Gewinnbesteuerungsrechte zwischen den Staaten weltweit unter Anwendung geeigneter globaler Steuerungsmaßnahmen und Regelungen erfolgen müssen, um die Vorteile der Globalisierung besser zu nutzen. Der EWSA begrüßt daher die enge Zusammenarbeit zwischen der Kommission, den Mitgliedstaaten und der OECD/G20, um die Entwicklung einer Lösung auf internationaler Ebene voranzutreiben. Kann eine internationale Lösung jedoch nicht gefunden werden, muss die EU einen Alleingang in Erwägung ziehen.

3.7.

Der EWSA regt an, dass Mitgliedstaaten, die eigene nationale Systeme schaffen, mit Sorgfalt die effizientesten Lösungen auswählen, um zusätzliche Komplikationen und Kosten sowohl für die Steuerverwaltungen als auch für Unternehmen zu vermeiden.

3.8.

Der EWSA weist darauf hin, dass digitale Technologien ebenfalls das Potenzial haben, die Compliance und Ermittlungsarbeit zu revolutionieren. Die OECD hat in ihrem Bericht von 2018 (9) aufgezeigt, dass die Digitalisierung bereits in dreifacher Hinsicht positive Auswirkungen auf die Steuerverwaltung hatte: durch verbesserte Einhaltung der Steuervorschriften, verbesserte Dienstleistungen für die Steuerzahler und weniger Aufwand zur Einhaltung der Steuervorschriften.

3.9.

Da den Steuerbehörden mehr Daten von Dritten zur Verfügung stehen, lässt sich das Berichtswesen stärker automatisieren, wodurch Zeit und Geld gespart wird. Außerdem können die Daten genutzt werden, um Meldedefizite, Steuervermeidung und Steuerbetrug zu bekämpfen. Mehrere Steuerverwaltungen haben Datenerfassungssoftware eingeführt, mit denen zum Zeitpunkt einer Transaktion Verkaufsdaten aufgezeichnet werden — und direkt an die Steuerverwaltungen übermittelt werden können. Dadurch wurden in manchen Ländern die Mehrwertsteuereinnahmen bereits erheblich gesteigert.

3.10.

Bei der Beurteilung des tatsächlichen Besteuerungsniveaus der digitalen Wirtschaft müssen nach Ansicht des EWSA die Änderungen in den Steuervorschriften im Zuge der Umsetzung der BEPS-Regeln berücksichtigt werden, da dies in der Tat dazu führen kann, dass in der EU mehr Einnahmen besteuert werden.

4.   Mögliche weitere Schritte?

4.1.

Nicht in allen Ländern der Welt gibt es eine Mehrwertsteuer. Allerdings gibt es sie in allen Staaten der EU. Grundsätzlich sollte der Verbrauch aller Waren und Dienstleistungen, soweit sie nicht ausdrücklich von der Besteuerung ausgenommen sind, der Mehrwertsteuerunterliegen. Die Mehrwertsteuereinnahmen stellen im EU-Haushalt ein Eigenmittel dar, und der EWSA erachtet es als wichtig, dass digitale Dienstleistungen nicht von der Steuerbemessung ausgenommen sind.

4.2.

Der EWSA bestärkt die Kommission und die Mitgliedstaaten darin, sorgfältig alle Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen, um für Verkäufe in Mitgliedstaaten unabhängig vom Sitz des Unternehmens eine Unterbesteuerung digitaler Dienstleistungen zu verhindern. Dienstleistungen, die über Plattformen bereitgestellt werden und von europäischen Kunden genutzt werden, sollten vollständig in das Mehrwertsteuersystem eingebunden werden. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass Kunden digitaler Kommunikation (bspw. Facebook usw.) scheinbar kostenlos auf diese Dienste zugreifen, was die Frage aufwirft, wie die Mehrwertsteuer sinnvoll erhoben werden kann.

4.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass die derzeit in der Welt existierenden Körperschaftsteuersysteme auf der Bewertung der Unternehmensgewinne und ihrer Zuordnung zu den einzelnen Hoheitsgebieten beruhen. Die Besteuerung sollte danach erfolgen, wo die Wertschöpfung stattfindet. Da sich nur schwer sagen lässt, wo genau in der Wertschöpfungskette der Gewinn entsteht, sind universelle Grundsätze zur Ermittlung des Ortes der Wertschöpfung erforderlich. Solche Regeln wurden im Rahmen der umfassenden Arbeiten der OECD entwickelt, wobei steuerliche Grundsätze und Definitionen für die Bepreisung von Waren und Dienstleistungen (Vorschriften über die Verrechnungspreisgestaltung) für die Unternehmen innerhalb einer Gruppe festgelegt wurden.

4.4.

Nach Ansicht des EWSA müssen die internationalen Steuervorschriften im Zuge der Entwicklung der Geschäftsmodelle regelmäßig überprüft werden. Die derzeitigen Vorschriften sind erst vor Kurzem im Zusammenhang mit der BEPS-Initiative überarbeitet worden (10). Die neuen Vorschriften und Definitionen befinden sich derzeit in der Umsetzungsphase. Sie dürften die Möglichkeiten für aggressive Steuerplanung und Gewinnverkürzung wesentlich einschränken.

4.5.

Es kann zu einem Residualgewinn (oder -verlust) kommen, wenn durch marketing- oder produktbezogene immaterielle Güter nichtroutinemäßige Gewinne anfallen. Ein Residualgewinn kann zum Beispiel durch die Nutzung von Kundenlisten oder erfassten Daten entstehen. Das Konzept ist keinesfalls neu, und es könnte nicht nur für die Aufteilung der Gewinne zwischen den beteiligten Parteien, sondern auch zur Aufteilung der Besteuerungsrechte zwischen Staaten genutzt werden. Hierfür wäre es allerdings nötig, eine neue Denkweise anzunehmen und die Möglichkeit der Zuweisung der Besteuerungsrechte im Einklang mit der Wertschöpfung zu prüfen, selbst wenn in dem betroffenen Land keine dauerhafte physische Niederlassung besteht. Unter anderem darüber wird bei der OECD nachgedacht.

4.6.

Der EWSA weist darauf hin, dass es bei der Diskussion über die Besteuerung sogenannter digitaler Unternehmen nicht hauptsächlich um Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung seitens Unternehmen geht, sondern um die Aufteilung von Besteuerungsrechten zwischen Ländern.

4.7.

Ein Residualgewinn (oder Residualverlust) lässt sich als der Gewinn (oder Verlust) beschreiben, der verbucht wird, nachdem jede Partei im Einklang mit dem Fremdvergleichsgrundsatz (11) (Marktpreise als Grundlage) für ihre regulären Beiträge vergütet wurde. Zunächst wäre eine angemessene Marktbewertung der verbundenen Risiken, des durch Produktionsfaktoren geschaffenen Werts und der ausgeführten Funktionen erforderlich.

4.8.

Der Verkauf ist in der Regel kein entscheidender Faktor für die Zuweisung von Gewinnen an die an einer Transaktion beteiligten Unternehmen. Wenn allerdings die geltenden internationalen Regeln angewandt werden — Zuweisung des Gewinns an jedes Unternehmen nach den OECD-Leitlinien zu Verrechnungspreisen —, könnte der Residualgewinn auf die Länder aufgeteilt werden, in denen die Funktionen ausgeführt wurden. Eine dieser Funktionen könnte „Verkauf“ sein.

4.9.

Es könnte der für die Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) vorgeschlagene Zuweisungsschlüssel mit seinen drei Faktoren (12) herangezogen und für die Zuweisung des Residualgewinns angewandt werden (13).

4.10.

Es lässt sich allerdings argumentieren, dass die für Forschung und Entwicklung aufgewendeten Ressourcen für die Entwicklung immaterieller Güter wichtig sind und dass das Land, in dem solche Tätigkeiten stattfinden, dafür vergütet werden sollte (14). Dazu wäre eine aus vier Faktoren bestehende Formel erforderlich, anstatt drei wie in der GKKB-Formel.

4.11.

Soweit sich im Rahmen des bestehenden Verrechnungspreissystems keine Neuzuweisung internationaler Besteuerungsrechte erreichen lässt, spricht sich der EWSA für eine Verteilung der Residualgewinne aus immateriellen Vermögenswerten gemäß einer Vier-Faktoren-Formel aus.

4.12.

Beträgt der Residualgewinn 30 (von einem Gesamtgewinn für die Gruppe von 100) und ist die Produktion im Hinblick auf die Wertschöpfung gleichmäßig auf Land A und Land B aufgeteilt, würden diese Länder jeweils einen Anteil von 35 besteuern (15). Da das Produkt im selben Umfang auch in Land C verkauft wird, würde der Residualgewinn zwischen A, B und C aufgeteilt. Die Länder A und B würden eine zusätzliche Bemessungsgrundlage von 13 3/4 erhalten, während C berechtigt wäre, 2 1/2 zu besteuern (16).

4.13.

Der EWSA erkennt uneingeschränkt an, dass die Berechnung der internationalen Besteuerungsrechte zwischen Ländern kompliziert ist. Es müsste der Umfang des Residualwerts berechnet und zwischen den Ländern vereinbart werden. Außerdem müsste der Umfang jedes dieser vier Faktoren im Zuweisungsschlüssel bekannt sein. Die Anwendung einer angepassten GKKB-Formel könnte als ein Schritt gesehen werden, Akzeptanz für die GKKB zu schaffen.

4.14.

Mit der GKKB-Formel würden Ländern ohne Innovationen, Produktion, Risiken und Funktionen Rechte zur Körperschaftsbesteuerung zugewiesen. So würde die bloße Tatsache, dass in einem Land Verkäufe getätigt werden, eine Bemessungsgrundlage bilden, ohne dass in diesem Land andere Tätigkeiten stattfänden. Dies stellt eine bedeutende Änderung gegenüber den geltenden Regelungen dar. Da die GKKB-Formel jedoch nur auf den Residualgewinn und nicht auf den gesamten Gewinn angewandt wird, würde dem legitimen Recht der exportierenden Länder Rechnung getragen, einen Teil des Besteuerungsrechts zu behalten. Der durch Unternehmergeist und Innovation geschaffene Wert kann aufgrund der Kosten für Forschung und Entwicklung Steuervergünstigungen nach sich ziehen, wird das Unternehmen allerdings rentabel, erhält das jeweilige Land Steuereinnahmen.

4.15.

Sollte kein OECD-Abkommen abgeschlossen werden, empfiehlt der EWSA der neuen Kommission, einen neuen Vorschlag für die Besteuerung dieser Unternehmen in der EU auf der Grundlage bereits verfügbarer Daten — z. B. Gesamtwerbezeit während der Verbindungsdauer der Kunden usw. — vorzulegen.

4.16.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Größe von Märkten außerhalb Europas, insbesondere in Ländern wie China, Indien und Brasilien, würde die Zuweisung der Besteuerungsrechte für die gesamte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage oder auch nur für den gesamten Residualgewinn (17) in zahlreichen Mitgliedstaaten erhebliche Einnahmeeinbußen nach sich ziehen, und europäische Staaten könnten dadurch Probleme bekommen, die Ziele im sozialen Bereich zu erreichen.

4.17.

Einer Studie von Copenhagen Economics zufolge könnten Länder, die Nettoexporteure sind, bei der Körperschaftsteuer beträchtliche Einnahmen verlieren, wenn ein Teil des Gewinns dort besteuert wird, wo die Waren und Dienstleistungen verkauft werden. (18) Nach einer konservativen Schätzung entstammten 2017 18–21 % der aktuellen Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage der nordischen Staaten aus ausländischen Residualgewinnen. Bei Deutschland wird der Anteil auf 17 % geschätzt. Würde der Ansatz der marketingbezogenen immateriellen Güter eingeführt, würde der Großteil dieser Einnahmen aus der Körperschaftsteuer anderen Ländern zugeordnet.

4.18.

Der EWSA hält es für notwendig, bei der Neuzuweisung der Rechte zur Erhebung von Körperschaftsteuern ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen Nettoexportländern und Nettoimportländern zu schaffen.

4.19.

Würden europäische Unternehmen hauptsächlich danach besteuert, wo sie ihre Produkte verkaufen, könnten sie ihre Geschäftstätigkeit auch so ausrichten, dass die Kosten im Land des Verkaufs anfallen. Dies könnte dazu führen, dass Investitionen und Arbeitsplätze in Länder mit größerem Verbrauch wie China und Indien verlagert werden, was in den Mitgliedstaaten zu weiteren Einnahmeverlusten führen würde. Eine solche Entwicklung muss vermieden und die Wettbewerbsfähigkeit Europas sichergestellt werden.

4.20.

Der EWSA hebt hervor, dass weltweit ein neues System oder neue Regelungen über die Zuweisung von Besteuerungsrechten zwischen Staaten vereinbart und eingeführt werden müssen. Ohne diese Bedingungen wären Doppelbesteuerung und damit weniger Investitionen und Arbeitsplätze die Folge.

Brüssel, den 17. Juli 2019.

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  OECD. BEPS 2015 Final Reports.

(2)  Nach Angaben der Kommission belaufen sich die Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung durch Unternehmen in der EU auf ein Volumen von 50-70 Mrd. EUR, was knapp 0,4 % des BIP der EU entspricht. SWD(2018) 81 final.

(3)  OECD. BEPS Addressing the Tax Challenges of the Digital Economy, Action 1: 2014 Deliverable (BEPS: Steuerliche Herausforderungen durch die digitale Wirtschaft, Maßnahme 1: 2014, Ergebnis).

(4)  OECD. Tax Challenges Arising from Digitalisation (Steuerliche Herausforderungen der Digitalisierung) — Zwischenbericht 2018: Inclusive Framework on BEPS (Inklusiver Rahmen gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung), BEPS-Projekt der OECD/G20 (OECD Publishing 16. März 2018); OECD.

(5)  Dokument für die öffentliche Konsultation „Addressing the Tax Challenges of the Digitalisation of the Economy“ (Steuerliche Herausforderungen durch die Digitalisierung der Wirtschaft), OECD.

(6)  Der Financial Times zufolge wollen die USA und Frankreich schnell dafür sorgen, dass globale Technologieunternehmen Steuern zahlen. So seien sich die Finanzminister darüber einig, dass ein internationaler Mindestsatz bei der Körperschaftsteuer erforderlich ist (Financial Times, 28. Februar 2019).

(7)  Expertengruppen der Kommission zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft, 28.5.2014. Der Gruppe unter dem Vorsitz von Vítor Gaspar, früherer Finanzminister Portugals, gehörten sechs Experten aus ganz Europa unterschiedlichen Profils mit themenbezogenen Fachkenntnissen an.

(8)  Stellungnahme des EWSA zur Besteuerung der Gewinne multinationaler Unternehmen in der digitalen Wirtschaft, ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 73.

(9)  Tax Challenges Arising from Digitalisation — Interim Report 2018.

(10)  OECD 2015.

(11)  Zur Definition siehe Verrechnungspreise in der EU.

(12)  Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (COM(2016) 685 final — C8-0472/2016-2016/0337(CNS)). Nach der Folgenabschätzung der Kommission ergibt sich die Auswahl der drei Faktoren daraus, dass sowohl die Produktionssituation (Angebotsseite, gemessen nach Vermögenswerten und/oder Lohnkosten) als auch die Nachfragesituation (Verkauf an Bestimmungsort) berücksichtigt werden müssen, um die wirtschaftliche Aktivität angemessen zu beschreiben. Verkäufe werden mit einem Drittel gewichtet, Lohnkosten mit einem Sechstel, die Anzahl der Beschäftigten mit einem Sechstel und Vermögenswerte mit einem Drittel. Die Summe dieser Gewichtungen ist 1, sodass 100 % der GKKB auf die Mitgliedstaaten aufgeteilt werden. Anschließend können die Mitgliedstaaten auf ihren jeweiligen Anteil an den Bemessungsgrundlagen ihre nationalen Körperschaftsteuersätze anwenden. SWD(2016) 341 final.

(13)  Es sei darauf hingewiesen, dass Unternehmen mit sozialen Zielen, wie bestimmte mit der jeweiligen lokalen Gemeinschaft verbundene Genossenschaften, die Wertschöpfung auf direktere Weise verteilen und dass der Zuweisungsschlüssel daher ggf. nicht unmittelbar auf sie anwendbar ist.

(14)  Sollten Länder, die eine gute Infrastruktur und umfangreiche FuE-Anreize bereitstellen, keinen fairen Anteil an den Körperschaftsteuereinnahmen erhalten, nähme die Motivation dieser Länder zur Schaffung eines günstigen Investitionsumfelds ab oder verschwände sogar ganz.

(15)  Der „normale“ Gewinn wäre 70.

(16)  Nach der Vergütung im Einklang mit dem Fremdvergleichsgrundsatz wäre der verbleibende Gewinn 30. Nach Hinzufügung eines FuE-Faktors (R) zum Vorschlag über die GKKB wären die Faktoren im Zuweisungsschlüssel Kapital — K, Arbeit — L (für „Labour“), Verkauf — S (für „Sales“) und R. Sie sind gleich gewichtet (jeweils 1/4). Bei 3 Ländern sind 12 Komponenten zu berücksichtigen. In Verbindung mit Land C gibt es allerdings nur eine Komponente: Verkauf. Die übrigen 11 Komponenten sind gleichmäßig auf A und B aufgeteilt, d. h. jeweils 5 1/2 (5,5/12 * 30) = 13 3/4. Die Bemessungsgrundlage für Land C ist (1/12 * 30) = 2 1/2. Für die Länder A und B setzt sich die zusätzliche Bemessungsgrundlage von 13 3/4 aus 3 3/4 für K, 3 3/4 für L und 3 3/4 für R (insgesamt 7 1/2 für K, 7 1/2 für L und 7 1/2 für R) und jeweils 2 1/2 für S zusammen. Insgesamt macht S ebenfalls 7 1/2 aus.

(17)  Würde die gesamte Bemessungsgrundlage ausschließlich auf dem Verkauf basieren, würde Land C in dem Beispiel oben eine Bemessungsgrundlage von 25 zugeordnet. Würde auf der Grundlage der Verkaufskomponente nur der Residualwert zugeordnet, wäre die entsprechende Bemessungsgrundlage für Land C 7,5.

(18)  „Future Taxation of Company profits — What to do with Intangibles?“ (Künftige Besteuerung von Unternehmensgewinnen — Was tun mit immateriellen Gütern) von Sigurd Næss-Schmidt, Palle Sørensen, Benjamin Barner Christiansen, Vincenzo Zurzolo, Charlotta Zienau, Jonas Juul Henriksen und Joshua Brown, Copenhagen Economics, 19. Februar 2019.


18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/23


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu „Eine krisenfestere und nachhaltige europäische Wirtschaft“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 353/05)

Berichterstatter: Javier DOZ ORRIT

Beschluss des Plenums

24.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

2.7.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

169/4/6

Vorbemerkung

Diese Stellungnahme ist Teil eines Pakets, das aus zwei parallel erarbeiteten Initiativstellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) besteht: Eine krisenfestere und nachhaltige europäische Wirtschaft und Eine neue Vision für die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion. Das Paket dient als unmittelbarer Beitrag zur wirtschaftspolitischen Agenda des neuen Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission, deren Mandatsperiode 2019 beginnt. Eine neue wirtschaftspolitische Strategie ist eindeutig erforderlich: Es bedarf eines positiven Narrativs für die künftige Entwicklung der EU-Wirtschaft im breiteren internationalen Umfeld. Dadurch könnte die Widerstandsfähigkeit der EU gegenüber wirtschaftlichen Schocks und die — ökonomische, soziale und ökologische — Nachhaltigkeit des europäischen Wirtschaftsmodells gestärkt werden. Zudem würde so Vertrauen zurückgewonnen und Stabilität und gemeinsamer Wohlstand für alle Europäerinnen und Europäer geschaffen werden. Diese Strategie, die auf dem in den letzten Jahren erzielten Fortschritt aufbaut, könnte den Weg für eine weitere wirtschaftliche, fiskalische, finanzielle, soziale und politische Integration ebnen. Dies ist notwendig, um die Ziele der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zu erreichen.

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die europäische Integration befindet sich an einem Scheideweg. Die jüngste, lang anhaltende Wirtschaftskrise und die gravierenden gesellschaftlichen Auswirkungen in mehreren Mitgliedstaaten zeigen, dass fehlende wirtschaftliche und soziale Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten und Regionen die politische Nachhaltigkeit des europäischen Projekts bedroht. Alle Vorteile dieses Projekts für die Bürgerinnen und Bürger Europas stehen auf dem Spiel.

1.2.

Angesichts des anthropogenen Klimawandels und der Überschreitung zahlreicher Belastungsgrenzen unseres Planeten muss unser Produktions- und Konsummodell überarbeitet werden. In Übereinstimmung mit dem auf der COP 21 abgeschlossenen Übereinkommens von Paris und den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDG) hat es sich die EU zum Ziel gesetzt, bis 2050 über eine klimaneutrale Wirtschaft zu verfügen. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es eines umfassenden und kohärenten politischen Rahmens.

1.3.

Die Schaffung eines krisenfesten Wirtschafts- und Arbeitsmarkts im Rahmen wirtschaftlicher, sozialer, ökologischer und institutioneller Nachhaltigkeit sollte das Leitmotiv einer Politik sein, die auf Aufwärtskonvergenz und Gerechtigkeit während des Übergangs zu einer klimaneutralen Wirtschaft (d. h. einer Wirtschaft, in der Treibhausgasemissionen und -absorptionen ausgeglichen sind) abzielt und gleichzeitig die Herausforderungen von Digitalisierung und demografischem Wandel bewältigt.

1.4.

Zwecks Realisierung einer Wirtschaftspolitik, mit der Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitsmarkt krisenfester gemacht werden, sollte die Stärkung der institutionellen Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) weiterhin und verstärkt angestrebt werden. Die Schaffung einer Fiskalkapazität für das Euro-Währungsgebiet, die Reform der geltenden Haushaltsregeln, um öffentliche Investitionen in Abschwungphasen aufrechtzuerhalten, die Einrichtung einer sicheren gemeinsamen EU-Anlage sowie die Vollendung der Banken- und der Kapitalmarktunion sollten, zumindest in kleinen Schritten, vorangetrieben werden. Darüber hinaus sollten Maßnahmen gefördert werden, mit denen ein unlauterer Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten verhindert wird.

1.5.

Zum Abbau sozialer Schwachstellen und damit zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit sind wirksame europäische und einzelstaatliche Maßnahmen erforderlich, mit denen die aktuelle Entwicklung hin zu wachsender Ungleichheit sowohl im Hinblick auf Chancen als auch auf Ergebnisse umgekehrt werden kann.

1.6.

Es gilt, ein Konzept zum gerechten Übergang zu erarbeiten, um das Ziel einer kohlenstoffneutralen EU-Wirtschaft bis zum Jahr 2050 zu erreichen. In diesem Zusammenhang muss die solidarische Verteilung der Auswirkungen der Klimapolitik und die Zukunftsorientierung der Arbeitsmarktübergänge mit umfassender Beteiligung der Sozialpartner gestaltet werden. Eine nachhaltige Wirtschaft sollte alle drei Dimensionen von Nachhaltigkeit in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht umfassen.

1.7.

Die Mitgliedstaaten sollten Maßnahmen zur Verwirklichung der europäischen Säule sozialer Rechte ergreifen, indem sie entsprechende Gesetzgebungsinitiativen auf nationaler Ebene umsetzen und für eine angemessene Finanzierung sorgen. Die EU sollte sich im Rahmen des neuen Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) 2021-2027 an dieser Finanzierung beteiligen.

1.8.

Die nachhaltige Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft, also der Fähigkeit, Produktivität und Lebensstandards in Europa zu steigern und gleichzeitig Klimaneutralität zu erreichen, insbesondere durch Forschung, Entwicklung sowie mehr und besser qualifizierte Arbeitskräfte, sollte diese Initiativen ergänzen.

1.9.

Bei der Einigung über Umfang und Form des kommenden MFR sollte die Notwendigkeit der Entwicklung von Widerstandsfähigkeit und einer nachhaltigen Wirtschaft berücksichtigt werden.

1.10.

Da die verschiedenen Aspekte einer krisenfesten und nachhaltigen Wirtschaft miteinander verknüpft sind, sollte die Beteiligung von Vertretungsorganisationen der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft an der Politikgestaltung und den Umsetzungszyklen auf eine förmliche Grundlage gestellt und ggf. auf einzelstaatlicher sowie europäischer Ebene gestärkt werden.

1.11.

Die europäischen Institutionen und die Mitgliedstaaten sollten mithilfe des Europäischen Semesters, des MFR 2021-2027 sowie weiterer Legislativ- und Steuerungsinstrumente ein kohärentes Aktionsprogramm erarbeiten, mit dem die Schlüsselfaktoren für wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit in der gesamten EU und die diesbezügliche Konvergenz der Mitgliedstaaten gefördert und gestärkt werden.

2.   Eine krisenfestere und nachhaltige europäische Wirtschaft

2.1.

Das Ziel größerer Widerstandsfähigkeit gegenüber (wirtschaftlichen) Schocks hat in (wirtschafts-)politischen Debatten in der EU und insbesondere im Euro-Währungsgebiet immer mehr an Bedeutung gewonnen. Dies liegt unter anderem an den anhaltenden negativen Auswirkungen der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrisen auf Wirtschaft, Gesellschaft und Politik mehrerer Mitgliedstaaten der EU. Weitere Gründe sind aber auch die absehbaren und tief einschneidenden Folgen der vierten industriellen Revolution für die europäische Wirtschaft und Gesellschaft und die unbedingte Notwendigkeit, den Klimawandel zu bekämpfen und die Belastungsgrenzen unseres Planeten nicht zu überschreiten.

2.1.1.

Im Kontext der WWU bedeutet wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit laut der von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Definition die Fähigkeit eines Landes, einen Schock abzufedern und das (Wachstums-)Potenzial nach Beginn der Rezession rasch wiederherzustellen (1).

2.1.2.

In dem Bericht der fünf Präsidenten und dem Reflexionspapier der Kommission zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion wird festgehalten, dass die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets mehr Konvergenz bezüglich krisenfesteren wirtschaftlichen und sozialen Strukturen erreichen sollten um zu verhindern, dass wirtschaftliche Schocks erhebliche und anhaltende Auswirkungen auf Einkommens- und Beschäftigungsniveaus haben. Damit sollen Konjunkturschwankungen verringert, und insbesondere tiefe und lang andauernde Rezessionen werden.

2.1.3.

Bekanntlich müssen zwar im Sinne einer stabilen Erholung der Wirtschaft anhaltende Beeinträchtigungen vermieden oder wirksam bekämpft werden. Aufgrund der zyklischen und strukturellen Beschaffenheit von Veränderungen ist es jedoch nicht immer notwendig, den vor dem Schock bestehenden Zustand (oder Wachstumspfad) des Wirtschaftssystems wiederherzustellen. Beispielsweise werden die anstehende vierte industrielle Revolution und der Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft wohl zu neuen Wirtschaftsmodellen führen. Entscheidend ist, dass politische Institutionen und soziale Akteure darauf vorbereitet sind, auf diese Veränderungen zu reagieren, deren Folgen absehen können und die Transformationsprozesse zu steuern.

2.1.4.

Widerstandsfähige Wirtschaftssysteme können unterschiedlich aussehen. Sie können beispielsweise eine geringe Anfälligkeit gegenüber bestimmten Arten von Schocks (z. B. makroökonomische oder finanzielle Schocks) aufweisen. Werden sie tatsächlich von einem Schock erfasst, können widerstandsfähige Wirtschaftssysteme die Auswirkungen dadurch abfedern, dass die Folgen für die Produktions- und Beschäftigungsniveaus minimiert werden und/oder durch Anpassungen der Wirtschaft eine rasche Erholung herbeigeführt wird. Verschiedene Arten und Kombinationen politischer Maßnahmen können zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit genutzt werden, d. h. Maßnahmen zu Vorbereitung, Vorbeugung, Schutz, Förderung (des Wandels) und Transformation. Eine im Verhältnis zum BIP hohe öffentliche Verschuldung kann Probleme im Hinblick auf die Widerstandsfähigkeit aufwerfen. Sie kann einerseits eine erhöhte Krisenanfälligkeit verursachen und anderseits die Reaktionsfähigkeit der Mitgliedstaaten bei negativen Schocks einschränken.

2.1.5.

Die verschiedenen Wege zur Erreichung wirtschaftlicher Widerstandsfähigkeit haben sehr unterschiedliche Auswirkungen auf das Wohlergehen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Das Wohlergehen der Arbeitnehmer hängt weitgehend ab von der Stabilität, Sicherheit und gleichmäßigen Verteilung ihrer Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Daher sollte eine Politik begünstigt werden, die sowohl wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit als auch einen krisenfesten Arbeitsmarkt fördert. Diese Widerstandsfähigkeit wird definiert als seine Fähigkeit, einen wirtschaftlichen Schock mit begrenzten negativen Auswirkungen auf das Wohlergehen der Arbeitnehmer zu überstehen. Der zunehmende Anteil prekärer atypischer Beschäftigungsverhältnisse an allen neuen Arbeitsplätzen zeigt allerdings deutlich, dass die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft und die des Arbeitsmarktes nicht zwangsläufig übereinstimmen. Die Qualität der Beschäftigung ist ein die Widerstandsfähigkeit bestimmender Faktor, sowohl im Hinblick auf die Anfälligkeit bzw. Resistenz als auf die im Hinblick auf die Erholung.

2.2.

Die Schaffung einer nachhaltigeren europäischen Wirtschaft ist ein politisches Ziel der EU. Gemäß der langfristigen strategischen Vision der Juncker-Kommission für eine „wohlhabende, moderne, wettbewerbsfähige und klimaneutrale EU-Wirtschaft bis 2050“, gestützt unter anderem auf die SDG, soll eine nachhaltige Wirtschaft sowohl die wirtschaftliche als auch die soziale und ökologische Dimension von Nachhaltigkeit umfassen.

2.2.1.

Wirtschaftliche Nachhaltigkeit wird allgemein als die Fähigkeit einer Wirtschaft definiert, ein festgelegtes wirtschaftliches Produktionsniveau auf unbestimmte Zeit zu erhalten. Dabei geht es um die Vermeidung großer makroökonomischer Ungleichgewichte. Im Rahmen des wirtschaftspolitischen Koordinierungsprozesses der EU, und insbesondere des Europäischen Semesters werden die beiden Konzepte „nachhaltige Wirtschaft“ und „wirtschaftliche Nachhaltigkeit“ häufig gleichgesetzt, im Grunde jedoch der letztgenannte Ansatz verfolgt, der dem breiter gefassten Konzept der nachhaltigen Wirtschaft nicht ganz gerecht wird. So heißt es im Reflexionspapier der Kommission mit dem Titel „Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Europa bis 2030“: „Gesunde öffentliche Haushalte und moderne Volkswirtschaften sind von zentraler Bedeutung; die Fortschritte auf dem Weg zu einer soliden Finanzpolitik und Strukturreformen haben zu einer Verringerung des Schuldenstands und zur Schaffung von Arbeitsplätzen geführt“ (2).

2.2.2.

Die Krise und das politische Krisenmanagement haben zu großen Rückschritten beim sozialen Zusammenhalt mit negativen politischen Folgen geführt. Die soziale Nachhaltigkeit wird durch wachsende Ungleichheit sowohl im Hinblick auf Chancen als auch auf Ergebnisse gefährdet — in vielen europäischen und anderen entwickelten Ländern, aber auch weltweit. Teile der Gesellschaft werden dabei „abgehängt“. Größere Ungleichheit bedeutet auch höhere Anfälligkeit gegenüber Schocks und verringert die Widerstandsfähigkeit. Auch Ungleichheit bei der Vermögensverteilung steht wirtschaftlicher Nachhaltigkeit entgegen, weil Reinvestitionen von Vermögen im geringeren Maße der Produktivität zugutekommt und die gesellschaftliche Leistungsfähigkeit verringert wird. Die mangelnde Bekämpfung der Ursachen dieser Ungleichheiten wurde häufig mit dem in zahlreichen Ländern zu beobachteten Gegenwind für die traditionellen politischen Parteien und ihre EU-freundliche Agenda in Verbindung gebracht.

2.2.3.

Durch die vierte industrielle Revolution und die damit einhergehenden Veränderungen in Bezug auf Arbeit und Wohlstand in Europa und der Welt wird soziale Nachhaltigkeit weiter erschwert werden.

2.2.4.

Im Rahmen des aktuellen Produktions- und Konsummodells werden Rohstoffe und Umweltressourcen rücksichtslos vergeudet und zahlreiche Belastungsgrenzen des Planeten (unter anderem in den Bereichen Klimawandel, biologische Vielfalt, Ozeane und Verschmutzung) überschritten. Dies ist eine existenzielle Bedrohung für künftige Generationen.

2.2.5.

Für eine sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung sollte folglich der „für die Menschheit sichere und gerechte Raum“ (3) nicht verlassen werden. Hierzu ist ein geeignetes gesellschaftliches Fundament für alle Mitglieder der Gesellschaft sowie gleichzeitig die Einhaltung der Belastungsgrenzen des Planeten erforderlich. Um dies zu erreichen, muss das aktuelle Produktions- und Konsummodell („Wachstumsmodell“) grundlegend zugunsten eines „nachhaltigen Wachstums“ (4) überarbeitet werden. Mit dieser Vision wird der Weg für einen Strukturwandel in der europäischen Wirtschaft zugunsten des nachhaltigen Wachstums und der nachhaltigen Beschäftigung gefördert.

2.2.6.

In Anbetracht des Vorstehenden und in Übereinstimmung mit der EWSA-Stellungnahme NAT/542 (5) bedeutet nachhaltiges Wachstum, dass Wachstum nicht nur quantitativ, sondern vor allem und überwiegend qualitativ ausgerichtet sein sollte. Es geht also um Wachstum, a) das auf sauberer Energie und verantwortungsvoller Materialnutzung ohne Ausbeutung von Arbeitskräften und Umwelt beruht; b) das auf einem vollständigen, sozial- und umweltverträglichen Wirtschaftskreislauf zwischen Haushalten, Unternehmen, Banken, der Regierung und dem Handel basiert, um aktuelle Engpässe aufgrund finanzieller Fragmentierung überwinden zu können; c) das adäquate Lebensbedingungen ermöglicht, da die Bedürfnisse aller im Rahmen der Belastungsgrenzen der Erde erfüllt werden; d) unbezahlte Pflegearbeit, die in erster Linie von Frauen erbracht wird, berücksichtigt; sowie e) sicherstellt, dass Wirtschaftswachstum nicht nur anhand jährlicher Stromgrößen, sondern auch der Veränderung von Bestandsgrößen wie der Vermögen und ihrer Verteilung gemessen wird.

Das aktuelle Modell entspricht im Allgemeinen keiner dieser Anforderungen.

2.3.

Eine nachhaltige Wirtschaft stärkt die Widerstandsfähigkeit dadurch, dass die mit makroökonomischen und finanziellen Ungleichgewichten verbundenen Risiken durch wirtschaftliche Nachhaltigkeit abgeschwächt werden.

2.4.

Allerdings sind für den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft, die sowohl die wirtschaftliche als auch die soziale und ökologische Dimension von Nachhaltigkeit umfasst, zweifellos tiefgreifende Veränderungen erforderlich, die als großer und langfristiger, wenngleich prognostizierter Schock betrachtet werden können. Um diesen Übergang krisenfest zu meistern, müssen Maßnahmen ergriffen werden, mit denen die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Einzelpersonen an das neue Modell erleichtert und gefördert wird. In diesem Sinne wird Widerstandsfähigkeit einen gerechten Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft erleichtern.

2.5.

In einem integrierten und ganzheitlichen Konzept sowie einem entsprechenden Politikrahmen für Nachhaltigkeit müssen zwei weitere Megatrends berücksichtigt werden, die die künftige Entwicklung der europäischen Wirtschaft und des europäischen Arbeitsmarktes beeinflussen werden: die alternde Gesellschaft und der demografische Wandel sowie sich verändernde Globalisierungsmuster, die nicht nur mit einem Rückgang des Multilateralismus, sondern auch größeren Migrationsströme einhergehen.

2.6.

Die Wirtschaftsleistung der europäischen Länder während der letzten Krise war unter dem Gesichtspunkt der Resilienz sehr uneinheitlich. Die Krise hat sich wirtschaftlich und sozial unterschiedlich in den einzelnen Mitgliedstaaten ausgewirkt. Fast alle Mitgliedstaaten erlitten einen erheblichen Rückgang ihres BIP und in mehreren Ländern verursachte die Rezession einen großen Beschäftigungsrückgang von unterschiedlicher Dauer. Sollen nun die richtigen Lehren aus der großen Rezession gezogen werden, um die Widerstandsfähigkeit und Nachhaltigkeit der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft zu stärken, müssen die strukturellen Faktoren für die Anfälligkeit und Regenerationsfähigkeit sowie die angewendeten politischen Maßnahmen (strenge Sparmaßnahmen ab 2010 und selektive Flexibilität ab 2014) analysiert werden. Dabei müssen nicht nur die wichtigsten ökonomischen Variablen, sondern auch soziale und ökologische Indikatoren herangezogen werden.

3.   Zwei große Transformationsprozesse

3.1.    Hin zu einer ökologischen und klimaneutralen Wirtschaft

3.1.1.

Der Übergang zu einer ökologischen europäischen Niedrigemissionswirtschaft ist an zwei internationalen Rahmenregelungen ausgerichtet: den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDG) und dem COP 21-Übereinkommen von Paris. Die SDG stellen eine umfassende globale Agenda dar. Einige EU-Mitgliedstaaten sind dabei, die internationalen SDG in nationale Nachhaltigkeitsstrategien und -ziele umzusetzen. Insbesondere im Rahmen von Ziel 7 (Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und zeitgemäßer Energie für alle sichern), Ziel 12 (zu nachhaltigen Konsum- und Produktionsmustern) und Ziel 13 (zu Maßnahmen zum Klimaschutz) sind strategische Ziele definiert, die auf dem Grundsatz der gemeinsamen Verantwortung beruhen.

3.1.2.

Die Unterzeichner des Übereinkommens von Paris haben national festgelegte Beiträge zugesagt, mit denen die strategischen Ziele auf einzelstaatlicher Ebene festgelegt wurden. Die erste weltweite Bestandsaufnahme wurde auf der COP 24 in Kattowitz durchgeführt und zeigte, dass die klimapolitischen Bemühungen eindeutig verstärkt werden müssen.

3.1.3.

Im November 2018 veröffentlichte die Europäische Kommission ihre langfristige Vision „Ein sauberer Planet für alle — Eine Europäische strategische, langfristige Vision für eine wohlhabende, moderne, wettbewerbsfähige und klimaneutrale Wirtschaft“. Die EU wird diese Vision als Grundlage für die Annahme und Vorlage ihrer klimapolitischen Verpflichtungen in Bezug auf die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) bis Anfang 2020 gemäß dem Übereinkommen von Paris nehmen und sollte dabei Folgendes berücksichtigen:

3.1.4.

Eine ökologische Gestaltung der Wirtschaft bedarf einer schlüssigen länderspezifischen Kombination aus makroökonomischen, industriepolitischen, sektorbezogenen und beschäftigungspolitischen Strategien. Ziel ist es, entlang der gesamten Lieferkette angemessene Arbeitsplätze und damit in großem Maßstab Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen.

3.1.5.

Nachhaltige Entwicklung muss über alle Politikbereiche hinweg kohärent konzipiert werden. Für einen solchen Politikrahmen müssen institutionelle Vereinbarungen getroffen werden, die z. T. auf einem ausgewogenen Spektrum an Eigentumsformen (öffentlich, privat, gemeinschaftlich und genossenschaftlich) aufbauen. Damit soll die Beteiligung aller relevanten Akteure auf allen Ebenen sichergestellt werden. Darüber hinaus müssen die einzelstaatlichen Maßnahmen auf europäischer Ebene koordiniert werden, um weitreichende Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Die Beschäftigungsauswirkungen der Veränderung des Wirtschaftsmodells müssen auf Grundlage eines gerechten Übergangs bewältigt werden. Für einen greifbaren diesbezüglichen Erfolg ist ein sozialer und zivilgesellschaftlicher Dialog erforderlich, der die einzelstaatlichen Ebenen mit der europäischen Ebene verknüpft.

3.2.    Hin zu einer digitalen Wirtschaft

3.2.1.

Digitalisierung und Automatisierung werden vermutlich sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft haben. Einerseits bieten sie gute Chancen zur Steigerung der Produktivität, insbesondere in den Dienstleistungssektoren, in denen sie in der Regel gering ist, sowie zur Dezentralisierung von Innovationstätigkeiten an periphere Standorte.

3.2.2.

Andererseits bergen sie das Risiko der Arbeitsplatzverdrängung, insbesondere in Bezug auf Routinetätigkeiten, die keine kognitiven Prozesse erfordern. Zwar haben technologische Umbrüche in der Vergangenheit nie zu dauerhaft massiver Arbeitslosigkeit geführt, da die ehemals verdrängten Arbeitsplätze durch neue ersetzt wurden. Der Übergang wird indes ohne Anpassungsbemühungen kaum reibungslos oder schmerzfrei sein.

3.2.3.

Die Bildungspolitik kann die Bildungssysteme so reformieren, dass Schüler und Studierende mit Kompetenzen ausgestattet werden, die ihre Anfälligkeit gegenüber technologischer Arbeitsplatzverdrängung reduzieren und ihnen größere Anpassungsfähigkeit für ihre Berufslaufbahn verleihen, um erfolgreich am Arbeitsleben teilnehmen zu können.

3.2.4.

Der technologische Fortschritt kann mittels politischer Strategien zudem so gesteuert werden, dass die negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt gering gehalten werden.

4.   Grundlagen eines krisenfesten und nachhaltigen Wirtschaftsmodells und eine politische Strategie zu dessen Umsetzung

4.1.

Im Sinne wirtschaftlicher Widerstandsfähigkeit bezüglich Arbeitsmarkt und Gesellschaft müssen zahlreiche Instrumente für die Vorbereitung, Vorbeugung, den Schutz und die Förderung (des Wandels) und die Transformation konzipiert werden. Diese sind gemäß Intensität und Dauer der Herausforderungen für die Wirtschaft einzusetzen.

4.2.

Inder WWU müssen Risiken vermieden werden, die sich in der vergangenen Krise als mögliche Ursachen für massive Störungen erwiesen haben. Das „Verfahren bei einem makroökonomischen Ungleichgewicht“ stellt in diesem Zusammenhang einen Schritt in die richtige Richtung dar. Es weist jedoch bei der Bekämpfung verschiedener Ungleichgewichte (z. B. von Leistungsbilanzdefiziten im Vergleich zu -überschüssen) noch zahlreiche Asymmetrien auf und sieht keine verbindlichen Empfehlungen zu Anpassungen vor, insbesondere für Mitgliedstaaten mit übermäßig großen Leistungsbilanzüberschüssen. Das Verfahren muss daher überarbeitet werden.

4.2.1.

Ebenso sollten große Unterschiede zwischen den Raten von Inflation und Änderung der Nominallöhne vermieden werden. Als Faustregel für die Koordinierung auf der Ebene des Euro-Währungsgebiets sollte gelten, dass Nominallöhne gemäß der Summe der Zielinflationsrate der EZB und dem Produktivitätswachstum auf Branchenebene steigen sollten. Mit industriepolitischen Maßnahmen sollte zusätzliches Produktivitätswachstum in ärmeren Mitgliedstaaten gefördert werden, um so die Konvergenz zu unterstützen. Derartige Entwicklungen könnten auch nominale Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten im Euro-Währungsgebiet verringern und somit die Wirksamkeit der Geldpolitik erhöhen.

4.3.

Wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit im Einklang mit einem krisenfesten Arbeitsmarkt sollte zudem der makroökonomischen Politik und insbesondere der Finanzpolitik ausreichenden Handlungsspielraum gewähren. Damit soll sichergestellt werden, dass Schocks, insbesondere Rezessionen, die einige Mitgliedstaaten stärker betreffen als andere, angemessen abgefedert werden, anstatt die gesamte Anpassung den Arbeitsmärkten aufzubürden. Die Schaffung einer Fiskalkapazität auf der Ebene des Euro-Währungsgebiets wäre hier der effizienteste Weg, wenngleich, zu diesem Zweck auch mehr Möglichkeiten für einzelstaatliche finanzpolitische Maßnahmen geschaffen werden könnten. Eine Finanzpolitik, die bessere Möglichkeiten zur Stabilisierung der Volkswirtschaften auf Vollbeschäftigungsniveau bietet, würde zudem den Aufbau nachhaltiger Haushaltspuffer erleichtern.

4.4.

Richtig funktionierende automatische Stabilisatoren und Sozialschutzsysteme können die Widerstandsfähigkeit stärken. Damit diese mit nachhaltigen öffentlichen Finanzen einhergehen, müssen die Steuersysteme der Mitgliedstaaten ausreichend Mittel bereitstellen. Ein solides Steuerwesen ist ebenfalls ein wichtiger Faktor der Widerstandsfähigkeit.

4.5.

Durch investitions- und innovationsfreundliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen, ordnungsgemäß funktionierende Finanzmärkte und bessere Möglichkeiten, Finanzrisiken gemeinsam zu tragen, wird die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft gestärkt. In Übereinstimmung mit seiner früheren Stellungnahme zum Thema „Förderung innovativer und wachstumsstarker Unternehmen“ (6) ist der EWSA der Auffassung, dass politische Maßnahmen zur Stärkung dieser Faktoren erforderlich sind. Aus diesem Grund unterstützt der EWSA auch die Initiativen der Kommission zur Bankenunion und Kapitalmarktunion. Doch der EWSA geht noch weiter und ist außerdem der Auffassung, dass das Konzept der Nachhaltigkeit auch im Finanzsystem angewendet werden sollte, wie in der Stellungnahme des EWSA zum Aktionsplan der Kommission: Finanzierung nachhaltigen Wachstums (7) festgehalten.

4.6.

Eine Politik, die den Übergang zur digitalen Wirtschaft sowie zu einem klimaneutralen und ökologisch nachhaltigen Modell fördert, sollte faire Übergänge gewährleisten. Ein fairer Übergang sollte keine Option bei der Klima- oder Digitalisierungspolitik darstellen, sondern muss Bestandteil des Politikrahmens für nachhaltige Entwicklung sein. Eine Politik für einen gerechten Übergang sollte auf die Behebung ungünstiger (degressiver) Verteilungseffekte klimapolitischer Maßnahmen (da diese niedrigere Einkommensgruppen relativ stärker belasten) und eine aktive Steuerung von Arbeitsmarktübergängen ausgerichtet sein. Sie sollte auch auf Fragen der regionalen Entwicklung eingehen (z. B. in Bezug auf wirtschaftlich anfällige Regionen, die stark von energieintensiven Industrien abhängen).

4.6.1.

Ein gerechter Übergang umfasst zwei Dimensionen: die Gerechtigkeit der „Ergebnisse“ (die neue Beschäftigungsstruktur und soziale Landschaft in einer dekarbonisierten Wirtschaft) und die Gerechtigkeit des „Prozesses“ (wie diese erreicht wird). Das Ergebnis sollte wie folgt aussehen: menschenwürdige Arbeit für alle in einer inklusiven Gesellschaft und Beseitigung der Armut. Der Prozess, also wie dies erreicht werden kann, sollte auf einem gesteuerten Übergang mit einem sinnvollen sozialen Dialog auf allen Ebenen beruhen, um sicherzustellen, dass die Last gerecht verteilt und niemand zurückgelassen wird.

4.7.

Kern der Strategien zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegenüber den anstehenden Herausforderungen, die zu einer gerechten Transformation unseres Wirtschaftsmodells führen würde, müssen Investitionsstrategien sein. Dazu gehören auch Strategien für öffentliche Investitionen in Kompetenzen und Bildungssysteme, oder im weiteren Sinne Sozialinvestitionen, sowie in Technologien, die ökologische Nachhaltigkeit fördern.

4.7.1.

Zur Abfederung der Digitalisierung müssen Einzelpersonen Kompetenzen und Fähigkeiten erhalten, um nicht-routinemäßige Tätigkeiten, die kognitive Prozesse erfordern, ausüben und sich lebensbegleitend fortbilden zu können. Da sich gezeigt hat, dass bestehende (und zunehmende) Ungleichheiten großen Einfluss auf die Studienleistungen haben, muss mittels sozialer Investitionsstrategien sichergestellt werden, dass niemand auf der Strecke bleibt.

4.7.2.

Die öffentlichen und privaten Investitionen in eine zukünftig klimaneutrale Wirtschaft müssen intensiviert werden, um die erweiterten Emissionsreduktionsziele der EU bis 2030 zu erreichen. Die Kommission räumt in ihrer Mitteilung (COM(2018) 773 final) ein, dass darüber hinaus eine grundlegende Wende erforderlich ist, um, wie in den Zielen des Übereinkommens von Paris vorgesehen, bis 2050 CO2-Neutralität zu erreichen. Die Investitionen in erneuerbare Energie der 27 Mitgliedstaaten lagen im Jahr 2017 bei lediglich 50 % des Betrags von 2011 und waren gegenüber 2016 um 30 % zurückgegangen (8). Die anhaltend geringen Investitionen in erneuerbare Energie in Europa werden zudem durch weiterhin hohe Subventionen für fossile Brennstoffe in den Mitgliedstaaten konterkariert. Das Problem sind nicht nur mangelnde Investitionen: Auch die Verteilung vorhandener Ressourcen ist unzweckmäßig. Klare politische Ziele und ein kohärenterer Politikrahmen sind vonnöten, um diese negativen Entwicklungen umzukehren. In jedem Fall muss das Ende der Ära fossiler Brennstoffe in Europa mit den erforderlichen Investitionen einhergehen, um den Schutz der Beschäftigten in Europa, die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Förderung lokaler Entwicklung sicherzustellen. Übergangsprozesse müssen mit den Sozialpartnern und den Organisationen der Zivilgesellschaft ausgehandelt sowie an Transparenz und eine wirksame Kommunikationspolitik geknüpft werden.

4.8.

Aktuelle Konzeptionen von Wettbewerbsfähigkeit konzentrieren sich auf die Kosten, hauptsächlich auf die Arbeitskosten, aber auch auf die Energiekosten. Bei der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit wird in der Regel die Entwicklung der Lohnstückkosten betrachtet. Qualitative Aspekte der Wettbewerbsfähigkeit in Bezug auf Arbeitsproduktivität, Ressourcenproduktivität und Energieeffizienz sollten eine größere Rolle spielen und auch von den nationalen Ausschüssen für Produktivität berücksichtigt werden.

4.9.

Zentrales Ziel sollte daher die allgemeine Einführung des europäischen Mechanismus für die makroökonomische Steuerung sein. Mit einer umfassenden und integrativen Herangehensweise an das Konzept der nachhaltigen Wirtschaft, bei der auch soziale und ökologische Faktoren in das Verfahren des Europäischen Semesters aufgenommen werden, sollte sowohl die Widerstandsfähigkeit als auch die Nachhaltigkeit gestärkt werden.

5.   Steuerungsinstrumente und wirtschaftspolitische Maßnahmen auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten für eine krisenfestere und nachhaltige Wirtschaft

5.1.

Aufgrund der Bedeutung von — insbesondere öffentlichen — Investitionen für die Anpassung an die bevorstehenden Übergangsprozesse und von finanzpolitischen Maßnahmen für die Absorption von Schocks müssen dafür sowohl auf einzelstaatlicher als auch auf Unionsebene finanzpolitische Maßnahmen ergriffen werden. Die EU sollte sich zum Ziel setzen, innerhalb kurzer Zeit das Investitionsniveau der Vorkrisenzeit zu erreichen. So würde die Investitionslücke geschlossen und die Investitionen würden entsprechend um zwei oder drei BIP-Prozentpunkte, oder rund 300 Mrd. EUR jährlich für die 28 Mitgliedstaaten der EU, gesteigert (9).

5.2.

Zur Stärkung der Einnahmeseite und Sicherstellung ausreichender Steuermittel in der EU und den Mitgliedstaaten müssen die Bemühungen zur Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuervermeidung, Geldwäsche, Steuerparadiesen und unlauterem Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten intensiviert werden. Unbeschadet der Innovationsförderung sollten die Mitgliedstaaten koordinierte Maßnahmen auf EU-Ebene vereinbaren, damit digitale Großkonzerne in jedem Mitgliedstaat, in dem sie Gewinne erzielen, auch ihren gerechten Steueranteil zahlen.

5.3.

Das System der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU und die Architektur der WWU müssen verbessert werden, um zu verhindern, dass das Wirtschaftswachstum gebremst wird und die einzelstaatliche Finanzpolitik mit Aufgaben belastet wird, die sie weder bewältigen kann noch muss.

5.4.

Die Schaffung einer ausreichend großen Fiskalkapazität auf Ebene des Euro-Währungsgebiets für mehr Stabilität im Falle von Schocks wäre die beste Option. Darüber wird derzeit jedoch nicht mehr gesprochen.

5.5.

Die Bewahrung nationaler Spielräume für den Schutz öffentlicher Investitionen, insbesondere während Rezensionen, sollte oberste Priorität haben. Ohne die Nachhaltigkeit der öffentlicher Finanzen zu beeinträchtigen könnten die geltenden EU-Haushaltsregeln so geändert oder ausgelegt werden, dass öffentliche Investitionen, insbesondere Sozialinvestitionen und Investitionen in Umweltprojekte, bei der Berechnung der Defizite ausgenommen werden (10).

5.6.

Die Bankenunion muss vollendet werden, indem ein europäisches Einlagenversicherungssystem und eine gemeinsame fiskalische Letztsicherung für den einheitlichen Abwicklungsmechanismus errichtet werden. Der EWSA bekräftigt seine Sorge darüber, dass mehrere Regierungen den Abschluss dieser beiden Projekte behindern, die für die Sicherung der Finanzstabilität und letztendlich der Sicherung von Privatinvestitionen im Euro-Währungsgebiet von entscheidender Bedeutung sind und dementsprechend mit der Stärkung der Widerstandsfähigkeit verknüpft sind.

5.7.

