ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 190

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

62. Jahrgang
5. Juni 2019


Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

2019/C 190/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Für eine europäische Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen (Initiativstellungnahme)

1

2019/C 190/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Förderung einer gesunden und nachhaltigen Ernährung in der EU (Initiativstellungnahme)

9

2019/C 190/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu Die digitale Revolution und die Bedürfnisse und Rechte der Bürgerinnen und Bürger (Initiativstellungnahme)

17


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

2019/C 190/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Jahreswachstumsbericht 2019: Für ein starkes Europa in Zeiten globaler Ungewissheit (COM(2018) 770 final)

24

2019/C 190/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Ermöglichung der Fortsetzung der Programme für die territoriale Zusammenarbeit PEACE IV (Irland-Vereinigtes Königreich) und Vereinigtes Königreich-Irland (Irland-Nordirland-Schottland) vor dem Hintergrund des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (COM(2018) 892 final — 2018/0432 (COD))

33

2019/C 190/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Aspekte der Flugsicherheit im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Union (COM(2018) 894 final – 2018/0434 (COD))

37

2019/C 190/07

Stellungnahme des EuropäischenWirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung desEuropäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Vorschriftenzur Gewährleistung der grundlegenden Konnektivität im Luftverkehrim Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannienund Nordirland aus der Union (COM(2018) 893 final —2018/0433 (COD))

42

2019/C 190/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Regeln zur Gewährleistung der grundlegenden Konnektivität im Güterkraftverkehr im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland aus der Union (COM(2018) 895 final — 2018/0436 (COD))

48

2019/C 190/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Bestimmungen für die Fortführung der laufenden im Rahmen des Programms Erasmus+ durchgeführten Lernmobilitätsaktivitäten im Zusammenhang mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (Vereinigtes Königreich) aus der Europäischen Union(COM(2019) 65 final — 2019/0030 (COD))

52

2019/C 190/10

Stellungnahme des EuropäischenWirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung desEuropäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung(EU) Nr. 508/2014 hinsichtlich bestimmter Vorschriften für den EuropäischenMeeres- und Fischereifonds aufgrund des Austritts des VereinigtenKönigreichs aus der Union (COM(2019) 48 final — 2019/0009 (COD))

53

2019/C 190/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2403 hinsichtlich der Fanggenehmigungen für Fischereifahrzeuge der Union in den Gewässern des Vereinigten Königreichs und der Fischereitätigkeiten von Fischereifahrzeugen des Vereinigten Königreichs in den Unionsgewässern (COM(2019) 49 final — 2019/0010 (COD))

54


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

5.6.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 190/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Für eine europäische Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 190/01)

Berichterstatter: Georges DASSIS

Beschluss des Plenums

15.3.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

18.12.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.2.2019

Plenartagung Nr.

541

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

158/81/12

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Seit der Errichtung der ersten Europäischen Gemeinschaft, der EGKS, im Jahr 1952 unterstützen zwei Generationen europäischer Bürgerinnen und Bürger in ihrer großen Mehrheit das Projekt der europäischen Integration. Der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt ist seit jeher ein wichtiger Faktor für den Rückhalt für dieses Projekt in der Öffentlichkeit.

1.2.

Seit dem Beginn der Wirtschaftskrise infolge der Finanzkrise von 2008 und trotz der in den letzten Jahren zu beobachtenden wirtschaftlichen Erholung ist die Armutsrate im Falle von Langzeitarbeitslosen und erwerbstätigen Armen weiter gestiegen und bewegt sich in den meisten Mitgliedstaaten nach wie vor auf einem besorgniserregend hohen Niveau.

1.3.

Bisher haben die Dokumente und Maßnahmen der EU — etwa die Strategie Europa 2020, die auf die Verringerung der Zahl der von Armut bedrohten Personen um 20 Millionen abzielte — nicht die erwarteten Ergebnisse erbracht. Durch die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips ausschließlich mithilfe der offenen Methode der Koordinierung scheinen sich die gesteckten Ziele somit nicht erreichen zu lassen.

1.4.

Die Einführung eines verbindlichen europäischen Rahmens für ein angemessenes Mindesteinkommen in Europa, der es ermöglicht, die Mindesteinkommenssysteme in den Mitgliedstaaten allgemein zu verbreiten, zu unterstützen und angemessen zu gestalten, wäre somit eine erste wichtige europäische Reaktion auf das gravierende und hartnäckige Problem der Armut in Europa. Sie trüge dazu bei, „für Europa in sozialen Fragen ein AAA-Rating“zu erreichen (wie von Präsident Juncker angekündigt), und würde die konkrete Botschaft an die Bürgerinnen und Bürger senden, dass unsere Union wirklich für sie da ist.

1.5.

Sie könnte in Form einer Richtlinie erfolgen, in der ein Bezugsrahmen für die Festlegung eines angemessenen Mindesteinkommens gesetzt wird, das an Lebensstandard und Lebensstil der einzelnen Länder angepasst ist. Dabei sollten Elemente der sozialen Umverteilung, der Besteuerung und des Lebensstandards in Abhängigkeit von einem Referenzbudget berücksichtigt werden, dessen Berechnungsmethode auf europäischer Ebene festzulegen ist.

1.6.

Die Wahl der Rechtsinstrumente, die diesen europäischen Rahmen für die Einführung eines angemessenen Mindesteinkommens in Europa bilden würden, ist darin begründet, dass sichergestellt werden muss, dass alle Personen, die eine solche Unterstützung benötigen, auch Zugang dazu haben, und dass die Hilfe ihren tatsächlichen Bedürfnissen entspricht. Ein angemessenes Mindesteinkommen ist auch ein Instrument zur (Wieder-)Eingliederung ausgegrenzter Personen in den Arbeitsmarkt und zur Bekämpfung von Erwerbsarmut.

1.7.

Die Frage der Einführung eines von der EU garantierten angemessenen Mindesteinkommens ist hochpolitisch. Gerechtfertigt ist ein Tätigwerden der EU in diesem Bereich durch den EUV, den AEUV, die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989, die Charta der Grundrechte von 2000 und die europäische Säule sozialer Rechte; allerdings ist strittig, ob eine Rechtsgrundlage für EU-Rechtsvorschriften über ein Mindesteinkommen existiert. Diejenigen, die sich für den Rückgriff auf europäische Rechtsvorschriften aussprechen, sehen diese Rechtsgrundlage in Artikel 153 Absatz 1 Buchstaben c (1) und h (2) AEUV. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) empfiehlt einen pragmatischen Ansatz, d. h. einen verbindlichen europäischen Rahmen, um die Erarbeitung von Regelungen zur Gewährleistung eines angemessenen Mindesteinkommens in den Mitgliedstaaten sowie seiner Finanzierung zu unterstützen und lenken.

1.8.

In seiner ersten einschlägigen Stellungnahme (3) hat der EWSA die Kommission aufgefordert, Finanzierungsmöglichkeiten für ein europäisches Mindesteinkommen zu prüfen, insbesondere im Hinblick auf die Schaffung eines entsprechenden europäischen Fonds. Der Ausschuss bekräftigt hier diese Aufforderung, da ihr die Kommission bisher nicht nachgekommen ist.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.   Einleitung

2.1.1.

Die Debatte über die Einführung eines Mindesteinkommens auf europäischer Ebene findet vor dem Hintergrund einer sozialen Krise statt, die trotz der wirtschaftlichen Erholung andauert und eine massive Ausgrenzung mit sich bringt. Den neuesten Zahlen von Eurostat zufolge sind 112,9 Millionen Personen bzw. 22,5 % der Bevölkerung in der Europäischen Union von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das bedeutet, dass auf sie mindestens eines der folgenden drei Kriterien zutrifft: Sie sind nach Sozialtransfers armutsgefährdet (Einkommensarmut), sie leiden unter erheblichen materiellen Entbehrungen oder sie leben in einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbsbeteiligung. Nachdem der Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen in der EU zwischen 2009 und 2012 dreimal in Folge gestiegen ist und fast 25 % erreicht hatte, ist er seither stetig gesunken und lag im vergangenen Jahr bei 22,5 %, also 1,2 Prozentpunkte unter seinem Referenzniveau von 2008 und einen Prozentpunkt unter dem Niveau von 2016. (4)

2.1.2.

In Bezug auf das Thema dieser Stellungnahme, nämlich ein angemessenes Mindesteinkommen für Menschen, die in Armut bzw. großer Armut leben, ist leider festzustellen, dass die Quote der Langzeitarbeitslosen von 2,9 % im Jahr 2009 (Bezugsjahr zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Strategie Europa 2020) auf 3,4 % im Jahr 2017 und die Quote der erwerbstätigen Armen im Euroraum von 7,6 % im Jahr 2006 auf 9,5 % im Jahr 2016 (von 8,3 % im Jahr 2010, dem ersten Jahr mit verfügbaren Daten, auf 9,6 % in der EU-28) gestiegen sind.

2.1.3.

Besonders stark betroffen sind junge Menschen. 2016 gab es in der EU mehr als 6,3 Millionen Personen im Alter von 15 bis 24 Jahren, die weder eine Arbeit hatten noch eine schulische oder berufliche Ausbildung absolvierten (NEET). Trotz eines Rückgangs von über 23 % im Jahr 2013 auf unter 19 % im Jahr 2016 bewegt sich die Jugendarbeitslosigkeit in der EU nach wie vor auf sehr hohem Niveau (in einigen Ländern beträgt sie mehr als 40 %). Die Langzeitarbeitslosigkeit unter jungen Menschen ist weiter auf Rekordhöhe. Die Jugendarbeitslosenquote ist mehr als doppelt so hoch wie die Gesamtarbeitslosenquote (ca. 19 % gegenüber 9 % im Jahr 2016), wobei große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern bestehen: So liegen 30 Prozentpunkte zwischen dem Land mit der niedrigsten Quote, d. h. Deutschland (7 %), und den Mitgliedstaaten mit den höchsten Quoten, d. h. Griechenland (47 %) und Spanien (44 %).

2.1.4.

Diese Situation geht zudem mit massiver Ausgrenzung und Armut einher und betrifft in besonderem Maße Kinder. Nach Angaben von Eurostat sind 26 Millionen Kinder in Europa von Armut und Ausgrenzung betroffen — das sind 27 % der EU-Bevölkerung unter 18 Jahren. (5) Diese Kinder leben in armen Familien, mitunter Alleinerziehenden-Haushalten oder von Erwerbsarmut betroffenen Familien, und befinden sich damit in einer Art von Armutsfalle, aus der sie sich nur sehr schwer befreien können. In seiner Entschließung vom 20. Dezember 2010 (6) wies auch das Europäische Parlament darauf hin, „dass Frauen wegen Arbeitslosigkeit, allein zu bewältigender Fürsorgepflichten, prekärer und schlecht bezahlter Arbeitsverhältnisse und der Diskriminierung bei Löhnen und der niedrigeren Renten und Pensionen von Armut bedroht sind“.

2.1.5.

Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung der in vielen EU-Mitgliedstaaten bestehenden Regelungen zur sozialen Abfederung herauszustellen, mit denen weitere krisenbedingte Notlagen verhindert werden konnten, die allerdings ihre Grenzen haben und einer dauerhaften sozialen Krise nicht standhalten können. Eine beschäftigungsfördernde wirtschaftliche Erholung ist deshalb unabdingbar, wobei das Mindesteinkommen ein Instrument zur (Wieder-)Eingliederung ausgegrenzter Personen in den Arbeitsmarkt sein könnte. Länder, die über Regelungen für angemessene Mindesteinkommen verfügen, sind im Übrigen besser in der Lage, die negativen Auswirkungen der Krise zu bewältigen und die Ungleichheiten zu verringern, die den sozialen Zusammenhalt unterminieren. Es gibt ermutigende Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung, die aber noch fragil ist und auf wachsenden Ungleichheiten aufbaut. Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion über die Einführung eines angemessenen Mindesteinkommens in Europa also höchst aktuell.

2.1.6.

Bisher haben die Dokumente und Maßnahmen der EU — etwa die im Juni 2010 verabschiedete Strategie Europa 2020, die auf die Verringerung der Zahl der von Armut bedrohten Personen um 20 Millionen (sic) abzielte — nicht die erwarteten Ergebnisse erbracht. Da die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips allein mithilfe der offenen Methode der Koordinierung nicht die erhofften Ergebnisse geliefert hat, muss diese Methode durch ein EU-Instrument ergänzt werden. Regelungen für angemessene Mindesteinkommen kommen nicht nur den Menschen, die darauf angewiesen sind, zugute, sondern der gesamten Gesellschaft. Sie gewährleisten, dass diese Personen weiterhin aktiv an der Gesellschaft teilnehmen können, und helfen ihnen, wieder Zugang zur Erwerbswelt zu finden und ein Leben in Würde zu führen. Angemessene Mindesteinkommen sind unerlässlich für den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft, bilden eine echte Grundlage für den sozialen Schutz und gewährleisten einen gesamtgesellschaftlich vorteilhaften sozialen Zusammenhalt.

2.1.7.

Mindesteinkommensregelungen machen nur einen geringen Teil der Sozialausgaben aus, rentieren sich aber in hohem Maße; das Fehlen von Investitionen hat hingegen äußerst negative Folgen für den Einzelnen und bringt langfristig hohe Kosten mit sich. Sie bilden ein Bündel wirksamer Anreize, da das ausgegebene Geld umgehend wieder in die Wirtschaft fließt — häufig in Branchen, die am stärksten unter der Krise leiden. Aufgrund der Wechselwirkung zwischen Mindesteinkommen und Mindestlohn tragen sie auch dazu bei, angemessene Löhne zu garantieren und einen Anstieg der Zahl von erwerbstätigen Armen zu vermeiden.

2.1.8.

Es ist wichtig, das in dieser Stellungnahme behandelte angemessene Mindesteinkommen nicht mit dem Grundeinkommen zu verwechseln, das allen Mitgliedern einer Gemeinschaft (Kommune, Region oder Staat) unabhängig von ihrer Bedürftigkeit oder Beschäftigungssituation ausgezahlt wird. Auch wenn die Länder größtenteils über Mindesteinkommensregelungen (7) verfügen, ist zu prüfen, inwiefern diese die Bedürfnisse der Bevölkerung decken, weil es hier in den meisten Fällen noch Probleme gibt. Diese Frage ist derzeit Gegenstand laufender Arbeiten in Deutschland und Frankreich. (8).

2.1.9.

Zum Mindesteinkommen gibt es bereits viele Arbeiten, und es wurden schon diverse Standpunkte formuliert. Mit dieser Stellungnahme möchte der EWSA den Begriff der „Angemessenheit“(im Sinne eines Minimums, das ein menschenwürdiges Leben oberhalb der Armutsgrenze erlaubt) herausstellen und stützt sich dabei auf den von der IAO verwendeten englischen Begriff „decent work“ (9).

2.1.10.

Zu berücksichtigen sind außerdem die Arbeiten des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments, der Ausschüsse für Beschäftigung und Sozialschutz des EU-Ministerrates und die bereits erheblichen Beiträge von Netzen wie des European Minimum Income Network (EMIN)) (10) wie auch alle Arbeiten des Europäischen Netzes gegen Armut (EAPN) (11), an denen auch der EGB beteiligt ist. Zu erwähnen sind darüber hinaus die Arbeiten der IAO und des Europarates.

2.1.11.

Die meisten Mitgliedstaaten haben Mindesteinkommensregelungen eingeführt. Begriffsbestimmungen, Zugangsbedingungen und Anwendungsniveaus sind äußerst unterschiedlich und sollten mittels gemeinsamer Kriterien, die es ermöglichen, den Besonderheiten der einzelnen Länder Rechnung zu tragen, sowohl generalisiert als auch harmonisiert werden. Bislang unterstützt die Kommission das Mindesteinkommen und vertritt die Ansicht, dass die Regelung dieser Frage den Mitgliedstaaten obliegt. Das Fehlen signifikanter Ergebnisse erfordert verstärkte nationale Maßnahmen und eine stärkere Koordinierung bis 2020, aber auch die Einführung wirksamerer europäischer Instrumente zur Erreichung des gesteckten Ziels.

2.1.12.

Einige grundsätzliche Bemerkungen zum Schluss dieser Einleitung:

ein angemessenes Mindesteinkommen ist nur sinnvoll im Rahmen eines allgemeinen Konzepts der aktiven Integration und Inklusion, das den Zugang zu inklusiven Arbeitsmärkten (mit hochwertiger Beschäftigung und Weiterbildung) und den Zugang zu hochwertigen öffentlichen Dienstleistungen (insbesondere im Bildungs- und Gesundheitswesen) miteinander verbindet;

das Recht auf Arbeit muss ein Grundrecht und ein wesentlicher Faktor der Selbstbestimmung und der wirtschaftlichen Unabhängigkeit bleiben;

ein angemessenes Mindesteinkommen ist grundsätzlich ein zeitlich befristetes, aber unerlässliches Element, das auf die (Wieder-)Eingliederung von Menschen in den Arbeitsmarkt durch aktive Maßnahmen abzielt; es handelt sich um eine Initiative, die für die Glaubwürdigkeit der EU eine maßgebliche Rolle spielt;

Angemessenheit, Reichweite und Zugang zum Mindesteinkommen stellen die Mitgliedstaaten bei ihren Anstrengungen zur Entwicklung eigener Regelungen noch immer vor große Herausforderungen. Diese Regelungen müssen unterstützt und falls erforderlich auf europäischer Ebene ergänzt werden.

3.   Politischer Wille und technische Lösungen

3.1.   Die Rechtsgrundlagen sind vorhanden und müssen angewandt werden

3.1.1.

Ob es eine Rechtsgrundlage gibt, die den Erlass von Rechtsvorschriften über das Mindesteinkommen ermöglicht, ist strittig. Offenkundig ist jedoch, dass die offene Methode der Koordinierung keine ausreichenden Ergebnisse erbracht hat, um ein angemessenes Mindesteinkommen in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten, was die Ungleichheiten zwischen ihnen verschärft — und für die EU ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem bedeutet.

3.1.2.

Die Frage des Mindesteinkommens ist hochpolitisch. Denn es ist Sache der EU, die Initiative zu ergreifen, wobei sich die Kommission nicht hinter dem — in diesem Falle zu Unrecht angeführten — Subsidiaritätsprinzip verschanzen darf, wenn sie die Auffassung vertritt, dass sie nicht tätig werden kann. Bei einer Frage der Menschenwürde und der Menschenrechte wäre eine Untätigkeit der Kommission inakzeptabel und würde zudem dazu führen, dass die Bürgerinnen und Bürger das europäische Projekt nicht mehr nachvollziehen könnten. Aus diesem Grund fordert der Ausschuss die Kommission auf, sofortige Maßnahmen zu ergreifen, um eine koordinierte Strategie der Mitgliedstaaten auf nationaler und europäischer Ebene zu stärken, die darauf abzielt, das Mindesteinkommen auszubauen und ein verbindliches europäisches Instrument zu konzipieren, das auf einer gemeinsamen Vorgehensweise zur Festlegung von Referenzbudgets beruht und so zur Gewährleistung eines angemessenen Mindesteinkommens beiträgt.

3.1.3.

Im Lichte der Europäischen Sozialcharta des Europarates von 1961, der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 und der Charta der Grundrechte von 2000 (Artikel 34) zählt das Mindesteinkommen eindeutig zu den Zielen der EU und der Kommission, wobei letztere eine einschlägige Initiative auf den Weg bringen muss, um die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zu ergänzen und zu harmonisieren. Dies gilt umso mehr, als die Kommission in Ziffer 14 des Vorschlags für eine Säule sozialer Rechte ausdrücklich auf „das Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen, und einen wirksamen Zugang zu dafür erforderlichen Gütern und Dienstleistungen“verweist.

3.1.4.

Die Rechtsgrundlagen der Verträge sind besonders relevant, z. B.: Artikel 3 EUV, in dem als Ziele der Union Vollbeschäftigung und sozialer Fortschritt genannt werden, aber auch die Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Diskriminierungen sowie die Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, Artikel 9 AEUV, demzufolge die EU „bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen […] den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, mit der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung [trägt]“, sowie insbesondere Artikel 151 AEUV, der zu Beginn des Titels X „Sozialpolitik“steht und folgende Ziele sowohl der EU als auch der Mitgliedstaaten vorsieht: „die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen, einen angemessenen sozialen Schutz, den sozialen Dialog, die Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzungen“ — Ziele, die von der Union insofern verwirklicht werden können, als sie (gemäß Artikel 153 Absatz 1 AEUV) „die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf folgenden Gebieten [unterstützt und ergänzt]: […] c) soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer, […] h) berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen, […] j) Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, [und] k) Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes […]“.

3.1.5.

Zu definieren ist daher auch, wer als „Arbeitnehmer“anspruchsberechtigt ist. Der Ausschuss sollte sich mit diesem Thema eingehender beschäftigen, zumal im EU-Recht keine gemeinsame Definition des Begriffs „Arbeitnehmer“existiert. Es muss deshalb geklärt werden, wie der Begriff „Arbeitnehmer“nach Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe c AEUV zu verstehen ist. Einstweilen ist davon auszugehen, dass der entscheidende Aspekt in Artikel 153 AEUV nicht der Begriff „Arbeitnehmer“im Sinne des Rechts auf Freizügigkeit ist, sondern vielmehr der Begriff „Arbeitnehmer“im Sinne des Rechts auf soziale Sicherheit, das wiederum für alle Personen gilt, die Zugang zu den Systemen haben, die die in Verordnung Nr. 883/2004 genannten Risiken abdecken.

3.1.6.

Dazu hat der EWSA Folgendes festgestellt: „Angesichts der Tatsache, dass Armut und soziale Ausgrenzung populistischen Tendenzen in vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Vorschub leisten, begrüßt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Schlussfolgerungen des Rates vom 16. Juni 2016„Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung: Ein integrierter Ansatz“ (12) und spricht sich gleichzeitig dafür aus, im Rahmen der nächsten finanziellen Vorausschau ausgehend von den bisherigen Erfahrungen bei der Umsetzung des Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (FEAD) und des Europäischen Sozialfonds (ESF) einen integrierten europäischen Fonds für die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zu schaffen.“ (13)

3.1.7.

Der politische Wille zeigt sich auch in einer objektiven Bewertung der Umsetzung der Strategie Europa 2020, ihrer Erfolge und Misserfolge sowie in der Verbesserung der Sichtbarkeit des Handelns der EU zur Unterstützung und Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten. Diese zusätzliche Unterstützung könnte die Form eines europäischen Fonds zur Finanzierung des gemäß dem Rechtsrahmen festgelegten Mindesteinkommens annehmen.

3.1.8.

Die Kommission darf sich nicht hinter dem Subsidiaritätsprinzip verstecken. Erheben die Mitgliedstaaten Einwände, die sie mit der Subsidiarität begründen, so geschieht dies normalerweise, um zu vermeiden, dass sie ihre nationalen Rechtsvorschriften infolge einer Maßnahme der EU ändern müssen. Hingegen darf sich die Kommission als Hüterin des Allgemeininteresses nicht nur in abstrakter Weise auf das Subsidiaritätsprinzip beziehen, da dies auf Selbstzensur hinauslaufen würde, was umso gravierender wäre, da es sich um eine Frage der Grundrechte handelt. Da die Kommission keinen Vorschlag für einen Gesetzgebungsakt vorgelegt hat, kann Artikel 6 des Protokolls Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit nicht seine volle Wirkung entfalten. Außer dem Rat können die „nationalen Parlamente oder die Kammern eines dieser Parlamente […] binnen acht Wochen nach dem Zeitpunkt der Übermittlung eines Entwurfs eines Gesetzgebungsakts in den Amtssprachen der Union in einer begründeten Stellungnahme an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission darlegen, weshalb der Entwurf ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist“. Die Erbringung dieses demokratischen Beitrags, der sich von jenem des Rats unterscheiden kann, wird immer dann vereitelt, wenn die Annahme eines Gesetzgebungsakts durch die Diskussionen zwischen Kommission und Rat verhindert wird.

3.1.9.

Schließlich kann der Verweis auf die europäische Säule sozialer Rechte — deren Grundsätze der EWSA uneingeschränkt unterstützt — kein Argument gegen die Annahme eines verbindlichen europäischen Rechtsrahmens für ein Mindesteinkommen sein, vor allem weil eine unstrittige Rechtsgrundlage im Vertrag existiert. Die europäische Säule sozialer Rechte ist eine Erklärung der EU-Organe und soll „als Kompass für […] soziale Ergebnisse dienen“ (14). Die Säule muss also die Grundlage für Handlungs- und Rechtsetzungsvorschläge sein, so wie sie von der Kommission bereits genutzt wurde. Im Übrigen darf der Wortlaut von Ziffer 14 der Säule („Jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, hat in jedem Lebensabschnitt Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen, und einen wirksamen Zugang zu dafür erforderlichen Gütern und Dienstleistungen.“) keinesfalls restriktiv ausgelegt werden. Eine solche Auslegung stünde nämlich im Widerspruch zu Punkt 6 der Präambel der Säule, in dem darauf verwiesen wird, dass der AEUV „Bestimmungen [enthält], mit denen die Zuständigkeiten der Union festgelegt werden; diese betreffen unter anderem […] die Sozialpolitik (Artikel 151 bis 161).“Was die Gesetzgebungsbefugnisse der EU betrifft, so wird außerdem in der Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung zur europäischen Säule sozialer Rechte auf den Artikel des Vertrags über die berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Personen Bezug genommen.

3.1.10.

Der EWSA unterstützt die in der Säule sozialer Rechte verankerten Grundsätze uneingeschränkt und ist der Auffassung, dass der Erlass eines verbindlichen europäischen Rahmens für die Einführung eines angemessenen Mindesteinkommens auf europäischer Ebene die feierlichen Erklärungen — die seit der Charta der sozialen Grundrechte allesamt den Kampf gegen die soziale Ausgrenzung beschwören — konkretisieren sowie die Botschaft senden würde, dass der europäische Einigungsprozess im 21. Jahrhundert nur möglich ist, wenn dem Leben der Bürgerinnen und Bürger der EU Aufmerksamkeit gewidmet wird.

3.2.   Technische Lösungen

3.2.1.

Aus technischer Sicht wird es erforderlich sein, die Bedingungen für den Bezug des garantierten Mindesteinkommens festzulegen. Bei der Festlegung des garantierten Mindesteinkommens sind insbesondere folgende Faktoren zu berücksichtigen:

die Verbindung zwischen dem garantierten Mindesteinkommen und den Voraussetzungen für die Inanspruchnahme,

der Einfluss der Haushaltszusammensetzung angesichts der Bedeutung des Faktors „Kinder“für Armut,

andere Ressourcen, z. B. Erbschaften,

die Zusammensetzung des garantierten Mindesteinkommens aus Sach- und Geldleistungen, z. B. durch den Zugang zu Gesundheitsfürsorge, Wohnraum, Mobilität, Familienförderung und -einrichtungen.

3.2.2.

Das Mindesteinkommen muss in ein umfassendes Konzept für die verschiedenen Bedürfnisse der Menschen eingebettet sein, das sich nicht nur auf das Existenzminimum oder auf die Armutsrate beschränkt, die auf der Grundlage des Medianeinkommens berechnet wird, das in der Realität in einigen Ländern nicht die Grundbedürfnisse widerspiegelt. Es muss vielmehr allen Bedürfnissen in puncto Lebensstandard, Wohnen, Bildung, Gesundheit und Kultur Rechnung tragen und den Personen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und in der Armutsfalle gefangen sind, die besten Voraussetzungen für ihre (Wieder-)Eingliederung bieten. Gegenstand der Diskussion sind die Bedingungen für den Bezug, die geklärt werden sollten.

3.2.3.

Dieses Konzept stützt sich auf die Arbeiten von Wirtschaftswissenschaftlern wie Amartya Sen — insbesondere auf das, was dieser als „capabilities“(Fähigkeiten) bezeichnet und drei Elemente umfasst:

Gesundheit/Lebenserwartung: Jüngste Studien haben gezeigt, dass Menschen, die in Armut leben, bei ihrer Gesundheitsversorgung, insbesondere der zahnmedizinischen Versorgung, sparen. Sie haben eine ungesunde Lebensweise, ernähren sich schlechter und leiden deshalb häufiger unter Problemen im Zusammenhang mit Adipositas. Daher gibt es erhebliche Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Reichen und Armen. Diesbezüglich gilt es auch, die Beschwerlichkeit der Arbeit zu berücksichtigen.

Wissen/Bildungsniveau: Die Statistiken lassen eindeutig einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Bildungsniveau erkennen. Laut den Daten von Eurostat für das Jahr 2015 haben 11 % der Europäer im Alter von 18 bis 24 Jahren vorzeitig die Schule verlassen.

Lebensstandard: Hier geht es darum, bei der Festlegung der Höhe des Mindesteinkommens nicht nur eine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln zu berücksichtigen, sondern auch alle anderen Faktoren, die die Lebensqualität bestimmen. Möglichkeiten der Mobilität und Zugang zur Kultur sind wichtige Integrations-/Inklusionsfaktoren hinsichtlich des Umgangs mit anderen Menschen und der sozialen Teilhabe, d. h. Mittel, um arme Menschen aus ihrer Isolation zu holen, die einen Teufelskreis der sozialen Ausgrenzung darstellt.

3.2.4.

Es müssen auf pragmatische und flexible Weise Instrumente zur Berechnung eines angemessenen Mindesteinkommens geschaffen werden. Es müssen gemeinsame Methoden zur Berechnung eines Referenzbudgets und dessen Anpassung an jedes Land festgelegt werden. Zu diesem Thema liegen bereits wichtige Arbeiten vor, insbesondere die des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Antwerpen sowie des EAPN und des EMIN. Referenzbudgets müssen einerseits Vergleichsmöglichkeiten zwischen den Mitgliedstaaten bieten und andererseits eine flexible Anwendung auf die Bedingungen der einzelnen Länder ermöglichen. Sie dürfen nicht nur auf dem sogenannten Warenkorb für Lebensmittel beruhen, sondern müssen auch Aspekte einbeziehen wie Gesundheitsversorgung und Körperpflege, Bildung, Wohnen, Kleidung, Mobilität, Sicherheit, Freizeit, soziale Beziehungen und Kindersicherheit sowie die zehn Bereiche, die für die gemeinsame Methodik im Rahmen des Projekts der Referenzbudgets ermittelt wurden. Einer der Vorzüge dieser Referenzbudgets, die von Forschern und Nichtregierungsorganisationen wie dem EAPN und dem EMIN nachdrücklich befürwortet werden, besteht darin, dass mit ihnen die Gültigkeit der bis heute zur Festlegung der Armutsgrenzen verwendeten Indikatoren überprüft werden kann.

3.2.5.

Es sollte außerdem untersucht werden, inwiefern die Einführung eines Mindesteinkommens eine Rationalisierung der Sozialleistungen in einigen Ländern bewirken könnte. Dieser Ansatz liegt z. B. dem Vorschlag für ein „allgemeines Aktivitätseinkommen“(revenu universel d'activité) zugrunde, der in dem vom Präsidenten der französischen Republik vorgelegten Plan zur Armutsbekämpfung enthalten ist, welcher darauf abzielt, allen Anspruchsberechtigten ein Mindestmaß an Würde zu garantieren und möglichst viele Sozialleistungen zusammenzulegen. Darüber hinaus würde die in Deutschland geführte Debatte über die Einführung eines solidarischen Grundeinkommens eine Bekämpfung der Armut ermöglichen, insbesondere im Falle von Langzeitarbeitslosen, durch eine Vereinfachung der Sozialhilfesysteme. Die Regierung hat bereits Mittel in Höhe von 4 Milliarden EUR bis 2021 vorgesehen.

Brüssel, den 20. Februar 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/Forschungsberichte/fb491-eu-rechtsrahmen-soziale-grundsicherungssysteme.pdf;jsessionid=99C4D0B602A57E640467F949B3C34894?__blob=publicationFile&v=2.

(2)  https://eminnetwork.files.wordpress.com/2017/11/2017-nov-emin-la-route-de-lue-vers-le-revenu-minimum-fr-pdf-novembre-17.pdf; https://www.eapn.eu/wp-content/uploads/Working-Paper-on-a-Framework-Directive-EN-FINAL.pdf.

(3)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 23. Die Gruppe Arbeitgeber des EWSA hat im Übrigen eine Erklärung zu dieser Stellungnahme abgegeben und dagegen gestimmt.

(4)  Eurostat.

(5)  Entschließung des Europäischen Parlaments von 2015 auf der Grundlage der Statistiken von Eurostat.

(6)  Entwurf einer Entschließung des Europäischen Parlaments zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Europäischen Union — 2010.

(7)  Siehe die Datenbank MISSOC: https://www.missoc.org-database/comparative-tables/results/.

(8)  Die Einführung eines Mindesteinkommens ist ein Element des Programms der deutschen Regierungskoalition und Teil des vom französischen Präsidenten im September 2018 vorgelegten Plans zur Armutsbekämpfung.

(9)  http://www.ilo.org/global/topics/decent-work/lang–en/index.htm.

(10)  https://eminnetwork.files.wordpress.com/2017/11/2017-nov-emin-la-route-de-lue-vers-le-revenu-minimum-fr-pdf-novembre-17.pdf.

(11)  https://www.eapn.eu/wp-content/uploads/Working-Paper-on-a-Framework-Directive-EN-FINAL.pdf.

(12)  http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-10434-2016-INIT/de/pdf.

(13)  ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 15.

(14)  Punkt 12 der Präambel der europäischen Säule sozialer Rechte.


ANHANG

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen (Artikel 39 Absatz 2 der Geschäftsordnung):

Titel sowie gesamte Stellungnahme durch folgenden Wortlaut ersetzen (Begründung am Ende des Änderungsantrags):

Ein europäischer Rahmen für ein Mindesteinkommen

Schlussfolgerungen und Vorschläge

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bringt sich seit jeher aktiv in die auf europäischer Ebene geführte Debatte über die Verringerung der Armut ein. Insbesondere wurde die Idee eines Mindesteinkommens auf europäischer Ebene bereits in einigen seiner früheren Stellungnahmen eingehend erörtert und ist auch Gegenstand der Stellungnahme der Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft „Für eine europäische Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen“. Der EWSA ist überzeugt, dass Armut weiter bekämpft werden muss. In Bezug auf die Wahl der richtigen Instrumente gehen die Standpunkte jedoch weit auseinander. Den Bemühungen des Berichterstatters um Erzielung eines Kompromisses ist aufrichtige Anerkennung zu zollen, sein Vorschlag für ein verbindliches Instrument für ein europäisches Mindesteinkommen kann jedoch nicht unterstützt werden.

In dieser Gegenstellungnahme soll ein konstruktiver und umfassender Ansatz zur Verringerung der Armut in den Mitgliedstaaten dargelegt werden. Dieser stützt sich auf die Tatsache, dass die Gestaltung der Sozialschutzsysteme gemäß dem Subsidiaritätsprinzip und im Einklang mit der in den EU-Verträgen verankerten Kompetenzverteilung in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Daher müssen Maßnahmen auf EU-Ebene auf der offenen Koordinierungsmethode als dem Hauptinstrument zur Unterstützung der Mitgliedstaaten und auf dem Lernen voneinander in Bezug auf die besten nationalen Lösungsansätze fußen. In dieser Gegenstellungnahme wird ein umfassender Ansatz vorgeschlagen, um den Aktionsradius der EU in diesem Bereich so weit wie möglich zu fassen.

Die Armutsbekämpfung sollte ein gemeinsames Ziel der EU und der Mitgliedstaaten sein. Laut dem Gemeinsamen Beschäftigungsbericht 2019 steigen die Einkommen der Haushalte in fast allen Mitgliedstaaten weiter an. Derzeit sind 113 Millionen Menschen bzw. 22,5 % der Gesamtbevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen — damit ist diese Zahl zwar unter das Niveau vor der Krise gesunken, jedoch inakzeptabel hoch und auf Dauer finanziell untragbar. Die gegenwärtig gute Wirtschaftslage bietet die Gelegenheit, die Umsetzung von Reformen für inklusivere, resilientere und fairere Arbeitsmärkte und Sozialschutzsysteme zu beschleunigen. Allerdings besteht auch das Risiko, dass sich die Konjunktur wieder abschwächt, weshalb die Mitgliedstaaten diese Chance dringend nutzen sollten.

Zwar ist es mit der Strategie Europa 2020 — nicht zuletzt vor dem Hintergrund des robusten Aufschwungs von Wirtschaft und Arbeitsmärkten — gelungen, die Zahl der von Armut bedrohten Menschen zu senken, jedoch müssen weitere Schritte gesetzt werden, um diese positive Entwicklung aufrechtzuerhalten.

In dieser Gegenstellungnahme werden hierzu folgende Empfehlungen ausgesprochen:

1.

Die EU und die Mitgliedstaaten sollten den Schwerpunkt auf die Fortführung ihrer Reformbemühungen und die Schaffung günstiger Bedingungen für neue Arbeitsplätze legen. Das ist die Grundlage für alle Maßnahmen — auch zur Verringerung der Armut. Im zweiten Quartal 2018 gab es in der EU 239 Millionen Erwerbstätige — das ist der höchste Stand seit Beginn des Jahrhunderts. Die EU ist somit auf dem richtigen Weg, das im Rahmen der Strategie Europa 2020 verfolgte Ziel einer Beschäftigungsquote von 75 % im Jahr 2020 zu erreichen. Diese positive Entwicklung dürfte auch zur Erreichung des in der Strategie festgeschriebenen Ziels der Armutsbekämpfung beitragen. Eine solide Wirtschaftspolitik, gepaart mit laufenden Strukturreformen der Arbeitsmärkte und Sozialschutzsysteme der Mitgliedstaaten, bildet die Grundvoraussetzung für dauerhaftes Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Wohlstand für die Bürgerinnen und Bürger.

2.

Zusätzlich zu der Schlüsselrolle, die einer soliden Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik bei der Armutsbekämpfung zukommt, bedarf es eines integrierten Ansatzes mit einer Kombination aus verschiedenen zielgerichteten Maßnahmen. Das Mindesteinkommen spielt in diesem Ansatz eine wichtige Rolle, es sollte jedoch im Zusammenhang mit integrierten Beschäftigungsmaßnahmen und -diensten betrachtet werden, insbesondere Sozial- und Gesundheitsdiensten sowie wohnungspolitischen Maßnahmen. In allen EU-Mitgliedstaaten wurde die Mindesteinkommensunterstützung von einer rein wirtschaftlichen Unterstützung in eine aktive Maßnahme umgewandelt, die darauf abzielt, die Bezieher auf dem Weg aus der sozialen Ausgrenzung heraus hin zu einem aktiven Leben zu begleiten. Als solche ist sie als vorübergehende Lösung zu betrachten, um Menschen in einer Übergangsphase so lange wie nötig Unterstützung zu bieten. Diese Form der inklusiven Integration auf der Grundlage aktivierender Maßnahmen stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar.

3.

Im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip eignet sich die nationale Ebene am besten zur Behandlung der Frage des Mindesteinkommens und zur Umsetzung von Maßnahmen zur Verringerung der Armut. In Übereinstimmung damit haben alle EU-Mitgliedstaaten entsprechend ihrer nationalen Usancen und Wirtschaftskraft Mindesteinkommensregelungen getroffen. Verständlicherweise unterscheiden sich die Definitionen, Bedingungen und die Anwendungsniveaus von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat.

4.

Auf der EU-Ebene besteht durchaus Handlungsspielraum für eine Unterstützung der Bemühungen der Mitgliedstaaten. Der EWSA empfiehlt einen pragmatischen Ansatz, der im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip steht und gleichzeitig die Wirkung der auf europäischer Ebene getroffenen Maßnahmen zur Unterstützung und Anleitung der Entwicklung von Mindesteinkommensregelungen in den Mitgliedstaaten maximiert. Die EU und insbesondere die Europäische Kommission sollten eine aktivere Rolle bei der Unterstützung der Bemühungen der Mitgliedstaaten spielen. Daher sollte im Rahmen des Europäischen Semesters eine auf nationaler und europäischer Ebene abgestimmte Strategie für ein umfassendes Handeln und zielgerichtete Maßnahmen erarbeitet werden, wobei die Rolle der nationalen Referenzhaushalte berücksichtigt werden sollte.

Die Art und Weise, wie die Mitgliedstaaten die Ziele der Armutsverringerung erreichen, sollte Gegenstand der Folgemaßnahmen im Rahmen des Europäischen Semesters sein, was eine stärkere Koordinierung voraussetzt. Die Fortschritte könnten mittels gemeinsam vereinbarter Indikatoren/Referenzwerte unterstützt und überwacht werden. Der Beschäftigungsausschuss (EMCO) und der Ausschuss für Sozialschutz (SPC) sind gerade dabei, die Rolle von Referenzwerten zu stärken, und im SPC wird bereits ein eigener Referenzwert für Mindesteinkommen angewandt. Dies ist der richtige Weg, um Fortschritte zu erzielen.

5.

Im Lichte der von den europäischen Sozialpartnern am 26./27. Januar 2016 unterzeichneten Erklärung zu einem Neustart für einen verstärkten sozialen Dialog sollten die Rolle und die Kapazitäten, die den Sozialpartnern als den Hauptakteuren der Arbeitsmärkte zukommt, bei der Politikgestaltung und der Durchführung von Strukturreformen sowohl auf der europäischen als auch der nationalen Ebene weiter gestärkt werden. Auch die Organisationen der Zivilgesellschaft können zu diesem Prozess beitragen, indem sie Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern näherbringen.

6.

Der in dieser Gegenstellungnahme skizzierte Ansatz steht zudem im Einklang mit der europäischen Säule sozialer Rechte, die „entsprechend den jeweiligen Zuständigkeiten und im Einklang mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sowohl auf Unionsebene als auch auf Ebene der Mitgliedstaaten umgesetzt werden [sollte]; dabei ist den unterschiedlichen sozioökonomischen Rahmenbedingungen und der Vielfalt der nationalen Systeme, einschließlich der Rolle der Sozialpartner, gebührend Rechnung zu tragen“. (1)

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen: 92

Nein-Stimmen: 142

Enthaltungen: 8


(1)  Siehe Absatz 17 der Präambel der Interinstitutionellen Proklamation zur europäischen Säule sozialer Rechte.


5.6.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 190/9


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Förderung einer gesunden und nachhaltigen Ernährung in der EU“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 190/02)

Berichterstatter: Peter SCHMIDT

Beschluss des Plenums

12.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

31.1.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.2.2019

Plenartagung Nr.

541

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

183/7/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

In seiner im Dezember 2017 verabschiedeten Stellungnahme „Eine umfassende Ernährungspolitik der EU“sprach sich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) dafür aus, in der EU einen stärker integrierten Ansatz für den Ernährungsbereich zu verfolgen. Eine gesunde und nachhaltige Ernährung bildet eine zentrale „Säule“einer solchen Ernährungspolitik, da wir unsere Ernährung dringend so umstellen müssen, dass sie die Gesundheit sowohl der Ökosysteme als auch der Menschen sowie die Vitalität der ländlichen Gebiete stärkt, statt ihnen zu schaden.

1.2.

Die Zeit ist reif für einen beschleunigten Paradigmenwechsel, und hierfür gibt es aussagekräftige und zunehmende Belege. Der EWSA betont, dass es mit der Aktionsdekade der Vereinten Nationen für Ernährung, der Umsetzung der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung, dem Pariser Klimaschutzübereinkommen und den neuen Vorschlägen zur Zukunft der Gemeinsamen Agrarpolitik derzeit auch eine politische Dynamik dafür gibt. Darüber hinaus liegen immer mehr wissenschaftliche Belege dafür vor, dass die europäischen und die globalen Lebensmittelsysteme dringend umgestaltet werden müssen, z. B. in Berichten des IPCC, der EAT-Lancet-Kommission, des Ausschusses für Welternährungssicherheit und der InterAcademies Partnership (1). Nicht zuletzt gibt es diesbezüglich eine starke Nachfrage seitens der Zivilgesellschaft (z. B. von der im Zuge der Arbeit der Internationalen Sachverständigengruppe für nachhaltige Lebensmittelsysteme IPES-Food gebildeten Koalition), die Unternehmen erkennen ihre Verantwortung für einen Beitrag zum Wandel (etwa hinsichtlich der Lebensmittelverschwendung, der Kreislaufwirtschaft, der Verringerung der Fettleibigkeit, des Schutzes der biologischen Vielfalt, der kulturellen Bereicherung usw.) an, und auch auf regionaler und kommunaler Ebene werden z. B. im Rahmen des Mailänder Pakts für städtische Lebensmittelpolitik, den „Projets Alimentaires Territoriaux“in Frankreich und der Führungsrolle der C40-Weltstädte (2) Maßnahmen ergriffen.

1.3.

Der EWSA würdigt und unterstützt die von der Kommission ergriffenen Initiativen zur Förderung einer gesunden und nachhaltigen Ernährung, etwa die Aufnahme von Bestimmungen in den jüngsten Vorschlag für eine GAP-Reform, die darauf abzielt, „der Landwirtschaft der Union [zu] helfen, sich besser auf neue gesellschaftliche Erwartungen in den Bereichen Ernährung und Gesundheit einzustellen, einschließlich der Bereiche nachhaltige landwirtschaftliche Erzeugung, gesündere Lebensmittel, Lebensmittelabfälle und Tierschutz“ (3). Allerdings fehlt es an einem koordinierten Ansatz für diese Initiativen.

1.4.

Die Bereiche Lebensmittel, Gesundheit, Umwelt und Gesellschaft sind auf solch komplexe Art und Weise miteinander verknüpft, dass sie eine umfassendere Herangehensweise an das Thema Ernährung erfordern, die sich nicht nur auf das Verbraucherverhalten bezieht. Im Interesse des Zusammenhalts und gemeinsamer Ziele fordert der EWSA die Entwicklung neuer Leitlinien für nachhaltige Ernährung, die den kulturellen und geografischen Unterschieden zwischen und innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung tragen. Eine bloße Verringerung der Ressourcennutzung in der Produktion und eine Änderung der Inhaltsstoffe führen nicht zu einer besseren oder gesünderen Ernährung.

1.5.

Neue Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung würden den landwirtschaftlichen Betrieben, den Verarbeitungsbetrieben, dem Einzelhandel und der Gastronomie eine klarere Richtung vorgeben. Ein neuer „Rahmen“für die Erzeugung, die Verarbeitung, den Vertrieb und den Verkauf gesünderer und nachhaltigerer Lebensmittel zu einem gerechteren Preis würde dem Agrar- und Lebensmittelsystem zugutekommen.

1.6.

Der EWSA fordert die Einsetzung einer Expertengruppe, die mit der Aufgabe betraut wird, innerhalb von zwei Jahren europaweite Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung zu formulieren. In diese Arbeit sollten auch relevante fachliche und wissenschaftliche Einrichtungen aus den Bereichen Ernährung, öffentliche Gesundheit, Lebensmittel, Umwelt- und Sozialwissenschaften einbezogen werden. Der EWSA ist bereit, sich an der Expertengruppe zu beteiligen und insbesondere über seine Temporäre Studiengruppe Nachhaltige Lebensmittelsysteme den Standpunkt der Zivilgesellschaft in deren Arbeiten einzubringen.

1.7.

Der EWSA bekräftigt, wie wichtig Investitionen in Sensibilisierungsmaßnahmen für eine nachhaltige Ernährung von früher Kindheit an sind, damit junge Menschen den „Wert von Lebensmitteln“schätzen lernen. Besondere Aufmerksamkeit gebührt dabei benachteiligten Gruppen, insbesondere Menschen mit niedrigem Einkommen.

1.8.

Der EWSA weist darauf hin, dass ein gemeinsames europäisches Konzept für die Lebensmittelkennzeichnung, das den Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung Rechnung trägt, die Transparenz verbessern und den Einsatz unnötig billiger Rohstoffe (z. B. Transfettsäuren, Palmöl und überschüssiger Zucker) eindämmen würde, die weder gesund noch nachhaltig sind. Die Ausdehnung der Lebensmittelkennzeichnung auf Umwelt- und Sozialaspekte käme den Verbrauchern zugute. Sie würde dazu beitragen, dass diese sich eher für gesündere und nachhaltigere Optionen entscheiden.

1.9.

Durch Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung würde nicht nur der gewerbliche Sektor unterstützt, sondern es würden auch gemeinsame, eindeutige Kriterien für das öffentliche Beschaffungswesen festgelegt. In Europa müssen Lebensmittel in den Mittelpunkt eines umweltorientierten öffentlichen Beschaffungswesens (Green Public Procurement — GPP) gestellt werden. In diesem Zusammenhang fordert der EWSA, die Überarbeitung der GPP-Kriterien der EU für Lebensmittel und Verpflegungsdienstleistungen dringend anzunehmen.

1.10.

Das Wettbewerbsrecht sollte kein Hindernis für die Entwicklung von Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung sein. Die Bestimmungen müssen so angepasst werden, dass die lokale Wirtschaft gefördert und nicht etwa die Nachhaltigkeit eingeschränkt wird. Im Hinblick auf eine bessere Aufteilung des Mehrwerts auf die einzelnen Interessenträger der Lebensmittelversorgungskette begrüßt der EWSA, dass die Verbände sämtlicher Branchen seit der Reform der GMO-Verordnung aus dem Jahr 2013 ihre Vereinbarungen der Europäischen Kommission zur Prüfung nach den Wettbewerbsregeln vorlegen können, um so die Nachhaltigkeitsstandards der Produkte zu verbessern. Mit nachhaltigeren Erzeugnissen im Sinne der Umwelt-, Tiergesundheits- und Qualitätsstandards könnten die Akteure der Lebensmittelversorgungskette bessere Preise erzielen. Vorabgespräche mit der Kommission wären für die Branchenverbände im Hinblick auf etwaige künftige Vorlagen hilfreich.

1.11.

Der EWSA betont, dass die gesamte Palette staatlicher Lenkungsmaßnahmen als politische Instrumente zur Einschränkung der Produktion und des Verzehrs ungesunder Lebensmittel sowie zur Förderung gesunder Ernährungsgewohnheiten angesehen werden sollte. Die externalisierten Kosten einer nicht nachhaltigen Ernährung sind versteckte Belastungen für die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Umwelt und müssen verringert bzw. internalisiert werden. Der EWSA fordert geeignete politische Strategien zur Umsetzung der Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung, wobei den sich daraus zusätzlich ergebenden Vorteilen für Landwirte und Unternehmen besonderes Augenmerk geschenkt werden sollte.

1.12.

Europa setzt sich für das Recht der Verbraucher auf korrekte Informationen ein. Wenn wir wollen, dass sich die Menschen für eine gesunde und nachhaltige Ernährung entscheiden, weil dies allgemein üblich und für sie am einfachsten ist, dann braucht Europa offene, auf Fakten beruhende Kriterien, die etwa im Rahmen gemeinsamer Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung festgelegt werden.

2.   Einleitung

2.1.

In seiner im Dezember 2017 verabschiedeten Initiativstellungnahme „Beitrag der Zivilgesellschaft zur Ausarbeitung einer umfassenden Ernährungspolitik in der EU“(NAT/711) (4) fordert der EWSA die Ausarbeitung einer umfassenden Ernährungspolitik in der EU mit dem Ziel, eine gesunde Ernährung aus nachhaltigen Lebensmittelsystemen zu gewährleisten, die Landwirtschaft mit Ernährungs- und Ökosystemleistungen zu verknüpfen und Versorgungsketten sicherzustellen, mit denen die öffentliche Gesundheit aller Gesellschaftsschichten in der EU gewahrt wird. Um diese Ziele zu erreichen, müssen die politischen Maßnahmen sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite aufeinander abgestimmt werden. Dies bedeutet, dass neben der Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit von Lebensmitteln aus nachhaltiger Erzeugung auch gewährleistet werden muss, dass die Verbraucher besseren Zugang zu gesunden und wohlschmeckenden Lebensmitteln haben und sich bewusst häufiger für solche Produkte entscheiden. Ziel dieser Initiativstellungnahme ist es, eine gesunde und nachhaltige Ernährungsweise als eine der wichtigsten Säulen einer umfassenden EU-Ernährungspolitik zu thematisieren.

2.2.

Es gibt starke politische Impulse für eine Debatte über eine gesunde und nachhaltige Ernährung:

Laut dem jüngsten SOFI-Bericht (Report on State of Food Insecurity in the World — Lagebericht zur Ernährungsunsicherheit in der Welt (5)) ist weltweit seit mittlerweile drei Jahren in Folge ein Anstieg des Hungers zu verzeichnen. Die absolute Zahl unterernährter Menschen hat sich im Jahr 2017 auf fast 821 Mio. erhöht, während sie 2016 ca. 804 Mio. betrug. Adipositas bei Erwachsenen steigt gegenwärtig ebenfalls an. Mehr als einer von acht Erwachsenen bzw. mehr als 672 Mio. Erwachsene weltweit sind übergewichtig. Die globale Adipositas-Pandemie geht mit enormen wirtschaftlichen Kosten von fast 3 % des globalen Bruttosozialprodukts einher, was den Folgekosten für das Rauchen und die Auswirkungen bewaffneter Konflikte entspricht. Sogar in Europa ist die Hälfte der Bevölkerung übergewichtig und 20 % sind fettleibig.

Die Vereinten Nationen haben ein Aktionsjahrzehnt für Ernährung ausgerufen und damit deutlich gemacht, dass die Lebensmittelsysteme mit Blick auf eine gesündere und ausgewogenere Ernährung neu gestaltet werden müssen. Die Hochrangige Sachverständigengruppe des Ausschusses für Welternährungssicherheit (HLPE) hat diese Notwendigkeit in ihrem Bericht vom September 2017 (6) erneut bekräftigt. Die FAO und die Weltgesundheitsorganisation arbeiten derzeit an der neuen Definition einer gesunden und nachhaltigen Ernährung und planen eine internationale Konsultation für März 2019, um den multidimensionalen Charakter einer nachhaltigen Ernährung zu untersuchen.

Die Ernährung spielt eine zentrale Rolle bei der Verwirklichung der nachhaltigen Entwicklung und der Agenda 2030 insgesamt. Insbesondere gilt es sicherzustellen, dass alle Menschen ganzjährig Zugang zu sicheren und nahrhaften Lebensmitteln in ausreichender Menge haben, bis 2030 alle Formen der Mangelernährung beseitigt werden (Ziel 2), alle Menschen aller Altersstufen ein gesundes Leben führen können und ihr Wohlbefinden gefördert wird (Ziel 3). Die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung bietet somit eine Gelegenheit, die Verbrauchs- und Produktionsmuster nachhaltiger und gesünder zu gestalten.

Die Verwirklichung der Ziele des Pariser Übereinkommens über den Klimawandel erfordert außerdem einen tiefgreifenden Wandel des Lebensmittelsystems, wobei in dem im Oktober 2018 angenommenen Sonderbericht des IPCC die Dringlichkeit von Klimaschutzmaßnahmen wissenschaftlich belegt wird (7).

Auf EU-Ebene kann die GAP-Reform zum Anlass genommen werden, eine nachhaltigere Produktion und eine gesunde Ernährung zu fördern, wenn nährstoffreiche Erzeugnisse wie Obst, Gemüse und Milchprodukte für die Unionsbürgerinnen und -bürger leicht zugänglich gemacht werden.

Der Ausschuss der Regionen hat vor kurzem eine Stellungnahme zum Thema „Lokale und regionale Anreize zur Förderung einer gesunden und nachhaltigen Ernährung“ (8) verabschiedet.

Die Internationale Sachverständigengruppe für nachhaltige Lebensmittelsysteme (IPES Food) wird in Kürze ihren Bericht über eine „Gemeinsame Lebensmittelpolitik“in der EU vorlegen, der auch konkrete Empfehlungen zu einer gesunden und nachhaltigen Ernährung umfassen wird.

2.3.

Stadtverwaltungen (und Gebietskörperschaften) spielen eine immer wichtigere Rolle als Schlüsselakteure, wenn es um die Förderung nachhaltigerer Lebensmittelsysteme geht. Durch integrierte, bereichsübergreifende Maßnahmen bringen die Städte verschiedene Interessenträger zusammen, um eine Lebensmittelpolitik zu gestalten, die sowohl Lösungen für dringliche Ernährungsfragen wie Ernährungsunsicherheit und Übergewicht als auch für umfassendere Probleme in den Bereichen Umweltschutz, soziale Ungleichheit und Armut bietet. Mit dem Mailänder Pakt für städtische Lebensmittelpolitik, dem über 180 Städte weltweit beigetreten sind und der für 450 Mio. Einwohner gilt (9), wurde diesbezüglich ein wichtiger Meilenstein gesetzt.

2.4.

Neben den politischen Impulsen besteht auch eine zunehmende wissenschaftliche und gesellschaftliche Dringlichkeit zur Bewältigung dieses Problems, wie in Abschnitt 3 näher erläutert wird.

3.   Auswirkungen einer ungesunden und nicht nachhaltigen Ernährung

3.1.

Die Wahl der Ernährung hat viele — sowohl positive als auch schädliche — Auswirkungen. Die Europäerinnen und Europäer müssen bei der Verringerung der schädlichen Auswirkungen der Ernährung und der Nutzung der positiven Aspekte unterstützt werden. Das herkömmliche Konzept, nur eine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln anzustreben, ist nicht mehr angemessen. Es ist zu berücksichtigen, wie Lebensmittel erzeugt und konsumiert werden und wie sie sich langfristig sowie unmittelbar auswirken. Die Ernährungsweise der europäischen Verbraucher hat unbeabsichtigte Folgen auf die Umweltverschmutzung (z. B. Einwegkunststoffverpackungen), das Klima, die Gesundheit, die biologische Vielfalt und weitere Bereiche. Diese Auswirkungen gefährden die Zukunft und erfordern Änderungen unseres Ernährungs- und Konsumverhaltens. Lebensmittelversorgungsketten — vom Landwirt bis zum Restaurant — müssen verschiedene politische Signale erhalten. Die Wissenschaft hat begonnen, eine angemessene Ernährung für das 21. Jahrhundert zu definieren: eine nachhaltige Ernährung aus nachhaltigen Lebensmittelsystemen. Jetzt muss die Politik diese Herausforderung angehen.

3.2.   Auswirkungen der Ernährung auf die öffentliche Gesundheit

Fehlernährung ist in Europa die Hauptursache für vorzeitige Todesfälle und vermeidbare Erkrankungen. Gesundheitsfragen liegen in der Verantwortung der Mitgliedstaaten; die Europäische Kommission fördert in diesem Bereich hauptsächlich den Daten- und Informationsaustausch. Dennoch hat die EU Möglichkeiten, das Verständnis der Verbraucher dafür zu verbessern, wie wichtig eine nachhaltige Ernährung für ihre Gesundheit ist. Jedes Jahr sterben in der EU 550 000 Menschen im arbeitsfähigen Alter vorzeitig an nichtübertragbaren Krankheiten. Diese haben damit weltweit übertragbare Krankheiten als Ursache vorzeitiger Todesfälle überholt. Nichtübertragbare Krankheiten (10) verursachen mittlerweile die meisten Gesundheitsausgaben in den EU-Mitgliedstaaten und kosten nach Angaben der OECD die EU-Volkswirtschaften jährlich 115 Mrd. EUR bzw. 0,8 % des BIP. Eine erhebliche Gefahr für die künftige öffentliche Gesundheit ist die Verbreitung antimikrobieller Resistenzen (AMR) (11). Auch wenn die Kommission und WHO-Europa angemessene und umfangreiche Maßnahmen zur Bekämpfung von AMR ergriffen haben, muss mehr getan werden, um den Einsatz antimikrobieller Wirkstoffe in den landwirtschaftlichen Betrieben der EU zu verringern und die Einfuhr von Fleisch aus Drittländern zu verhindern, in denen Antibiotika prophylaktisch eingesetzt werden.

3.3.   Gesellschaftliche Auswirkungen der Ernährung

Die Ernährung ist sowohl ein wichtiger Indikator als auch ein entscheidender Faktor für soziale Ungleichheiten. In Europa ernähren sich Menschen mit geringem Einkommen schlechter und leiden stärker und früher an ernährungsbedingten Gesundheitsproblemen. Gebiete mit niedrigem Einkommen verfügen über eine geringere Kaufkraft als reichere Gebiete. Menschen mit niedrigem Einkommen ernähren sich einseitiger und verzehren weniger Obst und Gemüse. Lebensmittel mit hohem Fett-, Salz- und Zuckergehalt sowie stark verarbeitete Lebensmittel stehen häufiger auf ihrem Speiseplan, und zwar schlicht deshalb, weil sie billiger sind.

3.4.   Kulturelle und psychologische Auswirkungen der Ernährung

Europa ist berühmt für seine vielfältigen und reichen kulinarischen Traditionen. Die EU hat zwar durch die geschützte Ursprungsbezeichnung (g. U.), die geschützte geografische Angabe (g. g. A.) und die garantiert traditionelle Spezialität (g. t. S.) (12) viel zum Schutz von Spezialitäten und regionaltypischen Lebensmitteln beigetragen, doch kommt die Integration im Lebensmittelbereich nur schleppend voran, da die Verarbeitungsbetriebe die Produktion steigern, um Kosten zu senken und neue Märkte zu erschließen. Europa muss weitere Anstrengungen für den Wiederaufbau und die Diversifizierung unserer Esskulturen unternehmen — nicht, um sie nach außen hermetisch abzuriegeln, sondern um Vielfalt zu schaffen und sie so resilient zu machen. Durch eine vielfältigere Ernährung wird die Palette an Nährstoffen und Geschmacksrichtungen erweitert.