Es sollten eine gemeinsame sichere Anlage eingerichtet, die Fragmentierung im Finanzsektor durch Förderung der Kapitalmarktunion reduziert, das Potenzial der Währungspolitik unterstützt und negative Rückkopplungen zwischen Banken und Staaten durch Ersetzung der nationalen Staatsanleihen in den Bilanzen der Banken gemindert werden. Letzteres würde auch den Weg für die erforderlichen, aber bisher politisch schwierigen Reformen ebnen, die zu einer bedeutenden Vertiefung der WWU führen. Nicht zum Euro-Währungsgebiet gehörende Länder könnten sich an einem gemeinsamen sicheren Anlagenprogramm beteiligen. Die Währungsbehörden und die für die europäische Wirtschaftspolitik zuständigen Instanzen sollten deren Situation berücksichtigen, um die Widerstandsfähigkeit des gesamten europäischen Finanzsystems zu gewährleisten.

5.8.

Die Entwicklung von Widerstandsfähigkeit sollte in stärkerem Umfang und systematisch in das Europäische Semester aufgenommen werden, um Aufwärtskonvergenz und Nachhaltigkeit in alle Phasen, vom Jahreswachstumsbericht (der zu einem Jahresbericht zu Wachstum und Nachhaltigkeit umgestaltet werden könnte) bis hin zu den nationalen Reformprogrammen und länderspezifischen Empfehlungen, zu integrieren.

5.9.

Viele Faktoren mit Auswirkungen auf die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit sind für das Funktionieren der WWU von entscheidender Bedeutung. Die europäischen Institutionen und die Mitgliedstaaten sollten mithilfe des Europäischen Semesters, des MFR 2021-2027 sowie weiterer Legislativ- und Steuerungsinstrumente ein kohärentes Aktionsprogramm erarbeiten. Es gilt, die Schlüsselfaktoren für wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit in der gesamten EU und die Konvergenz der Mitgliedstaaten hinsichtlich dieser Faktoren zu fördern und zu stärken.

5.10.

Abschließend ist der EWSA der Auffassung, dass folgende Punkte als Schlüsselfaktoren für Widerstandsfähigkeit in ein entsprechendes Aktionsprogramm aufgenommen werden sollten:

a)

Stärkung der Finanzstabilität: Steigerung der Finanzkraft des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), Förderung einer europäischen Steuerpolitik, die eine steuerliche Harmonisierung umfasst, Förderung steuerlicher Suffizienz von Mitgliedstaaten und Einrichtung wirksamer Mechanismen zur Bekämpfung von Steuerbetrug;

b)

Vollendung der Währungsunion durch Erweiterung der Ziele der EZB, Schaffung einer gemeinsamen europäischen Finanzbehörde mit der Möglichkeit, Schuldverschreibungen auszugeben, Verbesserung und demokratischere Gestaltung der Steuerung des Euro-Währungsgebiets;

c)

Steigerung der Produktivität der europäischen Volkswirtschaften durch Fokus auf Schlüsselfaktoren wie (öffentliche und private) Investitionen, Forschung, Entwicklung, Bildung und Berufsausbildung, Verbesserung der Unternehmensführung und Arbeitnehmerbeteiligung;

d)

Arbeitsmärkte und Beschäftigungsqualität: Stärkung der Tarifverhandlungen und des sozialen Dialogs, Sicherstellung der Wirksamkeit automatischer Stabilisatoren und Schaffung von mehr und besseren aktiven beschäftigungspolitischen Maßnahmen. Die Einrichtung einer europäischen Arbeitslosenversicherung (als Ergänzung zu einzelstaatlichen Versicherungen) könnte ein Instrument zu Stärkung der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit in ganz Europa sein, das auch den politischen Zusammenhalt der Union fördern würde. Wir fordern die europäischen Organe auf, die Durchführbarkeit ihrer Finanzierung im Rahmen des mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027 zu untersuchen;

e)

Förderung des sozialen Zusammenhalts und Fortschritte hin zu einer inklusiveren Gesellschaft durch Verwirklichung der europäischen Säule sozialer Rechte einschließlich einer geeigneten Finanzierung; sowie

f)

Förderung der Gestaltung günstiger Rahmenbedingungen für Unternehmensinvestitionen und Verbesserung der Finanzierung von Unternehmen, dringende Vollendung der Kapitalmarktunion und der Bankenunion mit Einrichtung eines europäischen Einlagenversicherungssystems.

5.11.

Die EZB wird wahrscheinlich, wie die meisten großen Zentralbanken der Welt, ihre „unkonventionelle“ Geldpolitik fortführen müssen, solange die Inflationserwartungen weiterhin unter dem Ziel liegen. Außerdem sollte sie die Direktfinanzierung von Investitionen in ökologische und digitale Übergangsprojekte erwägen.

5.12.

Im kommenden MFR sollte das Ziel der Schaffung einer krisenfesteren und nachhaltigen Wirtschaft berücksichtigt werden. Im Vorschlag der Kommission zum MFR 2021-2027 sind keine ausreichenden Mittel zur Stärkung der folgenden Faktoren für Widerstandsfähigkeit vorgesehen: Investitionen und ihre neue Stabilisierungsfunktion; eine Kohäsionspolitik, mit der eine wirtschaftliche und soziale Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten begünstigt wird; innenpolitische Maßnahmen für sozialen Zusammenhalt, eingebettet in die europäische Säule sozialer Rechte; sowie die in dieser Stellungnahme angeregten fairen Übergänge. Der EWSA wiederholt die Forderung aus seiner Stellungnahme zum Mehrjährigen Finanzrahmen nach 2020 (11), dass die im kommenden MFR zur Verfügung stehenden Finanzmittel 1,3 % des Bruttonationaleinkommens der 27 Mitgliedstaaten betragen sollen. Die in der Mitteilung der Kommission zum MFR enthaltene Vorschlag, die Finanzierung der Kohäsionspolitik (um 10 % im Vergleich zum aktuellen MFR) zu kürzen, scheint in Anbetracht der Notwendigkeit, wichtige Politikbereiche zur Förderung von Widerstandsfähigkeit und Nachhaltigkeit zu stärken, in besonderem Maße unannehmbar.

5.12.1.

Es sollte zweckgebundene Finanzmittel (z. B. einen „Fonds für den fairen Übergang“) geben, mit denen der Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft unterstützt wird, in Übereinstimmung mit dem Vorschlag des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2018, einen solchen Fonds mit Mitteln in Höhe von 4,8 Mrd. EUR einzurichten.

5.12.2.

Die Struktur- und Kohäsionspolitik der EU sollte in den Kontext der „nachhaltigen Wirtschaft“ einbezogen werden. Klimaschutz (und Anpassung an den Klimawandel) sind zwar bereits als Prioritäten in der Finanzierung im Rahmen des europäischen Struktur- und Investitionsfonds berücksichtigt, dabei geht es jedoch hauptsächlich um Unterstützungen in den Bereichen erneuerbare Energie und Energieeffizienz. Diese Ziele sind noch nicht umfassend im Sinne der Förderung des Übergangs zu einer klimaneutralen Wirtschaft berücksichtigt, und es gibt keine spezifischen Prioritäten zur Förderung fairer Übergänge.

5.12.3.

Der EWSA äußerst sich besorgt über die Tatsache, dass die Finanzierung von auf fossilen Brennstoffen beruhenden Energieprojekten durch die Europäische Investitionsbank und den Europäischen Fonds für strategische Investitionen höher ist als die für saubere Energie. Wenngleich die Finanzierung der Gasinfrastruktur dem Zweck einer „Übergangsenergielösung“ dient, müssen strengere Emissionsziele gelten.

5.12.4.

Die Subventionspolitik der EU und der Mitgliedstaaten muss mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050 im Einklang stehen. Alle Subventionen für wirtschaftliche Aktivitäten, die das Erreichen dieses Ziels konterkarieren oder die Umwelt auf andere Weise schädigen, sollten so rasch wie möglich beseitigt werden.

5.13.

In Anbetracht der Art von Maßnahmen und des Umfangs der Bemühungen, die für den Aufbau einer krisenfesteren und nachhaltigen Wirtschaft erforderlich sind, müssen die Sozialpartner und andere repräsentative Organisationen der Zivilgesellschaft unbedingt aktiv an der Gestaltung fairer Übergänge und der Stärkung der Widerstandsfähigkeit beteiligt werden. Eine Stärkung der Arbeitnehmerbeteiligung und der Demokratie am Arbeitsplatz könnte zu einer höheren Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit auf Industrieebene beitragen. Dies ist ein Faktor für die Widerstandsfähigkeit, der seinerseits andere Faktoren stärkt, mit denen er im Hinblick auf das Funktionieren von Unternehmen und der Wirtschaft positiv korreliert: Produktivität, Innovationsfähigkeit, Qualität der Beschäftigung usw. Arbeitnehmergenossenschaften können auch ein starkes Modell für die Demokratie in dem Unternehmen bilden, das auf gemeinsamen Interessen und Solidarität beruht und lokal verankert ist.

5.13.1.

Darüber hinaus ist die Beteiligung der Arbeitnehmer von wesentlicher Bedeutung für die erfolgreiche Bewältigung des ökologischen und des digitalen Wandels. Die bestehenden Instrumente der Arbeitnehmerbeteiligung und die Demokratie in Unternehmen müssen genutzt werden. Die Sozialpartner und die europäischen Organe müssen sicherstellen, dass solche Instrumente in allen EU-Mitgliedstaaten bestehen, und dass sie Beziehungen mit Verfahren des sozialen Dialogs herstellen, die faire Übergänge fördern. Die Leitlinien der IAO für einen gerechten Übergang aus dem Jahre 2015 (12) enthalten eine Reihe praktischer Instrumente zur Steuerung dieses Transformationsprozesses für Regierungen und Sozialpartner.

Brüssel, den 17. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Vermerk der Europäischen Kommission an die Euro-Gruppe, „Economic resilience in EMU“ (Wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit in der WWU), 13.9.2017.

(2)  Reflexionspapier „Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Europa bis 2030“, Europäische Kommission (2019).

(3)  Raworth (2017).

(4)  ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 37.

(5)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 39.

(6)  ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 6.

(7)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 73.

(8)  Frankfurt School-UNEP-BNEF (2018).

(9)  „How to close the European investment gap?“ (Wie kann die europäische Investitionslücke geschlossen werden?), Michael Dauderstädt, Friedrich-Ebert-Stiftung.

(10)  ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 28 und Stellungnahme des EWSA zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets 2019, ABl. C 159 vom 10.5.2019, S. 49.

(11)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 106.

(12)  „Guidelines for a just transition towards environmentally sustainable economies and societies for all“ (Leitlinien für einen gerechten Übergang zu wirtschaftlich nachhaltigen Volkswirtschaften und Gesellschaften für alle), Internationale Arbeitsorganisation (IAO).


18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/32


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Eine neue Vision für die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 353/06)

Berichterstatterin: Judith VORBACH

Beschluss des Plenums

24.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

2.7.2019

Verabschiedung im Plenum

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

159/2/9

Vorbemerkung

Diese Stellungnahme gehört zu einem Paket von zwei Initiativstellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA), die gleichzeitig erarbeitet werden: „Eine krisenfestere und nachhaltige europäische Wirtschaft“ und „Eine neue Vision für die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion“. Das Paket ist als direkter Beitrag zur wirtschaftspolitischen Agenda des neuen Europäischen Parlaments und der neuen Europäischen Kommission gedacht, die 2019 ihr Amt antreten wird. Wir brauchen dringend eine neue europäische Wirtschaftsstrategie: ein positives Narrativ für die künftige Entwicklung der EU-Wirtschaft in der Welt, das dazu beitragen würde, die Widerstandsfähigkeit der EU gegenüber wirtschaftlichen Schocks und die wirtschaftliche, soziale und ökologische Nachhaltigkeit ihres Wirtschaftsmodells zu stärken und dadurch das Vertrauen, die Stabilität und den gemeinsamen Wohlstand für alle Menschen in Europa wiederzuerlangen. Aufbauend auf den in den letzten Jahren erzielten Fortschritten könnte diese Strategie die Grundlage für die weitere wirtschaftliche, fiskalische, finanzielle, soziale und politische Integration bilden, die notwendig ist, um die Ziele der Wirtschafts- und Währungsunion zu erreichen.

Bereits 2014 hat der EWSA eine Stellungnahme zur Vollendung der WWU verfasst. Darin wurde eine Gliederung in eine geldpolitische und finanzielle Säule, eine wirtschaftliche Säule, eine soziale Säule und eine politische Säule vorgenommen. Zu den einzelnen Säulen wurden weitere Stellungnahmen verabschiedet. Hier wird diese Vier-Säulen-Struktur beibehalten, um einen Überblick über Fortschritte und Defizite der WWU aufzuzeigen und schließlich eine Liste an Empfehlungen vorzuschlagen, die der neuen Kommission und dem Europäischen Parlament für eine starke, inklusive und widerstandsfähige Währungsunion unterbreitet wird. Insgesamt fordert der EWSA die Europäischen Institutionen und die nationalen Regierungen zu deutlich ambitionierteren Schritten im Rahmen der WWU-Reform auf, um eine besser integrierte, demokratischere und sozial besser entwickelte Union zu verwirklichen.

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Obwohl auf dem Weg zur Vollendung der WWU bereits große Etappen bewältigt wurden, braucht es bei jeder ihrer vier tragenden Säulen noch eine deutliche Aufstockung. Dabei muss sorgfältig auf die Balance geachtet werden, denn die Vernachlässigung einer oder mehrerer Säulen kann zu einer gefährlichen Schieflage führen. Ebenso müssen die durch den Klimawandel verursachten Herausforderungen stets mitbedacht werden. Es bestehen auch Wechselwirkungen zwischen den Säulen. Zum Beispiel trägt eine soziale Gestaltung der wirtschaftlichen Säule auch zur Aufstockung der sozialen Säule bei und umgekehrt. Einige konkrete Maßnahmen sind in ihrer Zuordnung variabel.

1.2.

Obwohl die Vollendung der WWU das Gebot der Stunde ist, hemmt ein Richtungsstreit zwischen den Mitgliedstaaten weitere Fortschritte. Zu den eingetrübten konjunkturellen Aussichten gesellen sich geopolitische Unsicherheiten und der geplante Brexit. Die Divergenz zwischen den Mitgliedstaaten, die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen, die Klimakrise und die Prognosen für die Bevölkerungsentwicklung stellen ebenfalls massive Herausforderungen dar.

1.3.

Widerstandsfähigkeit gegen Krisen ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für die Vollendung der WWU. Es braucht auch eine positive Vision, wie es Artikel 3 des EU-Vertrags widerspiegelt. Auf die Gegenwart bezogen empfiehlt der EWSA folgende Prioritäten: nachhaltiges und inklusives Wachstum, Verringerung der Ungleichheiten, Aufwärtskonvergenz, Gewährleistung des Produktivitätswachstums und der Wettbewerbsfähigkeit im Sinne der Europa-2020-Ziele, ein unternehmens- und investitionsfreundliches Umfeld, qualitativ gute Arbeitsplätze und angemessene Entlohnung, Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, stabile und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete öffentliche Finanzen, ein stabiler Finanzsektor und die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele 2030 und der Ziele des Pariser Klimaabkommens.

1.4.

Die Empfehlungen des EWSA im Hinblick auf die tragenden Säulen der WWU sind im Einzelnen:

1.4.1.

Eine stabile geldpolitische und finanzielle Säule als Basis für gesamtwirtschaftliche Entwicklung

EZB: Festigung ihrer stabilisierenden Rolle sowie Wahrung ihrer Unabhängigkeit;

Entschlossene Schritte zur Vollendung der Banken- und Kapitalmarktunion unter folgenden Prioritäten: Stabilisierung zur Schaffung von Vertrauen, eine effiziente Regulierung, Balance von Risikoteilung und Risikoreduktion zur Verhinderung einer neuerlichen Belastung öffentlicher Haushalte im Krisenfall, Berücksichtigung der sozialen Folgen der Regulierung, Einbeziehung von Klimazielen, Verbraucherschutz;

Bankenunion: Absicherung des einheitlichen Abwicklungsmechanismus und Umsetzung von EDIS, Wiederaufnahme der Debatte zur Strukturreform und zu Schattenbanken;

Kapitalmarktunion: Festlegung von Prioritäten, insbesondere die Verbesserung der Aufsicht, die Schaffung einer EU-Ratingagentur, ein Safe Asset und Schritte zur Angleichung im Bereich der Insolvenzregeln;

Stärkung der internationalen Rolle des Euro auf der Basis einer stabilen, wirtschaftlich starken und sozial ausgewogenen WWU;

1.4.2.

Eine starke wirtschaftliche Säule als Basis von Wohlstand und sozialem Fortschritt

Aufstockung der wirtschaftlichen Säule für einen zwischenstaatlichen Ausgleich und zur Förderung von Wachstum, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit;

Ausgewogenheit von angebots- und nachfrageseitigen Maßnahmen, was aktuell eine Aufwertung der Nachfrageseite bedeutet, mittels verstärkter Einbeziehung des sozialpolitischen Scoreboards in das Europäische Semester, Stärkung der Tarifsysteme und der Autonomie der Sozialpartner, rasche Implementierung der Europäischen Arbeitsbehörde sowie Anwendung der goldenen Investitionsregel dergestalt, dass die Finanz- und Fiskalstabilität mittelfristig nicht gefährdet wird;

Schaffung einer Fiskalkapazität für das Euro-Währungsgebiet, finanziert aus einem gemeinsamen Schuldtitel und einer Bindung der Auszahlungen an die Stärkung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur. Die aktuellen Vorschläge sind nur als erste Schritte zu sehen;

Maßnahmen zur Eindämmung des unfairen Steuerwettbewerbs sowie zur Verhinderung von Steuerhinterziehung und -umgehung;

1.4.3.

Aufstockung der sozialen Säule als Basis für sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt

soziale Mindeststandards in den Mitgliedstaaten auf hohem Schutzniveau;

Bemühen um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einer soliden wirtschaftlichen Grundlage und einer starken sozialen Dimension;

Erweiterung der Debatte über einen EU-Finanzminister um ein gleichwertiges Pendant für EU-Sozial- und Arbeitsangelegenheiten;

1.4.4.

Eine politische Säule als Basis für Demokratie, Solidarität und Einheit

Verstärkung der Einbindung des Europäischen Parlaments sowie der Sozialpartner und anderer Organisationen der Zivilgesellschaft in zentrale sozial- und wirtschaftspolitische Entscheidungen;

Solidarisches und geeinigtes Handeln als Basis für Wohlstand und Frieden innerhalb der EU und für die politische und wirtschaftliche Bedeutung der EU im globalen Kontext;

rascher Beitritt jener EU-Staaten zum Euroraum, die bis jetzt noch nicht Teil davon sind.

2.   Vollendung der WWU — Errungenschaften, Herausforderungen und Ziele

2.1.

Auf dem Weg in Richtung Vollendung der WWU wurden bereits große Etappen bewältigt, sodass diese heute einen bedeutenden gemeinsamen Besitzstand aufweist. Im Jahr 2015 wurden im Bericht der fünf Präsidenten ambitionierte Pläne zur Vertiefung der WWU vorgelegt. Im Juni 2019 meldete sich die Kommission mit dem Papier „Deepening Europe's Economic Monetary Union: Taking stock four years after the Five Presidents’ Report“ (1) zu Wort. Darin zieht sie eine Bilanz der bisherigen Fortschritte und fordert von den Mitgliedstaaten weitere Maßnahmen ein. Dieser Forderung schließt sich der EWSA an. Im Bereich sowohl der finanziellen und wirtschaftlichen Säule, aber auch der sozialen und demokratischen Säule besteht großer Handlungsbedarf. Der EWSA macht insbesondere auf die Notwendigkeit einer Balance zwischen allen Bereichen aufmerksam, zwischen denen auch vielfältige Wechselwirkungen bestehen.

2.2.

Obwohl alle Mitgliedstaaten das Interesse am Erhalt des Euro teilen, steht einer weiteren Vertiefung ein zwischenstaatlicher Richtungsstreit entgegen. Er artikuliert sich im Konflikt zwischen Risikoteilung, welche mit grenzüberschreitenden Transfers oder gemeinsamer Haftung einhergeht. Demgegenüber steht der Ansatz der Risikominderung, wo der Anpassungsdruck in einzelstaatlicher Verantwortung liegt und mittels struktureller Umgestaltung wirtschaftliche Resilienz erzielt werden soll. Der Fokus auf dieser Divergenz greift jedoch zu kurz, denn es ergeben sich auch unterschiedliche parteipolitische und zivilgesellschaftliche Perspektiven. Zur Vollendung der WWU braucht es jedoch die Einsicht über verschiedene Interessen und Sichtweisen hinweg, dass Solidarität und die Bereitschaft zum Kompromiss eine notwendige Basis für eine gute gemeinsame Zukunft in Europa darstellen.

2.3.

Die aktuellen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stellen eine Herausforderung dar. Nach der langen Phase der Krise nahm die Wirtschaft der WWU ab 2014 wieder Fahrt auf, die sich im zweiten Halbjahr 2018 jedoch wieder verlangsamte. Dazu haben mehrere Faktoren beigetragen, wie die weltweite Abschwächung von Handel und Wirtschaftsentwicklung, ungelöste Handelskonflikte und auch interne Unsicherheitsfaktoren wie der geplante Brexit. Innerhalb des Euroraums war die Abschwächung der Wirtschaftsdynamik aufgrund der Abhängigkeit von externer Nachfrage sowie von länder- und sektorspezifischen Faktoren nochmals stärker ausgeprägt. Die verhaltene Wirtschaftsentwicklung in der EU dürfte sich noch fortsetzen. (2) Die Klimakrise, technologischer Wandel, Protektionismus und Cyberattacken sowie Digital- und Kryptowährungen zählen zu zukünftigen Herausforderungen. Ein aktueller Bericht von ESPAS kommt zum Schluss, dass der Anstieg der globalen Temperatur, der unter anderem mit einem deutlichen Produktivitätsrückgang einhergehen werde, das dringlichste politische Problem der Gegenwart mit erheblichen wirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen sei. (3)

2.4.

Wenngleich die EU insgesamt aufgrund des vergleichsweise hohen Bruttoinlandsprodukts — aggregiert und pro Kopf — und der steigenden Beschäftigungszahlen in den letzten Jahren im globalen Vergleich relativ wohlhabend ist, so belasten dennoch soziale Ungleichheiten zwischen Regionen und Mitgliedstaaten und innerhalb der Gesellschaften den Zusammenhalt. (4) 22 % der EU-Bevölkerung ist von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. In mehreren südeuropäischen Ländern sind die Reallöhne im Durchschnitt 2019 geringer als 2009, was zum weiteren realen Auseinanderdriften des sozioökonomischen Wohlstandsniveaus beiträgt. (5) Auch das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern ist vielerorts noch groß, und ein hoher Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung leidet unter Erwerbsarmut oder Arbeitslosigkeit. Was die Verteilung des privaten Nettovermögens der Haushalte betrifft, zieht die EZB den Schluss, dass im Euroraum eine starke Schieflage besteht. So besitzen die reichsten 10 % 51,2 % des Nettovermögens. (6) Daraus ergibt sich ein gefährlicher Nährboden für soziale Spannungen und spaltende Kräfte.

2.5.

Eine verbesserte Widerstandsfähigkeit gegen Krisen ist notwendig, aber nicht hinreichend. Für die Vollendung der WWU braucht es eine positive Vision wie in Artikel 3 des EU-Vertrags. Dieser spricht unter anderem von der Förderung einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt ausgerichtet ist, sowie von Umweltschutz. Aus heutiger Perspektive empfiehlt der EWSA folgende Zielsetzungen: nachhaltiges und inklusives Wachstum, Verringerung der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten, Aufwärtskonvergenz, Gewährleistung des Produktivitätswachstums und der Wettbewerbsfähigkeit im Sinne der Europa-2020-Ziele, die auch „Beyond-GDP“-Ziele (7) enthalten, ein unternehmens- und investitionsfreundliches Umfeld, qualitativ gute Arbeitsplätze und angemessene Entlohnung, Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, stabile und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete öffentliche Finanzen, ein stabiler Finanzsektor und die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele 2030 sowie der Ziele des Pariser Klimaabkommens. Der EWSA verweist auch auf seine Initiativstellungnahme „Eine krisenfestere und nachhaltige europäische Wirtschaft“.

3.   Geldpolitische und finanzielle Säule — Basis für wirtschaftliche Entwicklung

3.1.

Der EWSA hebt die große Bedeutung der stabilisierenden Rolle der EZB im Krisenfall hervor. So führte allein die Ankündigung des Ankaufs von Staatsanleihen falls notwendig (OMT-Programm) durch den Zentralbankpräsidenten zu einer Beruhigung der Märkte. Das zur Erreichung des Inflationsziels eingeführte „Quantitative Easing Programm“ ab 2015 führte zu einem weiteren Sinken der Zinsen, womit der Zugang zu liquiden Mitteln erleichtert wurde. Dass Banken aktuell Geldmittel bei der EZB hinterlegen, selbst wenn dafür Negativzinsen anfallen, weist auf die Notwendigkeit des Ausbaus der wirtschaftlichen Säule der WWU hin. Der EWSA regt außerdem an, die Rolle der EZB als Kreditgeber der letzten Instanz zu verankern. Die Unabhängigkeit der EZB gilt es zu wahren.

3.2.

Der Finanzsektor der WWU erfüllt seine Finanzierungsfunktion für KMU zufriedenstellend, so eine Studie der EZB. (8) Aktuell werden seitens der KMU die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte und erfahrener Führungskräfte gemeinsam mit der Schwierigkeit, Kunden zu finden, als Hauptprobleme angegeben, während ein fehlender Zugang zu Finanzierung als geringes Problem gesehen wird. Unternehmen in manchen Mitgliedstaaten sind davon stärker betroffen, aber auch dort zeichnet sich Entspannung ab. Die Studie bezieht sich auf ein Sample von 11 020 Unternehmen im Euroraum, von denen 91 % weniger als 250 Beschäftigte aufweisen. Der EWSA betont die Wichtigkeit einer stabilen Finanzierungsbasis auch für Großunternehmen.

3.3.

Der EWSA fordert die EU-Institutionen dringend auf, die Vollendung der Banken- und Kapitalmarktunion konsequent voranzutreiben und somit die Basis zur vollständigen Überwindung der Finanzkrise und für eine resiliente WWU zu schaffen, in der das Vertrauen wieder vollständig hergestellt ist. Dabei gilt es eine Balance zwischen Risikoteilung und Risikoreduktion zu schaffen, sodass eine Belastung öffentlicher Haushalte im Krisenfall — egal ob auf nationaler oder gemeinschaftlicher Ebene — möglichst verhindert wird. Bei der Finanzmarktregulierung muss Effizienz gegenüber Komplexität im Vordergrund stehen. Auch soziale Folgen der Regulierung müssen berücksichtigt werden, und dem Konsumentenschutz muss hoher Stellenwert zukommen.

3.3.1.

Die Finanzierung über Bankkredite hat gegenüber der Eigenkapitalfinanzierung in der EU im Vergleich zu den USA einen deutlich höheren Anteil. Der EWSA spricht sich für eine Diversifikation der Finanzierungsquellen und damit für mehr Risikoteilung aus, was in der EU eine stärkere Gewichtung der Eigenkapitalfinanzierung bedeutet.

3.4.

Der EWSA nimmt die Fortschritte im Rahmen der Bankenunion zur Kenntnis, und hebt die positive Rolle der Kommission hervor. Jedoch ist trotz anderslautender Ankündigungen noch immer kein gemeinsamer Beschluss der Mitgliedstaaten zustande gekommen, was den Einsatz des ESM als Backstop für den einheitlichen Abwicklungsmechanismus (SRF) betrifft. Und auch weitere Schritte in Richtung Implementierung des einheitlichen Einlagensicherungssystems (EDIS), das dringend notwendig ist, wurden wiederholt von Mitgliedstaaten abgelehnt.

3.4.1.

Der EWSA sieht einen konkreten Zeitplan für EDIS als überfällig an. (9) Im Zuge des Einsatzes des ESM als Letztsicherung für den SRF empfiehlt der EWSA begleitend eine Aufstockung des SRF, einen Abbau der notleidenden Kredite auf sozial nachhaltige Weise und robuste Mindestanforderungen an Eigenmittel und berücksichtigungsfähigen Verbindlichkeiten (MREL) (10). Darüber hinaus sind im Rahmen der Bankenunion auch Maßnahmen gegen Geldwäsche konsequent fortzusetzen. (11) Die Debatte über eine Banken-Strukturreform soll wieder aufgenommen werden mit dem Ziel, die Risiken auf ein akzeptables Maß zu reduzieren. Auch bezüglich der Regulierungsnotwendigkeit von Schattenbanken spricht sich der EWSA für erhöhtes Augenmerk aus.

3.4.2.

Der EWSA bekräftigt seine frühere Forderung, dass die Verbesserung und Konsolidierung der Säulen der Bankenunion mit der Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) und des Pariser Klimaabkommens einhergehen sollen. Im Hinblick auf Kapitalanforderungen ist eine günstigere Behandlung umweltfreundlicher Investitionen und verschiedener nicht komplexer, inklusiver langfristiger Darlehen vorzusehen, insbesondere wenn sie mit Energieeffizienz, erneuerbaren Energien usw. zusammenhängen.

3.5.

Die Vollendung der Kapitalmarktunion trägt zur Abfederung von Schocks und zur Förderung der Investitionstätigkeit von Unternehmen und damit zu mehr Wettbewerbsfähigkeit bei. (12) Anders als die Bankenunion, die auf klar definierten Säulen beruht, erstreckt sich die Kapitalmarktunion auf eine beachtliche Anzahl unterschiedlicher Initiativen, wie zum Beispiel die MIFID, die Zahlungsdiensterichtlinie oder das europaweite private Altersvorsorgeprodukt (PEPP). Eine abschließende Gesamtbewertung ist schwierig, jedoch empfiehlt der EWSA folgende Gestaltungsprinzipien: Erstens braucht es eine Fokussierung auf zentrale Projekte. Priorität soll der Verbesserung der Aufsicht zukommen. Auch sollte die Kommission die Diskussion über die Schaffung einer EU-Ratingagentur wieder anregen. Hinsichtlich eines Safe Asset sieht der EWSA mit Interesse einem Vorschlag der Kommission entgegen. Zweitens soll auf eine Angleichung der Insolvenzregeln und Unternehmenssteuern hingewirkt werden. In diesem Sinne begrüßt der EWSA die Schritte zur gemeinsamen Körperschaftssteuerbemessungsgrundlage, wobei auch entsprechende Maßnahmen zur Bekämpfung des unfairen Steuerwettbewerbs voranzutreiben sind.

3.6.

Der EWSA begrüßt die Initiative zur Stärkung der internationalen Rolle des Euro, der derzeit die zweitwichtigste Währung nach dem US-Dollar darstellt. Die EU-Kommission empfiehlt dazu die Vollendung der WWU und der Banken- und Kapitalmarktunion sowie zusätzliche Initiativen am Finanzsektor und die stärkere Nutzung des Euro in den Bereichen Energie, Rohstoffe und Verkehr und dass die EU mit einer Stimme zu strategischen und wirtschaftlichen Fragen sprechen muss. Der EWSA erachtet diese Maßnahmen jedoch als nicht weitgehend genug. Soziale Kohäsion, wirtschaftliche Aufwärtskonvergenz und Stärke sowie die Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und Innovation bilden ebenso notwendige Grundlagen für eine gute Entwicklung und damit für eine stärkere internationale Rolle des Euro. Der EWSA verweist auf seine Stellungnahme „Hin zu einer stärkeren internationalen Rolle des Euro“.

4.   Die wirtschaftliche Säule — Basis von Wohlstand und sozialem Fortschritt

4.1.

Die Geldpolitik der EZB wirkt für alle Eurostaaten gleichermaßen, während sich Außenhandelsungleichgewichte verfestigen können, die Länder sich in unterschiedlichen Konjunkturphasen befinden und gegen Schocks ungleich widerstandsfähig sind. Gleichzeitig stehen den Eurostaaten die Instrumente der einzelstaatlichen Geld- und Wechselkurspolitik nicht zur Verfügung. Deshalb braucht es einen Ausbau der wirtschaftlichen Säule, sodass Investitionen in nachhaltiges Wachstum, die Konsumnachfrage sowie Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit gefördert werden. Dafür ist eine Ausgewogenheit zwischen angebots- und nachfrageseitigen Maßnahmen notwendig. Für 2019 und danach rechnet die Kommission mit positiven Wachstumseffekten aufgrund privater Konsumnachfrage und Investitionen. (13) Der EWSA empfiehlt, diese Impulse zu verstärken.

4.2.

Das Europäische Semester spielt eine wichtige Rolle zur makroökonomischen Angleichung. Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, das in der europäischen Säule sozialer Rechte vorgesehene sozialpolitische Scoreboard verstärkt einzubeziehen. Soziale Sicherheit erhöht das Vertrauen in eine finanziell sichere Zukunft und wirkt sich positiv auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage aus. Der EWSA regt an, das Europäische Semester auch für Vorschläge zur Anwendung weiterer Resilienzkriterien zu nutzen, die die Beseitigung sozialer Ungleichheiten und Klimaschutz adressieren.

4.3.

Ausreichende Kaufkraft basiert auf gut entlohnten Arbeitsplätzen. Demgegenüber zeichnet sich ein Trend ab, dass Reallöhne im Schnitt langsamer wachsen als die Produktivität. (14) Der EWSA empfiehlt daher eine Stärkung der Tarifsysteme und der Autonomie der Sozialpartner. Zur Sicherstellung eines fairen Wettbewerbs braucht es die Rechtsdurchsetzung der geltenden Mindeststandards für alle Beschäftigten. Außerdem sollte geprüft werden, welche Instrumente und Rahmenbedingungen auf EU-Ebene zur Verfügung stehen, um die Mitgliedstaaten in ihren Bemühungen zur Entwicklung von Mindesteinkommenssystemen zu unterstützen und ihnen Orientierung zu geben. Die rasche Implementierung der geplanten Europäischen Arbeitsbehörde ist ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung unfairen Wettbewerbs.

4.4.

Investitionen in sozialen Wohnbau, Bildung, Forschung, Digitalisierung, Klimaschutz, nachhaltige Mobilität und erneuerbare Energien sind nicht nur Wirtschaftsimpulse und ein wichtiges konjunkturpolitisches Instrument, sondern stellen auch Produktionskapazitäten für künftigen Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit sicher. (15) Wenngleich der Europäische Fonds für strategische Investitionen (EFSI) einen Schritt in die richtige Richtung darstellt, ist der Handlungsbedarf weiterhin groß. Zum Beispiel stagnieren die öffentlichen Nettoinvestitionen in Prozent des BIP in der Eurozone um den Nullpunkt. Ein wichtiger Schritt liegt in der Verbesserung der fiskalpolitischen Steuerung.

4.5.

Dazu besteht Spielraum ohne Änderung des Primärrechts. Zwar definiert der AEUV als vorrangiges Ziel der EU-Wirtschaftspolitik die Preisstabilität. Dieses Ziel muss aber auf Basis eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums, einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie eines hohen Maßes an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität erreicht werden. Der so zum Ausdruck kommende wirtschaftspolitische Ansatz lässt eine Berücksichtigung sowohl angebots- wie auch nachfrageseitiger Komponenten zu, sodass der Stabilitätspakt auch ein Wachstumspakt ist. Zur Absicherung des Haftungsausschlusses zwischen den Mitgliedstaaten wurde jedoch der Rahmen mit dem Fiskalpakt sowie dem sogenannten Two- und Six-Pack nochmals enger gesteckt. Vor diesem Hintergrund empfiehlt der EWSA, die goldene Regel für öffentliche Investitionen in einer Weise anzuwenden, die mittelfristig die finanzielle und fiskalische Stabilität nicht gefährdet. (16) Dies würde helfen, eine Verstetigung öffentlicher Zukunftsinvestitionen auf notwendigem Niveau — im Einklang mit den Defizitregeln — sicherzustellen.

4.6.

Für die Vollendung der WWU ist eine gemeinsame Fiskalkapazität für das Euro-Währungsgebiet notwendig. Der EWSA tritt für einen gemeinsamen Haushalt für das Euro-Währungsgebiet ein, welcher aus einem gemeinsamen Schuldtitel finanziert werden kann. Darüber hinaus soll die Debatte über einen Europäischen Minister für Wirtschaft und Finanzen (17) wieder aufgenommen werden, der auch gegenüber dem Europäischen Parlament rechenschaftspflichtig sein soll. Der EWSA betont, dass die Auszahlungen mit der Stärkung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur verbunden sein müssen. Es braucht eine Definition des Begriffs „Strukturreformen“ in diesem Sinn. Bei Maßnahmen im Rahmen des mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027 (18) (MFR) ist das Verhältnis zum Struktur- und Investitionsfonds zu klären.

4.6.1.

Die Kommission schlägt eine Europäische Investitionsstabilisierungsfunktion im Rahmen des mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027 vor, die bei länderspezifischen Schocks zur Anwendung gebracht werden soll. Die vorgesehenen Mittel in Höhe von 30 Mrd. EUR sind jedoch völlig unzureichend, um stabilisierende Wirkung zu entfalten. Zudem bedauert der EWSA, dass beim Eurogipfel im Dezember 2018 die Stabilisierungskomponente in dieser Form nicht angesprochen wurde. Demgegenüber wurde angekündigt, Merkmale für ein Haushaltsinstrument für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit zu vereinbaren. (19) Dazu forderte die Kommission im Vorfeld des Euro-Gipfels im Juni 2019 auf und betonte ihre Bereitschaft, einen neuen Regulierungsvorschlag vorzulegen. (20) Der EWSA erkennt darin einen möglichen Einstieg in einen Euro-Haushalt und wird dieses geplante Instrument auf seine wirtschaftlichen und sozialen Implikationen hin prüfen.

4.6.2.

Als weitere Form einer WWU-Fiskalkapazität wurde eine Arbeitslosen(rück)versicherung als Referenz genutzt, deren Finanzierung nach noch festzulegenden Kriterien dauerhaft sichergestellt werden könnte. Im Falle eines wirtschaftlichen Schocks wäre damit eine Abfederung negativer Krisenauswirkungen möglich. Zusätzlich bedarf es einer Stärkung nationaler automatischer Stabilisatoren etwa der nationalen Arbeitslosenversicherungssysteme. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Idee der Schaffung adäquater Grundsätze für die nationalen Arbeitslosenversicherungen weiterverfolgt werden muss. Dies könnte zu einer tatsächlichen Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingen führen und zudem die nationalen automatischen Stabilisatoren stärken.

4.6.3.

Geplant ist auch eine Änderung des ESM-Vertrags, wozu die Kommission die Staats- und Regierungschefs ebenfalls auffordert. Neben der gemeinsamen Letztsicherung für den SRF sollen im Zuge dessen unter anderem auch Anpassungen im Bereich der vorsorglichen Finanzhilfe sowie die Sicherstellung eines angemessenen Niveaus von Konditionalitäten vorgenommen werden. Auch neue Modalitäten der Zusammenarbeit zwischen dem ESM und der Kommission sind vorgesehen. (21) Der EWSA warnt vor einer verschärften Ex-ante-Bindung der vorsorglichen Finanzhilfe, die die stabilisierende Ausrichtung dieses Instruments unterminieren würde.

4.7.

Auch Steuerpolitik darf bei der Vollendung der WWU nicht ausgeblendet werden. EU-weit könnte sich der Schaden aufgrund von Steuerverlusten auf 825 Mrd. EUR jährlich belaufen. (22) Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS) in der EU durch multinationale Unternehmen wurde auf 50 bis 70 Mrd. EUR bzw. 0,3 % des BIP der EU geschätzt, bevor die umfassenden Maßnahmen zur Bekämpfung von Steuervermeidung ergriffen wurden. (23) Steuerhinterziehung ist aber nach wie vor ein großes Problem und muss bekämpft werden. Unterdessen sind Steuerlast und Sozialabgaben auf Arbeit in Europa international die höchsten. Mit der Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung und der Steuerhinterziehung sowie mit der Beseitigung spezieller Arrangements durch Regierungen und Steuerbehörden (24), die als Merkmale von Steueroasen gesehen werden könnten, wäre es möglich, Steuerverluste hintanzuhalten und eine breitere Basis für öffentliche Investitionen zum Ausbau der sozialen Infrastruktur und zur Eindämmung des Klimawandels sowie für eine nachhaltige Stabilisierung der Realwirtschaft und des Finanzsektors zu schaffen.

4.7.1.

Der EWSA nimmt die Mitteilung der Kommission zur Anwendung der Überleitungsklausel gemäß Artikel 48 Absatz 7 EUV unter anderem in der Steuerpolitik mit großem Interesse zur Kenntnis. Sie würde eine Reform hin zu einer Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit ermöglichen. Des Weiteren müssen Initiativen zur Eindämmung von Steuerbetrug und zur Unterbindung eines unfairen Wettbewerbs im Bereich der Körperschaftssteuer konsequent weiterverfolgt werden. Der EWSA verweist dabei auf seine Stellungnahme zu Bedrohungen und Hindernissen für den Binnenmarkt. (25) Der EWSA begrüßt den Vorschlag, dass im Rahmen des MFF bestimmte Steuern direkt in den EU-Haushalt fließen sollen, um so die Eigenmittel zu erhöhen.

5.   Die soziale Säule — Basis für sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt

5.1.

Eine nachhaltige Gestaltung der geld- und finanzpolitischen sowie der wirtschaftspolitischen Säule stärkt auch das soziale Fundament der WWU. In den bisherigen Ausführungen wurden mehrere Bausteine auch zur Aufstockung der sozialen Säule angesprochen. Zum Beispiel würden mit der Integration eines „Social Scoreboards“ in das Europäische Semester Kriterien wie Aufwärtskonvergenz bei Mindesteinkommen oder -löhnen und Senkung der (Jugend-)Arbeitslosigkeit weiter gestärkt werden.

5.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Verbesserung und Umsetzung sozialer Mindeststandards in den Mitgliedstaaten auf der Grundlage eines gemeinsamen europäischen Rahmens mit einem hohen Schutzniveau einen wichtigen Beitrag zur sozialen Aufwärtskonvergenz leisten kann. Der EWSA weist darauf hin, dass eine solche soziale Aufwärtskonvergenz zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf nachhaltigem Wachstum, hochwertigen Arbeitsplätzen und einem wettbewerbsorientierten Unternehmensumfeld beruhen und durch die Suche nach einem fairen Gleichgewicht zwischen einer soliden wirtschaftlichen Grundlage und einer starken sozialen Dimension verbessert werden könnte.

5.3.

Es braucht ein Gleichgewicht zwischen sozialen und finanziellen Fragen. So sollte etwa die Debatte über einen Europäischen Minister für Wirtschaft und Finanzen um die Debatte über einen mit umfassenden Ressourcen ausgestatteten Kommissar für Arbeits- und Sozialbelange ergänzt werden, der unter anderem für die Überwachung der europäischen Säule sozialer Rechte verantwortlich ist.

6.   Die politische Säule — Basis für Demokratie, Solidarität und Einheit

6.1.

Wachsende ökonomische Ungleichheit, Wohlstandsverluste und negative Zukunftserwartungen können in Zukunft eine große Rolle dabei spielen, wie die EU von der Zivilgesellschaft bewertet wird. Die Stärkung der anderen drei Säulen gemäß den oben beschriebenen Vorschlägen ist nach Ansicht des EWSA daher eine wichtige und notwendige Voraussetzung auch für die Stabilisierung der politischen Säule. Dies ist entscheidend, um das Vertrauen der Bürger in die EU zu stärken.

6.2.

Leider sind das Europäische Parlament und die Sozialpartner im Rahmen des Europäischen Semesters, bei Defizitverfahren oder im Rahmen von ESM-Maßnahmen ungenügend eingebunden. Auch das erweist sich als Katalysator für zentrifugale Kräfte, denn die Bewertung, ob ein Land zum Beispiel gegen Defizitkriterien verstößt oder welche Strukturreformen umzusetzen sind, hat verteilungs- und gesellschaftspolitische Konsequenzen. Der EWSA plädiert dringend für die umfassende Einbindung des Europäischen Parlaments, aber auch von nationalen Parlamenten, der Sozialpartner und anderer Organisationen der Zivilgesellschaft in die zentralen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen. Nur so ist sichergestellt, dass neben nationalstaatlichen Interessen auch unterschiedliche parteipolitische und zivilgesellschaftliche Perspektiven entsprechend abgebildet werden.

6.3.

Derzeit sind nur 19 der 28 EU-Staaten Mitglied des Euroraums. Zur Vollendung der Währungsunion braucht es jedoch auch die Aufnahme jener Staaten, die bis jetzt noch nicht Teil des Euroraums sind. Dies soll so schnell wie möglich passieren, wobei auch die Staaten selbst entschlossene Schritte setzen sollen. Auch die Mehrheit der Bevölkerung der EU-Mitgliedstaaten außerhalb der Eurozone ist der Meinung, dass die gemeinsame Währung positive wirtschaftliche Effekte hat. (26)

6.4.

Der EWSA erinnert an die wichtige Rolle, welche ein gemeinsames Vorgehen und geeintes Auftreten der EU-Mitgliedstaaten auch im geopolitischen Kontext spielen. Solidarität, Kompromissfähigkeit und das Ziehen an einem gemeinsamen Strang sind Basis für Wohlstand und Frieden innerhalb der EU sowie ihrer internationalen Bedeutung und Wettbewerbsfähigkeit. Dies gilt vor allem auch im Hinblick auf die Gestaltung der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Der EWSA fordert daher den Rat und die Kommission auf, einen ambitionierten Fahrplan für die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion vorzulegen. Dies schafft Sicherheit und Vertrauen und bildet den Grundstock für eine positive wirtschaftliche und soziale Zukunft der EU.

Brüssel, den 17. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  https://ec.europa.eu/info/publications/deepening-emu-taking-stock-four-years-after-five-presidents-report_en

(2)  https://ec.europa.eu/info/publications/european-economic-forecast-spring-2019_en

(3)  ESPAS, Global Trends to 2030, Challenges and Choices for Europe, April 2019, https://espas.secure.europarl.europa.eu/orbis/node/1362

(4)  https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/file_import/european-semester_thematic-factsheet_addressing-inequalities_de.pdf

(5)  ETUC, Benchmarking Working Europe 2019.

(6)  European Central Bank, The Household Finance and Consumption Survey: results from the Second wave, No 18 / December 2016.

(7)  Stellungnahme des EWSA ABl. C 177 vom 18.5.2016, S. 35.

(8)  European Central Bank, Survey on the Access to Finance of Enterprises in the euro area, April to September 2018, November 2018.

(9)  Stellungnahme des EWSA ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 46.

(10)  Term sheet on the European Stability Mechanism Reform, 4.12.2018.

(11)  Eurogroup report to Leaders on EMU deepening 4.12.2018.

(12)  Capital Markets Union. Commission contribution to the European Council CMU (21/22 March 2019).

(13)  https://ec.europa.eu/info/publications/european-economic-forecast-spring-2019_en

(14)  Europäische Kommission, Jahreswachstumsbericht 2019.

(15)  IMF direct, 2014; OECD Economic Outlook, Juni 2016.

(16)  Truger, Achim (2018): Fiskalpolitik in der EWU. Reform des Stabilitäts-und Wachstumspakts nicht vergessen! [Fiscal Policy in the EMU. Don’t forget reform of the Stability and Growth Pact!] WISO direkt, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.

(17)  COM(2017) 823 final.

(18)  COM(2018) 321 final.

(19)  Erklärung des Euro-Gipfels, 14.12.2018.

(20)  https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/economy-finance/com2019_279_de.pdf

(21)  Term sheet on the European Stability Mechanism reform, 4.12.2018.

(22)  A report for the Socialists and Democrats Group in the European Parliament, von Richard Murphy, http://www.taxresearch.org.uk/Documents/EUTaxGapJan19.pdf

(23)  EWSA-Stellungnahme ECO/491 — Besteuerung – Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit, noch nicht veröffentlicht.

(24)  Beschlüsse der Kommission SA.38375 (Lxb/Fiat Finance), SA.38374 (NL/Starbucks), SA 38373 (IRL/Apple), SA 38944 (Lxb/Amazon).

(25)  ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 8 (Ziffer 3.6 Steuerpolitik).

(26)  https://agenceurope.eu/en/bulletin/article/12271/23


18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/39


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Das Europäische Semester und die Kohäsionspolitik — Plädoyer für eine neue europäische Strategie nach 2020“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 353/07)

Berichterstatter: Etele BARÁTH

Mitberichterstatter: Petr ZAHRADNÍK

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 GO

Beschluss des Plenums

20.2.2019

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

2.7.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

154/1/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die kommenden Jahre mit einem neuen politischen und finanziellen Rahmen sind eine Gelegenheit für die EU, Entschlossenheit zu zeigen, bessere Ergebnisse zu erzielen und neue Chancen gut zu nutzen. Es bedarf einer erneuerten, ehrgeizigeren und dynamischeren Strategie für 2030 für ein nachhaltiges, wettbewerbsfähiges, schützendes und faires Europa.

1.1.1.

Eine der größten Lektionen und Erfolge der jüngsten wirtschaftspolitischen Steuerung der EU im Zuge der Krise war die Einführung und praktische Umsetzung des Europäischen Semesters. Diese neue Form der wirtschaftspolitischen Koordinierung beinhaltet eine umfassende Überwachung und Analyse, eine praktische koordinierte Verwaltung sowie eine Reihe von Beschränkungen und Sanktionen (1), die eng mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten verbunden sind. Die Ergebnisse sollten sich in Form von strengerer Disziplin, mehr Verantwortung und einer stärkeren Fokussierung auf strategische Schlüsselfragen zeigen. Damit könnte es als zuverlässige Plattform für die neuen kohäsionspolitischen Maßnahmen dienen.

1.2.

Das Verfahren des Europäischen Semesters ergänzt das System der seit Jahrzehnten bestehenden Instrumente der Kohäsionspolitik. Die Verbindungen zwischen dem Europäischen Semester und der EU-Kohäsionspolitik (und vielleicht den meisten MFR-Programmen) bieten enorme Möglichkeiten zur Verbesserung der Koordinierung und Steuerung der Wirtschaftspolitik der EU. Dies ist Ausdruck einer besseren Governance und eines leistungsbasierten Ansatzes. Dieses Thema hat sowohl einen rational-technokratischen als auch einen politischen Hintergrund (mit Blick auf die Europawahlen, die Kompetenzverteilung zwischen der nationalen und der EU-Ebene, die Bewältigung eines Bottom-Up- und eines Top-Down-Ansatzes bzw. die Schaffung eines Gleichgewichts zwischen beiden). Durch seinen koordinierenden Charakter vereint es die Umsetzung strategischer wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischer Ziele sowie politischer Prioritäten und die Interaktion zwischen kurz- und langfristigen Aufgaben.

1.3.

Aufgrund seiner ständig wachsenden Praxis und Philosophie der Selbstregulierung ist das Europäische Semester die einzige Arbeitsstruktur, die über einen Mehrzweckmechanismus verfügt, der in der Lage ist, über die länderspezifischen Empfehlungen das Zusammenspiel zwischen sehr unterschiedlichen Verfahren und die Umsetzung von etwa 32 europäischen Politiken zu messen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) glaubt an das Verfahren des Europäischen Semesters und meint, dass eine ausgewogenere Anwendung von Anreizen und differenzierten, begründeten und sorgfältig abgewogenen Sanktionen (2) möglich sein sollte. Dabei sollten die Umsetzung der wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen Ziele koordiniert und nach Möglichkeit kurzfristige Fortschritte bei der Erreichung der langfristigen Ziele gemessen werden.

1.4.

Der EWSA nimmt mit Bedauern zur Kenntnis, dass trotz eines klar definierten mehrstufigen Verfahrens (Jahreswachstumsberichte, länderspezifische Empfehlungen, nationale Reformprogramme, Partnerschaftsabkommen) das Leistungsniveau der Vereinbarungen je nach Stand der makroökonomischen Entwicklung der einzelnen Länder sehr unterschiedlich ist. Die Umsetzung der mehrjährigen Strategien ist allgemein unzureichend (zwischen 40 und 50 %). Es ist bemerkenswert, dass sozialpolitische Ziele zu den Aufgabenstellungen gehören, die am wenigsten erfüllt werden; dazu gehören: Löhne und Lohnfindung, Gesundheit und Langzeitpflege, Bildung, Ausbildung, lebenslanges Lernen und hochwertige Arbeitsplätze (insbesondere für junge Leute).

1.5.

Der EWSA stellt fest, dass ein gestärktes Verfahren des Europäischen Semesters, das seine ursprünglichen Ziele nicht aus den Augen verliert, das wichtigste Element der wirtschaftspolitischen Koordinierung sein sollte. Dieses gestärkte Verfahren sollte es ermöglichen, die Stabilitäts- und Konvergenzprogramme abzuschließen, und möglicherweise zu einem zentralen Koordinierungselement eines zielgerichteten Investitionsverfahrens werden, durch das die Umsetzung der Reformen beschleunigt, das Gleichgewicht zwischen Wirtschaftsleistung und Kohäsionspolitik gemessen und soziale Ziele erreicht werden können. Kernthemen sind unter anderem die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte, nachhaltige Beschäftigung, die Einführung im Zuge des Europäischen Semesters festgelegter sozialer Mindeststandards in den Mitgliedstaaten auf der Grundlage eines gemeinsamen europäischen Rahmens sowie ehrgeizigere Klimaziele und ein besserer Schutz der biologischen Vielfalt.

1.6.

Nach Ansicht des EWSA muss Europa, wenn es ein nachhaltiges Wachstum, ein sozial und ökologisch tragfähiges Wachstum erreichen will, sich eingehender mit lokalen Ressourcen befassen und diese effizient nutzen. Die neue Strategie Europa 2030 muss eine realisierbare Brücke zwischen lokalen, regionalen und nationalen Zielsetzungen und den Zielen eines besser vernetzten Europas schlagen.

1.7.

Nach Ansicht des EWSA könnte eine verstärkte Koordinierung zwischen den europäischen Fonds (Kohäsionsfonds, InvestEU usw.) dazu beitragen, private Beteiligungen und Investitionen leichter anzuziehen. Um die Produktivität und die privaten Investitionen zu steigern, muss das Investitionsumfeld verbessert werden, wobei selbstverständlich die in den jeweiligen Mitgliedstaaten geltenden steuerlichen Regelungen zu berücksichtigen sind. Im besten Fall könnte ein verbessertes Investitionsumfeld das Verhältnis zwischen der Steuerung auf europäischer Ebene und den verschiedenen Arten der eigenverantwortlichen Mitwirkung verbessern.

1.8.

Der EWSA schlägt vor, dass das erneuerte System der europäischen Governance auf der Grundlage der Strategie EU 2030 mehr auf Ergebnisse ausgerichtet sein und weniger Prioritäten setzen, einen leichteren Zugang zu Verwaltungsverfahren schaffen und sich stärker auf die Offenheit für und die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft stützen sollte. All das muss Hand in Hand mit der Entwicklung von Überwachungs- und Bewertungssystemen gehen. Ein wichtiger Weg zur Stärkung der europäischen Governance ist es, die Mehrebenenverwaltung zu verbessern und offener für Partizipation zu sein.

1.9.

Der EWSA muss einen neu definierten Platz in der Vorbereitung und Umsetzung der europäischen Politik und europäischer Strategien finden und eine neue und stärkere Position innerhalb der europäischen Governance einnehmen, damit er eine besondere Mittlerrolle zwischen der Realitätswahrnehmung der Zivilgesellschaft und ihren Zukunftsabsichten ausüben kann. Der EWSA ist bestrebt, mithilfe eines verstärkten strukturierten Dialogs mit den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft zu einer besseren Verständigung beizutragen.

1.10.

Der EWSA muss sich besser mit neuen Informationssystemen — einschließlich digitalisierter und sozialer Netze, die mit der Zivilgesellschaft verbunden sind — vertraut machen und sie stärker nutzen. Der EWSA kann dieses Ziel erreichen, wenn er sich am Verfahren des Europäischen Semesters beteiligt und die erhaltenen Informationen geschickt auswertet.

1.11.

Der EWSA weist auf eines der größten derzeitigen Hindernisse für die Freisetzung des Entwicklungspotenzials Europas hin: es mangelt an sachlicher und kontinuierlicher Kommunikation zwischen den Wirtschafts- und Sozialpartnern und den europäischen Entscheidungsträgern. Auch hier müssen wir das Beziehungsgeflecht des EWSA kennen.

1.12.

Der EWSA ist der Ansicht, dass sich das Semester durch eine kontinuierliche Bewertung der komplexen Ziele, die Nutzung der umfassenden Partnerschaftsabkommen, den Aufbau einer umfassenden zivilgesellschaftlichen Unterstützung und die Messung des globalen Umfelds der Europäischen Union als geeignetes Mittel erweisen wird, um das Krisenrisiko in der Zukunft zu verringern und ein nachhaltige, sinnvolles und reaktionsschnelles wirtschaftliches und soziales Umfeld zu schaffen.

2.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

2.1.    Europa hat einen Wendepunkt erreicht

2.1.1.

Europa hat einen neuen Wendepunkt erreicht. Zehn Jahre nach der schweren Wirtschaftskrise und trotz des kräftigen Aufschwungs in Europa leben wir in einem Zustand der politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen und mit einer aufkommenden neuen globalen Unsicherheit. Eine der größten Lektionen und Erfolge der jüngsten wirtschaftspolitischen Steuerung der EU im Zuge der Krise war die Einführung und praktische Umsetzung des Europäischen Semesters. Diese neue Form der wirtschaftspolitischen Koordinierung beinhaltet eine umfassende Überwachung und Analyse, eine praktische koordinierte Verwaltung sowie eine Reihe von Beschränkungen und Sanktionen, die eng mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten verbunden sind. Die Ergebnisse sollten sich in Form von strengerer Disziplin, mehr Verantwortung und einer stärkeren Fokussierung auf strategische Schlüsselfragen zeigen. Damit könnte es als zuverlässige Plattform für die neuen kohäsionspolitischen Maßnahmen dienen.

2.1.2.

In diesen Zeiten, in denen ein neuer politischer Fünfjahreszyklus für die Beschlussfassung der EU und ein neuer finanzieller Siebenjahreszeitraum für eine koordinierte europäische Entwicklung bevorstehen und das Ende der „Strategie Europa 2020“ für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum naht, muss die EU ihre Regierungsführung überdenken: Diese muss auf einer neuen, umfassenden Umsetzungsstrategie für die kommenden zehn Jahre als Kompass für eine nachhaltige Zukunft aufbauen.

2.1.3.

Der Gedanke, dass eine der wichtigsten Voraussetzungen für die erfolgreiche Umsetzung einer neuen „Regierungsführung auf mehreren Ebenen und mit mehreren Akteuren“ die ungehinderte Einbeziehung der Wirtschafts- und Sozialpartner in den Beschlussfassungs- und Durchführungsprozess ist, findet breite Unterstützung (3).

2.1.4.

Aufgrund der Erfahrungen mit dem Mehrwert eines ausgeprägten Partnerschaftsprinzips in der Kohäsionspolitik weist der EWSA erneut auf die Bedeutung der Multi-Level-Governance hin. Diese verbessert die strukturierte Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen und anderer Interessenträger an der Planung, Durchführung, Bewertung und Überwachung der Mittelverwendung. Das gleiche sollte auch für die makroökonomische Planung in den Mitgliedstaaten gelten.

2.1.5.

Der EWSA betont in diesem Zusammenhang, dass ein gemeinsamer europäischer Rahmen — ähnlich dem Partnerschaftsabkommen im Rahmen der EU-Strukturfonds — geschaffen werden muss, der eine starke und sinnvolle Beteiligung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft im Allgemeinen in allen Phasen der Gestaltung und Umsetzung des Europäischen Semesters gewährleisten kann. Dies wird eine höhere Rechenschaftspflicht der nationalen Behörden sowie eine wirksame und sinnvollere Umsetzung der Maßnahmen und Empfehlungen zur Folge haben.

2.1.6.

Die Revitalisierung der EU muss von derselben Kraft der Kontinuität, die den europäischen Werten wie Freiheit, Sicherheit, Recht, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte zugrunde liegt, sowie von einer entschlossenen weiteren Erneuerung gemäß den Kriterien der nachhaltigen Entwicklung getragen werden.

2.2.    Die Komplexität des Europäischen Semesters

2.2.1.

Die Kommission hat in den letzten zehn Jahren große und anscheinend erfolgreiche Anstrengungen unternommen, um ein mehrstufiges Arbeitssystem der wirtschaftspolitischen Steuerung zu schaffen: das Europäische Semester. Es umfasst verschiedene Maßnahmen und Strategien, die sich auf sektorübergreifende und horizontale Fragen in allen Bereichen von Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt erstrecken. Mit diesem neuen Verfahren hat die Europäische Kommission das herkömmliche System der „offenen Methode der Koordinierung“ überwunden.

2.2.2.

Das Europäische Semester wurde in den letzten Jahren verstärkt und ergänzt, wobei wichtige sozial- und umweltpolitische Elemente der Strategie Europa 2020 direkt mit den kohäsionspolitischen Empfehlungen verknüpft wurden (4). Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der wirtschaftspolitischen Steuerung, der Umsetzung der Kohäsionspolitik und einem neuen Konzept für die europäische Entwicklung: der Investitionsoffensive für Europa (5).

2.2.3.

In mehreren Stellungnahmen hat sich der EWSA für Strukturreformen ausgesprochen, mit denen die Steigerung der Produktivität, das Wachstum. die Qualität und Sicherheit von Arbeitsplätzen und der Sozialschutz verbessert und gleichzeitig Investitionen gefördert und die auf der Autonomie der Sozialpartner beruhenden Tarifverhandlungen sowie der soziale Dialog gestärkt werden (6). Der EWSA ist auch „der Auffassung, dass das Reformhilfeprogramm noch stärker und unmittelbarer mit dem Europäischen Semester verknüpft werden kann, als im Verordnungsvorschlag vorgesehen ist“ (7).

2.3.    Eine nachhaltige Zukunft für Europa

2.3.1.

Anfang dieses Jahres veröffentlichte die Kommission ihr Reflexionspapier über eine nachhaltigere Zukunft Europas und ebnete damit den Weg für eine umfassende Umsetzungsstrategie für die Zeit bis 2030. In dem Papier wird dargelegt, wie die Vision der EU für eine nachhaltige Entwicklung und der Schwerpunkt der sektorspezifischen Politiken nach 2020 weiterentwickelt werden können, während gleichzeitig die langfristige Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) vorbereitet wird. Der Ausschuss fordert ehrgeizigere, in das Europäische Semester integrierte Klimaziele, da das Europäische Semester im Hinblick auf die Gefahren des Klimawandels und die Fortschritte der EU bei der Erreichung der Ziele des Übereinkommens von Paris relativ schwach ist (8). Darüber hinaus hat der EWSA in einer vom Klimawandel betroffenen Welt wiederholt Empfehlungen ausgesprochen, um den Schutz der biologischen Vielfalt und der für unsere Existenz lebensnotwendigen Ressourcen zu verbessern (9).

2.3.2.

In dem Reflexionspapier werden drei Szenarien vorgestellt, um die Diskussion über Folgemaßnahmen zu den Nachhaltigkeitszielen innerhalb der EU anzuregen:

eine übergreifende EU-Strategie für die Nachhaltigkeitsziele, die als Richtschnur für das Handeln der EU und ihrer Mitgliedstaaten dienen soll;

eine durchgängige Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele in allen relevanten EU-Politikbereichen durch die Kommission, jedoch ohne Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Tätigwerden, und

eine stärkere Fokussierung auf das auswärtige Handeln bei gleichzeitiger Konsolidierung der derzeitigen Nachhaltigkeitsbestrebungen auf EU-Ebene.

2.3.3.

Eine intelligente Verschmelzung der ersten beiden Szenarien mit dem Europäischen Semester sollte eine entscheidende Rolle bei der Ausführung der Haushalte und Finanzierungsrahmen (wie der Struktur- und Investitionsfonds) der EU spielen; die Flexibilität des neuen MFR sollte möglichst umfassend genutzt und eine enge Verknüpfung zwischen der Kohäsionspolitik und anderen Politikbereichen gewährleistet werden.

2.3.4.

Es könnte erwogen werden, dem Verfahren des Europäischen Semesters, ergänzt um ein neues partizipatives Modell, eine wirksamere und effizientere Rolle bei der Entwicklung der Union zukommen zu lassen.

2.3.5.

Eine angemessen finanzierte Investitionsoffensive der EU und die EU-Kohäsionspolitik können beide in Abstimmung mit den länderspezifischen Empfehlungen dazu einen Beitrag leisten. Das setzt voraus, dass im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts angemessene Flexibilität gewährt wird. Wie bereits in einer früheren Stellungnahme ausgeführt, ist auch weiterhin eine angemessene Mittelausstattung für die Kohäsionspolitik aus dem EU-Haushalt erforderlich (10).

2.4.    Die Kohäsionspolitik und das Verfahren des Europäischen Semesters

2.4.1.

Durch die verschiedenen Vorschläge für die MFR-Verordnungen 2021–2027 (der Vorschlag für eine Dachverordnung sowie die Vorschläge für sektorspezifische Verordnungen) wurden einige neue Elemente eingeführt, die dazu beitragen könnten, die Koordinierung und Leistung der EU-Wirtschaftspolitik und die Effizienz der kohäsionspolitischen Maßnahmen zu verbessern (11). Eines der wichtigsten Elemente ist die Definition eines klaren Verhältnisses zwischen der Kohäsionspolitik und dem Verfahren des Europäischen Semesters sowie den verschiedenen damit verbundenen Schritten (12).

2.4.2.

Die Verordnungsvorschläge hingegen sind nach wie vor offen dafür, genügend Raum für Erfindung und Kreativität zu nutzen, um dieses Thema praktisch anzugehen. Diese Stellungnahme könnte einige Ideen dazu bieten, wie dies zu bewerkstelligen ist. Erstens könnten die Kohäsionspolitik und das Europäische Semester als miteinander verbunden betrachtet werden; sie sind eng miteinander verknüpft und bieten ein enormes Potenzial zur Verbesserung der derzeitigen Situation.

2.4.3.

Bei den Investitionen und Interventionen der Kohäsionspolitik hätte der Fokus vornehmlich auf die Bereiche gerichtet werden können, die im Rahmen des Europäischen Semesters hervorgehoben wurden. Dies gilt insbesondere, wenn mittels statistischer Plattformen wie dem sozialpolitischen Scoreboard Investitionslücken ermittelt worden sind. Es ist notwendig, den zeitlichen Rahmen für die Umsetzung der politischen Ziele anzupassen (im Allgemeinen sieben Jahre für die Kohäsionspolitik gegenüber einem kürzeren Zeitraum von in der Regel ein oder eineinhalb Jahren für die länderspezifischen Empfehlungen).

2.4.4.

Für einen bestimmten Mitgliedstaat könnten sie anhand der Bewertungsmatrix für die wichtigsten makroökonomischen, finanzpolitischen und strukturellen Indikatoren ermittelt werden, die jedes Jahr im November zu Beginn des neuen Europäischen Semesterzyklus veröffentlicht werden, insbesondere unter Verwendung des Verfahrens der nationalen Reformprogramme, die anschließend in länderspezifische Empfehlungen umgewandelt werden.

2.4.5.

Der neue Vorschlag für den MFR 2021–2027 muss auch auf stärkerer Flexibilität und thematischer Konzentration aufbauen. Die Instrumente der Kohäsionspolitik könnten deshalb flexibel den wirklichen Bedürfnissen angepasst werden, die für einen bestimmten Mitgliedstaat spezifisch sind.

2.4.6.

Die gegensätzlichen Richtungen im wechselseitigen Verhältnis können jedoch darauf hindeuten, dass das Abschneiden im Rahmen des Europäischen Semesters als ein Mittel zur Förderung einer guten Leistung oder für einen eindeutig differenzierten Ansatz verhältnismäßiger Sanktionen (13) bei schlechter Leistung wirken kann (14). Mitgliedstaaten, die im Rahmen des Europäischen Semesters gute Leistungen erbringen, die makroökonomische Disziplin wahren und verantwortungsbewusst auf die länderspezifischen Empfehlungen reagieren, könnten durch eine Art Bonus durch die zusätzliche Zuweisung von Mitteln aus der Kohäsionspolitik (EFRE, ESF+ oder KF) gefördert werden; die finanzielle Basis der Mitgliedstaaten, die schlechte Leistungen erbringen, sowie derjenigen, die länderspezifische Empfehlungen ignorieren, könnte entsprechend verringert werden (15).

2.4.7.

Im neuen Vorschlag für den MFR 2021–2027 werden auch umfassend die Synergien zwischen mehreren Kapiteln und Programmen des MFR behandelt. Das Europäische Semester bestimmt den wichtigsten Reformbedarf, so wie er sich aus der Perspektive eines jeden Mitgliedstaats darstellt. In einem Vorschlag wird sogar ein neues Reformhilfeprogramm eingeführt; es wäre mehr als notwendig, ein gemeinsames Managementsystem für kohäsionspolitische Instrumente und Reformhilfeprogramme (16) in der Praxis einzuführen, am besten auf der Ebene eines bestimmten operationellen Programms der Kohäsionspolitik. In diesem Fall könnten optimale Bedingungen für Synergien geschaffen werden (17).

2.4.7.1.

Dasselbe gilt für das InvestEU-Programm (das teilweise auch auf der freiwilligen Zuweisung von Kohäsionsfondsmitteln der Mitgliedstaaten zu diesem zentralisierten Finanzinstrument beruht).

2.4.8.

Für den MFR 2021–2027 könnte es ein strategisches Handicap geben, da es keinen Nachfolger für die Strategie Europa 2020 mehr geben wird. Es stellt sich ernsthaft die Frage, ob mit dem Reflexionspapier über eine nachhaltige Zukunft Europas wirklich das Ziel verfolgt wird, dieser Rolle gerecht zu werden. Unlängst spielte es eine maßgebliche Rolle bei der Festlegung der nächsten länderspezifischen Investitionsprioritäten (im Februar 2019 veröffentlichte Länderberichte (18)) sowie des Investitionsbedarfs (Frühjahrsprognose Mai 2019 (19)).

2.4.8.1.

Derzeit umfassen die Hauptziele der EU-Strategie im Verfahren des Europäischen Semesters und bei anderen politischen Instrumenten die Schlüsselmesspunkte für Fortschritt. Sie dienen als Ausgangspunkt für eine neue Strategie 2030.

2.4.9.

Sollte die neue Strategie 2030 verspätet aufgestellt werden, könnte für einen Übergangszeitraum empfohlen werden, ein Verfahren zur Ausarbeitung einer mittel- (bis lang-fristigen Strategie im Rahmen der Schritte, auf denen das Europäische Semester basiert, einzuführen (beispielsweise könnten die Grundzüge einer solchen Strategie für das Jahr 2021 und darüber hinaus im Jahr 2020 veröffentlicht und anschließend alle zwei oder drei Jahre Zustandsberichte über die tatsächliche Leistung und die tatsächlichen Ergebnisse veröffentlicht werden).

2.4.10.

Daher erwägt der EWSA einen neuen strategischen Ansatz, der zu einer Kohäsionspolitik führt, die den Fokus auf echte (leistungsbezogene und ergebnisorientierte) Prioritäten richtet, die thematisch konzentriert, ausgewogen und integriert, glaubwürdig (auf der Grundlage von Analysen), professionell umgesetzt und auf die Eigenverantwortung aller relevanten Akteure ausgerichtet sind.

2.5.    Die Bedeutung des Europäischen Semesters für den sozialen Zusammenhalt

2.5.1.

Die Stärkung des sozialen Zusammenhalts und die Wiederherstellung des Vertrauens der europäischen Öffentlichkeit sind zwei Elemente, die Hand in Hand gehen.

2.5.2.

Die europäische Säule sozialer Rechte leistet zu beiden Elementen einen maßgeblichen Beitrag, u. a. durch Unterstützung und Beratung der Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Reformen zur Schaffung nachhaltiger Beschäftigung in Form guter Arbeitsplätze mit erheblicher Wertschöpfung.

2.5.3.

In diesem Zusammenhang sollten das sozialpolitische Scoreboard und seine Indikatoren nicht nur zur Messung der Leistung einer Region oder eines Mitgliedstaats in den Bereichen der europäischen Säule sozialer Rechte, sondern auch für die Ermittlung eventueller Investitionslücken und zur möglichst effizienten Ausrichtung der Mittel des ESF+ genutzt werden.

2.5.4.

Die statistischen Bezugswerte sollten zur Ermittlung von Investitionslücken in den einzelnen Mitgliedstaaten und zur Ausrichtung der Investitionen und der politischen Empfehlungen auf den größten Nutzen in puncto sozialer Inklusion dienen.

2.5.5.

Die jüngsten Arbeiten bezüglich geschlechtsspezifischer Ungleichheit (20), der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und insbesondere in Bezug auf junge Menschen und Personen, für die der Zugang zum Arbeitsmarkt am schwierigsten ist, sowie Menschen mit Behinderungen und besonderen Bedürfnissen sollten aufmerksam beachtet werden. Besondere Aufmerksamkeit ist auch Personen mit geringen oder keinen Kenntnissen in den Bereichen Computer und Digitaltechnik zu widmen.

2.5.6.

Die europäische Säule sozialer Rechte sollte dazu genutzt werden, die Berücksichtigung der Empfehlungen an die Mitgliedstaaten zu messen. Die 20 Grundsätze der Säule sollten als Indikatoren bei der Bewertung dienen, inwiefern es den Mitgliedstaaten gelungen ist, ihr Engagement für die soziale Säule in ihre Wirtschaftspolitik einzubeziehen.

2.5.7.

Es könnte sich die Frage stellen, wie die europäische Säule sozialer Rechte zur Verstärkung und Intensivierung der Umsetzung des Europäischen Semesters herangezogen werden soll, anstatt das Verfahren zu überlasten.

2.5.8.

Die positive Antwort erscheint immer wieder: Es bedarf einer klar definierten Strategie mit horizontalen, übergreifenden Verknüpfungen zwischen den genannten Politikbereichen. Diese neue europäische Gesamtstrategie für die nachhaltige Zukunft Europas könnte die Umsetzung durch den starken Koordinierungsmechanismus des Europäischen Semesters gewährleisten.

2.6.    Wir müssen Ordnung in Vielfalt gewährleisten

2.6.1.

Im Anhang der Dachverordnung (21) findet sich eine umfassende Sammlung verschiedener europäischer Politikbereiche, die in Anbetracht der siebzehn Nachhaltigkeitsziele zeigt, dass es nahezu unmöglich ist, eine Koordination zwischen diesen Politikbereichen zu erreichen. Dazu kommen noch die zwanzig Ziele der europäischen Säule sozialer Rechte. Um die Lage zu klären und zu vereinfachen, liegt in der Regionalentwicklungs- und Kohäsionspolitik für die Zeit nach 2020 der Fokus klar auf fünf Investitionsprioritäten:

ein intelligenteres Europa durch Innovation, Digitalisierung, wirtschaftlichen Wandel und Unterstützung für kleine und mittlere Unternehmen;

ein grüneres, klimaneutrales Europa, das das Übereinkommen von Paris umsetzt und in die Energiewende, erneuerbare Energien und den Kampf gegen den Klimawandel investiert;

ein stärker vernetztes Europa mit strategischen Verkehrs- und Digitalnetzen;

ein sozialeres Europa, das die europäische Säule sozialer Rechte verwirklicht und hochwertige Arbeitsplätze, Bildung, berufliche Fähigkeiten (nach Ansicht des EWSA sind berufliche Bildung und lebenslanges Lernen von besonderer Bedeutung), soziale Inklusion und den gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung unterstützt;

ein Europa, das seinen Bürgern näher ist und lokal verankerte Entwicklungsstrategien und eine nachhaltige urbane Entwicklung in der gesamten EU unterstützt (wobei der EWSA auch die Thematik von Rand- und ländlichen Gebieten hervorheben würde).

2.6.2.

Um die Komplexität der Arbeit an einer neuen Gesamtstrategie 2030 für Europa zu demonstrieren, werden in dem Reflexionspapier die zentralen Themen der EU-Vision für nachhaltige Entwicklung wie folgt zusammengefasst:

eine nachhaltige Entwicklung zur Sicherung der menschlichen Lebensgrundlagen (der EWSA unterstreicht in dieser Hinsicht die Bedeutung der Arbeitsbedingungen): Wettbewerbsvorteile Europas,

die EU und die anstehenden globalen Herausforderungen,

ein nachhaltiges Europa bis 2030,

die EU als globaler Wegbereiter einer nachhaltigen Entwicklung,

Zukunftsszenarien (22).

2.7.    Eine bessser koordinierte Steuerung

2.7.1.

Wird die bevorstehende große Chance, die die Neubesetzung der Europäischen Kommission darstellt, genutzt, kann die Gesamtstrategie für die Zeit nach 2020 mit neuen, frischen Impulsen und einem Schwerpunkt auf nachhaltiger Entwicklung in der Tat ein Handlungsinstrument sein, das auf dem Verfahren des Europäischen Semesters und einer neuen Governance-Struktur in der Kommission aufbaut.

2.7.2.

Angesichts des derzeitigen Demokratie- und Umsetzungsdefizits, das im Hinblick auf Europa 2030 zunehmend festgestellt wurde, hat eine wachsende Zahl von Interessengruppen einen erheblichen Bedarf an mehr partizipativer Demokratie, verbesserten Beziehungen zwischen den Sozialpartnern (stärkere Arbeitnehmerbeteiligung), Demokratie in allen Wirtschaftssektoren und einer wirksamen Umsetzung der Ziele der Strategie Ausdruck verliehen. Eine erneuerte langfristige Strategie könnte eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung einer auf mehr Wettbewerbsfähigkeit und Entwicklung ausgerichteten europäischen wirtschaftspolitischen Steuerung spielen, sofern sie im Rahmen des Europäischen Semesters gut koordiniert wird.

2.7.3.

Dies kann nur durch entschlossene und sorgfältig geplante Maßnahmen erreicht werden, um die aktive Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft an dem Verfahren zu gewährleisten. Deshalb könnte eine zentrale Anlaufstelle, eine Art Informationszentrum (23), eine Plattform für den Informationsaustausch bzw. ein virtuelles und physisches Kompetenzzentrum innerhalb der Strukturen des EWSA geschaffen werden, ohne allerdings den administrativen oder finanziellen Aufwand zu erhöhen. Deren Aufgabe sollte es sein, sich speziell der Bewältigung der Probleme im Zusammenhang mit der Umsetzung der Strategie Europa 2030 zu widmen (wie zum Beispiel die geringe nationale Eigenverantwortung, der unklare institutionelle Rahmen und die Unterordnung der sozialen Säule). Um eine wirksame Koordinierung und Rationalisierung zu gewährleisten, sollten die damit verbundenen Aufgaben, Verfahren und das Management der behördenübergreifenden Zusammenarbeit auf gesamteuropäischer und nationaler Ebene koordiniert werden.

2.7.4.

Das Modell des One-stop Shop könnte in allen Bereichen, in denen der zentrale Zugangspunkt gewährleistet ist, in passender Weise als Grundlage für eine integrierte Plattform für Informationsaustausch und Konsultation eingesetzt werden, was die weitere Politikgestaltung und Entscheidungsfindung erleichtern würde. Aufgrund des beratenden Charakters der dem EWSA übertragenen Aufgaben, seines gut etablierten Netzwerks nationaler Wirtschafts- und Sozialräte und der interinstitutionellen Beziehungen könnte das Modell der zentralen Anlaufstelle ein hervorragendes Instrument für die Durchführung von Konsultationen und die Erleichterung der Umsetzung der Strategie EU2030 sein. Dabei könnte das breitestmögliche Spektrum von Interessengruppen der Zivilgesellschaft in die Gewinnung von Informationen und den Austausch über die Verwirklichung der Prioritäten von EU2030 auf regionaler/nationaler sowie gesamteuropäischer Ebene einbezogen werden.

2.7.5.

Das auf der zentralen Anlaufstelle beruhende Informationszentrum des EWSA könnte sich mit Problemen der Umsetzung sowie Bedenken über ein Demokratiedefizit beschäftigen, die mit der Art und Weise zusammenhängen, wie die EU arbeitet. Die Einrichtung der Gruppe Europäisches Semester im Rahmen der Fachgruppe ECO war ein erster Schritt hin zu einem neuartigen Informationszentrum, um dem EWSA in der institutionellen Landschaft eine größere Sichtbarkeit zu verleihen.

Brüssel, den 17. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Dachverordnung 2021–2027, COM(2018) 375 final.

(2)  Vereinbarungen zwischen der Europäischen Kommission und einzelnen EU-Ländern. Darin werden die Pläne der nationalen Behörden für die Mittelverwendung der europäischen Struktur- und Investitionsfonds festgelegt.

(3)  Stellungnahmen des EWSA zur Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen 2021–2027, ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 83 und zur Zukunft der Kohäsionspolitik, ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 50.

(4)  Europäisches Semester 2019: Mitteilung der Kommission zu Länderberichten, COM(2019) 150 final.

(5)  Investitionsoffensive für Europa und das Programm InvestEU (2021–2027).

(6)  Stellungnahme des EWSA zum Mehrjährigen Finanzrahmen nach 2020, ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 106.

(7)  Stellungnahme des EWSA zum Reformhilfeprogramm, ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 121.

(8)  Stellungnahme des EWSA „Für eine nachhaltige Zukunft Europas auf die Menschen hören (Sibiu und darüber hinaus)“, ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 37).

(9)  Stellungnahme des EWSA „Die Zukunft der EU: Vorteile für die Unionsbürgerinnen und -bürger und Wahrung der europäischen Werte“, ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 57.

(10)  Stellungnahme des EWSA zur Zukunft der Kohäsionspolitik, ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 50.

(11)  MFR 2021–2027, COM(2018) 321 final und MFR 2021–2027 Anhang.

(12)  Stellungnahme des EWSA zum Mehrjährigen Finanzrahmen nach 2020, ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 106.

(13)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Für eine nachhaltige Zukunft Europas auf die Menschen hören (Sibiu und darüber hinaus)“, ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 37, Ziffer 11.4.

(14)  Dachverordnung 2021–2027, COM(2018) 375 final.

(15)  The legal nature of Country Specific Recommendations, Europäisches Parlament, Juni 2017.

(16)  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufstellung des Reformhilfeprogramms, COM(2018) 391 final.

(17)  Stellungnahme des EWSA zum Reformhilfeprogramm, ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 121.

(18)  Europäisches Semester 2019: Mitteilung der Kommission zu Länderberichten, COM(2019) 150 final.

(19)  Europäische Wirtschaftsprognose.Frühjahr 2019.

(20)  Stellungnahmen des EWSA zur Geschlechtergleichstellung auf dem Arbeitsmarkt in Europa, ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 26, und zu Gleichstellungsfragen, Ziffer 1.4, ABl. C 240 vom 16.7.2019, S. 3.

(21)  Vorschlag für eine Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds Plus, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit Haushaltsvorschriften für diese Fonds und für den Asyl- und Migrationsfonds, den Fonds für die innere Sicherheit und das Instrument für Grenzmanagement und Visa, COM(2018) 375 final.

(22)  Reflexionspapier „Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Europa bis 2030“, COM(2019) 22 final.

(23)  Stellungnahme des EWSA zu den Fortschritten bei der Umsetzung der Strategie Europa 2020 und den Möglichkeiten zur Erreichung ihrer Ziele bis 2020, ABl. C 251 vom 31.7.2015, S. 19.


18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/46


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die neue Rolle der öffentlichen Arbeitsverwaltungen (ÖAV) in Zusammenhang mit der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 353/08)

Berichterstatterin: Vladimíra DRBALOVÁ

Beschluss des Plenums

20.2.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

8.7.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

156/7/10

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Beitrag des Europäischen Netzwerks der öffentlichen Arbeitsverwaltungen (Europäisches ÖAV-Netzwerk) zur Modernisierung und Stärkung der öffentlichen Arbeitsverwaltungen (ÖAV) und fordert Synergien zwischen der aktualisierten Strategie dieses Netzes für die Zeit nach 2020 und den Grundsätzen der europäischen Säule sozialer Rechte.

1.2.

Der EWSA hat bestimmte Bereiche ermittelt, in denen größere gemeinsame Anstrengungen erforderlich sind, um in Zusammenarbeit mit allen Interessenträgern, den Sozialpartnern, den Organisationen der Zivilgesellschaft, den Unternehmen und den privaten Arbeitsvermittlungsdiensten eine bessere Integration von Arbeitsuchenden in den Arbeitsmarkt zu erreichen.

1.3.

Damit die ÖAV die nationalen beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und effektivere Dienstleistungen für Unternehmen innovativ umsetzen bzw. sicherstellen können, müssen sie auf nationaler Ebene mit ausreichenden Kapazitäten, qualifizierten Mitarbeitern, einer für die Digitalisierung der Gesellschaft relevanten IT- und Technikausstattung und finanzieller Hilfe angemessen unterstützt werden.

1.4.

Der EWSA fordert, dass die ÖAV und andere Sozial- und Arbeitsmarktdienstleister systematischer und strukturierter zusammenarbeiten, um die vielfältigen Hindernisse für Arbeitsuchende beim Eintritt in den Arbeitsmarkt (in den Bereichen Gesundheit, Wohnraum, Verkehr) anzugehen. Die Modernisierung der ÖAV ist ein komplexer Prozess; mangelnde Koordinierung, Programmplanung, Planung und Aufteilung der Zuständigkeiten auf nationaler und/oder regionaler Ebene führen hier zu einer Fragmentierung. Die aktive und regelmäßige Einbindung der Sozialpartner in die Aktivitäten der ÖAV ist für die Erfassung der Beschäftigungsmöglichkeiten vor Ort und den Abbau des Missverhältnisses zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage unerlässlich.

1.5.

Der EWSA fordert stärkere Synergien zwischen den Dienstleistungen der ÖAV, der sozialen Infrastruktur und den Sozialleistungssystemen, damit Arbeitslose bei der Stellensuche besser unterstützt und Arbeitsuchende durch die Wiederaufnahme einer Beschäftigung nicht benachteiligt werden.

1.6.

Der EWSA fordert mehr finanzielle Unterstützung für die Mitgliedstaaten und hofft, dass der Europäische Sozialfonds Plus (ESF+), der vor Kurzem als Teil des mehrjährigen Finanzrahmens 2021–2027 eingeführt wurde, dazu dienen wird, in die Menschen zu investieren und die europäische Säule sozialer Rechte umzusetzen.

1.7.

Nach Ansicht des EWSA müssen die Dienstleistungen der ÖAV stärker überwacht, evaluiert und miteinander verglichen werden, um zu bewerten, wie wirksam sie Arbeitsuchende beim Eintritt in den Arbeitsmarkt unterstützen. Die Wirksamkeit der ÖAV könnte durch gemeinsame Normen und Leitlinien auf EU-Ebene gefördert werden. Bestehende Datenquellen wie die Arbeitskräfteerhebung sollten stärker genutzt werden, und Agenturen wie Eurofound können zu dieser Überwachung beitragen.

1.8.

Der EWSA fordert eine Überprüfung der bestehenden Regelungen zur Messung der Ergebnisse der ÖAV-Arbeitsprogramme, damit die Dienstleistungen allen Personengruppen zugutekommen, insbesondere denjenigen, die mit mehreren Problemen gleichzeitig zu kämpfen haben.

2.   Einleitung

2.1.

Die europäische Säule sozialer Rechte geht auf die interinstitutionelle Proklamation des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 17. November 2017 auf dem EU-Sozialgipfel in Göteburg zurück. Sie soll Beschäftigung und soziale Aspekte stärker in den Vordergrund rücken, dazu beitragen, dass das europäische Sozialmodell für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerüstet ist, und den Prozess der Annäherung unter den Mitgliedstaaten fördern.

2.2.

Die 20 wichtigsten Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte sind in drei Kategorien unterteilt: Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, faire Arbeitsbedingungen sowie Sozialschutz und soziale Inklusion. Angesichts der rasanten Veränderungen im sozialen, rechtlichen und wirtschaftlichen Umfeld lautet die Schlüsselfrage, ob es gelingen wird, diese Grundsätze in Europa auch tatsächlich einzuführen und umzusetzen.

2.3.

Dem Jahreswachstumsbericht 2019 zufolge setzt sich das Wachstum der europäischen Wirtschaft nun im sechsten Jahr in Folge fort. Dieses kontinuierliche Wachstum ging mit einem Wiederanziehen der Investitionen, einer kräftigeren Verbrauchernachfrage, verbesserten öffentlichen Finanzen und einem anhaltenden Zuwachs an Arbeitsplätzen einher, wenngleich die einzelnen Länder ein unterschiedliches Tempo vorlegten. Diese Entwicklungen trugen zu wesentlichen Verbesserungen der Arbeitsmarktlage und der sozialen Bedingungen bei. Die Beschäftigungsquote von Menschen im Alter von 20 bis 64 Jahren stieg im zweiten Quartal 2018 auf 73,2 %. Die Arbeitslosenquote sank auf 6,8 % und auch die Langzeit- und die Jugendarbeitslosigkeit sind rückläufig. Allerdings gibt es nach Auffassung des EWSA große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, die nicht alle das gleiche Wirtschaftswachstum und den gleichen Beschäftigungszuwachs verzeichnen; besondere Aufmerksamkeit sollte einer besseren Qualität der geschaffenen Arbeitsplätze gewidmet werden, vor allem um sozialen Ungleichheiten entgegenzuwirken.

2.4.

Dank der verbesserten Arbeitsmarktbedingungen ist die Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen (2017: 113 Mio. Menschen) in manchen Ländern zum ersten Mal unter das Vorkrisenniveau gefallen. Die Erwerbsarmut ist jedoch nach wie vor hoch und nimmt in mehreren Mitgliedstaaten sogar zu. Das Armutsrisiko bleibt eine Herausforderung, insbesondere was Kinder, Menschen mit Behinderungen oder mit Migrationshintergrund sowie Arbeitslose anbelangt.

2.5.

Im gemeinsamen Beschäftigungsbericht wird festgestellt, dass aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und öffentliche Arbeitsverwaltungen bei der Schaffung gut funktionierender und inklusiver Arbeitsmärkte eine zentrale Rolle spielen. Aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen verbessern die Abstimmung von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt und erhöhen die Chancen für Arbeitssuchende, einen neuen Arbeitsplatz zu finden.

3.   Öffentliche Arbeitsverwaltungen und Arbeit in der Zukunft

3.1.

Die Arbeitsmärkte und Gesellschaften entwickeln sich rasant; die Globalisierung, die digitale Revolution, sich wandelnde Arbeitsmodelle und gesellschaftliche und demografische Entwicklungen bringen sowohl neue Chancen als auch neue Herausforderungen mit sich. Die Probleme, z. B. anhaltende Ungleichheiten, Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit oder die Solidarität zwischen den Generationen, sind in den verschiedenen Mitgliedstaaten oft ähnlich gelagert, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt. Die derzeitige technologische Revolution zeichnet sich insbesondere durch das zunehmende Tempo der Veränderungen aus.

3.2.

Noch nie war die Arbeitnehmerschaft so heterogen und so gut gebildet. Die Erwerbsbevölkerung des 21. Jahrhunderts ist mannigfaltig, und die Einstellung des Einzelnen zur Arbeit wandelt sich. Sofern sich Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer mehr Freiheit am Arbeitsplatz und größere Entscheidungsfreiheit wünschen und Arbeit in einer Weise suchen, die zu einer Individualisierung der Arbeitsbedingungen führt, sollten diese Arbeitsbedingungen durch einen sozialen Dialog und einen Tarifvertrag geklärt werden. Die Menschen sollten ihr Potenzial durch den Einsatz ihrer Qualifikationen, Fähigkeiten und Kompetenzen voll entfalten und eine anspruchsvolle und produktive Beschäftigung mit angemessenem sozialen Schutz finden können.

3.3.

Eine wichtige Rolle spielt das Europäische Netzwerk der öffentlichen Arbeitsverwaltungen, das für den Zeitraum vom 17. Juni 2014 bis zum 31. Dezember 2020 eingerichtet wurde. 2018 wurde eine Evaluierung eingeleitet, um den Beschluss über das ÖAV-Netzwerk im Hinblick auf die Aspekte Relevanz, Effizienz, Effektivität, Kohärenz und europäischer Mehrwert zu bewerten. In seiner Stellungnahme zu den ÖAV (1) befürwortete der EWSA den Vorschlag der Kommission zur Einrichtung eines Europäischen ÖAV-Netzwerks.

3.4.

Die Strategie des Europäischen ÖAV-Netzwerks bis 2020 und darüber hinaus (European PES Network Strategy to 2020 and beyond) spiegelt die jüngsten Entwicklungen auf den Arbeitsmärkten wider, etwa die neue Plattform-Ökonomie, neue Beschäftigungsformen, den Arbeitskräftemangel, die Mobilität der Arbeitskräfte, den zunehmend heterogenen Kundenstamm der ÖAV sowie die Notwendigkeit, neue digitale Technologien zu nutzen und Daten systematischer zu sammeln und aufzubereiten.

3.5.

Auf nationaler Ebene wurden in Koordination mit dem Europäischen ÖAV-Netzwerk bereits viele positive Schritte unternommen. Die nationalen ÖAV haben in einigen Ländern bei der Umsetzung der EU-Jugendgarantie hervorragende Arbeit geleistet, indem sie jungen Menschen, besonders NEETs (Jugendlichen, die sich weder in Arbeit noch in Ausbildung befinden), geholfen haben, schneller in den Arbeitsmarkt einzusteigen oder ihren Bildungsweg fortzusetzen. Zudem haben die nationalen ÖAV die Maßnahmen der EU-Initiative für eine bessere Wiedereingliederung Langzeitarbeitsloser umgesetzt, indem sie sich für eine Verbesserung der Meldequote und integrierte Arbeitsverträge eingesetzt haben. Seit 2015 steht außerdem die Eingliederung von Flüchtlingen und Asylsuchenden in den Arbeitsmarkt auf ihrer Agenda.

3.6.

Die Erfahrungen des EWSA zeigen jedoch, dass die Effektivität der ÖAV und ihre Fähigkeit, in einem sich wandelnden Umfeld ihre Aufgaben zu erfüllen, die neuen Herausforderungen in der Arbeitswelt anzugehen und Menschen erfolgreich in diese von Veränderung geprägten Arbeitsmärkte einzugliedern, in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich stark ausgeprägt sind. In vielen Fällen und in einigen Mitgliedstaaten wird der Bedarf der ÖAV an personellen, technischen und finanziellen Kapazitäten unterschätzt.

3.7.

Es sollte eine spezielle Berufsgruppe von Berufsberatern effektiver gefördert und die Datenbankintegration für eine wirksame Zusammenführung von Unternehmen und Arbeitnehmern entwickelt werden. In manchen Ländern werden die ÖAV durch private Arbeitsvermittlungsagenturen und Berufsberater ergänzt bzw. ersetzt. Die Zusammenarbeit mit den Unternehmen ist wesentlich, ebenso wie die aktive Beteiligung der Sozialpartner auch auf der lokalen Ebene, um die Beschäftigungsmöglichkeiten auf nationaler wie auch auf regionaler und lokaler Ebene zu erfassen. Die Erfolgsrate der ÖAV-Dienstleistungen sollte auch aus Sicht der Arbeitgeber bewertet werden.

4.   Die öffentlichen Arbeitsverwaltungen vor dem Hintergrund der europäischen Säule sozialer Rechte

4.1.

Seit der Proklamation der europäischen Säule sozialer Rechte sollen die nationalen ÖAV und das Europäische ÖAV-Netzwerk die Ziele der europäischen Säule sozialer Rechte und ihre wichtigsten Grundsätze innovativer unterstützen und umsetzen.

4.2.

2017 leistete das Europäische ÖAV-Netzwerk einen formellen Beitrag zum Konsultationsverfahren der Europäischen Kommission, das bezüglich der europäischen Säule sozialer Rechte durchgeführt wurde. 2018 verfasste es sein Arbeitsdokument zur Arbeit der Zukunft. Diese Tätigkeit bot dem Netzwerk Gelegenheit, über die mögliche Weiterentwicklung der ÖAV-Strategie 2020 nachzudenken, damit die ÖAV auch noch in einer durch die neuen Herausforderungen eines sich rasant verändernden Arbeitsmarktes geprägten Welt ihre Aufgaben erfüllen und zu veritablen Berufsberatungsagenturen werden. Die ÖAV arbeiten an der Modernisierung ihrer Organisation, mit dem Ziel, den Kunden Dienstleistungen der „Triple-A-Klasse“ (ability, agility, accountability — Kompetenz, Flexibilität, Verantwortung) anzubieten, um so zur Schaffung eines nachhaltigeren und inklusiveren Arbeitsmarkts beizutragen.

5.   Die neue Rolle der ÖAV aus Sicht des EWSA

5.1.

Der EWSA begrüßt die im Arbeitsprogramm des Europäischen ÖAV-Netzwerks für 2019 festgehaltenen Prioritäten und fordert eine stärkere Verknüpfung zwischen den Grundsätzen der europäischen Säule sozialer Rechte und den Instrumenten des Netzwerks für Benchmarking und gegenseitiges Lernen. Dies könnte sowohl zu besser integrierten Dienstleistungen der ÖAV als auch zur Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte beitragen.

5.2.

Im November 2018 organisierte die Arbeitsmarktbeobachtungsstelle des EWSA eine Konferenz zum Thema Öffentliche Arbeitsverwaltungen und Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte. Die dort angeführten Beispiele bestätigten, dass öffentliche und private Arbeitsvermittlungsdienste einander ergänzen müssen, und verdeutlichten die konkreten Vorteile einer guten Zusammenarbeit zwischen ÖAV und Sozialpartnern. Die proaktive Tätigkeit der ÖAV, die Einrichtung einer zentralen Anlaufstelle für Unternehmen, gemeinsame Schulungen durch ÖAV und Unternehmen erwiesen sich dabei als Schlüssel, um Arbeitssuchende in nachhaltige Beschäftigungen zu vermitteln.

5.2.1.

Der EWSA regt an, sich darum zu bemühen, dass auf Stellengesuche und -angebote besser eingegangen wird, mehr Anreize für Arbeitgeber wie auch Arbeitnehmer geschaffen werden (indem z. B. Arbeitnehmer, die Niedriglöhne erhalten, weiterhin manche der bei Arbeitslosigkeit vorgesehenen Sozialleistungen beziehen können) und für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Flexibilität und Arbeitsplatzsicherheit und damit für langfristigere Beschäftigungsverträge gesorgt wird. Europa ist immer noch weit davon entfernt, das volle Potenzial der zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte auszuschöpfen. Europa muss nachhaltige Unternehmen fördern, damit diese insbesondere mehr hochwertige und produktive Arbeitsplätze schaffen können.

5.2.2.

In seiner Stellungnahme (2) bezeichnet der EWSA den Zugang zu Sozialschutzsystemen als Schlüsselfaktor für gerechtere Gesellschaften und grundlegende Komponente für produktive, gesunde und aktive Arbeitskräfte. Die EU sollte die Art und Weise verbessern, in der die bestehende offene Methode der Koordinierung die Mitgliedstaaten dabei unterstützt, erzielte Reformfortschritte zu überwachen und die Leistung ihrer beschäftigungspolitischen Maßnahmen und ihrer nationalen Sozialschutzsysteme zu verbessern. Es sollte für stärkere Synergien zwischen den Dienstleistungen der ÖAV, der sozialen Infrastruktur und den Sozialleistungssystemen gesorgt werden, damit Arbeitslose bei der Stellensuche besser unterstützt und Arbeitsuchende durch die Wiederaufnahme einer Beschäftigung nicht benachteiligt werden.

5.2.3.

Mobilität: Nach Meinung des EWSA bleibt die Freizügigkeit der Arbeitnehmer auf der Grundlage der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung sowie des Abbaus bestehender Mobilitätshemmnisse auch in Zukunft eine der Prioritäten der EU. In seiner Stellungnahme zum EURES-Netz (3) fordert der EWSA die Umwandlung von EURES in ein echtes Instrument für die Abstimmung von Angebot und Nachfrage auf dem europäischen Arbeitsmarkt; dies sollte in enger Zusammenarbeit mit den öffentlichen Arbeitsverwaltungen erfolgen. Die EU-weite Mobilität der Arbeitnehmer ist verbunden mit den kontinuierlichen Bemühungen, die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zu modernisieren und für alle Mitgliedstaaten gerechter zu gestalten. Insbesondere im Falle des Arbeitslosengelds von grenzüberschreitend erwerbstätigen Personen sollte, sofern zwischen den Mitgliedstaaten nichts anderes vereinbart wurde, der Grundsatz des lex loci laboris angewendet werden, wenn es darum geht, den zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen.

5.2.4.

Arbeitsmarktrelevante Kompetenzen: Im ersten Grundsatz der europäischen Säule sozialer Rechte wird die soziale Dimension von Bildung verdeutlicht. Danach hat jede Person das Recht auf allgemeine und berufliche Bildung und lebenslanges Lernen von hoher Qualität und in inklusiver Form. Hinzu kommt, dass der in ganz Europa zunehmende Arbeitskräftemangel eine Gefahr für das künftige Wachstum darstellt. ÖAV, Sozialpartner, Unternehmen, regionale Beschäftigungs- und Kompetenzräte und andere einschlägige regionale Strukturen sollten bei geteilter Verantwortung der verschiedenen Akteure enger zusammenarbeiten, um regionale Unterschiede zu überwinden und sowohl Arbeitssuchenden als auch von Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen angemessene berufliche Beratung und Möglichkeiten zur Weiterqualifizierung und Umschulung sowie zur beruflichen Neuorientierung anbieten zu können. Hierzu gehört auch, Menschen zu ermutigen, den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen.

5.2.5.

Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern: Bei der Ausarbeitung der EU-Sozialpolitik muss den Sozialpartnern — unter uneingeschränkter Wahrung ihrer Autonomie — mehr Raum gegeben werden. Als Schlüsselakteure am Arbeitsmarkt können sie — in Zusammenarbeit mit den nationalen ÖAV — wesentlich dazu beitragen, die Beschäftigungsmöglichkeiten auch vor Ort zu erfassen, und den Menschen den Einstieg in den Arbeitsmarkt oder eine Umorientierung auf dem Arbeitsmarkt zu erleichtern. Konkret bedeutet dies, Arbeitssuchende bei ihrer Suche nach einem Arbeitsplatz und Unternehmen bei ihrer Suche nach Humanressourcen zu unterstützen und jungen Menschen und Erwachsenen dabei zu helfen, die am besten geeigneten Qualifizierungswege zu wählen (ADEM in Luxemburg).

5.2.6.

Zivilgesellschaft: Der EWSA vertritt eine Vielzahl von Organisationen der Zivilgesellschaft, die bereits zahlreiche Stellungnahmen abgegeben haben, in denen sie auf die Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte eingehen. Der Mehrwert der Organisationen der Zivilgesellschaft besteht darin, dass sie die Situation vor Ort genau kennen und mit den Bedürfnissen verschiedener Gruppen (Migranten, Menschen mit Behinderungen, junge Menschen, Frauen) vertraut sind. Dadurch können sie wirksam zu einer gezielteren Arbeitsweise der ÖAV beitragen (man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die Rolle der Berufsberater in Italien).

5.2.7.

Zusammenarbeit mit privaten Arbeitsverwaltungen: Die Erfahrung zeigt, dass die gleichberechtigte Beteiligung und Integration öffentlicher und privater Dienste zu wirksamen und positiven Ergebnissen in Form eines wahrhaft inklusiven und nachhaltigen Arbeitsmarktes führen kann. Diese Komplementarität muss gefördert werden. Es ist immer sehr schwierig, Arbeitsmarktprognosen abzugeben. Die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts ändern sich rasant. Zuverlässige Daten sind von größter Bedeutung. Die inklusiven Arbeitsmärkte, die wir fordern, setzen jedoch voraus, dass alle Menschen einbezogen werden.

6.   Anhaltende Unzulänglichkeiten in der gezielten Unterstützung durch die ÖAV

6.1.

Der EWSA ist erfreut darüber, dass sowohl im Arbeitsprogramm des Europäischen ÖAV-Netzwerks als auch in den Arbeitsprogrammen der nationalen ÖAV auf die wichtigsten Zielgruppen eingegangen wird. Er betont jedoch, dass es nach wie vor Unzulänglichkeiten gibt und dass die ÖAV den Grundsatz der Diversität und der Nichtdiskriminierung in ihrer täglichen Arbeit stärker beachten müssen. Die Anstrengungen müssen fortgesetzt oder verstärkt werden, insbesondere im Hinblick auf

6.1.1.

Jugendliche: Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass die finanziellen Mittel für die Umsetzung der Jugendgarantie verdoppelt wurden. Die ÖAV sollten in einen langfristigen Ansatz für die Erbringung von Dienstleistungen für junge Arbeitsuchende investieren — darunter auch die bessere Nutzung von IKT und Internettools —, um die Dienstleistungen für die schutzbedürftigsten Gruppen junger Menschen zu stärken. Die ÖAV sollten junge Menschen noch stärker individuell unterstützen, mit ihren Familien zusammenarbeiten und sie angemessen über die Lage auf dem Arbeitsmarkt informieren.

6.1.2.

Erwachsene: Die alternde Bevölkerung in Europa, die höhere Lebenserwartung der Menschen und die Notwendigkeit, die Zusammenarbeit zwischen den Generationen zu fördern, die immer rasanteren Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, neue Formen der Arbeit und die Ausbreitung der digitalen Technologien in allen Aspekten des täglichen Lebens haben zu einer steigenden Nachfrage nach neuen Kompetenzen und einem höheren Niveau von Fähigkeiten, Kenntnissen und Kompetenzen geführt; dies macht es immer dringender, Weiterbildungs- oder Umschulungsmöglichkeiten für all jene Menschen anzubieten, die über keine Grundkompetenzen verfügen oder die keine Qualifikation erworben haben, um ihre Beschäftigungsfähigkeit und ihr bürgerschaftliches Engagement zu gewährleisten.

6.1.3.

Frauen: Der EWSA begrüßt die Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben (4), die Eltern und betreuenden Personen, insbesondere Frauen, dabei hilft, ihre Arbeit und ihre täglichen Pflichten besser miteinander in Einklang zu bringen. Notwendig sind zudem Investitionen in die soziale Infrastruktur, z. B. für die Betreuung von Kindern und älteren Menschen usw. Dazu gehört auch die wirksame Unterstützung von Frauen bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt durch die nationalen ÖAV, bei der die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben gebührend zu berücksichtigen ist.

6.1.4.

Menschen mit Behinderungen: Menschen mit Behinderungen machen etwa ein Sechstel der gesamten EU-Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter aus, doch ist ihre Beschäftigungsquote vergleichsweise gering. Dies ist das wichtigste Ergebnis der EWSA-Anhörung im Jahr 2017. Insbesondere Frauen und Mädchen mit Behinderungen (5) sind nach wie vor mit mehrfachen und sich überschneidenden Diskriminierungen aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Behinderung konfrontiert. Sie sind nur zu oft unter anderem von inklusiver allgemeiner und beruflicher Bildung, Beschäftigung, Zugang zu Armutsbekämpfungsprogrammen, angemessenem Wohnraum und der Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben ausgeschlossen. Sie benötigen besondere Hilfe und müssen von den ÖAV individuell unterstützt werden.

6.1.5.

Migration: Die legale Migration kann für die positive Entwicklung der Arbeitsmärkte eine wichtige Rolle spielen. In seiner Stellungnahme (6) hat der EWSA die Bedeutung einer kohärenten Migrationspolitik und eines gut ausgestalteten rechtlichen Rahmens hervorgehoben und konstatiert, dass das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell ohne Migration in Gefahr ist. Es wird weiterhin wichtig sein, Flüchtlinge, die das Recht auf einen Verbleib in Europa haben, in Ausbildung, Arbeit und in die Gesellschaft im Allgemeinen zu integrieren. In vielen Ländern haben die ÖAV bereits zahlreiche Initiativen ergriffen, um dazu einen Beitrag zu leisten.

6.1.6.

Roma: Der EWSA ist sehr engagiert, was Fragen in Verbindung mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Roma angeht, und setzt sich für eine bessere Integration der Roma ein (7). Der EWSA hält Synergien zwischen der Umsetzung des in der europäischen Säule sozialer Rechte verankerten Grundsatzes des gleichen Zugangs und weiteren Schritten für eine erfolgreichere Integration der Roma für möglich. Besonders der Unterstützung von Roma-Frauen sollten die ÖAV Priorität einräumen.

6.1.7.