3.5.   Ökologische Auswirkungen der Ernährung

Die Erzeugung und der Konsum von Lebensmitteln haben erhebliche ökologische Auswirkungen auf den weltweiten Ressourcenverbrauch — in der EU sind sie jedoch weitaus geringer. Das Agrar- und Lebensmittelsystem hat beträchtliche Auswirkungen auf die Umwelt (z. B. Treibhausgasemissionen, biologische Vielfalt, Wasser, Böden). Europa kann die Auswirkungen von Lebensmittelsystemen, in denen diese unnötig verarbeitet werden, verringern, indem es eine Ernährung auf der Grundlage einfacher Nährstoffe anstatt einer kalorienreichen Ernährung fördert. Werden Lebensmittel anders angebaut, verarbeitet und konsumiert, können Lebensmittelsysteme auch gesundheitsfördernd wirken und die Resilienz stärken (13) (14). Dies bedeutet ganz ohne Zweifel, dass Rinder mit weniger Getreide gefüttert werden und die Verbraucher weniger Fleisch essen müssen. Dies würde sich sowohl auf das Klima als auch die Gesundheit vorteilhaft auswirken (15). Wir müssen nachhaltigere Bewirtschaftungssysteme fördern und beispielsweise den positiven Umweltauswirkungen von Grünland (mehr Artenvielfalt, Kohlenstoffbindung) Rechnung tragen. Dies würde auch die Verbraucher zu einer gesunden, ausgewogenen und nachhaltigen Ernährung ermutigen.

3.6.   Ökonomische Auswirkungen der Ernährung

550 Mio. Europäerinnen und Europäer werden Jahr für Jahr mit Lebensmitteln versorgt, doch jetzt muss das System nachhaltiger werden. Das Subventionierungssystem der Gemeinsamen Agrarpolitik — die einen großen Anteil am EU-Haushalt ausmacht — wird von vielen Ökonomen kritisch gesehen. Das Gegenargument lautet, dass die Subventionen die Existenz der Landwirte in Europa sichern. Die Kosten für die Landwirte sind gestiegen, aber ihr Anteil an der Bruttowertschöpfung ist gering. Das meiste Geld wird in der Lebensmittelbranche nicht von den landwirtschaftlichen Betrieben, sondern von anderen Akteuren verdient. Die Lebensmittelbranche ist einer der größten Wirtschaftszweige in der EU. So zählt die EU-Lebensmittelbranche 4,2 Mio. Beschäftigte und erwirtschaftet einen Umsatz von 1 098 Mrd. Pfund (16). Die Verbraucher profitieren von dem langfristigen Rückgang der Lebensmittelausgaben im Vergleich zu den restlichen Haushaltsausgaben. Dieser Kostenrückgang spiegelt aber nicht unbedingt die Gesamtkosten wider. Aus einer im Jahr 2017 durchgeführten Studie über das britische Lebensmittelsystem geht hervor, dass die Verbraucher im Vereinigten Königreich jährlich 120 Mrd. Pfund nur für Lebensmittel ausgeben. Dies verursacht Zusatzkosten in gleicher Höhe bei anderen „Haushaltslinien“der Realwirtschaft, darunter 30 Mrd. Pfund für Bodendegradation und 40 Mrd. Pfund für Gesundheit (17). Studien wie diese verdeutlichen die Notwendigkeit, für Kostenwahrheit zu sorgen, wofür auch das Umweltprogramm der Vereinten Nationen plädiert (18).

4.   Maßnahmen und Instrumente zur Förderung einer gesunden und nachhaltigen Ernährung

4.1.

Eine bessere Ernährung und gesündere Ernährungsgewohnheiten müssen in Europa dringend gefördert werden, und es sollte weiter geprüft werden, wie die Versorgung im Rahmen besserer Lebensmittelsysteme gestärkt werden kann (19). Ein Übergang zu Lebensmittelsystemen, die nährstoffreiche Lebensmittel für eine gesunde Ernährung liefern, würde politische Veränderungen sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite erfordern. Auf der Angebotsseite hängt die Zugänglichkeit und Erschwinglichkeit von Lebensmitteln, die gesündere Ernährungsgewohnheiten fördern, entscheidend von den Faktoren Produktion, Verarbeitung (z. B. durch Neuformulierung), Vertrieb und Bereitstellung für die Verbraucher ab. Auf der Nachfrageseite sollten die Verbraucher durch politische Maßnahmen in die Lage versetzt werden, sich für eine gesündere Ernährung zu entscheiden, z. B. durch Unterricht in den Schulen und Sensibilisierungskampagnen, Ernährungsleitlinien, Kennzeichnung, Vergabe öffentlicher Aufträge usw. Die Strategien und Maßnahmen zur Steigerung des Angebots an bzw. der Nachfrage nach nährstoffreichen Lebensmitteln beeinflussen und bedingen sich wechselseitig. Daher sollte ein umfassender, bereichsübergreifender Ansatz auf mehreren Ebenen angenommen werden — unter Einbeziehung aller relevanten Institutionen, der Zivilgesellschaft sowie aller Akteure des Lebensmittelsystems.

4.2.

Ein Teil des Problems besteht zudem darin, dass die Lebensmittelindustrie ihre Entscheidungen bislang oftmals auf der Grundlage kurzfristiger wirtschaftlicher Gründe getroffen hat, wodurch die Produktion und Verarbeitung mitunter in die falsche Richtung hin zum Anbau und zur Verwendung ungesunder Zutaten (z. B. Palmöl, Transfettsäuren, überschüssiger Zucker und überschüssiges Salz) gelenkt wurde. Ein nachhaltiger Ansatz bedeutet, dass nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die sozialen und ökologischen Auswirkungen berücksichtigt werden. Ein solcher Ansatz muss unbedingt eine langfristige Perspektive haben und die Voraussetzungen für kürzere und territoriale Lebensmittelversorgungsketten schaffen. Aus diesem Grund ist es auch wichtig, einen neuen „Rahmen“für die Lebensmittelindustrie, darunter KMU, zu fördern, damit sie gesündere und nachhaltigere Lebensmittel erzeugt, verarbeitet, vertreibt und verkauft. So sollten die EU den Herstellern die Bewerbung — ggf. auch schrittweise eingeführter — neuer Zusammensetzungen erleichtern, was mit den geltenden Rechtsvorschriften nicht möglich ist. Was die GAP anbelangt, so sollten für die Landwirte Anreize geschaffen werden, die eher gesundheitsförderlichen Rohstoffe vor Ort zu erzeugen. Der EWSA dringt außerdem auf eine rasche Einführung eines EU-weiten rechtlich verankerten Grenzwertes für industriell hergestellte Transfettsäuren in Lebensmitteln.

4.3.

Es gibt bereits mehrere politische Maßnahmen und Initiativen der EU zur Förderung einer gesunden Ernährung, beispielsweise Initiativen der Kommission wie die Europäische Aktionsplattform für Ernährung, körperliche Bewegung und Gesundheit, ordnungspolitische Maßnahmen zur Information der Verbraucher über Lebensmittel sowie nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben, das 2017 veröffentlichte Weißbuch zur Adipositas, den EU-Aktionsplan zu Adipositas im Kindesalter 2001-2020, einige Bestimmungen in dem neuen GAP-Vorschlag, das Schulobst-, -gemüse- und -milchprogramm der EU usw. Allerdings fehlt es an einem koordinierten Ansatz. Neue EU-Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung würden für die erforderliche Kohärenz sorgen und einen Rahmen mit mehreren Kriterien für die Mitgliedstaaten schaffen, anhand dessen sie ihre nationalen Leitlinien entwickeln können, wie unten weiter ausgeführt wird.

5.   Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung

5.1.

Da immer mehr Fakten die Auswirkungen der Ernährung auf die Gesundheit, die Umwelt und die Wirtschaft belegen, nimmt das Interesse an der Entwicklung sogenannter „Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung“zu. Fast alle Nationalstaaten verfügen über offizielle nährwert- oder lebensmittelbasierte Ernährungsleitlinien. Davon bekannt sind etwa die Empfehlungen, weniger Salz zu essen sowie mehrere „Portionen“Obst- und Gemüse und bestimmte Mengen an Fisch zu verzehren. Angesichts der soliden Belege für die ökologischen Folgen erscheint es logisch, nunmehr umfassendere Kriterien in Ernährungsempfehlungen aufzunehmen — daher auch die zunehmenden Forderungen nach „Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung“ (20).

5.2.

Die EU-Mitgliedstaaten erarbeiten bereits verschiedene Formen von Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung. (21) Davon wurden einige von nationalen Fachgremien für Gesundheit und Ernährung (22) (23), andere in Zusammenarbeit zwischen Ministerien und Agenturen (24) und einige weitere von der Zivilgesellschaft und der Industrie (25) konzipiert. Diese Vielfalt hat sich in der Probephase als nützlich erwiesen, doch jetzt ist ein klarer, kohärenter, gemeinsamer Rahmen erforderlich, wenn die Verbraucher auf dem Binnenmarkt davon profitieren sollen. Bei der Umsetzung der Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung und der entsprechenden Maßnahmen muss eine wirksame Kontrolle gewährleistet sein.

5.3.

Es sollte eine Sachverständigengruppe eingerichtet und mit der Aufgabe betraut werden, europaweite Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung zu formulieren. Hierin sollten auch relevante fachliche und wissenschaftliche Einrichtungen aus den Bereichen Ernährung, öffentliche Gesundheit, Lebensmittel, Umwelt- und Sozialwissenschaften einbezogen werden. Die Sachverständigengruppe würde innerhalb von zwei Jahren Leitlinien formulieren, die den Verbrauchern klare Empfehlungen für eine nachhaltige Ernährung an die Hand geben und sich dabei auf die Forschungsarbeiten und Daten der Gemeinsamen Forschungsstelle, von Food 2030, des Ständigen Agrarforschungsausschusses und anderer stützen. Diese Leitlinien stünden den Mitgliedstaaten zur Verwendung auf nationaler Ebene zur Verfügung, z. B. im Gesundheitswesen und in öffentlichen Einrichtungen, und auf EU-Ebene als Beitrag zur Entwicklung eines klareren, integrierten Rahmens für die Lebensmittelversorgungskette. Die Leitlinien würden dazu beitragen, umfassende Zielsetzungen der EU wie z. B. die Unterstützung der Ziele für nachhaltige Entwicklung, des Pariser Klimaschutzübereinkommens sowie anderer Nachhaltigkeitsverpflichtungen und -programme wie Food 2030 zu erreichen (26). Die Sachverständigengruppe sollte zentrale Gremien wie den Dachverband europäischer Gesellschaften für Ernährung (FENS), IPES-Food, den Europäischen Verband für öffentliche Gesundheit (EUPHA) und den Europäischen Dachverband für Ökologie (European Ecological Federation) einbinden, Beiträge aus wissenschaftlichen Quellen wie z. B. jene des Ständigen Agrarforschungsausschusses (CPRA) berücksichtigen und Unterstützung von der GD Landwirtschaft, der GD Umwelt, der GD Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, der Europäischen Umweltagentur und dem Ständigen Agrarforschungsausschuss (CPRA) erhalten. Der EWSA ist bereit, sich an der Expertengruppe zu beteiligen und insbesondere über seine Temporäre Studiengruppe Nachhaltige Lebensmittelsysteme den Standpunkt der Zivilgesellschaft in deren Arbeiten einzubringen.

6.   Systeme zur Kennzeichnung nachhaltiger Lebensmittel

6.1.

Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung sollten auch die Grundlage für eine weiter gefasste Lebensmittelkennzeichnung bilden, welche verständlich wäre und die Transparenz verbessern und den Einsatz unnötig billiger Rohstoffe (z. B. Transfettsäuren, Palmöl und überschüssiger Zucker) eindämmen würde, die weder gesund noch nachhaltig sind. Die Erweiterung der Lebensmittelkennzeichnung, einschließlich der EU-Gütezeichen (g. g. A., g. U. und g. t. S.), um ökologische, gesellschaftliche sowie gesundheitliche und ernährungsphysiologische Aspekte würde den Verbrauchern zugutekommen.

6.2.

Bislang lag der Schwerpunkt der politischen Maßnahmen auf dem Nährwert und anderen gesundheitsbezogenen Angaben, doch weist der EWSA darauf hin, dass zunehmend Besorgnis über das Fehlen von Verbraucherinformationen und -bildung über die ökologischen und sozialen Auswirkungen von Lebensmitteln geäußert wird. Die Einführung eines klaren Systems zur Kennzeichnung des Ursprungs, der Herstellungsverfahren und des Nährwerts von Lebensmitteln würde den Verbrauchern die Wahl erleichtern. Auch die Rückverfolgbarkeit ist sowohl für die Lebensmittelerzeuger als auch für die Verbraucher von großer Bedeutung, um die Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten (27). Daher bekräftigt der EWSA seine Forderung nach der Entwicklung eines neuen intelligenten Systems zur Kennzeichnung nachhaltiger Lebensmittel, das auf EU-Ebene harmonisiert werden sollte (28). Dieses System sollte auch auf den neuen Rückverfolgbarkeits- und Zertifizierungsverfahren basieren und wird in den künftigen Arbeiten der Temporären Studiengruppe des EWSA „Nachhaltige Lebensmittelsysteme“eingehender geprüft werden. Technologien wie Apps für Mobilgeräte sowie Warenauszeichnungen im Einzelhandel, die alle erforderlichen Informationen und eine lückenlose Rückverfolgbarkeit bieten, sollten künftig in den Fokus gerückt werden.

7.   Öffentliches Auftragswesen

7.1.

Durch die Vergabe öffentlicher Aufträge wären die lokalen Behörden in der Lage, die Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung schrittweise in diversen öffentlichen Einrichtungen, insbesondere Schulen und Krankenhäusern, anzuwenden. Die Herstellung, der Verkauf und der Verzehr gesunder, lokaler und saisonaler Lebensmittel, die Nachhaltigkeit gewährleisten, würde zur Erreichung des Ziels 12.7 — eine nachhaltige öffentliche Auftragsvergabe — der Agenda 2030 beitragen. In den Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge sollten lokale Erzeuger bevorzugt werden, um eine gesunde Ernährung und die Entwicklung der lokalen Wirtschaft zu fördern.

7.2.

Es gibt bereits einige Initiativen zur Förderung der Beschaffung nachhaltiger Lebensmittel, die das wachsende Interesse an diesem Thema und das zunehmende Engagement der Zivilgesellschaft und der lokalen Behörden verdeutlichen. So unterstützt die Organisation ICLEI — Lokale Gebietskörperschaften für Nachhaltigkeit derzeit eine Initiative für eine verpflichtende schrittweise Umstellung auf die Beschaffung nachhaltiger Lebensmittel in allen europäischen Schulen und Kindergärten, wobei zunächst angestrebt wird, dass bis 202 220 % der Lebensmittel aus ökologischem Anbau stammen sollen.

7.3.

Der EWSA würdigt die Überarbeitung der EU-Kriterien für die umweltgerechte Vergabe öffentlicher Aufträge (GPP) für Lebensmittel und Verpflegungsdienstleistungen, die derzeit von der Gemeinsamen Forschungsstelle der Kommission vorgenommen wird. Der EWSA fordert, eindeutige und ambitioniertere Kriterien für nachhaltige Lebensmittel in die GPP aufzunehmen und rechtliche Hemmnisse zu beseitigen, vor allem im Hinblick auf die Wettbewerbsregeln.

8.   Wettbewerbsregeln

8.1.

Das Wettbewerbsrecht wird mitunter als Hindernis für die Erzeugung und den Vertrieb nachhaltiger und gesunder Lebensmittel dargestellt. Konsultationen mit der GD Wettbewerb der Kommission sollten sowohl die Klarstellung als auch die Anpassung an die bestehenden Vorschriften fördern, damit die europäischen Lebensmittelversorgungsketten bessere Bedingungen schaffen und ihren Übergang zur Nachhaltigkeit beschleunigen.

8.2.

Nach Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (29) sind den Wettbewerb beschränkende Vereinbarungen zwischen zwei oder mehreren unabhängigen Marktteilnehmern verboten. Hierbei geht es insbesondere um Preisabsprachen. Nach Artikel 101 Absatz 3 AEUV sind Vereinbarungen von dem Verbot nach Artikel 101 Absatz 1 ausgenommen, wenn sie objektive wirtschaftliche Vorteile schaffen, die stärker ins Gewicht fallen als die negativen Auswirkungen einer Wettbewerbsbeschränkung, z. B. durch einen Beitrag zur Verbesserung der Erzeugung oder den Vertrieb von Waren, und die Verbraucher angemessen an dem entstehenden Gewinn beteiligen (30).

8.3.

Für anerkannte Branchenverbände kann eine Ausnahme von Artikel 101 Absatz 1 AEUV gelten, falls sie bestimmte Bedingungen erfüllen. Gemäß Artikel 210 der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 (GMO-Verordnung) können Branchenverbände ihre Vereinbarungen der Kommission vorlegen, und wenn diese nicht innerhalb von zwei Monaten nach vollständiger Vorlage befindet, dass eine Vereinbarung mit den Unionsvorschriften unvereinbar ist, kommt Artikel 101 Absatz 1 AEUV nicht zur Anwendung. Die Vereinbarungen dürfen weder zur Festsetzung von Preisen bzw. Quoten noch zur Marktaufteilung führen noch andere Wettbewerbsverzerrungen verursachen. Unter Nutzung der Möglichkeiten der GMO-Verordnung könnten die Branchenverbände Vereinbarungen für höhere Nachhaltigkeitsstandards abschließen.

9.   Information und Sensibilisierung

9.1.

Der EWSA bekräftigt seinen Vorschlag, eine europaweite Informations- und Sensibilisierungskampagne über den „Wert von Lebensmitteln“auf den Weg zu bringen. Dies ist mit Blick auf eine langfristige Änderung des Verbraucherverhaltens erforderlich (31).

9.2.

Verstärkte Investitionen in die Ernährungserziehung in den Schulen sowie in der Berufsausbildung sind ebenfalls notwendig.

9.3.

Der EWSA fordert erneut EU-weite visuelle Werbekampagnen für gesündere Lebensmittel und Ernährungsgewohnheiten (32) — in Anlehnung an die an Kinder gerichteten, positiven sozialen Werbekampagnen einiger Fernsehsender, in denen beispielsweise eine ausgewogenere Ernährung propagiert wird. Wirksamere Kontrollen sollten für die an Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit einem hohen Gehalt an gesättigten Fettsäuren, Transfettsäuren, freien Zuckern und/oder Salz (HFZS-Lebensmittel) eingeführt werden, nicht nur zur Hauptsendezeit für Kinder, sondern auch über die sozialen Medien und andere kommerzielle Kanäle, die die Lebensmittelvorlieben von Kindern prägen (33) (34).

Brüssel, den 20. Februar 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  http://www.interacademies.org/48945/Global-food-systems-are-failing-humanity-and-speeding-up-climate-change.

(2)  https://www.c40.org/.

(3)  COM(2017) 713 final.

(4)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 18.

(5)  State of Food Insecurity in the world (SOFI) report 2018: http://www.fao.org/state-of-food-security-nutrition/en/.

(6)  HLPE, 2017. Ernährung und Lebensmittelsysteme.

(7)  http://www.ipcc.ch/news_and_events/pr_181008_P48_spm.shtml.

(8)  Kurzdarstellung der Stellungnahme zum Thema Lokale und regionale Anreize zur Förderung einer gesunden und nachhaltigen Ernährung.

(9)  http://www.milanurbanfoodpolicypact.org/.

(10)  Europäische Kommission (2018). Nichtübertragbare Krankheiten https://ec.europa.eu/health/non_communicable_diseases/overview_en.

(11)  Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, Zusammenfassung der jüngsten Daten über die Antibiotikaresistenz in der Europäischen Union (2017). https://ecdc.europa.eu/sites/portal/files/documents/EAAD%20EARS-Net%20summary.pdf.

(12)  Europäische Kommission, geographische Angaben und traditionelle Spezialitäten

http://ec.europa.eu/agriculture/quality/schemes/index_en.htm.

(13)  Berners-Lee M, et al (2018) Current global food production is sufficient to meet human nutritional needs in 2050 provided there is radical societal adaptation, Elementa, 6, 1, 52: http://doi.org/10.1525/elementa.310.

(14)  Ritchie H, D Reay & P Higgins (2017). Beyond Calories: A Holistic Assessment of the Global Food System, Frontiers in Sustainable Food Systems, 2, 57, doi: 10.3389/fsufs.2018.00057.

(15)  Siehe etwa den Bericht des World Resource Institute aus dem Jahr 2018 Creating a Sustainable Future. (https://www.wri.org/publication/creating-sustainable-food-future) sowie jenen der EAT-Lancet-Kommission Healthy Diets from Sustainable Food Systems (2019). Food in the Anthropocene https://eatforum.org/initiatives/eat-lancet/.

(16)  FDE (2018). Annual Report 2018. https://www.fooddrinkeurope.eu/uploads/publications_documents/FoodDrinkEurope_Annual_Report_INTERACTIVE.pdf.

(17)  Sustainable Food Trust (2017). The Hidden Cost of Food. Bristol.

http://sustainablefoodtrust.org/wp-content/uploads/2013/04/HCOF-Report-online-version.pdf.

(18)  UNEP (2017). TEEB for Agriculture and Food Interim Report. Nairobi: UN Environment Programme. http://teebweb.org/agrifood/home/teeb-for-agriculture-food-interim-report/.

(19)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 18.

(20)  Gonzalez-Fischer C, T Garnett (2016). Plates, pyramids, planet: Developments in national healthy and sustainable dietary guidelines: a state of play assessment. Rome and Oxford: FAO and Food Climate Research Network.

(21)  Siehe den Überblick in Lang T., Mason P. (2017). Sustainable diet policy development: implications of multi-criteria and other approaches, 2008–2017, Proceedings of the Nutrition Society, doi: 10.1017/S0029665117004074.

(22)  Health Council of the Netherlands (2011) Guidelines for a Healthy Diet: the Ecological Perspective. Contract No.: publication no. 2011/08E The Hague: Health Council of the Netherlands.

(23)  Voedingscentrum (2016). Netherland Nutrition Centre guidelines Wheel of Five (Appendix 13 on sustainability issues). Den Haag: Voedingscentrum.

(24)  National Food Administration, Environment Agency (2008) Environmentally Effective Food Choices: Proposal notified to the EU. Stockholm: National Food Administration.

(25)  Rat für Nachhaltige Entwicklung: Der Nachhaltige Warenkorb — Einfach besser einkaufen (2014). Berlin: Rat für Nachhaltige Entwicklung https://www.nachhaltigkeitsrat.de/projekte/der-nachhaltige-warenkorb//.

(26)  http://ec.europa.eu/research/bioeconomy/index.cfm?pg=policy&lib=food2030.

(27)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 64 .

(28)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 18.

(29)  ABl. C 326 vom 26.10.2012, S. 1.

(30)  COM(2018) 706 final https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/\?qid=1548067422942&uri=CELEX:52018DC0706.

(31)  Siehe Fußnote 12.

(32)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 64.

(33)  WHO Region for Europe (2018). Maßnahmen zur Einschränkung von an Kinder gerichteter Werbung für ungesunde Lebensmittel. Copenhagen: WHO Europe http://www.euro.who.int/en/health-topics/disease-prevention/nutrition/news/news/2018/10/policies-to-limit-marketing-of-unhealthy-foods-to-children-fall-short-of-protecting-their-health-and-rights.

(34)  Food Active & Children’s Food Campaign (2018). Junk Food Marketing to Children: a study of parents‘ perceptions. London. http://www.foodactive.org.uk/wp-content/uploads/2018/06/Junk-Food-Marketing-to-Children-a-study-of-parents-perceptions.pdf.


5.6.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 190/17


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu „Die digitale Revolution und die Bedürfnisse und Rechte der Bürgerinnen und Bürger“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 190/03)

Berichterstatter: Ulrich SAMM

Beschluss des Plenums

12.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

11.2.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.2.2019

Plenartagung Nr.

541

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

129/2/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die derzeitige digitale Revolution hat das Potenzial, die Gesellschaft und Wirtschaft sowie das Arbeitsumfeld grundlegend zu verändern und langfristige Vorteile sowohl für das Wirtschaftswachstum als auch die Lebensqualität mit sich zu bringen, was sich auf alle Sektoren auswirken und die Art, wie wir leben, arbeiten und kommunizieren, verändern wird. Der EWSA hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass der — von Menschen initiierte — Wandel allen zugutekommen sollte. Der EWSA begrüßt daher alle politischen und zivilgesellschaftlichen Maßnahmen, die den europäischen Bürgerinnen und Bürgern helfen. In dieser Stellungnahme geht es in erster Linie um die Bedürfnisse und Anliegen der Bürger, sei es in ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmer, Arbeitgeber oder allgemein als Verbraucher, und um die Bereiche, in denen die Einbeziehung der Zivilgesellschaft von entscheidender Bedeutung ist. Der digitale Wandel kann nur dann erfolgreich sein, wenn er vorausschauend gestaltet wird.

1.2.

Die Digitalisierung kann, gerade wenn neue digitale Produkte und Dienstleistungen eingeführt werden, sehr rasch voranschreiten (wie im Falle der Mobiltelefone/Smartphones) oder aber sie kann in bestimmten Bereichen, in denen die Öffentlichkeit und die Gesellschaft insgesamt die Technologie nicht ohne weiteres annehmen, auch langsam vonstattengehen, beispielsweise, wenn die Autonomie, Verantwortung, Sicherheit, Würde und Privatsphäre der Menschen berührt werden.

1.3.

Die Digitalisierung eröffnet den Menschen in bisher ungekannter Weise eine Fülle neuer Entscheidungsmöglichkeiten für ein besseres Leben. Indes sind wir, je stärker die Digitalisierung unser Leben bestimmt, desto anfälliger für Manipulation. In Bereichen wie Autofahren, Essensauswahl, gesundheitsbewusstes Verhalten, Heizen des Wohnbereichs, Rauchen, Trinken, Umgang mit Geld und vielem mehr kann so unsere Autonomie untergraben werden. Der EWSA fordert, dass mit Blick auf diese sich rasch entwickelnden Technologien transparente Regeln entwickelt, angepasst und angewandt werden. Gute Technik, die überzeugt, sollte nicht durch Manipulation, sondern durch Schulungen und unter Beachtung des Grundsatzes der Entscheidungsfreiheit vermittelt werden, um menschliche Autonomie zu gewährleisten.

1.4.

Der EWSA hat eine eindeutige Haltung zu der Frage, inwieweit es ethisch vertretbar ist, die Verantwortung für Entscheidungen (mit moralischer Tragweite) auf KI-gestützte Systeme zu übertragen. Automatisierte Systeme — wie komplex sie auch immer sein mögen — müssen im Rahmen eines menschenkontrollierten Ansatzes betrieben werden. Nur Menschen treffen endgültige Entscheidungen und tragen dafür auch die Verantwortung.

1.5.

Mit der zunehmenden Gebäudeautomation bieten sich Hackern immer mehr Angriffspunkte. Die Verbraucher müssen über diese Risiken informiert werden und Unterstützung in Sicherheitsfragen erhalten, insbesondere wenn Hacker versuchen, die Kontrolle über intelligente Geräte zu übernehmen. Der EWSA fordert die EU dazu auf, bestehende Sicherheitsvorschriften zu überarbeiten und für neue, sich ständig weiterentwickelnde Technologien strenge Sicherheitsbestimmungen zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger in ihrem Zuhause zu entwerfen und anzupassen.

1.6.

Der EWSA begrüßt den Ansatz, die Straßenverkehrssicherheit durch mehr digitale Technologie in Autos zu verbessern, bringt aber auch seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass diese Verbesserungen nur langsam greifen. Um den Übergang zu mehr automatisiertem Fahren zu beschleunigen, fordert der EWSA von der EU mehr Anreize sowohl mit Blick auf die hohen Kosten (Anschaffung von Neuwagen) als auch auf die unzureichende Akzeptanz der Assistenzsysteme (Komplexität, fehlende Anleitung). Der EWSA ist der Auffassung, dass für einen Erfolg vollkommen autonomer, 100%ig sicherer Fahrzeuge eine europäische Strategie zur Anpassung der Straßensysteme entwickelt werden muss.

1.7.

Der EWSA fordert angesichts der sich rasch verändernden digitalen Technologie eine Anpassung und Überarbeitung der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO). Insbesondere neue Gesichtserkennungstechniken sind eine Bedrohung für unsere Privatsphäre. Da diese Technik immer billiger und für jedermann immer leichter zugänglich wird, könnte dies letztlich dazu führen, dass es nicht mehr möglich sein wird, anonym spazieren zu gehen oder einzukaufen. Die Bedrohung der Privatsphäre und der Autonomie nimmt noch zu, wenn diese Technologien für Profiling oder Scoring eingesetzt werden. Der EWSA vertritt entschieden die Ansicht, dass Menschen auch im öffentlichen Raum ein Recht auf Privatsphäre haben sollten. Der EWSA fordert die Kommission dazu auf, die DS-GVO sowie die damit zusammenhängenden Bestimmungen entsprechend dem Tempo des technologischen Wandels regelmäßig zu überarbeiten.

1.8.

Der einzelne Verbraucher, der nicht über professionelle digitale Kompetenzen verfügt, benötigt viel Unterstützung bei der Nutzung komplexer digitaler Systeme, seien es Haushaltsgeräte oder digitale Plattformen. Benutzerhandbücher können sehr lang sein, und die Erlaubnis zur Nutzung bestimmter Daten wird oft unwissentlich erteilt. Der EWSA ist der Überzeugung, dass Transparenz allein nicht ausreicht, und dementsprechend sind zur Unterstützung der Verbraucher auch Vereinfachungen und EU-weit standardisierte Verfahren notwendig.

1.9.

Digitale Plattformen können das Verhalten ihre Nutzer problemlos mit einfachen Werkzeugen verfolgen. Dies bedeutet, dass bei einer vorsätzlich missbräuchlichen Verwendung von Daten, von der die betroffenen Menschen keine Kenntnis haben, die DS-GVO keinen ausreichenden Schutz der Privatsphäre gewährleistet. Der EWSA ist der Überzeugung, dass der Schutz der Privatsphäre nur dadurch gewährleistet werden kann, wenn außerdem der Zugang zu sensiblen Daten auf eine begrenzte Anzahl von Personen mit besonderen Zugriffsrechten beschränkt wird. Die Sicherheitsmaßnahmen müssen den strengsten und zuverlässigsten Normen entsprechen und regelmäßig durch unabhängige Stellen der EU überprüft werden.

1.10.

Der EWSA ist darüber besorgt, dass auf biometrischen Daten beruhende Überwachungssysteme zu einer falschen Einstufung und zu Stigmatisierung führen können, wenn beispielsweise jemand automatisch einer bestimmten Kategorie zugeordnet und als Terrorist, Krimineller oder unzuverlässige Person eingestuft wird. Systeme, die Menschen automatisch als verdächtig einstufen, sollten niemals ohne intensive menschliche Beteiligung und gründliche Überprüfung arbeiten.

1.11.

Es wird davon ausgegangen, dass Robotertechnik auch im Gesundheitswesen zum Einsatz kommen wird. Roboter sind allerdings Geräte, die im Bereich der Pflege von Menschen keine empathischen Fähigkeiten besitzen und nicht in der Lage sind, die Wechselwirkungen menschlicher Beziehungen nachzuahmen. Ohne entsprechende Rahmenbedingungen kann der Einsatz von Robotern die Menschenwürde beeinträchtigen. Pflegeroboter sollten daher nur für Pflegeaufgaben, die keine menschliche Zuwendung erfordern und keine Körperpflege beinhalten, eingesetzt werden.

1.12.

Der EWSA empfiehlt — wann immer in Industrie und Handel sowie im Dienstleistungssektor neue Automatisierungssysteme geplant werden — die Nutzung objektiver wissenschaftlicher Methoden zur Optimierung und Bewertung der Mensch-Maschine-Interaktion. Die wissenschaftlichen Methoden der kognitiven Ergonomie ermöglichen eine objektive Bewertung der psychischen Anforderungen beim Umgang mit neuen technischen Assistenzsystemen. Zur Einschätzung von Benutzerschnittstellen kommen in ihr verschiedene Forschungsdisziplinen, wie z. B. Psychologie und Ergonomie, zum Einsatz. Der EWSA ist davon überzeugt, dass die Digitalisierung langfristig nur mit einem Ansatz erfolgreich sein kann, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht.

1.13.

Der EWSA spricht sich dafür aus, zu untersuchen, inwieweit ein ungleicher Zugang zu den neuen digitalen Technologien und damit verbundene Kompetenzlücken ein regionales Entwicklungsgefälle und mögliche soziale Ungleichheiten mitsamt ihren potenziellen Auswirkungen auf den Zusammenhalt der EU bedingen.

2.   Einführung

2.1.

Der EWSA hat bereits in früheren Stellungnahmen (1) die Einrichtung eines Programms „Digitales Europa“durch die Europäische Kommission begrüßt, das darauf ausgerichtet ist, Europa zu einem der führenden Akteure im Bereich der Digitalisierung zu machen und seine wirtschaftliche Stärke und Wettbewerbsfähigkeit auf der Weltbühne auszubauen, um die Entstehung eines digitalen Binnenmarkts zu ermöglichen und für alle Bürger Europas den digitalen Wandel in positiver Weise zu gestalten.

2.2.

Die aktuelle digitale Revolution hat die Gesellschaft bereits verändert und wird dies in Zukunft noch stärker viel tun. Dieser Wandel betrifft die Wirtschaft ebenso wie die einzelnen Arbeitsplätze, geht mit langfristigen Vorteilen sowohl für das Wirtschaftswachstum als auch für die Lebensqualität einher, wird sich auf alle Sektoren auswirken und die Art, wie wir leben, arbeiten und kommunizieren, verändern. Der EWSA hat deutlich zum Ausdruck gebracht (2), dass der — von Menschen initiierte — Wandel allen zugutekommen sollte. Der EWSA begrüßt daher alle politischen und zivilgesellschaftlichen Maßnahmen, die den europäischen Bürgerinnen und Bürgern helfen. In dieser Stellungnahme liegt der Schwerpunkt in erster Linie auf den Bedürfnissen und Anliegen der Bürger‚ sei es als Arbeitnehmer, Arbeitgeber oder als Verbraucher im Allgemeinen. Es werden Bereiche aufgezeigt, in denen die Einbeziehung der Zivilgesellschaft entscheidend für eine vorausschauende und erfolgreiche Gestaltung des digitalen Wandels ist.

2.3.

Die Digitalisierung kann, gerade wenn neue digitale Produkte und Dienstleistungen eingeführt werden, sehr rasch voranschreiten (wie im Falle der Mobiltelefone/Smartphones) oder aber sie kann in bestimmten Bereichen, in denen die Öffentlichkeit und die Gesellschaft insgesamt die Technologie nicht ohne weiteres annehmen, auch langsam vonstattengehen, beispielsweise, wenn die Autonomie, Verantwortung, Sicherheit, Würde und Privatsphäre der Menschen berührt werden. Die Analyse in dieser Stellungnahme beruht zum Teil auf einer Arbeit von Royakkers et al., Ethics and Information Technology (2018).

2.4.

Die Entwicklung neuer digitaler Anwendungen wird nicht nur, wie viele glauben, von den Internetgiganten wie Google, Apple, Facebook, Amazon oder Microsoft vorangetrieben, sondern von vielen technikbegeisterten Menschen in der Industrie, in Laboratorien und an Hochschulen. Und diese Begeisterung wird von vielen Menschen in der Gesellschaft geteilt. Allerdings gibt es auch eine erhebliche Minderheit, die skeptisch oder besorgt ist, sei es, weil sie ihre Privatsphäre, ihre Eigenständigkeit, ihre Sicherheit oder Ähnliches bedroht sieht, sei es vielleicht aber auch, weil es an Verständnis mangelt oder eine grundlegende Angst vor der Zukunft besteht. Der digitale Wandel ist nicht allein technologiebestimmt. Die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen und der Gesellschaft sollten ebenso wie ihre Rechte die weitere technische Entwicklung maßgeblich beeinflussen. Eine große Herausforderung für alle Beteiligten und insbesondere für die Zivilgesellschaft ist die Einbeziehung der Menschen in die Gestaltung und Entscheidungsfindung, damit der digitale Wandel zu einem Erfolg wird. Dies bedeutet auch, dass der Zugang zu sicheren und erschwinglichen Internetanschlüssen gewährleistet sein sollte, damit Diskriminierung und Ausgrenzung vermieden werden.

3.   Die Geschwindigkeit des digitalen Wandels

3.1.

Die digitale Revolution bezeichnet den Übergang von der mechanischen und analogen elektronischen Technologie zur digitalen Elektronik, der sich zwischen dem Ende der 50er-Jahre und dem Ende der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts mit dem Aufkommen und der Verbreitung von Großrechnern und PCs vollzog. In den 80er-Jahren fand die Digitaltechnik in vielen Bereichen erhebliche Verbreitung. Tablets und Smartphones werden mittlerweile mehr genutzt als PCs.

3.2.

Im Jahr 1991 wurde das World Wide Web für die Öffentlichkeit zugänglich, und so gab es eine neue Infrastruktur, über die digitale Geräte miteinander verbunden und neue Funktionen geschaffen werden konnten, die weit über die Möglichkeiten des einzelnen digitalen Geräts hinausgingen. Die Kombination dieser technischen Möglichkeiten hat die Art und Weise, wie wir kommunizieren, arbeiten und Geschäfte tätigen, grundlegend verändert. Digitale Plattformen haben völlig neue Möglichkeiten eröffnet. Einige Beispiele sind hier Airbnb, Uber und Amazon, die sich in wenigen Jahren zu wichtigen Wirtschaftsakteuren entwickelt haben.

3.3.

Einer weiteren Digitalisierung scheinen keinerlei Grenzen gesetzt zu sein. Die zunehmende Verwendung intelligenter Sensoren ermöglicht es, Daten (Standort, Bewegung, Umweltdaten, biologische Daten, chemische Daten) völlig beliebiger Gegenstände zu erfassen und zu verarbeiten (Internet der Dinge). Es gibt praktisch keine Beschränkung der Anzahl der Sensoren, sodass es theoretisch möglich ist, eine digitale Karte unserer gesamten physikalischen Umgebung zu erstellen. Mit der künftigen schnellen Breitbandtechnik (5G) wird es möglich sein, in Echtzeit auf Sensordaten zu reagieren.

3.4.

Riesige Datenmengen aus Sensoren und Plattformaktivitäten (Big Data) werden von Computerprogrammen auf der Grundlage bestimmter Algorithmen verarbeitet. Programmierer können diese Algorithmen entweder eng definieren oder sie dynamisch mithilfe einer Reihe von Eingabedaten (maschinelles Lernen oder künstliche Intelligenz) erzeugen. Vor allem von der künstlichen Intelligenz erhoffen sich viele bedeutende technologische Durchbrüche (3). Die Frage, in was für einem Umfang wir Maschinen gestatten, Entscheidungen (mit moralischer Tragweite) zu treffen, ist von maßgebender Bedeutung und erfordert soziale und politische Kontrolle. Erheblicher Kontrollverlust und mangelnde Transparenz haben den Ruf nach Einschränkungen für automatische Computersysteme in bestimmten Bereichen (z. B. in der Finanztechnologie) bereits unüberhörbar werden lassen.

3.5.

Die Digitalisierung der Gesellschaft schreitet ungemein rasch voran. Öffentliche Einrichtungen und Unternehmen verfolgen vielfältige neue Ansätze. Das zeigen Pilotprojekte und neue Produkte, die bereits auf dem Markt eingeführt werden. Die Marktdurchdringung dieser neuen Produkte kann jedoch je nach Bereich erhebliche Unterschiede aufweisen und auch langsam erfolgen. Dies ist in bestimmten Bereichen der Fall, in denen eine Technologie nicht kritiklos angenommen wird, wie es in den folgenden Absätzen beschrieben ist.

3.6.

Ein typisches Beispiel für das Internet der Dinge mit begrenzter Akzeptanz sind Gebäudeautomation oder Smart-Home-Systeme zur Steuerung von Beleuchtung, Heizung, Unterhaltungsgeräten oder -einheiten, Haushaltsgeräten und vielem anderem mehr. Zugangskontrollsysteme und mit Kameras ausgestattete Alarmanlagen können Videos hochladen. Für Gebäudeautomationssysteme gibt es keine technischen Standards, weshalb die Entwicklung einheitlich funktionierender Anwendungen für verschiedene Objekte schwierig ist. Eventuell sind auch Fachkenntnisse und ständige Aktualisierungen erforderlich. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass es sich bei den meisten Wohnbereichen um gemeinsame Lebensbereiche von Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Kenntnissen und Fähigkeiten (z. B. Kinder, ältere Menschen und Gäste) handelt. Das Leben von nur einer Person lässt sich in einem intelligenten Zuhause viel leichter regeln.

3.7.

Intelligente Fahrzeugsensoren ermöglichen eine vernetzte und automatisierte Mobilität‚ indem sie ein neues Spektrum an Funktionen für mehr Komfort und Sicherheit und letztendlich bei einer umfassenden Automatisierung für eine größtmögliche Sicherheit im Straßenverkehr (4) eröffnen. Die Technik des automatisierten Fahrens ist angemessen ausgereift, aber aus verschiedenen Gründen schreitet die flächendeckende Anwendung nur langsam voran. Erstens sind höhere Stufen automatisierten Fahrens nur mit Neuwagen möglich, bei denen die Sensoren und zentralen Recheneinheiten integraler Bestandteil des Fahrzeugs sind. Die entsprechenden Kosten für Einzelpersonen und die Gesellschaft sind ein Hindernis für die Marktdurchdringung. Zweitens kann eine wachsende Zahl von Assistenzsystemen das Führen eines Fahrzeugs erheblich komplexer machen, was wiederum zu einer beschränkten Akzeptanz führt. Drittens ist die Anforderung, dass vollkommen autonome Fahrzeuge 100 % sicher sein sollen, ein großes Hindernis, solange sich diese Fahrzeuge die Straße mit konventionellen Pkw und anderen Verkehrsteilnehmern teilen. Vollständig autonome Fahrzeuge stellen eine Herausforderung dar, da sie eine grundlegende Neugestaltung des Straßensystems erforderlich machen.

3.8.

Google und Facebook nutzen künstliche Intelligenz bereits intensiv und erfolgreich zur „Optimierung“bei der Darstellung von Informationen und Werbung. Es gibt jedoch viele weitere Bereiche, in denen KI zum Einsatz kommen kann und wird und (beispielsweise in wissensbasierten Berufen) eine enorme Unterstützung bei kognitiven Arbeiten bietet. Die Entwicklungen können in einigen dieser Bereiche jedoch langsamer vonstattengehen als erwartet, was auf ein grundlegendes Problem zurückzuführen ist, das kürzlich so beschrieben wurde: „Die künstliche Intelligenz stößt nicht infolge technischer Probleme (Computerleistung) an Grenzen, sondern weil uns grundlegendes Wissen über menschliche Lern- und Denkprozesse fehlt.“Das Verlassen bisheriger Denkmuster und ein lebenserfahrungsbasierter Ansatz sind immer noch dem Menschen vorbehalten.

3.9.

Es gibt einige sehr erfolgreiche Vorreiter bei der Gestaltung öffentlicher Dienstleistungen als flexible e-Lösungen. In Estland beispielsweise ist eine Vielzahl von Dienstleistungen, wie elektronische Behördendienste‚ elektronische Steuerverwaltung, elektronische Gesundheitsdienste oder elektronische Stimmabgabe gut angenommen worden und wird von vielen als beispielhafte Technik gesehen, die — mit Blick auf die Interoperabilität vorzugsweise mit denselben Standards — in allen EU-Ländern umgesetzt werden sollte. Nur über eine EU-weite Strategie und finanziell gut ausgestattete Projekte können die Hindernisse überwunden werden, die sich aus der bestehenden großen Vielfalt von Regionen, Institutionen und Kulturen sowie aufgrund der Forderung nach Subsidiarität anstatt zentraler Regelung ergeben.

4.   Bedenken und Empfehlungen

4.1.   Im Jahr 2017 veröffentlichte die Europäische Kommission eine Eurobarometer-Umfrage (5), aus der hervorgeht, dass 76 % der Menschen, die das Internet täglich nutzen, die Auswirkungen dieser Technik auf ihre Lebensqualität als positiv empfinden, wohingegen 38 % das Internet überhaupt nicht nutzen. Der letztgenannte Prozentsatz kann auf einen Mangel an digitalen Kompetenzen zurückzuführen sein, aber es gibt auch eine beträchtliche Zahl von Personen, die zwar über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen, aber ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Internetnutzung haben und daher davor zurückschrecken. Dieser Standpunkt muss respektiert und ernst genommen werden. Geäußert werden Bedenken insbesondere mit Blick auf die Fragen Autonomie, Verantwortung, Sicherheit, Menschenwürde, Schutz der Privatsphäre und Arbeitsbedingungen. Darauf wird im Folgenden eingegangen.

4.2.   Autonomie

4.2.1.

Wenn jemand den Anspruch erhebt, besser zu wissen, was für andere Menschen gut ist, als diese Menschen selbst, sprechen wir von Bevormundung, die als technische Bevormundung auch durch Technik ausgeübt werden kann. Bevormundung kann über Überzeugung oder Zwang ausgeübt werden. Gute Technik, die überzeugt, sollte nicht durch Manipulation, sondern durch Schulungen und unter Beachtung der erforderlichen Entscheidungsfreiheit vermittelt werden, um menschliche Autonomie zu gewährleisten. Die Digitalisierung eröffnet den Menschen in bisher ungekannter Weise eine Fülle neuer Entscheidungsmöglichkeiten für ein besseres Leben. Indes sind wir, je stärker die Digitalisierung unser Leben bestimmt, desto anfälliger für Manipulation. Dies untergräbt unsere Autonomie in Bereichen wie Autofahren, Essensauswahl, gesundheitsbewusstes Verhalten, Heizen des Wohnbereichs, Rauchen, Trinken, Umgang mit Geld und — wie Ereignisse der jüngsten Vergangenheit zeigen — sogar Wahlen, was, wenn es zu Manipulationen kommt, eine Bedrohung für die Demokratie darstellen kann. Der EWSA fordert die Entwicklung, Anpassung und Anwendung transparenter Vorschriften sowie gegebenenfalls strenger rechtlicher Maßnahmen für diese sich rasch entwickelnden Technologien.

4.2.2.

Das augenfälligste Beispiel für einen extremen Einsatz der Digitaltechnik zur Beeinflussung von Menschen ist in China zu beobachten. Jedem einzelnen Bürger wird von der chinesischen Regierung im Rahmen eines Sozialkreditsystems ein Bürgerwert zugesprochen, aufgrund dessen beschlossen wird, ob jemand für ein Darlehen, ein Visum oder eine Arbeitsstelle infrage kommt. Dies steht im krassen Gegensatz zu den europäischen Werten und Rechten (Datenschutz, Privatsphäre, Sozialschutz, Nachhaltigkeit).

4.2.3.

Es ist die Tendenz zu beobachten, dass Menschen einen wachsenden Wunsch nach einem stärker analogen Leben entwickeln, zumindest zeitweise. Es gibt „Digital-Detox“-Ferien‚ bei denen Erwachsene ein netzfreies Wochenende ohne digitale Medien verbringen. Oder Menschen sind offline, um sich ihren Kindern, Familien und Freunden zu widmen, d. h. ohne Smartphone in der Hand. Die Nachfrage nach Dingen, die nunmehr als analog gelten, ist konstant, auch wenn es digitale Alternativen gibt: Bücher, Musik, die ohne Computer entstanden ist, Vinylplatten, Papier, Füllfederhalter und vieles mehr. Eine Reihe hochrangiger Führungskräfte ist dafür bekannt, dass sie bei ihren E-Mails ab und zu Tabula rasa machen und jede E-Mail in ihrem Posteingang löschen oder ihr Konto gar vollständig schließen, um sich von der Flut der elektronischen Kommunikation zu erholen. Der EWSA ist der Auffassung, dass auch eine derartige Gegensteuerung benötigt wird, damit der digitale Wandel erfolgreich und für alle akzeptabel sein kann, und er warnt davor, die Ersetzung analoger Techniken mit zu viel Druck zu betreiben.

4.3.   Verantwortung

„Man out of the loop“(d. h. ohne menschliche Intervention) bezeichnet im Englischen die vollständige Automatisierung‚ bei der das System eine Entscheidung ohne menschliches Eingreifen trifft. Entsprechende Beispiele sind Wissenssysteme, die medizinische Diagnosen auf der Grundlage einer großen Menge von Informationen erstellen, oder Militärroboter, die anhand von Informationen aus verschiedenen Quellen Entscheidungen über Leben und Tod fällen. Die entscheidende Frage, die häufig gestellt wird, lautet: Inwieweit ist es ethisch vertretbar, KI-basierten Systemen Entscheidungen (mit moralischer Tragweite) zu übertragen? Der EWSA hat sich diesbezüglich bereits klar geäußert (6): „Verantwortung“und „Moral“sind Begriffe, die ausschließlich mit Blick auf den Menschen Gültigkeit haben, wohingegen bestimmte Merkmale des Geistes oder der Persönlichkeit auf Roboter nicht zutreffen. Automatisierte Systeme — wie komplex sie auch immer sein mögen — müssen im Rahmen eines menschenkontrollierten Ansatzes betrieben werden. Nur Menschen treffen endgültige Entscheidungen und tragen dafür auch die Verantwortung.

4.4.   Sicherheit und Verbraucher

4.4.1.

Coole neue technische Spielereien, die unsere Häuser zu Smart Homes machen, machen sie auch anfälliger. Wenn immer mehr unserer Geräte — Smart-TV, Webcams, Spielkonsolen und Smartwatches — mit dem Internet verbunden sind, ist auch ein guter Verteidigungsplan für das Heimnetzwerk erforderlich. Smartwatches und andere tragbare Geräte sind eine Erweiterung des Smartphones und ermöglichen den sofortigen Zugriff auf leistungsstarke Apps, E-Mail, Textnachrichten und das Internet. Hacker haben nicht nur Interesse daran, auf Informationen zugreifen zu können, sondern auch daran, die Kontrolle über intelligente Geräte zu übernehmen. Sicherheitsexperten haben gezeigt, wie einfach es ist, die Spielzeugpuppe Cayla zu hacken, und dass selbst eine Insulinpumpe gehackt oder der Besitzer einer Smartwatch ausspioniert werden kann. Die Verbraucher müssen auf diese Risiken aufmerksam gemacht werden. Der EWSA fordert die EU dazu auf, bestehende Sicherheitsvorschriften zu überarbeiten und für neue, sich ständig weiterentwickelnde Technologien strenge Sicherheitsbestimmungen zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger in ihrem Zuhause zu entwerfen und anzupassen.

4.4.2.

Biometrische Anwendungen (Gesichtserkennung, Fingerabdrücke, Irisscan) sind großartig, wenn das System gut funktioniert. Für die Menschen jedoch, die das System fälschlicherweise als verdächtig einstuft, ist es häufig jedoch sehr schwierig, diese Fehler zu korrigieren. Die Nutzung biometrischer Daten kann zu einer falschen Einstufung und Stigmatisierung führen, wenn jemand automatisch einer bestimmten Kategorie zugeordnet und als Terrorist, Krimineller oder unzuverlässige Person eingestuft wird. Dies kann zu einer Umkehr der Unschuldsvermutung führen. Außerdem scheint es, als ob biometrische Daten nicht für alle genutzt werden können. So können aufgrund fortgeschrittenen Alters, der Zugehörigkeit zu bestimmten Berufen oder einer chemotherapeutischen Behandlung beispielsweise 2 % der menschlichen Fingerabdrücke nicht „gelesen“werden. Die digitalen Systeme, die in unserer Gesellschaft genutzt werden, müssen so gestaltet sein, dass Menschen, die in irgendeiner Hinsicht aus der Norm fallen, nicht ausgeschlossen oder diskriminiert werden. Systeme, die Menschen automatisch als verdächtig einstufen, sollten niemals ohne intensive menschliche Beteiligung und gründliche Überprüfung arbeiten.

4.4.3.

Identitätsbetrug ist ein großes Problem. Identitätsbetrug bezeichnet die vorsätzliche Erlangung, Aneignung, Verwendung oder Schaffung falscher persönlicher Daten in der Absicht, Straftaten zu begehen. Unsere Gesellschaft braucht ausreichende rechtliche Unterstützung, um die Opfer eines derartigen Identitätsbetrugs zu schützen.

4.5.   Würde des Menschen

4.5.1.

Robotertechnik im Gesundheitswesen gibt Anlass zur Sorge. Roboter sind Geräte, die im Bereich der Pflege von Menschen keine empathischen Fähigkeiten besitzen und nicht in der Lage sind, die Wechselwirkungen menschlicher Beziehungen nachzuahmen. Pflegeroboter sollten daher nur für Pflegeaufgaben, die keine menschliche Zuwendung erfordern und keine Körperpflege beinhalten, eingesetzt werden. Ohne entsprechende Rahmenbedingungen kann der Einsatz von Robotern die Menschenwürde beeinträchtigen.

4.6.   Privatsphäre

4.6.1.

Gesichtserkennung dient dazu, das Gesichtsprofil einer Person mit einer Datenbank daraufhin abzugleichen, ob die überprüfte Person in dieser Datenbank erfasst ist. Genutzt wird die Gesichtserkennung bei polizeilichen Ermittlungen oder im Zusammenhang mit Sicherheitskameras im öffentlichen Raum im Rahmen gesetzlicher Regelungen. Derartig hochsensible Informationen müssen sicher aufbewahrt werden. Die Kosten für Gesichtserkennung werden jedoch sinken, und die Möglichkeit ihrer Anwendung wird überall einfacher — in Geschäften, Unternehmen und sogar für Privatpersonen. Es gibt Bestrebungen, diese Techniken sogar für die Erkennung von Emotionen einzusetzen. Es besteht die Angst, dass die Gesichtserkennungstechnik letztlich dazu führen könnte, dass es nicht mehr möglich ist, anonym spazieren zu gehen oder einzukaufen. Nach Ansicht des EWSA müssen die Menschen auch im öffentlichen Raum ein Recht auf eine Privatsphäre haben. Grundsätzlich muss eine Gesichtserkennung über Kameras ohne Kenntnis der betroffenen Personen verboten werden.

4.6.2.

Das Szenario des „Großen Bruders“, in dem eine Regierung alle Menschen unter Beobachtung hält, ist zwar bereits bekannt, aber das Szenario des „Kleinen Bruders“, in dem sich Privatpersonen oder kleine Unternehmen gegenseitig ausspionieren, rückt immer mehr in den Bereich des Möglichen. So können z. B. als Smartglasses bekannte Datenbrillen dazu genutzt werden, Daten über einen Gesprächspartner oder Besucher zu erfassen und abzurufen. Mit dem Fortschreiten weit entwickelter und erschwinglicher Techniken wird es weitere elektronische Überwachungsgeräte geben. Der EWSA betont, dass über die aktuelle DS-GVO hinaus klare und strenge Bestimmungen zum Schutz der Privatsphäre der Menschen erforderlich sind.

4.6.3.

Je höher der Grad der Hausautomation, desto transparenter wird der Wohnbereich, der eigentlich als Privatsphäre betrachtet wird. Die Trennlinie zwischen Wohnbereich und Außenwelt verschwimmt, da die Wände das Haus nicht mehr vor neugierigen Blicken schützen. Unterhaltungsgeräte, Alarmsysteme mit Sicherheitskameras und zentrale Steuerungsanlagen (Desktop-Computer, Smartphones, intelligente Lautsprecher) bieten Hackern eine Reihe von Angriffspunkten. Der EWSA fordert ein koordiniertes Vorgehen der EU, um Verbraucher über diese Risiken zu informieren und ihnen Unterstützung in Sicherheitsfragen zu geben.

4.6.4.

Ein Risiko digitaler Systeme liegt in ihrer Komplexität. Insbesondere der einzelne Verbraucher ohne professionelle digitale Kompetenzen benötigt viel Unterstützung. Beispielsweise können Handbücher für digitale Geräte sehr lang sein. Normalerweise wird in ihnen vor Datenschutzproblemen gewarnt, aber die Freigabe bestimmter Daten erfolgt häufig unbewusst, weil die Menschen nicht das gesamte Handbuch verstehen oder weil sie aufgrund der vielen Datennutzungseinwilligungen, die gegeben werden müssen, wenn Geräte Daten erfassen, „einwilligungsmüde“sind. Dies wirft die Frage auf, wo hier die Verantwortung liegt. Der EWSA spricht sich für eine Vereinfachung aus und schlägt vor, EU-weit einheitliche Verfahren oder für alle einfach verständliche Standardpakete zum Schutz der Privatsphäre einzuführen.

4.6.5.

Die Frage der Privatsphäre betrifft auch digitale Plattformen. Plattformen können das Verhalten ihre Nutzer problemlos mit einfachen Werkzeugen verfolgen. Beispielsweise nutzten Angestellte des Unternehmens Uber die unternehmensinterne Anwendung „God View“, um Fahrten von Politikern, Prominenten und anderen Personen zu verfolgen, eine Praxis, die nach einem Gerichtsverfahren ein Ende gefunden hat. Dennoch werden technisch nach wie vor Verfolgungs- und Verbindungsdaten erfasst. Der EWSA ist der Überzeugung, dass der Schutz der Privatsphäre nur durch weitere Maßnahmen gewährleistet werden kann: Beschränkung des Zugangs zu sensiblen Daten auf eine begrenzte Anzahl von Personen mit besonderen Zugriffsrechten. Derartige Sicherheitsmaßnahmen müssen den strengsten und zuverlässigsten Normen entsprechen und regelmäßig durch unabhängige Stellen der EU überprüft werden.

4.7.   Arbeit in der Zukunft

4.7.1.

Auch im digitalen Zeitalter wird die Arbeit die wesentliche Einnahmequelle bleiben. Im digitalen Wandel sind die Beschäftigungsfähigkeit aus Sicht des Arbeitgebers und die Arbeitsfähigkeit aus Sicht des Arbeitnehmers zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Die Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer an neue Aufgaben entspricht der Möglichkeit, die Arbeit mittels digitaler Technik an individuelle Arbeitsaufträge anzupassen. Da die Grenze zwischen Erwerbsarbeit und privater Arbeit immer mehr verschwimmt, stehen insbesondere die Sozialpartner vor der Herausforderung, neue Kriterien für eine gerechte Bemessung der individuellen Leistung zu finden und festzulegen. Eine vorausschauende Sicht auf den digitalen Wandel erfordert die Einbeziehung der Arbeitnehmer durch Information, Konsultation und Beteiligung. Soziale Sicherheit, öffentliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und die Sicherung der ökologischen Lebensgrundlagen bleiben die Voraussetzungen für die künftige arbeitende Gesellschaft im digitalen Wandel.

4.7.2.

Automatisierung und Roboter werden erhebliche Auswirkungen auf die Zukunft der Arbeit haben. So ist die Nutzung fahrerloser Transportsysteme in Lagerhäusern bereits allgemein üblich. Roboter können darüber hinaus für eintönige, schwere oder gefährliche Arbeitsabläufe eingesetzt werden. Eine neue Generation dieser „kollaborativen Roboter“kann zu physischen Partnern von Arbeitern werden und gerade für Menschen mit körperlichen Behinderungen besonders hilfreich sein. Gegenwärtig werden Roboter vorwiegend für physische Tätigkeiten eingesetzt, aber mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Roboter werden auch intellektuelle Tätigkeiten übernehmen. Die entsprechenden Auswirkungen werden in vielen Berufen zu spüren sein, da bestimmte Aufgaben dann von Robotern übernommen werden oder menschliche Arbeitnehmer sogar vollständig durch Roboter ersetzt werden. Das war in den vergangenen Jahrzehnten bereits zu beobachten. Schätzungen zufolge wird die Beschäftigungssituation bis 2022 in allen Industriezweigen stabil bleiben. Ein Blick auf die großen Unternehmen zeigt sogar, dass im Zuge des Wandels bei der Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine fast doppelt so viele neue Arbeitsplätze und funktionale Rollen entstanden sind, wie weggefallen sind. Der EWSA hat sich mit diesen Fragen in diversen Stellungnahmen befasst (7).

4.7.3.

Ein ungleicher Zugang zu den neuen digitalen Technologien und damit verbundene Kompetenzlücken können ein allmählich wachsendes regionales Entwicklungsgefälle mit Auswirkungen auf die wirtschaftliche, kulturelle und folglich auch gesellschaftliche Entwicklung der betroffenen Regionen zur Folge haben. Der EWSA spricht sich dafür aus, das Ausmaß möglicher sozialer Ungleichheiten mitsamt den potenziellen Auswirkungen auf den Zusammenhalt der EU zu untersuchen.