Die nicht erwerbstätige Bevölkerung gehört nicht zu den traditionellen Zielgruppen der ÖAV, wenngleich ein wesentlicher Anteil nicht erwerbstätiger Personen gerne arbeiten würde. Das Europäische ÖAV-Netzwerk hat eine Studie zur Rolle der ÖAV bei der Einbindung der nicht erwerbstätigen Bevölkerung (The role of PES in outreach to the inactive population) veröffentlicht, die einen Überblick über Maßnahmen zur Einbeziehung der Nichterwerbsbevölkerung unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der ÖAV bietet. Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die auf diese Bevölkerungsgruppe gerichteten Reaktivierungsmaßnahmen neu zu gestalten.

7.   Eine umfassende Unterstützung für die nationalen öffentlichen Arbeitsverwaltungen

7.1.

Nach den europäischen beschäftigungspolitischen Leitlinien von 2019 (Leitlinie 7) sind die Mitgliedstaaten angehalten, die Wirksamkeit ihrer aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zu erhöhen. Die Mitgliedstaaten sollten darauf hinwirken, die Wirksamkeit der öffentlichen Arbeitsverwaltungen zu steigern, indem sie Arbeitsuchenden frühzeitig maßgeschneiderte Hilfsangebote bereitstellen, die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt stimulieren und leistungsorientiertes Management umsetzen.

7.2.

Um einen wirksamen Beitrag zur Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte zu leisten, benötigen die nationalen ÖAV stärkere Unterstützung und geeignete Bedingungen:

7.2.1.

Ausreichende Humanressourcen. Die Komplexität der von den ÖAV erbrachten Dienstleistungen (Suche nach und Auswahl von Personal, Outplacement, Beratung und Hilfe bei Anträgen auf Einkommensunterstützung, Vermittlung von Ausbildungsplätzen) erfordert geschultes Personal, das spezielle Kompetenzen besitzt, unter nachhaltigen Bedingungen arbeitet und mit Berufsberatern und privaten Arbeitsvermittlungsagenturen zusammenarbeitet.

7.2.2.

Anpassung an die technologische Entwicklung. Die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft bringt neue Instrumente hervor, die — sofern sie richtig gehandhabt werden — die ÖAV bei ihrer Aufgabe unterstützen können, etwa indem sie von den ÖAV bei der Ausbildung der eigenen Mitarbeiter oder bei der Integration von Datenbanken eingesetzt werden. Letztere würde ein wirksames Zusammenführen von Unternehmen und Arbeitnehmern ermöglichen, die ihrerseits beide an der Entwicklung der Kompetenzen und Aufgaben im neuen digitalen Zeitalter beteiligt sind.

7.3.

Am 2. Mai 2018 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für den mehrjährigen Finanzrahmen für 2021–2027 angenommen. Dieser Vorschlag ist auf die aktuelle soziale und wirtschaftliche Lage abgestimmt und geht konkret auf die Forderung der europäischen Öffentlichkeit ein, ein sozialeres Europa zu schaffen und mehr in die Menschen in der Europäischen Union zu investieren. Der Europäische Sozialfonds Plus (ESF+) ist ein Schlüsselinstrument der EU, wenn es darum geht, in die Menschen zu investieren und die europäische Säule sozialer Rechte umzusetzen. Die ÖAV sollen durch die Komponente Beschäftigung und soziale Innovation des Europäischen Sozialfonds Plus (ESF+) finanziert werden.

7.4.

Die neuen Aufgaben der ÖAV — insbesondere im Rahmen der aktiven Beschäftigungspolitik — müssen in entsprechenden Kapazitäten und ausreichender finanzieller Unterstützung ihren Niederschlag finden.

7.5.

Der EWSA fordert, dass die ÖAV und andere Sozial- und Arbeitsmarktdienstleister systematischer und strukturierter zusammenarbeiten, um die vielfältigen Hindernisse für Arbeitsuchende beim Eintritt in den Arbeitsmarkt (in den Bereichen Gesundheit, Wohnraum, Verkehr) anzugehen. Die Modernisierung der ÖAV ist ein komplexer Prozess; mangelnde Koordinierung, Programmplanung, Planung und Aufteilung der Zuständigkeiten auf nationaler und/oder regionaler Ebene führen hier zu einer Fragmentierung.

7.6.

Nach Ansicht des EWSA müssen die Dienstleistungen der ÖAV stärker überwacht, evaluiert und miteinander verglichen werden, um zu bewerten, wie wirksam sie Arbeitsuchende beim Eintritt in den Arbeitsmarkt unterstützen. Gemeinsame Normen und Leitlinien auf EU-Ebene könnten dazu beitragen, die Wirksamkeit der ÖAV und die Synergie-Effekte zwischen den Ländern zu verbessern. Bestehende Datenquellen wie die Arbeitskräfteerhebung sollten stärker genutzt werden, und Agenturen wie Eurofound können zu dieser Überwachung beitragen.

Brüssel, den 17. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 116.

(2)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 135.

(3)  ABl. C 424 vom 26.11.2014, S. 27.

(4)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 44.

(5)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 20.

(6)  ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 1.

(7)  ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 88.


18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/52


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Europa vermitteln — Entwicklung eines Instrumentariums für Schulen“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 353/09)

Berichterstatter: Gerhard RIEMER

Beschluss des Plenums

20.2.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft (SOC)

Annahme in der Fachgruppe

8.7.2019

Verabschiedung im Plenum

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

191/4/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) interpretiert die Pariser Erklärung aus dem Jahr 2015 (1) und die Empfehlung des Rates aus dem Jahr 2018 (2) als klaren Auftrag der Mitgliedstaaten, die Vermittlung und den Erwerb von Wissen über die Europäische Union fest in der politischen Agenda zu verankern, der zudem durch die Entschließung des EP aus dem Jahr 2016 (3) unterstützt wird. Dies ist ein neuer Ausgangspunkt für die Förderung einer europäischen Dimension im Unterricht und die Bereitstellung der erforderlichen Unterstützung für die Lehrkräfte.

1.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass im Bildungsbereich in Bezug auf das allgemeine Verständnis der Lernenden der Rolle der EU und ihrer Auswirkungen auf den Alltag der Bürgerinnen und Bürger eine gewisse Informationslücke besteht. Trotz der höheren Wahlbeteiligung — ein Anstieg von 42,61 % (2014) auf 50,95 % (2019) — zeigen die Ergebnisse der jüngsten Europawahl, dass nach wie vor ab dem frühen Kindesalter ein großer Informations- und Aufklärungsbedarf in Bezug auf die Europäische Union besteht.

1.3.

Der EWSA ruft zu einer neuen Dynamik bei der Europabildung auf. Er möchte die Gelegenheit nutzen, die sich diesbezüglich durch die Wahl des Europäischen Parlaments und die Neubesetzung der Europäischen Kommission und insbesondere durch das neue für Bildung, Kultur, Jugend und Sport zuständige Kommissionsmitglied auftut. Der EWSA ist davon überzeugt, dass ein besonderer Schwerpunkt auf der Europabildung für junge Menschen als unerlässlich für die schrittweise Entwicklung einer echten Unionsbürgerschaft anzusehen ist, die für die Schaffung einer robusten Europäischen Union erforderlich ist.

1.4.

Der EWSA möchte mit seinen beiden neuen Stellungnahmen (4) ein Schlaglicht auf die Themen Europabildung (SOC/612) und „Europa im Unterricht vermitteln“ werfen. Es sollte erneut darüber nachgedacht werden, wie die Verbindung zwischen den Menschen und der EU verbessert werden kann und wie das Handeln, die Ziele und die Werte der EU stärker ins Bewusstsein gerückt werden können. Zu diesem Zweck sollten weitere Anstrengungen unternommen werden, um den Menschen insbesondere während ihrer Schulzeit, aber auch im Rahmen der beruflichen Bildung und der Hochschulbildung sowie des lebenslangen Lernens mehr Kenntnisse über die EU zu vermitteln.

1.5.

Auf EU-Ebene und in den Mitgliedstaaten wurden zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Lage zu verbessern, und auf beiden Ebenen steht eine Fülle an exzellenten Materialien/Toolkits zur Verfügung, die als Anregung für weitere Initiativen herangezogen werden könnten. Allerdings bedürfen die Übersichtlichkeit, der Zugang und generell die Information darüber, was vorhanden ist, einer Verbesserung. Die Ergebnisse der Studie der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2013 (5) zeigen, dass in den Mitgliedstaaten zwar offensichtlich der politische Willen vorhanden ist, die Qualität dieser Informationen zu verbessern, dass aber noch viel zu tun bleibt.

1.6.

Der EWSA hält es für erforderlich, die tatsächliche Situation in den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Vermittlung von Kenntnissen über die EU im Unterricht und die Lehrerausbildung sowie die berufliche Weiterbildung im Rahmen einer neuen Studie kritisch zu analysieren. Eine Auswertung der vorhandenen Initiativen und der Lehrpläne, insbesondere im Primar- und Sekundarunterricht, sowie der von zivilgesellschaftlichen Organisationen und den Sozialpartnern unternommenen Anstrengungen wäre hilfreich. Die Studie könnte auf der Studie „Learning Europe at School“aus dem Jahr 2013 aufbauen.

1.7.

Zusätzlich wäre eine Bestandsaufnahme der Lehr- und Lernmaterialien/Ressourcen, die im Rahmen von einschlägigen, mit EU-Mitteln finanzierten Projekten entwickelt wurden, äußerst hilfreich und notwendig. Eine Plattform, die alle diese verschiedenen Instrumente nach Sprachen, Altersgruppen und Themen geordnet bündelt — eventuell nach dem Vorbild der Website „Das tut die EU für mich“ —, könnte für den Unterricht und zu Lernzwecken genutzt werden.

1.8.

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Begriff des „Lehrplans“weiter gefasst betrachtet werden sollte‚ indem auch die wertvollen außerschulischen Bildungsaktivitäten einbezogen werden, die das Lernen über den Schulunterricht und Unterrichtsfächer hinaus unterstützen, um die EU für junge Menschen und die gesamte Bevölkerung in der richtigen Perspektive darzustellen.

1.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass für jede Schule (Lernende und Lehrer) ein kleines Toolkit/Instrumentarium (eine Grundausstattung) entwickelt werden sollte‚ mit dessen Hilfe allen Menschen mehr Kenntnisse über die EU vermittelt werden könnten. Die Inhalte eines solchen Toolkits/Instrumentariums könnten unterschiedlich aussehen und den nationalen und regionalen Gegebenheiten angepasst werden, auch für Personen mit besonderen Bedürfnissen.

1.10.

Für den Ausbau der politischen Unterstützung für eine bessere Europabildung sollte auf europäischer Ebene eine hochrangige Expertengruppe „Europa vermitteln“ eingerichtet werden, in der die Mitgliedstaaten und anerkannte Experten vertreten sind. Diese Gruppe könnte Vorschläge für politische Maßnahmen und Empfehlungen aufstellen, die von den Bildungsministern erörtert werden und in Schlussfolgerungen des Rates münden könnten.

1.11.

Den Lehrerinnen und Lehrern kommt eine wichtige Aufgabe als „Architekten der Zukunft“zu. Sie müssen besser über die EU informiert werden und die Kompetenz entwickeln, Schülern allen Altersgruppen Kenntnisse über die EU zu vermitteln. Es fehlt ihnen an Wissen über die EU, und einige sind nicht erfahren oder fühlen sich nicht kompetent genug, um das Thema Europa im Unterricht zu behandeln. Der EWSA fordert daher, auf der Ebene der EU und der Mitgliedstaaten die Lehrerausbildung in den Fokus zu rücken und die Lehrerinnen und Lehrer dabei zu unterstützen, die vorhandenen Materialien einzusetzen und die Möglichkeiten der neuen digitalen Technologien in vollem Umfang zu nutzen.

1.12.

Der EWSA hegt und unterstützt die Idee, dass alle Jugendlichen ihre Schullaufbahn mit Grundkenntnissen über die EU, einer Art EU-Kompetenz, abschließen. Der EWSA ist sich bewusst, dass es eine große, aber durchaus lohnende Herausforderung (und eine echte Chance) ist, rund 72 Mio. Schülerinnen und Schülern in der Primarstufe sowie der Sekundarstufe I und II in der EU entsprechende Kenntnisse zu vermitteln. Dazu gehört auch, dass ihnen ein Besuch der EU-Institutionen ermöglicht werden sollte. Auch die Lehrerinnen und Lehrer sollten diese Möglichkeit erhalten, um besondere Erfahrungen zu sammeln, mit den verschiedenen Organisationen und Institutionen (wie dem EWSA) ins Gespräch zu kommen und mit einem größeren Wissen über Europa, seine Rolle, Werte und Organisation nach Hause zurückzukehren.

2.   Eine Chance — der richtige Zeitpunkt für eine neue Initiative

2.1.

Der EWSA möchte die Gelegenheit nutzen, die sich durch die Neubesetzung der Europäischen Kommission und die Wahl des Europäischen Parlaments und insbesondere durch das neue für Bildung, Kultur, Jugend und Sport zuständige Kommissionsmitglied bietet, um auf die Initiative „Europa im Unterricht vermitteln“aufmerksam zu machen.

2.2.

In früheren Stellungnahmen hat der EWSA betont, wie wichtig es ist, über die europäische Geschichte, die Werte, die Demokratie, die Errungenschaften und die Bedeutung der EU aufzuklären, um den Bürgerinnen und Bürgern den Wert der EU vor Augen zu führen. Das formale Bildungssystem hat großen Einfluss darauf, wie junge Menschen die Welt wahrnehmen, und ist daher für die Entwicklung ihres Verständnisses der EU von entscheidender Bedeutung.

2.3.

Diese Stellungnahme knüpft an die Stellungnahme SOC/612 zum Thema Europabildung (6) an und soll den Aufruf zum Handeln bezüglich der Europabildung unterstützen, stärken und intensivieren. In dieser Stellungnahme möchte der EWSA mehr Gewicht auf Europa und die Vermittlung von Kenntnissen über die EU in der Bildung im Allgemeinen und insbesondere auf das Thema „Europa im Unterricht vermitteln“legen.

2.4.

Die Zukunft Europas und der EU wird von unserer Jugend, von den Schülern und Schülerinnen, die heute die Schulbank drücken, gestaltet und entwickelt werden. Dabei werden sie von ihrem Umfeld, ihren Familien und Freunden beeinflusst. Daher müssen unsere jungen Menschen dringend mit EU-Themen vertraut gemacht und es muss dafür gesorgt werden, dass die Schulen Informationen sowie kritische und konstruktive Diskussionen über EU-Themen anbieten.

2.5.

In den Mitgliedstaaten besteht bei den Bürgerinnen und Bürgern eine Informationslücke in Bezug auf die EU und darauf, wie sie funktioniert und was sie tut. Dies gilt auch für die Rolle der EU-Institutionen und die Auswirkungen der EU-Politik auf den Alltag der Bürgerinnen und Bürger in Europa. Die Europabildung könnte entweder ein spezifisches Unterrichtsfach oder Modul werden oder auf unterschiedliche Weise in verschiedene Fächer integriert werden. Die nationalen Bildungsbehörden und die Schulen könnten somit gegebenenfalls über verschiedene Bildungsebenen hinweg frei entscheiden.

2.6.

Die Rolle der Schulen und der Lehrkräfte sowie der Umfang und die Art und Weise, wie die Schülerinnen und Schüler im Unterricht über die EU aufgeklärt werden, werden daher insbesondere angesichts zunehmender Europaskepsis in einigen Mitgliedstaaten immer wichtiger.

2.7.

Die Erwartungen der Gesellschaft an das, was die Schule leisten soll, wachsen stetig. Anstatt in der Bildung nur auf das Auswendiglernen von Fakten zu setzen, sollten den Schülerinnen und Schülern vor allem in der Primar- und Sekundarstufe die Fähigkeiten und Kompetenzen vermittelt werden, die sie dazu befähigen, kritisch zu denken, Informationen zu deuten und zu hinterfragen und ihre eigene Meinung zu entwickeln. Dazu zählt auch die Bildung einer fundierten und informierten Meinung über die EU. Die Schulen können allerdings nicht alles allein leisten, daher würde eine bessere Koordinierung zwischen den verschiedenen Strukturen der formalen, nichtformalen und informellen Bildung zum Erfolg des europäischen Projekts beitragen. Zudem werden sich junge Menschen umso eher als Europäerinnen und Europäer fühlen, wenn sie frühzeitig mit Europa in Kontakt gebracht werden und Lust auf Europa entwickeln.

2.8.

Gleichzeitig ist dies mit einer gewissen Erwartung an die Lehrkräfte verbunden, deren Verantwortung zunimmt. Ihnen muss daher ein praktisches Toolkit/Instrumentarium für die Vermittlung von Kenntnissen über die EU an die Hand gegeben werden, das ein breites Spektrum leicht einsetzbarer Unterrichtsmaterialien für verschiedene Altersgruppen in allen EU-Amtssprachen zu verschiedenen Themen enthält und den besonderen Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten Rechnung trägt.

3.   Die Zuständigkeiten der EU und der Mitgliedstaaten

3.1.

Die Zuständigkeit für die allgemeine und berufliche Bildung liegt im Wesentlichen zweifellos bei den Mitgliedstaaten. Die Europäische Union könnte sich jedoch aufgrund ihrer ergänzenden Funktion stärker einbringen und besondere Maßnahmen und Aktivitäten vorschlagen, um das Wissen über die EU generell zu verbessern. Der EWSA hält den richtigen Zeitpunkt zum Handeln jetzt für gekommen.

3.2.

Ausgehend von der im März 2015 von den Staats- und Regierungschefs der EU unterzeichneten Pariser Erklärung (7) legt der EWSA die Empfehlung des Rates aus dem Jahr 2018 (8) als klaren Auftrag der Mitgliedstaaten aus, die Vermittlung und den Erwerb von Wissen über die Europäische Union fest in der politischen Agenda zu verankern. Dies ist ein neuer Ausgangspunkt für die Förderung einer europäischen Dimension im Unterricht und die erforderliche Unterstützung für die Lehrkräfte.

3.3.

Die EU hat sich in den letzten Jahren sehr intensiv mit der allgemeinen und beruflichen Bildung, in jüngster Zeit aber auch mit dem Thema „Europa im Unterricht vermitteln“beschäftigt.

3.3.1.

Von 2011 bis 2013 hat die Kommission auf Anregung des Europäischen Parlaments die Initiative „Learning Europe at School“durchgeführt. 2016 nahm dann das Europäische Parlament seine Entschließung zum Thema „Über die EU in der Schule lernen“ (9) an, in der die Bedeutung dieses Themas mit Nachdruck unterstrichen wird und konkrete Empfehlungen an die Ebene der EU und der Mitgliedstaaten gerichtet werden, die nach Auffassung des EWSA nichts an Aktualität verloren haben und als Grundlage für neue Initiativen herangezogen werden sollten. Der EWSA würdigt und unterstützt die Initiativen des Europäischen Parlaments und der Kommission und hofft sehr, dass diese Initiative des EWSA neue und starke Impulse für eine neue Richtung geben wird.

3.3.2.

Der europäische Referenzrahmen für Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen (10) wurde 2018 aktualisiert. Darin werden die Kompetenzen definiert, die jeder Mensch für seine persönliche Entfaltung und Entwicklung, Beschäftigung, soziale Inklusion und aktive Bürgerschaft benötigt. Der überarbeitete Rahmen enthält einen Abschnitt zu Kulturbewusstsein und kultureller Ausdrucksfähigkeit. Dies umfasst die Entwicklung von Kenntnissen lokaler, nationaler, regionaler, europäischer und globaler Kulturen und Ausdrucksformen, einschließlich ihrer Sprachen, ihres kulturellen Erbes und ihrer Traditionen und Kulturprodukte, sowie eines Verständnisses dafür, wie diese Ausdrucksformen einander beeinflussen, wie sie sich aber auch auf die Ideen des Einzelnen auswirken können. Der Referenzrahmen könnte Anregungen für eine Aktualisierung der schulischen Lehrpläne sowie auch nichtformaler und informeller Lernprogramme liefern, um Kenntnisse über die EU zu vermitteln.

3.3.3.

Das Erasmus-Programm war ein unglaublicher Erfolg. Es sollte auch weiterhin die Möglichkeit bieten, etwas über die EU zu erfahren. In den letzten 32 Jahren haben mehr als 10 Mio. Menschen an Erasmus teilgenommen. (11) Im Vorschlag der Kommission für das neue Programm Erasmus 2021–2027 ist im Vergleich zu den Vorgängerprogrammen eine Verdoppelung der Mittelausstattung von knapp 15 auf 30 Mrd. EUR vorgesehen. Daneben sieht es auch die Unterstützung von Aktivitäten vor, mit denen Kenntnisse über die EU vermittelt werden sollen. Über die Jean-Monnet-Initiativen sollten z. B. Maßnahmen über die Hochschulbildung hinaus in anderen Bereichen der allgemeinen und beruflichen Bildung unterstützt werden können.

3.3.4.

Daneben gibt es noch einige weitere wichtige und erfolgreiche EU-Programme für junge Menschen. DiscoverEU (12) gibt Jugendlichen in der EU die Möglichkeit, Europa kostenlos mit dem Zug zu bereisen und dabei nicht nur Europas wundervolle Landschaften zu entdecken und gleichgesinnte Mitreisende kennenzulernen, sondern auch ihre Unabhängigkeit und ihr Selbstvertrauen zu stärken und ihre europäische Identität zu entdecken. Das Europäische Solidaritätscorps (13) ist eine weitere EU-Initiative, die jungen Menschen die Chance bietet, an Freiwilligenprojekten oder Beschäftigungsprojekten in ihrem eigenen Land oder im Ausland teilzunehmen, die Gemeinschaften und Menschen in ganz Europa zugutekommen.

3.4.

Den Mitgliedstaaten kommt eine zentrale Aufgabe im Bildungsbereich zu. Die Studie der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2013 (14) zeigt, dass in den Mitgliedstaaten zwar offensichtlich der politische Willen vorhanden ist, diese Informationen zu verbessern, aber noch viel zu tun bleibt. In der Studie wird aufgeführt, was erforderlich ist, um die Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler über die EU auszubauen. Daneben enthält sie Empfehlungen für die Europäische Kommission und die beteiligten Partner, insbesondere die Lehrerinnen und Lehrer. Einige Mitgliedstaaten haben die Vermittlung von Kenntnissen über die EU in ihre Lehrpläne und Lehrerausbildungsprogramme aufgenommen. Es gibt jedoch kaum Anhaltspunkte dafür, dass die Informationen, die über die EU im Unterricht vermittelt werden, aufeinander aufbauend konzipiert sind, sodass die Lernenden vom Basiswissen zu einem komplexeren Verständnis gelangen. Zudem werden die Arbeitsweise der EU-Organe und die Beschlussfassung, die den Kern der Bürgerbeteiligung bilden, nur am Rande behandelt und im Vergleich zu anderen eher grundlegenden Fakten vernachlässigt. Diese wichtige Studie stützt sich außerdem auf Daten, die älter als zehn Jahre sind.

3.5.

In allen Mitgliedstaaten gibt es Aktivitäten, die über die jeweiligen nationalen Anforderungen in Bezug auf „Europa vermitteln“hinausgehen. Schulen, Nichtregierungsorganisationen, Stiftungen und Universitäten arbeiten bereits mit Schulen und Lehrkräften zusammen, um Kenntnisse über die EU im Unterricht besser zu vermitteln. EU-weit bearbeiten kompetente und engagierte Organisationen dieses Thema ganz konkret. Viele Initiativen werden mit EU-Mitteln finanziert, aber nicht alle. Dass diese Aktivitäten existieren, zeigt, wie wichtig und notwendig eine stärkere Unterstützung für „Europa vermitteln“ist.

3.6.

Es gibt viele laufende Initiativen in Bezug auf Informationen sowie zivilgesellschaftliche Programme, darunter auch Initiativen der Sozialpartner. Die Studie der Kommission aus dem Jahr 2013 (15) zeigt jedoch, dass die Informationen und die Schulprogramme besser strukturiert sein könnten.

3.7.

Auch die Initiative „Your Europe, Your Say“(YEYS) (16) des EWSA ist ein erwähnenswertes Beispiel für ein bewährtes Verfahren.

4.   Politische Vorschläge und Anreize für die Umsetzung

4.1.

Die EU und insbesondere die neue Kommission und das neue Kommissionsmitglied für Bildung, Kultur, Jugend und Sport sollten überlegen, wie gemeinsam mit den Mitgliedstaaten eine neue Dynamik entwickelt werden kann, um eine intensive allgemeine Debatte über die Rolle der Vermittlung von Kenntnissen über die EU im Unterricht anzustoßen.

4.2.

Die Einleitung einer neuen Studie über die tatsächliche Situation in den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Europabildung an Schulen, um die vorhandenen Aktivitäten zu vervollständigen und zu aktualisieren und mehr Nachweise und eine faktengestützte politische Orientierungshilfe zu liefern. Diese Studie sollte die Grundlage für neue Initiativen sein, in deren Rahmen die Beispiele gesammelt, verschiedene bewährte Verfahren verglichen und erörtert und die Ergebnisse erläutert werden.

4.3.

Zusätzlich zu der neuen Studie sollte die Kommission eine Bestandsaufnahme aller Lehr- und Lernmaterialien/Ressourcen vornehmen, die seit 2010 im Rahmen der wichtigsten von der EU finanzierten Projekte zu Themen im Zusammenhang mit der Vermittlung von Kenntnissen über die EU an Schulen erarbeitet wurden (z. B. Projekte, die im Rahmen der Jean-Monnet-Initiativen finanziert wurden, mit jeweils einer zusammenfassenden Beschreibung).

4.4.

Für den Ausbau der politischen Unterstützung für eine bessere Europabildung sollte auf europäischer Ebene eine hochrangige Expertengruppe „Europa vermitteln“eingerichtet werden, in der die Mitgliedstaaten und anerkannte Experten vertreten sind. Es könnte auf freiwilliger Basis geprüft werden, ob es gemeinsame Mittel und Wege gibt, den Menschen grundlegende Fakten und Informationen über die europäische Integration zu vermitteln. Diese Gruppe könnte Empfehlungen aufstellen, die von den Bildungsministern erörtert werden und in Schlussfolgerungen des Rates münden könnten.

4.5.

Außerdem sollte (auf freiwilliger Basis) ein EU-Tag an Schulen in den Mitgliedstaaten eingeführt werden. Diese neue Initiative würde gezielt die Gelegenheit bieten, an diesem Tag europaweit im Unterricht EU-Themen ausführlich, positiv und zukunftsorientiert zu behandeln und die Toolkits einzusetzen und zu nutzen.

4.6.

Initiativen und Programme im Bereich der Europabildung, die von der Zivilgesellschaft oder auch den Sozialpartnern organisiert werden, sollten begrüßt werden. Sie sollten an Beratungen, der Umsetzung, Vorbereitung und/oder Auswahl von Paketen bewährter Verfahren für die thematische Erörterung im Unterricht und auch an Beratungen über die Bedeutung und die künftige Rolle der EU beteiligt werden. (17) Es gibt eine Reihe beispielhafter Programme, die jedoch weitaus wirkungsvoller wären, wenn sie in eine umfassendere Agenda von schulischen Lehrplänen und Aktivitäten integriert würden.

5.   Entwicklung eines Instrumentariums/Toolkits für Schulen

5.1.

Schon jetzt ist über verschiedene Quellen das unterschiedlichste Unterrichtsmaterial über die EU verfügbar. Zudem gibt es insbesondere auf EU-Ebene jede Menge Materialien und Toolkits. Diese sind jedoch nicht immer leicht zu finden, vor allem wenn man nicht weiß, dass sie überhaupt existieren. Es sollten daher nicht unbedingt noch mehr neue Unterrichtsmaterialien entwickelt werden. Stattdessen müssen die bestehenden angepasst, verbessert und verbreitet werden (z. B. die Lernecke). Ein Weg wäre die Schaffung einer zentralen Online-Plattform, auf der das Unterrichtsmaterial aus all diesen verschiedenen Quellen zusammengetragen wird.

Hier können die Lehrkräfte nach Themen und Altersgruppen geordnetes Unterrichtsmaterial finden, so wie bei der Website„Das tut die EU für mich“ (18), die das Europäische Parlament im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 eingerichtet hat.

5.2.

Neben den Lehrern haben auch Eltern und andere Erwachsene einen erheblichen Einfluss darauf, wie junge Menschen die EU wahrnehmen. Ein Instrumentarium für den Unterricht über die EU in der formalen Bildung sollte daher auch Angebote für lebenslanges Lernen für Erwachsene enthalten. Angesichts der aktuellen Probleme mit Desinformation sollte das Toolkit/Instrumentarium auch Informationen darüber enthalten, wo vertrauenswürdige Informationen über die EU zu finden sind.

5.3.

Die Entwicklung von Toolkits/Instrumentarien ist eine gemeinsame Verantwortung, wobei die Mitgliedstaaten die Hauptverantwortung tragen. Themen, die europäische Fragen betreffen, sind primär auf EU-Ebene zu bearbeiten und Themen, die mit Themen der Mitgliedstaaten verbunden sind, auf nationaler Ebene. Bücher, Videos, CDs oder Apps werden neben der EU-Dimension auch einen nationalen Bezug beinhalten. Darüber, wie und in welchem Umfang Unterrichtsstoff genutzt wird, müssen die Mitgliedstaaten entscheiden. Die Verantwortung liegt bei den Lehrkräften und ihrer jeweiligen Schule.

5.4.

Entscheidend ist, dass die vorhandenen Materialien besser und stärker genutzt werden, insbesondere bestehende Links wie die hervorragende EU-Lernecke (19)‚ auf der das Unterrichtsmaterial beispielhaft präsentiert wird.

Die Lernecke enthält populäre Themen für Grund- und Sekundarschulen mit nach Altersgruppen geordnetem Unterrichtsmaterial, Wissenstests und vielen spezifischen Materialien, von Mitmach-Heftchen, Infoblättern, Spielen und Lehrmaterial bis zu Videos, konzipiert für Altersgruppen von bis zu 9 Jahren bis 15 Jahre und älter. Für die Schüler gibt es Spiele, Wettbewerbe und Mitmach-Heftchen, mit denen sie die EU spielend entdecken können. Auch für Lehrer gibt es Lehrmaterial für alle Altersgruppen, mit dem die Schüler dabei unterstützt werden können, etwas darüber zu erfahren, was die EU macht und wie sie funktioniert. Sie finden auch Anregungen für die Unterrichtsgestaltung und Vernetzungsmöglichkeiten mit anderen Schulen und Lehrkräften in der gesamten EU. Die Informationen müssen ebenso wie der Einsatz des Unterrichtsmaterials gemeinsam mit den Mitgliedstaaten besser vermittelt werden.

5.5.

Auf EU-Ebene gibt es ein breites Spektrum an Toolkits. Ihr Einsatz hängt von vielerlei Kriterien ab: Schulstufe, Gegenstand, Bildungssystem und bildungspolitischen Spezifika der Mitgliedstaaten. Der EWSA empfiehlt jedoch, für jede Schule in der EU eine rein auf Themen konzentrierte Grundausstattung (kleines Toolkit) zu entwickeln und für neue intensive Outreach-Maßnahmen zu nutzen. Dieses Paket sollte der betreffenden Schule in Kooperation mit dem jeweiligen nationalen Bildungsministerium (und in Zusammenarbeit mit auf EU-Ebene engagierten Einrichtungen und Organisationen wie den Sozialpartnern) zusammen mit speziell auf dieses Land zugeschnittenen Materialien zur Verfügung gestellt werden.

Das Paket sollte auf der Website der Schule sowie über regionale und EU-Kontaktstellen online abrufbar sein und u. a. Folgendes umfassen:

ein leicht verständliches, kompaktes Paket mit einer Broschüre für Lehrer und Schüler (20);

ein kurzes Video oder einen Kurzfilm für jedes Land, das bzw. der von Menschen aus diesem Land produziert wird;

eine Auswahl der Materialien, die auf EU-Ebene für „Europa im Unterricht vermitteln“zur Verfügung stehen. Diese sollten insbesondere auf die verschiedenen Schulstufen (Kindergarten, Grund-, Sekundar- und Hochschulen) sowie auf die wichtigsten Online-Links, einschließlich der Lernecke, ausgerichtet sein;

Material der Mitgliedstaaten mit konkreten Beispielen für bewährte Verfahren;

5.6.

Das Ziel sollte sein, dass alle Schulabgänger ihre Schullaufbahn mit Grundkenntnissen über die EU, einer Art EU-Kompetenz, abschließen. Der EWSA ist sich bewusst, dass es eine große Herausforderung ist, rund 72 Mio. Schülerinnen und Schüler in der Primarstufe, der Sekundarstufe I und II in der EU zu erreichen und ihnen entsprechende Kenntnisse zu vermitteln. Dies schließt die Gelegenheit für Studierende und Schüler zu einem Besuch der europäischen Institutionen ein, um einen Überblick über die EU und ihre Geschichte zu erhalten (Haus der Europäischen Geschichte). Auch die Lehrerinnen und Lehrer sollten die Möglichkeit zu einem intensiven Kontakt mit den EU-Institutionen erhalten, um besondere Erfahrungen zu sammeln, mit den verschiedenen Organisationen und Institutionen (wie dem EWSA) ins Gespräch zu kommen und mit einem größeren Wissen über Europa, seine Rolle, Werte und Organisation nach Hause zurückzukehren.

5.7.

Diese „EU-Kompetenz“sollte durch ein Toolkit/Instrumentarium für die verschiedenen Ebenen unterstützt werden, wie z. B.:

In der Grundschule sollten die Schülerinnen und Schüler die Kulturen und Traditionen anderer EU-Länder kennenlernen, wie z. B. die Sprachen, das Essen, die Musik, Urlaub, Geografie und traditionelle Kleidung und Tänze.

In der Sekundarstufe sollten den Schülerinnen und Schülern zudem konkrete Fakten über die EU vermittelt werden und sie sollten zunehmend Bürgersinn entwickeln. Das Toolkit sollte Themen wie die Geschichte der EU, ihre wichtigsten Errungenschaften (z. B. ihren Beitrag zum Frieden), die EU-Institutionen, die EU-Politik, die Europawahlen, Medienkompetenz und kritisches Denken in Bezug auf Medienberichte und aktive Bürgerschaft umfassen.

Im Bereich der Hochschulbildung sollte das Toolkit tiefer in die Materie eintauchen und z. B. über die Politik der EU, die politischen Strukturen, die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt, die Sozialpolitik, Mobilität und Rechte und die Sozialpartnerschaft informieren. Dies könnte auch Tools umfassen, die sich an bestimmte Berufsgruppen wie Journalisten oder Kommunal- bzw. Regionalpolitiker richten.

5.8.

Die wichtige und entscheidende Rolle der Lehrerinnen und Lehrer

5.8.1.

Den Lehrerinnen und Lehrern kommt eine wichtige Aufgabe als Architekten der Zukunft zu. Ein spezifisches Programm für Lehrerinnen und Lehrer, das der besonderen Situation und den Bedürfnissen in den Mitgliedstaaten gerecht wird, ist von entscheidender Bedeutung. Vielen Lehrerinnen und Lehrern mangelt es derzeit an Wissen über die EU, und einige fühlen sich nicht kompetent genug, um das Thema Europa im Unterricht zu behandeln.

5.8.2.

Sie müssen besser über Europa informiert sein, um den Schülerinnen und Schülern schon früh Kenntnisse über die EU im Unterricht vermitteln zu können. Ein Ziel der Lehrerausbildung sollte darin bestehen, den Lehrerinnen und Lehrern ein besseres Verständnis des institutionellen Prozesses der Integration zu vermitteln und ihnen den Einsatz des neuen didaktischen Ansatzes zu ermöglichen, damit sie ihren Schülern diesen Prozess verständlicher machen können. Außerdem müssen sie sich mit neuen didaktischen Bildungskonzepten beschäftigen.

5.8.3.

Der EWSA begrüßt die modernisierte und zentrale Plattform, die vor kurzem auf dem Server EUROPA eingerichtet wurde: die Lernecke (21). Die Lernecke richtet sich vor allem Schüler der Primar- und Sekundarstufe, ihre Lehrer und Eltern. Hier sind Spiele, Quizfragen, Lern- und Unterrichtsmaterialien gesammelt, die von der Europäischen Kommission und den anderen Institutionen entwickelt wurden und sich auf die EU und ihre Vorteile für die Bürger der EU konzentrieren. eTwinning ist das größte Lehrernetzwerk weltweit. Mehr als 680 000 Lehrkräfte haben sich auf der eTwinning-Website registriert und können so gemeinsame Projekte entwickeln, die Kompetenzen von Lehrerinnen und Lehrern (und auch der Schülerinnen und Schüler) ausbauen und — ganz wichtig — ein Zugehörigkeitsgefühl zu Europa entwickeln. Die Lehrerinnen und Lehrer sollten besser über dieses Instrument informiert werden.

5.8.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass es möglich sein sollte, dass bestimmte Einrichtungen, die von der EU finanziell unterstützt werden, insbesondere das Europäische Hochschulinstitut und das Europakolleg, allen Lehrerausbildern in der EU Fortbildungen zu Europathemen anbieten. Daneben sollten Teilnehmer von Erasmus+ (22) und Jean-Monnet-Wissenschaftler in die Schulen gehen und als Botschafter für die EU auftreten.

5.8.5.

Der EWSA hält auch die Einrichtung des Lehrer-Testpanels durch die Europäische Kommission für wichtig, das aus je einer Lehrkraft an einer Grundschule und an einer Sekundarschule aus allen Mitgliedstaaten besteht, die von den Vertretungen der Kommission ausgewählt werden. Das Gremium berät in Bezug auf Inhalt und Stil der von den Dienststellen der Kommission entwickelten Lernmaterialien. Dies könnte sehr hilfreich sein, um sicherzustellen, dass das angebotene Material den aktuellen Trends und Bedürfnissen entspricht.

5.8.6.

Über die Vermittlung von Kenntnissen über die EU im Bildungswesen hinaus ist es wichtig, dass z. B. in öffentlichen Bibliotheken und anderen öffentlichen Orten auch Informationen für die breite Öffentlichkeit zugänglich sind.

Brüssel, den 17. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Pariser Erklärung vom 17.3.2015.

(2)  Empfehlung des Rates (2018), ST/9010/2018/INIT.

(3)  Entschließung des EP (2016) (2015/2138(INI)).

(4)  ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 68.

(5)  Learning Europe at School, Studie der Europäischen Kommission, 2013.

(6)  ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 68.

(7)  Pariser Erklärung vom 17.3.2015.

(8)  Empfehlung des Rates (2018), ST/9010/2018/INIT.

(9)  Entschließung des EP (2016) (2015/2138(INI)).

(10)  Empfehlung des Rates (2018) (2018/C 189/01).

(11)  Europäische Kommission, „In Menschen investieren“, Mai 2018.

(12)  https://europa.eu/youth/discovereu_de

(13)  COM(2018) 440 final.

(14)  Learning Europe at School, Studie der Europäischen Kommission, 2013.

(15)  Ebda.

(16)  EWSA, Your Europe, Your Say.

(17)  Die künftige Entwicklung der Zivilgesellschaft in der EU bis 2030.

(18)  https://what-europe-does-for-me.eu/de/home

(19)  Lernecke.

(20)  Das Beispiel aus Österreich: eine kleine, knapp gehaltene Broschüre (jeweils eine für Lehrer und Schüler) mit allen Links zu europäischen und nationalen Websites und kurzen Kommentaren zu verschiedenen Themen.

(21)  Lernecke.

(22)  ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 68.


18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/59


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Eine konsistente Klima- und Energiepolitik aus Sicht der Industrie“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 353/10)

Berichterstatter: Aurel Laurențiu PLOSCEANU

Ko-Berichterstatter: Enrico GIBELLIERI

Beschluss des Plenums

24.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständiges Arbeitsorgan

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

3.6.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

148/3/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die europäischen ressourcen- und energieintensiven Industrien (REII) sind für die industriellen Wertschöpfungsketten der EU von strategischer Bedeutung. Sie müssen aufgrund der Klimaschutzpolitik der EU einen tiefgreifenden Wandel vollziehen und erhebliche Investitionen tätigen, um bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen.

1.2.

Mit dem derzeitigen Emissionshandelssystem (EHS) sollen Anreize für diese Investitionen geschaffen werden, indem ein Preis für Treibhausgasemissionen festgelegt wird. Dabei stehen allerdings zwei Anforderungen miteinander in Widerspruch: Auf der einen Seite sind höhere Preise erforderlich, damit die Klimaziele erreicht werden, auf der anderen Seite müssen die Preise niedrig sein, damit die REII gegenüber ausländischen Mitbewerbern, die diesen Kosten kaum oder gar nicht ausgesetzt sind, konkurrenzfähig bleiben.

1.3.

Da die Preise für Treibhausgasemissionen auf globalen Märkten stark voneinander abweichen, ist der EWSA besorgt, dass CO2-Emissionen oder Investitionen der REII verlagert werden könnten (dass also Produktionen oder Investitionen an Standorten erfolgen würden, an denen das EHS nicht gilt) und dass dadurch Arbeitsplätze verloren gehen könnten.

1.4.

In einer früheren Stellungnahme (1) forderte der EWSA ein globales EHS, um gleiche Voraussetzungen im internationalen Wettbewerb zwischen den REII zu schaffen. Diese Hoffnung hat sich bisher nicht erfüllt.

1.5.

Nach Auffassung des EWSA ist es von wesentlicher Bedeutung, die Industrie- und Energiepolitik mit der Klimapolitik in Einklang zu bringen, damit die umfangreichen Investitionen mobilisiert werden, die der Übergang zu einem CO2-neutralen Wirtschaftsmodell den REII abverlangt, wobei dieser Übergang fair zu gestalten ist und die Sozialpartner an seiner Ausgestaltung und Umsetzung aktiv beteiligt werden sollten.

1.6.

Die Investitionen der EU und der Mitgliedstaaten sollten auf Forschung, Entwicklung und Innovation und die Bereitstellung von CO2-armen bzw. CO2-neutralen Technologien für die REII abzielen, auch im Hinblick auf die zusätzliche Stromerzeugung, die für sie erforderlich ist, sowie auf die Aus- und Fortbildung ihrer Arbeitskräfte. Im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (2021–2027) sollte deshalb die für diesen Zweck im Kommissionsvorschlag vorgesehene Mittelausstattung des Programms InvestEU wie auch anderer, damit verbundener Investitionsprogramme erhöht werden.

1.7.

Der EWSA beabsichtigt, sich an den Überlegungen zu der vom Europäischen Rat (2) geforderten langfristigen Industriepolitik zu beteiligen, indem er die technische und rechtliche Machbarkeit einer der zahlreichen politischen Optionen, die derzeit im Raum stehen, prüft: nämlich die Einführung von Grenzausgleichsmaßnahmen (GAM) für den Binnenpreis von Treibhausgasemissionen, basierend auf dem THG-Emissionsgehalt der in Industriegütern enthaltenen Grundmetalle, -chemikalien und -stoffe. Dabei hatte er bereits 2014 in seiner Initiativstellungnahme „Marktwirtschaftliche Instrumente zur Förderung einer ressourceneffizienten und kohlenstoffarmen Wirtschaft in der EU“ (3) auf die Notwendigkeit hingewiesen, einen derartigen Mechanismus zu prüfen und eventuell einzuführen, aber weder von der Kommission noch vom Rat eine adäquate Antwort erhalten.

1.8.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, ihre Überlegungen zu diesen und anderen politischen Optionen — z. B. einem reformierten EHS, einem CO2-Grenzausgleichssystem (4), einem an der CO2-Intensität orientierten Mehrwertsteuersatz (5) — zu vertiefen und diese unter folgenden Gesichtspunkten zu vergleichen:

Auswirkungen einer künftigen Situation in der EU mit höheren Preisen und geringerer Verfügbarkeit von EHS-Zertifikaten auf die Verlagerung von CO2-Emissionen und Investitionen

Rechtssicherheit hinsichtlich der Einhaltung der WTO-Regeln

Akzeptanz bei den Handelspartnern

technische Machbarkeit, insbesondere im Hinblick auf vorhandene weltweit akzeptierte Berechnungs- und Messstandards sowie zuverlässige und anerkannte Datenbanken.

1.9.

Der EWSA empfiehlt der Kommission außerdem, sich möglichst früh mit den wichtigsten Handelspartnern der EU zu beraten, um ihre Position zu den in Betracht gezogenen Optionen zu sondieren.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.    Das Dilemma der Klimapolitik in den ressourcen- und energieintensiven Industrien

Durch die Klimapolitik wird naturgemäß ein Problem aufgeworfen.

2.1.1.

Einerseits besteht der Zweck dieser Politik darin, die Treibhausgasemissionen (sowohl aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe als auch aus industriellen Prozessen) ambitioniert zu senken. Die EU strebt an, bis 2050 Treibhausgasneutralität zu erreichen, wie in der Mitteilung der Kommission „Ein sauberer Planet für alle“gefordert wird. Im Einklang mit einer Landwirtschaft, durch die die Menschheit ernährt werden kann, soll die Erderwärmung mit dieser Reduzierung auf deutlich unter 2 °C und hoffentlich unter 1,5 °C begrenzt werden. In einer Marktwirtschaft ist die Festlegung eines Preises für Treibhausgasemissionen ein sehr wirksames Instrument. Auf diese Weise haben Wirtschaftsakteure entweder die Möglichkeit, gewinnbringend in emissionsmindernde Anlagen oder Prozesse zu investieren (einschließlich CO2-Abscheidung und CO2-Lagerung/-Nutzung) oder durch Reduzierung ihres Materialverbrauchs (z. B. durch Verwendung langlebigerer Produkte) bzw. durch Umstellung ihres Einkaufs auf Materialien mit geringeren Treibhausgasemissionen (etwa Recyclingmaterialien) Kosten einzusparen. Damit diese Methode Wirkung entfalten kann, muss der Preis für Treibhausgasemissionen so hoch und kalkulierbar sein, dass eine Investitions- oder Verhaltensänderung ausgelöst wird.

2.1.2.

Andererseits machen die Energiekosten in den REII einen hohen Anteil an den Gesamtkosten aus: 25 % bei Stahl, 22–29 % bei Aluminium (6), 25–32 % bei Glas (7).

2.1.3.

Wenn die Energiekosten steigen, weil in der EU im Vergleich zu anderen Standorten ein hoher Preis für Treibhausgasemissionen festgelegt wird und weil in den REII umfangreiche und frühzeitige Investitionen in emissionsarme oder -freie Technologien und die dafür erforderlichen Kapazitäten für die Stromerzeugung, -weiterleitung und -speicherung (8) mit hohen Amortisierungskosten erforderlich sind, ist die externe Wettbewerbsfähigkeit der in der EU ansässigen REII gefährdet. Denn trotz ihrer Bemühungen um Energieeffizienz werden sie dann zu höheren Preisen produzieren als Mitbewerber aus dem Ausland. Auf diesen Märkten mit sehr standardisierten Produkten führt ein höherer Preis zum Verlust von Marktanteilen und entsprechenden Arbeitsplätzen. Wenn dies geschieht, gehen die Treibhausgasemissionen einfach von Erzeugern in der EU auf Erzeuger an anderen Standorten über (die häufig weniger energieeffizient arbeiten), was (bestenfalls) keine Auswirkungen auf die weltweiten Treibhausgasemissionen hat. Dieses Phänomen der Verlagerung von CO2-Emissionen wird als „Carbon Leakage“bezeichnet. In einem weltweiten Wettbewerbsumfeld, in dem der Preis für Treibhausgasemissionen null beträgt, muss also ein möglichst geringer Preis für CO2 festgelegt werden — eventuell sogar ebenfalls null.

Dieses Phänomen geht mit einer Verlagerung von Investitionen („Investment Leakage“) einher. Selbst bei einem niedrigen Preis für Treibhausgasemissionen in der EU werden Investitionen in die Wartung und Modernisierung von Anlagen in ressourcen- und energieintensiven Industriezweigen aufgrund der Unsicherheit über die künftige Entwicklung bereits erschwert, wodurch die Erzeuger in der EU einen weiteren, sehr besorgniserregenden Verlust ihrer Wettbewerbsfähigkeit erleiden. Die Verlagerung von Investitionen der in der EU ansässigen REII würde dramatisch zunehmen, wenn die Preise für Treibhausgasemissionen abgesehen von ihren Schwankungen auch noch hoch wären.

2.1.4.

Das Emissionshandelssystem (EHS) ist der derzeitige Versuch der EU, einen Preis für Treibhausgasemissionen festzulegen. Zum größten Teil hat es sich als unwirksam erwiesen: Der Preis für Treibhausgasemissionen ist seit Jahren schon sehr niedrig (trotz der jüngsten Steigerungen), allerdings schwankt er so stark, dass es zu Investitionsverlagerungen kommt. Darüber hinaus ist es kompliziert und voller Ausnahmen. Ein struktureller Grund für die Unwirksamkeit und Komplexität des EHS-Systems liegt möglicherweise darin, dass damit das o. g. inhärente Problem nicht gelöst wird, nämlich die gegensätzlichen Anforderungen für hohe bzw. niedrige Preise für Treibhausgasemissionen.

Daher wäre es wohl erforderlich, dieses Dilemma zu lösen und die widersprüchlichen politischen Ziele des Klimaschutzes einerseits und der externen Wettbewerbsfähigkeit der REII in Europa andererseits in Einklang zu bringen, während alle anderen politischen Ziele, wie freier und fairer Handel, im Rahmen der vom Europäischen Rat geforderten langfristigen Industriepolitik verfolgt werden.

2.2.    Grenzausgleichsmaßnahmen als mögliche Lösung

2.2.1.

Die von den EU-Institutionen bevorzugte Lösung dieses Dilemmas wäre die Schaffung eines einheitlichen globalen EHS, um einen weltweiten Preis für Treibhausgasemissionen festzulegen. Die Aussichten dafür stehen allerdings schlecht. Die aktuellen geopolitischen Entwicklungen in Richtung des Unilateralismus geben wenig Anlass zu der Hoffnung, dass rechtzeitig eine weltweite Vereinbarung erzielt wird.

Die von der Kommission festgelegten Vorschriften (Rückführung der EHS-Erlöse an die Industrie, Förderung von Innovationen, kostenlose Zertifikate, Ermächtigung der Mitgliedstaaten zum Ausgleich indirekter Kosten …) bieten vor dem Hintergrund unterschiedlicher klimapolitischer Strategien und zunehmender Klimaambitionen der EU möglicherweise keinen ausreichenden Schutz gegen die Verlagerung von CO2-Emissionen oder Investitionen. Daher sehen verschiedene Akteure eine mögliche Lösung in alternativen Ansätzen, um die klimapolitischen Ziele mit der externen Wettbewerbsfähigkeit der REII in Einklang zu bringen. Im Zentrum dieser Ansätze stehen Grenzausgleichsmaßnahmen (GAM) der von der Welthandelsorganisation (WTO) festgelegten Art. Der Zweck dieser Stellungnahme besteht darin, die technische und rechtliche Machbarkeit einer solchen Option im Wege eines konkreten Vorschlags zu prüfen.

2.3.

Der rechtliche Grundsatz der WTO lautet: Wirtschaftsakteure aus dem Ausland dürfen durch Grenzausgleichsmaßnahmen für interne Verbrauchssteuern nicht diskriminiert werden.

2.3.1.

GAM beruhen auf folgendem Prinzip: Wenn in einem Hoheitsgebiet eine interne Verbrauchssteuer festgelegt wurde, besteht die Gefahr, dass lokale Erzeuger (die dieser Steuer unterliegen) einen Wettbewerbsnachteil gegenüber ihren Mitbewerbern aus dem Ausland haben (die dieser Steuer nicht unterliegen), und zwar sowohl auf dem Binnenmarkt (auf dem lokale Erzeuger und Importeure im Wettbewerb stehen) als auch auf Exportmärkten. Die Behörden dieses Hoheitsgebiets sind befugt, die Wettbewerbsgleichheit wiederherzustellen, indem sie entweder eine Steuer auf importierte Waren erheben oder die Steuer auf exportierte Waren erstatten.

2.3.2.

Solange sie bestimmte Bedingungen erfüllen, wurden produktbezogene Grenzausgleichsmaßnahmen von der WTO als rechtmäßig akzeptiert, ohne dass der Vorwurf des Protektionismus erhoben wurde, wie bei einer Überprüfung solcher Maßnahmen im Jahr 1970 (9) festgestellt wurde (Bericht der Arbeitsgruppe zu Anpassungen im grenzüberschreitenden Handel). Nach diesen Bedingungen dürfen Wirtschaftsakteure aus dem Ausland dadurch nicht diskriminiert werden (Artikel II-2a, III-2 und VI-4 des GATT-Abkommens (10)), was in diesem Fall bedeutet: Für importierte Waren sollten keine höheren Steuern bezahlt werden als für die Waren lokaler Erzeuger, und für exportierte Waren sollten nicht mehr Steuern erstattet werden, als auf dem lokalen Markt bereits gezahlt wurden.

2.4.    Die vorgesehenen Mechanismen: ein transparentes Verrechnungssystem für Exporteure; Importeure zahlen nur für die in den Ausgangsstoffen enthaltenen Treibhausemissionen

2.4.1.

Folgende Mechanismen sind vorgesehen, um das Prinzip der Grenzausgleichsmaßnahmen auf den Kontext der Treibhausgasemissionen anzuwenden:

zur Bestimmung des Exporteuren zu erstattenden Betrags werden im Rahmen eines transparenten Verrechnungssystems die in jedem industriellen Gegenstand enthaltenen Treibhausgasemissionen festgehalten und im Verlauf der weiteren Wertschöpfungskette als zusätzlicher Rechnungsposten aufgeführt;

Importeure bezahlen die in den Grundmaterialien zur Fertigung des industriellen Gegenstands enthaltenen Treibhausgasemissionen, jedoch nicht die für dessen Umgestaltung oder Formung bzw. für die damit verbundene Transportlogistik aufgewendeten Treibhausgasemissionen. Mit dieser Methode kommt man dem Ziel sehr nah, denn über 90 % der Treibhausgasemissionen eines industriellen Gegenstands werden durch die Grundmaterialien verursacht. Die Zollbehörde erhält dadurch einen unstrittigen Nachweis zur Bestimmung der Steuerbemessungsgrundlage (Art und Gewicht jedes Materials). Außerdem erhalten Importeure dadurch einen leichten Vorteil, sodass sie nicht behaupten können, sie würden diskriminiert;

Die Mechanismen werden im Folgenden genauer vorgestellt und erläutert.

2.5.    Die Erstattung des Preises für in exportierten Waren enthaltenes CO2 erfolgt mit einem Verrechnungssystem

2.5.1.

Das System würde wie folgt aussehen: Wenn ein REII-Unternehmen für seine Treibhausgasemissionen Zahlungen leisten musste (entweder in Form von EHS-Zertifikaten zu einem variablen Preis pro Kilo je CO2-Äquivalent auf dem Markt oder in Form einer CO2-Steuer zu einem Festpreis), müssen diese Zahlungen (und die zugrunde liegende Menge von Treibhausgasemissionen) in seiner Buchhaltung vermerkt und die Beträge in den Rechnungen an Kunden (einschließlich der Amortisierung der in seinen Gerätschaften enthaltenen Treibhausgasemissionen) weitergegeben werden. Auf diese Weise würde weiterhin das vorhandene, ausgeklügelte Verrechnungssystem für Treibhausgase genutzt, das in der EU zur Berechnung kostenloser Zertifikate für das EHS entwickelt wurde und das seine Vorzüge hat. An der über 50-jährigen Erfahrung mit der Mehrwertsteuer sollte sich die technische Machbarkeit einer solchen Regelung zur Kostenweitergabe erkennen lassen.

2.5.2.

Die Position in der Lieferkette, in der diese Zahlung in den Rechnungen angegeben werden sollte, muss noch festgelegt werden. Würde sie bis zum Endverbraucher weitergegeben, hätte dies folgende Konsequenzen:

die vorgeschlagene Regelung würde dem Modell einer inländischen Verbrauchssteuer (z. B. Mehrwertsteuer und andere) angenähert, für die die WTO ausdrücklich die Rechtmäßigkeit der Grenzausgleichsmaßnahmen anerkannt hat; somit würde die Rechtssicherheit erhöht;

die Benachteiligung zwischengeschalteter Unternehmen würde vermieden;

es würden Anreize für ein klimafreundlicheres Verhalten der Verbraucher geschaffen.

2.5.3.

Wenn ein Unternehmen eine Ware exportiert, bei der Ausgaben für Treibhausgasemissionen angefallen sind, muss im Buchhaltungssystem der Umfang an Treibhausgasemissionen des exportierten Produkts abgerufen werden und bei der entsprechenden Behörde eine Erstattung für die in dem Produkt enthaltene Menge an Treibhausgasemissionen beantragt werden (entweder durch Weiterverkauf der entsprechenden EHS-Zertifikate auf dem Markt oder Rückzahlung der gezahlten CO2-Steuer).

2.5.4.

Sollte die derzeitige kostenlose Zuteilung von EHS-Zertifikaten an die leistungsfähigsten EU-Erzeuger beibehalten werden, würde diese Erstattung gemäß den durchschnittlichen Kosten für ein EHS-Zertifikat nach Maßgabe der EU-Wirtschaft erfolgen, und zwar basierend auf dem Spotmarktpreis und dem Umfang der den EU-Erzeugern ausgestellten kostenlosen Zertifikate.

2.5.5.

Mit diesem Verrechnungssystem lässt sich nachweisen, dass der Exporteur die genauen Kosten für alle Treibhausgasemissionen erstattet bekommt, die entlang der Versorgungskette in Verbindung mit dem Produkt entstanden sind. Der Exporteur erhält dadurch keinen unrechtmäßigen Vorteil, daher steht das System im Einklang mit den WTO-Vorschriften. Diese Fairness lässt sich fallabhängig leichter nachweisen, wenn es einen festen Preis für Treibhausgasemissionen gibt (wie bei der CO2-Steuer). Bei variablen Preisen für Treibhausgasemissionen (wie in einem EHS-Markt) ist sie jedoch nur als Durchschnitt zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Spekulanten auf den EHS-Märkten sowie zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen EU-Erzeugern, die unterschiedliche Zuteilungen kostenloser Emissionsrechte erhalten, festzustellen.

2.6.    Der Ausgleich für importierte Waren kann auf den Treibhausgasemissionen der enthaltenen Grundmetalle, -chemikalien und -stoffe basieren

2.6.1.

Die Treibhausgasemissionen eines Industrieguts lassen sich im Wesentlichen anhand der darin enthaltenen Materialien ermitteln.

Sie können in drei Hauptbestandteile aufgegliedert werden, die jeweils einer anderen Kategorie von wertschöpfenden Tätigkeiten entsprechen:

die Treibhausgasemissionen der Grundmetalle, -chemikalien und -stoffe, aus denen das Produkt direkt oder indirekt besteht (Stahl, Ethylen, Benzol, Ammoniak, Salzsäure, Glas, Holz usw.);

die Treibhausgasemissionen der industriellen Tätigkeiten, mit denen die Grundmetalle, -chemikalien und -stoffe umgewandelt und geformt werden (z. B. Polymerisation, Guss, spanende und schneidende Bearbeitung usw.);

die Treibhausgasemissionen der standortinternen oder standortübergreifenden Logistik zwischen den diversen Phasen der Wertschöpfung.

Der Großteil der Treibhausgasemissionen eines Industrieprodukts wird durch die darin enthaltenen Grundmetalle, -chemikalien und -stoffe verursacht (insbesondere, wenn es sich nicht um Recyclingmaterial handelt). Beispielsweise wird im Falle eines maschinell bearbeiteten Stahlteils für den Prozess eine Energie von 2,8 kWh aufgewandt (11), während für das Material (12) 117 kWh an Energie eingesetzt wurden, d. h. 40-mal mehr, was die Größenordnung der relativen Bedeutung dieser Komponenten veranschaulicht. Im Fall von Düngemitteln, Kunststoffen, Elastomeren, Lösungsmitteln, Schmierstoffen und Textilfasern ist der größte Teil der im Endprodukt enthaltenen Treibhausgasemissionen auf die Grundchemikalien zurückzuführen, aus denen es hergestellt wurde. Diese lassen sich der entsprechenden Formulierung entnehmen. Das bedeutet, dass sich die vollständigen Treibhausgasemissionen eines Industrieprodukts aus den Treibhausgasemissionen der darin enthaltenen Grundmetalle, -chemikalien und -stoffe näherungsweise ableiten lassen (13).

2.6.2.   Berechnung des für importierte Waren anzuwendenden Ausgleichs

2.6.2.1.

Damit die für die Grenzausgleichsmaßnahmen zuständigen Zollbehörden sowohl für sich selbst als auch für das in gutem Glauben handelnde importierende Unternehmen wirksam und rechtssicher arbeiten können, müssen die Steuerbemessungsgrundlage und der Steuersatz mit möglichst wenig Spielraum für Auslegungen und Rechtsstreitigkeiten festgelegt werden.

Bei der Erwägung der Preisgestaltung für Treibhausgasemissionen entspricht der Steuersatz entweder dem Erfordernis zum Kauf von EHS-Zertifikaten für die Menge der in dem importierten Produkt enthaltenen Treibhausgasemissionen, und zwar zum selben Preis pro EHS-Zertifikat wie bei der Erstattung für Exporteure (im Fall eines marktorientierten Systems), oder es wird mit einem CO2-Steuersatz gearbeitet (in einem System mit festem Satz).

2.6.2.2.

Die Steuerbemessungsgrundlage muss durch die Analyse der importierten Ware selbst überprüfbar sein, die das am wenigsten anfechtbare Beweismittel darstellt. In dem betreffenden Fall bestünde die ideale Steuerbemessungsgrundlage in den vollständigen Treibhausgasemissionen der importierten Ware.

Es ist schwierig, die vollständigen Treibhausgasemissionen eines Industrieprodukts zu bestimmen, da entlang der Wertschöpfungskette zahlreiche komplexe wertschöpfende Tätigkeiten vorgenommen werden, von denen viele im Produkt selbst keine Spuren hinterlassen.

Daher wird vorgeschlagen, die oben beschriebene praktikable Annäherung anzuwenden: Die vollständigen Treibhausgasemissionen der importierten Waren entsprechen annähernd den Treibhausgasemissionen der enthaltenen Grundmetalle, -chemikalien und -stoffe, vorausgesetzt diese machen mehr als z. B. 1 % der Gesamtmasse aus. Mikroelektronik, die trotz ihrer geringen Masse umfangreiche Treibhausgasemissionen verursacht, würde gleichwohl in die Berechnung mit einbezogen.

Die Gesamtmenge der Treibhausgasemissionen der in dem Gegenstand enthaltenen Materialien wird wie folgt berechnet: Die Masse aller in signifikanter Menge in dem Gegenstand enthaltenen Grundmetalle, -chemikalien oder -stoffe wird mit der Intensität der Treibhausgasemissionen dieser Grundmetalle, -chemikalien oder -stoffe multipliziert (d. h. mit den in einem Kilogramm dieser Grundmetalle, -chemikalien oder -stoffe enthaltenen Treibhausgasemissionen).

Für die meisten Grundmetalle, -chemikalien und -stoffe wurde die durchschnittliche THG-Emissionsintensität auf Ebene aller Länder bereits bestimmt. Die Zahlen, einschließlich für China, können in einer Reihe von öffentlich zugänglichen Datenbanken abgerufen werden (z. B. sind sie im GHG Protocol (14) aufgelistet), die auf ausgereiften Methoden zur Lebenszyklusbewertung basieren.

2.6.2.3.

Um in einzelnen Anlagen eine geringere Intensität von Treibhausgasemissionen und die Verbreitung von Daten zu fördern und zu belohnen, wird folgendes Anreizsystem vorgeschlagen.

Wenn ein Erzeuger zuverlässig die wirkliche Intensität seiner Treibhausgasemissionen nachweisen kann, gilt dieser Wert für seine in die EU importierten Produkte. Werden jedoch keine zuverlässigen Daten bereitgestellt, wird die durchschnittliche THG-Emissionsintensität des Ursprungslands herangezogen. Dieser Durchschnitt wird anhand der verbleibenden Produktion und den verbleibenden Treibhausgasemissionen errechnet, nachdem die Erzeuger, die zuverlässige Daten eingereicht haben, herausgerechnet wurden.

Daher werden sich die klimafreundlichsten Erzeuger in einem Land zuerst an dem Verrechnungssystem beteiligen (damit sie nicht durch Anwendung des nationalen Durchschnittswerts ins Hintertreffen geraten). Nach dem Herausrechnen der „tugendhaften“Erzeuger wird sich der nationale Durchschnitt nach und nach verschlechtern, was weitere Erzeuger anspornen wird, zuverlässige Daten einzureichen.

2.6.2.4.

Des Weiteren könnte die EU Unternehmen im Ausland technische Hilfe bei der Einrichtung des erforderlichen zuverlässigen Buchhaltungssystems für Treibhausgasemissionen leisten und somit ihre freundschaftliche Haltung zu ihren Handelspartnern einmal mehr unterstreichen.

2.6.2.5.

Um zu vermeiden, dass skrupellose Akteure die geringe THG-Emissionsintensität von einer Fertigungsanlage unzulässigerweise auf eine andere übertragen, könnte ein Rückverfolgungssystem, z. B. auf der Grundlage der Blockchain-Technologie, entwickelt und eingesetzt werden.

Brüssel, den 17. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 57.

(2)  Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 22. März 2019, EUCO 1/19.

(3)  ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 1.

(4)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. Dezember 2015 zur Entwicklung einer nachhaltigen europäischen Industrie der unedlen Metalle (2014/2211(INI)).

(5)  A. Gerbeti, „CO2 in goods and European industrial competitiveness“(CO2 in Waren und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie), Editoriale Delfino (2014), und A. Gerbeti, „A Symphony for energy: CO2 in goods“(Eine Symphonie für Energie: Kohlendioxid in Waren), Editoriale Delfino (2015).

(6)  A. Marcu, W. Stoefs: „Study on composition and drivers of energy prices and costs in selected energy-intensive industries“(Studie zur Zusammensetzung von Energiepreisen und -kosten in ausgewählten energieintensiven Industriezweigen und entsprechende Faktoren).

CEPS, 2016, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/DocsRoom/documents/20355

(7)  C. Egenhofer, L. Schrefler: „Study on composition and drivers of energy prices and costs in energy-intensive industries. The case of the flat glass industry“(Studie zur Zusammensetzung von Energiepreisen und -kosten in ausgewählten energieintensiven Industriezweigen und entsprechende Faktoren. Der Fall der Flachglasindustrie). CEPS, 2014, abrufbar unter https://www.ceps.eu/system/files/Glass.pdf

(8)  Gemäß der Studie von T. Wyns („Industrial Value Chain: A Bridge towards a Carbon Neutral Europe“[Industrielle Wertschöpfungskette: eine Brücke zu einem CO2-neutralen Europa], VUB-IES, 2018, abrufbar unter: https://www.ies.be/node/4758), in der elf europäische REII untersucht werden, würde der umfassende Rückgriff auf CO2-arme technische Möglichkeiten einen zusätzlichen Elektrizitätsbedarf zwischen 2 980 TWh und 4 430 TWh pro Jahr zur Folge haben.

(9)  GATT, „Report by the Working Party on Border Tax Adjustments“(Bericht der Arbeitsgruppe über grenzüberschreitende Steueranpassungen), 1970, abrufbar unter: https://www.wto.org/gatt_docs/English/SULPDF/90840088.pdf, insbesondere Art. 4, 11 und 14.

(10)  Abrufbar unter: https://www.wto.org/english/res_e/booksp_e/analytic_index_e/gatt1994_e.htm

(11)  Yohei Oda et al.: „Energy Consumption Reduction by Machining Process Improvement“(Reduzierung des Energieverbrauchs durch Verbesserungen der maschinellen Prozesse), dritte CIRP-Konferenz, 2012, abrufbar unter: http://isiarticles.com/bundles/Article/pre/pdf/17172.pdf

(12)  Inventory of Carbon and Energy (IEC) abrufbar unter: http://www.circularecology.com/embodied-energy-and-carbon-footprint-database.html

(13)  Diese Emissionen sind im Allgemeinen positiv. Sie können im Falle nachhaltig angebauter biologischer Materialien (z. B. Holz) negativ sein.

(14)  Die vollständige Liste der Datenbanken mit Treibhausgasemissionen für verschiedene Materialien und Prozesse kann hier abgerufen werden: http://www.ghgprotocol.org/life-cycle-databases


18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/65


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Förderung kurzer und alternativer Lebensmittelversorgungsketten in der EU: Die Rolle der Agrarökologie“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 353/11)

Berichterstatterin: Geneviève SAVIGNY

Beschluss des Plenums

24.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachkommission

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

28.6.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

135/7/21

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstreicht in dieser Stellungnahme, dass kurze Versorgungsketten und die Agrarökologie der europäischen Landwirtschaft neue Perspektiven eröffnen. Seit über 50 Jahren haben diese innovativen Maßnahmen, die doch der Globalisierung der Lebensmittelsysteme zuwiderliefen, Gestalt angenommen, sie werden in vielen nationalen und europäischen Forschungsprogrammen untersucht und in ihrer Entwicklung mit öffentlichen und privaten Mitteln gefördert, und immer mehr Landwirte wenden sich diesen Systemen zu. Somit hat sich bestätigt, dass die Agrarökologie und die kurzen Versorgungsketten angemessen auf die Herausforderungen der Nahrungsmittelversorgung reagieren können. Sie könnten eine tragende Säule einer Politik für nachhaltige Lebensmittelsysteme und die Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung innerhalb der kommenden zehn Jahre sein (2030).

1.2.

In ganz Europa entwickeln sich innovative Systeme, die Verbraucher und Erzeuger einander näherbringen, wie die solidarische Landwirtschaft (community supported agriculture, CSA) und andere „Korb“-Systeme. Viele dieser Erzeuger betreiben den ökologischen/biologischen Landbau bzw. wenden andere, nicht mit einem Siegel ausgezeichnete umweltfreundliche Methoden an. Häufig sind die Gebietskörperschaften daran beteiligt: Sie etablieren eine lokale Ernährungspolitik unter Einbeziehung der verschiedenen Akteure und fördern insbesondere die Nutzung lokaler Erzeugnisse in der Gemeinschaftsverpflegung. Der Vertrieb über kurze Lieferketten bedeutet eine echte Chance für Kleinbetriebe, ihre Wertschöpfung und Rentabilität zu steigern. Diese Relokalisierung fördert die Beschäftigung und lokale Dynamik und baut auf einem starken Engagement der praktizierenden Landwirte auf. Die Verbraucher verfügen dadurch über eine Quelle frische, hochwertige Erzeugnisse, die eine „Geschichte“hat, von zwischenmenschlichen Beziehungen geprägt ist, Interesse fördert und für die Ernährung und den Wert der Erzeugnisse sensibilisiert.

1.3.

Diese Erzeugung- und Vertriebsform eignet sich nicht für alle landwirtschaftlichen Betriebe — aufgrund der Art der Erzeugung, der geografischen Lage oder des Fehlens einer städtischen Bevölkerung, die beispielsweise den gesamten Wein oder das gesamte Olivenöl aus einem stark landwirtschaftlich geprägten Gebiet verbrauchen könnte. Sie ersetzt auch nicht den Bedarf an nicht lokal erzeugten Lebensmitteln. In den längeren Versorgungsketten sorgen die europäischen Qualitätssiegel (geschützte geografische Angabe, geschützte Ursprungsbezeichnung, garantiert traditionelle Spezialität) für Identifizierung und Aufwertung und erleichtern den Verbrauchern die Auswahl.

1.4.

In diesem Zusammenhang beobachtet der EWSA das Entstehen der Agrarökologie als neues Paradigma der Ernährung und Landwirtschaft. Als Wissenschaft, Verfahren und soziale Bewegung betrachtet die Agrarökologie das Lebensmittelsystem ganzheitlich und strebt an, den Erzeuger seiner Umwelt anzunähern und dabei die Komplexität und den Reichtum des Agrar-Öko-Sozialsystems zu bewahren bzw. auch wiederherzustellen. Die Agrarökologie, die von der FAO gefördert wird und Gegenstand zahlreicher Untersuchungen und Konferenzen ist, entwickelt sich — auch auf institutioneller Ebene — im Rahmen nationaler Programme für die ländliche Entwicklung stark in Europa.

1.5.

Nach Ansicht des EWSA muss die Agrarökologie das langfristige Ziel der europäischen Landwirtschaft sein, deren Entwicklung unmittelbar von dem Erhalt der natürlichen Ressourcen abhängt. Nach dem Vorbild bewährter Modelle wie der ökologischen/biologischen Landwirtschaft (mit Ausnahme bestimmter Auswüchse industriell erzeugter Bioprodukte), der konservierenden Landwirtschaft und anderer traditioneller bäuerlicher Systeme muss im Zuge der Umstellung die Verpflichtung auf die Verringerung der Einträge, die Revitalisierung der Böden, den Anbau einer Vielfalt von Kulturen und den Schutz der biologischen Vielfalt vermittelt und gefördert werden.

1.6.

Der EWSA befürwortet die Einführung des agrarökologischen Projekts auf EU-Ebene und baut dabei auf einem strukturierten Aktionsplan auf, der sich in verschiedene Instrumente auf lokaler, regionaler und europäischer Ebene untergliedert. Eine umfassende, vom EWSA befürwortete Ernährungspolitik kann hierfür einen Rahmen bieten. Zu den wichtigen Maßnahmen gehören:

Förderung des Zugangs zu Finanzmitteln für die Einführung der notwendigen individuellen oder kollektiven Ausrüstung (2. Säule der GAP);

an die Kleinerzeuger angepasste Anwendung des Lebensmittelrechts mit Flexibilität für die Kleinerzeugung sowie für die Kennzeichnungsvorschriften usw.;

Einrichtung bzw. Ausbau der geeigneten Bildungs- und Beratungsdienste für die Verarbeitung, den Direktverkauf und die Agrarökologie;

Förderung von Netzen für den Informationsaustausch zwischen Landwirten;

Ausrichtung der Forschung auf die Agrarökologie und die Bedürfnisse der Erzeuger in kurzen Versorgungsketten.

Gebietsbezogen müssen geeignete Wettbewerbsregeln aufgestellt werden, um die Versorgung für die Gemeinschaftsverpflegung über kurze lokale Ketten zu erleichtern.

2.   Einleitung

2.1.

Der EWSA hat in zwei Stellungnahmen (1) betont, dass eine umfassende Ernährungspolitik in der EU entwickelt werden muss, die auf mehreren Säulen beruht, u. a. der Entwicklung kürzerer Lebensmittelversorgungsketten.

2.2.

Auf lokaler und regionaler Ebene gibt es immer mehr Initiativen zur Unterstützung alternativer Lebensmittelsysteme und kurzer Lebensmittelversorgungsketten. Eine umfassende Ernährungspolitik sollte auf einer gemeinsamen Governance auf allen Ebenen — auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene — aufbauen und diese auch fördern und ausbauen. Ein solcher Ansatz würde günstige Rahmenbedingungen für die Entfaltung dieser Initiativen ermöglichen — unabhängig von ihrer Größenordnung — und ist für die Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung in Europa notwendig.

2.3.

In diesem Zusammenhang erscheint die Agrarökologie als neues Paradigma der Landwirtschaft und Ernährung, das mit der Entwicklung dieser neuen Lebensmittelversorgungs- und -erzeugungspraktiken einhergeht.

2.4.

Mit dieser Stellungnahme sollen die Annäherung der Erzeuger und Verbraucher in kürzeren Versorgungsketten und die Entwicklung der Agrarökologie ausgelotet werden, um die Bedingungen und Instrumente für die Ausrichtung des Lebensmittelsystems auf die umfassende Verwirklichung der Ziele für eine nachhaltige Entwicklung zu ermitteln.

3.   Die Entwicklung kurzer Versorgungsketten

3.1.

Die Europäische Union verwendet im Rahmen der Strategien für die Entwicklung des ländlichen Raums folgende Definition (Verordnung (EU) Nr. 1305/2013): „Versorgungskette mit einer begrenzten Anzahl von Wirtschaftsbeteiligten, die sich für die Zusammenarbeit, die lokale Wirtschaftsentwicklung sowie enge geografische und soziale Beziehungen zwischen Erzeugern, Verarbeitern und Verbrauchern einsetzen“ (2).

3.2.

In der Lebensmittelversorgung hat es seit Ende der 1990er-Jahre tiefgreifende Veränderungen gegeben. Eine bessere Ernährungserziehung und aufeinanderfolgende gesundheitspolitische Krisen im Zusammenhang mit schlechten landwirtschaftlichen und agroindustriellen Praktiken haben dazu geführt, dass immer mehr Verbraucher neue Qualitätskriterien anlegen, die gesundheitliche Aspekte und die nachhaltige Entwicklung einbeziehen (3). Die Deregulierung der Agrarmärkte, die starke Volatilität der Preise, die oftmals unterhalb der Gestehungskosten liegen, und die geringen Einkommen der landwirtschaftlichen Betriebe auf der einen Seite und der zunehmende Wunsch der Verbraucher nach gesunden und hochwertigen Lebensmitteln auf der anderen Seite veranlassen einige Landwirte, ihre Erzeugungs- und Vermarktungsmethoden zu verändern. In der gesamten Versorgungskette, vom Erzeuger bis zum Verbraucher, ist eine Diversifizierung zu beobachten. Es entstehen neue Formen der landwirtschaftlichen Erzeugung, die Erzeuger müssen die Initiative ergreifen, neue Märkte zu erschließen oder neue Wege für die Vermarktung über kurze Vertriebsketten zu finden, damit sich die menschliche und wirtschaftliche Investition in die Diversifizierung bezahlt macht, und infolge der Annäherung von Erzeuger und Verbraucher ist eine Entwicklung hin zu nachhaltigeren Praktiken festzustellen. Der Wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments (SRPE) hat 2015 betont, dass 15 % der Landwirte die Hälfte ihrer Erzeugnisse über kurze Versorgungsketten abgesetzt haben, und aus einer Eurobarometer-Umfrage von 2016 geht hervor, dass vier von fünf EU-Bürgern „die Rolle der Landwirte in der Lebensmittelkette unterstützen“. Die kurzen Versorgungsketten gewinnen in Europa immer mehr an Bedeutung, allerdings in den verschiedenen Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Maße.

3.3.

Somit gibt es viele verschiedene Arten des Direktvertriebs. Über die herkömmlichen Formen hinaus — Verkauf direkt beim Bauern oder außerhalb des Bauernhofs — entwickeln sich neue Initiativen. Zu den dynamischsten innovativen Bereichen der letzten 20 Jahre gehören die lokalen und solidarischen Partnerschaften, bei denen die Erzeuger den Verbrauchern auf Vertragsbasis „Körbe“ — vor allem mit biologischen Erzeugnissen — liefern und die von der internationalen Organisation Urgenci miteinander vernetzt und ausgebaut wurden. Darüber hinaus gibt es in vielen Ländern kollektive Maßnahmen zur Dynamisierung des Sektors über Messen oder lokale Veranstaltungen, bspw. das italienische Netz „Campagna amica“. Das Genossenschaftswesen leistet hierzu einen sehr wichtigen Beitrag. Dieser Sektor zieht junge Menschen und Neulandwirte an, die häufig hoch motiviert sind.

3.4.

In der o. g. Stellungnahme (4) wird betont, dass kurze Lebensmittelversorgungsketten „sehr positive Auswirkungen“insbesondere auf die Frische, die sensorischen Eigenschaften und den Nährwert haben. Nach der über 30 Jahre andauernden Entwicklung eines globalisierten Lebensmittelsystems scheint allgemein anerkannt und akzeptiert zu sein, dass engere Beziehungen zwischen Erzeugern, Verbrauchern und lokalen Systemen zahlreiche Vorteile mit sich bringen. Kurze Versorgungsketten verbessern die Wertschöpfung und die Rentabilität kleiner Landwirtschaftsbetriebe, ermöglichen den Verkauf „unterscheidbarer“Produkte, die den Verbrauchern „eine Geschichte erzählen“, die dann ihrerseits bereit sind, mehr zu bezahlen, und fördern den Erlebnischarakter und soziale Bindungen im ländlichen Raum. Die Produktion höherwertiger Lebensmittel und bessere Vermarktungsketten sensibilisieren die Verbraucher für den Wert der Lebensmittel und für Verschwendung und tragen so dazu bei, die Auswirkungen der Ernährung auf den Klimawandel zu verringern.

3.4.1.

Diese Vermarktungsart führt zu positiven externen Effekten für die gesamte Gemeinschaft (Schaffung ortsgebundener Arbeitsplätze, Bindung der Wertschöpfung in der Region, Attraktivität als Reiseziel oder Wohnort). Diese weitreichenden Externalitäten müssen bei der Förderung der Entwicklung kurzer Versorgungsketten und der Dynamik der Regionen berücksichtigt werden.

3.4.2.

Es gibt eine Vielzahl an Initiativen für kurze Versorgungsketten. Sie basieren auf sozialen, organisatorischen und regionalen Innovationen, die sich noch im Entwicklungsstadium befinden. In vielen Arbeiten werden die territoriale Dimension und die kollektive Identität als Schlüsselfaktoren für ihre Tragfähigkeit und ihren Fortbestand bezeichnet. Es geht folglich darum, die Möglichkeit zu schaffen, territoriale Lebensmittelsysteme aufzubauen, die sich auf eine lokale Governance unter Beteiligung der einschlägigen Akteure stützen (5).

3.5.

Das Internet erweist sich als neues Forschungs- und Innovationsfeld für kurze Versorgungsketten. Seine generelle Verbreitung seit rund zehn Jahren lässt sich auch in den kurzen Lebensmittelversorgungsketten beobachten. Es bietet einen größeren Markt als der herkömmliche Erzeugermarkt und ermöglicht außerdem eine Verbesserung und Vereinfachung des Handels. In den letzten fünf Jahren wurden zahlreiche Online-Bestellplattformen ins Leben gerufen. Diese „Lebensmittel-Knotenpunkte“ermöglichen eine „direkte Kontaktaufnahme“zwischen Erzeugern und Verbrauchern, insbesondere bei Erzeugnissen, die nur lokal vorhanden sind. Sie können es den Erzeugern, aber auch den Verbrauchern ermöglichen, sich für Käufe bzw. Verkäufe zusammenzuschließen, und so die Logistik in der kurzen Versorgungskette erleichtern. Die Digitalisierung erstreckt sich auch auf die Erzeugung und Verarbeitung von Produkten.

4.   Die Agrarökologie: ein neuer Ansatz für die Landwirtschaft

4.1.

Auf dem zweiten internationalen Symposium zur Agrarökologie, das im Jahr 2018 in Rom stattfand, hat die FAO folgende Definition vorgeschlagen: In der Agrarökologie werden ökologische Konzepte und Grundsätze angewandt, um die Interaktionen zwischen Pflanzen, Tieren, Menschen und Umwelt zu optimieren, ohne dabei die sozialen Aspekte zu vergessen, die für ein nachhaltiges und gerechtes Lebensmittelsystem berücksichtigt werden müssen. Durch die Schaffung von Synergien kann die Agrarökologie nicht nur zur Lebensmittelerzeugung, zur Lebensmittelsicherheit und zur Ernährung beitragen, sondern auch eine Wiederherstellung der Ökosystemleistungen und der biologischen Vielfalt ermöglichen, die für eine nachhaltige Landwirtschaft von wesentlicher Bedeutung sind. (6)

4.2.

Die Agrarökologie hat sich auf drei Ebenen entwickelt. Zunächst stand der Begriff der Agrarökologie, wie er bereits in den 1920er-Jahren verwendet wurde, für das Zusammenspiel verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen (Physik, Chemie, Ökologie, Raumordnung), die sich mit der Landwirtschaft aus der Perspektive des vernetzten Agrarökosystemkomplexes befassen. Auf der zweiten Ebene steht Agrarökologie für nachhaltigen Landbau, der optimale und stabile Ernteerträge ermöglicht. Auf der dritten Ebene schließlich ist die Agrarökologie zu einer sozialen Bewegung geworden, die Nahrungsmittelsouveränität und ein erneuertes multifunktionales Spektrum für die Landwirtschaft zum Ziel hat (7). Die Agrarökologie hat sich auch zu einer besseren Berücksichtigung der Nahrungsmittelproblematik entwickelt, wie etwa die Dokumente „Redesigning the food system“(Hill, 1985) und „Agroecology: The ecology of sustainable food systems“ — ein Referenzwerk von Steve Gliessman — belegen.

4.3.

Die Agrarökologie fußt auf zehn Grundsätzen, die von der FAO festgelegt und ermittelt wurden, um die Länder dabei zu unterstützen, ihre Lebensmittel- und Landwirtschaftssysteme umzugestalten, die nachhaltige Landwirtschaft zu verbreiten und das Ziel „Kein Hunger“und zahlreiche andere Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG) zu verwirklichen:

Vielfalt, Synergien, Effizienz, Resilienz, Recycling, Co-Creation und Wissensaustausch (Beschreibung der gemeinsamen Merkmale der agrarökologischen Systeme, Gründungspraktiken und innovative Ansätze);

menschliche und soziale Werte, Kultur und Ernährungsgewohnheiten (kontextbezogene Merkmale);

Kreislauf- und Solidarwirtschaft, verantwortungsvolle Governance (günstige Rahmenbedingungen).

Die zehn Elemente der Agrarökologie greifen ineinander (8).

4.4.

In Anbetracht dieser zehn Grundsätze können sich mehrere Formen der Landwirtschaft darauf berufen: Der biologische/ökologische Landbau, der sich innerhalb eines standardisierten Rahmens (EU-Vorschriften über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen (9)) auf dieselben Grundsätze stützt, die biologisch-dynamische Landwirtschaft, die integrierte Landwirtschaft, die Agroforstwirtschaft, die Ackerkulturen und Baumkulturen miteinander kombiniert, oder die konservierende Landwirtschaft haben eine gemeinsame Grundlage, d. h. ein komplexes und systemisches Landwirtschaftsverständnis, das das Spektrum von der Erzeugung bis zum Verbrauch der Lebensmittel umfasst. Der wichtige Beitrag zur Erhaltung von Bodenqualität und -leben dieser Landwirtschaftsformen ist hervorzuheben.

Die Agrarökologie ist ein Paradigmenwechsel in der Landwirtschaft, um den Klimawandel zu bekämpfen, lebendige Ökosysteme wiederherzustellen sowie Wasser, Boden und alle Ressourcen zu schützen, von denen die landwirtschaftliche Erzeugung abhängt. Landwirte, die bereit sind, die Bewirtschaftungsmethoden und die Interaktion mit dem Ökosystem zu überdenken, um die negativen externen Effekte zu verringern und die positiven externen Effekte zu erhöhen, sollten in ihrem Engagement bestärkt werden. Die Verringerung des Chemikalieneinsatzes, die Einführung einer größeren Vielfalt in den Fruchtfolgen, die konservierende Landwirtschaft und die Erhaltung der biologischen Vielfalt sind als Schritte auf dem Weg zu einem agrarökologischen Wandel aller landwirtschaftlichen Betriebe in Europa zu fördern.

4.5.

Mit den in den 1970er und 1980er-Jahren von Lateinamerika ausgehenden sozialen Bewegungen, die von Organisationen wie Via Campesina angestoßen wurden, begann die unaufhaltsame internationale Fortentwicklung dieses Lebensmittelsystemansatzes auf seinen drei Ebenen (wissenschaftlich, technisch und sozial). Auch in Europa hat diese Entwicklung Fuß gefasst. Im September 2014 organisierte die FAO in Rom ein erstes Symposium, zum Thema „Agroecology for Food Security and Nutrition“, auf das mehrere regionale Seminare folgten, darunter eines für Europa im November 2016 in Budapest; sie plädiert für die Entwicklung der Agrarökologie zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele und des Übereinkommens von Paris. Ende 2019 wird in Europa eine weitere Veranstaltung stattfinden. In Horizont 2020, dem Forschungsprogramm der Union, sind zahlreiche mit der Agrarökologie, dem biologischen/ökologischen Landbau und kurzen Versorgungsketten zusammenhängende Themen aufgenommen worden und die Europäische Innovationspartnerschaft „Landwirtschaftliche Produktivität und Nachhaltigkeit“(EIP-AGRI), die diese Themen unter dem Gesichtspunkt der landwirtschaftlichen Entwicklung ebenfalls untersucht hat, veranstaltet im Juni 2019 in Frankreich den einschlägigen nächsten Gipfel zu Innovationen in der Landwirtschaft (AIS).

4.6.

Die Agrarökologie hat sich nach und nach institutionalisiert, insbesondere in Frankreich (10). Frankreich nahm die Agrarökologie in den Code rural (Landwirtschaftsgesetzbuch) auf und stellte entsprechende rechtliche und finanzielle Instrumente bereit, womit sie zu einem Stützpfeiler der landwirtschaftlichen Entwicklung des Landes wurde (11). Die Finanzmittel und die Ausrichtung mehrerer spezifischer Programme Frankreichs haben zahlreiche Projekte von in Gruppen zusammengeschlossenen Landwirten angeregt und gefördert, im Rahmen derer die landwirtschaftliche Entwicklung und Erzeugung auf eine größere Nachhaltigkeit ausgerichtet werden (12).

4.6.1.

Zu den überzeugenden Ergebnissen der Agrarökologie, die in wissenschaftlichen Arbeiten hervorgehoben und von den Entwicklungseinrichtungen aufgegriffen werden, gehören:

für die Landwirte: Steigerung der Bodenfruchtbarkeit, Senkung der Erzeugungskosten, größere Entscheidungsautonomie, Klimaresilienz der Landwirtschaftssysteme und Aufwertung des Berufes;

für die Verbraucher: gesundheitliche und ernährungsphysiologische Qualität der Lebensmittel und Gewässer, Wahrung der biologischen Vielfalt und der Landschaften, Garantien für landwirtschaftliche Verfahren (Zucht oder Anbau) (13).

4.6.2.

Diese Ergebnisse werden durch die gemeinschaftliche Orientierung agrarökologischer Projekte verstärkt, in die die Landwirte sich mit sachkundigen Vorschlägen und Innovationen einbringen, um Verbesserungen zu erzielen und ihre Erzeugungskosten zu senken. Internetplattformen (14) können die notwendige Nutzbarmachung der technischen und wissenschaftlichen Referenzen und Erfahrungsberichte von Landwirten, die diesen Wandel vollzogen haben, ermöglichen, und auch Schulungen und Gruppenunterricht spielen eine wichtige Rolle.

4.6.3.

Im Rahmen der Ausbildung der künftigen Landwirte in den öffentlichen Einrichtungen für landwirtschaftliche Bildung wird auch die Entwicklung der Agrarökologie vermittelt. Es gibt immer mehr Lerninhalte zu dem Thema (15) und die Lernenden tendieren zunehmend dazu, den agrarökologischen Wandel und die entsprechende Erzeugung in ihrem künftigen Berufsleben zu fördern (16). Im französischen Programm für die agrarökologische Wende ist vorgesehen, über die Verwendung regionaler Lebensmittel in den Kantinen von Landwirtschaftsschulen die Ernährung der Schüler zu verbessern und sie für das Thema Ernährung zu sensibilisieren.

4.6.4.

Zur Begleitung der Wende auf regionaler Ebene hat die französische Regierung die projets alimentaires territoriaux (regionale Ernährungsprojekte) ins Leben gerufen, bei denen frei gebildete Gemeinschaften die zur Verbesserung des lokalen Lebensmittelsystems erforderlichen Maßnahmen konzipieren. Trotz mangelnder Ressourcen scheinen die Programme auf Interesse zu stoßen und die Ergebnisse ermutigend zu sein.

4.7.    Kurze Versorgungsketten und Agrarökologie, ineinandergreifende Umstellungen

4.7.1.

Kennzeichnend für die Agrarökologie ist insbesondere, dass Erzeugungsformen auf der Ebene der landwirtschaftlichen Betriebe einander in vielfältiger Form ergänzen. Für Erzeugnisse aus agrarökologischen Zuchtbetrieben wie auch Anbaukulturen müssen neue Absatzmärkte geschaffen und dauerhaft erhalten werden. Hier scheinen kurze Lebensmittelversorgungsketten eine angemessene Antwort auf die Herausforderung dieses Wandels zu sein.

4.7.2.

Schließlich sei darauf hingewiesen, dass die Verbindung von Agrarökologie und kurzen Versorgungsketten auf europäischer, nationaler und lokaler Ebene nunmehr zu einer Governance von Lebensmittelsystemen auf territorialer Ebene mit neuen Modalitäten für die Beteiligung der Akteure geführt hat. Diese Wiederanbindung der Städte an ihre nahe gelegenen Lebensmittelproduktionsgebiete findet bereits an vielen Orten statt: Mailandin Italien, Montpellier in Frankreich, Gent, Brüssel und Lüttich in Belgien sowie Toronto in Kanada.

5.   Ausbau der kurzen Versorgungsketten und der Agrarökologie im Interesse nachhaltiger Lebensmittelsysteme

5.1.    Beitrag zu hochwertigen Lebensmitteln

5.1.1.

Im Rahmen eines gemeinsam mit der Universität Coventry durchgeführten europäischen Forschungsvorhabens zu kurzen Versorgungsketten und lokalen Lebensmittelsystemen, an dem auch die Generaldirektionen Landwirtschaft und Gesundheit der Europäischen Kommission mitgewirkt haben, wurden 2012 die Aspekte Qualität, Rückverfolgbarkeit und Transparenz hervorgehoben, die beim Kauf/Verkauf im Mittelpunkt stehen müssen. Die EU muss die Erzeuger und Verbraucher in die Lage versetzen, jedwede kurze Versorgungskette fest auf diese drei miteinander verknüpften Aspekte zu gründen. Es wurde festgestellt, dass die meisten über eine kurze Versorgungskette abgesetzten Erzeugnisse je nach Land aus biologischem Anbau oder aus nicht zertifizierten Methoden ohne Einsatz synthetischer Stoffe stammen. Darin könnte der Schlüssel für eine Annäherung von Agrarökologie und kurzen Versorgungsketten liegen. Dank der Grundsätze und Rahmenbedingungen der Agrarökologie lässt sich ein Umfeld des Vertrauens schaffen, das ausreichend stark und stabil und nicht auf eine systematische Kennzeichnung angewiesen ist, um den Verbrauchern die für die Entwicklung und die Tragfähigkeit der kurzen Versorgungsketten erforderliche Qualität, Rückverfolgbarkeit und Transparenz zu bieten. Regelmäßige Besuche landwirtschaftlicher Betriebe durch Verbraucher und andere Erzeuger stellen ein wirksames partizipatives Garantiesystem zur Förderung der Transparenz, der Entwicklung von kontextbezogenen Indikatoren und der Überwachung agrarökologischer Verfahren dar (17).

5.1.2.

Auf individueller Ebene zeigen die jüngsten Studien, dass kurze Versorgungsketten die Gesundheit der Menschen erheblich verbessern. Zum einen achten letztere dann stärker darauf, welche Nahrungsmittel sie zu sich nehmen und wie diese erzeugt werden. Zum anderen sind diese Versorgungsketten sehr wichtige soziale Lernforen, auch was gesunde Ernährungsgewohnheiten angeht.

5.2.    Zugänglichkeit und Ernährungssicherheit

5.2.1.

Derzeit wird durch mehrere europäische Forschungsprojekte (18) (19) deutlich, dass die kurzen Versorgungsketten strukturierte und organisierte Formen annehmen und sich von Nischenmärkten zu echten Ernährungsgewohnheiten entwickeln. Dies wurde u. a. durch die Vernetzung zahlreicher Akteure auf EU-Ebene über mit verschiedenen europäischen Finanzierungsprogrammen unterstützte Projekte ermöglicht. Diese Entwicklung wird jedoch dadurch eingeschränkt, dass schlechter gestellte Haushalte keinen Zugang zu bestimmten Erzeugnissen haben. Die im Rahmen früherer EWSA-Stellungnahmen angestellten Überlegungen zur Förderung des Zugangs zu diesen Lebensmittelerzeugnissen sollten fortgesetzt werden. In Frankreich befinden sich mehrere diesbezügliche Forschungsprojekte (RMT Alimentation (20), CasDAR-Projekt ACCESSIBLE (21) oder die regionalen Lebensmittelprojekte (22)) in der Abschlussphase.

5.2.2.

Mit Blick auf die verfügbaren Instrumente können von der EIP-AGRI und der GD Forschung im künftigen Programm Horizont Europa bereitgestellte Forschungs- und Innovationsressourcen der Agrarökologie und den kurzen Versorgungsketten gewidmet werden. Im Rahmen der künftigen GAP sollten die Öko-Regelungen genutzt werden, um die schrittweise Übernahme agrarökologischer Methoden durch die Landwirte und eine Umstellung der Systeme auf kurze Versorgungsketten zu fördern. Das gleiche gilt für Maßnahmen der zweiten Säule, wie z. B. Agrarumwelt- und Klimaschutzmaßnahmen, Beihilfen für Investitionen, die für die Einführung dieser Maßnahmen erforderlich sind, sowie Verarbeitungs- und Vermarktungsinstrumente. Im Rahmen der LEADER-Programme müssen die geeigneten Ausbildungs- und Beratungsangebote sowie die ortsbezogenen Maßnahmen entwickelt werden. Darüber hinaus können regionale Initiativen über Kohäsionsmittel gefördert werden.

5.2.3.

Es müssen geeignete Regeln für die Vergabe öffentlicher Aufträge im Rahmen kurzer Versorgungsketten entwickelt werden, was derzeit durch die Wettbewerbsregeln eingeschränkt ist. Außerdem müssen adäquate Vorschriften für kurze Versorgungsketten festgelegt werden. Die Verordnung (EG) Nr. 852/2004 über Lebensmittelhygiene (23) bietet Möglichkeiten zur flexiblen Anwendung der HACCP-Methode (Gefahrenanalyse und kritische Kontrollpunkte) für Hersteller kleiner Mengen, die in allen EU-Ländern genutzt werden müssen. Dasselbe gilt für die Vorschriften zur Kennzeichnung der Erzeugnisse. Die Ursprungskennzeichnung (z. B. im Restaurant oder in der Gemeinschaftsverpflegung) von verarbeiteten Lebensmitteln kann eine unterstützende Rolle spielen: Wird die Herkunft eines Lebensmittels transparent, ist es wahrscheinlicher, dass der Verbraucher das in der Nähe erzeugte Produkt bzw. Gericht wählt, auch wenn er hierfür etwas mehr bezahlen muss. Die 4G-Versorgung (Telefonie und Internet) des ländlichen Raums ist wichtig, um über die Entwicklung der Digitalisierung den Zugang und den Kontakt zu den Verbrauchern zu erleichtern.

5.2.4.

Eine häufig geäußerte Sorge betrifft die Fähigkeit der Agrarökologie und der lokalen Versorgungsketten, die Weltbevölkerung zu ernähren, die bis 2050 voraussichtlich auf 10 Mrd. Menschen steigen wird. In den Arbeiten zahlreicher Organisationen wird diesbezüglich eine eindeutige Aussage getroffen: Auf internationaler Ebene sind die Entwicklung der Agrarökologie und die Mobilisierung von Ressourcen inner- und außerhalb der Landwirtschaft mit Blick auf die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Erfordernisse unerlässlich und möglich. Die jüngsten Arbeiten des Instituts für nachhaltige Entwicklung und internationale Beziehungen (IDDRI) zeigen, dass es in Europa dank einer fortschreitenden agrarökologischen Wende, die die Tierzucht, die Kulturpflanzen und die Bäume umfasst, möglich sein wird, die gesamte Bevölkerung Europas bis 2050 zu ernähren und ein Null-CO2-Emissionsziel zu verfolgen.

5.3.    Der Weg zur Agrarökologie

5.3.1.

Die EU-weite Einführung des agrarökologischen Vorhabens muss auf einem strukturierten Aktionsplan beruhen und durch verschiedene Hebel des Spektrums öffentlichen und privaten Handelns in zahlreichen Facetten unterstützt werden: Aus- und Weiterbildung, landwirtschaftliche Entwicklung, Neuausrichtung der Beihilfen, Anpassung der Rechtsvorschriften, lokale und regionale Verankerung der Versorgungsketten, genetische Selektion, Überseegebiete und internationales Handeln (24). Daher sollte sich die EU mit den entsprechenden Möglichkeiten für eine Förderung beschäftigen, damit sich die Agrarökologie und die kurzen Versorgungsketten parallel entwickeln und aufeinander abgestimmt werden können, um eine beiderseitige Tragfähigkeit zu garantieren. Dieses Instrument muss ausreichend ehrgeizig sein, damit sich zahlreiche landwirtschaftliche Betriebe langfristig für eine solche Wende engagieren können. Der Zeithorizont ist wichtig, um den Akteuren genügend Zeit zu geben, sich zu engagieren und dann auch den wirklich komplexen systemischen Wandel umfassend vollziehen zu können.

5.3.2.

Den programmatischen Rahmen kann eine seit mehreren Jahren vom EWSA geforderte umfassende Ernährungspolitik liefern, die von einem europäischen Lebensmittelrat gesteuert wird, in dem der EWSA eine Moderatorrolle übernehmen könnte, und die auf Ebene der betroffenen Generaldirektionen von einem Vizepräsidenten der Europäischen Kommission koordiniert wird. Der Vorschlag für eine gemeinsame Lebensmittelpolitik wurde auf der Ebene der Europäischen Union durch IPES-Food umgesetzt (25).

5.3.3.

Die Arbeiten der FAO können als Inspirationsquelle für die Entwicklung der Agrarökologie auf europäischer Ebene dienen. Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Empfehlungen des regionalen Symposiums für nachhaltige Landwirtschaft- und Lebensmittelsysteme in Europa und Zentralasien. In dem 2016 vom Ausschuss für Welternährungssicherheit angenommenen Leitfaden „Connecting smallholders to markets“werden die Staaten aufgefordert, die territorialen (lokalen, regionalen, nationalen) Märkte im Hinblick auf die Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung zu unterstützen.

Brüssel, den 17. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  EWSA-Stellungnahmen „Nachhaltigere Lebensmittelsysteme“(ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 64) und „Beitrag der Zivilgesellschaft zur Ausarbeitung einer umfassenden Ernährungspolitik in der EU“(ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 18).

(2)  Verordnung (EU) Nr. 1305/2013.

(3)  Codron, J.-M., Sirieix, L., Reardon, T., „Social and Environmental Attributes of Food Products: Signaling and Consumer Perception, With European Illustrations“, Agriculture and Human Values, Band 23, Nr. 3, 2006, S. 283-297.

(4)  Siehe Fußnote 1.

(5)  Le Velly, R., „Dynamiques des systèmes alimentaires alternatifs“, Systèmes agroalimentaires en transition, Quae-Verlag, S. 149-158.

(6)  http://www.fao.org/about/meetings/second-international-agroecology-symposium/en/ Anmerkung der Übersetzung: keine deutsche Fassung.

(7)  https://pubs.iied.org/14629IIED/?c=foodag.

(8)  http://www.fao.org/3/i9037en/i9037en.pdf.

(9)  Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates vom 28. Juni 2007 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 2092/91.

(10)  Arbeiten S. Bellon.

(11)  Art. 1, geändert durch das am 13. Oktober 2014 verabschiedete Gesetz über die Zukunft der Landwirtschaft, Code rural et de la pêche maritime.

(12)  EIP Agroecology Europe: http://www.agroecology-europe.org/

(13)  Claveirol, C., „La transition agroécologique: défis et enjeux“, Les avis du CESE, 2016.

(14)  https://rd-agri.fr/

(15)  https://pollen.chlorofil.fr/?s=agroecologie.

(16)  http://www.bergerie-nationale.educagri.fr/fileadmin/webmestre-fichiers/formation/articles_presse/Plan_EPA1-bilan-Fevrier_2019.pdf.

(17)  http://www.cocreate.brussels/-CosyFood-.

(18)  https://ec.europa.eu/eip/agriculture/sites/agri-eip/files/eip-agri_brochure_short_food_supply_chains_2019_en_web.pdf.

(19)  http://www.shortfoodchain.eu/news/

(20)  www.rmt-alimentation-locale.org/

(21)  http://www.civam.org/images/M%C3%A9lanie/AcceCible/PRESENTATION-Accessible.pdf.

(22)  http://rnpat.fr/les-projets-alimentaires-territoriaux-pat/

(23)  Verordnung (EG) Nr. 852/2004.

(24)  Claveirol, C., „La transition agroécologique: défis et enjeux“, Les avis du CESE, 2016.

(25)  IPES-Food, Towards a Common Food Policy for the European Union‚ Brüssel, IPES Food, 2017.


18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/72


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der Beruf des Landwirts angesichts des Rentabilitätsdrucks“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 353/12)

Berichterstatter: Arnold PUECH D’ALISSAC

Beschluss des Plenums

20.2.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

28.6.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

18.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

188/0/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die landwirtschaftlichen Betriebe in der EU stehen in Bezug auf ihre Rentabilität und wirtschaftliche Tragfähigkeit vor einem schwerwiegenden Problem, da das durchschnittliche Einkommen von Landwirten nur 46,5 % des Einkommens in anderen Wirtschaftszweigen beträgt. Ungeachtet der geringen Rentabilität ist die Landwirtschaft der EU als Motor der ländlichen Wirtschaft und als Erzeuger hochwertiger Lebensmittel, die den weltweit höchsten Standards entsprechen, von entscheidender Bedeutung. Ökologische Nachhaltigkeit kann jedoch nicht losgelöst von den gleichermaßen wichtigen wirtschaftlichen, geschäftlichen, ökologischen und sozialen Aspekten der Landwirtschaft erreicht werden.

1.2.

Der Agrarsektor der EU bietet den Verbrauchern Ernährungssicherheit, während die Belastung durch den Klimawandel und die gesellschaftlichen Erwartungen an die ökologische Nachhaltigkeit zunehmen. Darüber hinaus leistet er einen wichtigen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit und Dynamik der EU auf den internationalen Märkten sowie zu ihrem Handelsüberschuss. Zudem stellt die Landwirtschaft mit über 40 Mio. Beschäftigten in der gesamten Union eine der größten Beschäftigungsquellen dar. In einigen Gebieten ist die Landwirtschaft häufig der einzige Wirtschaftszweig, der für Wachstum und Arbeitsplätze sorgt.

1.3.

Die EU benötigt eine gerechte, transparente, gut funktionierende und ausgewogene Lebensmittelversorgungskette, von der sämtliche Landwirte und andere Interessenträger profitieren, einschließlich Verarbeiter, Einzelhändler und vor allem die Verbraucher. Auf einzelstaatlicher Ebene sollte ein Ansatz in Betracht gezogen werden, nach dem Verhandlungen entgegen dem marktüblichen Machtgefälle geführt werden, indem Wertschöpfungsketten geschaffen werden, innerhalb derer Landwirte ein monatliches Einkommen erzielen, dass dem doppelten Mindestlohn entspricht.

1.4.

Der Agrarsektor der EU erbringt positive öffentliche Dienstleistungen und sorgt für externe Effekte, was jedoch keinerlei Anerkennung durch den Markt erfährt. Eines der bereits erreichten Ziele besteht in der Sicherstellung der Ernährungssicherheit bei gleichzeitiger Einhaltung höchster Produktionsstandards. Jedoch stellen sich nunmehr neue Herausforderungen, wie etwa der Klimawandel, ausgeprägtere Preisschwankungen, unlauterer Wettbewerb durch Produktionssysteme mit niedrigeren Standards, unlautere Handelspraktiken, Landflucht sowie die Alterung der landwirtschaftlichen Bevölkerung, wodurch die Landwirte der EU auf dem internationalen Markt in eine schwierige Lage versetzt werden.

1.5.

Neue Technologien zusammen mit inklusiven Forschungs- und Innovationstätigkeiten sind Teil der Lösung, um den Agrarsektor der EU wettbewerbsfähig zu halten und es den Landwirten in der EU zu ermöglichen, eine direkte und wirksame Antwort auf die Frage der Nachhaltigkeit zu finden.

1.6.

Lebenslange allgemeine und berufliche Bildung sowie die lebenslange Entwicklung von Kompetenzen sind erforderlich, damit die Landwirte in der EU das Potenzial der neuen Technologien vollständig nutzen und innovative Lösungen in ihren Betrieben einsetzen können.

1.7.