4.7.4.

Für Arbeitnehmer‚ die mit automatisierten Systemen arbeiten oder interagieren oder die mit großen Informationsmengen arbeiten, können bestimmte Probleme auftreten. Sie müssen komplexe informationsintensive Aufgaben bewältigen. Virtuelle Realität wird beispielsweise für Ausbildungs- und Planungszwecke genutzt; erweiterte Realität dient der Unterstützung von Wartungsarbeiten. Der EWSA empfiehlt — wann immer in Industrie und Handel neue Automatisierungssysteme geplant werden — die Nutzung objektiver wissenschaftlicher Methoden zur Optimierung und Bewertung der Mensch-Maschine-Interaktion.

4.7.5.

Arbeitgeber andererseits stehen vor der Herausforderung, aus dem breiten Spektrum neuer Techniken geeignete digitale Lösungen auszuwählen. Es ist wichtig, geeignete technische Assistenzsysteme für die Tätigkeiten und Arbeitsabläufe von Unternehmen zu entwickeln. Vor der Einführung neuer Techniken wird ferner empfohlen, die technische Kompetenz der Arbeitnehmer zu überprüfen und gegebenenfalls Schulungen anzubieten. Die Einbindung der Arbeitnehmer in die Einführung neuer Techniken ist ein weiterer zentraler Punkt.

4.7.6.

Der Forschungsbereich der kognitiven Ergonomie erlebt im jetzigen Zeitalter der Digitalisierung einen Aufschwung. Die wissenschaftlichen Methoden der kognitiven Ergonomie ermöglichen eine objektive Bewertung der psychischen Anforderungen beim Umgang mit neuen technischen Assistenzsystemen. Zur Einschätzung von Benutzerschnittstellen kommen in ihr verschiedene Forschungsdisziplinen, wie z. B. Psychologie und Ergonomie, zum Einsatz. Das Ziel ist die optimale Gestaltung des Arbeitsplatzes und damit sowohl für Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber vorteilhaft. Die Beschäftigten erreichen auf der Arbeit das optimale Maß an Zufriedenheit, Wohlbefinden und Gesundheit und bleiben für die Unternehmen langfristig möglichst leistungsfähig und produktiv. Der EWSA empfiehlt, dass solche Bewertungsmethoden zum Nutzen der Arbeitnehmer und Unternehmen zum allgemeinen Standard werden sollten. Der digitale Wandel sollte im Wege einer umfassenden und von der EU finanzierten arbeitsorientierten Untersuchung zum Thema „Digitalisierung für gute Arbeit“überwacht werden. Der EWSA ist davon überzeugt, dass die Digitalisierung langfristig nur dann erfolgreich sein kann, wenn die Systeme der Industrie 4.0 einem effizienten und arbeitnehmerfreundlichen Ansatz folgen.

Brüssel, den 20. Februar 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 292.

(2)  ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 30; ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 36; ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 8; ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 15.

(3)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 1.

(4)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 274.

(5)  Eurobarometer-Spezial 460, von TNS Opinion & Social durchgeführte Umfrage, März 2017.

(6)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 1.

(7)  ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 30; ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 36; ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 8; ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 15.


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

5.6.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 190/24


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Jahreswachstumsbericht 2019: Für ein starkes Europa in Zeiten globaler Ungewissheit“

(COM(2018) 770 final)

(2019/C 190/04)

Berichterstatterin: Anne DEMELENNE

Befassung

Europäische Kommission, 18.2.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

1.2.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.2.2019

Plenartagung Nr.

541

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

124/1/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Jahreswachstumsbericht enthält eine allgemein positive Bewertung der bisherigen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte in Bezug auf Wirtschaftswachstum, Investitionen und Arbeitsmarktentwicklungen. Trotz der begrüßenswerten Verbesserungen seit 2014 zeigen die vorgelegten Daten im Vergleich zu anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften bescheidene Ergebnisse.

1.2.

Im Jahreswachstumsbericht werden Gefahren durch externe Ereignisse aufgezeigt, aber keine geeigneten Gegenmaßnahmen vorgeschlagen. Externe Bedrohungen sollten als Notwendigkeit begriffen werden, Konjunkturmaßnahmen zur Stützung des Wachstums- und des Beschäftigungsniveaus vorzubereiten. Dies hat Auswirkungen auf den Haushalt der EU und die Haushalte der Mitgliedstaaten.

1.3.

Produktivitätszuwächse sind von entscheidender Bedeutung, um die Wettbewerbsposition der EU zu erhalten und den Wohlstand zu erhöhen. Reformen, die zur Steigerung der Produktivität führen können, sind zu begrüßen. Gleichwohl muss die frühere Politik angesichts der bislang gemischten Ergebnisse, einschließlich der langsamen wirtschaftlichen Erholung, anhaltender Bedenken hinsichtlich der Produktivität im Vergleich zu Wettbewerbern und der Zunahme prekärer Beschäftigung, eingehend evaluiert werden.

1.4.

Wie im Jahreswachstumsbericht hervorgehoben wird, hängt eine höhere Produktivität von Verbesserungen im Bereich Bildung und Ausbildung ab. Dies sollte von den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft sowie durch öffentliche und private Investitionen — einschließlich durch Investitionen der EU-Strukturfonds — gefördert werden.

1.5.

Die Bedeutung, die der sozialen Säule beigemessen wird, ist begrüßenswert. Allerdings sollte deutlicher dargelegt werden, wie sie in die Praxis umgesetzt werden soll, wie mit Hilfe des Europäischen Sozialfonds und anderer europäischer Instrumente Ressourcen bereitgestellt werden können und wie das auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten finanziert werden soll.

1.6.

Es werden Bereiche angesprochen, in denen neue Maßnahmen vorgeschlagen wurden, wie etwa gerechte Besteuerung, die Bankenunion und das Funktionieren des Euro-Währungsgebiets. Die Fortschritte gehen allerdings sehr langsam vonstatten und die Vorschläge fallen häufig eher bescheiden aus. Eine umfassende Einbeziehung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft wäre hilfreich.

1.7.

Die Bedeutung des Klimaschutzes wird zwar kurz erwähnt, er wird aber angesichts der mit dem Klimawandel verbundenen Risiken für die Wirtschaft, wie sie im „Global Risks Report“ (1) für das Weltwirtschaftsforum beschrieben sind, geradezu stiefmütterlich behandelt. Zudem fehlt eine Auseinandersetzung mit den externen Kosten der kohlenstoffbasierten Wirtschaft. Die bisherigen Klimaschutzmaßnahmen sind nach wie vor unzureichend. Ein wichtiger Schritt bestünde darin, den Jahreswachstumsbericht in „Jahresbericht über das nachhaltige Wachstum“umzubenennen. Damit würde nicht nur die Bedeutung des Klimawandels anerkannt werden, sondern auch, wie wichtig es ist, im Interesse der Wirtschaft und der kommenden Generationen mit endlichen Ressourcen nachhaltig umzugehen und die Umwelt zu schützen.

1.8.

In vielen Bereichen hängt die Umsetzung der Politik von Finanzierungen durch den privaten, aber auch durch den öffentlichen Sektor ab. Diese sollte sowohl durch Reformen zur Schaffung eines günstigen Umfelds für private Investitionen als auch durch einen angemessenen EU-Haushalt und die Verpflichtung zu einer „goldenen Regel“erleichtert werden, die die Finanzierung wirtschaftlich und sozial produktiver Investitionen aus den Haushalten der Mitgliedstaaten ermöglicht, ohne die künftige Haushaltssolidität zu gefährden.

2.   Die allgemeinen Prioritäten der Europäischen Kommission im Jahreswachstumsberichts 2019

2.1.

Der Jahreswachstumsbericht 2019 ist vor dem Hintergrund eines seit 22 aufeinanderfolgenden Quartalen andauernden Wachstums zu sehen, das die Chance für die Durchführung der notwendigen Reformen bietet, um den zunehmenden globalen Unsicherheiten und den möglichen internen Risiken zu begegnen, d. h.

die privaten und öffentlichen Investitionen erhöhen, um das Wachstum der totalen Faktorproduktivität zu steigern;

hochwertige Investitionen in FuE, Innovation, Bildung, Qualifikationen und Infrastrukturen erbringen;

die Produktivität, die Inklusion und die institutionelle Qualität steigern;

für gut funktionierende und integrierte Kapitalmärkte sorgen;

die makrofinanzielle Stabilität und solide öffentliche Finanzen gewährleisten.

3.   Allgemeine Bemerkungen zu den Empfehlungen der Europäischen Kommission

3.1.

Der EWSA begrüßt das fortgesetzte Engagement für die Reformen zur Steigerung hochwertiger Investitionen, des Produktivitätswachstums, der Inklusivität und der institutionellen Qualität und dass die makroökonomische Finanzstabilität sowie gesunde öffentliche Finanzen weiterhin sichergestellt werden sollen. Er begrüßt, dass die Notwendigkeit von Investitionen in Bildung und Ausbildung anerkannt und mehr Gewicht auf die Notwendigkeit gelegt wird, die soziale Dimension der EU zu stärken, die Ungleichheiten innerhalb und zwischen den Regionen sowie in Bezug auf den Zugang zu Bildung abzubauen und die politischen Instrumente aufeinander abzustimmen. Gleichwohl ist noch festzulegen, wie diese Ziele erreicht werden können, und die Bewertung der wirtschaftlichen Leistung entspricht nicht in allen Bereichen den Daten in den Anhängen und ist mitunter selbstgefällig: Positive Aspekte werden übertrieben und es werden nicht fundierte Behauptungen aufgestellt, die bisherige Politik habe positive Wirkungen.

3.2.

Es wird auf Gefahren und Unsicherheiten verwiesen, einschließlich Veränderungen in der Weltwirtschaft und der US-Handelspolitik und Ungewissheiten bezüglich der künftigen Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich. Angesichts des Risikos einer kurz- bis mittelfristigen Rezession müssen, wie von der OECD empfohlen, Konjunkturmaßnahmen für den Erhalt der Wachstums- und Beschäftigungsniveaus vorbereitet werden (2). Diesbezüglich sollte die Einrichtung einer Funktion der makroökonomischen Stabilisierung im Rahmen des EU-Haushalt erwogen werden, die dem Euroraum eine höhere Krisenfestigkeit verleihen würde. Damit könnten Schocks abgefedert und dem Euro-Währungsgebiet der vom EWSA geforderte positive haushaltspolitische Kurs (3) ermöglicht werden, selbst wenn einzelne Mitgliedstaaten ihren haushaltspolitischen Spielraum nicht in Übereinstimmung mit den europäischen Zielsetzungen nutzen.

3.3.

Nach der relativ enttäuschenden Wirtschafts- und Sozialbilanz in der Zeit nach 2008 bergen auch die internen politischen Entwicklungen Risiken. Dies zeigt ebenfalls die Bedeutung dieser Reformen und politischen Maßnahmen, die zu mehr Produktivität und Wirtschaftswachstum sowie zur Stärkung des Zusammenhalts und der sozialen Dimension der Politik führen würden.

3.4.   Wachstum

3.4.1.

Die EU befindet sich seit 2014 in einer fünfjährigen Phase des Wirtschaftswachstums, wobei die Wachstumsraten in einigen Ländern mit niedrigem Einkommen über dem EU-Durchschnitt liegen. Dadurch konnten die Unterschiede zwischen den höchsten und den niedrigsten Einkommen in der EU als Ganzes in gewissem Maße abgebaut werden, wenngleich einige Länder zurückgefallen und dadurch neue Unterschiede entstanden sind.

3.4.2.

Ab 2017 ist erstmals seit dem Ausbruch der Krise in allen EU-Mitgliedstaaten ein gewisses Wachstum zu verzeichnen. Trotzdem liegt das Wachstum in der gesamten EU immer noch unter dem Vorkrisenniveau und nimmt sich im Vergleich zum aktuellen Wachstum anderer fortgeschrittener Volkswirtschaften bescheiden aus. Zudem hat die EU nach der außergewöhnlich langen Rezession nach 2008 einen größeren Rückstand aufzuholen.

3.5.   Soziale Aspekte

3.5.1.

Sowohl das Beschäftigungsniveau als auch die Beschäftigungsquote haben sich seit den Jahren der Rezession nach 2008 erheblich erholt. Obwohl bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze tendenziell höhere Qualifikationsniveaus gefragt waren, wie aus den Daten im Anhang zum Jahreswachstumsbericht hervorgeht, ist gleichzeitig die Qualität vieler der neu geschaffenen Arbeitsplätze gesunken.

3.5.2.

Arbeitnehmer werden zunehmend auf der Grundlage von befristeten und Teilzeitverträgen eingestellt. Die Mehrheit von ihnen würde einen Standard- bzw. Vollzeitvertrag bevorzugen (4). Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten an der Gesamtbeschäftigung stieg zwischen 2008 und 2017 von 16,8 % auf 18,7 % an, mit höheren Niveaus und einer stärkeren Zunahme bei jungen Menschen. Obwohl heute mehr Menschen beschäftigt sind, liegt die Gesamtzahl der 2017 geleisteten Arbeitsstunden leicht unter dem Wert von 2008 (5).

3.5.3.

Laut Jahreswachstumsbericht ist die Erwerbstätigenarmut in mehreren Mitgliedstaaten hoch und steigt weiter an (2008: 8,6 %, 2017: 9,6 % der Erwerbsbevölkerung (6)). Ein höherer Stand der Gesamtbeschäftigung ist — auch wenn Beschäftigung der Arbeitslosigkeit vorzuziehen ist — kein Beleg für inklusives Wachstum.

3.5.4.

Bevölkerungsgruppen wie z. B. Bezieher von Invaliditätsleistungen werden häufig bei der Berechnung der Arbeitslosenquote nicht berücksichtigt (7). Dies sollte bei Empfehlungen berücksichtigt werden, insbesondere im Hinblick auf Flexibilität und Sicherheit für solche Personengruppen und um ihnen den Zugang zum offenen Arbeitsmarkt zu erleichtern, ohne dass sie dadurch Leistungsansprüche verlieren.

3.5.5.

Es sollte auch darauf geachtet werden, dass Menschen mit prekären und atypischen Arbeitsverträgen wie z. B. Selbstständigen, Teilzeitbeschäftigten oder über Plattformen Beschäftigten angemessener Sozialschutz gewährt wird. Ebenso Anlass zur Sorge geben Personen, die durch ihre Ausgaben aufgrund ihres Gesundheitszustands oder einer Behinderung nicht über die Runden kommen und die mitunter angemessene finanzielle Unterstützung für entsprechende Ausgaben verlieren, sobald sie sich in einer bezahlten Beschäftigung befinden.

3.5.6.

Die Kommission schlägt vor, den Sozialschutz an die neuen Formen der Beschäftigung anzupassen. Sicherlich müssen neue Finanzierungsquellen erschlossen werden. Anzustreben ist die Rückkehr zu hochwertigen Arbeitsplätzen, die den Arbeitsmarkterfordernissen entsprechen, und zu nachhaltigen Arbeitsverträgen, die ein Recht auf angemessenen Sozialschutz bieten. Die Diskriminierung von — häufig hoch qualifizierten — älteren Menschen, Menschen ausländischer Herkunft oder mit Behinderungen sowie von Jugendlichen oder Frauen auf dem Arbeitsmarkt muss ebenfalls bekämpft werden.

3.5.7.

Verweise auf die Gewährleistung eines breiteren Zugangs zu hochwertigen Dienstleistungen und die Verbesserung des Zugangs von Eltern (vor allem Frauen) zum Arbeitsmarkt sind zu begrüßen. Dies hat positive Auswirkungen auf die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung und die Verbesserung des Arbeitskräfteangebots. Maßnahmen zur Förderung der sozialen Integration von Einwanderern sollten auch als Teil einer Migrationspolitik gemäß den europäischen Werten der Solidarität und Toleranz sowie Wahrung der Menschenrechte gefördert werden.

3.6.   Löhne und Produktivität

3.6.1.

Die Löhne sind nur sehr gering gestiegen und zwischen den Ländern bestehen — selbst für die gleiche Arbeit — immer noch wesentliche Unterschiede. Das Lohnwachstum in der EU als Ganzes ist weiterhin niedriger als das Produktivitätswachstum.

3.6.2.

Das bedeutet, dass der Anteil der Löhne am Nationaleinkommen gesunken ist. Inwieweit die Vorteile der höheren Produktivität gleichmäßig verteilt werden, ist je nach Mitgliedstaat unterschiedlich und hängt vom Geltungsbereich erfolgreicher Tarifverhandlungen und der Politik zur Förderung des Lohnwachstums ab. Wenngleich eine höhere Produktivität normalerweise als notwendige, aber nicht hinreichende Vorbedingung für höhere Löhne anzusehen ist, darf die systematische Verbindung zwischen Produktivität (die auch von den Investitionen abhängig ist) und Löhnen nicht dazu führen, dass der Anstieg der Lebenshaltungskosten bei der Lohnbildung unberücksichtigt bleibt. Andernfalls können erhebliche soziale Spannungen auftreten.

3.6.3.

Niedrige Löhne sind auch ein Hindernis für eine höhere Produktivität in Niedriglohnländern, da die am besten qualifizierten Arbeitskräfte deshalb anderswo Arbeit suchen. Die Mobilität der Arbeitskräfte ist da zu begrüßen, wo sie der Wunschentscheidung von Einzelpersonen entspricht. Sie ermöglicht auch den Erwerb von Kompetenzen und Erfahrungen, die in das jeweilige Herkunftsland mitgenommen werden können. Gleichwohl verhindert die Abwanderung Hochqualifizierter auch Investitionen in Aktivitäten, die hohe Qualifikationsniveaus erfordern, weshalb Niedriglohnländer nicht in der Lage sind, die anspruchsvollsten wirtschaftlichen Aktivitäten zu entwickeln.

3.6.4.

In einer Reihe von Mitgliedstaaten (insbesondere in Mittel- und Osteuropa) führten höhere Mindestlöhne und höhere Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst zu einem höheren Lohnniveau. Ein höherer Verbrauch hat zur Steigerung des BIP beigetragen. Maßnahmen zur Gewährleistung eines Mindestlohns und Mindesteinkommens als Teil eines Prozesses der sozialen Konvergenz in der EU können ebenso zum Sozialschutz und zum Erreichen eines angemessenen Lebensstandards in allen Ländern beitragen und gleichzeitig das Wachstum unterstützen.

3.7.   Produktivität und Kompetenzen

3.7.1.

Auf eine längere Rezession nach 2008 folgten hinter den wichtigsten globalen Wettbewerbern zurückliegende Produktivitätszuwächse, wie in Abbildung 3 (8) dargestellt. Der Rückstand war im Euro-Währungsgebiet besonders stark ausgeprägt. Die Verringerung dieses Rückstands bedarf der Schaffung eines für höhere private Investitionen und die Nutzung von Forschung und Innovation zuträglichen Umfelds. Zudem muss dazu das gesamte Potenzial der EU-Bevölkerung genutzt, die Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft minimiert und in Maßnahmen zur Unterstützung der Rückkehr von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt investiert werden.

3.7.2.

Grundlegende Voraussetzung für die Erhöhung der Produktivität bleibt die Verbesserung von Kenntnissen, Kompetenzen, Qualifikationen, Einstellungen und Kreativität. Zudem trägt sie zu Demokratie und nachhaltiger Entwicklung bei. Zu Recht wird im Jahreswachstumsbericht auf die Bedeutung von Investitionen in Kompetenzentwicklung, Bildung und lebenslanges Lernen verwiesen. 40 % der Arbeitgeber berichten über Schwierigkeiten, angemessen qualifizierte Arbeitskräfte zu finden. Viele angehende Arbeitnehmer finden es auch schwierig, ihre Kompetenzen in ihren Heimatländern anzuwenden.

3.7.3.

Die Entwicklung von Strategien zur Antizipierung künftiger Kompetenzanforderungen in Kombination mit geeigneten Validierungssystemen für die betreffenden Kompetenzen sowie zur besseren Abstimmung von Bildung und Ausbildung auf den Beschäftigungsbedarf ist von grundlegender Bedeutung. Zudem sollten Arbeitgeber bei der Suche nach Arbeitnehmern mit angemessenen Kompetenzen und Qualifikationen auch durch Investitionen in Dienste unterstützt werden, die vor allem Angehörigen diskriminierter Gruppen wie Menschen mit Behinderungen oder mit Migrationshintergrund helfen, die Schule nicht abzubrechen bzw. ihre Hochschulausbildung fortzusetzen (9). Es ist eine wichtige Verantwortung der Arbeitgeber, den Ausbau von Kompetenzen und Qualifikationen zu ermöglichen und zu erleichtern — hier gibt es enorme Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten —, und die Konzipierung und Umsetzung erfolgreicher Strategien sind ohne die umfassende Beteiligung der Sozialpartner, Zivilgesellschaft, Bildungseinrichtungen und Ausbildungsbetrieben undenkbar. Laut Jahreswachstumsbericht sind für die Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs zu hochwertiger Bildung zudem „entsprechende Investitionen erforderlich“. Diese sollten öffentliche Investitionen umfassen, die durch die länderspezifischen Empfehlungen und eine angemessene Beteiligung der Strukturfonds und ihres Investitionsprogramms zu untermauern sind.

3.8.   Herausforderung des Klimawandels

3.8.1.

In puncto Gefahren infolge des Klimawandels und Fortschritte der EU beim Erreichen der in Paris vereinbarten Ziele ist der Jahreswachstumsbericht sehr vage und viel zu wenig aussagekräftig. Im Vergleich zum „Global Risks Report“ (10), der im Januar 2019 den Teilnehmern des Weltwirtschaftsforums vorgelegt wurde, wird die Relevanz des Klimawandels für Wachstum und Wirtschaft geradezu nebensachlich behandelt. Dabei zeigt der „Global Risks Report“dass die drei (!) größten Gefahren für die Weltwirtschaft in den Klimaveränderungen und den zu zaghaften Handeln der Politik bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft liegen. Klimaschutz ist somit längst keine Frage des Umweltschutzes mehr, sondern existentielle Voraussetzung für die Wirtschaft. Die von Bloomberg NEF erstellten regelmäßigen Berichte zeigen, dass Investitionen in saubere Energien seit 2011 rückläufig sind (11). Die EU kann hier oder bei Innovationen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen keine weltweite Führungsposition beanspruchen.

3.8.2.

Im Bericht des Weltklimarats (IPCC) wird auf die Dringlichkeit von Maßnahmen gegen den Klimawandel verwiesen, der in drei Jahren unumkehrbar sein könnte. Deshalb müssen auf allen Regierungs- und Verwaltungsebenen (öffentliche und private Investitionen) Finanzmittel für die Modernisierung und Dekarbonisierung der Industrie, des Verkehrs und der Energie eingesetzt werden.

3.8.3.

Dies ist auch wegen der extrem hohen externen Kosten der heutigen Wirtschaft fiskalpolitisch geboten. Der Jahreswachstumsbericht klammert diese Frage aber weitgehend aus, obwohl die Kommission quasi zeitgleich mit dem Jahreswachstumsbericht entsprechende Zahlen veröffentlicht hat: Danach haben allein wetterbedingte Katastrophen 2017 Kosten in Höhe von 283 Mrd. EUR verursacht (12). Der EWSA hat mehrfach darauf hingewiesen, dass der Internationale Währungsfonds die direkten und indirekten Subventionen in kohlenstoffbasierte Energieproduktionen in der EU auf 330 Mrd. USD pro Jahr beziffert. Es ist deshalb ein Mangel des Jahreswachstumsberichts, dass die Frage der Internalisierung externer Kosten sowie die Debatte „über das BIP hinaus“nicht angegangen wird.

3.9.   Investitionen

3.9.1.

Investitionen sind für Produktivitätszuwächse von entscheidender Bedeutung. Die Frage ist dringlich für die EU, da sie in entscheidenden Spitzentechnologiebranchen und in der Entwicklung kohlenstoffarmer Technologien hinter den wichtigsten Wettbewerbern zurückliegt. Eine sich kontinuierlich verbessernde Wirtschaft ist eine unentbehrliche Grundlage für die Finanzierung von Sozialschutz- und Gesundheitsleistungen auf dem von den europäischen Bürgern gewünschten Niveau. Sicher ist ein hohes Maß an Wohlstand, Zusammenhalt und sozialer Gerechtigkeit mit dem Wachstum von Wirtschaft und Produktivität vereinbar (13).

3.9.2.

Der EWSA bekräftigt seinen Appell an die Kommission und die Mitgliedstaaten, ihre Bemühungen zur Beseitigung von Investitionsengpässen und zur Schaffung eines investitionsfreundlichen Klimas zu verstärken. Durch die Vollendung der Energieunion, der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt und des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft könnten Investitionsmöglichkeiten entstehen. Darüber hinaus sollten neue Möglichkeiten für „grüne“Investitionen in den Klimaschutz erwogen werden.

3.9.3.

Auch internationale Handelsabkommen können Perspektiven für die Stimulierung des Wirtschaftswachstums bieten. Die Frage ist angesichts der Gefahren durch einen eventuellen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und Handelskonflikte mit den Vereinigten Staaten besonders dringlich. Die EU sollte ein regelbasiertes System internationaler Wirtschaftsbeziehungen unterstützen, das durch die Aushandlung von Freihandelsabkommen ergänzt wird. Bei diesen Abkommen sollten minimale Zölle angestrebt sowie die Menschenrechte, die IAO-Normen und das Recht der Staaten angemessen berücksichtigt werden, im öffentlichen Interesse Rechtsvorschriften zu erlassen.

3.9.4.

Im Jahreswachstumsbericht ist von Sorge über die Höhe der Investitionen keine Rede. Es wird darauf hingewiesen, dass die nach 2008 festzustellende Lücke nahezu geschlossen wurde. Als Bruttoanlageinvestitionen verstandene Investitionen erreichten 2018 20,6 % des BIP, im Vergleich zu 22,5 % im Jahr 2007 und 19,4 % im Jahr 2014 (14). Die Investitionslücke kann anhand dieser Zahlen zwar als etwas verringert, aber nicht als geschlossen bezeichnet werden.

3.9.5.

Die Investitionen bleiben im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und Südkorea — die zu den traditionellen Wettbewerbern der EU bei Innovationen gehören — auf einem niedrigen Niveau. In einer Reihe von Niedriglohnländern und Ländern mit den größten Rückgängen nach 2008 ist dieser Stand nach wie vor besonders niedrig.

3.9.6.

Im Jahreswachstumsbericht werden einige vorrangige Bereiche für soziale Investitionen ausgemacht, u. a. Gesundheit, Langzeitpflegesysteme und öffentlicher Wohnungsbau. Der EWSA hat die vielen positiven Auswirkungen von sorgfältig geplanten, wirksamen und effizienten sowie zukunftsorientierten Sozialinvestitionen herausgestellt, die nicht als Kosten, sondern vielmehr als Investitionen in das Wachstums- und Beschäftigungspotenzial Europas zu verstehen sind (15). Die Umsetzung dieser Ziele erfordert Spielraum für öffentliche Ausgaben.

3.9.7.

Die Investitionsoffensive für Europa wird als ein Mittel zur Förderung von Investitionen begrüßt, die auf die politischen Prioritäten der EU zugeschnitten sind. Gleichwohl sind die zur Verfügung gestellten Mittel begrenzt und konnten in aggregierter Form lediglich den Gesamtbetrag der EIB-Kredite halten, nicht aber erhöhen (16). Diese lagen 2017 7 % unter dem durchschnittlichen Niveau der Jahre 2013-2016 (17).

3.9.8.

Erforderlich ist ein Konzept mit einem angemessen finanzierten Investitionsprogramm, das Mittel aus dem EU-Haushalt, die durch die Haushalte der Mitgliedstaaten ergänzt werden, umfasst. Dadurch kann die EU ihre anvisierten Ziele in puncto Unterstützung der Entwicklung von KMU, Investitionen in neue Technologien zur Förderung des angestrebten ökologischen Wandels sowie Investitionen in die Verbesserung des Bildungs- und Qualifikationsniveaus und der sozialen Bedingungen besser erreichen. Der EWSA hat bereits darauf hingewiesen, dass die derzeit unter dem Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) gewährte Flexibilität unzureichend ist, und dass auf Ebene der EU Diskussionen über eine vollumfängliche Regelung, die im Allgemeinen als „goldene Regel“bezeichnet wird, in Gang gesetzt werden sollten, damit wertschöpfende öffentliche Investitionen vom Geltungsbereich des SWP ausgenommen werden, um einen tragfähigen Schuldenstand sicherzustellen (18).

3.10.   Schulden

3.10.1.

Der EWSA teilt im Einklang mit seiner früheren Stellungnahme (19) die im Jahreswachstumsbericht geäußerte Sorge, dass hohe öffentliche und private Schuldenstände — vor allem im Euroraum — ständig für Anfälligkeit sorgen. Der öffentliche Bruttoschuldenstand ging von seinem Höchstniveau von 88,1 % des BIP im Jahr 2014 auf 81,4 % des BIP im Jahr 2018 zurück und liegt damit immer noch weit über dem Stand von 2008 und dem Zielwert von 60 % des BIP. Gleichwohl zeigen internationale Vergleiche, dass öffentliche Schuldenstände über 60 % des BIP nicht unbedingt mit einem langsameren Wirtschaftswachstum einhergehen. Der Abbau der öffentlichen Verschuldung scheint bei hohem Wirtschaftswachstum am einfachsten zu sein. Der wirksamste Schutz gegen die mit einem hohen Schuldenstand verbundenen Gefahren ist daher die umfassende Ankurbelung des Wirtschaftswachstums durch antizyklische makroökonomische Maßnahmen. Zudem ließen sich durch eine wachstumsfreundliche Haushaltskonsolidierung in guten Zeiten negative Reaktionen des Marktes in schlechten Zeiten verhindern.

3.10.2.

Die private Verschuldung ist in den letzten Jahren gesunken, liegt aber in den meisten EU-Mitgliedstaaten immer noch über dem Stand vor der Einführung des Euro. Der Schuldenabbau bei Haushalten und Unternehmen verläuft bei hohem Wirtschaftswachstum rascher und weniger mühevoll. Die Destabilisierung der Volkswirtschaften des Euroraums durch einen prozyklischen Wohnungsmarkt muss aufmerksam beobachtet und durch regulatorische Maßnahmen zur Vermeidung von Wirtschaftskrisen verhindert werden.

3.10.3.

Hochwertige Institutionen, wie sie den leistungsfähigsten Wirtschaften eigen sind, erleichtern den Schuldenabbau. Sie gewährleisten die Effizienz der Waren-, Dienstleistungs-, Finanz- und Arbeitsmärkte, helfen, eine angemessene Qualität der öffentlichen Verwaltung zu erreichen, und unterstützen eine angemessene Renten-, Wettbewerbs- und Steuerpolitik.

3.11.   Bankenunion

3.11.1.

Die gegenwärtigen Vorschläge für die Bankenunion sind angesichts der Erfahrungen der vergangenen Finanzkrisen unzureichend. Es sollten Maßnahmen ergriffen werden, um expandierende Kapitalmärkte angemessen zu überwachen, damit keine schädlichen verbrieften Produkte, die zur nächsten Finanzkrise beitragen könnten, in die europäischen Kapitalmärkte geleitet werden können. Aufsichtsorgane in der EU müssen sicherstellen, dass die Kapitalmarktunion in Zeiten angespannter Kapitalmärkte nicht zu einer beschleunigten Kapitalflucht aus einzelnen Mitgliedstaaten führt. Um günstige Finanzierungsbedingungen für die Realwirtschaft zu gewährleisten, sollte die negative Rückkopplung zwischen Banken und Zinssätzen auf Staatsanleihen abgemildert werden. Zwei wesentliche Elemente hierfür sind eine europäische Einlagenversicherung und die Bereitstellung einer geeigneten Letztsicherung („Backstop“) für den einheitlichen Abwicklungsfonds durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus. Vor der Einführung eines europäischen Einlagenversicherungssystems sollten die Bilanzen der teilnehmenden Banken so gründlich wie möglich von notleidenden Krediten bereinigt werden.

3.12.   Reform des Euro-Währungsgebiets

3.12.1.

Die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) sollte mit mehr Einfallsreichtum und Entschlossenheit betrieben werden. Die Vorschläge für die Reform der WWU und ihrer Steuerung reichen derzeit nicht aus, um vor den Gefahren asymmetrischer Schocks zu schützen. Der vorherige einseitige, ausschließlich schuldnerorientierte Ausgleich der Leistungsbilanzen war dem gesamten BIP des Euro-Währungsgebiets abträglich und hat zu seiner schleppenden Erholung nach 2008 beigetragen. Um den Ländern mit früherem Leistungsbilanzdefizit mehr Raum für die Entwicklung ihrer Volkswirtschaften zu geben (im Sinne des Haushaltssaldos und der Außenbilanz), sollten die Länder mit Leistungsbilanzüberschuss nicht nur dazu angehalten werden, mehr zu investieren, sondern auch ihre Löhne und Sozialleistungen zu erhöhen, um den privaten Verbrauch zu fördern.

3.12.2.

Der EWSA fordert die europäischen Entscheidungsträger nachdrücklich auf, die Reformen im Hinblick auf die WWU, die Bankenunion und die Kapitalmarktunion zu beschleunigen. Solange das Euro-Währungsgebiet allerdings über keinen gemeinsamen Haushalt verfügt, der einen positiven haushaltspolitischen Kurs für das Euro-Währungsgebiet als Ganzes ermöglicht, werden bei künftigen Rezessionen nach wie vor geldpolitische Impulse nötig sein. Mit dem absehbaren Ende der EZB-Programme zum Ankauf von Vermögenswerten Ende 2018 empfiehlt der EWSA der EZB, ein Programm zum Ankauf von Vermögenswerten zu erwägen, das während einer Rezession rasch aktiviert werden kann, falls Konjunkturmaßnahmen nicht greifen. Das Programm sollte auf die Realwirtschaft und klimafreundliche Investitionen ausgerichtet sein.

3.13.   Faire Besteuerung

3.13.1.

Angesichts der Diskussionen innerhalb der Europäischen Kommission darüber, ob die Besteuerung künftig unter die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit fallen könnte, spricht sich der EWSA weiterhin dafür aus, den Schwerpunkt auf eine gerechte Steuerpolitik zu legen, d. h. die Fähigkeit des Einzelnen zu berücksichtigen, einen Beitrag zu leisten. Der EWSA unterstützt im Einklang mit früheren Stellungnahmen die Entwicklung einer allgemein akzeptierten gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage als Mittel zur Stärkung des Binnenmarktes, indem die Besteuerung größerer Unternehmen vereinfacht und aggressive Steuerplanung bekämpft wird (20). Zudem begrüßt er Initiativen zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft, da es seiner Auffassung nach sehr wichtig ist, allseits akzeptable neue Regeln für die Zuordnung von Unternehmensgewinnen nach Maßgabe der Wertschöpfung zu einem EU-Mitgliedstaat und für die entsprechende Besteuerung dieser Gewinne zu entwickeln (21). Außerdem begrüßt er die Bedeutung, die im Einklang mit früheren Stellungnahmen des EWSA (22) der Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuerhinterziehung und aggressiver Steuerplanung im Jahreswachstumsbericht beigemessen wird.

3.14.   Strukturreformen

3.14.1.

Im Jahreswachstumsbericht wird erneut betont, wie wichtig Strukturreformen sind, die zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Verringerung des Schuldenstands beitragen. Unklar bleibt indes, was unter „Strukturreformen“zu verstehen ist. Dadurch lassen sich Behauptungen bezüglich der nachweislich positiven Auswirkungen vergangener Reformen nur schwer einordnen. Der EWSA ist in früheren Stellungnahmen für auf soziale und wirtschaftliche Entwicklung ausgerichtete Strukturreformen eingetreten: mehr und bessere Arbeitsplätze, besserer Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildung, Ausbildung und Kompetenzerwerb, nachhaltiges Wachstum, Qualität der Verwaltung und der Institutionen sowie Umweltverträglichkeit (23). Er plädierte dafür, dass solche Reformen länderspezifisch sein und im Einklang mit nationalen Reformprogrammen (NRP) durchgeführt werden sollten, um den Wohlstand zu fördern, und Rückhalt durch demokratische Unterstützung zu erfahren. Eine Einheitslösung für alle Mitgliedstaaten sollte vermieden werden (24).

3.14.2.

Die bescheidenen jüngsten Entwicklungen in puncto Wachstum und Arbeitsmarkt werfen Fragen nach dem Nutzen einiger bisheriger Maßnahmen auf, die unter dem Etikett „Strukturreform“durchgeführt wurden. Die Zahl der Beschäftigten hat sich im Zuge der steigenden Nachfrage zwar erhöht, aber dies ist häufig mit einer Verschlechterung der Qualität der Arbeitsplätze und mit einer zunehmenden Segmentierung des Arbeitsmarkts verbunden.

3.14.3.

Die Ergebnisse der bisherigen „Strukturreformen“geben weiterhin Anlass zu Kontroversen. Einige Bewertungen fielen positiv aus seitens der Arbeitgeber, die eine gewisse Zufriedenheit mit den Arbeitsmarktreformen geäußert haben sollen (25). Allerdings gibt es auch zahlreiche Veröffentlichungen, die ernsthafte Zweifel an den bisherigen arbeitsmarktpolitischen Empfehlungen der Europäischen Kommission aufkommen lassen (26). Daher wird in der letzten Beschäftigungsstrategie der OECD nun auf der Grundlage „neuer Erkenntnisse“argumentiert, dass Länder mit Maßnahmen und Einrichtungen zur Förderung der Qualität und Quantität der Arbeitsplätze sowie mehr Inklusion bessere Ergebnisse erzielen als diejenigen, in denen der Schwerpunkt in erster Linie auf der Erhöhung oder dem Erhalt der Marktflexibilität liegt (27).

3.14.4.

Der EWSA wiederholt seine Einschätzung, dass die erfolgreiche Durchführung — oder das Scheitern — bestimmter Reformmaßnahmen sich häufig erst nach mehr als fünf Jahren zeigt (28). Die Auswirkungen der als „Strukturreformen“eingeführten Maßnahmen der Vergangenheit sollten evidenzbasiert und unter umfassender Einbeziehung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft bewertet werden. Diese Bewertung sollte dann als Ausgangspunkt für künftige politische Empfehlungen dienen (29).

3.15.   Europäische Säule sozialer Rechte

3.15.1.

Der EWSA begrüßt, dass die Bedeutung der Säule sozialer Rechte anerkannt wird und bekräftigt, dass sie angesichts der schlechten Wirtschafts- und Sozialbilanz in vielen Ländern seit 2008 dringend der praktischen Umsetzung bedarf.

3.15.2.

Die soziale Säule sollte uneingeschränkt in das Europäische Semester integriert und nicht nur als Anhang beigefügt werden. Der beigefügte sozialpolitische Anzeiger (Scoreboard) gibt einen Hinweis auf das Ausmaß der bevorstehenden Aufgaben, wenn die EU ein AAA-Rating im sozialen Bereich erreichen möchte. Ganz eindeutig wurde nicht in allen Mitgliedstaaten ein annehmbares Niveau in puncto Einkommen, Lebensstandard, soziale Sicherheit, Sozialleistungssysteme, Bildungsabschluss und digitaler Zugang erreicht (30).

3.15.3.

Die europäische Säule sozialer Rechte sollte dazu genutzt werden, die Berücksichtigung der Empfehlungen an die Mitgliedstaaten zu messen. Die 20 Grundsätze der Säule sollten als Anzeiger bei der Bewertung dienen, inwiefern es den Mitgliedstaaten gelungen ist, ihr Engagement für die soziale Säule in ihre Wirtschaftspolitik zu integrieren.

3.15.4.

Dies macht auch deutlich, dass angemessene Finanzmittel einschließlich Beiträge seitens der EU notwendig sind. Eine angemessen finanzierte Investitionsoffensive der EU und die EU-Kohäsionspolitik können beide in Abstimmung mit den länderspezifischen Empfehlungen dazu einen Beitrag leisten. Das setzt voraus, dass im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakt angemessene Flexibilität gewährt wird. Wie bereits in einer früheren Stellungnahme ausgeführt, sind auch weiterhin angemessene Mittel für die Kohäsionspolitik aus dem EU-Haushalt erforderlich (31).

3.15.5.

Zudem sollte der von Präsident Juncker in seiner Rede zur Lage der Union 2017 unterbreitete Vorschlag, eine Europäische Arbeitsbehörde einzurichten, sorgfältig erwogen werden. Diese könnte dazu beitragen, die in der EU geltenden Arbeits- und Sozialversicherungsrechte wirksam durchzusetzen und unlauteren Wettbewerb zu bekämpfen.

3.15.6.

Das zusammen mit der sozialen Säule eingerichtete Scoreboard sollte als Leitfaden für politische Empfehlungen, aber auch als Beispiel für ähnliche Analysen der Leistung der einzelnen Länder in Bezug auf Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen genutzt werden, so dass diese mit der gleichen Seriosität bewertet werden können.

3.15.7.

Da nachhaltiges Wachstum in sozialer, wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Hinsicht gefördert werden muss, sollte der Jahreswachstumsbericht in „Jahresbericht über das nachhaltige Wachstum“umbenannt werden.

3.16.   Die Rolle der Sozialpartner im Europäischen Semester

3.16.1.

Die Regierungen der Mitgliedstaaten, die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft müssen sich über die wesentlichen nationalen Reformen einigen, die die besten Voraussetzungen für ihre Volkswirtschaften schaffen, den Lebensstandard ihrer Bürger zu erhalten oder zu erhöhen. Deshalb sollten auch die lokalen Beauftragten für das Europäische Semester, die nationalen Räte für Finanzpolitik, die nationalen Ausschüsse für Produktivität und die nationalen Wirtschafts- und Sozialräte beteiligt werden. Die Mitglieder des EWSA können diesbezüglich ebenfalls eine Rolle spielen.

Brüssel, den 20. Februar 2019.

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Global Risks Report 2019 des Weltwirtschaftsforums.

(2)  OECD Economic Outlook November (OECD-Wirtschaftsausblick) 2018: „Editorial“of the Chief Economist (Leitartikel des Chefökonomen), und „General Assessment of the Macroeconomic Situation“ (Allgemeine Bewertung der makroökonomischen Lage) S. 43-46.

(3)  Ergänzende Stellungnahme des EWSA zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets 2018 (ABl. C 62 vom 8.6.2018, S. 312).

(4)  COM(2018) 761 final, S. 14.

(5)  COM(2018) 761 final, S. 14.

(6)  COM(2018) 761 final, S. 41.

(7)  Aus dem Gemeinsamen Beschäftigungsbericht 2018 der Europäischen Kommission geht hervor, dass sich nur 47,4 % der Erwerbspersonen mit Behinderungen in einem Beschäftigungsverhältnis befinden.

(8)  COM(2018) 770 final, S. 6.

(9)  Laut dem gemeinsamen Beschäftigungsbericht 2018 der Europäischen Kommission ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit Behinderungen die Schule abbrechen (auf der Grundlage der Zahlen von 2015) um 10,3 Prozentpunkte höher als bei Menschen ohne Behinderung und die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Hochschulausbildung abschließen (auf der Grundlage der Zahlen von 2015) um 13,6 Prozentpunkte niedriger als bei Menschen ohne Behinderung.

(10)  Global Risks Report 2019 des Weltwirtschaftsforums.

(11)  Bloomberg NEF – Clean Energy Investment Trends (Trends bei Investitionen in saubere Energien), 3. Quartal 2018.

(12)  COM(2018) 773 final.

(13)  Stellungnahme des EWSA zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets 2017 (ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 33).

(14)  AMECO-Datenbank.

(15)  Stellungnahme des EWSA zur Finanzierung der Europäischen Säule sozialer Rechte (ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 1).

(16)  Stellungnahme des EuRH zum EFSI: Der Vorschlag zur Verlängerung und Aufstockung des EFSI ist verfrüht, S. 23.

(17)  EIB, Statistischer Bericht 2017.

(18)  Stellungnahme des EWSA zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets 2018, Ziffer 3.4 (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 216).

(19)  Stellungnahme des EWSA zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets 2018 (ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 33).

(20)  Stellungnahme des EWSA zu einer gemeinsamen (konsolidierten) Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 58).

(21)  Stellungnahme des EWSA zur Besteuerung der Gewinne multinationaler Unternehmen in der digitalen Wirtschaft (ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 73).

(22)  Stellungnahme des EWSA zu einer gemeinsamen (konsolidierten) Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 18).

(23)  Beispielsweise Verbesserung der Rahmenbedingungen und Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen sowie FuE-Ausgaben; Steigerung der Produktivität von Unternehmen, einzelnen Branchen und der Volkswirtschaft; Förderung der Schaffung qualifizierter Arbeitsplätze mit höheren Löhnen bei gleichzeitigem Abbau von befristeten und prekären Beschäftigungsverhältnissen im Niedriglohnbereich; Stärkung von Tarifverhandlungen und der Autonomie der Sozialpartner in diesem Bereich sowie des sozialen Dialogs auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene; Reform der öffentlichen Verwaltungen, damit sie wirkungsvoller der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung dienen können und für die Öffentlichkeit transparenter sind; Förderung hochwertiger Bildungs- und Berufsbildungssysteme für Arbeitnehmer im Sinne von Chancengleichheit und positiven Ergebnissen für alle gesellschaftlichen Gruppen.

(24)  Stellungnahme des EWSA zur Finanzierung der Europäischen Säule sozialer Rechte, Ziffer 2.5 (ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 1).

(25)  EZB, Structural policies in the euro area (Strukturpolitische Maßnahmen im Euro-Währungsgebiet).

(26)  A. Piasna & M. Myant (Hrsg.), Myths of Employment Deregulation: How it neither creates jobs nor reduces labour market segmentation (Mythen der Beschäftigungsderegulierung: weder neue Arbeitsplätze noch eine geringere Segmentierung des Arbeitsmarkts), Brüssel, ETUI, 2017.

(27)  Good Jobs for All in a Changing World of Work, The OECD Jobs Strategy (Gute Jobs für alle in einer Arbeitswelt im Wandel, Die Beschäftigungsstrategie der OECD), S. 8.

(28)  Stellungnahme des EWSA zum Reformhilfeprogramm (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 121).

(29)  Stellungnahme des EWSA zum Reformhilfeprogramm (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 121).

(30)  Stellungnahme des EWSA zur Finanzierung der Europäischen Säule sozialer Rechte (ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 1).

(31)  Stellungnahme des EWSA zum Mehrjährigen Finanzrahmen nach 2020 (ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 106).


5.6.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 190/33


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Ermöglichung der Fortsetzung der Programme für die territoriale Zusammenarbeit PEACE IV (Irland-Vereinigtes Königreich) und Vereinigtes Königreich-Irland (Irland-Nordirland-Schottland) vor dem Hintergrund des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union“

(COM(2018) 892 final — 2018/0432 (COD))

(2019/C 190/05)

Hauptberichterstatterin: Jane MORRICE

Befassung

Europäisches Parlament, 14.1.2019

Rat der Europäischen Union, 15.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 178 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Verabschiedung im Plenum

20.2.2019

Plenartagung Nr.

541

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

102/1/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Es ist nicht nur von großer, sondern entscheidender Bedeutung, dass die EU Nordirland über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU hinaus insbesondere durch die Programme PEACE und Interreg weiter unterstützt. Diese Notwendigkeit wurde an der problembeladenen Debatte über die Grenze zwischen dem Vereinigten Königreich und Irland in den Brexit-Verhandlungen deutlich.

1.2.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt ohne Vorbehalt den Vorschlag, das PEACE-Programm der EU in Nordirland und in den Grenzbezirken Irlands nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union fortzuführen. Der EWSA begrüßt, dass die Unterstützung des Friedensprozesses für die EU Priorität hat, und würdigt den bedeutsamen Beitrag des PEACE-Programms zur Friedenssicherung in der Region. Er stimmt darin mit den Feststellungen des Europäischen Parlaments vom September 2018 (1) überein‚ in denen das Programm PEACE als weltweit beispielhaft beschrieben wird.

1.3.

Da die durch den Brexit verursachte politische, wirtschaftliche und soziale Unsicherheit destabilisierend wirkt, sollte die EU aus der Sicht der zivilgesellschaftlichen Akteure unbedingt weiter alles in ihrer Macht Stehende dafür tun, dass Nordirland nicht nur konfliktfrei bleibt, sondern auch den Weg der Aussöhnung weiterbeschreitet und dazu den EU-spezifischen basisnahen Ansatz für die Friedensstiftung und Konfliktlösung anwendet.

1.4.

Das Europäische Programm für Frieden und Aussöhnung (PEACE) hat sich als das wertvollste und erfolgreichste Instrument der EU zur Friedensstiftung in Konfliktsituationen erwiesen. Nach den 1995 in Nordirland verkündeten Waffenruhen wurden mit dem Programm PEACE über 24 Jahre hinweg mehr als 2 Mrd. EUR in konfessions- und grenzübergreifende sowie andere Aussöhnungsprojekte investiert.

1.5.

Alle Vertragsparteien des Karfreitagsabkommens/Abkommens von Belfast sehen in dem PEACE-Programm einen herausragenden Beitrag zum Friedensprozess. Das Programm ist insofern einzigartig, als es innerhalb des Gebiets, in dem es gilt, alle anderen Maßnahmen der EU überspannt bzw. über sie hinausreicht. Es führt britische und irische Interessenvertreter unter dem Dach der EU mit dem ausschließlichen Ziel zusammen, den Friedensprozess zu bewahren und die Friedenskonsolidierung in der Region und darüber hinaus zu fördern.

1.6.

Die Dringlichkeit der Lage, die durch den Brexit bzw. den möglichen Austritt des Vereinigten Königreichs entstanden ist, erfordert Antworten seitens der EU, um den Friedensprozess zu sichern. Dabei muss den neuen Bedürfnissen der Region nach dem Brexit entsprochen werden. Durch die Zusicherung der Weiterführung der grenzübergreifenden Programme PEACE und Interreg unternimmt die EU einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Dieses Engagement bildet natürlich das wesentliche Fundament für die Unterstützung der Region durch die EU, doch es könnte und sollte noch mehr unternommen werden.

1.7.

Der unmittelbare Handlungsbedarf wurde während und nach den Brexit-Verhandlungen deutlich und wird besonders manifest werden, wenn die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen zunehmen und sich sowohl im öffentlichen Leben als auch an der Grenze eine Kluft auftut zwischen den Loyalitäten gegenüber dem Vereinigten Königreich bzw. Irland. Die EU könnte ein positives Zeichen setzen und u. a. eine Aufstockung der Mittel für PEACE im nächsten Programmzeitraum zusagen und das Europäische Zentrum für Frieden und Versöhnung in Belfast ansiedeln, wie es in früheren Berichten von EWSA, Europäischem Parlament und Europäischer Kommission angeregt wurde (2). Damit könnte die EU ihr langfristiges Engagement für den Friedensprozess unter Beweis zu stellen.

2.   Hintergrund

2.1.

Angesichts der schwierigen und heiklen Lage in Nordirland sollte mit dem ersten PEACE-Programm ein umfassendes Instrument geschaffen werden, um die Schranken zwischen verfeindeten und gespaltenen Bevölkerungsgruppen abzubauen. Das Programm PEACE wurde in Konsultation mit den Interessenträgern aus Politik, Verwaltung und Freiwilligensektor eingerichtet und ist ein Bottom-up-Konzept, das die schutzbedürftigsten Gruppen in der Gesellschaft, darunter Kinder, Frauen, Opfer und Akteure des Konflikts aktiv einbindet.

2.2.

Durch eine Reihe von Maßnahmen wurden mithilfe von PEACE-I Organisationen an der Basis gegründet, um gemeinsam mit „der anderen Seite“zu arbeiten, wobei die Kontrolle und die Verteilung der EU-Mittel weitgehend in die Hände lokaler Gruppen und Gebietskörperschaften gelegt wurden. Durch das PEACE-Programm wurden Anreize für Projekte im Bereich Friedensstiftung, Konfliktlösung, gegenseitiges Verständnis, Traumaverarbeitung und Vergangenheitsbewältigung gesetzt. Die Erfolge des PEACE-Programms sind vielfältig und der Beitrag, den es geleistet hat, um dem Friedensabkommen von 1998 den Weg zu ebnen, ist nicht zu unterschätzen. PEACE wird nun von der EU-Sonderprogrammstelle (SEUPB — Special EU Programmes Body) verwaltet, einer grenzübergreifenden britisch-irischen Organisation, die durch das Abkommen eingerichtet wurde und alle EU-Mittel für den Friedensprozess und die grenzüberschreitende Kooperation abwickelt.

2.3.

Die Fortsetzung des PEACE-Programms ist von entscheidender Bedeutung, damit die Region angesichts des Problems zweier gegenüberstehender Lager nicht in einen Konflikt zurückfällt, wobei sich dieses Problem nach dem Brexit verschärfen könnte, wie die während der Verhandlungen aufgetretenen Spannungen zeigten. Die Fortsetzung von PEACE ist heute wichtiger denn je zuvor nach 1998. Die in den Brexit-Verhandlungen gemachte Zusage, das Karfreitagsabkommen zu wahren und eine „harte Grenze“zu vermeiden, ist begrüßenswert, und PEACE kann eine entscheidende Unterstützung von bei einem wie auch immer gearteten Übergang spielen. Die Frage der irischen Grenze bleibt auch über die laufenden Verhandlungen hinaus der schwierigste Aspekt des Brexits, weshalb die grenzüberschreitenden Programme PEACE und Interreg sowie der kontinuierliche Dialog zwischen dem Vereinigten Königreich und Irland unverzichtbar und entscheidend sind.

3.   Allgemeine Empfehlungen

3.1.

Bei einer Verlängerung der Initiative nach 2020 in Form des sog. PEACE-Plus sollten Verbesserungen ins Auge gefasst werden. Diese können in fünf Hauptbereiche unterteilt werden:

3.1.1.

Stärkerer Schwerpunkt auf der Förderung einer Gesellschaft des Miteinanders durch echte konfessionsübergreifende Bemühungen. Die verstärkte Unterstützung die Integration im Bildungsbereich und die Förderung des grenzüberschreitenden Austausches im Bereich Medien, Kultur und Sport sollten zu den Prioritäten gehören. Wie die zahlreichen „Friedensmauern“, die segregierte Gesellschaften teilen, gezeigt haben, sollte vorrangig auf Initiativen der Bürgerebene zur Verbesserung des äußeren und sozialen Umfelds gesetzt werden.

3.1.2.

Die Förderung von Projekten für „eine Identität“sollte nur als vertrauensbildende Maßnahme zwischen getrennten Bevölkerungsgruppen zum Einsatz kommen, wenn diese als Sprungbrett für Kontakte mit „der anderen Seite“dienen. Das Problem bei einigen Finanzierungen aus PEACE besteht nach Aussage eines gut informierten Beobachters darin, dass es zu viele Anreize und zu wenige Gegenleistungen gibt.

3.1.3.

Die Kommunikationsmaßnahmen rund um das Programm PEACE bleiben hinter grundlegenden Anforderungen zurück — sie sorgen nicht dafür, dass sich die Bürger ausreichend der Rolle der EU bewusst sind. Zwar sind seitens der SEUPB Anstrengungen unternommen worden, doch sollten Europäische Kommission, Ministerien, Meinungsmacher u. a. sich noch mehr bemühen, die Rolle der EU erklären und zu würdigen, indem sie das Erkennungszeichen „Weiße Taube“für EU-finanzierten PEACE-Projekte verwenden.

3.1.4.

Es sollte klare Überwachungs- und Bewertungsverfahren geben. So würde sichergestellt, dass die Ergebnisse auch danach beurteilt werden, ob sie wirklich etwas bewirken, und nicht nur nach der Fähigkeit von Experten, Kästchen anzukreuzen. Einige kleine Gruppen in den Gemeinschaften, die am meisten Unterstützung benötigen, haben die EU-Finanzierung als „nicht der Mühe wert“bezeichnet und halten den damit verbundenen personellen Aufwand für zu groß.

3.1.5.

In einer Entschließung des Europäischen Parlaments von 2018 (3) wird PEACE als das Modell der EU gesehen, das propagiert werden könnte‚ um in anderen Teilen Europas und weltweit dauerhaft Frieden zu schaffen. Diese Aussage deckt sich mit einer Stellungnahme des EWSA, in der eine von der EU geführte weltweite Initiative zur Friedenskonsolidierung nach dem Vorbild von PEACE und die Schaffung eines europäischen Friedenswegs von Nordirland nach Nikosia vorgeschlagen werden. Der „Weg der weißen Taube“könnte den Spuren des irischen Wandermönchs Columban folgen und über den Westfront-Friedensweg und den Balkan bis nach Zypern führen und so die beiden geteilten Inseln an den Rändern Europas miteinander verbinden (4).

3.2.

Zwar mag der wichtigste Impuls für die Verbesserung bestimmter Aspekte von PEACE aus „Brüssel“kommen, doch bietet das neue Programm „PEACE Plus 2020“die Gelegenheit, die Kooperation mit der Zivilgesellschaft wieder zu verstärken, um die Ziele und Werte der EU in Nordirland zu fördern. Dies sollte nicht zu mehr Bürokratie führen, sondern vielmehr die Gelegenheit bieten, Vertrauen und Verständnis für die Rolle der EU bei der Förderung von Frieden und Versöhnung zu schaffen.

3.3.

Ein Konsultationsprozess ähnlich dem, der auf Initiative von Kommissionspräsident Jacques Delors 1994 für das PEACE-I-Programm durchgeführt wurde, sollte nicht nur die Eigenverantwortung der jeweiligen Bevölkerungsgruppe für den Friedensprozess stärken, sondern auch die Übernahme von Lehren anderer ermöglichen. Dies könnte nach dem Vorbild der von Jacques Delors vor seinem Ausscheiden aus dem Amt gebildeten Task Force und unter der Ägide von Kommissionspräsident Juncker in Zusammenarbeit mit den drei nordirischen MdEP, dem Generalsekretär der Europäischen Kommission und der Task Force der Kommission sowie in Kooperation mit der SEUPB und den Leitern der Büros der Europäischen Kommission in Belfast, Dublin und London geschehen.

4.   Spezifische Empfehlungen für den PEACE-Finanzierungszeitraum nach 2020

Projekte, die auf die Integration einer Identität und konfessionsübergreifender Aspekte abzielen, sollten stärker gewichtet werden. Programme, in denen die Zusammenarbeit gefördert wird, sind zu bevorzugen.

Die Laufzeit des PEACE-Programms sollte verlängert werden. Die Konflikttransformation benötigt Zeit und erfordert ein Engagement, das längerfristiger ist als die derzeitigen Finanzierungszyklen.

Es könnte erwogen und empfohlen werden, dass künftige mit EU-Mitteln aus dem PEACE-Programm finanzierte Projekte durch das Symbol der weißen Taube mit der EU-Flagge und der Aufschrift „finanziert aus Mitteln des EU-Programms PEACE“gekennzeichnet werden müssen.

Den Aufsichtsorganen des PEACE-Programms sollten auch in Zukunft Vertreter der Zivilgesellschaft angehören, jedoch nicht nur die bequemsten oder etabliertesten Akteure. Es muss mehr unternommen werden, um den Akteuren innerhalb der Bevölkerungsgruppen zu helfen, an ihren Aufgaben zu wachsen.

Es sollte erwogen werden, lokale Ausschüsse im Rahmen des PEACE-Programms einzurichten, um mit den Kommunen, der [Nordirland-]Versammlung und anderen Entscheidungsträgern zusammenzuarbeiten.

Förderung des Weiße-Taube-Konzepts, europaweite Vernetzung von Friedensaktivisten, Verwendung von authentischen Erfahrungen (Berichten) zur Sensibilisierung des Konfliktbewusstseins und aktive Beteiligung der Bürger auf dem Weg des Friedens.

Das ursprüngliche Engagement für ein Europäisches Friedenszentrum in Nordirland mit Verbindungen zu einem Zentrum in Nikosia als Drehscheibe für die Weitergabe realer Erfahrungen mit praktischen Friedenskonsolidierungsmaßnahmen in Europa und weltweit sollte bekräftigt werden. Dabei geht es darum, sicherzustellen, dass die Erkenntnisse, die im Friedensprozess in Nordirland und anderenorts mühsam erworben wurden, auch für Menschen in und nach anderen Konflikten nutzbar gemacht werden können.

Brüssel, den 20. Februar 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates: „Wir werden den Frieden nicht aufs Spiel setzen und der Aussöhnung kein Verfallsdatum setzen (…). Geben Sie uns eine verlässliche Garantie für den Frieden in Nordirland und das Vereinigte Königreich wird die EU als vertrauenswürdiger Freund verlassen!“

(2)  Stellungnahme des EWSA zur Rolle der EU im nordirischen Friedensprozess vom 22. Oktober 2008 (SC/029) (ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 100).

(3)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. September 2018 zu den Auswirkungen der Kohäsionspolitik der EU auf Nordirland.

(4)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum ThemaDer Weg der weißen Taube — Vorschlag einer EU-geführten globalen Strategie der Friedenskonsolidierung (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).