Angesichts der zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels, wie etwa veränderte Erntezeiten, frühere oder spätere Fröste sowie Brände, Hochwasser und Dürren, haben die Landwirte eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um einen größeren Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels zu leisten. Darüber hinaus sollten Umweltmaßnahmen keine Gefahr für die Lebensmittelsicherheit darstellen. Es muss eine gerechte Vergütung der Landwirte für den zusätzlichen Aufwand geben, den Maßnahmen für mehr Nachhaltigkeit und die Eindämmung des Klimawandels häufig mit sich bringen.

1.8.

Eine starke EU ist bestrebt, neben den Zielen des Vertrags von Lissabon gleichermaßen die globalen Ziele des Klimaschutzübereinkommens von Paris und die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Diese ehrgeizigen Verpflichtungen müssen durch einen soliden Haushalt und effiziente politische Maßnahmen gestützt werden, damit die Zukunft, die Entwicklung und der Wohlstand der Landwirtschaft und der ländlichen Gebiete gesichert werden kann. Sowohl die europäischen Landwirte als auch die landwirtschaftlichen Genossenschaften benötigen für den kommenden Zeitraum einen soliden GAP-Haushalt.

2.   Einleitung

2.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) will in dieser Stellungnahme auf die wichtige Rolle der europäischen Landwirte und auf ihren Beitrag zur Wirtschaft der EU, zur weltweiten Ernährungssicherheit und zur Belebung der ländlichen Gebiete aufmerksam machen. Häufig erfährt dieser Beitrag jedoch nicht die verdiente Anerkennung, wodurch die neue Generation von der Übernahme des landwirtschaftlichen Familienbetriebs abgeschreckt und die Attraktivität des Wirtschaftszweigs für Neueinsteiger verringert wird.

3.   Die Rolle der Landwirte in der EU

3.1.    Beitrag zur Ernährungssicherheit, zur Versorgung mit gesunden und nahrhaften Lebensmitteln und zur Wirtschaft der Union im Allgemeinen

3.1.1.

Angesichts der steigenden Nachfrage nach Lebensmitteln und Biomasse setzen sich die Landwirte in der EU, ihre Genossenschaften und ihre Betriebe für die Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung sicherer und hochwertiger Lebensmittel für alle Bürgerinnen und Bürger der Union sowie der Verbraucher weltweit ein. Trotz der zunehmenden Belastung durch den Klimawandel und hoher gesellschaftlicher Erwartungen an die ökologische Nachhaltigkeit bieten sie den Verbrauchern Ernährungssicherheit. Darüber hinaus leistet der europäische Agrarsektor einen wichtigen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit und Dynamik der EU auf den internationalen Märkten. Laut Eurostat (1) entfielen im Jahr 2017 mit einer Bruttowertschöpfung in Höhe von 188,5 Mrd. EUR insgesamt 1,2 % des BIP der Union auf den Agrarsektor, der im selben Zeitraum durch landwirtschaftliche Exporte im Wert von 137 Mrd. EUR zum Handelsüberschuss der Union beitrug.

3.2.    Beschäftigung in ländlichen und benachteiligten Gebieten

3.2.1.

Bei der Lebensmittelkette der EU handelt es sich um einen ihrer größten Wirtschaftszweige, durch den sowohl Wachstum als auch Arbeitsplätze für rund 40 Mio. Menschen geschaffen werden. Rund 10 Mio. Menschen werden direkt durch und in landwirtschaftlichen Betrieben und Genossenschaften beschäftigt. In einigen Gebieten und Regionen stellt die Landwirtschaft gar die einzige Beschäftigungsmöglichkeit dar.

3.3.    Landwirte als Bewahrer von Kulturlandschaften und Landbewirtschafter

3.3.1.

Die Landwirte, landwirtschaftlichen Betriebe und Genossenschaften in der EU bewirtschaften rund 173 Mio. Hektar Land, was in etwa 39 % der Gesamtfläche der EU entspricht. Landwirte und ihre Familienmitglieder erhalten sowohl ländliche Gebiete als auch die biologische Vielfalt, bieten der Gesellschaft durch ihre gewissenhafte Landnutzung und Landschaftspflege viele Vorteile und tragen im Falle extremer Wetterbedingungen aktiv zur Abmilderung der Auswirkungen von Katastrophen größeren Ausmaßes bei. Viele Landwirte sind auch Waldbesitzer und leisten einen erheblichen Beitrag zur nachhaltigen Waldbewirtschaftung. Darüber hinaus unterstützen Landwirte den Erhalt und die Wiederherstellung von Kulturlandschaften in den ländlichen Gebieten der EU und stellen somit den Erhalt des Kulturerbes sicher und ermöglichen überdies Synergien mit der Tourismusbranche der EU. Allerdings können die bisherigen Bemühungen der Landwirtschaft nicht darüber hinwegtäuschen, dass zur Erreichung der europäischen wie globalen Biodiversitätsziele, inkl. des Bienen-, Insekten- und Vogelschutzes, noch wesentlich mehr Anstrengungen erforderlich sind und Maßnahmen getroffen werden müssen. Dies steht zum Teil im Konflikt mit den Rentabilitätserfordernissen, weshalb die EU einen stärkeren ökologischen Beitrag der Landwirtschaft zwingend honorieren muss, indem sie der GAP mehr Mittel zuweist.

4.   Wandel des Berufsbilds „Landwirt“

4.1.    Steigende gesellschaftliche Erwartungen an gesunde Ernährung, die Herkunft und Qualität von Lebensmitteln, Auswirkungen auf den Umweltschutz und das Wohlbefinden der Tiere

4.1.1.

Verbrauchern steht eine Vielzahl von Informationen über die täglich von ihnen konsumierten Lebensmittel zur Verfügung. Zudem achten sie stärker auf Herkunft, Qualität und Umweltauswirkungen dieser Lebensmittel. Darüber hinaus wird die Wahl der Verbraucher von der Einhaltung von Tierschutznormen und der Entfernung des Erzeugungsorts der Lebensmittel, einschl. kürzerer Lebensmittelversorgungsketten, bestimmt.

4.1.2.

Um den Erwartungen der Verbraucher gerecht zu werden, haben die Landwirte in der EU mit der Umsetzung von Maßnahmen zur weiteren Verbesserung des Tierschutzes und zur Verringerung negativer Auswirkungen landwirtschaftlicher Tätigkeiten auf die Umwelt und die Bodenqualität unter Beibehaltung einer hohen Produktqualität begonnen. Mit Unterstützung der Behörden und der Wissenschaft investieren die Landwirte in der EU sowohl Energie als auch Ressourcen, um diesem neuen Verbraucherverhalten Rechnung zu tragen.

4.2.    Die Bedeutung von Technik und Innovation in der Landwirtschaft

4.2.1.

Der Agrarsektor der EU befindet sich mit zahlreichen Durchbrüchen — etwa in den Bereichen Genetik, automatischer Fahrzeuge, Roboter, Drohnen, Satellitenbildgebung, Fernerkundung und Massendaten — an der Spitze der technischen und digitalen Revolution. Darüber hinaus übernehmen, entwickeln und nutzen Landwirte seit jeher neue Geschäftsmodelle und Anbaumethoden für landwirtschaftliche Betriebe, einschließlich neuer Techniken und Erzeugungsmethoden, wodurch die Erträge gesteigert und landwirtschaftliche Verfahren besser den veränderten Gegebenheiten angepasst werden können.

4.2.2.

In dieser Hinsicht helfen neue Technologien den Landwirten in der EU, die Ernährungssicherheit zu gewährleisten, während gleichzeitig die weltweit höchsten Standards eingehalten und die Erwartungen der Verbraucher erfüllt werden. In diesem Sinne ermöglichen neue Technologien den Landwirten in der EU eine aktive und wirksame Auseinandersetzung mit der Problematik des Umweltschutzes. Beispielsweise ist die Einschränkung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln nunmehr durch einen Mix von Technologien erreichbar, die den Landwirten in jedem Aspekt der Produktion helfen. Die besten Effekte bei der Einschränkung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln und der verbesserten Widerstandsfähigkeit von Pflanzen und Tieren gegenüber Schädlingen, Pilzen und externen Krankheitserregern haben unter anderem neue Zuchttechniken gezeigt.

4.2.3.

Technologien spielen jedoch nicht nur in Verbindung mit der eigentlichen Erzeugung eine Rolle, sondern auch für sämtliche in den Bereichen Rückverfolgbarkeit, Lebensmittelsicherheit, Tierschutz und Klimaschutz ergriffenen Maßnahmen, die die Landwirtschaft der EU auch weiterhin zum weltweit fortschrittlichsten und sichersten Agrarsektor machen.

4.2.4.

Der Zugang zu Finanzmitteln ist für die Landwirte in der EU von entscheidender Bedeutung, um innovative technische Lösungen in ihrem Betrieb umsetzen zu können. Diesbezüglich sollte die durch die zweite Säule der GAP garantierte Subsidiarität auch unter der neuen GAP fortgeführt und gefördert werden. Es gilt zu beachten, dass die Landwirte in der EU nur dann in der Lage sind, die neuesten technischen Entwicklungen in ihren Betrieben umzusetzen, wenn sie einfachen Zugang zu Krediten haben.

5.   Herausforderungen

5.1.    Klimawandel

5.1.1.

Die Landwirte in der EU leisten einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels, der sie zunehmend in Mitleidenschaft zieht, etwa in Form veränderter Erntezeiten, früher oder später Fröste sowie in Form von Bränden, Hochwasser und Dürren. Wirksame Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel sind deshalb für die langfristige wirtschaftliche Lebensfähigkeit landwirtschaftlicher Betriebe von entscheidender Bedeutung. Gleichzeitig reduzieren die Landwirte mit nachhaltigen Bewirtschaftungsverfahren die Emissionen sowohl inner- als auch außerbetrieblich, etwa durch die Anwendung neuer Technologien und den effizienteren Einsatz von Anbaukulturen, Stroh, Dung und anderen Abfallprodukten als erneuerbare Energiequellen sowie durch Solarwärme und durch Elektrizität aus Windkraft und anderen Quellen. Aus Nutzpflanzen gewonnene Produkte und tierische Abfallprodukte können entsprechend den Grundsätzen der Kreislaufwirtschaft für die betriebsinterne Herstellung von Biokraftstoffen und erneuerbaren Industriewerkstoffen verwendet werden. Damit werden die Emissionen anderer Wirtschaftszweige gesenkt und die Abhängigkeit der EU von fossilen Brennstoffen verringert.

5.1.2.

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass sowohl das Klimaschutzübereinkommen von Paris als auch die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung bedeutende Zielvorgaben für den Agrarsektor der EU enthalten, die zwischen 2030 und 2050 zu erfüllen sind. Die europäischen Landwirte sind bereit, diese Herausforderungen zu meistern, wenn sie mit den richtigen Werkzeugen ausgestattet werden. Der entsprechende „Werkzeugkoffer“ muss positive und benutzerfreundliche politische Rahmenbedingungen, neue Technologien, Wasserbewirtschaftungsstrategien (d. h. Speicherung und Bewässerung) und einen soliden GAP-Haushalt für den zusätzlichen Aufwand der Landwirte umfassen. Wird den Landwirten eines der vorgenannten Werkzeuge vorenthalten, würde dies die Ernährungssicherheit gefährden und die Qualität der Lebensmittelerzeugung der EU beeinträchtigen.

5.2.    Einkommen in der Landwirtschaft

5.2.1.

Das als Index angegebene landwirtschaftliche Einkommen (2) je Jahresarbeitseinheit in den EU-28 ist im Jahr 2017 gegenüber 2016 um 10,9 % angestiegen. Dies ist jedoch in Relation zu anderen Wirtschaftszweigen zu sehen, in denen das Durchschnittseinkommen wesentlich höher ist. Im Vergleich zu den Durchschnittslöhnen in der Wirtschaft betrug der landwirtschaftliche Unternehmensgewinn je Familienarbeitseinheit im Jahr 2017 lediglich 46,5 %.

5.2.2.

Diese Situation wirkt sich erheblich auf die Entwicklung der allgemeinen Attraktivität des Sektors für externe Akteure, Investoren und Banken aus, wodurch wiederum die Schaffung von Synergien mit anderen Wirtschaftszweigen verhindert und das Problem des Generationswechsels in ländlichen Gebieten weiter verstärkt wird.

5.3.    Preisschwankungen und Entstehung neuer Märkte

5.3.1.

Die realen (deflationierten) Preise für die meisten Haupterzeugnisse stiegen 2017 im Vergleich zum Vorjahr an: Der durchschnittliche Milchpreis stieg im Vergleich zu 2016 sprunghaft um 17,1 % an, der Preis von Schweinen stieg um 8,3 %, der Getreidepreis erhöhte sich um 3,0 %, der Preis von Rindern um 2,2 % und der Preis von Geflügel um 1,0 %. Im Gegensatz dazu setzte sich der Verfall des Preises von Schafen und Ziegen im Jahr 2017 (- 1,4 %) weiter fort. Die positive Preisentwicklung der meisten Agrargüter ist eine Folge des Aufschwungs von 2003. Im Jahr 2008 trat jedoch ein starker Preisverfall ein, der Preisschwankungen auf den internationalen Märkten zur Folge hatte, die sowohl kleine und mittelgroße Landwirtschaftsbetriebe in der EU als auch die Investoren vor große Schwierigkeiten stellte, die erst kurz zuvor in die Landwirtschaft investiert hatten.

5.3.2.

Aufgrund seiner Heterogenität reagierte der Agrarsektor der EU jedoch uneinheitlich auf den Preisschock von 2008: Viele kleine und mittelständische Landwirte konnten ihren Betrieb ausschließlich dank der Direktzahlungen im Rahmen der GAP fortführen; diese Mittel reichten jedoch nicht aus, um die wirtschaftliche Nachhaltigkeit dieser Betriebe sicherzustellen.

Die Haupthandelspartner bezüglich der landwirtschaftlichen Exporte der EU sind die USA (16 % der landwirtschaftlichen Gesamtexporte im Wert von netto 33,3 Mrd. EUR im Jahr 2017). Aufgrund dieser Konzentration der Exporte auf einen einzelnen Markt ist der Agrarsektor der EU von politischen Entscheidungen Dritter abhängig, die zu erheblichen Preisschwankungen führen können (d. h. Exportverbote oder hohe Zölle).

Beim Binnenmarkt der EU handelt es sich um den am weitesten geöffneten und zugänglichsten Markt der Welt, was die EU-Landwirte jedoch mit importierten Agrargütern in Wettbewerb stellt, die anderen Produktionsstandards entsprechen. Bei der Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln aus Drittländern besteht jedoch weiterhin Verbesserungsbedarf, was zu einer Reihe kontroverser Diskussionen über die Qualität und Kennzeichnung von importierten Lebensmitteln führen kann (d. h. mittels neuer Zuchttechniken entwickelte Lebensmittel, der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, die Einhaltung von Tierschutznormen usw.). Aufgrund ihrer unterschiedlichen Produktionsstandards sind diese importierten Erzeugnisse auf dem Binnenmarkt äußerst wettbewerbsfähig, wodurch die Landwirte in der EU weiter unter Druck geraten, da sie sich an die weltweit höchsten Produktionsstandards halten.

5.4.    Entvölkerung ländlicher Gebiete und Generationswechsel

5.4.1.

Nach Angaben der Europäischen Kommission sind sieben von zehn (71,5 %) Betriebsleitern der insgesamt 10,5 Mio. landwirtschaftlichen Betriebe in der EU männlich und die Mehrzahl (57,9 %) von ihnen ist 55 Jahre oder älter. Nur einer von zehn Landwirten (10,6 %) ist jünger als 40 Jahre, und dieser Anteil fällt unter den weiblichen Landwirten noch geringer aus (8,6 %).

5.4.2.

Landwirte, Waldeigentümer, landwirtschaftliche Betriebe und landwirtschaftliche Genossenschaften stellen das wirtschaftliche Rückgrat der ländlichen Gebiete der EU dar. Die Überalterung unter den Landwirten führt zu einer allgemeinen Abwanderung der Bevölkerung aus den ländlichen Gebieten (die sogenannte „ländliche Diaspora“) mit direkten Auswirkungen auf das wirtschaftliche und soziale Gefüge dieser Gebiete. Zudem werden neue Generationen aufgrund der geringen Rentabilität der landwirtschaftlichen Tätigkeit und des erschwerten Zugangs zum Land von der Übernahme des Familienbetriebs abgeschreckt.

6.   Die Chancen

6.1.    Digitalisierung und Präzisionslandwirtschaft

6.1.1.

Die Landwirtschaft befindet sich nunmehr im Zeitalter der digitalen Verbesserungen, in dem jedes Gerät, das im Verlauf der verschiedenen landwirtschaftlichen Produktionsschritte Daten erzeugt, in der Lage ist, diese Daten zu Erhebungs-, Verarbeitungs- und Analysezwecken weiterzuleiten. Der Einsatz von Massendaten könnte Landwirte beim Übergang in die Zukunft der Landwirtschaft und somit bei der Verwirklichung ehrgeiziger Ziele unterstützen.

6.1.2.

Landwirtschaftliche Betriebe erzeugen eine Vielzahl unterschiedlicher Daten, die in verschiedene Kategorien einteilbar sind, wie etwa agrarwirtschaftliche Daten, Finanzdaten, Compliance-Daten, Umweltdaten, Maschinendaten, Personaldaten usw. Diese Datensätze stammen wiederum aus einem breiten Spektrum immer leistungsfähigerer und kosteneffizienter Quellen, wie etwa Maschinen, Drohnen, GPS-Geräten, Fernsensoren, Satelliten, Smartphones, und werden zudem von Dienstleistern, Beratungsgremien, Behörden usw. ergänzt. Darüber hinaus erheben weitere Partner entlang der Wertschöpfungskette, z. B. Verarbeitungsunternehmen und Einzelhändler, Supermärkte und Verbrauchergroßmärkte sowie die Werbeagenturen enorme Datenmengen über die Märkte, in denen Landwirte ihre Erzeugnisse verkaufen.

6.1.3.

Die Erhebung und Verwendung von Daten in der Landwirtschaft ist jedoch keinesfalls ein neuartiges Konzept; vielmehr ist dies seit Beginn der Landwirtschaft gängige Praxis. Neu ist jedoch die Möglichkeit, angesichts der Größe und des Umfangs dieser Daten, die darüber hinaus exponentiell zunehmen, einen datenorientierten Agrarsektor zu entwickeln. Eine weitere Neuerung betrifft die auf Betriebsebene verfügbaren Echtzeitinformationen und die für die Erhebung, Speicherung, Verwendung, Verwaltung, Verarbeitung, Kommunikation und das Teilen von Daten verwendete Technologie.

6.1.4.

Das Eigentum an den Daten und das Recht auf Festlegung des Zugangs und der Verwendung der Daten ist unerlässlich für die weitere Beteiligung der Landwirte an der Umsetzung neuer Technologien. Gegenwärtig besteht jedoch kein gemeinsamer Rahmen für eine eindeutige Klärung des Eigentums an Daten. Aus diesem Grund hat sich der Agrarsektor der EU auf einen Verhaltenskodex über das Teilen landwirtschaftlicher Daten auf vertraglicher Grundlage (3) verständigt, in dem das Recht des Datengenerierers auf Entschädigung für die Verwendung der im Rahmen seiner Tätigkeit erzeugten Daten festgelegt ist.

6.1.5.

Digitalisierung und Präzisionslandwirtschaft spielen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Zukunft des Agrarsektors der EU. Darüber hinaus wirken sie sich auf den Arbeitsmarkt und die in der Landwirtschaft erforderlichen Kompetenzen aus und definieren die Rolle der Landwirte und die Geschäftsmodelle landwirtschaftlicher Genossenschaften neu.

6.2.    Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und zur Anpassung an den Klimawandel

6.2.1.

Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat der Agrarsektor der EU eine Vielzahl verschiedener Maßnahmen zur Verbesserung seiner ökologischen Nachhaltigkeit ergriffen. Die GAP sieht strenge und anspruchsvolle Umweltmaßnahmen sowie nachhaltige Bewirtschaftungsmethoden vor, durch die die Arbeit der Landwirte auf den Feldern verändert und Qualität wirksam mit Nachhaltigkeit verknüpft wird.

6.2.2.

Land- und Forstwirtschaft spielen bei der Eindämmung des Klimawandels eine besondere Rolle, da sie zusammen den einzigen Wirtschaftszweig darstellen, in dem der Treibhausgasgehalt in der Atmosphäre durch Photosynthese verringert wird. Dieser Erfolg des Sektors ist noch immer nicht richtig anerkannt, berechnet bzw. ausgewiesen, und eine bessere Beurteilung des Beitrags von Wäldern sowie von Dauerkulturen und einjährigen Kulturen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen sollte auch weiterhin von der Politik in Betracht gezogen werden.

6.2.3.

Die Landwirte würden es begrüßen, wenn ihre Bemühungen im Kampf gegen den Klimawandel von Gesellschaft und Politik anerkannt würden. Insbesondere die Politik muss sich dessen bewusst sein, dass Umweltmaßnahmen die Lebensmittelsicherheit nicht gefährden sollten und dass Landwirte eine gerechte Vergütung für ihren zusätzlichen Aufwand benötigen, den Maßnahmen zur Steigerung der Nachhaltigkeit und zur Eindämmung des Klimawandels häufig mit sich bringen.

6.3.    Mehr Markttransparenz entlang der gesamten Lebensmittelversorgungskette

6.3.1.

Laut dem im März 2017 veröffentlichten Informationsblatt der Kommission beträgt der Anteil an der Wertschöpfung in der Lebensmittelversorgungskette für Landwirte 25 %, für die Lebensmittelverarbeitung 25 % sowie 50 % für den Lebensmitteleinzelhandel und Gastronomiedienstleistungen.

6.3.2.

Die Richtlinie über unlautere Handelspraktiken sollte heute strikt eingehalten werden. Unter den Unternehmen in der Agrar- und Lebensmittelversorgungskette gibt es fortlaufend erhebliche Ungleichgewichte in Bezug auf die Verhandlungsmacht von Landwirten und Verarbeitern von Agrar- und Lebensmittelerzeugnissen. Zu diesen Ungleichgewichten tragen auch die großen Handelsverbände erheblich bei (Supermärkte, Verbrauchergroßmärkte, große Nahrungsmittel- und Verarbeitungskammern, die in ganz Europa tätig sind).

6.3.3.

Die Lebensmittelverarbeitung und der Einzelhandel konnten ihren Anteil an der Wertschöpfung in der Lebensmittelversorgungskette aufgrund der gestiegenen Nachfrage der Verbraucher nach Convenience-Produkten ausbauen. Gleichzeitig ist die Wertschöpfung in der Landwirtschaft seit 2014 rückläufig (- 4 % im Jahr 2016). Dies ist den gestiegenen Betriebsmittelkosten geschuldet, die aufgrund des Wettbewerbs um knappe Ressourcen und der begrenzten Möglichkeiten für Landwirte zur Schaffung eines Mehrwerts am Ausgangsprodukt oder einer angemessenen Vergütung hierfür anfallen.

6.3.4.

Darüber hinaus stellt Oxfam in seiner jüngsten Studie „Ripe for Change“ (2018) die Ungleichheiten in der Lebensmittelversorgungskette heraus, unter anderem anhand von Beispielen aus dem Vereinigten Königreich, den Niederlanden und Deutschland. Eine eingehende Betrachtung der Untergliederung des Endverbraucherpreises im Vereinigten Königreich zeigt, dass im Jahr 2015 mehr als die Hälfte dieses Preises (52,8 %) auf Supermärkte, 38,5 % auf Händler und Lebensmittelhersteller und lediglich 5,7 % auf Kleinerzeuger und Arbeitnehmer entfielen. Die letzten 3 % des Preises entfielen auf die Betriebsmittelkosten.

6.3.5.

Angesichts des hohen Konzentrationsniveaus des Einzelhandels und der grundlegenden Bedeutung der Wahrung eines gut funktionierenden Binnenmarkts stellen die EU-Rahmenvorschriften, die ein Verbot unlauterer Handelspraktiken sowie Kontroll- und Durchsetzungsmechanismen in Verbindung mit abschreckenden Sanktionsregelungen einschließen, unter diesen Umständen einen geeigneten Ausgangspunkt dar. Die Fortführung dieser Bemühungen für mehr Markttransparenz ist von wesentlicher Bedeutung, damit die Landwirte einen gerechten Anteil an der Wertschöpfung erhalten. Darüber hinaus wird im Juli 2020 die Verordnung über die Entsendung von Arbeitnehmern mit dem Ziel umgesetzt, transparente und gerechte Geschäfte zwischen Landwirten auf einzelstaatlicher Ebene zu gewährleisten.

6.3.6.

Auf einzelstaatlicher Ebene sollte ein Ansatz in Betracht gezogen werden, nach dem Verhandlungen entgegen dem marktüblichen Machtgefälle geführt werden, indem Wertschöpfungsketten geschaffen werden, innerhalb derer Landwirte ein monatliches Einkommen erzielen, dass dem doppelten Mindestlohn entspricht.

7.   Lösungen

7.1.

Das von den europäischen Verbrauchern so geschätzte System der landwirtschaftlichen Familienbetriebe bedarf einer guten Politik sowie einer fairen und vernünftigen Regulierung in Kombination mit strengen und wirksamen Rechtsvorschriften, die dazu beitragen, die ernsthafte Bedrohung durch extreme Preisschwankungen und das stetig wachsende Kräfteungleichgewicht in der Lieferkette zu verringern. Die Task Force „Agrarmärkte“ ist ein Schritt in diese Richtung, muss allerdings noch weiter gestärkt werden.

7.2.    Anpassung der FuI an die Bedürfnisse von Landwirten, Einbeziehung unterschiedlicher Akteure und direkte Beteiligung der Interessenträger

7.2.1.

Die Beteiligung der Interessenträger ist für die Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Praxis von grundlegender Bedeutung. Die Interessen der Landwirte in den Mittelpunkt des Innovationsprozesses zu stellen wird nicht nur dessen Wirkung erheblich beschleunigen, sondern auch die Durchführbarkeit der Forschungs- und Innovationsergebnisse gewährleisten. Zudem wird hierdurch eine bessere Nutzung der für die Forschung gewährten Fördermittel sichergestellt.

7.2.2.

Landwirte, landwirtschaftliche Betriebe, Waldeigentümer und ihre Genossenschaften können, auch mit Hilfe von Regierungsprogrammen, Innovation und Wirtschaftswachstum vorantreiben. Deshalb sollte ihre Teilnahme an Forschungs- und Innovationstätigkeiten in den Bereichen Landwirtschaft, Lebensmittel, Forstwirtschaft und Aquakultur von Beginn an gefördert und angeregt werden. Durch ihre Beteiligung in allen Phasen der Vorhaben wird sichergestellt, dass sich Forschung und Innovation stärker an der Nachfrage orientieren, die gegenwärtige Lücke zwischen Wissenschaft und Praxis geschlossen wird und so praktikable Lösungen entwickelt werden. Schlussendlich sollte somit die Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirte und Erzeuger gefördert werden.

7.3.    Leistungsfähigkeit und Qualität (ökologische/biologische Erzeugnisse, geografische Angaben, Marken und kurze Lebensmittelversorgungsketten)

7.3.1.

Erzeugnisse mit hohem Mehrwert, wie etwa solche mit geografischen Angaben oder aber Bio-Erzeugnisse, stellen für viele Wirtschaftsteilnehmer eine wichtige Einkommensquelle dar, insbesondere für Landwirte. Diese spezifischen Lebensmittelketten sind umso interessanter, wenn sie ohne Zwischenhändler oder Vermittler auskommen. In diesem Fall stellen kurze Lebensmittelketten eine rentable Einkommensquelle für Landwirte und die ländlichen Gemeinschaften dar, in der diese Erzeugnisse hergestellt werden.

7.3.2.

Eingehend betrachtet stellen die kurzen Versorgungsketten der EU eine Alternative zu den konventionellen langen Lebensmittelketten dar, in denen Landwirte und Genossenschaften häufig nur wenig Verhandlungsmacht besitzen und die Verbraucher die Lebensmittel nicht zu einem bekannten Erzeuger oder einer nahen Region zurückverfolgen können. Ein solches Lebensmittelsystem ist von erheblichem Interesse, da es einer Reihe von Bedürfnissen und Chancen Rechnung trägt, was sowohl Landwirten als auch Verbrauchern zugutekommt. Die Entwicklung verschiedener Arten kurzer Lebensmittelversorgungsketten (d. h. Direktvermarktung durch Einzelpersonen oder Erzeugergemeinschaften, Partnerschaften, solidarische Landwirtschaft) ist einer der durch die Gemeinsame Agrarpolitik verfolgten Ansätze zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in Europa. Kurze Lebensmittelversorgungsketten können entlang der gesamten Lebensmittelkette als Motor des Wandels und als Modell für mehr Transparenz, Vertrauen, Gerechtigkeit und Wachstum dienen.

7.3.3.

Eine ausreichende Menge an Lebensmitteln sichert den Unionsbürgern eine gewisse soziale Stabilität in ihrem Leben, zumal mit Blick auf den Teil unseres Planeten, in dem die Lebensmittel knapp sind, was auch als eine der Ursachen von Wirtschaftsmigration nach Europa oder in andere Länder zu sehen ist.

7.4.    Bildung und Entwicklung neuer Kompetenzen für den Primärsektor (verkürzt)

7.4.1.

Nach Angaben von Eurostat verfügte im Jahr 2016 ein Großteil der landwirtschaftlichen Betriebsleiter in der EU, nämlich sieben von zehn (68,3 %), lediglich über praktische landwirtschaftliche Erfahrung. Weniger als jeder Zehnte (9,1 %) hatte eine abgeschlossene landwirtschaftliche Berufsausbildung, während die übrigen Landwirte (22,6 %) lediglich über eine landwirtschaftliche Grundausbildung verfügten.

7.4.2.

Im Primärsektor kommt der Bildung für die Förderung der Modernisierung und den stärkeren Einsatz neuer Technologien eine grundlegende Bedeutung zu.

7.4.3.

Dies ist umso bedeutender in der heutigen Zeit, in der digitale Kompetenzen einen wesentlichen Bestandteil der modernen Betriebsführung darstellen. Derartige Kompetenzen sind in vielen Bereichen erforderlich, und die Landwirtschaft bildet hier keine Ausnahme. Dort steigt der Bedarf an Menschen mit IKT- und digitalen Kompetenzen, während es innerhalb der Wirtschaft und insbesondere in ländlichen Gebieten ein deutliches Kompetenzdefizit gibt.

7.4.4.

Damit die landwirtschaftliche Bevölkerung die Chancen des technologischen und digitalen Wandels vollumfänglich nutzen kann, müssen die digitalen Kompetenzen der Arbeitskräfte ausgebaut werden.

7.4.5.

Dies kann auf Ebene der einzelnen Betriebe oder der Verbände und Genossenschaften sowie im Rahmen des europäischen Systems der allgemeinen und beruflichen Bildung durch Programme für lebenslanges Erlernen digitaler Kompetenzen erfolgen.

Brüssel, den 18. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Eurostat, Agriculture, forestry and fishery statistics 2018.

(2)  Eurostat, Agriculture, forestry and fishery statistics 2018.

(3)  COPA-COGECA — EU Code of conduct on agricultural data sharing by contractual agreement.


18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/79


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Verkehr, Energie und Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und ihr durch die Digitalisierung ermöglichter Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung in Europa“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 353/13)

Berichterstatter: Alberto MAZZOLA

Mitberichterstatterin: Evangelia KEKELEKI

Beschluss des Plenums

24.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

3.7.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

183/13/19

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) erachtet tragfähige europäische Systeme für Verkehr, Energie und Dienstleistungen von allgemeinem Interesse als wesentliche Voraussetzung für einen vollständig integrierten Kontinent, der den globalen Herausforderungen eines nachhaltigen wettbewerbsfähigen Wachstums in einer modernen, digitalisierten und intelligenten Umgebung gewachsen und in der Lage ist, dem Anspruch der UN-Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG) in Bezug auf Wirtschaftswachstum, Wohlstand, Beschäftigung, Armut, Ungleichheit, Klimawandel, Frieden und Gerechtigkeit zu genügen. Die aktive Mitwirkung und Teilhabe der EU-Bürgerinnen und -Bürger — als Unternehmer, Produzenten, Arbeitnehmer, Verbraucher, Prosumer, Investoren und Endnutzer — müssen nach Meinung des EWSA im Mittelpunkt der politischen Optionen und strategischen Maßnahmen stehen.

1.2.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass die Vollendung des Binnenmarkts nach wie vor die entscheidende Voraussetzung für die Förderung des europäischen digitalen Wachstums ist. Er fordert die Europäische Kommission auf, die korrekte Anwendung der angenommenen Rechtsvorschriften für Unternehmen und Verbraucher durchzusetzen und zu überprüfen und dringend das Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes zu überarbeiten und eine Strategie für die Vollendung des Binnenmarkts bis 2025 aufzustellen, die auf stärkere Unternehmen, einen breiteren Arbeits- und Verbraucherschutz sowie neue umfassend vernetzte und interoperable intelligente Verkehrs- und Energiesysteme und Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in Europa ausgerichtet ist.

1.3.

Der EWSA empfiehlt die Entwicklung eines Regelungsumfelds, das Wettbewerb, Innovation und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wie auch der Unternehmen fördert, sowie die Sensibilisierung für die Vorteile der Nutzung der Digitaltechnik in den Bereichen Verkehr, Energie und Dienstleistungen von allgemeinem Interesse für die Bürger, Verbraucher, Unternehmen und Arbeitnehmer, die zu einer einzigen „digitalen Person“ verschmelzen. Der EWSA regt an, den Begriff „Eigentum an Daten“ zu vermeiden und lieber eine Definition der „Rechte an Daten“ von natürlichen und juristischen Personen festzulegen. Die Verbraucher sollten die Kontrolle über die von vernetzten Geräten generierten Daten haben, um den Schutz der Privatsphäre zu gewährleisten.

1.4.

Der freie Datenfluss ist von wesentlicher Bedeutung. Der EWSA fordert daher wirksame Lösungen, durch die die Probleme in Verbindung mit der Zugänglichkeit, Interoperabilität und Übertragung von Daten beseitigt und ausreichender Datenschutz und Schutz der Privatsphäre sowie ein fairer Wettbewerb und eine größere Auswahl für die Verbraucher sichergestellt werden. Für öffentliche und private Unternehmen müssen die gleichen Bedingungen hinsichtlich der Gegenseitigkeit des Datenaustauschs und der Kosten für die Bereitstellung von Daten gelten.

1.5.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten auf, genügend Mittel bereitzustellen und ausreichende Befugnisse zu gewähren, um die bestehenden Rechtsvorschriften wirksam zu überwachen und durchzusetzen. Er appelliert ferner an die Mitgliedstaaten, rasch den Vorschlag der Europäischen Kommission für die Einführung kollektiver Rechtsschutzverfahren anzunehmen. Es ist sicherzustellen, dass nur gut begründete Fälle weiterverfolgt und überflüssige Rechtsstreitigkeiten vermieden werden.

1.6.

Der EWSA hat eine eindeutige Haltung zu der Frage, inwieweit es ethisch vertretbar ist, die Verantwortung für Entscheidungen auf KI-gestützte Systeme zu übertragen. Alle automatisierten Systeme — wie komplex sie auch immer sein mögen — müssen im Rahmen eines menschenkontrollierten Ansatzes betrieben werden.

1.7.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, Leitlinien und Erläuterungen zur Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zu veröffentlichen, um eine einheitliche Umsetzung und ein hohes Daten- und Verbraucherschutzniveau sicherzustellen, auch bei der Anwendung auf vernetzte und automatisierte Fahrzeuge. Auch sollte sie die Produkthaftungs- und Versicherungsvorschriften überarbeiten, um der zunehmenden Entscheidungsfindung über Software Rechnung zu tragen. Cybersicherheit ist eine entscheidende Voraussetzung für einen sicheren, von Akzeptanz getragenen Wandel.

1.8.

Der EWSA appelliert nachdrücklich an die Europäische Kommission, einen geeigneten Rahmen aufzustellen, um im Einklang mit der Datenschutz-Grundverordnung, d. h. unter strikter Wahrung der Privatsphäre und der Anonymität, den Austausch von Gesundheitsdaten der EU-Bürgerinnen und -Bürger zwischen den digitalen nationalen Gesundheitssystemen für Forschungs- und Innovationszwecke von Einrichtungen und Unternehmen in der EU zu ermöglichen.

1.9.

Da mit 5G der Schritt von der Mobilfunk- und Internettechnologie zur Universaltechnologie vollzogen wird, die den „Prozess einer industriellen Mutation […], der unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört, unaufhörlich eine neue schafft“ antreibt, drängt der EWSA die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten, den digitalen Binnenmarkt zu vollenden und so u. a. Möglichkeiten zur Integration und Nutzung von 5G-Diensten zu entwickeln, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie, beispielsweise der Verkehrs- und Automobil-, Energie-, Chemie- und Pharma-, Fertigungs- (einschl. KMU-) sowie Finanzbranche, in denen Europa weltweit führend ist, zu wahren und zu steigern.

1.10.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, den Ausbau und die tatsächliche Nutzung von 5G genau zu überwachen, und ruft die Mitgliedstaaten auf, den Ausbau voranzutreiben. Er schlägt vor, in Europa vorzuschreiben, dass es in jedem Mitgliedstaat mindestens zwei Infrastrukturanbieter geben muss, von denen mindestens einer europäisch ist.

1.11.

Zudem fordert der EWSA die Kommission auf, eine Studie über die biologische Wirkung der 5G-Strahlung zu veranlassen, um die möglichen Gefahren der elektromagnetischen Strahlung für die menschliche Gesundheit und die Umwelt bewerten zu können.

1.12.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Digitalisierung der europäischen Energie- und Verkehrssysteme auf allen Ebenen neue Fachkompetenzen für die Beschäftigten erfordert und ferner eine engere Abstimmung zwischen Bildungs- und Berufsbildungsanbietern und der Industrie notwendig ist, um Mechanismen für eine breit angelegte Förderung digitaler Kompetenzen sowie einer einschlägigen kontinuierlichen Aus- und Weiterbildung und lebenslangen Lernens voranzutreiben. Hierzu muss der Europäische Sozialfonds einen Beitrag leisten. Durch Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen muss auch dafür gesorgt werden, dass Bürgern und Verbrauchern nicht mangels Zugang zu den elektronischen Kommunikationsnetzen oder wegen digitalen Analphabetismus der Zugang zum digitalen Markt verwehrt bleibt. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Cyber-Hygiene u. a. durch Aufklärungsarbeit bei Bürgern und Unternehmen verbessert werden muss (1).

1.13.

Im Hinblick auf die Umstellung auf emissionsfreie und emissionsarme Mobilität befürwortet der EWSA einen technologieneutralen, integrierten Systemansatz, emissionsfreie und emissionsarme Fahrzeuge und Infrastruktur, eine schrittweise langfristige Umstellung auf alternative, CO2-neutrale Kraftstoffe sowie Effizienzsteigerungen, wie z. B. dank des Einheitlichen Europäischen Luftraums, durch eine optimale Nutzung von Digitaltechnik, wie etwa beim Europäischen Eisenbahnverkehrsleitsystem (ERTMS), und intelligente Preisgestaltung, die weitere Förderung multimodaler Integration, den Umstieg auf nachhaltigere Verkehrsträger und nicht zuletzt mündige Bürger, die sich dank stetig besserer Konnektivität für Mobilität als Dienstleistung (MaaS) entscheiden.

1.14.

Emissionssenkungen im Energiesektor sollten nach Meinung des EWSA durch folgende Maßnahmen gelenkt werden:

Einführung wichtiger neuer Technologien für eine klimaneutrale und energieeffiziente Kreislaufwirtschaft;

Schwerpunkt auf intelligenten Netzen für eine integrierte und optimierte Nutzung verschiedener erneuerbarer Energieträger;

umweltgerechte Technologien bei der Erzeugung, Speicherung, Übertragung, Verteilung und beim Verbrauch von Energie, Laststeuerung, Energieeffizienz, Gebäudesanierung und Mikroerzeugung;

eine spezifische Strategie für energieintensive Industriezweige und Regionen;

ein stabileres Emissionshandelssystem;

wirksamere Instrumente für die Gewährleistung der Sicherheit und Cybersicherheit von Strukturen und Netzen.

1.15.

Der EWSA weist darauf hin, dass

die flächendeckend vernetzten Infrastrukturen der europäischen Energie-, Verkehrs- und Kommunikationsnetze sind die zentralen Knotenpunkte des Binnenmarkts. Sie sind eine Voraussetzung dafür, dass die EU weiterhin bei Fortschritt und Wettbewerb weltweit führend bleibt;

die vorrangige Fertigstellung des TEN-V-Netzes allein für die Fertigstellung des Kernnetzes bis 2030 Investitionen in Höhe von 500 Mrd. EUR erfordert;

die Mobilfunkanbieter in den nächsten fünf Jahren in Europa schätzungsweise 60-100 Mrd. EUR jährlich in 5G investieren müssen und für den Netzausbau in ländlichen Gebieten weitere Investitionen in Höhe von 127 Mrd. EUR notwendig sind;

die Umstellung auf eine klimaneutrale Wirtschaft zusätzliche Investitionen in Höhe von 175-290 Mrd. EUR jährlich erfordern wird. Für den Energiesektor werden insgesamt 520-575 Mrd. EUR veranschlagt, für den Verkehrssektor 850-900 Mrd. EUR.

1.16.

Zur Finanzierung dieses enormen Investitionsbedarfs in Höhe von 9-10 % des EU-BIP über die Mobilisierung überwiegend privater und weitgehend zusätzlicher Mittel empfiehlt der EWSA die Förderung eines investitionsfreundlichen Umfelds, einschließlich der Anwendung der „goldenen Investitionsregel“ und neuer Finanzierungskonzepte im Wege der Kohäsionsinstrumente, der EIB, der Fazilität „Connecting Europe“, der Programme InvestEU und Horizont Europa sowie gemeinsamer öffentlicher und privater Initiativen. Der EWSA hofft, dass die öffentlichen und privaten Investoren diese Investitionen tragen können, und empfiehlt in diesem Sinn, die Verwaltungsverfahren zu vereinfachen, Mittel und Finanzierungsquellen zu erweitern, negative und positive externe Effekte zu internalisieren und investitionsfreundliche Rahmenbedingungen zu fördern. Ein diesbezüglich wichtiger Schritt sind die laufenden Bestrebungen, eine EU-Taxonomie zur „grünen Kennzeichnung“ von Investitionen zu schaffen.

1.17.

Der EWSA ist jedoch fest davon überzeugt, dass nur eine politische und soziale Kompromisslösung auf der Grundlage eines gemeinsamen systemischen Zukunftsentwurfs mit klaren überprüfbaren kurz- und mittelfristigen Zwischenzielen die Akzeptanz solch riesiger finanzieller Verpflichtungen durch private Investoren und einer solch enormen öffentlichen Investition durch die europäischen Steuerzahler sichern kann.

2.   Horizontale Problemstellungen

2.1.

Die Nachhaltigkeitsziele sind ein globaler Aufruf zum Handeln für eine bessere und nachhaltigere Zukunft für alle. Sie thematisieren die globalen Herausforderungen, u. a. Wirtschaftswachstum, Wohlstand, Armut, Ungleichheit, Klimawandel, Beschäftigung, Frieden und Gerechtigkeit. Die Nachhaltigkeitsziele sind auch ein dringender Appell, die Welt in nachhaltigere Bahnen zu lenken. Digitalisierung und Nachhaltigkeitsziele greifen eng ineinander, denn digitale Lösungen unterstützen die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in der Industrie, durch Innovation und Infrastruktur und in der Gesellschaft insgesamt. Die Digitalisierung trägt nachweislich positiv zur Umsetzung vieler SDG bei.

2.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass Europa offen für die Entwicklung und Einführung neuer Geschäftsmodelle auf der Grundlage digitaler Plattformen sein muss, sofern Transparenz und Sozialklauseln geschützt werden.

2.3.

Auch wenn immer mehr Menschen Zugang zu digitalen Technologien haben, herrscht doch bei der Nutzung der Digitaltechnik weiterhin eine digitale Kluft, da einige Menschen keinen Zugang zu ihnen haben und es nicht allen gleichermaßen gelingt, den digitalen Wandel in eine bessere Lebensqualität umzusetzen.

2.4.

Die Digitalisierung der europäischen Wirtschaft erfordert auf allen Ebenen neue Fachkompetenzen. In vielen Mitgliedstaaten fehlt eine Abstimmung zwischen Bildungsanbietern und Industrie, obwohl diese Entwicklungen doch gerade eine engere Zusammenarbeit nötig machen, um Kompetenzlücken und Missverhältnisse zwischen Kompetenzangebot und -nachfrage zu vermeiden. Eine kontinuierliche Aus- und Weiterbildung und lebenslanges Lernen sind entscheidend für die Anpassung an sich verändernde Arbeitsumgebungen und die Förderung der beruflichen Weiterentwicklung. Die allgemeine und berufliche Bildung, auch im Wege von Forschungsvorhaben, leistet einen wesentlichen Beitrag zur Förderung von Talenten und Herausbildung von Fachkompetenzen und damit zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der EU.

2.5.

Der EWSA ist zudem der Ansicht, dass die EU und die Mitgliedstaaten Arbeitnehmer unterstützen sollten, die Gefahr laufen, ihren Arbeitsplatz infolge des digitalen Wandels und der Energiewende zu verlieren. Zu diesem Zweck fordert der EWSA die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union auf, dafür zu sorgen, dass der Europäische Sozialfonds und der Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung so konzipiert und finanziert werden, dass diesen Herausforderungen entsprochen werden kann.

2.6.

Der freie Datenfluss ist von wesentlicher Bedeutung. Der EWSA fordert daher wirksame Lösungen, durch die die Probleme in Verbindung mit der Zugänglichkeit, Interoperabilität und Übertragung von Daten beseitigt und ausreichender Datenschutz und Schutz der Privatsphäre sichergestellt werden. Für öffentliche und private Unternehmen müssen die gleichen Bedingungen hinsichtlich der Gegenseitigkeit des Datenaustauschs und der Kosten für die Bereitstellung von Daten gelten.

2.7.

Der EWSA fordert die Kommission auf, einen fairen Wettbewerb und die Wahlfreiheit der Verbraucher im Bereich des Datenzugangs zu gewährleisten. In der Automobilindustrie wird ein fairer Zugang zu Fahrzeugdaten entscheidend sein, um sicherzustellen, dass die Verbraucher Zugang zu wettbewerbsfähigen, komfortablen und innovativen Mobilitätsdiensten haben. Der EWSA empfiehlt der Kommission, Leitlinien für die Anwendung der Datenschutz-Grundverordnung und der Vorschriften zum Schutz der Privatsphäre auf vernetzte und automatisierte Fahrzeuge vorzugeben. Vergleichbare Herausforderungen könnten sich auch im Bereich des öffentlichen Verkehrs in Verbindung mit dem Konzept „Mobilität als Dienstleistung“ (Mobility-as-a-Service — MaaS) ergeben.

2.8.

Der EWSA fordert die Kommission ferner auf, die Produkthaftungs- und Versicherungsvorschriften zu überarbeiten, um der zunehmenden Entscheidungsfindung über Software Rechnung zu tragen. Die Grundsätze der Sicherheit durch Technik und Sicherheit durch Voreinstellungen sollten systematisch angewendet werden, um das Vertrauen in die Nutzung dieser Technologien zu erhöhen.

2.9.

Cybersicherheit ist eine entscheidende Voraussetzung für einen sicheren Wandel. Es muss umfassend auf die Herausforderungen reagiert werden, die sich für wichtige Branchen auf EU Ebene stellen. Dazu muss die Rolle der Agentur der Europäischen Union für Cybersicherheit ausgebaut werden, um Schwachstellen im fortschreitenden europäischen Netzverbund auszuräumen. Der EWSA begrüßt diesbezüglich insbesondere die Arbeit des Europäischen Verbunds der Übertragungsnetzbetreiber (Strom) (ENTSO-E).

2.10.

Von Sensoren und von immer mehr intelligenten Messgeräten werden große Datenmengen generiert, die von den zuständigen Akteuren auf sichere und transparente Weise unter Wahrung der persönlichen Freiheiten verarbeitet und zugänglich gemacht werden müssen. Der EWSA gibt zu bedenken, dass das beträchtliche Potenzial der intelligenten Technologien zum Stresstest für viele bewährte Verbraucherschutzgrundsätze wie Privatsphäre, Haftung und Sicherheit sowie für die Bemühungen zur Bekämpfung der Energiearmut wird. Für die Daten müssen die Regulierungsstellen ein Konzept entwickeln, das es den Verbrauchern ermöglicht, stets auf die von ihnen generierten Daten zuzugreifen und die Kontrolle darüber zu behalten, und das Wettbewerb und die Entwicklung innovativer Dienste fördert.

2.11.

In absehbarer Zeit wird künstliche Intelligenz zu Veränderungen in allen Bereichen führen. In Verbindung damit stellt sich eine Reihe von Herausforderungen. Beispielsweise muss die Transparenz der automatisierten Entscheidungsfindung und die Verhinderung von Verbraucherdiskriminierung gewährleistet werden.

2.12.

Die Verbraucher müssen auch Zugang zu einfachen und standardisierten Produkten haben, besonders Verbraucher, die nicht über Fachwissen verfügen, ältere Menschen und allgemein schutzbedürftige Menschen.

3.   Verkehr

3.1.

Im EU-Binnenmarkt hat der Verkehrssektor einen Anteil von 6,3 % am BIP der EU und stellt rund 13 Mio. direkte Arbeitsplätze in der EU, was mehr als 7 % der Gesamtbeschäftigung in der Union entspricht, darunter etwa 2,3 Mio. Arbeitsplätze in der Automobilindustrie.

3.1.1.

Der Verkehr ist ein Schlüsselfaktor für mehrere Nachhaltigkeitsziele und trägt erheblich zu den für wirtschaftliche Entwicklung, Industrie und KMU sowie Handel und Investitionen relevanten SDG bei. Indes gehen auch viele Herausforderungen bei der Umsetzung der SDG und bei der Verwirklichung der Ziele des Übereinkommens von Paris auf den Verkehr zurück“ (2).

3.1.2.

Bei der Gestaltung der Verkehrspolitik muss die Vollendung eines fairen, funktionierenden und vollständig digitalisierten Binnenmarkts, der greifbare Vorteile für alle mit sich bringt, ein zentrales Anliegen sein. Bislang aber handelt es sich eher um Flickwerk, auch mit Blick auf internationalen Wettbewerb. Der Verkehrssektor spielt zudem eine wichtige Rolle für das Funktionieren des Binnenmarkts insgesamt.

3.1.3.

Im Straßentransport ist noch kein angemessenes, unionsweit geltendes Gleichgewicht zwischen Liberalisierung und Sozialklauseln für Fahrer von Straßenfahrzeugen gefunden worden, trotz der jüngst vorgeschlagenen Änderungen der Rechtsvorschriften für den Kraftverkehrsmarkt. (3) Als Hauptprobleme im Straßentransport werden derzeit die unzureichende Durchsetzung und der Mangel an Fahrern in Höhe von 20 % ausgemacht.

3.1.4.

Der 2007 liberalisierte Schienengüterverkehr in der EU ist noch nicht interoperabel, obwohl er zur Hälfte grenzüberschreitend verläuft. Es sollte für eine höhere Kundenzufriedenheit gesorgt werden. Die Einführung des ERTMS (Europäisches Eisenbahnverkehrsleitsystem) sollte ein Kernstück der EU-Strategie für die Digitalisierung des Schienenverkehrs sein, damit sich die entsprechenden Vorteile konkretisieren können (z. B. technische und betriebliche Harmonisierung, Ausbau der Netzkapazität, verbesserte Zuverlässigkeit, geringere Wartungskosten, automatisierter Fahrbetrieb usw.).

3.1.5.

Im Luftverkehr funktionieren die Märkte effizienter. Seit der Liberalisierung sind die Flugtarife um den Faktor zehn gesunken, während sich die Zahl der Flugrouten versiebenfacht hat. Hingegen sind Infrastruktur- und Dienstleistungskosten auf das Zweifache angewachsen. Was die verschiedenen Beschäftigungsformen des fliegenden Personals betrifft, bestehen zahlreiche Probleme und Unsicherheiten mitunter im Zusammenhang mit Praktiken, die eine Verletzung oder Umgehung des geltenden Rechts darstellen. Der Einheitliche Europäische Luftraum sollte im Interesse größerer Effizienz vollständig umgesetzt werden; dadurch würden direktere Streckenführungen, kürzere Reisezeiten und ein um etwa 10 % geringerer CO2-Ausstoß erreicht. Der Rat sollte ihn nicht länger blockieren. Der EWSA fordert eine rasche Verabschiedung der überarbeiteten Fluggastrechte-Verordnung durch den Rat, da umfangreiche Klarstellungen erforderlich sind, um die Anzahl der Klagen signifikant zu senken.

3.1.6.

Die vor Kurzem verabschiedete Verordnung über die Erbringung von Hafendiensten und die Anwendung der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung auf Häfen bieten den Häfen und ihren Interessenträgern endlich einen soliden und gleichzeitig flexiblen rechtlichen Rahmen.

3.2.    Dekarbonisierung und Null-Emission

3.2.1.

Der Verkehrssektor ist zur Deckung seines Energiebedarfs nach wie vor zu 94 % auf Erdöl angewiesen. Der Anteil des Straßenverkehrs liegt bei rund 73 %. Der Verkehr ist der einzige Wirtschaftszweig der EU, in dem die CO2-Emissionen seit 1990 gestiegen sind.

3.2.2.

2018 legte die Kommission ihre Vision für eine klimaneutrale Zukunft bis 2050 vor: „Starke Emissionsreduzierungen erfordern einen integrierten Systemansatz. Dies umfasst die Förderung i) allgemeiner Fahrzeugeffizienz, emissionsarmer und emissionsfreier Fahrzeuge und der entsprechenden Infrastruktur; ii) einer langfristigen Umstellung auf alternative, CO2-neutrale Kraftstoffe für den Verkehr [bis 2050]; iii) einer höheren Effizienz des Verkehrssystems durch die optimale Nutzung digitaler Technologien und intelligente Preisgestaltung sowie durch die weitere Förderung multimodaler Integration und den Umstieg auf nachhaltigere Verkehrsträger“, was eine ausreichende Finanzierung des Wandels und des Ausbaus des öffentlichen Verkehrsnetzes in ländlichen wie auch städtischen Gebieten voraussetzt. Die Umstellung auf eine grünere Wirtschaftsweise ist jedoch ein schwieriger und schmerzhafter Schritt (4).

3.2.3.

Es wird davon ausgegangen, dass — überwiegend aus dem Privatsektor finanzierte — Investitionen in Höhe von rund 800 Mrd. EUR pro Jahr erforderlich sein werden, um die verkehrsbedingten CO2-Emissionen bis 2050 um 100 % zu senken. (5) Zur Unterstützung solcher Investitionen ist ein solider Regelungsrahmen für nachhaltige Finanzierung erforderlich.

3.2.4.

Unter Berücksichtigung des technologieneutralen Ansatzes gibt der EWSA zu bedenken, dass auch andere, nicht elektrische Antriebstechnologien unter Einsatz von bspw. Wasserstoff oder Flüssigkraftstoffen nicht-fossilen Ursprungs wie HVO100 umfangreiche Möglichkeiten für saubere Mobilität eröffnen. (6) Eine Verkehrsverlagerung auf öffentlichen Verkehr ist ebenfalls aktiver Klimaschutz. Die Herstellung elektrischer Batterien ist ein wichtiger Aspekt der Energieunabhängigkeit.

3.2.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Umsetzung des Klimaziels der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) für den Sektor erste Priorität haben sollte, wobei das Jahr 2023 das entscheidende Etappenziel für die Einleitung von Emissionssenkungsmaßnahmen und die Entwicklung alternativer Antriebe ist.

3.2.6.

Bei allen Verkehrsträgern sind Investitionen in Infrastrukturen für saubere und alternative Brennstoffe mit großem Zeit- und Kostenaufwand verbunden und sollten mit entsprechenden Anreizen zur Nutzung der geplanten Infrastruktur einhergehen, wobei zunächst alle von den Nutzern benötigten Informationen über offene Plattformen bereitgestellt werden sollten.

3.3.    Null Verkehrstote, autonomes Fahren, Mobilität als Dienstleistung

3.3.1.

95 % aller Verkehrsunfälle auf Europas Straßen, bei denen 2017 mehr als 25 300 Menschen ums Leben kamen und 1,2 Mio. Menschen verletzt wurden, gehen auf menschliches Versagen zurück, wobei sich die Unfallkosten auf 120 Mrd. EUR pro Jahr belaufen.

3.3.2.

Die Landverkehrstechnik dürfte durch die Digitalisierung und Automatisierung revolutioniert werden: Der EWSA weist darauf hin, dass diese neue Technik die Möglichkeit bietet, sowohl die Effizienz des Verkehrsmarktes zu verbessern als auch analytische Daten für die Kontrolle und Durchsetzung geltender Rechtsvorschriften und den Schutz der Menschenrechte und der sozialen Rechte zu liefern.

3.3.3.

Die Digitalisierung wird auch die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle maßgeblich beeinflussen, darunter verschiedene Arten von Plattformen und Konzepte der kollaborativen Wirtschaft. Letztere sind nach wie vor in der Entwicklung begriffen, werden aber voraussichtlich nicht ländliche Gebiete ohne öffentliche Verkehrsversorgung abdecken. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die Sicherheit von geteilten Verkehrsmitteln zu gewährleisten, angefangen bei Elektrorollern.

3.3.4.

Durch die Einführung automatisierter Fahrsysteme sollte es ermöglicht werden, die Zahl der Todesfälle erheblich weiter zu verringern oder sogar auf null zu senken. Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass selbstfahrende Fahrzeuge nur dann angenommen werden, wenn sie den Fahrgästen dasselbe Sicherheitsniveau wie andere Personenverkehrssysteme bieten, etwa die Eisenbahn oder große Luftfahrzeuge. Er verweist auf folgende Problembereiche, die der öffentlichen Akzeptanz möglicherweise entgegenstehen: 1) die zusätzlichen Kosten, 2) die zunehmende Komplexität des Führens eines Fahrzeugs (7), 3) die lange Übergangsphase des Mischverkehrs von automatisierten und manuell geführten Fahrzeugen, in der die Zahl der Unfälle steigen und die Straßenkapazität abnehmen könnten, 4) Sicherheit- und Cybersicherheitsbedenken und 5) rechtliche Unsicherheiten bezüglich der Haftung bei Unfällen.

3.3.5.

Nach Auffassung des EWSA wären in Verbindung mit der Senkung der Zahl der Unfalltoten auf nahe null noch folgende Aspekte zu prüfen: dringend notwendige Vereinheitlichung der nationalen Straßenverkehrsvorschriften und der entsprechenden Sanktionen; Erschwinglichkeit der neuen „sicheren“ Fahrzeuge für die Verbraucher und Unternehmen; Grundsatz, dass nur der Mensch selbst ethische Entscheidungen treffen kann, und dass Maschinen den Menschen nur begleiten, ihn aber nicht ersetzen dürfen; Senkung von Versicherungsprämien als Anreiz zum Kauf sichererer Fahrzeuge; Sicherheit als grundsätzliche Priorität bei jeder neuen Regelung des Datenzugangs für Fahrzeuge.

3.3.6.

Vernetzte und automatisierte Mobilitätslösungen für alle Verkehrsträger, einschließlich des öffentlichen Verkehrs, sind ein wichtiges Innovationsfeld, in dem die EU das Potenzial hat, eine weltweite Führungsrolle zu übernehmen. Voraussetzung für ihre Entwicklung sind jedoch öffentlich-private Zusammenarbeit und Investitionen.

3.3.7.

Das Konzept ‚Mobilität als Dienstleistung‘ (Mobility-as-a-Service — MaaS) beschreibt eine Abkehr von privaten Verkehrsmitteln hin zu öffentlichen Verkehrsmitteln und Mobilitätslösungen, die als Dienstleistung genutzt werden (8). Das zentrale Konzept der MaaS besteht darin, den Reisenden ausgehend von ihrem Reisebedarf Mobilitätslösungen anzubieten. MaaS setzt beim Verkehrssystem als Ganzes an. On-Demand-Mobilität kann auch den Zugang von Bürgerinnen und Bürgern zur Mobilität verbessern, die in abgelegenen Gebieten leben oder mobil eingeschränkt sind (wie ältere Menschen und/oder Menschen mit Behinderungen).

3.4.    Investitionen

3.4.1.

Der EWSA stellt fest, dass das heutige Verkehrsinfrastrukturnetz in Europa in vielen Gebieten seine Aufgabe nicht erfüllt. Angesichts der zu erwartenden, stetig steigenden Nachfrage nach Verkehrsdienstleistungen müssen umfangreiche öffentliche und private Investitionen in den Aufbau und die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur getätigt werden.

3.4.2.

Die rechtzeitige Fertigstellung des TEN-V-Netzes mit optimierter geografischer Abdeckung muss oberste Priorität haben: Fertigstellung des transeuropäischen Kernnetzes bis 2030 und des Gesamtnetzes bis 2050 oder früher. Allein die Fertigstellung des Kernnetzes erfordert Investitionen in Höhe von 500 Mrd. EUR, ganz zu schweigen von Infrastruktur-Resilienz und -Modernisierung. Diese Investitionen können nicht allein mit Finanzhilfen aus der Fazilität „Connecting Europe“ und durch EU-Instrumente finanziert werden, und die Ressourcen der Mitgliedstaaten sind wahrscheinlich nicht ausreichend. Es besteht ein konkretes Risiko erheblicher Verzögerungen.

3.4.3.

Finanzhilfen werden auch in Zukunft eine wichtige Rolle in der EU-Investitionspolitik für den Verkehrssektor spielen, insbesondere in den Fällen, in denen Marktinvestitionen schwieriger sind. Die Kombination von Finanzhilfen mit anderen Finanzierungsquellen wie Darlehen der Europäischen Investitionsbank oder des Privatsektors und die Mobilisierung öffentlicher und privater Investoren, auch im Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen Sektor und der Privatwirtschaft, sind jedoch wesentliche zusätzliche Instrumente.

3.4.4.

Der EWSA fordert „Investitionen in Technologien und Infrastrukturen, auf denen digitale Verkehrssysteme aufgebaut werden können, insbesondere in Verkehrsmanagement- und -steuerungssysteme: Das SESAR-Projekt (Gemeinsames Unternehmen für die Forschung zum Flugverkehrsmanagement im Einheitlichen Europäischen Luftraum) und das ERTMS (Europäisches Eisenbahnverkehrsleitsystem)“ sowie „Kooperative Intelligente Verkehrssysteme (C-ITS). Ferner muss entlang der TEN-V-Kernnetzkorridore 5G bereitgestellt werden. Diese Vorhaben sollten über EU-Finanzierungsinstrumente wie die Fazilität ‚Connecting Europe‘, [InvestEU und Horizont Europa] vorrangig unterstützt werden.“ (9)

3.4.5.

Der EWSA vertritt die Ansicht, dass ein Mautsystem, „das im Einklang mit dem ‚Nutzerprinzip‘ und ‚Verursacherprinzip‘ steht, eine positive Wirkung hätte, wenn die Einnahmen aus der Straßeninfrastrukturnutzung zweckgebunden wären“. (10)

4.   Energie

4.1.    Ein Binnenmarkt für Energie

4.1.1.

2016 wies der Energiesektor in der EU einen Umsatz von 1 881 Mrd. EUR auf und stellte ca. 1 630 000 direkte Arbeitsplätze.

4.1.2.

Alle Europäerinnen und Europäer sollten Zugang zu sicherer, nachhaltiger und erschwinglicher Energie haben. So lautet das vorrangige Ziel der Energieunion. Der EWSA bedauert die starken Abweichungen der Energiepreise in den Mitgliedstaaten, die Ausdruck eines grundlegenden Versagens des Energiebinnenmarkts sind. Er geht davon aus, dass sich die Preise — ausgenommen die Steuerkomponente — im Zuge der Umsetzung der EU-Energieunion und des digitalen Binnenmarkts angleichen werden.

Eine auf den Menschen ausgerichtete Digitalisierung des Energiesektors ist für die EU von entscheidender Bedeutung, da dadurch die Energieverbraucher und die Prosumer in den Mittelpunkt gerückt werden können; zudem leistet sie einen Beitrag zu einer Umgestaltung der Energiemärkte.

4.2.    Digitalisierung und neue Technologien

4.2.1.

Im Rahmen des SET-Plans eröffnet die Digitalisierung den Energieversorgern neue Möglichkeiten durch Ressourcenoptimierung, die Integration variabel und dezentral erzeugter erneuerbarer Energien und Betriebskostensenkung; gleichzeitig sollte sie allen Vorteile bringen durch niedrigere Energierechnungen für Haushalte und Unternehmen aufgrund von Energieeffizienz und der Nutzung einer flexiblen Steuerung der Energienachfrage. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die Ergebnisse zu bewerten und erforderlichenfalls weitere Maßnahmen zu ergreifen.

4.3.    Intelligente Energienetze und erneuerbare Energieträger (EE)

4.3.1.

Bei einigen erneuerbaren Energieträgern ist die Energieerzeugung zu Marktpreisen schätzungsweise nahezu erreicht.

4.3.2.

Dezentrale Energielösungen und intelligente Steuerung werden immer kostengünstiger. Intelligente Netze stehen im Mittelpunkt des neuen Systems. Dank der Digitalisierung können neue Energieumgebungen miteinander vernetzt werden. Die intelligenten Energiesysteme der Zukunft werden nicht als abgeschottete Systeme entwickelt, sondern als digitaler und physischer Verbund verschiedener Energiearten und Energietransportnetze, der immer mehr Möglichkeiten eröffnet. Als erstes dürften die Veränderungen den Stromsektor erfassen. Die Digitalisierung ermöglicht eine engere Verknüpfung mit der Wärme- und Kälteerzeugung, insbesondere im Gebäude- und Mobilitätssektor. Zudem begünstigt sie eine umfassendere Beteiligung der Interessenträger an lokalen, regionalen und europäischen Wertschöpfungsketten durch die Zusammenarbeit von lokalen Gemeinschaften und Prosumern im Rahmen von Energiegemeinschaften und Energiehandel und fördert europäische Innovation und Unternehmen.

4.3.3.

Im Rahmen von Horizont 2020 wurde eine Reihe Demonstrationsprojekte in den Bereichen Netzverteilung, Übertragungsnetze, dezentrale und großmaßstäbliche Energiespeicher, erneuerbare Energieträger sowie Wärme- und Kältetechnik finanziert, um Alltagstechnik, Netztechnologien, Systemdienstleistungen, Pumpspeicheranlagen, Batterien, Windkraft, Fotovoltaik, Solarenergie, Wärmekraft, Biogas und Mikroerzeugung zu entwickeln. Der EWSA begrüßt die Einrichtung des Innovationsfonds, der verstärkt Demonstrationsprojekte unterstützen wird.

4.3.4.

Der EWSA appelliert an die EU, mehr gegen Energiearmut zu unternehmen. Es sollten konkrete Fördermaßnahmen für umfassende Renovierungen von Gebäuden ergriffen werden, und für von Energiearmut Betroffene oder durch Energiearmut Gefährdete sollten Solarpaneele installiert werden, wann immer sich dies als sinnvoll erweist. Die EU sollte berücksichtigen, dass einkommensschwache Gruppen sich diese Maßnahmen nicht leisten können.

4.3.5.

Der EWSA begrüßt die Tätigkeit der Plattform für Kohleregionen im Wandel. Die Energiewende trifft einige Regionen stärker als andere, insbesondere, wenn sie von der Extraktion fossiler Energieträger, der Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen und energieintensiver Produktion abhängig sind. Deshalb muss der Strukturwandel in den kohle- und CO2-intensiven Regionen und Branchen sorgfältig überwacht und wirksam gesteuert werden, um einen gerechten und sozial vertretbaren Übergang zu bewerkstelligen, bei dem alle Arbeitnehmer und alle Regionen mitgenommen werden.

4.3.6.

Auf energieintensive Industriezweige entfallen in Europa über 6 Mio. direkte Arbeitsplätze. Sie sind Startpunkt für zahlreiche Wertschöpfungsketten, darunter auch für umweltfreundliche Energiesysteme. Die energieintensiven Branchen verursachen 60-80 % der Industrieemissionen. Ihre Dekarbonisierung ist eine enorme Herausforderung, die sowohl technologische als auch nichttechnologische Innovationen (wie bspw. neue Geschäftsmodelle) erfordert.

4.4.    Investitionen im Energiesektor

4.4.1.

Die Stärkung des EU-Energiemarkts, die Erleichterung der Energiewende und die Gewährleistung eines sicheren Systembetriebs hängen allesamt von geeigneten, gut ausgebauten und kosteneffizienten Übertragungsnetzen in Europa ab.

4.4.2.

Innovationen wie Power-to-Gas zur Einspeisung ins Erdgasnetz oder Wasserstofftechnologien können bei wirksamer Förderung greifbare Ergebnisse bringen und wirtschaftlich tragfähig werden.

4.4.3.

Die Szenarien, die eine Senkung der Treibhausgasemissionen um 100 % anstreben (11), erfordern im Zeitraum 2031-2050 jährliche Investitionen in Höhe von 547 Mrd. EUR (2,8 % des BIP). Im Vergleich dazu erfordert das Referenzszenario 377 Mrd. EUR (1,9 % des BIP). Dies sind hohe Beträge, selbst für eine entwickelte Wirtschaft.

5.   Dienstleistungen von allgemeinem Interesse

5.1.

Dienstleistungen von allgemeinem Interesse tragen maßgebend zu nachhaltigem Wachstum in Europa bei. Ihrer Erbringung sollte ein strategischer Ansatz zugrunde liegen, bei dem die Menschen im Mittelpunkt stehen. Der 20. und letzte Grundsatz der europäischen Säule sozialer Rechte ist dem „Zugang zu essenziellen Dienstleistungen“ gewidmet und besagt, dass jede Person das Recht auf den Zugang zu essenziellen Dienstleistungen wie Wasser-, Sanitär- und Energieversorgung, Verkehr, Finanzdienste und digitale Kommunikation hat. Für seine Anwendung sind spezifische Maßnahmen im Bereich nachhaltige Entwicklung und Zusammenhalt erforderlich.

5.2.

Die Bürger und Unternehmen fordern eine offenere, transparentere, stärker rechenschaftspflichtige und wirksamere Governance . Cloud-Computing-Architekturen begünstigen Größenvorteile und Agilität und damit die Umstellung auf elektronische Behördendienste, elektronische Gesundheitsdienste, elektronische Auftragsvergabe und elektronische Rechnungsstellung, wodurch die Weitergabe von Informationen durch Behörden und die Interaktion mit Bürgerinnen/Bürgern und Unternehmen erleichtert wird.

5.3.

Mit der vollständigen Digitalisierung der DAI geht die Gefahr einher, dass ältere Menschen oder Menschen mit unzureichenden digitalen Kompetenzen ausgegrenzt werden. Deshalb sollte auch noch ein herkömmliches DAI-Angebot aufrechterhalten werden.

5.4.

Der EWSA empfiehlt, in das Europäische Semester auch Bestimmungen über die Rechenschaftspflicht und Transparenz der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in den Mitgliedstaaten sowie über den Zugang zu den Dienstleistungen und ihr ordnungsgemäßes Funktionieren einzubeziehen.

5.5.

Zahlreiche Bürger in der Europäischen Union haben in unterschiedlichem Maß große wirtschaftliche Schwierigkeiten beim Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, u. a. in den Bereichen Wohnraum, Energie, elektronische Kommunikation, Verkehr, Wasserversorgung, Gesundheitsdienste und soziale Dienstleistungen.

5.6.

Mangelnder Zugang zu DAI kann auch durch wirtschaftliche, geografische, soziale (Ungleichbehandlung) und physische (Behinderungen) Faktoren bedingt sein, oder aber die Dienstleistungen sind nicht den Bedürfnissen und/oder dem technischen Fortschritt angepasst (Unangemessenheit/Unzulänglichkeit der Qualität und/oder der Sicherheit). Mithilfe von Digitaltechnik können einige dieser Probleme gelöst werden.

5.7.

Im Bereich der Gesundheitsdienste können durch Digitalisierung Verbesserungen bei der Prävention, Diagnose und Behandlung von Krankheiten erreicht werden. Instrumente wie die elektronische Patientenakte (EPA) ermöglichen den Verbrauchern ständigen Zugriff auf ihre Krankengeschichte und Arzneimittelverschreibungen. Gesundheits-Apps und ärztliche Konsultationen per Internet können Patienten und Verbrauchern insbesondere in abgelegenen Gebieten ausgezeichnete Dienste bei Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention leisten. Allerdings bergen digitale Gesundheitsprodukte und -dienste erhebliche Risiken für die Privatsphäre und Sicherheit der Patienten, da es bei den persönlichen Patientenakten und -daten, die von den Gesundheitseinrichtungen gespeichert werden, häufiger zu Datenschutzverstößen kommen kann. Die EU sollte einen umfassenden Rechtsrahmen entwickeln, um für einen harmonisierten Ansatz zu sorgen.

5.8.

Angesichts der zunehmenden, auch grenzübergreifenden Nutzung von digitalen Gesundheitsdiensten und -produkten ist es außerdem wichtig, die Haftungsregeln für diese Dienste und Produkte EU-weit zu harmonisieren. Der Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher in der EU muss durch legislative Maßnahmen wie gezielte Marktüberwachung und Rechtsdurchsetzung sowie einen wirksamen Zugang zur Justiz in Verbindung mit digitalen Gesundheitsdiensten und -produkten sichergestellt werden.

5.9.

Der EWSA appelliert nachdrücklich an die Europäische Kommission, einen geeigneten Rahmen aufzustellen, um im Einklang mit der Datenschutz-Grundverordnung, d. h. unter strikter Wahrung der Privatsphäre und der Anonymität, den Austausch von Gesundheitsdaten der EU-Bürgerinnen und -Bürger zwischen den nationalen Gesundheitssystemen für Forschungs- und Innovationszwecke von Einrichtungen und Unternehmen in der EU zu ermöglichen.

5.10.

Dienstleistungen von allgemeinem Interesse sollten digitalisiert werden, doch sollten die Dienstleister für Verbraucher, die aus freien Stücken oder notgedrungen keine Internetanbindung haben, nach wie vor andere Zugangsmöglichkeiten offenhalten.

5.11.

Dienstleistungen von allgemeinem Interesse im öffentlichen Verkehr sind eine wesentliche Voraussetzung für bessere Lebensbedingungen und die Erreichung grundlegender Ziele der EU. Die Behörden benötigen bei der Erbringung, Vergabe und organisatorischen Abwicklung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse einen breiten Ermessensspielraum.

6.   5G

6.1.    5G-Ausbau im Binnenmarkt

6.1.1.

Die Behörden haben begonnen, die Grundlagen für den Aufbau der Netze der 5. Mobilfunkgeneration zu schaffen und weisen bereits Frequenzen für 5G zu. In den kommenden Monaten sollten die europäischen Mobilfunkbetreiber Vorbereitungen für die 5G-Einführung treffen und unter „realen“ Bedingungen testen, denn in der ersten Jahreshälfte 2019 sollen die ersten 5G-Smartphones und -Endgeräte auf den Markt kommen. Bis Anfang Dezember 2018 hatten aber erst zwölf Mitgliedstaaten zumindest eine Frequenzversteigerung vorgesehen oder abgeschlossen.

6.1.2.

Auf internationaler Ebene stehen alle Länder im Wettbewerb, mit als erste flächendeckend 5G einzuführen, auch die EU. Zu den fünf größten Infrastrukturanbietern zählen zwei europäische, zwei chinesische und ein koreanisches Unternehmen. Unter den Netzwerkausrüstern (Geräte und Chipsätze) für 5G-Technik sind keine führenden europäischen Unternehmen zu finden.

6.1.3.

Der EWSA gibt zu bedenken, dass die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie, beispielsweise der Verkehrs- und Automobil-, Energie-, Chemie- und Pharma-, Fertigungs- (einschl. KMU-) sowie Finanzbranche, in denen Europa führend ist, mit der Integration und Nutzung von 5G-Diensten steht und fällt.

6.1.4.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass Wissenschaftler vor den möglichen Gefahren der elektromagnetischen Strahlung von 5G für die menschliche Gesundheit und die Umwelt warnen, insbesondere aufgrund von Funksignalen mit sehr hohen Datenraten und starker Durchdringungskapazität in Gebäuden und sonstigen geschlossenen Räumen. Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Studie über die biologische Wirkung der 5G-Strahlung und die Gefahr der wechselseitigen Störung durch andere Frequenzbereiche zu veranlassen.

6.2.    5G-Investitionsbedarf

6.2.1.

Die Mobilfunkanbieter müssen in den nächsten fünf Jahren schätzungsweise 60-100 Mrd. EUR jährlich in 5G investieren, um alle maßgebenden europäischen wirtschaftlichen und sozialen Akteure mit Gigabit-Konnektivität zu versorgen. Für den Netzausbau in ländlichen Gebieten sind weitere Investitionen in Höhe von 127 Mrd. EUR notwendig.

6.2.2.

Mit 5G wird der Schritt von der Mobilfunk- und Internettechnologie zur Universaltechnologie vollzogen, die in den unterschiedlichsten Branchen die Produktivität und Wirtschaftstätigkeit beeinflusst. Durch die Vielzahl der verbundenen Geräte und die höheren Datenraten werden eine umfassende Nutzung des IoT und die Entwicklung unternehmenskritischer Dienste ermöglicht.

7.   Besondere Bemerkungen

7.1.

Der EWSA fordert die EU-Institutionen zudem auf, sich eingehend mit folgenden, im Kontext dieser Stellungnahme wichtigen Anliegen zu befassen, zu denen sich der EWSA bereits geäußert hat und mit denen er sich auch künftig noch auseinandersetzen wird:

Internalisierung sämtlicher externen Kosten durch positive und negative Anreize (12);

Energiebesteuerungsrichtlinie und Einbeziehung der CO2-, NOx- und SOx-Emissionen in die Kraftstoffbesteuerung (13);

ein System dezentraler Energielösungen (14);

Stabilisierung des Emissionshandelsmarkts im Hinblick auf die nächste ETS-Handelsperiode (2021) und Auslotung von Maßnahmen für den Zeitraum nach 2020 (15);

eine elektronische Plattform für digitalen Informationsaustausch der Netze für die Steuerung von Stromflüssen (16);

Energie-Massendatenverarbeitung (17);

soziale und wirtschaftliche Herausforderungen des Kohleausstiegs (18);

kostengünstigere und einfacher zu montierende kleine modulare Kernreaktoren (50-300 MW), wobei EU-Normen zu erfüllen sind (19);

Hochspannungs-Übertragungsnetz über große Entfernungen zwischen Kontinenten: eine eurasische Perspektive (20);

Versorgungssicherheit und Investitionsschutz (21);

Energieeffizienz (22);

Vorzertifizierung von Produkten (23);

Cloud-Vorschriften (24);

EU-Produktionsplattformen (25);

Mobilfunk- und Datennetze (26);

Datenströme müssen gesichert werden und vertrauenswürdig sein (27);

Eigentum an Daten und Rechte an Daten (28);

Datenspeicherung in der EU (29).

Brüssel, den 17. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 86.

(2)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 9.

(3)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 195.

(4)  ESPAS, Challenges and choices for Europe, April 2019.

(5)  COM(2018) 773 final.

(6)  ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 52, ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 75.

(7)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 191.

(8)  ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 52.

(9)  ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 52.

(10)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 195.

(11)  COM(2018) 773 final.

(12)  ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 24; ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 33.

(13)  ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 37.

(14)  ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 44.

(15)  ABl. C 424 vom 26.11.2014, S. 46; ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 75.

(16)  ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 44; ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 52; ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 86.

(17)  Studie über die Ethik der Massendatenverarbeitung (Big Data) („The ethics of Big Data: Balancing economic benefits and ethical questions of Big Data in EU policy context“); ABl. C 242 vom 23.7.2015, S. 61.

(18)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 1.

(19)  ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 38; ABl. C 341 vom 21.11.2013, S. 92; ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 141.

(20)  ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 95; ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 125.

(21)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 125; ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 153; ABl. C 424 vom 26.11.2014, S. 64; ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 117.

(22)  ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 142.

(23)  ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 74; ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 40; ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 176.

(24)  ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 86.

(25)  Informationsbericht der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses über das Thema „Förderung inkrementeller Innovation in Gebieten mit starkem verarbeitenden Gewerbe“; ABl. C 332 vom 8.10.2015, S. 36; ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 12.

(26)  ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 74.

(27)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 8; ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 86.

(28)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 107; ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 209; ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 32.

(29)   ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 52 ; ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 11 .


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/90


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat: Auf dem Weg zu einer effizienteren und demokratischeren Beschlussfassung in der EU-Steuerpolitik“

(COM(2019) 8 final)

(2019/C 353/14)

Berichterstatter: Juan MENDOZA CASTRO

Berichterstatter: Krister ANDERSSON

Berichterstatter: Mihai IVAȘCU

Befassung

Europäische Kommission, 18.2.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

2.7.2019

Verabschiedung im Plenum

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

171/17/18

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit in Steuerfragen ist ein heikles Thema, weshalb der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Kommission in ihrer Absicht unterstützt, eine notwendige Debatte in Gang zu setzen.

1.2.

Der Ausschuss hat bereits in früheren Stellungnahmen seine Unterstützung für die Änderung des Einstimmigkeitsprinzips bekundet und sich für einen Ansatz mit qualifizierter Mehrheit aufgeschlossen gezeigt.

1.3.

Gleichzeitig ist der EWSA der Auffassung, dass bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen, um die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit erfolgreich einführen zu können.

1.4.

Die Einstimmigkeit im Steuerbereich mag zunehmend politisch anachronistisch, rechtlich problematisch und wirtschaftlich kontraproduktiv erscheinen.

1.5.

Steuerwettbewerb hat häufig einen zunehmenden Druck auf die öffentlichen Haushalte zur Folge, und klamme öffentliche Haushalte beeinträchtigen die Wettbewerbsfähigkeit.

1.6.

Bei einem Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit würde das Europäische Parlament künftig eine wichtige Rolle in Steuerfragen spielen.

1.7.

Die Einstimmigkeit in der Steuerpolitik wirkt sich auf die allgemeinen politischen Prioritäten der EU aus.

1.8.

In Zeiten, in denen ein Handeln in Klimaschutzbelangen dringender denn je ist, könnten Umweltziele durch einen schrittweisen Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit wirksamer erreicht werden.

1.9.

Die vorgeschlagene Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), über die seit 20 Jahren debattiert wird, bringt bei richtiger Konzeption und Einführung erhebliche Vorteile für Unternehmen und Bürger. Eine EU-weite Mehrwertsteuerreform mit angemessener Koordinierung auf europäischer und nationaler Ebene ist dringend erforderlich, da aufgrund des fragmentierten Systems derzeit Steuereinnahmen in enormer Höhe verlorengehen.

1.10.

Der EWSA vertritt außerdem die Auffassung, dass die Steuerpolitik im Allgemeinen und die Bekämpfung von Steuerbetrug im Besonderen für die nächste Europäische Kommission von vorrangiger Bedeutung bleiben müssen. Er ist der Ansicht, dass die besten Ergebnisse bei der Bekämpfung grenzüberschreitenden Steuerbetrugs auf europäischer Ebene erzielt werden können, und begrüßt, dass die EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke zum ersten Mal veröffentlicht wurde.

1.11.

Andererseits ist sich der EWSA bewusst, dass die Steuerpolitik eng mit der Souveränität der Mitgliedstaaten zusammenhängt und daher für sie von größter Bedeutung ist.

1.12.

Grundsätzlich sollte die EU in Fragen von globaler Bedeutung stark aufgestellt sein. Der EWSA ist sich bewusst, dass in einigen EU-Mitgliedstaaten der Steuerwettbewerb in der Vergangenheit dazu diente, finanzielle Probleme zu lösen. Die jüngste Annahme von Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuervermeidung hat deutlich gemacht, dass die Mitgliedstaaten bereit sind, einen transparenten und fairen Steuerwettbewerb zu fördern.

1.13.

In diesem Zusammenhang unterstreicht und begrüßt der EWSA die auf EU-Ebene erzielten Fortschritte bei der Bekämpfung von aggressiver Steuerplanung und Steuerhinterziehung und bei der Verbesserung des Mehrwertsteuersystems. Zugleich hält er auch in anderen Bereichen Fortschritte für wünschenswert.

1.14.

Nach eingehender wirtschaftlicher, sozialer und finanzpolitischer Analyse muss jede neue Regelung ihren Zweck erfüllen, und alle Mitgliedstaaten müssen jederzeit über ausreichende Möglichkeiten verfügen, am Beschlussfassungsprozess teilzunehmen. Letztendlich sollte das Ziel darin bestehen, sowohl auf EU-Ebene als auch auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten ein vorteilhaftes Ergebnis zu erzielen.

1.15.

Nach der entsprechenden Entscheidung sollten die vier vorgeschlagenen Schritte nach und nach umgesetzt werden, und die Europäische Kommission sollte nach jedem Schritt eine Bewertung vornehmen.

1.16.

Der EWSA unterstreicht, dass hier ein umfassenderer Prozess erforderlich ist, um nach Möglichkeit Fortschritte auf dem Weg zu einer wirksameren Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit zu erzielen. Dieser Prozess erfordert Zeit und muss mit anderen politischen Initiativen abgestimmt werden. In diesem Sinn weist der EWSA darauf hin, dass Folgendes unbedingt gewährleistet sein muss:

ein ausreichend starker EU-Haushalt,

eine besser koordinierte Wirtschaftspolitik,

eingehende Analysen, um zu bewerten, inwiefern sich die derzeitigen Steuermaßnahmen als unzureichend erwiesen haben.

2.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags

2.1.

Die Mitgliedstaaten können auf EU-Ebene Maßnahmen und Richtlinien verabschieden, die darauf abzielen, gemeinsame nationale Steuervorschriften für indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer oder direkte Steuern wie die Körperschaftsteuer einzuführen. Gleichwohl hat der derzeitige Rechtssetzungsprozess der EU in diesen Fragen seine Nachteile, da laut Kommission ein Handeln Einstimmigkeit unter allen Mitgliedstaaten voraussetzt. Diese Einstimmigkeit kann mitunter nicht erreicht werden oder zu suboptimalen Maßnahmen führen.

2.2.

Die Legislativvorschläge im Steuerbereich werden durch die Artikel 113 und 115 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geregelt. Beide Artikel sehen ein besonderes Gesetzgebungsverfahren vor, demzufolge Beschlüsse über Steuerfragen im Rat der EU einstimmig gefasst werden und das Europäische Parlament lediglich konsultiert wird.

2.3.

Die Verträge enthalten jedoch auch die notwendigen Bestimmungen, um unter bestimmten Umständen im Rat von der Einstimmigkeit zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit überzugehen.

2.4.

Nach Artikel 48 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), der sogenannten „Überleitungsklausel“, können die Mitgliedstaaten in Bereichen, die in der Regel der Einstimmigkeit unterliegen, von der Einstimmigkeit zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit bzw. vom besonderen Gesetzgebungsverfahren zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren übergehen.

2.5.

Mit ihrer Mitteilung möchte die Kommission die Debatte über die Reform der Beschlussfassung in der Steuerpolitik eröffnen. Es wird ein gradueller Übergang in vier Schritten zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens in bestimmten Bereichen der gemeinsamen Steuerpolitik der EU vorgeschlagen.

2.5.1.

In Schritt 1 sollten sich die Mitgliedstaaten darauf einigen, bei Maßnahmen, die die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung bei der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung verbessern, sowie bei verwaltungsrechtlichen Initiativen zugunsten von Unternehmen in der EU (z. B. harmonisierte Berichtspflichten) zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit überzugehen.

2.5.2.

In Schritt 2 sollte die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit als nützliches Instrument für die Durchführung von steuerpolitischen Maßnahmen eingesetzt werden, die anderen politischen Zielen zugutekommen, z. B. der Bekämpfung des Klimawandels, dem Umweltschutz oder der Verbesserung der öffentlichen Gesundheit.

2.5.3.

Der Rückgriff auf die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit unter Schritt 3 soll dazu beitragen, die Modernisierung bereits harmonisierter EU-Vorschriften, etwa im Bereich der Mehrwertsteuer oder der Verbrauchsteuern, voranzubringen.

2.5.4.

Schritt 4: Ausdehnung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit auf große steuerpolitische Vorhaben, wie z. B. die gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) sowie ein neues System zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft.

2.6.

In der Mitteilung wird vorgeschlagen, dass sich die Mitgliedstaaten rasch auf die Umsetzung der ersten beiden Schritte einigen und die Schritte 3 und 4 bis Ende 2025 in Erwägung ziehen.

2.7.

Die Kommission möchte die folgenden Probleme im derzeitigen Beschlussfassungsverfahren im Bereich der Steuerpolitik angehen:

2.7.1.

Das Erfordernis der Einstimmigkeit macht es schwerer, überhaupt einen Kompromiss zu erzielen, da schon ein Mitgliedstaat allein eine Einigung verhindern kann. Dies hält die Mitgliedstaaten häufig davon ab, ernsthaft über Lösungen im Rat zu verhandeln, da sie wissen, dass sie einfach ein Veto gegen Ergebnisse einlegen können, die ihnen nicht gefallen.

2.7.2.

Selbst wenn im Steuerbereich einstimmig eine Einigung erzielt wird, gibt sie in der Regel den kleinsten gemeinsamen Nenner wider, was die positiven Auswirkungen für Unternehmen und Verbraucher einschränkt oder die Umsetzung erschwert.

2.7.3.

Einige Mitgliedstaaten könnten wichtige Vorschläge im Steuerbereich als Druckmittel nutzen, um Forderungen in ganz anderen Bereichen durchzusetzen oder um die Kommission zur Vorlage von Legislativvorschlägen in anderen Bereichen zu drängen.

2.7.4.

Einstimmig gefasste Beschlüsse können nur einstimmig aufgehoben oder geändert werden. Dies macht die Mitgliedstaaten tendenziell übervorsichtig, dämpft die Ambitionen und schwächt das Endergebnis ab.

2.8.

Würde dem Europäischen Parlament bei der endgültigen Gestaltung steuerpolitischer Initiativen auf EU-Ebene eine gleichwertige Mitbestimmung eingeräumt, könnte es einen umfassenden Beitrag zur Gestaltung der EU-Steuerpolitik leisten.

2.9.

Es würden weder der EU neue Befugnisse eingeräumt noch die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten einschränkt. Die Kommission macht auch geltend, dass das Recht der Mitgliedstaaten, nach eigenem Ermessen Einkommensteuer- oder Körperschaftsteuersätze festzulegen, nicht berührt würde.

2.10.

Die durch Untätigkeit in der Steuerpolitik auf EU-Ebene entstehenden Kosten sind nach Kommissionsangaben beträchtlich. Die Kosten für die schleppenden Fortschritte bei der endgültigen Mehrwertsteuerregelung, der GKKB, der Finanztransaktionssteuer und der Digitalsteuer werden insgesamt auf rund 292 Mrd. EUR beziffert (1).

3.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

3.1.

Die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit in Steuerfragen ist ein heikles Thema, weshalb der EWSA die Kommission in ihrer Absicht unterstützt, eine notwendige Debatte in Gang zu setzen. Eine erfolgreiche Steuerpolitik des 21. Jahrhunderts muss es der EU ermöglichen, künftige wirtschaftliche und finanzielle Herausforderungen zu meistern. Die Einstimmigkeit im Steuerbereich war in den 1950er-Jahren mit gerade mal sechs Mitgliedstaaten sinnvoll; heutzutage mag sie aber zunehmend politisch anachronistisch, rechtlich problematisch und wirtschaftlich kontraproduktiv erscheinen.

3.2.

Der Ausschuss hat bereits in früheren Stellungnahmen seine Unterstützung für die Änderung des Einstimmigkeitsprinzips bekundet und sich für einen Ansatz mit qualifizierter Mehrheit aufgeschlossen gezeigt (2). Vor diesem Hintergrund und im Bewusstsein seiner Rolle als Einrichtung, die das europäische Projekt voranbringen möchte, legt der EWSA diese Stellungnahme vor.

3.3.

Gleichzeitig ist der EWSA der Auffassung, dass unter den gegebenen Umständen bestimmte Bedingungen innerhalb eines weiter gesteckten Rahmens erfüllt sein müssen, um die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit erfolgreich durchführen zu können.

3.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass nach der entsprechenden Entscheidung die vier vorgeschlagenen Schritte nach und nach umgesetzt werden sollten und die Europäische Kommission nach jedem Schritt eine gründliche und umfassende Bewertung vornehmen sollte.

3.5.

Die Einstimmigkeit in der Steuerpolitik wirkt sich auf die allgemeinen politischen Prioritäten der EU aus. Die Steuerpolitik ist auch für viele der ehrgeizigsten Projekte der EU von grundlegender Bedeutung, wie für die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die Kapitalmarktunion, den digitalen Binnenmarkt, den Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis 2030 und die Kreislaufwirtschaft. Ein weiteres Beispiel ist der Vorschlag der Kommission zur Überarbeitung der Energiesteuerrichtlinie.

3.6.

In Zeiten, in denen ein Handeln in Klimaschutzbelangen dringender denn je ist, könnten Umweltziele durch einen schrittweisen Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit wirksamer erreicht werden. Eurostat-Daten legen nahe, dass die EU-Staaten durchschnittlich nur 6 % ihrer Gesamtsteuereinnahmen aus Umweltsteuern erzielen. Die überwiegende Mehrheit davon stammt aus energie- und verkehrsbezogenen Steuern, die Steuern auf Umweltverschmutzung oder Ressourcenverbrauch machen mit weniger als 0,1 % nur einen minimalen Teil aus (3).

3.7.

Die vorgeschlagene Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), über die seit 20 Jahren debattiert wird, bringt bei richtiger Konzeption und Umsetzung erhebliche Vorteile für Unternehmen und Bürger. Die Befolgungskosten werden sinken und auch die Komplexität für in der EU Handel treibende größere Unternehmen sowie für jene Unternehmen, die sich für diese Variante entscheiden, wird abnehmen. Die GKKB kann wesentlich zur Bekämpfung aggressiver Steuerplanung und zur Wiederherstellung des Vertrauens der Bürger in das Steuersystem beitragen (4).

3.8.

Der EWSA befürwortet eine Reform der EU-Mehrwertsteuer (MwSt.). Aufgrund der fehlenden Einigung in diesem Bereich entgehen dem Fiskus jährlich Mehrwertsteuereinnahmen in Höhe von 147 Mrd. EUR durch Steuerhinterziehung, Steuervermeidung und unzureichende Steuererhebung seitens der Mitgliedstaaten. Das derzeitige MwSt.-System ist stark fragmentiert und sehr komplex und behindert und verzerrt dadurch den Handel und die Investitionen, da es unnötige und übermäßige Verwaltungshemmnisse und Handelsbarrieren für die Unternehmen schafft (5). Der durch Mehrwertsteuerbetrug verursachte Schaden beläuft sich im Moment auf 50 Mrd. EUR jährlich.

3.9.

Die divergierenden Steuerregelungen im Binnenmarkt haben negative Auswirkungen. Die Fragmentierung schwächt die Einheit des Binnenmarkts und verursacht höhere Kosten für die besteuerten Faktoren Arbeit, Einkommen und Verbrauch. Im Grunde genommen werden die Arbeitnehmer und Verbraucher in ganz Europa für den mangelnden Konsens unter den Mitgliedstaaten zur Kasse gebeten. Zudem sind unterschiedliche Steuersysteme ein Hindernis für KMU, die auf dem Binnenmarkt Handel treiben wollen.

3.10.

Der EWSA ist sich bewusst, dass die Steuerpolitik stets eng mit der Souveränität der Mitgliedstaaten zusammenhängt und daher für einige von ihnen von größter Bedeutung ist.

3.11.

Im Rahmen des OECD-Projekts (6) zur Bekämpfung von Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS) wurde das diesbezügliche Volumen vor der Einführung von Maßnahmen zur Bekämpfung von Steuerbetrug auf weltweit 100-240 Mrd. USD veranschlagt (7). Der Wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments hat berechnet, dass sich das entsprechende Volumen für die EU auf 50 bis 70 Mrd. EUR beläuft (8). Das entspricht 0,35 % des BIP der EU.

3.12.

Derzeit hat das Europäische Parlament im Bereich Steuerpolitik lediglich eine beratende Funktion. Sollte der Übergang von der Einstimmigkeit zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit vollzogen werden, könnte das Europäische Parlament künftig eine wichtige Rolle in Steuerfragen spielen.

3.13.

Die Kommission möchte eine Debatte darüber anstoßen, wie die Ausübung der vorab zugewiesenen Zuständigkeiten der EU im Bereich der Besteuerung am besten reformiert werden kann. Der schrittweise Übergang zur vollständigen Anwendung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit soll in spezifischen Politikbereichen stattfinden, die für alle Mitgliedstaaten von besonderem Interesse sind. Mit der Mitteilung versucht die Kommission nicht, neue Zuständigkeiten für die EU zu schaffen. Ziel ist es auch nicht, zu einem System harmonisierter Einkommens- und Körperschaftssteuersätze überzugehen.

3.14.

Steuerwettbewerb führt häufig dazu, dass der Druck auf die öffentlichen Haushalte wächst. In einem solchen Fall wird nicht nur die weitverbreitete Ungleichverteilung verschärft, sondern auch die Nachfrageseite geschwächt und daher die wirtschaftliche Entwicklung geschädigt. Im Zusammenhang mit den Krisen des Euro wurden aufgrund von Haushaltszwängen stringente Sparmaßnahmen ergriffen.

3.15.

Wettbewerbsfähigkeit und Haushaltsstabilität: Darüber hinaus beeinträchtigen klamme öffentliche Haushalte häufig auch die Wettbewerbsfähigkeit, da es kaum Möglichkeiten gibt, künftige Investitionen z. B. in den Bereichen Infrastruktur, Digitalisierung oder Forschung und Entwicklung zu finanzieren. Schließlich gibt es auch Wechselwirkungen zwischen der Haushaltsstabilität und der Finanzmarktstabilität.

3.16.

Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuervermeidung. Der EWSA ist der Auffassung, dass der Europäischen Union in Fragen von globaler Bedeutung eine entscheidende Rolle zukommt. Obwohl einige Mitgliedstaaten in der Vergangenheit den Steuerwettbewerb dazu genutzt haben, interne finanzielle Probleme zu lösen, hat die jüngste Annahme von Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuervermeidung doch deutlich gemacht, dass die Mitgliedstaaten bereit und gewillt sind, einen transparenten und fairen Steuerwettbewerb zu fördern.

3.17.

Die Fiskalpolitik der EU. Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass das europäische Projekt auf der Voraussetzung beruht, dass alle Mitgliedstaaten jederzeit über ausreichende Möglichkeiten zur Mitwirkung am Beschlussfassungsprozess verfügen müssen. Das Hauptziel besteht darin, sowohl für die EU als auch für die einzelnen Mitgliedstaaten günstige Rahmenbedingungen zu schaffen.

3.18.    Steuerplanung und Steuerhinterziehung

3.18.1.

Der EWSA unterstreicht und begrüßt die auf EU-Ebene erzielten Fortschritte bei der Bekämpfung von aggressiver Steuerplanung und Steuerhinterziehung und bei der Verbesserung des Mehrwertsteuersystems. Während der laufenden Amtszeit der Kommission wurden 14 Vorschläge im Steuerbereich angenommen, d. h. mehr als in den letzten 20 Jahren (9). Die Transparenzvorschriften wurden verstärkt, um einen weitaus intensiveren Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über grenzüberschreitende Steuerangelegenheiten von Bürgern und Großunternehmen zu erreichen. Die Mehrwertsteuererhebung wurde durch neue Vorschriften für den Online-Verkauf von Waren und Dienstleistungen sowie durch neue Instrumente der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zur Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs verbessert (10).

3.18.2.

In einigen Bereichen sind keine Fortschritte zu verzeichnen. Der EWSA weist darauf hin, dass es auf europäischer Ebene keine wesentlichen Fortschritte bei der Reform der Unternehmensbesteuerung gab, was vor allem am mangelnden politischen Willen des Rates lag. Außerdem wurden wichtige Vorschläge zur Besteuerung digitaler Dienstleistungen und zur Steuervermeidung aufgrund des Abstimmungssystems, das Einstimmigkeit erfordert, blockiert.

3.18.3.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Steuerpolitik im Allgemeinen und die Bekämpfung von Steuerbetrug für die nächste Europäische Kommission von vorrangiger Bedeutung bleiben müssen. Angesichts der zahlreichen Skandale im Zusammenhang mit Steueroasen (LuxLeaks, Panama Papers, Paradise Papers usw.) und unter Hinweis auf jüngste Schätzungen, die die Steuerhinterziehung in der EU auf etwa 825 Mrd. EUR pro Jahr beziffern (11), spricht sich der EWSA für einen engen zeitlichen Rahmen aus.

3.18.4.

Die besten Ergebnisse im Kampf gegen den grenzüberschreitenden Steuerbetrug können auf EU-Ebene erzielt werden. Der EWSA steht der Tatsache kritisch gegenüber, dass wichtige Legislativvorschläge zu diesem Thema vom Rat blockiert wurden. Aus einer kürzlich durchgeführten Eurobarometer-Umfrage geht hervor, dass drei Viertel der Unionsbürger der Auffassung sind, dass die Bekämpfung des Steuermissbrauchs für Europa Vorrang haben sollte (12).

3.18.5.

Nicht kooperierende Länder und Gebiete. Der EWSA begrüßt, dass die EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke im Dezember 2017 erstmals veröffentlicht wurde und seitdem laufend aktualisiert wird (13). Die von der Europäischen Kommission eingeführte Methode der „Schwarzen Liste“ und der „Grauen Liste“ findet beim EWSA volle Unterstützung (14). Vor dem Hintergrund der „Panama Papers“- und „Paradise Papers“-Skandale hat der EWSA die Mitgliedstaaten bereits aufgefordert, Schlupflöcher für eine aggressive Steuerplanung zu schließen (15). Nicht kooperierende Länder und Gebiete sind eine Bedrohung für den EU-Binnenmarkt (16).

3.19.

Der EWSA unterstreicht, dass hier ein umfassenderer Prozess erforderlich ist, um nach Möglichkeit Fortschritte auf dem Weg zu einer Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit zu erzielen. Dieser Prozess erfordert Zeit und sollte mit anderen politischen Initiativen abgestimmt werden.

3.19.1.

Ein ausreichend starker EU-Haushalt würde Transferzahlungen zum Ausgleich von Schocks oder komparativen Nachteile ermöglichen. Die Hochrangige Gruppe „Eigenmittel“, die eingesetzt wurde, um zu prüfen, „wie die Einnahmenseite des EU-Haushalts einfacher, transparenter, gerechter und demokratisch rechenschaftspflichtig gestaltet werden kann“, betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer europäischen Fiskalpolitik (17).

3.19.2.

Durch eine bessere wirtschaftspolitische Koordinierung könnten aufgrund der unkoordinierten nationalen Steuervorschriften notwendige Ausgleichsmaßnahmen wegfallen. Die EU-Wirtschaft wird durch strukturelle Reformen, gezielte Investitionen, eine faire Besteuerung, faire Handelsabkommen, die Wiederherstellung der Führungsrolle im Innovationsbereich und die Vollendung des Binnenmarkts eine größere Wirksamkeit entfalten können.

3.19.3.

Gleichwohl ist auch die Vollendung des Binnenmarkts von zentraler Bedeutung. Die Regeln des Diskriminierungsverbots und der vier durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten sollten bereits sicherstellen, dass die Bedingungen für einen Binnenmarkt erfüllt sind. Entwicklungen im Bereich der staatlichen Beihilfen und die Zahl der Vertragsverletzungsverfahren haben auch gezeigt, dass der Kommission Mittel zur Korrektur solcher Verzerrungen zur Verfügung stehen. Es wären eingehende Analysen erforderlich, um zu bewerten, inwiefern die derzeitigen steuerpolitischen Maßnahmen ungenügend sind.

Brüssel, den 17. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  COM(2019) 8 final, S. 4.

(2)  Vgl. folgende Stellungnahmen des EWSA: ABl. C 230 vom 14.7.2015, S. 24; ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 18; ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 23; ABl. C 332 vom 8.10.2015, S. 8.

(3)  Euractiv — Time to get rid of EU’s unanimity rule on green fiscal matters.

(4)  Stellungnahme des EWSA: ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 58.

(5)  Stellungnahme des EWSA: ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 40.

(6)  https://www.oecd.org/tax/beps/

(7)  http://www.oecd.org/ctp/oecd-presents-outputs-of-oecd-g20-beps-project-for-discussion-at-g20-finance-ministers-meeting.htm.

(8)  http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-16-160_de.htm.

(9)  Tweet von EU-Kommissar Moscovici vom 13. Februar 2019.

(10)  Stellungnahmen des EWSA: ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 40, ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 35.

(11)  Europäisches Parlament — Bericht über Finanzkriminalität, Steuerhinterziehung und Steuervermeidung.

(12)  Aktuelles. Europäisches Parlament.

(13)  https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-15429-2017-INIT/de/pdf.

(14)  https://www.oxfam.org/en/even-it/full-disclosure-eus-blacklist-tax-havens.

(15)  https://www.eesc.europa.eu/de/node/56888.

(16)  Stellungnahme des EWSA: ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 7.

(17)  Abschlussbericht zur künftigen Finanzierung der EU („Monti Report“), Dezember 2016.


18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/96


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Vierter Bericht zur Lage der Energieunion“

(COM(2019) 175 final)

(2019/C 353/15)

Berichterstatter: Christophe QUAREZ

Befassung

Europäische Kommission, 3.6.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

3.7.2019

Verabschiedung im Plenum

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

183/2/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt den Vierten Bericht zur Lage der Energieunion (im Folgenden: „Vierter Bericht“) zur Kenntnis, unterstützt die Ziele der Energieunion und befürwortet, dass der Akzent auf der Einbindung und Mobilisierung der Gesellschaft der EU liegt, damit sie ihre Rolle im Rahmen der Energieunion umfassend wahrnehmen kann. Er wiederholt seine Vorschläge für einen effektiven Energiedialog mit der organisierten Zivilgesellschaft auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene. Außerdem plädiert er für eine engere Verknüpfung zwischen den künftigen Berichten zur Lage der Energieunion und der für den Zeithorizont 2050 vorgeschlagenen langfristigen strategischen Vision.

1.2.

Der EWSA nimmt mit Befremden die Aussage der Europäischen Kommission zur Kenntnis, dass „die Energieunion Wirklichkeit geworden“ ist. Die Energieunion mag zwar politisch ausformuliert sein, ist aber noch nicht im Alltag der Europäerinnen und Europäer angekommen. Die Europäische Kommission sollte daher die Mitgliedstaaten in die Pflicht nehmen, die Beschlüsse, die sie selbst auf EU-Ebene gefasst haben, auch umzusetzen. Er fordert ferner ein ehrgeizigeres Engagement für die Energiewende und im Klimaschutz.

1.3.

Der EWSA bedauert zugegebenermaßen, dass die nationalen Regierungen immer wieder abweichende Meinungen vertreten und auch zu Hause nicht das umsetzen, auf was sie sich in Brüssel geeinigt haben. Er appelliert an die Europäische Kommission, ihre Befugnisse einschl. ihrer rechtlichen Befugnisse wahrzunehmen, um sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten sich an die EU-Energierechtsvorschriften sowie die Energie- und Klimaziele für 2020 halten. Er fordert die Europäische Kommission auf, zu untersuchen, warum die nationalen Regierungen abweichende Meinnungen vertreten und warum einige Mitgliedstaaten ihre Energie- und Klimaziele verfehlen werden.

1.4.

Der EWSA bedauert, dass die Europäische Kommission den Vierten Bericht nicht gebührend genutzt hat, um das Fehlen deutlicher Fortschritte bei vier ihrer Prioritäten für die Energieunion herauszustellen: die Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt stellen, die Energieimporte reduzieren, weltweit die Nummer eins bei den erneuerbaren Energien werden und neue Arbeitsplätze im Bereich der sauberen Energien schaffen.

1.5.

Der EWSA bekräftigt, dass Europa einen „Sozialpakt für eine bürgergetriebene Energiewende“ benötigt, der zwischen der EU, den Mitgliedstaaten, den Regionen, den Städten, den Sozialpartnern und der organisierten Zivilgesellschaft vereinbart werden muss, um sicherzustellen, dass beim Übergang niemand zurückgelassen wird. Er sollte die sechste Dimension der Energieunion werden und alle sozialen Aspekte umfassen, darunter die Schaffung von guten Arbeitsplätzen, Berufsbildung, Verbrauchererziehung und -schulung, Sozialschutz, spezifische Pläne für Strukturwandelregionen, in denen Arbeitsplätze verloren gehen, Gesundheitsschutz und Energiearmut. Die Initiative sollte Teil der europäischen Säule sozialer Rechte sein.

1.6.

Der EWSA begrüßt die Einrichtung der Beobachtungsstelle für Energiearmut als einen ersten Schritt hin zur Aufstellung eines europäischen Aktionsplans zur Beseitigung der Energiearmut in Europa. In diesem Zusammenhang können Sozialtarife oder Energieschecks nur eine vorübergehende Entlastung darstellen, an deren Stelle nach und nach öffentliche Zuschüsse treten sollten, um von Armut betroffenen Unionsbürgern den Zugang zu strukturellen Lösungen wie umfassenden Gebäudesanierungen zu erleichtern.

1.7.

Der EWSA bedauert, dass der Bewertung der Energieabhängigkeit der EU und den damit verbundenen geopolitischen Auswirkungen keine ausreichende Aufmerksamkeit zuteil geworden ist. U a. sollte aber überwacht werden, wie sich die Abhängigkeit der EU entwickelt, die durch importierte Energie (bspw. Erdöl, Erdgas, Kohle und Uran) sowie importierte Energiewendeprodukte (bspw. Batterien, Solarpaneele) und durch ausländische Investitionen in strategisch wichtige Energievermögenswerte und Energieunternehmen der EU bedingt ist (bspw. erwerben US-Unternehmen wichtige Segmente der Wertschöpfungskette für thermische Energie, chinesische Unternehmen kaufen Stromversorgungsunternehmen auf, und Russland investiert in den Energiesektor einiger Länder).

1.8.

In Anbetracht des überragenden politischen Stellenwerts der Klimaschutzproblematik in der öffentlichen Wahrnehmung wie auch in parteipolitischen Programmen fordert der EWSA die neue Europäische Kommission auf, der Bekämpfung des Klimawandels in ihrer Amtszeit 2019-2024 höchste Priorität einzuräumen. Diese Priorität sollte in der Organisation der Europäischen Kommission sichtbar gemacht werden, indem der Erste Vizepräsident die Zuständigkeit für Klimapolitik erhält.

2.   Hintergrund und Betrachtungen zu früheren Empfehlungen des EWSA

2.1.

Die Ziele der Energieunion und eine ehrgeizigere Klima- und Energiepolitik stoßen auf eine breite und immer weiter zunehmende öffentliche Akzeptanz in der EU. Bei jüngeren Eurobarometer-Erhebungen (1) gaben ca. 80 % der Befragten an, dass sie den Klimawandel für ein sehr ernstes Problem halten, und vertraten die Auffassung, dass Klimaschutz und effizientere Energienutzung die EU-Wirtschaft stimulieren und Arbeitsplätze schaffen können. Dieses Engagement für Klimaschutz hat auch in der Jugendbewegung #FridaysForFuture Gestalt angenommen.

2.2.

Der EWSA nimmt die zunehmende Unterstützung der Ziele der Energieunion durch die europäischen Unternehmen innerhalb und außerhalb des Energiesektors zu Kenntnis, bspw. durch Eurelectic oder B team.

2.3.

Immer mehr Sachverständige und Wissenschaftler gelangen zu dem Schluss, dass die Umstellung auf eine klimaneutrale Wirtschaftsweise für die EU-Wirtschaft von Vorteil sein kann. Die Europäische Kommission hat ihre im November 2018 vorgelegte strategische, langfristige Vision auf einschlägige Erkenntnisse gestützt (2).

2.4.

Der EWSA bedauert indes, dass die nationalen Regierungen immer wieder abweichende Meinungen vertreten und auch zu Hause nicht das umsetzen, auf was sie sich in Brüssel geeinigt haben. Er appelliert an die Europäische Kommission, ihre Befugnisse einschl. ihrer rechtlichen Befugnisse wahrzunehmen, um sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten sich an die EU-Energierechtsvorschriften sowie die Energie- und Klimaziele für 2020 halten. Er fordert die Europäische Kommission auf, zu untersuchen, warum die nationalen Regierungen abweichende Meinnungen vertreten und warum einige Mitgliedstaaten ihre Energie- und Klimaziele verfehlen werden.

2.5.

Der EWSA begrüßt die in den letzten Jahren eingeleiteten, im Vierten Bericht genannten Initiativen, u. a. zur Förderung der EU-Inseln, der Kohleregionen und der Batterieindustrie sowie zur Bekämpfung von Energiearmut. All diese Initiativen sind wesentliche Voraussetzung für eine integrierte Industriepolitik, die eine sozial gerechte Energiewende unterstützen kann, die die Schaffung guter Arbeitsplätze fördert. Sie sollten als eine Gelegenheit für die Industrie gesehen werden, Europas Problemlösungsfähigkeit unter Beweis zu stellen.

2.6.

Der EWSA hat wiederholt festgestellt, dass die Energieunion europäischen Unternehmen stabile und günstige Rahmenbedingungen bieten muss, um Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu fördern, wobei insbesondere das Potenzial der KMU zu berücksichtigen ist. Er begrüßt deshalb das Inkrafttreten der Verordnung über das Governance-System der Energieunion und fordert die Zivilgesellschaft auf, eine aktivere Rolle zu übernehmen, um eine angemessene Umsetzung dieser Verordnung zu gewährleisten.

2.7.

Der EWSA begrüßt ebenfalls den von der Europäischen Kommission im Januar 2019 vorgelegten Bericht „Energiepreise und Energiekosten in Europa“, aus dem klar ersichtlich wird, dass die jüngsten Energiepreissteigerungen im Wesentlichen durch Preissteigerungen bei fossilen Brennstoffen bedingt sind, die zu einem Anstieg der Einfuhrkosten der EU für fossile Brennstoffe von 26 % zwischen 2016 und 2017 auf insgesamt 266 Mrd. EUR führten. Er fordert transparentere Informationen über Subventionen für fossile Brennstoffe und die Unterschiede bei den Energiepreisen innerhalb der Europäischen Union, die u. a. auf die unterschiedlich hohen nationalen Verbrauchsteuern und Abgaben für Energie zurückgehen.

2.8.

Der EWSA hatte sich dafür ausgesprochen, im Vierten Bericht die soziale Dimension in die Bewertungskriterien aufzunehmen. Daher begrüßt er nachdrücklich die von der Europäischen Kommission eingeleiteten sozialen Initiativen, u. a. im Zusammenhang mit CO2-intensiven Regionen und Energiearmut, sowie den eigenen Unterabschnitt zur sozialen Dimension der Energieunion.

2.9.

Der EWSA hat stets die Verfügbarkeit erschwinglicher Energie und den physischen Zugang dazu als entscheidende Voraussetzung für die Vermeidung von Energiearmut betrachtet. Daher begrüßt er die Einrichtung der Beobachtungsstelle für Energiearmut als einen ersten Schritt hin zur Aufstellung eines europäischen Aktionsplans zur Beseitigung der Energiearmut in Europa. Er fordert die Europäische Kommission auf, das Mandat und die Ressourcen der Beobachtungsstelle auszuweiten, sodass sie sich gezielt mit den Auswirkungen der Energiearmut auf die Möglichkeit, angemessen zu heizen oder zu kühlen, sowie auf die Mobilität befassen kann.

2.10.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Energiewende keine wesentlich höheren Investitionen erfordert als die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen, auf vornehmlich eingeführten, ineffizient genutzten fossilen Brennstoffen basierenden Energiesystems. Die zentrale Herausforderung besteht darin, Kapital umzuverteilen und von kohlenstoffintensiven auf emissionsneutrale Anlagen und Infrastrukturen zu übertragen.

2.11.

Zur Unterstützung der privaten Investoren bei dieser Kapitalumschichtung sollten die öffentlichen Behörden wirksame und vorhersehbare Kohlenstoffpreise für alle wirtschaftlichen Tätigkeiten gewährleisten und sämtliche Beihilfen für fossile Brennstoffe auslaufen lassen. Denkbar wäre beispielsweise ein Kohlenstoffmindestpreis im EHS in Verbindung mit der Harmonisierung der Energiesteuern. Der EWSA befürwortet deshalb nachdrücklich den Vorschlag der Europäischen Kommission, Beschlüsse über eine Harmonisierung der Energiesteuern mit qualifizierter Mehrheit anstatt Einstimmigkeit zu fassen, um zu vermeiden, dass eine einzige nationale Regierung Fortschritte der Europäischen Union behindern kann. Als erstes könnte eine solche Harmonisierung im Luftverkehrssektor stattfinden.

3.   Bemerkungen zum Vierten Bericht zur Lage der Energieunion und zu Folgemaßnahmen

3.1.    Eine starke und demokratische Governance für Europas Energiewende schaffen

3.1.1.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die EU und die meisten ihrer Mitgliedstaaten die Gestaltung der Energiepolitik weiter demokratisieren müssen. So können sie die effiziente Nutzung von Instrumenten wie Deliberationsforen und Europäischen Bürgerinitiativen fördern und die systemische Einbindung der organisierten Zivilgesellschaft sicherstellen. Ein verstärkt dezentral organisiertes Energiesystem, in dem lokale Energiegemeinschaften eine größere Rolle spielen, kann einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung und eigenverantwortlichen Mitgestaltung der europäischen Energiewende leisten.

3.1.2.

Um stabile und günstige wirtschaftliche Rahmenbedingungen für die europäischen Unternehmen, insbesondere KMU, zu schaffen, sollten die EU und alle ihre Mitgliedstaaten langfristige Energiepläne zur Erreichung des im Übereinkommen von Paris vereinbarten Ziels der Klimaneutralität ausarbeiten. Der EWSA fordert deswegen die EU auf, sich das Ziel zu setzen, bis 2050 den Wandel hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft zu vollziehen. Sektorspezifische und regionale Dekarbonisierungsstrategien sollten demnächst ausgearbeitet werden, um Geschäftsmöglichkeiten und Chancen auf lokaler Ebene zu ermitteln sowie die Gewinne und Verluste an Arbeitsplätzen vorauszusehen und so einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten.

3.1.3.

Der EWSA äußert sich kritisch zu verschiedenen diffusen Versprechen der Politik. Bspw. bedauert er, dass die Europäische Kommission nie klargestellt hat, wie ihre Ambition, „dass die Europäische Union weltweit die Nummer eins bei den erneuerbaren Energien wird“, konkretisiert werden soll.

3.1.4.

Der EWSA begrüßt die Initiativen zur Unterstützung der CO2-intensiven Regionen und der Inseln bei ihrer Umstellung ihres Energiesystems. Er fordert erneut die Europäische Kommission auf, gemeinsam mit allen Mitgliedstaaten und Regionen eine Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen der einzelnen europäischen Regionen im Hinblick auf die Energiewende vorzunehmen. Diese kann dann in ihre Industriestrategien sowie ihre Strategien für eine intelligente Spezialisierung einfließen und ihnen auch die Folgenabschätzung hinsichtlich der durch den Wandel bedingten Schaffung, Verluste und Umgestaltung von Arbeitsplätzen erleichtern (3).

3.1.5.

Nach Meinung des EWSA erfordert eine starke und demokratische Governance der Energieunion die Schaffung eines „Europäischen Energieinformationsdienstes“ innerhalb der Europäischen Umweltagentur, der imstande wäre, die Qualität der von den Mitgliedstaaten übermittelten Daten zu gewährleisten, eine zentrale Eingangsstelle für alle zur Bewertung des Fortschritts der Energieunion erforderlichen Daten zu entwickeln, mit den Interessenträgern die Annahmen für die verschiedenen Szenarien auszuarbeiten, Open-Source-Modelle zum Prüfen der verschiedenen Annahmen bereitzustellen und die Kohärenz zwischen den verschiedenen Projektionen zu prüfen. Seine Arbeit sollte allen Entscheidungsträgern, den Unternehmen und der Öffentlichkeit ohne Einschränkung zur Verfügung stehen.

3.2.    Gemeinsame Abfassung eines Sozialpakts für eine bürgergetriebene Energiewende

3.2.1.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich die von der Europäischen Kommission getroffene Feststellung: „Die sozialen Auswirkungen dieser [durch die Energiewende bedingten] Veränderungen müssen bereits von Anfang an Teil des politischen Prozesses sein und dürfen nicht erst im Nachhinein berücksichtigt werden.“ Er fordert die Europäische Kommission auf, diesen Worten Taten folgen zu lassen, und ist bereit, sie darin zu unterstützen und seine Sachkenntnis einzubringen.

3.2.2.

Der EWSA bekräftigt, dass Europa einen „Sozialpakt für eine bürgergetriebene Energiewende“ benötigt, der zwischen der EU, den Mitgliedstaaten, den Regionen, den Städten, den Sozialpartnern und der organisierten Zivilgesellschaft vereinbart werden muss, um sicherzustellen, dass beim Übergang niemand zurückgelassen wird. Er sollte die sechste Dimension der Energieunion werden und alle sozialen Aspekte umfassen, darunter die Schaffung von guten Arbeitsplätzen, Berufsbildung, Verbrauchererziehung und -schulung, Sozialschutz, spezifische Pläne für Strukturwandelregionen, in denen Arbeitsplätze verloren gehen, Gesundheitsschutz und Energiearmut. Die Initiative sollte Teil der europäischen Säule sozialer Rechte sein. Ein solcher Pakt könnte auf nationalen Erfahrungen aufbauen, bspw. dem französischen „Pacte pour le pouvoir de vivre“, der von einem Bündnis aus 19 Gewerkschaften und NGOs getragen wird.

3.2.2.1.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Europäische Union angemessene Finanzmittel zur Verfügung stellen muss, um Arbeitnehmer zu unterstützen, die Gefahr laufen, ihren Arbeitsplatz infolge des Übergangs zu einer klimaneutralen Wirtschaft zu verlieren. Zu diesem Zweck und unter Berücksichtigung der Erfahrungen der Plattform für Kohleregionen im Wandel fordert der EWSA die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union auf, dafür zu sorgen, dass der Europäische Sozialfonds, die Regionalfonds und der Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung so konzipiert und finanziert werden, dass den Herausforderungen des Übergangs zu einer klimaneutralen Wirtschaft entsprochen werden kann. Hierdurch würde Europa seinen festen Willen bekunden, dass niemand zurückgelassen werden soll.

3.2.3.

Der EWSA würde eine Entwicklung der Energieunion begrüßen, die es ermöglicht, die Energiearmut in Europa zu beseitigen und die Lebensqualität, die Beschäftigungslage und die soziale Inklusion zu verbessern. Auf der Grundlage der Befunde der Europäischen Beobachtungsstelle für Energiearmut und des neu erhobenen Europäischen Energiearmuts-Indexes sollte in Zusammenarbeit mit den Interessenträgern, einschließlich der Verbraucherorganisationen und NGOs, die sich wie das Europäische Netz gegen Armut für Armutsbekämpfung einsetzen, ein europäischer Aktionsplan zur Beseitigung der Energiearmut ausgearbeitet werden, um sicherzustellen, dass das öffentliche Handeln zunehmend die der Energiearmut zugrunde liegenden Ursachen ins Visier nimmt. Der EWSA verweist auf die Feststellung in seiner Stellungnahme zum Thema „Saubere Energie für alle Europäer“ (4), dass Energiearmut investitionsabhängig ist und insbesondere die gefährdeten Haushalte Schwierigkeiten beim Zugang zu Finanzierung haben, und betont, dass schrittweise Linderungsmaßnahmen von Vorbeugungsmaßnahmen abgelöst und so zum Beispiel alte Gebäude saniert und in Netto-Nullenergiegebäude umgebaut werden sollten. In diesem Zusammenhang können Sozialtarife oder Energieschecks nur eine vorübergehende Entlastung darstellen, an deren Stelle nach und nach öffentliche Zuschüsse treten sollten, um von Armut betroffenen Unionsbürgern den Zugang zu strukturellen Lösungen wie umfassenden Gebäudesanierungen zu erleichtern.

3.2.3.1.

Der EWSA sieht den Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft als Gelegenheit, um mehr Arbeitsplätze in Europa zu schaffen. Der Europäischen Kommission zufolge gibt es in der EU bereits mehr als 4 Mio. „grüne Arbeitsplätze“. Durch die Beschleunigung der Energiewende werden noch mehr Arbeitsplätze entstehen, zumal im Rahmen lokaler Energiegemeinschaften. Nach Meinung des EWSA sind gezielte Berufsbildungsanstrengungen erforderlich, um Energiewende-Arbeitsplätze für junge Menschen in Europa, auch arbeitslose Jugendliche, attraktiv zu machen. Er fordert die Europäische Kommission daher auf, über das ErasmusPro-Programm mehr junge Menschen für die Wachstumsbranchen der klimaneutralen Wirtschaft (z. B. Energieeffizienz, Erzeugung erneuerbarer Energie) zu begeistern und dazu das Image und die Arbeitsbedingungen dieser Tätigkeitsfelder zu verbessern.

3.2.4.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die EU und all ihre Mitgliedstaaten die Bekämpfung der Luftverunreinigung zu einer hohen politischen Priorität machen sollten. Regulierungsmaßnahmen zur Verringerung der Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen und Kraftwerken sollten verstärkt werden, und es sollten Maßnahmen ergriffen werden, um letztendlich den Einsatz von fossilen Energieträgern im Verkehrssektor und zur Stromerzeugung stufenweise zu beenden. Er fordert die Europäische Kommission ferner auf, in einem nächsten Bericht eine eingehende Analyse der Faktoren, die zur Schaffung grüner Arbeitsplätze beitragen, und der zu überwindenden Hemmnisse vorzulegen.

3.2.5.

Der EWSA begrüßt, dass im Vierten Bericht ausführlichere Informationen über die Nutzung der EU-Finanzierungsinstrumente, insbesondere der Fazilität „Connecting Europe“, erteilt werden. Er weist jedoch darauf hin, dass die Möglichkeiten der KMU, der Bürger, der lokalen Energiegemeinschaften sowie der gemeinschaftlichen Projekte für den Zugang zu diesen Ressourcen verbessert werden müssen (z. B. durch die Förderung von Finanzplattformen, insbesondere in den Mitgliedstaaten, in denen es keine derartigen Dienste gibt). Der EWSA möchte sich in einer separaten Sondierungsstellungnahme oder einem separaten Informationsbericht ausführlicher mit der sozialen Dimension der Energiewende auseinandersetzen.

3.3.    Verkehr

Der EWSA merkt an, dass ein Drittel des Energieverbrauchs der EU auf den Verkehrssektor entfällt. Die Emissionen in der EU gehen insgesamt zurück, nicht aber ihre verkehrsbedingten Emissionen. Zudem ist der Verkehr immer noch fast vollständig (zu 94 %) von — größtenteils importiertem — Erdöl abhängig.

3.3.1.

Der EWSA begrüßt die Verabschiedung des Legislativpakets „Saubere Mobilität“ als einen ersten Schritt hin zur Mobilitätswende. Er begrüßt die Förderung der Elektrifizierung, bekräftigt jedoch, dass dies nicht ausreicht und beispiellose Anstrengungen erforderlich sind, um die Energieeffizienz zu verbessern und unnötige Mobilität — bspw. aufgrund großer Entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsort — zu vermeiden.

3.3.2.

Der EWSA hätte EU-weite Maßnahmen befürwortet, um zu verhindern, dass Fahrzeughalter mit niedrigem Einkommen mit umweltschädlichen Fahrzeugen, die aus immer mehr städtischen Gebieten ausgesperrt werden, ausgegrenzt werden. Denkbar wären Maßnahmen im Rahmen der Städteagenda sowie die Förderung von Fuß- und Radverkehr, öffentlichem Verkehr oder einer kostengünstigen Nach- oder Umrüstung der Antriebe bereits zugelassener Fahrzeuge von fossil auf emissionsfrei.

3.3.3.

Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass im Vierten Bericht der wichtigen Rolle der Europäischen Batterie-Allianz Rechnung getragen wird. Er unterstützt diese Initiative, die zum Ziel hat, dass die EU eine ambitionierte Rolle auf dem globalen Markt übernimmt (5).

3.4.    Infrastruktur, Investitionen und Industrieentwicklung für die Energiewende

3.4.1.

Die Energiewende wirkt sich umfassend auf sämtliche Bereiche der Wirtschaft aus, ganz besonders auf die Energieversorger, die energieintensiven Branchen und die Branchen, die Energielösungen anbieten. Ihr radikaler Umbau erfordert Investitionen in Höhe von Hunderten Milliarden Euro. Die betreffenden Unternehmen, Energiegenossenschaften und Bürger stehen vor Risiken, Herausforderungen und Chancen, und der EU kommt eine entscheidende Rolle dabei zu, sie bei der Wahrnehmung der Chancen, der Bewältigung der Herausforderungen und der Eindämmung der Risiken zu unterstützen.

3.4.2.

Der EWSA bedauert, dass der Bewertung der Energieabhängigkeit der EU und den damit verbundenen geopolitischen Auswirkungen keine ausreichende Aufmerksamkeit zuteil geworden ist. U. a. sollte aber überwacht werden, wie sich die Abhängigkeit der EU entwickelt, die durch importierte Energie (bspw. Erdöl, Erdgas, Kohle und Uran) sowie importierte Energiewendeprodukte (bspw. Batterien, Solarpaneele) und durch ausländische Investitionen in strategisch wichtige Energievermögenswerte und Energieunternehmen der EU bedingt ist (bspw. erwerben US-Unternehmen wichtige Segmente der Wertschöpfungskette für thermische Energie, chinesische Unternehmen kaufen Stromversorgungsunternehmen auf, und Russland investiert in den Energiesektor einiger Länder).

3.4.3.

Nach Meinung des EWSA sollte die EU sich in allen Bereichen der sauberen Energie ehrgeizigere Ziele setzen, um einen gesunden Binnenmarkt für die europäischen Unternehmen zu schaffen, in dem Innovationen umgesetzt werden können, und sie sollte eine integrierte Industriestrategie ausarbeiten, die darauf ausgerichtet ist, Lösungen für saubere Energie zu exportieren.

3.4.4.

Der EWSA bedauert, dass die öffentlichen Investitionen (der Mitgliedstaaten und der EU) in die Forschungs- und Innovationsprioritäten der Energieunion auf einem Niveau von 5 Mrd. EUR jährlich stagnieren, obwohl Energieforschung und -innovation eine entscheidende Voraussetzung für die Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit der EU und die Eindämmung des Klimawandels in Europa sind. Er fordert die Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission auf, hierzu weitere Daten sowohl in absoluten Zahlen als auch in Prozent des EU-BIP vorzulegen.

3.4.5.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich das Pilotprojekt des Europäischen Innovationsrates und den Vorschlag, Forschungs- und Innovationsaufträge zu lancieren, um Forschung und Innovation besser auf Projekte auszurichten, mit denen die gesellschaftlichen Herausforderungen, darunter der Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft, wirksam angegangen werden. In diesem Sinne fordert der EWSA die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union auf, einen spezifischen Auftrag vorzuschlagen, um 100 europäische Städte bis 2030 klimaneutral zu machen. Forscher, Innovatoren und Unternehmen in der EU erhalten dadurch umfangreiche Gelegenheit, Innovationen mitzugestalten und zu testen, aus Erfahrungen zu lernen und sich besser auf eine rasche Energiewende in Europa und weltweit einzustellen.

4.   Einbeziehung der Zivilgesellschaft und Beitrag des EWSA

4.1.

Der EWSA ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Energieunion zwar politisch ausformuliert sein mag, aber noch nicht im Alltag der Europäerinnen und Europäer angekommen ist. Die politischen Entscheidungsträger der EU haben zwischen 2015 und 2019 begrüßenswerterweise die Weichenstellungen für die Energieunion vorgenommen, indes bleibt in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch viel zu tun.

4.2.

Der Umbau des europäischen Energiesystems wird nämlich zügiger, kostengünstiger und demokratischer vonstattengehen, wenn er von Bürgerinnen und Bürgern angetrieben wird, die immer mehr zu aktiven Verbrauchern, Prosumern, Mitarbeitern, Crowdsourcern und Crowdfundern der Energiewende werden. Die Europäische Union sollte danach streben, dass die Energiepolitik, auch auf nationaler Ebene, nicht von wenigen Entscheidungsträgern abhängt, sondern tatsächlich durch das Zutun aller angetrieben wird. Angesichts des wachsenden Klimabewusstseins der Öffentlichkeit und insbesondere der jungen Menschen in Europa ist dieses Unterfangen realistischer als je zuvor.

4.3.

Der EWSA bedauert das Fehlen konkreter Vorschläge für eine bessere Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen und der Bürgerinnen und Bürger. Die Besuchsreisen zur Förderung der Energieunion sind positiv zu bewerten. Er fordert die Europäische Kommission auf, verstärkt mit Entscheidungsträgern und Interessenträgern zusammenzuarbeiten und sich insbesondere mit den nationalen und regionalen Wirtschafts- und Sozialräten und der organisierten Zivilgesellschaft zusammenzutun, um gemeinsam alle Europäer mit sauberer Energie zu versorgen.

4.4.

Der EWSA schlägt unter Verweis auf die in der Verordnung über das Governance-System der Energieunion zur Verfügung stehenden Instrumente vor, einen ständigen Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern einzurichten und diesen zu einem obligatorischen Teil der Vorbereitung für alle wichtigen politischen Entscheidungen und klimaschutzrelevanten EU-Rechtsvorschriften zu machen. Transparenz und Rechenschaftspflicht sollten wesentliche Elemente eines solchen Dialogs sein, was bedeutet, dass die Beiträge zu Dialogen öffentlich zugänglich sein sollten und dass klare Informationen zu der Frage bereitgestellt werden, wie während des Dialogs geäußerte Anliegen berücksichtigt wurden. Entscheidend für den Erfolg eines solchen Dialogs ist, dass er als bürgernah erfahren wird. Auch wenn ein Dialog über das Internet sinnvoll sein könnte, reicht er jedoch nicht aus, sondern er muss durch Versammlungen und direkte Kontakte mit der Öffentlichkeit ergänzt werden. Daher ist es notwendig, dass der Dialog offen stattfindet, dass angemessene finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung stehen und dass ihm ein eigenes Gesicht gegeben wird, etwa in Form eines Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, eines Kommissionsmitglieds oder einer anderen hochrangigen Persönlichkeit.

4.5.

Der EWSA möchte aktiv zur weiteren Entwicklung der Synergien und der Zusammenarbeit zwischen den Institutionen auf EU-Ebene, der organisierten Zivilgesellschaft sowie den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften und ihren Einrichtungen beitragen, die für die Ziele der Energieunion von Bedeutung sind. Die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften können dank ihrer Bürgernähe und ihrer Kenntnis der jeweiligen örtlichen Gegebenheiten eine Schlüsselrolle bei der effizienten Anpassung und Umsetzung der Energiepolitik spielen. Sie repräsentieren eine wesentliche Entscheidungsebene in Sektoren wie Verkehr, Stadtplanung, Gebäude und Gemeinwohl, weshalb sie äußerst wichtig für koordinierte Maßnahmen zur Förderung der Energieeffizienz und erneuerbarer Energiequellen sind.

Brüssel, den 17. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Spezial-Eurobarometer 459 „Klimawandel“, März 2017.

(2)  COM(2018) 773 final.

(3)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 1.

(4)  ABl. C 246 vom 28.7.2017, S. 64.

(5)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 1.


18.10.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 353/102


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank zur Umsetzung des strategischen Aktionsplans für Batterien: Aufbau einer strategischen Wertschöpfungskette für Batterien“

(COM(2019) 176 final)

(2019/C 353/16)

Berichterstatter: Colin LUSTENHOUWER

Befassung

Europäische Kommission, 3.6.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

3.7.2019

Verabschiedung im Plenum

17.7.2019

Plenartagung Nr.

545

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

189/1/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

In ihrem ersten Fortschrittsbericht über die Umsetzung des strategischen Aktionsplans für Batterien weist die Europäische Kommission darauf hin, dass bereits zahlreiche Maßnahmen eingeleitet wurden, um eine leistungsfähige Batterieindustrie in der EU aufzubauen.

1.2.

Auch wenn es für endgültige Schlussfolgerungen noch zu früh ist, unterstützt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Initiativen, die die Kommission bereits eingeleitet hat bzw. noch einzuleiten gedenkt, um gemeinsam mit den Mitgliedstaaten und der europäischen Industrie die Abhängigkeit von außereuropäischen (insbesondere asiatischen) Ländern zu verringern.

1.3.

Auf absehbare Zeit bleibt noch viel zu tun, um in der EU das technologische Wissen auf den notwendigen Stand zu bringen, die Versorgung mit wichtigen Rohstoffen aus Drittländern und der EU zu sichern und eine sichere und umweltfreundliche Wiederverwertung von Batterien zu gewährleisten.

1.4.

Dabei sind Staat und Wirtschaft gemeinsam dafür verantwortlich, dass die benötigten Investitionen in die Aus- und Weiterbildung der Arbeitskräfte vorgenommen werden.

2.   Einleitung

A.

Im Mai 2018 legte die Europäische Kommission ihre Mitteilung „Europa in Bewegung“ (1) vor, in der sie ihre Politik im Hinblick auf eine nachhaltige Mobilität für Europa erläutert, die sicher, vernetzt und umweltfreundlich sein sollte.

2.1.

Diese Politik ist Teil der von der Juncker-Kommission lancierten „Europäischen Energieunion“, eines umfassenden integrierten Rahmens, in dem die Klimapolitik in die Energiepolitik einbezogen und durch eine gezielte Industriepolitik ergänzt wird, um auf diese Weise die Ziele des Übereinkommens von Paris zu erreichen. Bei diesen Zielen geht es vor allem darum, die CO2-Emissionen zu verringern, die in Europa durch die Energieerzeugung auf Grundlage fossiler Brennstoffe (2) sowie durch Verkehrsmittel wie zum Beispiel Lkw und Pkw verursacht werden, die für ihre Verbrennungsmotoren ebenfalls fossile Brennstoffe (Benzin, Gas) benötigen.

2.2.

Im Rahmen des Pakets „Europa in Bewegung“ stellte die Kommission einen spezifischen Aktionsplan zur Entwicklung und Herstellung von Batterien auf. Zu diesem Zweck fügte sie der oben genannten Mitteilung als gesonderten Anhang einen „Strategischen Aktionsplan für Batterien“ bei.

B.

Wozu dieser spezifische Aktionsplan für Batterien?

2.3.

Batterien sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. In unseren Handys, unserem PC oder Tablet, in Haushaltsgeräten und nicht zuletzt auch in Elektrofahrzeugen sind Batterien unverzichtbare Bestandteile für eine gute, sichere und möglichst lange Lebensdauer dieser Geräte. Gleichzeitig ist die Lebensdauer der Batterie immer noch (zu) begrenzt. Innerhalb dieser Produktgruppen konzentriert sich die Politik der Kommission, wie im Aktionsplan dargelegt, hauptsächlich auf die Entwicklung von Batterien für Elektrofahrzeuge, aber auch auf andere Aspekte wie die Zweitnutzung und das Recycling von Batterien (3).

2.4.

Batteriesysteme eignen sich gut für die Energiespeicherung in kleinem Maßstab. In großem Maßstab jedoch — z. B. mit Blick auf die in Offshore-Windparks erzeugte Energie — scheint die Energiespeicherung mit Batterien kaum möglich zu sein. Um Energie in großen Mengen speichern zu können, werden andere Energieträger wie Wasserstoff und Ammoniak herangezogen werden müssen (4). Auch auf diesem Gebiet unterstützt die Kommission durch Mittel aus dem Programm Horizont 2020 zahlreiche Initiativen wie zum Beispiel die „Strom zu Gas“-Technologie (5). In diesem Sinne wird auch der technologischen Entwicklung effizienter und sicherer Methoden zur Einspeisung der gespeicherten Energie in die Hochspannungsnetze große Aufmerksamkeit gewidmet, um so die enormen Kosten der „Steckdosen im Meer“ zu vermeiden. Auch der hohe Netzverlust, der bislang beim Einsatz von Hochspannungskabeln im oder auf dem Meeresboden zwischen den Offshore-Windparks und dem Festland auftritt, könnte damit vermieden werden, was bei einer nachhaltigen Offshore-Energieerzeugung zu Effizienzgewinnen von 10-15 % führen könnte.

2.5.

Man geht davon aus, dass Batterien etwa 40-50 % der Kosten eines Elektrofahrzeugs ausmachen werden, doch bereits jetzt ist absehbar, dass diese Kosten sinken könnten. Im Zuge der rasanten Entwicklung der Elektromobilität (6) kommt der Verfügbarkeit guter, sicherer und umweltfreundlicher Batterien eine besondere Bedeutung zu. Für die europäische Industrie könnte hier ein gigantischer Markt entstehen, der nach Angaben der Kommission bis 2025 ein Volumen von 400 GWh bzw. 250 Mrd. EUR erreichen könnte. Nicht nur mit Blick auf die Klimaschutzziele, sondern auch unter wirtschaftlichen und beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten zeichnen sich hier Chancen für Europa ab. Kommissionsmitglied Bieńkowska meinte dazu unlängst: „Wir gehen von einer starken Batterieindustrie in der EU aus, die einen Beitrag zur Kreislaufwirtschaft und zur sauberen Mobilität leistet.“

2.6.

Aber machen wir uns nichts vor: Bei der Entwicklung (FuE) und Produktion von Batterien hinkt Europa erschreckend weit hinter den asiatischen Ländern und Unternehmen her. Etwa 85 % aller Batterien, die wir in Europa verwenden, stammen aus China, Japan oder Korea. Kümmerliche 3 % der Weltproduktion entfallen auf Europa, während die USA mit etwa 15 % zu Buche schlägt. Wir sind also vollständig von den asiatischen Produktionskapazitäten abhängig, wenn wir die Mobilitätswende in Europa vollziehen und den Verkehr von fossilen Brennstoffen auf Elektroantrieb umstellen wollen.

2.7.

Erschwerend kommt hinzu, dass die für die Herstellung von Batterien benötigten Rohstoffe wie Lithium, Nickel, Mangan und Kobalt in Europa bislang trotz durchaus vorhandener Vorkommen nur in begrenztem Umfang abgebaut werden. Die Erschließung dieser Vorkommen in Europa wird notwendig sein, auch wenn dadurch nach heutigem Kenntnisstand wahrscheinlich nur etwa 15-20 % des Gesamtbedarfs gedeckt werden können. Die benötigten Rohstoffe werden auch in Lateinamerika, Afrika und Asien gewonnen, wo die Chinesen im Übrigen große Bergbauunternehmen gegründet haben sollen, um sich auf diese Weise einen ungehinderten Zugang zu diesen Rohstoffen zu sichern (7). Darüber hinaus werden auch die aus Europa stammenden Mineralien meist in China be- und verarbeitet.

2.8.

Die Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen ist energieintensiv und verursacht große Mengen an Bergbauabfällen, darunter mitunter auch gefährliche Abfälle.

2.9.

Europa dagegen steht vor dem Problem des Umgangs mit Altbatterien. Angesichts der großen Menge, um die es hier geht, haben wir es mit einem neuen, besorgniserregenden Abfallproblem zu tun, zumal auch die Wiederverwertung von Materialien aus Batterien noch in den Kinderschuhen steckt. Derzeit werden lediglich 10 % der Materialien aus Batterien zurückgewonnen. Im Hinblick auf die Bearbeitung/Rückgewinnung muss daher noch ein erhebliches Potenzial erschlossen werden.

3.   Der Fortschrittsbericht 2019

3.1.

In seiner Stellungnahme vom 17. Oktober 2018 (8) unterstützte der EWSA die Vorschläge der Kommission für einen nachhaltigeren Verkehr und den strategischen Aktionsplan für Batterien. Gleichzeitig wies der Ausschuss darauf hin, dass zahlreiche Faktoren die Umsetzung des Plans behindern könnten, so z. B die Abhängigkeit von Rohstoffen aus Drittländern, der Mangel an alternativen Kraftstoffen, Probleme bei der Steuerung der Weiterverwertung, Verarbeitung und Entsorgung von Altbatterien und der Mangel an qualifizierten Fachkräften.

3.2.

Am 9. April 2019 legte die Kommission den ersten Fortschrittsbericht zum „Strategischen Aktionsplan für Batterien“ vom Mai 2018 vor. Aus diesem Fortschrittsbericht geht hervor, dass zahlreiche sektorspezifische und regionale Initiativen entwickelt werden. So hat sich die Europäische Batterie-Allianz als impulsgebende Plattform erwiesen, auf der Unternehmen, politische Entscheidungsträger und Wissenschaftler gemeinsam und in koordinierter Weise an der Verwirklichung des herausfordernden und ehrgeizigen Ziels arbeiten, die EU und ihre Wirtschaft wieder an die Spitze der sich rasch entwickelnden Batterietechnologie zu bringen. Im Rahmen des Programms Horizont 2020 wurden bereits eine erste Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen veröffentlicht und 114 Mio. EUR zur Verfügung gestellt, und für 2020 wird eine weitere Aufforderung mit Mitteln in Höhe von 132 Mio. EUR folgen. Darüber hinaus sollen auch in großem Maßstab Mittel der EU-Regionalpolitik für die Finanzierung verwendet werden. Wirtschaft und Wissenschaft scheinen sehr an einer Teilnahme interessiert zu sein, um ihre eigenen Investitionen durch EU-Mittel zu ergänzen und so FuE auf diesem Gebiet zu beschleunigen.

3.3.

Seit der Veröffentlichung des Aktionsplans wurden zahlreiche Initiativen auf den Weg gebracht, von denen sich allerdings viele, auch interregionale Initiativen, noch immer in der Vorbereitungsphase befinden. Knapp ein Jahr nach der Veröffentlichung des Aktionsplans scheint es noch viel zu früh zu sein, um Bilanz zu ziehen. Ein gewisses Dringlichkeitsbewusstsein ist allerdings allenthalben zu spüren: in der Politik, in der Wissenschaft und in der Wirtschaft begreift man, dass es spät, wenn nicht gar zu spät ist. Es steht viel, sehr viel auf dem Spiel: Es besteht die Gefahr, dass sehr große Teile der europäischen Automobilindustrie in die — meist asiatischen — Regionen und damit in die Nähe der Produktionsstandorte für Batteriezellen verlagert werden. Damit rücken die Arbeitsplätze von rund 13 Mio. Arbeitnehmern ins Blickfeld, die in Europa in diesem Sektor beschäftigt sind.

4.   Ausblick

4.1.

Seit dem Amtsantritt der Juncker-Kommission und der Annahme des Programms der europäischen Energieunion wurden zahlreiche Maßnahmen auf den Weg gebracht, die vor dem Hintergrund der Klimaschutzpolitik eine Industriepolitik eingeleitet haben, die dem Übergang zu einer nachhaltigeren Gesellschaft eine völlig neue Prägung gegeben hat. Die Industriepolitik der Kommission wird von den Mitgliedstaaten unterstützt und ist mittlerweile viel stärker steuernd und initiativ als früher. Der EWSA beglückwünscht die Kommission zu dem neuen Ansatz und ruft sie, die Mitgliedstaaten und die europäische Wirtschaft dazu auf, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen.

4.2.

Ein solcher Ansatz ist zu begrüßen und angesichts des Rückstands der europäischen Industrie auf dem Gebiet der Entwicklung und Herstellung von Batterien auch notwendig. Eine steuernde Industriepolitik birgt auch das Risiko, dass bestimmte Wirtschaftsteilnehmer oder Technologien fälschlich vorab vom Staat ausgewählt und begünstigt werden („picking winners“). Zu begrüßen ist jedoch das neue Konzept, das die gesamte industrielle Wertschöpfungskette abdeckt. Eine auf der Methodik der Wertschöpfungskette basierende Industriepolitik passt zudem viel besser zur Kreislaufwirtschaft als der frühere sektorspezifische Ansatz. Dieser Ansatz der Wertschöpfungskette erfordert allerdings auch eine andere Politik, die diesem besser entspricht und beispielsweise auf die Politik in Bezug auf staatliche Beihilfen abgestimmt ist. Da die Batterieindustrie nun zu einer Priorität der EU-Industriepolitik gemacht worden ist, muss auch die Kommission zu einem sehr flexiblen Umgang mit den seitens der Mitgliedstaaten gewährten Investitionsbeihilfen für Unternehmen in dieser Kette finden. Durch eine flexible Anwendung der Förderkriterien im Hinblick auf die Einstufung als wichtiges Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) wäre es möglich, die europäische Industrie mit öffentlichen Finanzmitteln in zumindest annähernd der Größenordnung zu unterstützen, in der asiatische Unternehmen staatlich unterstützt werden. Der EWSA begrüßt diese neue Einsatzmöglichkeit des IPCEI-Instruments.

4.3.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob die im strategischen Aktionsplan enthaltenen Maßnahmen nicht eventuell zu spät festgelegt wurden, als dass der enorme Rückstand auf die asiatischen Länder und ihre Unternehmen noch aufgeholt werden könnte. Fraglich ist auch, ob die zur Verfügung gestellten Finanzmittel ausreichen werden. In krassen Worten ausgedrückt: Tun wir zu wenig, und handeln wir zu spät? (9) Der Europäische Rechnungshof stellt in einem unlängst vorgelegten Themenpapier fest: „Es besteht jedoch die Gefahr, dass die bisher ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichen, um die strategischen Ziele der EU im Bereich der sauberen Energie zu erreichen.“ Diesbezüglich ist allerdings anzumerken, dass die Rolle der Kommission und die ihr zur Verfügung stehenden Finanzmittel begrenzt sind. Die Kommission verhält sich zu Recht eher zurückhaltend und sieht ihre Aufgabe in einer Vermittlerfunktion. In erster Linie sind die Mitgliedstaaten sowie die Industrie in Europa und ihre Forschungsreinrichtungen gefragt, hier Initiative zu zeigen. Daher ist es sehr erfreulich, dass die Regierungen Frankreichs und Deutschlands Anfang Mai 2019 beschlossen haben, jeweils etwa 1 Mrd. EUR für die Unterstützung von Initiativen ihrer Wirtschaft zum Aufbau der Batterieproduktion bereitzustellen. Dies ist eine der ersten sehr konkreten Folgen der von der Kommission initiierten „Europäischen Batterie-Allianz“, in der die Mitgliedstaaten, die Kommission und die Wirtschaft zusammenarbeiten.

4.4.

So kurz nach der Aufstellung des Aktionsplans für Batterien ist es nach Auffassung des EWSA noch zu früh, um endgültige Schlüsse ziehen zu können. Der Ausschuss begrüßt die Vielzahl von Maßnahmen, die durch zahlreiche Interessenträger bereits auf den Weg gebracht wurden oder noch entwickelt werden. Die Ergebnisse werden sich in den kommenden Jahren zeigen (müssen). Die technologische Entwicklung innerhalb und außerhalb der EU steht nicht still. Und weil dieser Prozess dynamisch ist, ist auch die Strategie für Batterien keine einmalige Maßnahme, sondern erfordert einen strukturellen Ansatz in der Politik der EU und der Mitgliedstaaten, zumal sich die erforderlichen Investitionen in die Produktionsmittel nur sehr langsam amortisieren werden (20 bis 30 Jahre dürften hier keine Ausnahme sein).

4.5.

Es stellt sich auch die Frage, ob die EU überhaupt dazu in der Lage ist, eine wettbewerbsfähige Industrie zur Entwicklung und Produktion von Batterien aufzubauen, zumal in der EU Vorkommen der hierfür benötigten Rohstoffe nur in unzureichendem Maße vorhanden sind. Es werden zwar Initiativen entwickelt, um z. B. in einigen EU-Mitgliedstaaten Lithium zu fördern (darunter auch die Neuerschließung zuvor stillgelegter Minen), doch wäre es illusorisch zu glauben, dass die EU diesbezüglich völlig autark werden könnte. Darüber hinaus steht auch ein Großteil der Bevölkerung in Europa dem Bergbau skeptisch gegenüber, und vielfach gilt auch hier das Floriansprinzip nach dem Motto: Aber nicht vor meiner Haustür! Es wäre die Mühe wert, die Bevölkerung stärker für die positiven Auswirkungen eines sozial- und umweltverträglichen Rohstoffabbaus für die Anwohner zu sensibilisieren. Darüber hinaus kann durch eine lokale Trägerschaft, d. h. durch die Einbeziehung der Anwohner auch in finanzieller und anderer Weise, verhindert werden, dass Widerstand gegen solche Aktivitäten entsteht und Fortschritte ausbleiben.

4.6.

Der EWSA betont, wie wichtig es angesichts der Rohstofflage ist, dass alle Interessenträger verstärkte FuE-Anstrengungen zur Entwicklung neuer Batteriearten, z. B. Feststoffbatterien, unternehmen, durch die die Abhängigkeit von diesen Rohstoffen erheblich verringert wird.

4.7.

Wie realistisch ist die Vorstellung der Kommission, dass in der EU zehn bis zwanzig führende Hersteller von Batterien (Megaproduzenten) entstehen werden? Ist auf den Kapitalmärkten die Investitionsbereitschaft der langfristig orientierten Investoren groß genug, um die hierfür erforderlichen Mittel in Höhe von ca. 10 Mrd. EUR aufzubringen? Zwar werden die Prioritäten des Aktionsplans gebührend begrüßt, doch ist es enttäuschend, dass die Frage des Zugangs zu den für diese Rieseninvestitionen erforderlichen Finanzmitteln nicht zur Sprache kommt. Eine Finanzierung durch Banken allein reicht hier nicht aus. Die Kapitalmärkte, darunter insbesondere die Infrastrukturfonds, müssen bereit sein, in Form von Risikokapital in diese Vorhaben zu investieren (10). Das erfordert eine langfristige Politik, eine angemessene Rendite und eine entsprechende Unterstützung seitens der nationalen Behörden. Es muss verhindert werden, dass die beteiligten Akteure einfach nur abwarten; der Staat kann hier den Investitionsprozess anstoßen. Die deutsch-französischen Initiativen zeigen, dass diese Länder sich dessen bewusst sind. Auch die vor kurzem ins Leben gerufene Investitionsplattform mit EIT InnoEnergy als „Beschleuniger“ kann nach Ansicht des EWSA sehr hilfreich dabei sein, Investoren und Initiatoren zusammenzubringen.

4.8.

Gleichzeitig muss den Verbrauchern in Europa durch gezielte Informationskampagnen zu Bewusstsein gebracht werden, dass es auch für sie mit zahlreichen Vorteilen verbunden ist, in Europa hergestellte Batterien zu kaufen, wo die Sicherheitsstandards für Mensch und Umwelt eingehalten werden, anders als bei Batterien aus Drittländern, wo diese Standards und Werte nicht in gleichem Maße beachtet werden. So weitermachen wie bisher bedeutet, unsere Umweltprobleme weiterhin zu exportieren.

4.9.

Nach Ansicht des EWSA sind konkretere Maßnahmen erforderlich, um die stoffliche Verwertung von Altbatterien weiterzuentwickeln. Diese so genannte „Stadtschürfung“ („Urban Mining“) kann wesentlich zur Versorgung mit Rohstoffen beitragen. Sie birgt ein erhebliches Potenzial für das Recycling der Zukunft, sofern wirtschaftliche Anreize, Rücknahmemengen, Verwertungstechnologien und letztlich auch die Recyclingraten verbessert werden. Aus einem unlängst veröffentlichten Bericht der Kommission über die Umsetzung und die Auswirkungen der Batterien-Richtlinie geht allerdings hervor, dass bei der Sammlung von herkömmlichen Batterien die angestrebte Sammelquote leider noch nicht erreicht wurde. Immer noch gehen rund 57 % der Batterien nicht zurück in den Recyclingkreislauf. Daher prüft die Kommission — wie in ihrem kurzen, aber sehr ansprechenden Bericht dargelegt — nun zu Recht eine Überarbeitung der Richtlinie aus dem Jahr 2006, auch im Hinblick darauf, dass neue Arten von Batterien auf den Markt kommen werden, beispielsweise solche, auf die der Aktionsplan ausgerichtet ist. Der Ausschuss sieht diesen Vorschlägen erwartungsvoll entgegen. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auch die heutigen Verarbeitungsanlagen für Batterien entsprechend modernisiert werden müssen, um in naher Zukunft die große Menge neuer Batteriearten bewältigen zu können. Auch muss eine neue Technik für das Recycling bzw. die Verarbeitung von Batterien entwickelt werden. Nach Ansicht des Ausschusses muss gerade auf diesem Gebiet eine gezielte FuE umfänglich von der EU gefördert werden, um auf diese Weise einen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten und die Abhängigkeit von Rohstoffen aus Drittländern zu verringern.

4.10.

Der EWSA fordert darüber hinaus gezielte Forschungsanstrengungen, um aus den Halden, die bei der Kohleförderung und der Stahlerzeugung bzw. der Metallurgie anfallen, Rohstoffe zurückzugewinnen. Es ist nicht auszuschließen, dass auch diese Quellen zur Deckung des Rohstoffbedarfs beitragen können. Der EWSA begrüßt den kürzlich veröffentlichten Bericht der Gemeinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission über die Rückgewinnung kritischer Rohstoffe aus Bergbauabfällen und Deponien (11) und fordert, Studien und Untersuchungen zu kritischen Rohstoffen politisch zu unterstützen, da der weltweite Kampf um Rohstoffe immer härter wird.

4.11.

Inwiefern trägt der Rechtsrahmen dazu bei, FuE in der EU im erforderlichen Maße voranzubringen und die so entwickelte Technologie einzusetzen? Die Kommission neigt dazu, sich auf Gesetze und Vorschriften zu konzentrieren. Schließlich sind dies die Steuerungsinstrumente, die ihr zur Verfügung stehen. Allerdings wäre es vielleicht besser, zunächst gemeinsam mit der Industrie und den Organisationen der Sozialpartner die Entwicklungen auf dem Markt zu beobachten und zu analysieren, anstatt sofort die Regulierungskeule einzusetzen. Der politische Ansatz für diesen prekären Sektor sollte so aussehen, dass es zunächst darum geht, zu initiieren, zu stimulieren und zu produzieren, bevor dann nach eingehender Analyse regulierend eingegriffen wird.

4.12.

Der EWSA fordert die Kommission auf, weiterhin dafür zu sorgen, dass die Ausschreibungen wirklich auf die oft kleineren Unternehmen in der EU zugeschnitten werden, damit diese mittelständischen Hersteller nicht Fördermittel einbüßen, weil ihre FuE nicht umfangreich genug ist und sie die Ausschreibungsanforderungen bezüglich der Projektgröße daher nicht erfüllen können. Der EWSA begrüßt jedoch, dass die Kommission die Ausschreibungen nun in einer neuen, gebündelten Form vorlegt, wodurch deren Zugänglichkeit für Unternehmen in der EU verbessert wurde.

4.13.

Der EWSA hält es für wichtig, dass die EU-Fördermittel auch für Projekte mittelständischer Batteriehersteller in Europa zur Verfügung stehen, deren technologische Entwicklung bereits weiter fortgeschritten ist (Technologie-Reifegrad 5 bis 9). Dieser Gruppe von Unternehmen, für die der Marktzugang wichtiger ist als Grundlagenforschung, scheint der Zugang zu EU-Fördermitteln immer noch zu stark verwehrt zu sein. Genau dieser Gruppe muss auch ein erleichterter Zugang zu den EU-Zuschüssen für Fortbildung und Umschulung von Arbeitnehmern gewährt werden.

Brüssel, den 17. Juli 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  COM(2018) 293 final.

(2)  Durch Energieerzeugung und -nutzung werden 79 s% der Treibhausgasemissionen in der EU verursacht, Themenpapier des Europäischen Rechnungshofs vom 1. April 2019 zum Thema EU-Unterstützung für die Energiespeicherung.

(3)  Obgleich hier der Schwerpunkt in erster Linie auf Pkw liegt, sollte nicht vergessen werden, dass auch daran gearbeitet wird, Schiffe mit Elektroantrieb (z. B. kleine Fähren) zu bauen.

(4)  Vgl. hierzu auch die Stellungnahme des EWSA „Energiespeicherung: ein Faktor der Integration und der Energieversorgungssicherheit“ (ABl. C 383 vom 17.11.2015, S. 19).

(5)  In Flandern wurde ein interessantes Projekt namens „WaterstofNet“ entwickelt, das Erzeuger (Wind und Fotovoltaik), Wasserstofftechnologie (Elektrolyse und Kompression) und Endnutzer in der chemischen Industrie sowie im Verkehrssektor miteinander verknüpft.

(6)  Es wird beispielsweise erwartet, dass 2019 in Norwegen zum ersten Mal mehr elektrische Personenkraftwagen verkauft werden als herkömmliche Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Die meisten Elektrofahrzeuge dieser Art werden von einem bekannten US-amerikanischen Unternehmen geliefert.

(7)  Die chinesische Regierung hat sich zum Ziel erklärt, dass ab 2025 20 % aller verkauften neuen Pkw Elektrofahrzeuge sein müssen.

(8)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Europa in Bewegung“ (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 254).

(9)  Vgl. das Themenpapier des Europäischen Rechnungshofs vom 1. April 2019 EU-Unterstützung für die Energiespeicherung.

(10)  Am 2. Mai 2019 gab Tesla bekannt, dass das Unternehmen im ersten Quartal 2019 zwar rund 700 Mio. Dollar Verlust gemacht habe, aber doch 2 Mrd. Dollar auf dem Kapitalmarkt mobilisieren wolle, um eine neue Batterieproduktion aufzubauen und einen neuen Typ von Elektroauto zu entwickeln. Der amerikanische Kapitalmarkt ist ohne Weiteres in der Lage, derartige Investitionen in Form von Aktien und/oder Anleihen zu tätigen. Es stellt sich die Frage, ob der fragmentierte EU-Kapitalmarkt es ihm gleichtun kann.

(11)  Recovery of critical and other raw materials from mining waste and landfills: State of play on existing practices, EUR 29744 EN, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg, 2019, ISBN 978-92-76-03391-2, doi:10.2760/494020, JRC116131.