5.6.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 190/37


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Aspekte der Flugsicherheit im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Union“

(COM(2018) 894 final – 2018/0434 (COD))

(2019/C 190/06)

Rapporteur-general: Thomas McDONOGH

Befassung

Europäisches Parlament, 14.1.2019

Rat, 14.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 100 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Beschluss des Präsidiums

22.1.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.2.2019

Plenartagung Nr.

541

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

79/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hat schon mehrfach betont, dass der internationale Luftverkehr nur dann nachhaltig zum Wirtschaftswachstum beitragen kann, wenn höchste Sicherheitsniveaus gewährleistet werden. Voraussetzung für Sicherheit sind einheitliche Standards, die von allen Interessenträgern umgesetzt und von befugten Agenturen überwacht werden. Durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU (Brexit) kann die einheitliche Anwendung von Flugsicherheitsstandards in Europa gefährdet werden, da die einschlägigen EU-Verordnungen ab dem 30. März 2019 nicht mehr für die Interessenträger der Luftfahrtbranche des Vereinigten Königreichs gelten.

1.2.

In der EWSA-Stellungnahme zur Gewährleistung der grundlegenden Konnektivität im Luftverkehr (TEN/689) und auch in dieser Stellungnahme werden spezifische Aspekte ein und derselben Regelungsinitiative der Europäischen Kommission geprüft. Beide Stellungnahmen gehen von der Annahme aus, dass die Rechtsgrundlage für Luftverkehrstätigkeiten im Luftverkehrsbinnenmarkt — die Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates (1) sowie weitere EU-Verordnungen, die verschiedene luftverkehrsrelevante Aspekte regeln, wie insbesondere die Verordnung (EU) 2018/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates (2), sowie aus der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates (3) abgeleitete Rechtsakte — nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU nicht mehr für im Vereinigten Königreich registrierte Luftfahrtunternehmen gilt.

1.3.

Zur Verringerung von Rechts- und Planungsunsicherheit nach dem 29. März 2019 haben die EU und das Vereinigte Königreich ein Austrittsabkommen ausgehandelt, damit die Regierung des Vereinigten Königreichs im Wege nationaler Gesetze und Regelungsmaßnahmen den künftigen Regelungsrahmen für den Luftfahrtsektor des Vereinigten Königreichs aufstellen kann. Bislang jedoch ist das Austrittsabkommen noch nicht vom britischen Parlament ratifiziert worden. Im Rahmen eines im Sommer 2018 aufgestellten Aktionsplans für den Notfall hat die Europäische Kommission deshalb u. a. einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Aspekte der Flugsicherheit im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Union (die Verordnung) ausgearbeitet.

1.4.

Ohne weitere Rechtsgrundlage ist nicht klar, ob vom Vereinigten Königreich auf der Grundlage von EU-Recht erteilte Zulassungen/Zeugnisse weiterhin gültig sind, wie im Vereinigten Königreich registrierte Luftfahrtunternehmen ab dem 30. März 2019 die notwendige Zertifizierung erlangen können und wie Reparatur- und Instandhaltungsbetriebe im Vereinigten Königreich in Anbetracht der durch EU-Recht vorgeschriebenen Lizenzen weiterhin Ersatzteile liefern und Dienste erbringen können. Falls das Austrittsabkommen nicht angenommen wird, ist eine Notfallverordnung dringend erforderlich, um diese Fragen zu regeln und eine Rechtsgrundlage für eine reibungslose Umstellung auf die Anwendung von britischem Recht zu ermöglichen.

1.5.

Die Interessenträger können zwar in vielen Fällen die Aufrechterhaltung der Gültigkeit von Zulassungen/Zeugnissen sicherstellen, indem sie sich an eine Zivilluftfahrtbehörde der EU-27 wenden oder eine von der Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit (EASA) erteilte Drittlandzertifizierung beantragen, doch gibt es auch Beeinträchtigungen, die nicht so einfach abgefedert werden können und eine Rechtsgrundlage erfordern.

1.6.

Notfallmaßnahmen sind dringend erforderlich, doch sollten durch die EU-Verordnung nur Flugsicherheitsfragen geregelt werden, die sich nicht auf andere Weise regeln lassen. Die Verordnung hat daher nur Übergangscharakter, bis das Vereinigte Königreich die erforderlichen nationalen Agenturen eingerichtet und nationalen Rechtsvorschriften erlassen hat, so dass es über eine Sicherheitsbehörde verfügt.

1.7.

Der EWSA befürwortet diese Rechtsetzungsinitiative der Europäischen Kommission, in der spezifischen Problemen Rechnung getragen wird, die im Fall eines Austritts ohne Abkommen im Bereich der Flugsicherheit entstehen könnten. Die Verordnung bietet dem Luftfahrtsektor die erforderliche Rückversicherung, dass die Zertifizierung im Zuge des Wechsels des Vereinigten Königreichs von einem Mitgliedsstaat zu einem Drittstaat nicht gefährdet wird. Auch das Reisepublikum erhält dadurch die Gewissheit, dass nach dem 29. März 2019 ein sicherer Flugbetrieb aufrechterhalten wird.

1.8.

Der EWSA stimmt mit der Europäischen Kommission darin überein, dass die Verordnung nicht zum Ziel hat, den Status quo zu verlängern, sondern als dringend erachtete Notfallmaßnahmen zur Abmilderung möglicher Beeinträchtigungen des Luftverkehrs zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich zu bieten. Die vorgeschlagene Verordnung ist nur zeitlich begrenzt gültig, um höchste Flugsicherheitsstandards aufrechtzuerhalten.

1.9.

Der EWSA fordert das Vereinigte Königreich dringend auf, schleunigst bilaterale Sicherheitsabkommen mit der EU und mit anderen Drittländern abzuschließen, um die notwendige einvernehmliche gegenseitige Anerkennung von vom Vereinigten Königreich und diesen anderen Parteien ausgestellten Zulassungen/Zeugnissen sicherzustellen.

2.   Regulierungsumfeld

2.1.   Internationale Abkommen

2.1.1.

Nach dem Brexit muss das Vereinigte Königreich luftverkehrsrelevante Übereinkünfte, die die EU im Namen der Mitgliedstaaten abgeschlossen hat, erneut aushandeln. Wichtigste Übereinkunft für MRO (Wartung, Reparatur und Instandhaltung), Flugzeugbau, Reparaturwerkstätten und Sicherheitsstandards ist das bilaterale Flugsicherheitsabkommen EU-USA.

2.1.2.

In diesem Abkommen ist festgelegt, dass die Sicherheitsagenturen beider Seiten — die US-Luftfahrtbehörde (FAA) bzw. die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) — ihre jeweiligen Zertifizierungs- und Genehmigungsverfahren gegenseitig anerkennen, sodass immer nur eine Genehmigung erforderlich ist. Im Fall des Vereinigten Königreichs könnte die US-Luftfahrtbehörde (FAA) sich nicht mehr auf von der britischen Zivilluftfahrtbehörde (CAA) durchgeführte Inspektionen von Reparaturwerkstätten, die im Vereinigten Königreich tätig und von der FAA lizenziert sind, verlassen. Es wären nicht nur Inspektionen der FAA erforderlich, sondern auch die Genehmigung der CAA.

2.1.3.

In dem bilateralen Flugsicherheitsabkommen wird immer wieder auf die EU-Mitgliedstaaten Bezug genommen. Für das Vereinigte Königreich könnte der Status quo nur erhalten bleiben, wenn die USA sich bereit erklären, das Vereinigte Königreich während der Übergangsphase wie ein EU-Mitglied zu behandeln, und beide Seiten ein separates bilaterales Flugsicherheitsabkommen abschließen. Zwar ist die rechtliche Diskussion hierzu noch nicht abgeschlossen, doch müsste die EU einem solchen Abkommen zustimmen, wenn es während der Übergangsphase in Kraft treten soll (siehe Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum Freihandelsabkommen zwischen der EU und Singapur: Unterscheidung zwischen Vereinbarungen über die Beförderung von Passagieren und Gütern und Vereinbarungen über Dienstleistungen wie Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten). Vereinbarungen über Dienstleistungen fallen unter die gemeinsame Handelspolitik und damit in die ausschließliche Zuständigkeit der EU, und deshalb erfordert die Ablösung des bilateralen Flugsicherheitsabkommens EU-USA durch ein bilaterales Flugsicherheitsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und den USA die Zustimmung der EU. Dieser Zustimmung dürfte nichts im Wege stehen, da Sinn und Zweck des Austrittsabkommens ein geordneter Übergang ist.

2.1.4.

Das Vereinigte Königreich hat mitgeteilt, dass es Verhandlungen mit den USA, Brasilien und Kanada über bilaterale Flugsicherheitsabkommen aufgenommen hat. Deren Abschluss dürfte sich jedoch ohne ein Sicherheitsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich und vor allem ohne eine Klärung des Status des Vereinigten Königreichs in der EASA schwierig gestalten.

2.2.   EASA

2.2.1.

Nach dem Brexit könnte das Vereinigte Königreich eine Form der assoziierten Mitgliedschaft in der EASA beantragen, um weiter die Vorteile der gegenseitigen Anerkennung zwischen der EU und den USA zu nutzen und klare Verhältnisse bezüglich der vom Vereinigten Königreich anzuwendenden Sicherheitsstandards zu schaffen. Als Vertragspartei des Abkommens von Chicago könnte sich das Vereinigte Königreich um eine assoziierte Mitgliedschaft in der EASA bewerben, müsste allerdings das einschlägige EU-Luftfahrtrecht anwenden.

2.3.   Flugsicherheit im Fall eines Brexits ohne Austrittsabkommen

2.3.1.

Die Europäische Kommission hat zwei Verordnungsvorschläge unterbreitet, um einem potenziellen Stillstand im Luftverkehr zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich im Falle eines Austritts ohne Abkommen entgegenzuwirken. Zum einen sollen bestimmte Luftverkehrsdienste zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU aufrechterhalten werden, zum anderen soll die fortgesetzte Gültigkeit bestimmter, bereits erteilter Lizenzen sichergestellt werden. Die Gewährleistung der grundlegenden Konnektivität im Luftverkehr ist Gegenstand einer weiteren Stellungnahme des EWSA (TEN/689).

2.3.2.

Der zweite Verordnungsvorschlag über bestimmte Aspekte der Flugsicherheit im Hinblick auf den Brexit erstreckt sich auf die Aufrechterhaltung der Gültigkeit der Zulassungen/Zeugnisse für bestimmte luftfahrttechnische Erzeugnisse, Teile und Ausrüstungen sowie für Unternehmen. Zwar gibt es für die Interessenträger verschiedene Abhilfemöglichkeiten, und sie können sich beispielsweise an eine Zivilluftfahrtbehörde der EU-27 wenden oder frühzeitig eine von der EASA erteilte Drittlandzertifizierung beantragen, doch gibt es auch Auswirkungen, die nicht so einfach abgefedert werden können.

2.3.3.

Die dringende Notwendigkeit, die Gültigkeitsdauer zu verlängern, ergibt sich u. a. daraus, dass das Vereinigte Königreich zuvor an die EASA übertragene Zuständigkeiten übernehmen muss, um wieder Lizenzen erteilen zu können. Die EASA ihrerseits kann nur bestimmte Zulassungen/Zeugnisse auf der Grundlage einer Drittlandzertifizierung erteilen (4). Durch die Verlängerung der Gültigkeit kann die Zeit überbrückt werden, die die EASA und die Luftfahrtunternehmen benötigen, um bestimmte Zulassungen/Zeugnisse gemäß dem neuen Drittlandstatus des Vereinigten Königreichs auszustellen.

3.   Inhalt des Verordnungsvorschlags

3.1.

Die vorgeschlagene Verordnung erstreckt sich auf eine Reihe von Zulassungen/Zeugnissen, die bis zum Austrittsdatum gültig sind, unterscheidet jedoch generell zwischen Zulassungen/Zeugnissen, die natürlichen oder juristischen Personen, deren Hauptgeschäftssitz sich im Vereinigten Königreich befindet, von der EASA erteilt wurden, und Zulassungen/Zeugnissen, die von natürlichen oder juristischen Personen ausgestellt wurden, die wiederum von den zuständigen Behörden des Vereinigten Königreichs zertifiziert wurden (5).

3.2.

Bei der ersten Kategorie handelt es sich im Wesentlichen um Musterzulassungen und eingeschränkte Musterzulassungen, Änderungen oder Ergänzungen dieser Zulassungen, Genehmigungen von Reparaturen, Zulassungen gemäß Europäischer Technischer Standardzulassung sowie Genehmigungen als Entwicklungsbetrieb (6). Diese Zulassungen bleiben für neun Monate gültig. Die Gültigkeitsdauer kann im Wege eines delegierten Rechtsakts der Europäischen Kommission verlängert werden (7).

3.3.

Die zweite Kategorie umfasst vor allem Freigabebescheinigungen für Erzeugnisse, Teile und Ausrüstungen, Abschluss der Instandhaltungsarbeiten und Prüfung der Lufttüchtigkeit (8). Diese Zulassungen/Zeugnisse bleiben gültig, damit die Erzeugnisse, Teile und Ausrüstungen weiterhin in einem oder als ein Luftfahrzeug verwendet werden können (9). Zudem stellt die vorgeschlagene Verordnung sicher, dass die zuständigen Behörden der EU-Mitgliedstaaten oder die EASA Prüfungen von Ausbildungsorganisationen, die zuvor der Aufsicht der zuständigen Behörde des Vereinigten Königreichs unterlegen haben, berücksichtigen (10).

3.4.

Da sich die Ungültigkeit von Zulassungen/Zeugnissen nicht nur auf das Inverkehrbringen, sondern auf die tatsächliche Nutzung von Luftfahrterzeugnissen auswirken würde, ist die Aufrechterhaltung der Gültigkeit zwingend geboten, wenn eine Standortverlagerung von beispielsweise der Herstellung von Luftfahrterzeugnissen in die EU-27-Gerichtsbarkeit die einzige brauchbare Alternative wäre, um die zeitliche Lücke bis zur Ausstellung von Drittlandbescheinigungen zu überbrücken.

3.5.

Die Maßnahme ist umso relevanter, als es für bestimmte Flugzeugbauteile häufig nur wenige Hersteller gibt. Indes kann schon die Tatsache zu schweren Beeinträchtigungen führen, dass bspw. keine neuen Musterzulassungen erteilt werden, denn dadurch kann die Geschäftstätigkeit derjenigen Unternehmen, die ihre Zertifizierung nicht in die EU-Gerichtsbarkeit verlagern können, sowie ihrer Kunden, die eventuell auf spezifische zertifizierte Produkte angewiesen sind, erheblich gestört werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Bedenken der Interessenträger

4.1.1.

Die Interessenträger der Luftfahrtbranche sind sich der dringenden Notwendigkeit bewusst, den sicheren Betrieb im Luftverkehr aufrechtzuerhalten. Die vorgeschlagene Verordnung wartet mit ausreichenden, zeitlich begrenzten und gezielten Notfallmaßnahmen auf, um den Übergang abzufedern.

4.1.2.

Einige Interessenträger, die im Zuge der Erarbeitung dieser Stellungnahme befragt wurden, halten es für erforderlich, dass in den Artikeln 5, 6, 7 und 8 des Verordnungsvorschlags nicht nur auf die Inhaber von Zulassungen/Zeugnissen Bezug genommen wird, sondern auch auf natürliche oder juristische Personen, die Zulassungen/Zeugnisse erteilen. Dadurch hätten alle am Zertifizierungsverfahren beteiligten Parteien die rechtliche Sicherheit, dass der Status quo über den 29. März 2019 hinaus gelten würde.

4.1.3.

Der EWSA stimmt mit der Europäischen Kommission darin überein, dass die Verordnung nicht zum Ziel hat, den Status quo zu verlängern, sondern vielmehr als dringend erachtete Notfallmaßnahmen zur Abmilderung möglicher Beeinträchtigungen des Luftverkehrssektors bietet. Auch wenn die Interessenträger über die Diskussionen im Zusammenhang mit dem Brexit auf dem Laufenden sind, haben sie nicht in allen Fällen die Möglichkeit, selbst Maßnahmen zu ergreifen, um die Auswirkungen des Brexit auf die Flugsicherheit abzumildern. Deshalb sind sie auf Rechtssicherheit angewiesen, die für die Aussteller von Zulassungen/Zeugnissen im Hinblick auf dauerhafte Zertifizierung jedoch nicht durch eine EU-Verordnung gewährleistet werden kann. Entsprechende Rechtssicherheit gibt es erst durch neue nationale Rechtsvorschriften im Vereinigten Königreich.

4.1.4.

Der EWSA befürwortet diese Rechtsetzungsinitiative der Europäischen Kommission, in der spezifischen Problemen Rechnung getragen wird, die im Fall eines Austritts ohne Abkommen im Bereich der Flugsicherheit entstehen könnten. Die Verordnung bietet dem Luftfahrtsektor die erforderliche Rückversicherung, dass die Zertifizierung im Zuge des Wechsels des Vereinigten Königreichs von einem Mitgliedsstaat zu einem Drittstaat nicht gefährdet wird. Auch das Reisepublikum erhält dadurch die Gewissheit, dass nach dem 29. März 2019 ein sicherer Flugbetrieb aufrechterhalten wird.

4.1.5.

Der EWSA befürwortet diesen Ansatz nachdrücklich und appelliert an die Verhandlungsparteien, so rasch wie möglich ein bilaterales Luftsicherheitsabkommen abzuschließen und darin im gegenseitigen Einvernehmen festzulegen, wie die Sicherheitsbehörden beider Seiten künftig zusammenarbeiten werden, um eine harmonisierte Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen in ganz Europa zu gewährleisten.

4.1.6.

Der EWSA fordert ferner das Vereinigte Königreich dringend auf, ein Flugsicherheitsabkommen mit den führenden Wirtschaftsnationen, insbesondere den USA, abzuschließen, um die Kontinuität und Kohärenz der bisherigen Sicherheitsmaßnahmen auf dem Nordatlantikmarkt aufrechtzuerhalten.

Brüssel, den 20. Februar 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 2008 über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft (ABl. L 293 vom 31.10.2008, S. 3).

(2)  Verordnung (EU) 2018/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2018 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit sowie zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 2111/2005, (EG) Nr. 1008/2008, (EU) Nr. 996/2010, (EU) Nr. 376/2014 und der Richtlinien 2014/30/EU und 2014/53/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 552/2004 und (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EWG) Nr. 3922/91 des Rates (ABl. L 212 vom 22.8.2018, S. 1).

(3)  Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Februar 2008 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Europäischen Agentur für Flugsicherheit, zur Aufhebung der Richtlinie 91/670/EWG des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1592/2002 und der Richtlinie 2004/36/EG (ABl. L 79 vom 19.3.2008, S. 1).

(4)  Verordnung (EU) 2018/1139, Art. 68.

(5)  COM(2018) 894 final, Art. 1 Abs. 2.

(6)  COM(2018) 894 final, Anhang, Abschnitt 1.

(7)  COM(2018) 894 final, Art. 3.

(8)  COM(2018) 894 final, Anhang, Abschnitt 2.

(9)  COM(2018) 894 final, Art. 4.

(10)  COM(2018) 894 final, Art. 5.


5.6.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 190/42


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Vorschriften zur Gewährleistung der grundlegenden Konnektivität im Luftverkehr im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Union“

(COM(2018) 893 final — 2018/0433 (COD))

(2019/C 190/07)

Hauptberichterstatter: Jacek KRAWCZYK

Befassung

Europäisches Parlament, 14.1.2019

Rat, 14.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 100 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Beschluss des Präsidiums

22.1.2019

Verabschiedung im Plenum

20.2.2019

Plenartagung Nr.

541

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

77/1/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hat stets die Bedeutung und Größe des gemeinsamen europäischen Luftverkehrsraums als Katalysator für das Wachstum der Wirtschaft, die Schaffung von Wohlstand und die Wahrung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Europas unterstrichen. Sobald der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU (Brexit) wirksam wird, wird auch kein Sektor seiner Wirtschaft mehr dem Binnenmarkt angehören; dementsprechend wird auch sein Luftfahrtsektor nicht mehr Teil des gemeinsamen europäischen Luftverkehrsraums sein bzw. von seinen Vorteilen profitieren.

1.2.

Wie sich der Brexit auf den umfangreichen Luftverkehr zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich auswirken wird, hängt davon ab, ob es den Institutionen beider Seiten gelingt, rasch die notwendigen Regulierungsmaßnahmen zu ergreifen, um ein hohes Maß an Wettbewerbsfähigkeit der Luftverkehrssektoren der EU-27 und des Vereinigten Königreichs zu gewährleisten.

1.3.

Bei einem — zunehmend wahrscheinlichen — Austritt ohne Austrittsabkommen würden die Flugdienste zwischen dem Vereinigten Königreich und den Mitgliedstaaten nicht mehr durch EU-Recht, insbesondere die Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates (1), geregelt. Dadurch entsteht Rechtsunsicherheit, die Planungssicherheit wird untergraben, und die fortgesetzte Konnektivität im Luftverkehr zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU wird gefährdet.

1.4.

Die vorgeschlagene Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Vorschriften zur Gewährleistung der grundlegenden Konnektivität im Luftverkehr im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Union (die Verordnung) bietet eine Übergangslösung in Form eines Notfallplans zur Abfederung der Folgen eines harten Brexits. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind das einzig denkbare Lösungskonzept, um potenziell schwerwiegende negative Auswirkungen auf den Luftverkehr abzumildern, die ohne Ratifizierung des Austrittsabkommens bis zum 29. März 2019 zu erwarten stehen.

1.5.

Ziel der Verordnung ist es, der Europäischen Kommission und der Regierung des Vereinigten Königreichs mehr Zeit für die Aushandlung eines umfassenden Luftverkehrsabkommens als Regelungsrahmen für den Luftverkehr zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich einzuräumen und zwischenzeitlich eine grundlegende Konnektivität im Luftverkehr zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich sicherzustellen.

1.6.

Verhandlungen über ein Luftverkehrsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich sollten umgehend aufgenommen werden, um eine rechtliche Grundlage für einen soliden Wettbewerb zwischen den Luftfahrtunternehmen beider Seiten zu schaffen. Der EWSA kann mit einschlägigen Beiträgen der Interessenträger aus der organisierten Zivilgesellschaft der EU-27 aufwarten. Im Interesse der europäischen Wirtschaft, Bürger und Arbeitnehmer appelliert der EWSA an die EU und das Vereinigte Königreich, so rasch wie möglich ein umfassendes Luftverkehrsabkommen als einzige Rechtsgrundlage für einen offenen und wettbewerbsfähigen Luftverkehrsmarkt anzunehmen.

1.7.

Nachdem das Vereinigte Königreich gemäß Artikel 50 EUV seine Absicht mitgeteilt hatte, aus der EU auszutreten, entwarf die Europäische Kommission eine kohärente Verhandlungsstrategie, die sie mit genereller und einvernehmlicher Billigung aller EU-Institutionen konsequent und transparent umsetzte (2). Der EWSA begrüßt die geschlossene Haltung der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und der Mitgliedstaaten. Geschlossenheit wird den Anliegen der EU-Bürgerinnen und -Bürger gerecht und liegt auch im Interesse des Zivilluftfahrtsektors.

1.8.

Der EWSA befürwortet die Konzipierung der vorgeschlagenen Verordnung als Notfallmaßnahme zur Sicherung der grundlegenden Konnektivität im Luftverkehr. Diese Verordnung kann nicht als Ergänzung der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 oder gar als einseitige Austrittsvereinbarung begriffen werden. Die in der vorgeschlagenen Verordnung festgelegten Rechte sind zeitlich begrenzt und zweckgebunden. Die Begrenzung der Geschäftsmöglichkeiten auf Luftverkehrsdienste der dritten und vierten Freiheit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich ist folgerichtig und konsequent. Weitere Geschäftsmöglichkeiten zwischen Luftverkehrsunternehmen der EU und des Vereinigten Königreichs müssen Gegenstand von Verhandlungen über ein künftiges Luftverkehrsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich sein.

1.9.

Zur Gewährleistung einer grundlegenden Konnektivität und eines fairen Wettbewerbs sind in der vorgeschlagenen Verordnung verschiedene Kriterien und Verfahren vorgesehen, so z. B. eine Begrenzung auf die in der IATA-Sommer- bzw. IATA-Wintersaison geleisteten Frequenzen (3), die Gleichwertigkeit von Rechten (4) und die Befugnis der Europäischen Kommission, Rechte einzuschränken, zu ändern oder zu widerrufen (5). Der EWSA empfiehlt, dass der Bezugszeitraum am 29. März 2019 enden sollte (nach der kompletten IATA-Sommer- bzw. IATA-Wintersaison 2018/2019), um der aktuellen Marktlage besser Rechnung zu tragen.

1.10.

In Anbetracht der wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen des denkbar schlimmsten Ausgangs ist es entscheidend, dass die Europäische Kommission einen Mechanismus für eine transparente sorgfältige Überwachung entwickelt. Ein solcher Mechanismus sollte eine enge Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission und den Sozialpartnern wie auch den zivilgesellschaftlichen Organisationen vor und während des Übergangszeitraums sowie während der Verhandlungen über ein neues Luftverkehrsabkommen beinhalten. Diese Überwachung muss sich auch auf den Schutz der Fluggäste und Arbeitnehmer sowie die Einhaltung von Umweltstandards erstrecken.

1.11.

Nach Meinung des EWSA sollten den in der Luftfahrtbranche Beschäftigten aus dem Vereinigten Königreich die ihnen aus EU-Recht erwachsenden Ansprüche erhalten bleiben, u. a. in Verbindung mit der Arbeitszeit der Besatzung, Leiharbeit, Flugzeitbeschränkungen, der Richtlinie über den Übergang von Unternehmen usw., um gleiche Ausgangsbedingungen im Vergleich zu den Luftfahrtunternehmen der EU sicherzustellen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.   Rechtsgrundlage für die Bereitstellung von Luftverkehrsdiensten innerhalb der EU

Wie in der Begründung des Verordnungsvorschlags erläutert (6), organisieren souveräne Staaten den Luftverkehr im Wege bilateraler Luftverkehrsabkommen. Seit der Liberalisierung des Luftverkehrs innerhalb der EU gründet die Freiheit der Luftfahrtunternehmen der Mitgliedstaaten, innerhalb der EU Flugdienste zu erbringen, ausschließlich auf der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008, in der auch Vorschriften für die Erteilung von Betriebsgenehmigungen für diese Luftfahrtunternehmen festgelegt sind. Ohne ein Austrittsabkommen würde der Luftverkehr zwischen dem Vereinigten Königreich und den Mitgliedstaaten nicht mehr durch diese Verordnung geregelt, d. h., ab dem 30. März 2019 gäbe es keine Rechtsgrundlage mehr für die Erbringung von Flugdiensten zwischen dem Vereinigten Königreich und den Mitgliedstaaten durch ihre jeweiligen Luftfahrtunternehmen. Zudem würden die Luftverkehrsunternehmen des Vereinigten Königreichs ihre Betriebsgenehmigung für die EU verlieren.

Die Staaten können zwar die Flugpläne benannter Luftfahrtunternehmen für eine Flugsaison auf der Grundlage von Einvernehmen und Gegenseitigkeit genehmigen, diese Ad-hoc-Genehmigungen sind indes kein Garant für Planungssicherheit und würden bei Flügen zwischen dem Vereinigten Königreich und EU-Mitgliedstaaten zu einem unermesslichen Verwaltungsaufwand führen. Gleichzeitig würde sich die einigermaßen kontroverse rechtliche Frage stellen, ob die EU weiterhin die ausschließliche Kompetenz für Verhandlungen über ein Luftverkehrsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich besitzen würde, ohne das die Mitgliedstaaten keine rechtswirksame Genehmigung für Flüge erteilen könnten. Es muss also eine Rechtsgrundlage geschaffen werden, damit Luftverkehrsdienste zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich auch nach dem 29. März 2019 bereitgestellt werden können.

2.2.   Austrittsabkommen — Auswirkungen auf den Luftverkehr

Die EU und das Vereinigte Königreich haben ein Austrittsabkommen ausgehandelt, das Maßnahmen beinhaltet, die den Wechsel des Vereinigten Königreichs von einem EU-Mitgliedstaat zu einem Drittland erleichtern sollen. Dieses Abkommen betrifft alle Wirtschaftsbereiche. Während der Übergangszeit würde geltendes und neu verabschiedetes EU-Recht im Vereinigten Königreich angewendet; das Vereinigte Königreich würde jedoch nicht mehr aktiv am Beschlussfassungsprozess der EU, was auch EU-Agenturen wie die EASA einschließt, mitwirken. Diese Situation würde sich erst mit dem Abschluss eines neuen Luftverkehrsabkommens zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU-27 ändern.

2.2.1.   Von der EU geschlossene internationale Übereinkünfte

Nach dem Brexit muss das Vereinigte Königreich mehr als 750 internationale Übereinkünfte, die die EU im Namen der Mitgliedstaaten abgeschlossen hat, erneut aushandeln, darunter diverse luftverkehrsrelevante Vereinbarungen wie das Open-Skies-Abkommen zwischen der EU und den USA, das nicht mehr für das Vereinigte Königreich gelten wird. Luftverkehrsvereinbarungen, die die EU auf der Grundlage ihrer ausschließlichen Zuständigkeit abgeschlossen hat, werden für das Vereinigte Königreich nach seinem Austritt aus der EU nicht mehr gelten. Auch gemischte, auf der Grundlage geteilter Zuständigkeit abgeschlossene Abkommen, die den EU-Mitgliedstaaten Vorteile sichern, werden dem Vereinigten Königreich nicht mehr zugutekommen. Im Austrittsabkommen verpflichtet sich die EU, alle internationalen Parteien von EU-Luftverkehrsabkommen davon in Kenntnis zu setzen, dass das Vereinigte Königreich während des Übergangszeitraums wie ein EU-Mitgliedstaat zu behandeln ist. Die Entscheidung darüber bleibt jedoch den Drittparteien vorbehalten; das Austrittsabkommen bzw. die fortgesetzte Gewährung von Vorteilen für das Vereinigte Königreich nach dem 29. März 2019 ist für Dritte nicht rechtlich bindend.

2.2.2.   Mit den Aspekten MRO (Wartung, Reparatur und Instandhaltung), Flugzeugbau, Reparaturwerkstätten und Sicherheitsstandards befasst sich der EWSA in der Stellungnahme „Flugsicherheit nach dem Brexit“(TEN/688).

3.   Verordnungsvorschlag

3.1.   Hintergrund

Die Europäische Kommission hat zwei Verordnungsvorschläge unterbreitet, um potenzielle kritische Unterbrechungen des Luftverkehrs zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich im Falle eines Austritts ohne Abkommen abzumildern:

Einen Vorschlag über gemeinsame Vorschriften zur Gewährleistung der grundlegenden Konnektivität im Luftverkehr im Hinblick auf den Brexit (COM(2018) 893 final — 2018/0433 (COD)), der Gegenstand dieser Stellungnahme ist, und

einen Vorschlag über bestimmte Aspekte der Flugsicherheit im Hinblick auf den Brexit (COM(2018) 894 final — 2018/0434 (COD)) (7).

Darin enthalten sind Notfallmaßnahmen zur Regelung spezifischer Bereiche des EU-Rechts für den Fall eines Austritts ohne Abkommen. Es werden nur wenige Maßnahmen vorgeschlagen. Sie sind als außergewöhnliche Initiative zum Schutz grundlegender Interessen der Europäischen Union und ihrer Bürgerinnen und Bürger bei Eintritt dieses Szenarios zu begreifen.

Laut der Europäischen Kommission sollen damit weder die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft reproduziert noch die Bedingungen der geplanten Übergangsphase vorweggenommen werden. Die Maßnahmen werden einseitig von der EU angenommen (und können jederzeit aufgehoben werden) und sind, je nach Sektor, zeitlich begrenzt. Des Weiteren ist die Aufteilung der Zuständigkeiten zu wahren, und nationale Maßnahmen müssen im Einklang mit dem EU-Recht stehen. Überdies sind die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht dazu gedacht, Versäumnisse bei der Vorbereitung zu überbrücken.

3.2.   Vorgeschlagene Maßnahmen

3.2.1.

Ziel der vorgeschlagenen Verordnung ist es, ein Jahr lang die grundlegende Konnektivität im Luftverkehr zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU zu gewährleisten. Luftfahrtunternehmen des Vereinigten Königreichs werden Verkehrsrechte eingeräumt, damit sie das Hoheitsgebiet der Union ohne Landung überfliegen, im Hoheitsgebiet der Union zu nichtgewerblichen Zwecken landen sowie direkte Strecken zwischen den Hoheitsgebieten des Vereinigten Königreichs und der EU bedienen können, wobei nicht zwischen Personen- und Frachtbetrieb oder Linien- und Nichtlinienflugverkehr unterschieden wird (8). Bei der Bereitstellung von Linienflugdiensten darf die Gesamtzahl der vor dem Brexit in der IATA-Sommer- bzw. IATA-Wintersaison des Jahres 2018 geleisteten Frequenzen nicht überschritten werden (9).

3.2.2.

Die den Luftfahrtunternehmen des Vereinigten Königreichs gewährten Rechte hängen außerdem von der Einhaltung des Grundsatzes der „Gleichwertigkeit von Rechten“ab, was im Wesentlichen bedeutet, dass die Europäische Kommission überwacht, ob die den Luftfahrtunternehmen der Union de jure und de facto eingeräumten Rechte denen gleichwertig sind, die den Luftfahrtunternehmen des Vereinigten Königreichs auf der Grundlage dieser Verordnung gewährt werden. Wenn dies nicht der Fall ist oder diese Rechte nicht gleichermaßen allen Luftfahrtunternehmen der EU gewährt werden, bleibt es der Europäischen Kommission vorbehalten, Kapazitäten weiter einzuschränken und die Mitgliedstaaten aufzufordern, Betriebsgenehmigungen zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen oder sonstige zweckdienliche Maßnahmen zu erlassen (10). Die Europäische Kommission kann die gleichen restriktiven Maßnahmen ergreifen, wenn sie feststellt, dass der faire Wettbewerb nicht gewährleistet ist, bspw. wenn das Vereinigte Königreich seine Luftfahrtunternehmen subventioniert oder Luftfahrtunternehmen der EU benachteiligt (11).

3.2.3.

Die vorgeschlagene Verordnung beinhaltet ferner Anforderungen für die Beantragung von Betriebsgenehmigungen bei den Mitgliedstaaten (12) und für die Vorlage von Betriebsplänen, Programmen und Flugplänen bei den zuständigen Behörden der betroffenen Mitgliedstaaten (13) sowie Bedingungen für die Verweigerung, den Widerruf, die Aussetzung oder die Einschränkung von Betriebsgenehmigungen (14) und für die fortgesetzte Anerkennung von vom Vereinigten Königreich erteilten Lufttüchtigkeitszeugnissen, Zulassungen/Zeugnissen über Befähigungen und Lizenzen (15).

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Kapazitätsbegrenzung

4.1.1.

Die europäischen Interessenträger sind geteilter Meinung, ob es notwendig ist, die zur Verfügung gestellte Kapazität zu beschränken (16). Dagegen spricht insbesondere das für die kommenden Jahre prognostizierte Wachstum des Luftverkehrsmarkts von 6 %.

4.1.2.

Der EWSA stimmt jedoch mit der Europäischen Kommission darin überein, dass das Ziel dieser Verordnung nicht darin besteht, die Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 zu ergänzen und de facto einen funktionsfähigen gemeinsamen europäischen Luftverkehrsraum zu schaffen. Zugegebenermaßen wird durch die Regelung von Frequenzen und damit der zur Verfügung gestellten Kapazität in die Marktdynamik eingegriffen. Indes müssen in Anbetracht des Brexits und in Ermangelung eines ratifizierten Austrittsabkommens dringend Maßnahmen ergriffen werden. Diese Verordnung ist daher in den politischen Kontext einzuordnen, dass es bislang nicht gelungen ist, ein geeignetes Austrittsabkommen anzunehmen, das für eine begrenzte Übergangszeit die Rechtsgrundlage sichert, während das Vereinigte Königreich Maßnahmen als Drittland ergreift; ohne ein solches Austrittsabkommen drohen allen Wirtschaftsbereichen, insbesondere dem Luftverkehr, schwerwiegende Störungen.

4.1.3.

Die im Rahmen dieser Verordnung zur Verfügung gestellte Kapazität ist daher nicht das Abbild eines funktionierenden Marktes, sondern einer dringenden Notfallmaßnahme. Ohne diese Verordnung laufen die Luftfahrtunternehmen des Vereinigten Königreichs ernstlich Gefahr, ihre Betriebsgenehmigung für die EU zu verlieren. Mit dieser Verordnung kann die grundlegende Konnektivität im Luftverkehr aufrechterhalten werden. Die Begrenzung schafft insofern Sicherheit für die Mitgliedstaaten, als kein Mitgliedstaat zusätzliche Frequenzen genehmigen kann. Auch die Voraussetzungen für eventuell notwendige Abhilfemaßnahmen sind klar festgelegt. Die Begrenzung der Frequenzen unterstreicht den Übergangs- und Notfallcharakter der Verordnung. Der Bezugszeitraum sollte am 29. März 2019 enden (nach der kompletten IATA-Sommer- bzw. IATA-Wintersaison 2018/2019), um der aktuellen Marktlage besser Rechnung zu tragen. Die Verordnung gilt für die Zeit von höchstens einem Jahr, die für die Aushandlung eines neuen Luftverkehrsabkommens erforderlich ist.

4.1.4.

In Anbetracht ihres Übergangs- und Notfallcharakters befürwortet der EWSA die zeitlich beschränkte Begrenzung der Frequenzen. Allerdings appelliert der EWSA an die EU und das Vereinigte Königreich, im Interesse der europäischen Wirtschaft und ihrer Arbeitnehmer so rasch wie möglich ein umfassendes Luftverkehrsabkommen als einzige Rechtsgrundlage für einen offenen und wettbewerbsfähigen Luftverkehrsmarkt anzunehmen.

4.2.   Ausweitung auf Code-Sharing und Leasing-Vereinbarungen

4.2.1.

Nach Ansicht des EWSA würde die Aufnahme von Klauseln zur Fortsetzung von Code-Sharing und Leasing-Vereinbarungen über das Ziel der Verordnung hinausgehen. Diese gewerblichen Vereinbarungen sind zur Sicherstellung einer grundlegenden Konnektivität zwischen zwei Parteien entbehrlich. Rechtsgrundlage für diese Art der kommerziellen Zusammenarbeit ist die Verordnung (EG) Nr. 1008/2008; sollen entsprechende Vereinbarungen fortgesetzt werden, dann müssen sie in einem künftigen umfassenden Luftverkehrsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich vorgesehen werden.

4.3.   Ausweitung auf Verkehrsrechte der fünften Freiheit (für Frachtbetrieb)

4.3.1.

Mit der Verordnung wird grundlegende Konnektivität sichergestellt, d. h. Flugdienste zwischen zwei Staaten im Einklang mit den Verkehrsrechten der dritten und vierten Freiheit. Auch die Gewährung technischer Rechte gemäß den Verkehrsrechten der ersten und zweiten Freiheit ist vorgesehen. Über die Sicherstellung der grundlegenden Konnektivität zwischen zwei Staaten hinausgehende Rechte können nicht im Rahmen dieser Verordnung gewährt werden, deren Ziel nicht darin besteht, neue Geschäftsmöglichkeiten zu eröffnen oder gar die Rechtsgrundlage für den gesamten derzeitigen Betrieb zu erweitern. Nach Meinung des EWSA ist es nicht mit dem Zweck und der Logik der vorgeschlagenen Verordnung vereinbar, über die vorläufig eingeräumten gewerblichen Verkehrsrechte der dritten und vierten Freiheit hinaus weitere Verkehrsrechte zu gewähren.

4.4.   Auswirkungen auf Eigentums- und Kontrollanforderungen

4.4.1.

Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass die in der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 festgelegten Eigentums- und Kontrollanforderungen nicht aufgrund des Brexits geändert werden sollten. In der vorgeschlagenen Verordnung sollte eine zusätzliche ausreichende Frist vorgesehen werden, in der ein Luftfahrtunternehmen der EU, das Gefahr läuft, nach dem Brexit seine Betriebsgenehmigung für die Union zu verlieren, seine Eigentumsverhältnisse anpassen und von der Europäischen Kommission genehmigen lassen kann.

4.5.   Ausnahme von der Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 868/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (17) auf Flugdienste von Luftfahrtunternehmen des Vereinigten Königreichs in die EU

4.5.1.

Nach Ansicht des EWSA sollte die Verordnung (EG) Nr. 868/2004 weiterhin ohne Ausnahmen gelten, um die Schaffung eines Präzedenzfalls im Hinblick auf künftige Anwendungen dieses Handelsschutzinstruments zu vermeiden. Außerdem ist eine Ausnahmeregelung überflüssig, da in der vorgeschlagenen Verordnung bereits Maßnahmen vorgesehen sind, die die Europäische Kommission im Bedarfsfall ergreifen kann, um gegen eine Diskriminierung von Luftfahrtunternehmen der EU vorzugehen.

4.6.   Gleichwertigkeit von Rechten

4.6.1.

Der Artikel über die Gleichwertigkeit von Rechten, der der Europäischen Kommission die Möglichkeit einräumt, die Mitgliedstaaten aufzufordern, Betriebsgenehmigungen von Luftfahrtunternehmen des Vereinigten Königreichs zu widerrufen oder einzuschränken, stößt auf Bedenken. Der Artikel lässt einen Interpretationsspielraum offen, und es ist alles andere als sicher, dass ihn alle Mitgliedstaaten gleich interpretieren würden. Von Vorteil ist in erster Linie, dass automatische Strafmaßnahmen gegenüber Luftfahrtunternehmen vermieden werden und dementsprechend weniger zwangsläufige Markteingriffe erfolgen. In Anbetracht des Übergangscharakters der Verordnung ist ein pragmatischer Ansatz angemessener als formalistische Schlagabtäusche im Namen der Gleichwertigkeit.

4.6.2.

Der EWSA räumt ein, dass es von Vorteil ist, wenn die gewährten Rechte, wie in Artikel 4 der vorgeschlagenen Verordnung beschrieben, „de jure oder de facto […] gleichwertig“sind, um einen fairen Wettbewerb und gleiche Ausgangsbedingungen für die Erbringung von Luftverkehrsdiensten zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich zu sichern. Luftfahrtunternehmen des Vereinigten Königreichs wären bei einem Austritt ohne Abkommen nicht länger an EU-Rechtsvorschriften beispielsweise über Verbraucherschutz, Emissionshandel oder staatliche Beihilfen gebunden. Es liegt deshalb nicht nur im Interesse der Luftfahrtunternehmen, sondern auch der Bürgerinnen und Bürger der EU, zu verstehen, in welchen Fällen bestimmte Dienste eventuell eingestellt werden könnten, um eine faktische oder rechtliche Gleichwertigkeit von Rechten herzustellen.

4.6.3.

Der EWSA empfiehlt daher, dass die Europäische Kommission für eine harmonisierte Umsetzung dieses Artikels sorgen und ggf. mehr spezifische Beispiele für Situationen nennen sollte, in denen Abhilfemaßnahmen seitens der EU angezeigt wären.

4.7.   Nach Meinung des EWSA sollten den in der Luftfahrtbranche Beschäftigten aus dem Vereinigten Königreich die ihnen aus EU-Recht erwachsenden Ansprüche erhalten bleiben, u. a. in Verbindung mit der Arbeitszeitrichtlinie, der Richtlinie über Leiharbeitnehmer, den Regelungen über Flugzeitbeschränkungen, der Richtlinie über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats, der Richtlinie über den Übergang von Unternehmen usw., um wirklich gleiche Ausgangsbedingungen im Vergleich zu den Luftfahrtunternehmen der EU sicherzustellen.

Brüssel, den 20. Februar 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 2008 über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft (ABl. L 293 vom 31.10.2008, S. 3).

(2)  COM(2018) 556 final/2; COM(2018) 880 final

(3)  COM(2018) 893 final, Artikel 3 Absatz 2.

(4)  COM(2018) 893 final, Artikel 4.

(5)  COM(2018) 893 final, Artikel 4 und 5.

(6)  COM(2018) 895 final.

(7)  EWSA-Stellungnahme „Flugsicherheit nach dem Brexit“(TEN/688) (siehe Seite 37 dieses Amtsblatts).

(8)  Siehe COM(2018) 893 final , Art. 3 Abs. 1.

(9)  COM(2018) 893 final , Artikel 3 Absatz 2.

(10)  COM(2018) 893 final, Artikel 4.

(11)  COM(2018) 893 final, Artikel 5.

(12)  COM(2018) 893 final, Artikel 6.

(13)  COM(2018) 893 final , Artikel 7.

(14)  COM(2018) 893 final , Artikel 8.

(15)  COM(2018) 893 final , Artikel 9.

(16)  COM(2018) 893 final – 2018/0433 (COD).

(17)  Verordnung (EG) Nr. 868/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über den Schutz vor Schädigung der Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft durch Subventionierung und unlautere Preisbildungspraktiken bei der Erbringung von Flugverkehrsdiensten von Ländern, die nicht Mitglied der Europäischen Gemeinschaft sind (ABl. L 162 vom 30.4.2004, S. 1).


5.6.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 190/48


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Regeln zur Gewährleistung der grundlegenden Konnektivität im Güterkraftverkehr im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland aus der Union

(COM(2018) 895 final — 2018/0436 (COD))

(2019/C 190/08)

Hauptberichterstatter: Raymond HENCKS

Befassung

Europäisches Parlament, 14.1.2019

Rat der Europäischen Union, 14.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 91 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Beschluss des Präsidiums

22.1.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.2.2019

Plenartagung Nr.

541

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

76/1/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt die Bestrebungen der Kommission, vorübergehend eine grundlegende Konnektivität im grenzüberschreitenden Güterschwerlastverkehr zwischen der Union und dem Vereinigten Königreich und umgekehrt zu gewährleisten, sofern das Vereinigte Königreich die EU ohne ratifiziertes Austrittsabkommen verlassen und somit nicht mehr an Unionsrecht gebunden sein wird.

1.2.

Der EWSA begrüßt, dass in dem vorliegenden Verordnungsvorschlag den britischen Güterkraftverkehrsunternehmern das Recht gewährt wird, bis zum 31. Dezember 2019 unter den in dem Vorschlag dargelegten Bedingungen, insbesondere unter der Voraussetzung, dass sich die Güterkraftverkehrsunternehmer aus der Union unter gleichwertigen Bedingungen, einschließlich fairer, gleicher und diskriminierungsfreier Wettbewerbsbedingungen, auf dem Gebiet des Vereinigten Königreichs bewegen dürfen, bilaterale Beförderungen zwischen Ausgangspunkten und Bestimmungsorten im Vereinigten Königreich bzw. in der Europäischen Union durchzuführen.

1.3.

Der EWSA hofft sehr, dass die britische Regierung noch vor dem Tag eines etwaigen EU-Austritts ohne Abkommen eine Reihe gleichwertiger befristeter Maßnahmen ergreift, um den Güterkraftverkehrsunternehmern aus der Union, die im Vereinigten Königreich verkehren, dieselben Rechte zu gewähren wie diejenigen, die die Kommission vorübergehend den Verkehrsunternehmern gewährt, die im Vereinigten Königreich Inhaber einer Lizenz sind, die es ihnen erlaubt, Güter zwischen dem Gebiet des Vereinigten Königreichs und den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten zu befördern.

1.4.

Für den Fall eines Ausscheidens des Vereinigten Königreichs aus der EU ohne Austrittsabkommen ruft der EWSA das Vereinigte Königreich und die EU auf, noch vor Ablauf der vorgenannten Übergangsfrist eine grundlegende Konnektivität im Rahmen des CEMT-Systems sowie die künftigen Regeln für die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union auszuhandeln und einvernehmlich festzulegen.

1.5.

Die sozialen und technischen Vorschriften, die im Übergangszeitraum von den sich auf Unionsgebiet bewegenden Verkehrsunternehmern mit britischer Lizenz eingehalten werden müssen, lassen eine Vorschrift über die Grundqualifikation und Weiterbildung gewerblicher Lkw-Fahrer vermissen. Da es sich hierbei um einen äußerst wichtigen Sicherheitsfaktor handelt, fordert der EWSA die Ergänzung des Artikels 4 des vorliegenden Verordnungsvorschlags durch einen Verweis auf die Richtlinie 2003/59/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2003 über die Grundqualifikation und Weiterbildung der Fahrer bestimmter Kraftfahrzeuge für den Güter- oder Personenkraftverkehr und zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates und der Richtlinie 91/439/EWG des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 76/914/EWG des Rates (1).

2.   Einleitung

2.1.

In der Verordnung (EG) Nr. 1072/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates (2) sind gemeinsame Regeln für den Zugang zum Markt des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs in der gesamten EU für Beförderungen aus oder nach einem Mitgliedstaat oder durch einen oder mehrere Mitgliedstaaten mit Fahrzeugen mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 3,5 t festgelegt.

2.2.

Mit der Verordnung sollen alle Beschränkungen — auch diejenigen, die den Marktzugang betreffen — beseitigt werden, die mit der Staatsangehörigkeit des Erbringers der einschlägigen Güterverkehrsdienstleistungen oder damit zusammenhängen, dass dieser in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist als dem, in dem die Dienstleistungen erbracht werden sollen. Diese Verkehrsdienstleistungen unterliegen im Prinzip einer von einem Mitgliedstaat ausgestellten Gemeinschaftslizenz in Verbindung — sofern der Fahrer Staatsangehöriger eines Drittlandes ist — mit einer Fahrerbescheinigung.

2.3.

Beförderungen von Mitgliedstaaten nach Drittländern werden noch weitgehend durch bilaterale Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten und den betreffenden Drittländern geregelt.

2.4.

Im Falle eines Ausscheidens des Vereinigten Königreichs ohne Austrittsabkommen wären die britischen Erbringer von Güterverkehrsdienstleistungen nicht länger an Unionsrecht gebunden. In Ermangelung einer gültigen Lizenz hätten die britischen Güterkraftverkehrsunternehmer keinen Zugang mehr zum Güterkraftverkehrsmarkt der Union. Das Gleiche würde (wahrscheinlich) auch umgekehrt gelten.

2.5.

Die einzige Rechtsgrundlage, mit der das Fehlen eines Austrittsabkommens ausgeglichen werden kann, ist derzeit das multilaterale Quotensystem für Beförderungsgenehmigungen der Europäischen Konferenz der Verkehrsminister (CEMT), das in 43 Ländern gilt, darunter 26 EU-Mitgliedstaaten (außer Zypern) und das Vereinigte Königreich, und eine Beförderung im grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr aus dem Land der Zulassung des Fahrzeugs in ein anderes CEMT-Land ermöglicht.

2.6.

Die für 2019 festgelegte Zahl der jedem CEMT-Land ausgestellten Genehmigungen (23 252 für die EU-27 und 984 für das Vereinigte Königreich) ist für das aktuelle Volumen der Verkehrsdienste zu begrenzt. Eine Anhebung der Zahl dieser Genehmigungen muss von allen CEMT-Ländern einstimmig angenommen werden, weshalb diese Möglichkeit keine geeignete Lösung dafür ist, eine Unterbrechung des gegenseitigen Zugangs zum Güterkraftverkehrsmarkt von EU und Vereinigtem Königreich zu vermeiden.

2.7.

Um jegliche unverhältnismäßige Beeinträchtigung der Konnektivität mit den sich auf beiden Seiten daraus ergebenden katastrophalen Folgen zu vermeiden, muss den britischen Güterkraftverkehrsunternehmern dringend vorübergehend das Recht einräumt werden, in der EU zu verkehren, sofern das Vereinigte Königreich seinerseits dieselben Regeln auf die Verkehrsunternehmer der EU anwendet.

3.   Vorschläge der Kommission

3.1.

Mit dem vorliegenden Verordnungsvorschlag wird den britischen Güterkraftverkehrsunternehmern für den Fall eines Ausscheidens des Vereinigten Königreichs aus der EU ohne Austrittsabkommen ab dem Folgetag des Tages, an dem die Anwendung der Verträge auf das Vereinigte Königreich endet, bis zum 31. Dezember 2019 das Recht auf bilaterale Beförderung in der EU gewährt.

3.2.

Dieses Recht auf bilaterale Beförderung in der EU wird allerdings nur dann gewährt, wenn das Vereinigte Königreich garantiert, dass die den Güterkraftverkehrsunternehmern aus der Union im Vereinigten Königreich zugestandenen Rechte absolut gleichwertig mit den Rechten der britischen Verkehrsunternehmer in der Union sind. Im Fall einer Nichtgewährleistung dieser Gleichwertigkeit ist die Kommission per delegiertem Rechtsakt befugt:

 

die Kapazität und/oder die Anzahl der Fahrten zu beschränken oder

 

die Anwendung der vorliegenden Verordnung auszusetzen oder

 

sonstige zweckdienliche Maßnahmen zu treffen.

3.3.

Die Rechte werden den britischen Güterkraftverkehrsunternehmern unter dem Vorbehalt gewährt, dass das Vereinigte Königreich die einschlägigen Rechtsvorschriften der Union für den Güterkraftverkehr einhält, insbesondere in Bezug auf Folgendes:

das Fahrpersonal und selbständige Kraftfahrer;

die Sozialvorschriften im Straßenverkehr;

die Fahrtenschreiber;

die höchstzulässigen Abmessungen und Gewichte für bestimmte Fahrzeuge;

die Geschwindigkeitsbegrenzer für bestimmte Fahrzeugklassen;

die Gurtanlegepflicht;

die Einhaltung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern;

die Einhaltung der EU-Bestimmungen über den fairen und diskriminierungsfreien Wettbewerb.

3.4.

Die Mitgliedstaaten und die Kommission sind befugt zu prüfen, ob Güterkraftverkehrsunternehmer, die Güter in die Union befördern, vom Vereinigten Königreich im Einklang mit den einschlägigen Normen lizenziert oder zertifiziert sind, ob alle einschlägigen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten und der Union eingehalten werden und ob nicht über die Rechte hinausgegangen wird.

3.5.

In Angelegenheiten, die unter die vorliegende Verordnung fallen, dürfen die Mitgliedstaaten mit dem Vereinigten Königreich bilaterale Abkommen in Bezug auf den Güterkraftverkehr weder aushandeln noch abschließen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der Güterkraftverkehr ist sowohl für das Vereinigte Königreich als auch für die EU eine Schlüsselbranche. Jährlich verkehren auf den Straßen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU mehr als 4,4 Mio. fahrergeführte Lkw, die Güter befördern. Das Vereinigte Königreich hat 2015 insgesamt 21 350 000 Tonnen auf der Straße beförderte Güter in die EU exportiert. Die EU hat ihrerseits im gleichen Zeitraum 26 816 000 Tonnen Güter in das Vereinigte Königreich ausgeführt (3).

4.2.

Folglich würde eine Behinderung dieses Warenverkehrs beiderseits schwere Folgen für Handel, Beschäftigung und Wirtschaftswachstum haben und die Lieferketten ernsthaft beeinträchtigen.

4.3.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission in Erwartung dessen, dass vor Ablauf der Übergangsfrist am 31. Dezember 2019 die erforderlichen Bestimmungen für eine grundlegende Konnektivität im Rahmen des CEMT-Systems und die eventuellen künftigen Regeln für die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union ausgehandelt und einvernehmlich festgelegt werden, Notfallmaßnahmen vorschlägt, um das Schlimmste zu verhindern, indem sie Güterkraftverkehrsunternehmern aus dem Vereinigten Königreich vorübergehend das Recht gewährt, unter den in dem Vorschlag dargelegten Bedingungen — darunter der gleichberechtigte Zugang von EU-Unternehmern zum Vereinigten Königreich und faire Wettbewerbsbedingungen — bilaterale Beförderungen zwischen Punkten im Vereinigten Königreich bzw. in der Europäischen Union durchzuführen.

4.4.

Der EWSA hofft sehr, dass die britische Regierung noch vor dem Tag eines etwaigen Ausscheidens des Vereinigten Königreichs aus der EU ohne Austrittsabkommen eine Reihe gleichwertiger befristeter Maßnahmen ergreift, um den Güterkraftverkehrsunternehmern aus der Union, die im Vereinigten Königreich verkehren, dieselben Rechte zu gewähren wie diejenigen, die die Kommission vorübergehend den Verkehrsunternehmern gewährt, die im Vereinigten Königreich Inhaber einer Lizenz sind, die es ihnen erlaubt, Güter zwischen dem Gebiet des Vereinigten Königreichs und den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten zu befördern.

4.5.

Sollte das Vereinigte Königreich innerhalb der festgelegten Frist die Gegenseitigkeit der Beförderungsrechte verweigern, würde der vorliegende Verordnungsvorschlag hinfällig und die von britischen Lkw beförderten Güter müssten entweder an der Grenze zur EU auf in der Union zugelassene Lkw umgeladen oder soweit möglich von leichten Nutzfahrzeugen mit einer zulässigen Gesamtmasse von unter 3,5 t transportiert werden, die nicht den gemeinsamen Regeln für den Zugang zum Markt des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs unterliegen.

4.6.

Der EWSA betonte bereits in seiner Stellungnahme zum Thema „Zugang zum Markt des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs und Zulassung zum Beruf des Kraftverkehrsunternehmers“ (4) vom 18. Januar 2018 zu einem Verordnungsvorschlag zur Überarbeitung der Verordnung Nr. 1072/2009, dass es zu Wettbewerbsverzerrungen kommen könnte, wenn diese Verordnung nicht auf leichte Nutzfahrzeuge ausgedehnt wird. Der EWSA wiederholt seine Forderung, leichte Nutzfahrzeuge unter die vorgenannte Verordnung fallen zu lassen, wenn auch möglicherweise in abgeschwächter Form.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

In Artikel 4 des vorliegenden Verordnungsvorschlags werden die sozialen und technischen Vorschriften aufgeführt, die im Übergangszeitraum von den sich auf Unionsgebiet bewegenden Verkehrsunternehmern mit britischer Lizenz eingehalten werden müssen.

5.2.

Der EWSA stellt fest, dass diese Verpflichtungen keine Vorschrift über die Grundqualifikation und Weiterbildung gewerblicher Lkw-Fahrer enthalten. Da es sich hierbei um einen äußerst wichtigen Sicherheitsfaktor handelt, fordert der EWSA die Ergänzung dieses Artikels durch einen Verweis auf die Richtlinie 2003/59/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2003 über die Grundqualifikation und Weiterbildung der Fahrer bestimmter Kraftfahrzeuge für den Güter- oder Personenkraftverkehr und zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates und der Richtlinie 91/439/EWG des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 76/914/EWG des Rates.

Brüssel, den 20. Februar 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. L 226 vom 10.9.2003, S. 4.

(2)  Verordnung (EG) Nr. 1072/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über gemeinsame Regeln für den Zugang zum Markt des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs (ABl. L 300 vom 14.11.2009, S. 72).

(3)  Statistiken des britischen Güterkraftverkehrsverbands (Road Haulage Association).

(4)  ABl. C 197 vom 8.6 2018, S. 38.


5.6.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 190/52


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Bestimmungen für die Fortführung der laufenden im Rahmen des Programms Erasmus+ durchgeführten Lernmobilitätsaktivitäten im Zusammenhang mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (‚Vereinigtes Königreich‘) aus der Europäischen Union“

(COM(2019) 65 final — 2019/0030 (COD))

(2019/C 190/09)

Befassung

Europäisches Parlament, 30.1.2019

Rat der Europäischen Union, 12.2.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 165 Absatz 4, Artikel 166 Absatz 4 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Verabschiedung im Plenum

20.2.2019

Plenartagung Nr.

541

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

152/0/1

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 541. Plenartagung am 20./21. Februar 2019 (Sitzung vom 20. Februar) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 20. Februar 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


5.6.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 190/53


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 508/2014 hinsichtlich bestimmter Vorschriften für den Europäischen Meeres- und Fischereifonds aufgrund des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union“

(COM(2019) 48 final — 2019/0009 (COD))

(2019/C 190/10)

Befassung

Europäisches Parlament, 30.1.2019

Rat der Europäischen Union, 6.2.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.2.2019

Plenartagung Nr.

541

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

159/0/2

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 541. Plenartagung am 20./21. Februar 2019 (Sitzung vom 20. Februar) mit 159 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 2 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 20. Februar 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


5.6.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 190/54


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2403 hinsichtlich der Fanggenehmigungen für Fischereifahrzeuge der Union in den Gewässern des Vereinigten Königreichs und der Fischereitätigkeiten von Fischereifahrzeugen des Vereinigten Königreichs in den Unionsgewässern

(COM(2019) 49 final — 2019/0010 (COD))

(2019/C 190/11)

Befassung

Europäisches Parlament, 30.1.2019

Rat der Europäischen Union, 6.2.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.2.2019

Plenartagung Nr.

541

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

171/0/2

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 541. Plenartagung am 20./21. Februar 2019 (Sitzung vom 20. Februar) mit 171 Stimmen ohne Gegenstimme bei 2 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 20. Februar 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER