ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 110

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

62. Jahrgang
22. März 2019


Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

539. Plenartagung des EWSA, 12.12.2018-13.12.2018

2019/C 110/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema Die Kosten eines Verzichts auf Einwanderung und Integration (Initiativstellungnahme)

1

2019/C 110/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema Eine nachhaltige und inklusive Bioökonomie — neue Möglichkeiten für die europäische Wirtschaft (Initiativstellungnahme)

9

2019/C 110/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema Erleichterung des Zugangs nichtstaatlicher Akteure zur Klimaschutzfinanzierung (Initiativstellungnahme)

14

2019/C 110/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Lage der Romnija (Roma-Frauen) (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des Europäischen Parlaments)

20

2019/C 110/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Geschlechtergleichstellung auf dem Arbeitsmarkt in Europa (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des Europäischen Parlaments)

26

2019/C 110/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Umsetzung des EU-Umweltrechts in den Bereichen Luftqualität, Wasser und Abfall (Sondierungsstellungnahme)

33


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

539. Plenartagung des EWSA, 12.12.2018-13.12.2018

2019/C 110/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Ein den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsener europäischer Einzelhandel(COM(2018) 219 final)

41

2019/C 110/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bericht über die Wettbewerbspolitik 2017(COM(2018) 482 final)

46

2019/C 110/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2015/1588 des Rates vom 13. Juli 2015 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen(COM(2018) 398 final — 2018/0222 (NLE))

52

2019/C 110/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Maßnahmen der Union nach ihrem Beitritt zur Genfer Akte des Lissabonner Abkommens über Ursprungsbezeichnungen und geografische Angaben(COM(2018) 365 final — 2018/0189 (COD))

55

2019/C 110/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgender Vorlage: Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Bankenaufsichtsbehörde), der Verordnung (EU) Nr. 1094/2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung), der Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde), der Verordnung (EU) Nr. 345/2013 über Europäische Risikokapitalfonds, der Verordnung (EU) Nr. 346/2013 über Europäische Fonds für soziales Unternehmertum, der Verordnung (EU) Nr. 600/2014 über Märkte für Finanzinstrumente, der Verordnung (EU) 2015/760 über europäische langfristige Investmentfonds, der Verordnung (EU) 2016/1011 über Indizes, die bei Finanzinstrumenten und Finanzkontrakten als Referenzwert oder zur Messung der Wertentwicklung eines Investmentfonds verwendet werden, der Verordnung (EU) 2017/1129 über den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt zu veröffentlichen ist, und der Richtlinie (EU) 2015/849 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung(COM(2018) 646 final — 2017/0230 (COD))

58

2019/C 110/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der Gemeinsamen Aktion 98/700/JI des Rates, der Verordnung (EU) Nr. 1052/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EU) 2016/1624 des Europäischen Parlaments und des Rates — Ein Beitrag der Europäischen Kommission zur Tagung der Staats- und Regierungschefs vom 19./20. September 2018 in Salzburg (COM(2018) 631 final — 2018/0330 (COD))

62

2019/C 110/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verhinderung der Verbreitung terroristischer Online-Inhalte — Ein Beitrag der Europäischen Kommission zur Tagung der Staats- und Regierungschefs vom 19./20. September 2018 in Salzburg (COM(2018) 640 final — 2018/0331 (COD))

67

2019/C 110/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1141/2014 im Hinblick auf ein Überprüfungsverfahren für im Zusammenhang mit Wahlen zum Europäischen Parlament begangene Verstöße gegen Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten(COM(2018) 636 final — 2018/0328 (COD))

72

2019/C 110/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds(COM(2018) 476 final)

75

2019/C 110/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischer Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF)(COM(2018) 380 final)

82

2019/C 110/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Programm Kreatives Europa (2021 bis 2027) und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1295/2013)(COM(2018) 366 final)

87

2019/C 110/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestanforderungen für die Wasserwiederverwendung (laufendes Programm)(COM(2018) 337 final)

94

2019/C 110/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Angleichung der Berichterstattungspflichten im Bereich der Umweltpolitik und zur Änderung der Richtlinien 86/278/EWG, 2002/49/EG, 2004/35/EG, 2007/2/EG, 2009/147/EG und 2010/63/EU, der Verordnungen (EG) Nr. 166/2006 und (EU) Nr. 995/2010 sowie der Verordnungen (EG) Nr. 338/97 und (EG) Nr. 2173/2005 des Rates(COM(2018) 381 final — 2018/0205 (COD))

99

2019/C 110/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 508/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates(COM(2018) 390 final — 2018/0210 (COD))

104

2019/C 110/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Ein Europa, das schützt: Saubere Luft für alle(COM(2018) 330 final)

112

2019/C 110/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 des Rates und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 768/2005, (EG) Nr. 1967/2006, (EG) Nr. 1005/2008 des Rates und der Verordnung (EU) 2016/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Fischereiaufsicht(COM(2018) 368 final — 2018/0193 (COD))

118

2019/C 110/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2008/106/EG über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten und zur Aufhebung der Richtlinie 2005/45/EG(COM(2018) 315 final — 2018/0162 (COD))

125

2019/C 110/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Programm der Europäischen Atomgemeinschaft für Forschung und Ausbildung (2021-2025) in Ergänzung des Rahmenprogramms für Forschung und Innovation Horizont Europa(COM(2018) 437 final — 2018/0226 (NLE))

132

2019/C 110/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Änderung der Entscheidung 2007/198/Euratom über die Errichtung des europäischen gemeinsamen Unternehmens für den ITER und die Entwicklung der Fusionsenergie sowie die Gewährung von Vergünstigungen dafür(COM(2018) 445 final — 2018/0235 (NLE))

136

2019/C 110/26

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines Hilfsprogramms für die Stilllegung des Kernkraftwerks Ignalina in Litauen (Ignalina-Programm) und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1369/2013 des Rates(COM(2018) 466 final — 2018/0251 (NLE)), Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines spezifischen Finanzierungsprogramms für die Stilllegung kerntechnischer Anlagen und die Entsorgung radioaktiver Abfälle und zur Aufhebung der Verordnung (Euratom) Nr. 1368/2013 des Rates(COM(2018) 467 final — 2018/0252 (NLE)) und Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Evaluierung und Durchführung der EU-Hilfsprogramme für die Stilllegung kerntechnischer Anlagen in Bulgarien, der Slowakei und Litauen(COM(2018) 468 final)

141

2019/C 110/27

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Empfehlung für einen Beschluss des Rates über die Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen über ein Übereinkommen zur Errichtung eines multilateralen Gerichtshofs für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten(COM(2017) 493 final)

145

2019/C 110/28

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung des Instruments für Heranführungshilfe (IPA III)(COM(2018) 465 final — 2018/0247 (COD))

156

2019/C 110/29

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit und Instrument für Zusammenarbeit im Bereich der nuklearen Sicherheit(COM(2018) 460 final — 2018/0243 (COD))

163


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

539. Plenartagung des EWSA, 12.12.2018-13.12.2018

22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema „Die Kosten eines Verzichts auf Einwanderung und Integration“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 110/01)

Berichterstatter:

Pavel TRANTINA

Mitberichterstatter:

José Antonio MORENO DÍAZ

Beschluss des Plenums

15.2.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

149/09/13

1.   Zusammenfassung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) vertritt die Auffassung, dass Einwanderung einen positiven Einfluss auf das Bevölkerungswachstum und den Arbeitskräftezuwachs hat, denn sie kann dazu beitragen, auch bei einem negativen natürlichen Bevölkerungswachstum die Gesamtbevölkerung und die Erwerbsbevölkerung konstant zu halten. Zugegebenermaßen ist Einwanderung nicht die endgültige Lösung zur Bewältigung der Folgen der demografischen Alterung in Europa. Sie könnte jedoch auch ein Mittel sein, um den Mangel an Arbeitskräften und Qualifikationen zu beheben, der nicht im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung steht.

1.2.

Ein Verzicht auf Einwanderung in Europa hätte Folgen:

Die Wirtschaft der Mitgliedstaaten würde erheblich leiden; die Arbeitsmärkte könnten unter einen möglicherweise nicht zu bewältigenden Druck geraten; es käme zum Niedergang ganzer Industriezweige; die Agrarproduktion würde schrumpfen; der Bausektor könnte die Nachfrage nicht mehr befriedigen.

Die demografischen Herausforderungen würden verstärkt; die Rentensysteme könnten ihre Tragfähigkeit verlieren; die Gesundheits- und Pflegebranche könnte zusammenbrechen; die Entvölkerung bestimmter Regionen würde sich beschleunigen; der soziale Zusammenhalt würde faktisch ausgehöhlt.

Ein vollständiger Stopp der legalen Migration würde zwangsläufig zu irregulären Einwanderungsversuchen führen; dies würde wiederum zu einem Übermaß an Sicherheitsmaßnahmen, Repression und Polizeieinsätzen führen — mit enormen Kosten; Schwarzarbeit, Ausbeutung und moderne Formen der Sklaverei würden begünstigt, wie auch verzweifelte Versuche der Familienzusammenführung.

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wären noch verbreiteter als heute; bereits niedergelassene Personen mit Migrationshintergrund, einschließlich der zweiten oder dritten Generation, würden zu Zielscheiben von Misstrauen und Wut der Bevölkerung.

1.3.

Im Gegensatz birgt die Migration das folgende Potenzial für die Aufnahmeländer: Freie Stellen können besetzt und Qualifikationsdefizite behoben werden; das Wirtschaftswachstum kann gestützt werden, und Dienstleistungen für eine alternde Bevölkerung können auch dann aufrechterhalten werden, wenn es vor Ort zu wenig junge Leute gibt. Die Rentenlücke kann durch die Beiträge neuer junger Arbeitsmigranten geschlossen werden. Einwanderer bringen Energie und Innovation. Die Aufnahmeländer werden kulturell und ethnisch vielfältiger. Von Entvölkerung betroffene Regionen können wiederbelebt werden, einschließlich Schulen, die umgestaltet werden können. Die Herkunftsländer profitieren von den Heimatüberweisungen der Migranten, die die ausländischen Hilfszahlungen übersteigen. Zurückkehrende Migranten bringen Ersparnisse, Qualifikationen und internationale Kontakte mit sich.

1.4.

Um das Potenzial der Migration umfassend zu erschließen, ist ein Ansatz erforderlich, bei dem u. a. die Qualifikationen der Migranten besser genutzt werden. Der EWSA ist der Überzeugung, dass dies durch angemessene Maßnahmen und Verfahren zur Anerkennung von Qualifikationen unterstützt werden muss, und fordert die EU und die Mitgliedstaaten dazu auf, diese Maßnahmen und Verfahren zügig einzuführen. Darüber hinaus wäre die angemessene Umsetzung von Kompetenzpartnerschaften mit Drittstaaten sowohl für die EU als auch für die Herkunftsländer der Migranten von Vorteil.

1.5.

Die EU sollte Strategien und Maßnahmen verabschieden, die eine sichere, geordnete und reguläre Migration unterstützen und die Integration und den sozialen Zusammenhalt stärken.

1.6.

Ein Verzicht auf Integration bringt wirtschaftliche, soziokulturelle und politische Risiken und Kosten mit sich. Mithin sind Investitionen in die Integration von Migranten die beste Versicherung gegen etwaige künftige Kosten, Probleme und Spannungen. Mit öffentlichen Maßnahmen sollte den Ängsten, Anliegen und Sorgen unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen in der EU begegnet werden, um EU- und fremdenfeindlicher Rhetorik entgegenzuwirken. Um dies zu erreichen, sollten die einschlägigen Maßnahmen ein klares, kohärentes und durchdachtes Bündel an Pflichten für die Migranten selbst umfassen, aber auch sicherstellen, dass gegen Migranten gerichtete Aussagen und Verhaltensweisen stets angeprangert werden.

1.7.

Der EWSA betont, dass die Förderung der Integration für die Stärkung der Grundwerte und Grundsätze der EU — in erster Linie Vielfalt, Gleichheit und Nichtdiskriminierung — maßgeblich ist. Integration betrifft die gesamte Gesellschaft — auch die Migranten, die sich in einem Aufnahmeland niederlassen, und zwar unabhängig von ihrem Status oder ihrer Herkunft. Allerdings sind spezielle Maßnahmen für besonders schutzbedürftige Menschen (z. B. Flüchtlinge) erforderlich. Im Gegensatz zu einer Pauschallösung kann eine maßgeschneiderte, gezielte Unterstützung auf lokaler Ebene hier die besten Ergebnisse liefern. Es ist deshalb unabdingbar, dass die Mitgliedstaaten voneinander lernen und sich ehrlich darum bemühen, ein Umfeld zu fördern, in dem die Integration von Migranten erreicht werden und Risiken vermieden werden können.

2.   Hintergrund und Ziele der Stellungnahme

2.1.

Die größten Migrationsströme in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg haben bei den Bürgerinnen und Bürgern Sorgen über weitere unkontrollierte Migrationsströme geweckt und aufgezeigt, wie wichtig ein gemeinsamer Ansatz zur Bekämpfung der irregulären Migration und zur Gewährleistung der Handlungsfähigkeit der EU wäre. Die EU-Mitgliedstaaten stehen seither vor Herausforderungen, was die Steuerung, Finanzierung und Vermittlung der Migration sowie die diesbezüglichen Ängste der Bürger betrifft. Angesichts der Tatsache, dass einige Politiker diese Situation ausnutzen, ist der EWSA der Auffassung, dass der Diskurs über Migration und Rückkehr dringend in eine rationale und faktenbasierte Debatte überführt werden muss. Flüchtlinge und Migranten sollten nicht als Bedrohung, sondern als Chance für das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell gesehen werden.

2.2.

Die derzeitige Politik, bei der die Migrationskontrolle Priorität auf der außenpolitischen Agenda erhält, untergräbt den Standpunkt der EU in den Außenbeziehungen, wodurch sie in Bezug auf Menschenrechtsfragen erpressbar wird und an Glaubwürdigkeit verliert. Der EWSA ist der Überzeugung, dass die EU und die Mitgliedstaaten über das aktuelle Modell hinausgehen und sicherstellen müssen, dass reguläre Einreisemöglichkeiten gefördert werden, die eine geordnete Migration und eine erfolgreiche Inklusion erleichtern. Sichere und legale Routen können den Druck auf das Asylsystem der EU mindern.

2.3.

Solange die EU-Märkte die Nachfrage nach Arbeitskräften befeuern, wird es gleichzeitig — reguläre oder andersgeartete — Migration geben. Zumindest in bestimmten Berufen wird die Nachfrage steigen (Pflege, häusliche Arbeit, soziale Dienste, Bauwesen usw.) (1).

2.4.

Auf den Tagen der Zivilgesellschaft 2017 hielt Federica Mogherini, Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, eine Grundsatzrede zum Thema „Europa in der Welt und seine Rolle bei Frieden und Stabilität“ (2). Darin erklärte sie, dass Europa aus wirtschaftlichen und kulturellen Gründen auf die Migration angewiesen sei. Sie schlug dem EWSA vor, eine Studie oder einen Bericht zu der Frage zu erarbeiten, welche Kosten entstünden, wenn es keine Migration gäbe, denn sie habe den Eindruck, dass bestimmte Branchen der europäischen Volkswirtschaften zusammenbrächen, wenn alle Migranten von einem Tag auf den anderen verschwänden. Der Bericht sollte die Ansichten der wirtschaftlichen und sozialen Akteure zu der Frage vermitteln, wie ein Europa ohne Einwanderung aussehen würde. Diese Initiativstellungnahme ist eine Reaktion auf diesen Vorschlag.

2.5.

Migration hat viele Gesichter: Sie kann regulär oder irregulär sein, oder, wie in den vergangenen drei Jahren aufgrund des Krieges in Syrien und anderen Teilen der Welt, humanitäre Gründe haben. Migrationsströme sind außerdem gemischt, und die Arbeitsmigration kann saisonale, handwerkliche oder hochqualifizierte Arbeitskräfte betreffen. In dieser Stellungnahme geht es vornehmlich um die sichere, geordnete, von der EU unterstützte Migration (und damit verbundene Familienzusammenführung). Gleichwohl kommen auch andere Formen der Einwanderung in die EU und der potenzielle Beitrag von Migranten, die aus humanitären Gründen (Asylsuchende) einreisen, sowie die irreguläre Migration zur Sprache.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Demografie — Bevölkerungsalterung und Bevölkerungsschwund in der EU

3.1.1.

Anfang des 21. Jahrhunderts ist Europa mit einer alternden Bevölkerung, einer stagnierenden oder gar zurückgehenden einheimischen Bevölkerung, hoher Arbeitslosigkeit und — in einigen seiner wichtigsten Mitgliedstaaten — einem geringen Wirtschaftswachstum konfrontiert. Gleichzeitig ist Europa nach wie vor eine der wichtigsten Destinationen für Migration (3).

3.1.2.

Veränderungen der Größe der Erwerbsbevölkerung stellen eine der größten Herausforderungen für die EU dar. Das Arbeitskräfteangebot (die Größe der Erwerbsbevölkerung) entwickelt sich nicht unabhängig von der Arbeitskräftenachfrage. Seine künftigen Entwicklungen können durch die Kombination verschiedener Szenarien der Erwerbsquote mit Bevölkerungsprognosen eingeschätzt werden, so wie es die Verfasser des „European Demographic Data Sheet 2018“ (4) getan haben. Die derzeitige EU-Erwerbsbevölkerung umfasst ca. 245 Millionen Arbeitnehmer. Um das künftige Arbeitskräfteangebot bis 2060 zu schätzen, haben die Verfasser drei Szenarien für die Erwerbsquote definiert. Diese Szenarien variieren zwischen 214, 227 und 245 Millionen Arbeitnehmern.

3.1.3.

Gemäß anderen Prognosen, die z. B. in dem auf dem Sozialgipfel in Göteborg 2017 präsentierten Informationsblatt der Europäischen Kommission enthalten sind, wird es im Jahr 2060 für jeden älteren Menschen zwei Menschen im erwerbsfähigen Alter geben. Heute sind es vier. Dies stellt erhebliche Risiken für den Erhalt des europäischen Sozialmodells in seiner heutigen Form dar.

3.1.4.

Andererseits hat Einwanderung einen positiven Einfluss auf das Bevölkerungswachstum und den Arbeitskräftezuwachs, denn sie kann dazu beitragen, auch bei einem negativen natürlichen Bevölkerungswachstum die Gesamtbevölkerung und die Erwerbsbevölkerung konstant zu halten. Einwanderung kann auch Abhilfe beim Mangel an Arbeitskräften und Qualifikationen schaffen, die nicht mit der demografischen Entwicklung in Zusammenhang stehen. Im Bericht (5) des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) über die Kosten und Vorteile der europäischen Einwanderung wird jedoch festgestellt, dass Einwanderung nicht die endgültige Lösung zur Bewältigung der Folgen der demografischen Alterung in Europa ist (da Migranten auch älter werden).

3.2.   Das Potenzial der Arbeitsmigration aus Drittländern

Es können folgende Auswirkungen genannt werden (6):

3.2.1.

Auf die Aufnahmeländer:

Offene Stellen können besetzt und Qualifikationslücken geschlossen werden.

Die Wirtschaft kann weiter wachsen.

Die Dienstleistungen für eine alternde Bevölkerung können auch dann aufrechterhalten werden, wenn es nicht ausreichend junge Menschen vor Ort gibt.

Die Rentenlücke kann durch die Beiträge neuer junger Arbeitsmigranten, die ebenfalls Steuern zahlen, geschlossen werden.

Einwanderer bringen Energie und Innovation.

Die Aufnahmeländer werden kulturell und ethnisch vielfältiger.

Von Entvölkerung betroffene Regionen können wiederbelebt werden, einschließlich Schulen mit sinkenden Schülerzahlen.

3.2.2.

Auf die Herkunftsländer:

Entwicklungsländer profitieren von den Heimatüberweisungen der Migranten, die jetzt oft die ausländischen Hilfszahlungen übersteigen (7), aber auch vom kulturellen Austausch.

Die Arbeitslosigkeit geht zurück und die Zukunftsaussichten junger Migranten verbessern sich.

Zurückkehrende Migranten bringen Ersparnisse, Qualifikationen und internationale Kontakte mit sich.

4.   Die Kosten eines Verzichts auf Einwanderung

4.1.   Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums und Befriedigung des Arbeitsmarktbedarfs

4.1.1.

Einwanderung aus Drittländern hat sowohl einen direkten als auch einen indirekten Einfluss auf das Wirtschaftswachstum: Es scheint einen klaren Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Erwerbsbevölkerung durch Einwanderung und dem aggregierten BIP-Wachstum zu geben. So hat beispielsweise Schweden in den vergangenen Jahren Tausende Arbeitsgenehmigungen für IT-Entwickler, Beerenpflücker und Köche erteilt. Arbeitsmigranten leisten einen wertvollen Beitrag zur schwedischen Wirtschaft: Unternehmen, die Arbeitsmigranten einstellen, wachsen schneller als vergleichbare Unternehmen. Nicht-EU/EWR-Arbeitsmigranten tragen jährlich 1 Mrd. EUR zum schwedischen BIP und über 400 Mio. EUR zu den Steuereinnahmen bei (8).

4.1.2.

Die Migranten bewirkten eine Zunahme der Erwerbsbevölkerung in Europa zwischen 2004 und 2014 um 70 % (9). Es ist schwierig, die möglichen Auswirkungen eines Arbeitskräfteschwunds dieser Größenordnung auf die europäische Wirtschaft und einzelne Mitgliedstaaten einzuschätzen. Darüber hinaus integrieren sich im Ausland geborene Personen meist in Marktnischen (Segmentierung), die entweder rasch wachsen oder schrumpfen, und schaffen damit mehr Flexibilität bei der Reaktion auf Erfordernisse des EU-Arbeitsmarkts.

4.1.3.

Zudem beeinflussen Migranten die Beschäftigungssituation in jedem Land, indem sie zum Konsum und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen. Und auch Unternehmer mit Migrationshintergrund tragen zu Wirtschaftswachstum und Beschäftigung bei, wobei sie häufig für eine Renaissance in Vergessenheit geratener Handwerksberufe sorgen und in zunehmendem Maße Güter und -dienste mit hoher Wertschöpfung bereitstellen (10). Um das kreative und innovative Potenzial von Unternehmern mit Migrationshintergrund zu stärken, empfiehlt der EWSA deshalb spezielle Maßnahmen auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten sowie auf lokaler Ebene. Ziel ist es, Diskriminierung zu beseitigen und gleiche Bedingungen für alle zu schaffen, damit sie einen Beitrag zu integrativem Wachstum und hochwertigen Arbeitsplätzen leisten können (11).

4.1.4.

Der EWSA ist ferner der Ansicht, dass sozialwirtschaftliche Unternehmen nicht nur die Schaffung neuer Arbeitsplätze, sondern auch die unternehmerische Initiative und den Zugang von Migranten zur Wirtschaftstätigkeit außerhalb der EU fördern und unterstützen können, da sie vorrangig im Pflegebereich sowie in der kollaborativen Wirtschaft und der Kreislaufwirtschaft tätig sind (12).

4.1.5.

Die Messung der fiskalischen Auswirkungen der Einwanderung ist ein komplexes Thema. Die OECD (13) stellt allerdings fest, dass Migranten in den letzten fünfzig Jahren in der Summe eine neutrale fiskalische Auswirkung gehabt haben, d. h. die Kosten, die sie eventuell verursacht haben, wurden durch die Gewinne in Form eingenommener Steuern und Abgaben wettgemacht.

4.1.6.

Eine Studie (14) von Oxford Economics kommt zu dem Schluss, dass Arbeitsmigranten dazu beigetragen haben, ein angemessenes Arbeitskräfteangebot sicherzustellen und so den Wirtschaftsboom in den Jahren 2004-2008 zu fördern. Die Verfügbarkeit von Arbeitsmigranten war offenbar dafür ausschlaggebend, dass einige Unternehmen überlebten bzw. ihre Produktion nicht ins Ausland verlagern mussten (die Autoren zitieren eine Umfrage unter 600 Unternehmen, von denen 31 % angaben, dass Migranten für ihr Fortbestehen wichtig seien — im Gesundheits- und Sozialwesen sowie in der Landwirtschaft lag dieser Wert sogar bei 50 %).

4.1.7.

Es ist deutlich, dass Einwanderung sowohl für das Herkunfts- als auch für das Aufnahmeland wirtschaftlich von Vorteil sein kann. Jedoch sind es bei den derzeitigen Wirtschafts- und Handelsstrukturen die reichen und mächtigen Länder, die am meisten profitieren. Migration hat auch das Potenzial, Menschen kulturell zusammenzubringen und das gegenseitige Verständnis zu fördern; Spannungen treten jedoch auf, wenn keine Anstrengungen unternommen werden, um Missverständnisse, Vorurteile oder Mythen auszuräumen, die seitens der lokalen Bevölkerung, aber auch seitens der Migranten zu finden sind.

4.2.   Schließung der Qualifikationslücke

4.2.1.

Generell verliert die europäische Wirtschaft jedes Jahr über 5 % ihrer Produktivität infolge des Missverhältnisses zwischen den Qualifikationen der Arbeitnehmer und den Erfordernissen des Arbeitsmarkts, so eine Studie des Instituts für Marktwirtschaftsforschung IME (15), die vom EWSA in Auftrag gegeben und am 24. Juli 2018 veröffentlicht wurde. Die Studie besagt, dass dies einem Verlust von 80 Eurocent pro Arbeitsstunde entspricht. Die am stärksten betroffenen Berufsfelder sind IT und Kommunikation, Medizin und generell die Gebiete Wissenschaft, Technologie und Ingenieurwesen. Betroffen sind aber auch Lehrkräfte, Krankenschwestern/-pfleger und Hebammen. Nach Auffassung der Autoren wird sich diese Entwicklung durch den Bevölkerungsrückgang und die technologischen Fortschritte fortsetzen. Die Qualifikationslücke könnte zum Teil durch Arbeitsmigration geschlossen werden.

4.2.2.

Die umfassende Nutzung des Potenzials der Migration in diesem Bereich erfordert jedoch einen Ansatz, der unter anderem die Kompetenzen und Qualifikationen der Migranten besser nutzt. Einwanderer sind in der Regel für die Stellen, die ihnen angeboten werden, überqualifiziert (16).

4.2.3.

Die Qualifikationslücke kann nur dann teilweise geschlossen, wenn die Einwanderer ihre Kompetenzen und Qualifikationen anerkennen lassen können. Die Validierungsverfahren der EU befinden sich jedoch noch in der Entwicklung und sind von den Mitgliedstaaten abhängig. Das EU-Instrument zur Erstellung von Kompetenzprofilen wird von den Mitgliedstaaten und Akteuren vor Ort nicht hinreichend genutzt. Allerdings gibt es auch nichtstaatliche Initiativen wie die Kompetenzkarten und die Online-Selbsteinschätzung der Berufserfahrung, die von der Bertelsmann Stiftung entwickelt wurden (17).

4.2.4.

Eine sachgerechte Umsetzung von Kompetenzpartnerschaften mit Drittstaaten wäre sowohl für die EU als auch für die Herkunftsländer der Migranten gleichermaßen von Vorteil.

4.3.   Sicherung des Pflegesektors

4.3.1.

Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen ist eine „tickende Zeitbombe“. Der Pflegenotstand (18) dauert an, und der Fachkräftemangel wird zunehmen, solange keine entsprechenden politischen Maßnahmen ergriffen werden. Schon 1994 definierte die Europäische Kommission die Pflege als strategischen Sektor. 2010 warnte sie davor, dass im Jahr 2020 zwei Millionen Pflegekräfte fehlen werden (davon bis zu eine Million im Bereich der Langzeitpflege), wenn keine dringenden Abhilfemaßnahmen ergriffen würden (19).

4.3.2.

In zahlreichen Mitgliedstaaten fehlt es an Pflegekräften. Durch die Anstellung von Pflegekräften mit und ohne gültige Ausweispapiere werden die Defizite im Pflegesektor verringert. Insbesondere die Pflegesysteme in Südeuropa sind in großem Maße von im Haushalt lebenden Pflegekräften abhängig. Beispielsweise machen in Italien aus dem Ausland stammende, im Haushalt lebende Pflegekräfte ca. 75 % der in der häuslichen Pflege Beschäftigten aus (20).

4.3.3.

Mittel- und osteuropäische Länder (MOEL) sind vom Fachkräftemangel im Pflegebereich ebenso betroffen wie vom wachsenden Pflegebedarf in Westeuropa. So arbeiten z. B. zahlreiche Polen und Polinnen als Pflegekräfte im Ausland, obwohl es in Polen selbst an Pflegekräften mangelt. Dieser Mangel wird durch Arbeitskräfte aus der Ukraine und anderen Drittstaaten ausgeglichen (21).

4.3.4.

Es ist auch auf den signifikanten wirtschaftlichen Beitrag hinzuweisen, den Migrantinnen durch ihre Erwerbstätigkeit für ihre Familien und Gemeinschaften leisten. In diesem Zusammenhang sollten die Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern auf den Arbeitsmärkten angegangen werden (22). Untersuchungen zeigen, dass die meisten Arbeitsmigrantinnen im Dienstleistungssektor beschäftigt sind (z. B. in der Gastronomie, in Privathaushalten oder in der Pflege). Irreguläre Beschäftigung, Unterbeschäftigung und befristete Beschäftigung könnten zur Benachteiligung von Migrantinnen auf den EU-Arbeitsmärkten führen. Maßnahmen zur Gewährleistung der Gleichbehandlung und zum Schutz besonders gefährdeter Personen sollten weiterentwickelt werden.

4.4.   Bewältigung der Abwanderung aus ländlichen und entlegenen Gebieten

4.4.1.

In ländlichen, Gebirgs- und Inselregionen ist ein starker Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen, was zu einer wirtschaftlichen und sozialen Abwärtsspirale führt, die umso mehr an Dynamik gewinnt, je mehr Menschen in die Städte abwandern. Durch den Bevölkerungsrückgang ist vor Ort weniger Geld im Umlauf, was die Tragfähigkeit der örtlichen Unternehmen, Geschäfte und Verkehrsverbindungen sowie die Verfügbarkeit wesentlicher Einrichtungen und Dienstleistungen gefährdet.

4.4.2.

In einigen Gebieten der EU, etwa Irland oder Brandenburg, wird die Entvölkerung durch die Ansiedlung von Migranten bekämpft. Im Falle der Landwirtschaft war zum Beispiel der Beitrag von Arbeitsmigranten in Nordirland entscheidend für das Fortbestehen eines Sektors mit schwerwiegenden Problemen in Bezug auf das Arbeitskräfteangebot und die Überalterung der Erwerbsbevölkerung. Migranten sind bereit, Arbeitsplätze mit Löhnen und Bedingungen anzunehmen, die von der lokalen Bevölkerung abgelehnt werden, sowie in von Abwanderung bedrohten Dörfern zu leben, und zwar selbst dann, wenn es sich um einen hochgradig unregulierten Sektor mit hohem Ausbeutungsrisiko handelt (23).

4.4.3.

Die EU-Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums bietet Möglichkeiten, um ländlichen Gemeinden bei der Aufnahme von Migranten zu helfen. Eine Reihe von Organisationen für die Entwicklung des ländlichen Raums haben die Möglichkeiten ländlicher Regionen zur Unterstützung von Migranten herausgestellt, deren Zuzug die Regionen neu beleben könnte, die von Bevölkerungsschwund und/oder wirtschaftlichem Niedergang betroffen sind. In seiner Untersuchung von 2017 (24) hat das Europäische Parlament betont, wie wichtig es ist, die soziale Inklusion und Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt zu unterstützen.

4.5.   Umgang mit kultureller Vielfalt

4.5.1.

Ein Mangel an Migranten wäre zum Nachteil für die Vielfalt in den Ländern der EU und würde zu einem fremdenfeindlichen und selbstgefälligen Diskurs führen, der wiederum den Leitprinzipien der EU widerspräche. Darüber hinaus ginge dies zulasten der Stärkung von Werten wie Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung — Bereiche, in denen durch die Sichtbarkeit von Menschen mit Migrationshintergrund in den letzten Jahren Fortschritte erreicht wurden.

4.6.

Aus allen vorgenannten Gründen muss ein Verzicht auf Einwanderung in die EU als unrealistisch, nicht umsetzbar und äußerst schädlich verworfen werden.

5.   Kosten des Verzichts auf Integration (und wie man diese vermeidet)

5.1.

Um das Potenzial der Migration nach Europa, wie oben angemerkt, vollkommen auszuschöpfen und gleichzeitig die damit verbundenen und lang anhaltenden Risiken und vermeidbaren sozioökonomischen Kosten zu verringern, ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die Bedingungen für eine erfolgreiche Integration von Einwanderern gegeben sind.

5.2.

Die für das Verständnis des Konzepts seitens der EU wichtigsten Aspekte finden sich in den 2004 vom Rat angenommenen gemeinsamen Grundprinzipien für die Integrationspolitik in der EU (25). Darin wird Integration als dynamischer, in beide Richtungen gehender Prozess des gegenseitigen Entgegenkommens aller Einwanderer und aller in den Mitgliedstaaten ansässigen Personen verstanden. Dies steht im Gegensatz zu der weitverbreiteten irrigen Vorstellung von Integration als Assimilation — einem einseitigen Prozess, in dem Personen ihre nationalen und kulturellen Merkmale gegen die Merkmale ihres neuen Wohnsitzlands eintauschen (26). Wie im EU-Aktionsplan für die Integration von Drittstaatsangehörigen 2016 bekräftigt wurde, besteht ein wesentlicher Aspekt des Lebens und der Teilhabe in der EU in dem Verständnis und der Übernahme ihrer Grundwerte (27).

5.3.

Dabei ist zu betonen, dass Integration alle Migranten betrifft, die sich in einem Aufnahmeland niederlassen, unabhängig von ihrem Status oder ihrer Herkunft. Dennoch bedarf es spezieller Maßnahmen für Menschen mit besonderer Schutzbedürftigkeit (wie Flüchtlingen). Die besten Ergebnisse dürfte dabei nicht ein Universalkonzept, sondern ein gemeindenahes Konzept liefern.

5.4.

Beschäftigung ist ein Kernelement des Integrationsprozesses. Die Mitgliedstaaten und die Wirtschafts- und Sozialpartner betrachten somit die Arbeitsmarktintegration von Migranten als eine Priorität. Die Nachfrage nach Arbeitsmigranten ist eine der wichtigsten Gründe, warum es überhaupt zu Einwanderung kommt.

5.5.

Zu den anderen wesentlichen Faktoren, die die Integration von Migranten aufseiten des Aufnahmelands bestimmen, zählen: Gewissheit und Vorhersehbarkeit des Migrationsstatus, Möglichkeiten zur Erlangung der Staatsbürgerschaft und damit verbundene Hindernisse, Chancen auf Familienzusammenführung, Verfügbarkeit von Sprachkursen, Anforderungen an sprachliche und kulturelle Kenntnisse, politische Rechte sowie die allgemeine Offenheit der jeweiligen Gesellschaft und ihre Bereitschaft, Neuankömmlinge aufzunehmen, zu unterstützen und mit ihnen interagieren (und umgekehrt).

5.6.

Darüber hinaus steht die Integration von Migranten in engem Zusammenhang mit einer Fülle von Maßnahmen in den Bereichen Schutz am Arbeitsplatz, Unterbringung, Gesundheit, Bildung, Frauenrechte, Gleichheit, Nichtdiskriminierung usw.

5.7.

Zur Quantifizierung der bestehenden Maßnahmen wurde der Index für Migrationspolitik (MIPEX) eingeführt, der vergleichbare Daten über die EU-Mitgliedstaaten und eine Reihe weiterer Länder liefert (28). Die Ergebnisse verdeutlichen die zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Unterschiede, einschließlich des fortbestehenden Ost-West-Gefälles.

5.8.

Im Sinne des Szenarios „Verzicht auf Integration von Migranten“ können folgende Risiken und/oder Kosten herausgestellt werden:

5.8.1.   Wirtschaftliche Aspekte

Ausschluss von Migranten aus dem formellen Arbeitsmarkt (und Zunahme der Schwarzarbeit);

erhöhte Kosten für die Bewältigung sozialer Probleme erst nach deren Auftreten, statt sie im Vorfeld zu vermeiden;

Unvermögen von Migranten, ihr Potenzial voll auszuschöpfen (oft auf die nachfolgenden Generationen übertragen).

5.8.2.   Soziokulturelle Aspekte

Mangelnde Identifizierung mit bzw. Akzeptanz der Normen und Werte des Aufnahmelands;

Verschärfung der soziokulturellen Unterschiede zwischen Migranten- und Aufnahmegemeinschaften;

strukturelle Diskriminierung von Migranten, einschließlich des fehlenden Zugangs zu Dienstleistungen;

erhöhte Fremdenfeindlichkeit und gegenseitiges Misstrauen;

Reproduktion von Sprachbarrieren;

räumliche Trennung, die bis hin zur Ghettobildung geht;

Zerfall des allgemeinen sozialen Zusammenhalts.

5.8.3.   Sicherheitsaspekte

Zunahme von Hassrede und Hassverbrechen;

Rückgang bei der Strafverfolgung und mögliche Zunahme der Kriminalität, insbesondere in sozialen Randbereichen;

mögliche Radikalisierung und vermehrte Unterstützung extremer Ideologien (sowohl durch die Migranten als auch durch die Aufnahmegesellschaften).

5.9.

In Anbetracht dessen sind Investitionen in die Integration von Einwanderern die beste Versicherung gegen mögliche zukünftige Kosten, Probleme und Spannungen.

5.10.

Die entsprechenden politischen Maßnahmen sollten eine Reihe klarer, einheitlicher und begründeter Pflichten für Migranten umfassen, aber auch eine konsequente Verurteilung von Äußerungen und Verhaltensweisen, die gegen Migranten gerichtet sind.

5.11.

Daher ist es unabdinglich, dass die EU-Mitgliedstaaten voneinander lernen und sich ehrlich darum bemühen, ein Umfeld zu schaffen, in dem die Integration von Einwanderern erreichbar ist und die oben genannten Risiken vermieden werden.

5.12.

In aller Offenheit ist zu sagen, dass die von den Regierungen ausgehenden Bemühungen um die Kriminalisierung von Migranten oder um eine andere Form ihrer Marginalisierung, das Schüren eines Ethnonationalismus und die Kürzungen von Mitteln für Integrationsmaßnahmen (einschließlich der Nichtverteilung der von der EU bereitgestellten Mittel) — so wie kürzlich bei bestimmten Mitgliedstaaten beobachtet — in direktem Widerspruch zu diesen Zielen stehen und auf lange Sicht irreversible Schäden verursachen können.

5.13.

Nicht zuletzt ist die Förderung der Integration ein maßgeblicher Faktor für die Stärkung der Grundwerte und Grundsätze der EU — in erster Linie Vielfalt, Gleichheit und Nichtdiskriminierung.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Beispielsweise waren von den 4,3 Millionen Einwanderern in der EU im Jahr 2016 schätzungsweise 2 Millionen Drittstaatsangehörige, 1,3 Millionen Personen mit der Staatsbürgerschaft eines anderen EU-Mitgliedstaats als dem Staat, in den sie eingewandert sind, rund 929 000 Personen, die in einen EU-Mitgliedstaat eingewandert sind, dessen Staatsbürgerschaft sie hatten (z. B. rückkehrende oder im Ausland geborene Staatsangehörige) sowie etwa 16 000 staatenlose Personen.

(2)  Federica Mogherini's keynote speech at the Civil Society Days 2017.

(3)  Migration data portal.

(4)  European Demographic Data Sheet 2018.

(5)  The costs and benefits of European immigration, Econstor.

(6)  Auf der Grundlage der Schlussfolgerungen von „The pros and cons of Migration“, Embrace.

(7)  Perspectives on Global Development 2017, OECD.

(8)  DAMVAD Analytics (2016): „Labour immigration contributes to Swedish economic development“.

(9)  OECD (2014): „Is migration good for the economy?“ Migration Policy Debates (Migrationspolitische Debatten).

(10)  Rath, J., Eurofound (2011), „Promoting ethnic entrepreneurship in European cities“, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg.

(11)  ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 16.

(12)  ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 1.

(13)  International Migration Outlook 2013, OECD.

(14)  Department for Employment and Learning, UK: The Economic, Labour Market and Skills Impacts of Migrant Workers in Northern Ireland.

(15)  EESC (2018): Skills Mismatches — An Impediment to the Competitiveness of EU Businesses (ISBN: 978-92-830-4159-7).

(16)  LABOUR-INT: „Integration of migrants and refugees in the labour market through a multi-stakeholder approach“.

(17)  Meine Berufserfahrung zählt.

(18)  UNI Europa UNICARE (2016).

(19)  Europäische Kommission (2013).

(20)  Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments (2016).

(21)  ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 7.

(22)  Bericht „Migrant women in the EU labour force. Summary of findings“, Europäische Kommission.

(23)  Nori, M. (2017). „The shades of green: migrants' contribution to EU agriculture: context, trends, opportunities, challenges“.

(24)  „EU rural development policy and the integration of migrants“, EP.

(25)  Common Basic Principles for Immigrant Integration Policy in the EU.

(26)  Zur weiteren begrifflichen Unterscheidung siehe:Assimilation vs integration, Centre for the Study of Islam in the UK, RE teachers Resource Area.

(27)  Aktionsplan für die Integration von Drittstaatsangehörigen.

(28)  Migrant Integration Policy Index 2015: How countries are promoting integration of immigrants.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/9


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema „Eine nachhaltige und inklusive Bioökonomie — neue Möglichkeiten für die europäische Wirtschaft“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 110/02)

Berichterstatter:

Mindaugas MACIULEVIČIUS

Ko-Berichterstatterin:

Estelle BRENTNALL

Beschluss des Plenums

15.2.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

 

 

Zuständig

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

25.9.2018

Verabschiedung im Plenum

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

205/3/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Schaffung eines langfristigen, kohärenten und transparenten politischen Rahmens mit Anreizen zur Förderung der Bioökonomie. Bei den zahlreichen bereichsübergreifenden gesellschaftlichen Herausforderungen ist starkes politisches Engagement gefragt, und das politische Umfeld in der EU könnte innovativen biobasierten Produkten und nachhaltig erzeugten Rohstoffen aus EU-Anbau gegenüber aufgeschlossener sein. Mit finanziellen oder steuerlichen Anreizen könnten nötige Investitionen gefördert werden, da die Mitgliedstaaten und Regionen auf diesem Gebiet über mehr Kompetenzen als die EU verfügen. Cluster-Organisationen für den Zusammenschluss von KMU und Primärerzeugern nachhaltiger Biomasse tragen wesentlich zum Aufbau von Beziehungen zwischen den Akteuren in der Lieferkette bei. Im Zuge einer fortlaufenden und aktualisierten Bestandsaufnahme (1), verbunden mit einer Messung der Auswirkungen der Bioökonomie, könnten bestehende Cluster im Bereich biobasierter Produkte ermittelt werden. Es sollten auch Maßnahmen zur Förderung neuer Cluster auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene ergriffen werden, wo entsprechender Bedarf besteht.

1.2.

Die Rolle der Land- und Forstwirte und ihrer Genossenschaften ist von entscheidender Bedeutung, um eine effiziente Nutzung der natürlichen Ressourcen zu gewährleisten und einen Beitrag zu einer Biokreislaufwirtschaft zu leisten. Ein solider mehrjähriger Finanzrahmen, eine tragfähige Gemeinsame Agrarpolitik und eine starke Europäische Forststrategie sind erforderlich, um die Beratungsdienste, die berufliche Ausbildung und den Wissensaustausch zu fördern und damit den Bedürfnissen der Landwirte und landwirtschaftlichen Genossenschaften besser gerecht zu werden. Durch die Förderung konkreter Beispiele sollen das Bewusstsein der Menschen geschärft und die Vorteile der Bioökonomie für die gesamte Wertschöpfungskette herausgestellt werden. Das wird Jung- und Neulandwirte dazu ermutigen, neue Unternehmen in diesem Bereich aufzubauen. Erzeugerorganisationen und Genossenschaften sollten ebenfalls gefördert werden, denn sie sind wichtig, um die Biomasse in der EU verstärkt zu mobilisieren und ihren Mehrwert zu erhöhen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, die Land- und Forstwirtschaft in der EU zu fördern und so für mehr Investitionen und mehr Innovation im Bereich der nachhaltigen Erzeugung von Biomasse zu sorgen.

1.3.

Neue Märkte erschließen sowie den Verbrauchern und der Öffentlichkeit ermöglichen, bestimmte Produkte und Industriezweige durch ihre täglichen Einkäufe bewusst zu unterstützen. Um bei den Verbrauchern das nötige Bewusstsein zu schaffen und einheitliche und korrekte Botschaften über biobasierte Produkte auszusenden, muss die Europäische Union eine Kommunikationsstrategie entwickeln, in die alle Partner der Wertschöpfungskette sowie alle weiteren Interessenträger einbezogen werden. In einem wichtigen ersten Schritt wurden klare EU-weite Standards für biobasierte Produkte festgelegt, die den Weg für Maßnahmen zur Erschließung neuer Märkte ebnen können, damit die Verbraucher und die öffentlichen Auftraggeber die in der EU hergestellten biobasierten Produkte besser annehmen.

1.4.

Mithilfe eines One-Stop-Shop-Fonds eine nachhaltige Investitionsrendite bieten. Der intelligenten Regulierung und der konsequenten Umsetzung auf den verschiedenen Ebenen der EU sollte Vorrang eingeräumt werden, um Hemmnisse abzubauen, den Verwaltungsaufwand zu senken und zugleich Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Beispielsweise könnte ein Online-Instrument verfügbare Finanzmittel aufzeigen und darüber Aufschluss geben, ob der Antragsteller die Förderkriterien für diesen Mechanismus erfüllt. In dem System gäbe es außerdem die notwendigen Links und Mittel, um die finanzielle Förderung direkt zu beantragen. Es könnte als Marktplatz dienen und so über Fördermittel informieren und den Kontakt zwischen Kapitalsuchenden und möglichen Förderern herstellen (wie z. B. eine Crowdfunding-Seite). Ferner ist die Fortführung des Gemeinsamen Unternehmens „Biobasierte Industriezweige“ (BBI JU 2.0) über den derzeitigen mehrjährigen Finanzrahmen hinaus entscheidend, um neue und bestehende Wertschöpfungsketten für biobasierte Produkte zu fördern, bestehende Produktionsstätten wettbewerbsfähiger zu machen und einen Beitrag zur ländlichen Entwicklung, zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Förderung der Wirtschaft zu leisten.

1.5.

Die EU sollte im Rahmen ihrer Regionalentwicklungspolitik nach 2020 ausreichende Mittel für die weitere Entwicklung der ländlichen Gebiete bereitstellen. Der Schwerpunkt sollte in erster Linie auf der Förderung von Investitionen in die Infrastruktureinrichtungen und Dienstleistungen liegen, die für eine effiziente und nachhaltige Biowirtschaft im ländlichen Raum erforderlich sind.

1.6.

Wissenschaftliche Möglichkeiten ausschöpfen und die Verbreitung von Innovationen mithilfe eines flexiblen, angemessenen und soliden Rechtsrahmens fördern. Forschung ist entscheidend, um Innovationen in der Bioökonomie zu ermöglichen, durchzusetzen und zu bewerten. Die kommerzielle Nutzung hängt nicht nur von exzellenter Forschung ab, sondern auch von angemessenen strategischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zur Gewährleistung eines schnellen Wissenstransfers von der Forschung zur Industrie. Die Vorreiter sollten den nötigen Spielraum und die Unterstützung erhalten, um Innovationen zu entwickeln und innerhalb des regulatorischen Rahmens voranzutreiben. In Fällen, in denen die Entwicklung der gesamten Bioökonomie durch Regulierungen besser unterstützt werden könnte und kreative Lösungen gefragt sind, sollten „Innovation Deals“ und „Green Deals“ mit den Interessenträgern vereinbart werden. Darüber hinaus ist Innovation auch von ausschlaggebender Bedeutung, um die Nachhaltigkeit bei der Erzeugung von Biomasse in der EU zu erhöhen.

1.7.

Bildungs-, Schulungs- und Kompetenzprogramme für den Nachwuchs und bereits Beschäftigte ausbauen. Durch Ausschöpfung des Potenzials der Bioökonomie könnten neue Arbeitsplätze entstehen. Allerdings bringt die Einführung neuer Technologien auch große Herausforderungen im Hinblick auf die Arbeitsorganisation und den Kompetenzbedarf der Arbeitnehmer mit sich. Daher ist es dringend notwendig, die Kompetenzen des Einzelnen ein Leben lang weiterzuentwickeln und anzupassen. Es ist entscheidend, dass sich alle relevanten Interessenträger — Erzeuger von Biomasse, Bildungseinrichtungen, Unternehmen, Gewerkschaften, öffentliche Arbeitsverwaltungen und Regierungen — für die Verbesserung der Qualität und der Anpassungsfähigkeit von Bildungs- und Schulungsangeboten einsetzen, um das Missverhältnis zwischen Kompetenzangebot und -nachfrage durch eine bessere Abstimmung zwischen den Bildungssystemen und den Arbeitsmärkten auszugleichen. Allerdings sollten sich die Entwicklung allgemeiner Kompetenzen und die einschlägigen Strategien in ein größeres Maßnahmenpaket einfügen, das Maßnahmen in den Bereichen Beschäftigung, Industrie, Investitionen, Innovationen und Umwelt umfasst.

1.8.

Anwendungen für Biomasse erforschen. Eine effizientere Nutzung des verfügbaren Biomasseangebots muss vorrangige Bedeutung haben, wenn es darum geht, die wachsende Nachfrage nach Rohstoffen zu decken. Auch die Qualität und Quantität der Anbauflächen für die Landwirtschaft müssen verbessert werden, und es sollten Anreize geschaffen werden, damit aufgegebene Ländereien, Grenzertragsflächen und unzureichend genutzte Anbauflächen genutzt werden. Rohstofferzeuger, in erster Linie Landwirte und Waldbesitzer, spielen bei der Entwicklung der Biowirtschaft eine entscheidende Rolle. Dafür ist es notwendig, auf neue Möglichkeiten (unter Einsatz verschiedener Kulturpflanzen) aufmerksam zu machen und Infrastruktur für die Ernte, die Lagerung und den Transport von Biomasse zu entwickeln. Ein wesentlicher Beitrag kann auch durch eine Vereinfachung der Berichterstattungssysteme zu Nachhaltigkeit, eine verstärkte Erzeugung vielfältig einsetzbarer Biomasse und den Ausbau der Verarbeitungskapazitäten geleistet werden. Abfälle und Reststoffe als alternative Biomassequellen sowie die nachhaltige Bewirtschaftung der europäischen Wälder bieten weitere Möglichkeiten für die Bioökonomie und die Bioenergie. Nachhaltige Abfallströme müssen bewertet werden, und vonnöten sind auch weitere Investitionen in die Mobilisierung von Holz und Reststoffen. Darüber hinaus müssen Technologien entwickelt werden, die den Umgang mit diesen naturgemäß sehr unterschiedlichen Produkten ermöglichen. In manchen Fällen müssen nationale politische Maßnahmen möglicherweise an die Verwendung von Abfällen in biobasierten Produkten angepasst werden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Die Bioökonomie umfasst die Produktion erneuerbarer biologischer Ressourcen und deren Umwandlung in Lebensmittel, Futtermittel, biobasierte Produkte und Bioenergie. Beteiligt sind daran die Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischerei, Nahrungsmittelerzeugung, Zellstoff- und Papierherstellung sowie Teile der Chemie-, Biotechnologie- und Energieindustrie. Im Rahmen dieser Stellungnahme werden Forschungsarbeiten über Genome, Zellprozesse und Bioinformatik nicht speziell berücksichtigt. Die Bioökonomie-Strategie der EU von 2012 sollte „den Weg bereiten für eine innovativere, ressourceneffizientere und wettbewerbsfähigere Gesellschaft, die in der Lage ist, Ernährungssicherheit und nachhaltige Nutzung erneuerbarer Ressourcen für industrielle Zwecke miteinander zu vereinbaren und gleichzeitig dem Umweltschutz Genüge zu tun“. Im Jahr 2017 überprüfte die Kommission die Bioökonomie-Strategie der EU von 2012 und gelangte zu dem Schluss, dass die Strategie gezeigt hat, dass ihre Ziele wichtig sind und die Bedeutung der Möglichkeiten der Bioökonomie innerhalb und außerhalb Europas zunehmend anerkannt wird.

2.2.

Auch wenn die Ziele der Bioökonomie-Strategie der EU von 2012 für die Bewältigung der Herausforderungen im Bereich der Lebensmittel- und Ernährungssicherheit weiterhin relevant sind und die angestrebten Ziele mithilfe des dazugehörigen Aktionsplans erfolgreich umgesetzt wurden, sind angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen sowie der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen und des Pariser Klimaschutzübereinkommens (COP 21) eine Neuausrichtung der Maßnahmen und eine Beurteilung der Reichweite der Strategie erforderlich. Die Weltbevölkerung wird bis 2050 voraussichtlich auf 10 Mrd. Menschen anwachsen, und die biologischen Ressourcen müssen effizienter genutzt werden, damit es für mehr Menschen sichere, nahrhafte, hochwertige und bezahlbare Lebensmittel bei gleichzeitig geringeren Auswirkungen auf die Umwelt und das Klima pro produzierter Einheit sowie genügend erneuerbares biologisches Material gibt, um einen erheblichen Teil dessen zu produzieren, wozu wir derzeit fossiles Rohöl in Verbindung mit Wind- und Solarenergie sowie anderen erneuerbaren Energieträgern verwenden.

2.3.

So gesehen ist die nachhaltige Bioökonomie ein bereichsübergreifender Wirtschaftssektor, der für nachhaltige Wirtschaftsstrategien weltweit von wesentlicher Bedeutung ist. Die Bioökonomie kann eine Schlüsselrolle für die europäische Wettbewerbsfähigkeit spielen, und es ist jetzt wichtig, die Chancen sowohl auf europäischer als auch auf nationaler und regionaler Ebene zu erkennen und zu nutzen. In anderen Drittländern wie den USA wurde z. B. durch eine Top-Down-Führung eine Bioökonomie mit einem Wirtschaftsvolumen von fast 400 Mrd. USD und über vier Millionen Arbeitsplätzen infolge direkter, indirekter und induzierter Effekte aufgebaut (2).

2.4.

Die Bioökonomie eröffnet die Möglichkeit, die CO2-Emissionen und die Abhängigkeit von importierten fossilen Ressourcen zu verringern. Die Wälder in der EU beispielsweise binden Kohlenstoff in einer Menge, die 10 % der jährlichen Emissionen in der EU entspricht, und gleichzeitig bieten sie eine nachhaltige und konstante Versorgung mit Biomasse für erneuerbare Energie. Des Weiteren können Schätzungen zufolge theoretisch 100 000 derzeit produzierte Chemikalien aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden. Das bedeutet nicht, dass alle auf diese Weise erzeugt werden sollten. Doch theoretisch ist das möglich. Dadurch können nicht nur unsere alltäglichen Haushaltsgeräte lokal und nachhaltig hergestellt, sondern auch Arbeitsplätze geschaffen und das Wachstum in Europa, das noch immer einen großen technologischen Vorsprung hat, vorangetrieben werden.

2.5.

Allerdings gibt es noch immer große Hemmnisse auf dem Weg zu mehr Innovation in der EU-Bioökonomie. Ein wesentliches Hemmnis ist die Kostenwettbewerbsfähigkeit von Produkten im Vergleich zu fossilen Alternativen und vergleichbaren Produkten aus anderen Teilen der Welt. Die Kostenwettbewerbsfähigkeit hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem von der TRL-Einstufung (auf der Skala der technologischen Reife), den Arbeitskosten, den Subventionen für fossile Brennstoffe und deren Amortisierung sowie von der geringen Marktstützung für biobasierte Produkte. Das Problem der Wettbewerbsfähigkeit wird verschärft durch den schwierigen Zugang zu Finanzmitteln für innovative Projekte und Produktionsstätten sowie häufig durch das anhaltend geringe Bewusstsein der Endnutzer für biobasierte Produkte, einen Kompetenzmangel und fehlende Geschäftsbeziehungen, mit denen der Sektor vorangebracht werden könnte. Darüber hinaus werden die Zulassungsverfahren für neue biobasierte Projekte immer langwieriger und beschwerlicher, was zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit für die Wirtschaftsakteure führt und entsprechende finanzielle Risiken mit sich bringt.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Schätzungen zufolge liegt der Jahresumsatz der Bioökonomie in der EU bei ungefähr 2 Billionen EUR und die Zahl der Beschäftigten bei etwa 19,5 Mio. (3), von denen der Großteil in ländlichen und Küstengebieten ansässig ist, was ungefähr 8,5 % der erwerbstätigen Bevölkerung der EU28 entspricht. Voraussichtlich werden die Landwirtschaft, die Forstwirtschaft und die ländliche Bevölkerung in der gesamten EU von dem aufstrebenden biobasierten Sektor profitieren, durch den Arbeitsplätze und neue Einkommensquellen geschaffen werden. Die Verarbeitung von Biomasse und die Herstellung biobasierter Produkte eröffnen neue Geschäftsmöglichkeiten durch den Anbau und die Vermarktung unterschiedlicher Kulturpflanzen. Es wird davon ausgegangen, dass neben konventionellen Kulturpflanzen wie Getreide, Ölsaaten, Kartoffeln und Zuckerrüben auch neue Kulturpflanzen wie Gräser, Waldpflanzen, Seetang und Mikroalgen künftig zur Schaffung neuer Einkommensquellen in ländlichen und Küstengebieten beitragen können.

3.2.

Die bestehenden Bioraffinerien bieten bereits jetzt Familien und Gemeinden im ländlichen Raum eine Existenzgrundlage sowie eine stärkere wirtschaftliche Teilhabe. Bioraffinerien — Fabriken, die nachwachsende Rohstoffe (z. B. Biomasse, Nebenprodukte und Folgeerzeugnisse sowie Abfälle) statt fossiler Rohstoffe nutzen — sind das Herz der Bioökonomie: Sie sind in ländlichen und Küstengebieten, nahe den von ihnen verarbeiteten nachwachsenden Rohstoffen ansässig und bilden den Kern der Lebensmittel-, Futtermittel-, Industrie-, Holz- und Energieerzeugung.

3.3.

In Bioraffinerien wird jeder Bestandteil der zu verarbeitenden Pflanze verwertet, wodurch Abfälle auf ein Minimum reduziert werden. Aufgrund effizienter und/oder innovativer Technologien ist es möglich, in Bioraffinerien in der EU eine große Bandbreite von Produkten, u. a. Lebensmittel, Futtermittel, Chemikalien, Fasern und Kraftstoffe, herzustellen, die erneuerbar, wiederverwendbar, wiederverwertbar sowie kompostierbar bzw. biologisch abbaubar sind. Dank ihrer Vielseitigkeit sind biobasierte Produkte und Bestandteile für vielfältige Anwendungen geeignet, wie z. B. Futtermittel für Aquakulturen, das Bauwesen, Kosmetika, Kartons, Reinigungsmittel, Kraftstoffe, Schmiermittel, Farbe, Papier, Arzneimittel, Kunststoffe und andere Industrieerzeugnisse. So können fossile durch nachwachsende Bestandteile ersetzt werden.

3.4.

Der Aufbau neuer sowie der Ausbau und die Erweiterung bestehender Bioraffinerien sind eine Investition in einen neuartigen Anlagentyp. Bioraffinerien sind kapitalintensiv, haben lange Amortisationszeiten und sind Technologie- und Marktrisiken ausgesetzt. Deshalb bedarf es für die Förderung dieser Investitionen in Europa eines klaren, soliden und unterstützenden rechtlichen und finanziellen Rahmens. Heutzutage steht eine Reihe unterschiedlicher Instrumente zur Verfügung. Dazu gehören u. a. Horizont 2020 (die neu vorgeschlagenen Rechtsvorschriften machen Horizont Europa zu einem begrüßenswerten und ehrgeizigen Innovations- und Forschungsprogramm) und das Gemeinsame Unternehmen „Biobasierte Industriezweige“, die europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI-Fonds), der Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER), InnovFin, der Europäische Fonds für strategische Investitionen (EFSI) und nicht zuletzt die Europäische Investitionsbank (EIB) mit Darlehen und Garantien. Doch diese Mittel können schwer zugänglich sein. Eine einzige Anlaufstelle, an der Unternehmen umfassende und auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Informationen erhalten, kann hier Abhilfe schaffen.

3.5.

Vor diesem Hintergrund ist die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, mit Landwirten, Waldbesitzern und der Industrie dringend notwendig, um eine Debatte über die Gestaltung einer wettbewerbsfähigeren Bioökonomie für Europa zugunsten aller anzustoßen. Die Vorteile der Bioökonomie müssen bekannt gemacht werden, um den Paradigmenwechsel hin zu einer Niedrigemissionswirtschaft auf Grundlage erneuerbarer Energien zu vollziehen. In diesem Zusammenhang könnten glaubwürdige Zertifizierungs- und Kennzeichnungssysteme wichtige Instrumente sein, um eine nachhaltige und zuverlässige Bioökonomie-Industrie zu schaffen sowie das Vertrauen von Industriekunden, öffentlichen Auftraggebern und Verbrauchern zu gewinnen.

3.6.

Die EU, die Mitgliedstaaten und die regionalen Gebietskörperschaften können zum Wachstum der Bioökonomie wesentlich beitragen, indem sie die Marktnachfrage nach erneuerbaren, intelligenten und ressourcenschonenden Produkten und Dienstleistungen stimulieren. Die Mitgliedstaaten sollten in ihre künftigen GAP-Strategiepläne konkrete Maßnahmen aufnehmen, um die Investitionstätigkeit auszubauen und/oder weiter zu unterstützen sowie nachhaltige Lösungen für die Land- und Forstwirte und ihre Genossenschaften zu fördern und so deren Wettbewerbsfähigkeit und Effizienz zu steigern. Wo biobasierte Produkte Alternativen aus fossilen Kohlenstoffen nachhaltig ablösen können, könnte durch die Entwicklung neuer Rechtsvorschriften, wie des Pakets zur Kreislaufwirtschaft, sowie eine mögliche Überarbeitung anderer einschlägiger Rechtsvorschriften erreicht werden, dass lokal erzeugte biobasierte Alternativen traditionelle Produkte aus fossilen Kohlenstoffen ersetzen. Darüber hinaus kann auch auf bestehende Normungstätigkeiten, wie die CEN/TC411 und Zertifizierungssysteme und/oder neue freiwillige Kennzeichnungssysteme wie biobased%, zurückgegriffen werden.

3.7.

Öffentliche Auftraggeber auf nationaler und regionaler Ebene sollten sich verstärkt auf derartige aussagekräftige Zertifizierungen und Kennzeichnungen des biobasierten Gehalts beziehen. So gab beispielsweise das niederländische Normungsgremium NEN 2016 das neue biobasierte Zertifizierungssystem biobased% (http://www.biobasedcontent.eu/) heraus. Mithilfe dieses Zertifizierungssystems kann der Biomassegehalt eines Produkts angegeben werden. Für Unternehmen wird es so einfacher, transparent und zweifelsfrei über den biobasierten Gehalt eines Produkts zu informieren — sowohl in der B2B- als auch in der B2C-Kommunikation. Diese Zertifizierung geht auf die europäische Norm EN 16785-1:2015 zurück, die eine Methode zur Bestimmung des biobasierten Gehalts fester, flüssiger und gasförmiger Produkte unter Verwendung der Radiokarbon- und Elementaranalyse vorsieht. Konformitätsbewertungen werden von Bewertungsstellen durchgeführt, die eine Vereinbarung mit NEN geschlossen haben. Nach Einführung dieser Zertifizierung kommt es nun darauf an, in den derzeitigen und künftigen EU-Rechtsvorschriften ein Bewusstsein und Anreize für die Verwendung nachwachsender Rohstoffe zu schaffen.

3.8.

In der Forstwirtschaft sind Zertifizierungssysteme wichtig, um eine nachhaltige Mobilisierung von Biomasse zu gewährleisten. So sind beispielsweise 60 % der Wälder in der EU gemäß dem Programm für die Anerkennung von Forstzertifizierungssystemen (PEFC) und/oder dem Forest Stewardship Council (FSC) zertifiziert. Darüber hinaus gelten für die forstwirtschaftliche Erzeugung in der EU die höchsten Umweltstandards weltweit, die auf Rechtsvorschriften wie der EU-Holzverordnung, den Vorschriften über Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft (LULUCF), der Vogelschutz- und Habitat-Richtlinie sowie dem Paket zur Kreislaufwirtschaft beruhen.

3.9.

Die B2B- und die B2C-Kommunikation zu verbessern, ist daher entscheidend. Die Schärfung des Bewusstseins der Öffentlichkeit mithilfe korrekter, relevanter und zugänglicher Informationen ist für die Entwicklung einer intelligenten, nachhaltigen und inklusiven Bioökonomie, die Schaffung eines Markts für nachhaltige biobasierte Produkte und die Förderung der Nachhaltigkeit bei Verbrauch und Produktion von besonderer Bedeutung. Sensibilisierungsmaßnahmen sind insbesondere auf regionaler und lokaler Ebene gefragt, u. a. in Form von Preisen oder Auszeichnungen sowie Ausstellungen zur Rolle von Technologie und Wissenschaft in der Bioökonomie.

3.10.

Daher ist es sehr wichtig, klare und korrekte Botschaften an die Öffentlichkeit zu richten. Da die Bioökonomie mehrere Möglichkeiten zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen bietet, ist zu ihrer Messung eine umfassende wirtschaftliche Bewertung erforderlich. Dadurch werden Informationen über die Größe der bereichsübergreifenden Bioökonomie und ihren Beitrag zum Wirtschaftswachstum sowie über die damit verbundenen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt ermittelt. In diesem Zusammenhang kommt der Wissenschaft eine zentrale Rolle zu. Daher ist es auch so wichtig, die Investitionen in die interdisziplinäre und Grundlagenforschung aufrecht zu erhalten, damit die EU in der Lage ist, ihr Potenzial für einen Beitrag zur weltweiten Forschung und Innovation im Bereich Lebensmittel- und Ernährungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und wissensgestützte Biowirtschaft voll auszuschöpfen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass der legislative Standpunkt der EU den weltweit ständig fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesammelten Erfahrungen in vollem Umfang Rechnung trägt und dass die Beschlussfassungsprozesse bezüglich der Regulierungsaufsicht transparent sind.

3.11.

Nur über die Bildung von Schülerinnen und Schülern an Grund- und Sekundarschulen kann eine Generation heranwachsen, welche die Herausforderungen versteht und die Chancen der Bioökonomie ergreift. Durch die Vermittlung des Kreislaufprinzips und des Grundsatzes, zugleich global und lokal („glokal“) zu handeln, sowie die Förderung des Forschungsinteresses würde die neue Generation besser auf ihren Weg vorbereitet. An Universitäten sind bereits neue Lehrpläne erarbeitet worden, in denen u. a. Biowissenschaften, Ingenieurwissenschaften und Marketing miteinander kombiniert werden. Durch solche Querverbindungen zwischen verschiedenen Disziplinen und günstige Rahmenbedingungen für Start-ups wird Studierenden der Weg in das bioökonomische Unternehmertum erleichtert. Berufliche Bildung muss auf die Kompetenzanforderungen in der Primärproduktion, dem verarbeitenden Gewerbe, dem Transport und anderen einschlägigen Sektoren abgestimmt werden. Auch im späteren Leben müssen Arbeitnehmer ihre Fertigkeiten und Kompetenzen weiter ausbilden. Programme für lebenslanges Lernen, die Bildungseinrichtungen, Hersteller, Unternehmer und Arbeitnehmer, Forscher und Innovatoren miteinander verbinden, können dies unterstützen.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  https://biconsortium.eu/news/mapping-european-biorefineries.

(2)  Siehe das Merkblatt der USDA: An Economic Impact Analysis of the U.S. Biobased Products Industry: Aktualisierung 2016: https://www.biopreferred.gov/BPResources/files/BiobasedProductsEconomicAnalysis2016FS.pdf.

(3)  Alle genannten Zahlen stammen aus dem „JRC science for policy report: Bioeconomy Report 2016“ (Bericht Wissenschaft für Politik der Gemeinsamen Forschungsstelle der Kommission: Bioökonomie-Bericht 2016), abrufbar unter http://publications.jrc.ec.europa.eu/repository/bitstream/JRC103138/kjna28468enn.pdf.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/14


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema „Erleichterung des Zugangs nichtstaatlicher Akteure zur Klimaschutzfinanzierung“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 110/03)

Berichterstatter:

Cillian LOHAN (IE-III)

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Beschluss des Plenums

15.2.2018

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

27.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

114/6/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) weist darauf hin, dass zwar erhebliche Finanzmittel im Rahmen von Vereinbarungen zur Klimaschutzfinanzierung zugesagt worden sind, dass kleine nichtstaatliche Klimaschutzakteure jedoch Schwierigkeiten beim Zugang zu Finanzmitteln haben, die benötigt werden, damit Initiativen zur Förderung des Wandels unterstützt und verwirklicht werden können.

1.2.

Die Mittelflüsse zur Klimaschutzfinanzierung in der Europäischen Union müssen dringend überwacht und erfasst werden. So können die Auswirkungen auf nichtstaatliche Klimaschutzakteure besser bestimmt und auch die Fortschritte bei der allgemeinen Umstellung der Wirtschaft auf Niedrigemission bewertet werden.

1.3.

Die Finanzierungsquellen sind ebenso wie die finanzierungsbedürftigen Bottom-up-Initiativen sehr unterschiedlich. Es bestehen derzeit keine Instrumente, um diese separaten Stränge zusammenzuführen. Um für Abhilfe zu sorgen, sollte auf EU-Ebene ein inklusives Forum für Klimaschutzfinanzierung eingerichtet werden.

1.4.

Zur Lösung der zentralen Probleme schlägt der EWSA die Einrichtung eines Forums für Klimaschutzfinanzierung vor, in dem die wichtigsten Interessenträger zusammenkommen, um Hindernisse zu bestimmen, Lösungen zu erarbeiten und die effizientesten Mechanismen zu entwickeln, mit dem sich die Finanzmittel besser verteilen lassen, u. a. einer Art „Partnerbörse“, die Projekte und geeignete Klimaschutzfinanzierungsquellen zusammenbringt.

1.5.

Es gilt, einen Mechanismus zu schaffen und bekannt zu machen, mit dem Initiativen, die geringere Finanzmittel benötigen, erreicht werden können. Dieser Mechanismus sollte Folgendes umfassen:

vereinfachtes Antragsverfahren,

vereinfachte Berichterstattungsanforderungen,

ergänzende Finanzierung,

Unterstützung von Projekten bereits in der Konzeptionsphase, im Vorfeld der Antragstellung auf Finanzierung,

Unterstützung für Kapazitätsaufbau, Vernetzung, Austausch und Entwicklung von Plattformen auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene.

1.6.

Eine Fokussierung auf Klimaschutzfinanzierung sollte nicht bedeuten, dass die Klimaverantwortung in anderen Bereichen ausgeklammert werden kann. Jede Finanzierung sollte einer Klimaschutzprüfung unterzogen werden, um zu verhindern, dass Zuschüsse und Finanzierungen, die außerhalb der Klimaschutzfinanzierung gewährt werden, den Klimaschutzverpflichtungen und -zielen zuwiderlaufen. Dieses auch in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe c des Übereinkommens von Paris formulierte Ziel, wonach die Finanzmittelflüsse in Einklang gebracht werden mit einem Weg hin zu einer hinsichtlich der Treibhausgase emissionsarmen und gegenüber Klimaänderungen widerstandsfähigen Entwicklung, muss eingehalten werden.

1.7.

Es muss ein Instrumentarium mit einer klaren Kommunikationsstrategie entwickelt werden, das alle nichtstaatlichen Akteure befähigt, Klimaschutzfinanzierung inhaltlich zu erfassen und zu nutzen. Dieses Instrumentarium sollte es den Projektentwicklern erleichtern, Projekte auszuarbeiten, die zu einer emissionsarmen und klimaresilienten Wirtschaft beitragen.

2.   Einleitung

2.1.

Die vorliegende Stellungnahme baut auf den früheren Stellungnahmen des EWSA „Bündnis zur Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens von Paris“ (1) und „Förderung von Klimaschutzmaßnahmen nichtstaatlicher Akteure“ (2) sowie auf der unlängst veröffentlichten Studie des EWSA (3) auf, in der Hindernisse ermittelt worden sind, die einem stärkeren Engagement nichtstaatlicher Akteure beim Klimaschutz entgegenstehen.

2.2.

Im Jahr 2018 plädierte der EWSA für einen europäischen Dialog über nichtstaatliche Klimaschutzmaßnahmen, um den Umfang und die Reichweite von in Europa angesiedelten nichtstaatlichen Klimaschutzmaßnahmen zu festigen und zu erhöhen. Dabei erklärte der EWSA, dass der Dialog nicht nur zum Ziel haben sollte, Maßnahmen bekannt zu machen und zu präsentieren, sondern auch, auf die Bedürfnisse nichtstaatlicher Akteure einzugehen und neue Partnerschaften zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren anzuregen, Peer-Learning, Schulungen und gegenseitige Beratung unter nichtstaatlichen Akteuren zu fördern, die verfügbaren Finanzmittel aufzustocken und den Zugang zu ihnen zu erleichtern.

2.2.1.

Die Bezeichnung „nichtstaatliche Akteure“ bezieht sich auf Akteure, die keine Vertragspartei der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) sind. Unter diesen weit gefassten Begriff fallen verschiedene Arten von Unternehmen, auch KMU und Kleinstunternehmen, Investoren, Genossenschaften, Städte und Regionen, Gewerkschaften, Gemeinschaften und Bürgergruppen, Religionsgemeinschaften, Jugendorganisationen und andere NGO.

2.2.2.

Der vorgeschlagene Prozess des europäischen Dialogs über nichtstaatliche Klimaschutzmaßnahmen sollte den Zugang zu Finanzierung für nichtstaatliche Maßnahmen erleichtern. Dies sollte Folgendes umfassen:

Auflistung der Finanzierungsmöglichkeiten;

Beratung über förderfähige Pläne;

Prüfung der Frage, wie beabsichtigte Klimaschutzinvestitionen nichtstaatlicher Akteure im Rahmen der gegenwärtigen finanziellen Wertschöpfungskette (sowohl öffentlich als auch privat) derzeit finanziert werden;

Analyse der Möglichkeiten zur wirksamen Verteilung von Förderung/Finanzierung an kleinere Projekte, die ein transformatives Potenzial aufweisen;

Analyse der bestehenden Mechanismen für den Dialog mit nichtstaatlichen Akteuren und für ihre Konsultation im Hinblick auf die Entwicklung neuer und Ermittlung bewährter Verfahren zur besseren Nutzung vorhandener europäischer und internationaler Finanzmittel;

Befürwortung der Ausrichtung des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens der EU auf die ehrgeizigeren Klimaschutzziele der nichtstaatlichen Akteure und auf die Förderung ihrer Maßnahmen;

Auslotung innovativer Finanzierungsmöglichkeiten (Peer-to-Peer-, Crowd- und Mikrofinanzierung, grüne Anleihen usw.).

2.3.

Klimaschutzfinanzierung kann verschieden interpretiert werden; laut der Definition des Finanzausschusses der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC — United Nations Framework Convention on Climate Change) handelt es sich um Finanzierung, mit der darauf abgezielt wird, Treibhausgasemissionen zu verringern und Treibhausgassenken zu fördern und die Anfälligkeit menschlicher und ökologischer Systeme gegenüber negativen Auswirkungen des Klimawandels zu reduzieren sowie ihre Widerstandsfähigkeit dagegen zu erhalten und zu stärken.

2.4.

In dieser Stellungnahme geht es um eine Klimaschutzfinanzierung bezogen auf die EU-Mitgliedstaaten und die Akteure in diesen Staaten, die keine Vertragspartei der UN-Klimarahmenkonvention sind, die den Organisationen der Zivilgesellschaft, Kommunen und lokalen Gebietskörperschaften den Zugang zu Finanzierungsinstrumenten ermöglichen würde, die für die Unterstützung der Konzeption und Durchführung von Projekten, Initiativen und Tätigkeiten erforderlich sind, mit denen zur Emissionssenkung und Sicherung der Klimaverträglichkeit der betreffenden Gemeinschaften beigetragen wird.

2.5.

Diese Stellungnahme muss in Zusammenhang mit Klimagerechtigkeit (4) gesehen werden, was bedeutet, dass die Kosten des Klimaschutzes nicht in unverhältnismäßiger Weise den ärmsten und schutzbedürftigsten Mitgliedern der Gesellschaft aufgebürdet werden.

2.6.

Die Finanzierung der ersten Schritte hin zu einer Niedrigemissionswirtschaft in Form von sowohl Klimawandelanpassungs- als auch -eindämmungsmaßnahmen ist von entscheidender Bedeutung, um einen gerechten Übergang sicherzustellen und um Maßnahmen vor Ort zu beschleunigen.

2.7.

Kleinst- und Kleinprojekte haben mitunter Schwierigkeiten beim Zugang zu den Mitteln in Höhe von 2 000 bis 250 000 Euro. Über wirksame Mechanismen muss sichergestellt werden, dass kleinmaßstäblicheren, von der örtlichen Bevölkerung ausgehenden Initiativen nicht der Zugang zum transformativen Potenzial der Klimaschutzfinanzierung verwehrt bleibt.

2.8.

Die EU hat in den letzten zehn Jahren erfolgreich eine Reihe von Finanzierungsinstrumenten entwickelt, die auf diese Art von Bedarf zugeschnitten sind — das Instrument für Demokratie und Menschenrechte EIDHR, die GCCA (Globale Allianz für den Klimaschutz), Finanzierungsinstrumente für die Kofinanzierung von NGOs und dezentralisierte Zusammenarbeit — und nach deren Vorbild entsprechende Klimaschutzinstrumente entwickelt werden könnten.

3.   Festgestellte Probleme

Hintergrund

3.1.

Der EWSA bekräftigt nachdrücklich seine Verpflichtung im Rahmen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen und des Übereinkommens von Paris. Wenn wir allerdings unseren derzeitigen Kurs fortsetzen, würde der Temperaturanstieg bestenfalls auf 3 oC oder mehr begrenzt werden, d. h. weit entfernt von dem im Übereinkommen von Paris vereinbarten Ziel. Dieser Übergang zur Nachhaltigkeit erfordert umfassende Anstrengungen und Investitionen. Die jährlichen energiebezogenen Gesamtinvestitionen zur Eindämmung des Klimawandels für den Zeitraum 2015 bis 2050 im Rahmen des Ziels, die Erderwärmung auf 1,5 oC zu begrenzen, belaufen sich auf durchschnittlich 900 Mrd. USD, so der Sonderbericht des Weltklimarats (IPCC) über die Auswirkungen einer globalen Erwärmung von 1,5 oC über dem vorindustriellen Niveau.

3.2.

Zwar sind die zur Bewältigung des Klimawandels erforderlichen Investitionen hoch, allerdings nicht so hoch wie die Investitionen, die in den vergangenen Jahren zur Rettung der kollabierenden Finanzbranche erforderlich waren, wozu 2,5 Bio. EUR eingesetzt wurden. Der mögliche Zusammenbruch der Ökosysteme, auf denen unser Leben beruht, rechtfertigt mindestens eine ebenso große Ausgabe.

3.3.

Allzu häufig geht es bei den Diskussionen um die Finanzierung des Klimaschutzes vor allem um die Schaffung neuer expliziter Haushaltslinien, während im Übereinkommen von Paris gefordert wird, die Finanzmittelflüsse in Einklang mit einem Weg hin zu einer emissionsarmen und klimaresilienten Entwicklung zu bringen.

3.4.

Die Klimapartnerschaft von Marrakesch und die Globale Klimaschutzagenda eröffnen Möglichkeiten zur Einbindung von nichtstaatlichen Akteuren in den formellen UNFCCC-Prozess. Die Erfassung von in der Union bestehenden Maßnahmen und die Finanzierung von Maßnahmen im Hinblick auf die Maximierung ihrer potenziellen Auswirkungen zählen derzeit nicht zu den Schwerpunkten bei der Gestaltung von Finanzierungspaketen.

3.5.

Die Fortschritte, die bei der Finanzierung der Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen bislang erreicht worden sind, sind nicht ausreichend. Im jüngsten Bericht des Weltklimarats (IPCC) (5) wird klar festgestellt, dass wir uns in einer kritischen Phase befinden und dass innerhalb des nächsten Jahrzehnts einschneidende Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Auswirkungen des Klimawandels auf ein handhabbares Maß zu begrenzen. Ein nachhaltiges Finanzwesen und eine nachhaltige Wirtschaft müssen eine politische Priorität werden, wozu insbesondere klare, stabile und anreizsetzende Rechtsvorschriften erforderlich sind.

3.6.

Es ist nicht ausreichend, einen festen Prozentsatz der Mittel eines Haushalts für die Klimaschutzfinanzierung bereitzustellen, wenn ein anderer Teil der Haushaltsmittel für klimaschädliche Maßnahmen ausgegeben werden. Sämtliche Ausgaben müssen auf ihre Klimaauswirkungen überprüft werden. Ein Arbeitspapier des Internationalen Währungsfonds beziffert die direkten und indirekten Subventionen, die weltweit in fossile Energieträger gesteckt werden, auf jährlich 5,3 Bio. USD, was mehr als 15 Mrd. USD pro Tag bedeutet. Selbst mit dem angestrebten Klimaschutzfonds in Höhe von 100 Mrd. USD pro Jahr können die negativen Auswirkungen dieser Subventionen nicht ausgeglichen werden.

3.7.

Die Energiewende wird nicht erfolgreich, fristgerecht und im Einklang mit den Verpflichtungen Europas im Rahmen des Übereinkommens von Paris vollzogen werden können, wenn die Frage der Energiearmut von der Politik vernachlässigt wird. Nötig ist eine gerechte Verteilung sowohl der finanziellen als auch der sozialen Kosten und Vorteile der Umstellung auf nachhaltige Energie in Europa auf alle Governance-Ebenen und die Marktakteure, auch der Bürger. Die wissenschaftliche Untersuchung „Heat Roadmap Europe“ (6) zeigt, dass Europa in der Lage ist, mit den derzeit verfügbaren Technologien seine Treibhausgasemissionen bis 2050 auf erschwingliche und kosteneffiziente Weise um 86 % zu reduzieren.

3.8.

Im Zuge der Recherche zur Erarbeitung dieser Stellungnahme trat der Mangel an Informationen über die Klimafinanzierungsströme innerhalb der Mitgliedstaaten klar zutage. Es ist also schwierig, zu bewerten, ob Finanzmittel in kleinere, leichter zugängliche Finanzierungstöpfe unterteilt werden oder welche transformative Wirkung mit der Finanzierung erzielt wird. Die mangelnde Überwachung und Berichterstattung macht die wahrgenommene Problematik noch undurchsichtiger und behindert die Entwicklung möglichst wirksamer Lösungen.

Zugang für Unternehmen und KMU

3.9.

Der Zugang zu Finanzierung bleibt eine zentrale Herausforderung für nichtstaatliche Akteure aller Art, einschließlich der verschiedenen Herausforderungen für KMU und größere Unternehmen. Dabei geht es nicht nur um die Verfügbarkeit von mehr oder zusätzlicher Finanzierung, sondern auch um die Klarheit der bestehenden Finanzierungsmechanismen.

3.10.

Darüber hinaus stellt sich das Problem, was eine „ökologische Investition“ ist. Den Investoren geht es vor allem um Risiken und Rendite, und es fällt ihnen schwer, die möglichen Auswirkungen eines vorgeschlagenen Projekts auf das Klima zu bewerten und seine Erfolgsaussichten abzuschätzen. Private Geldgeber werden eher nicht bereit sein, Projekte zu finanzieren, wenn die Risiken sowie die Verfahren zur Eindämmung der Risiken nicht klar sind — also wenn es keine Garantien gibt.

Zugang für lokale und regionale Regierungen

3.11.

Faktoren, die den Zugang subnationaler Regierungen zur Finanzierung einschränken, sind: schlechte Bonitätsbewertung, begrenzte Fähigkeit zur Mobilisierung privaten Kapitals aufgrund unzureichender Größe des Marktes für Investitionen in emissionsarme Infrastruktur und unattraktive Risikoprofile oder auch von der nationalen Regierung festgelegte Grenzen, ob und wenn ja in welcher Höhe subnationale Regierungen Geld beim Privatsektor aufnehmen kann.

Zugang für Gemeinschaftsinitiativen

3.12.

Es gibt derzeit in Europa viele Tausend Basisinitiativen zu Klimawandel und Nachhaltigkeit. Diese Initiativen können einen erheblichen Beitrag zur Verwirklichung der Ziele der Union in den Bereichen Klimaschutz, Energie und Nachhaltigkeit leisten, aber sie stützen sich zum Großteil auf Freiwillige, und der Mangel an Finanzierung und professioneller Unterstützung erweist sich als erhebliches Hindernis für ihre Entwicklung und ihr Wachstum. Oftmals werden nur sehr bescheidene Finanzmittel benötigt, ohne die es diesen Initiativen jedoch sehr schwerfällt, Fortschritte zu erzielen und Projekte zu starten. Das transformative Potenzial dieser Initiativen wird derzeit nicht zum Tragen gebracht.

3.13.

In vielen Fällen haben lokale Basisinitiativen Schwierigkeiten beim Zugang zu konventionellen Finanzierungsquellen. Häufig ist der Mindestfinanzierungsbetrag, ab dem ein Antrag möglich ist, zu hoch und übersteigt bei weitem den Bedarf oder die Verwaltungskapazität kleiner lokaler Initiativen. Vorgaben hinsichtlich der Kofinanzierung verursachen zusätzliche Hürden.

3.14.

Die Einhaltung der Finanzierungsanforderungen, übermäßiger Verwaltungsaufwand und komplizierte Prozesse — diese und weitere Probleme nennen kleinere Gruppen, wenn es um den Zugang zu Finanzierung geht. Projekte/Initiativen dieser Art sind für sich genommen zwar klein, insgesamt können sie aber eine große Wirkung entfalten. Aus der Unterstützung von kleinen von der örtlichen Bevölkerung ausgehenden Programmen durch angemessene Finanzierung ergeben sich auch zahlreiche positive Folgewirkungen vor Ort.

3.15.

Die Finanzierung ist zumeist, wenn nicht immer projektorientiert und trägt nicht der Tatsache Rechnung, dass Mittel für die Unterstützung von Prozessen auf verschiedenen Ebenen nötig sind, angefangen von der Gemeinwesenarbeit und dem Kapazitätsaufbau auf lokaler Ebene bis hin zur Vernetzung, zum Austausch und zum Aufbau von Plattformen auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene. Finanzielle Unterstützung in diesem Bereich könnte erheblich dazu beitragen, das Engagement der Bürger und Gemeinschaften für Klimaschutzmaßnahmen zu stärken und sicherzustellen, dass ein ausreichendes Maß an Organisation und Zusammenarbeit gegeben ist, um die Ausweitung der Projekte zu unterstützen und die Entwicklung von Maßnahmen zu fördern.

Zugang zur Finanzierung von Innovation

3.16.

Auch Jungunternehmer stehen vor verschiedenen Herausforderungen in Bezug auf den Zugang zu Finanzierung, mangelndes Wissen und fehlende Erfahrung, Marktzugang und Ausweitung des Geschäfts nach der Start-up-Phase. Der Finanzierung von Innovation kommt eine entscheidende Rolle bei der Lösung der Klimakrise zu, aber auch bei den Finanzierungsmechanismen und bei der Bereitstellung der Finanzierung ist Innovation erforderlich. Mit Initiativen wie EIT Climate-KIC sollen diese Probleme angegangen werden, indem Klimaaspekte auf den Finanzmärkten durchgängig berücksichtigt, Informationen über Klimarisiken allgemein zugänglich gemacht und Investitionen in innovative Start-ups gefördert werden.

4.   Lösungsvorschläge

4.1.

Der EWSA schlägt vor, auf europäischer Ebene eine Art Forum für Klimaschutzfinanzierung mit einem dezentralen Netzwerk einzurichten, das alle Beteiligten zusammenbringt und eine koordinierte Reaktion auf die dort ermittelten Probleme ermöglicht. Dieses Forum könnte die erforderlichen Instrumente entwickeln, die in dieser Stellungnahme beschrieben werden.

4.2.

Unter anderem sollte das Forum für Klimaschutzfinanzierung als Plattform für den Dialog dienen, die dazu beiträgt, besonders vielversprechende und wirksame nichtstaatliche Lösungen mit privaten und institutionellen Investoren zusammenzubringen. Darüber hinaus ist es wichtig, den Schwerpunkt auf die mögliche Ausweitung und Nachahmung in allen EU-Mitgliedstaaten und in Drittländern zu legen, um eine optimale Wirkung zu erzielen. Aufgrund seines europaweiten Netzes von Gruppen der organisierten Zivilgesellschaft ist der EWSA gut aufgestellt, um in einem Forum für Klimaschutzfinanzierung als Sprachrohr der Basis mitzuwirken und die Probleme beim Zugang zur Finanzierung zu verdeutlichen.

4.3.

Zu einer erfolgreichen Strategie zur Bewältigung der Probleme bei der Klimaschutzfinanzierung wird ganz wesentlich auch eine effiziente Kommunikation gehören, die in alle Richtungen zu erfolgen hat. Dabei gilt es, die Zielgruppen genau zu bestimmen und wirksam, präzise und in geeigneter Sprache die Möglichkeiten und die Bedingungen für den Zugang zu Finanzierungsoptionen zu vermitteln.

4.4.

Die Europäische Kommission und die anderen EU-Institutionen sollten Leitfäden erstellen, in denen nichtstaatlichen Akteuren erläutert wird, wie sie bestehende Finanzierungsinstrumente nutzen können. Es wird ein System benötigt, das Informationen über die breite Palette von Finanzierungsquellen, die für Klimaschutzmaßnahmen nichtstaatlicher Akteure verfügbar sind, sammelt, auswertet, konsolidiert und verbreitet. Grundlage dafür können die Arbeiten des Europäischen Ausschusses der Regionen sein, in denen die Schritte hin zur Entwicklung eines Instrumentariums ermittelt werden, einschließlich leicht verständlicher Informationen über Förder- und Finanzierungsmöglichkeiten für Klimaschutzmaßnahmen für die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften.

4.5.

Ferner ist ein Überwachungsmechanismus erforderlich, um die Klimafinanzierungsströme systematisch zu erfassen, Hindernisse sichtbar zu machen und gezielt auf die praktische Beseitigung dieser Hindernisse hinzuarbeiten. Dies ist ein wichtiger erster Schritt. Auch durch eine systematische Erfassung der Finanzierungsströme könnte entscheidend dazu beigetragen werden, Hindernisse zu erkennen, mit denen sich kleine nichtstaatliche Akteure konfrontiert sehen. Eine Bestandsaufnahme der Finanzierung wird außerdem leichter sichtbar machen, an welchen Stellen Lücken bei der Erfassung von Klimaschutzmaßnahmen bestehen, die eigentlich Teil des Prozesses der weltweiten Klimaschutzagenda sein sollten.

4.6.

Der EWSA fordert die EU auf, ein führendes Modell dafür zu bieten, wie der Beitrag nichtstaatlicher Akteure zur Verwirklichung der Klimaschutzziele erfasst werden kann. Die europäischen nichtstaatlichen Klimaakteure — insbesondere die kleineren von ihnen — erwarten Hilfe von den EU-Institutionen, um spezielle Klimaschutzmittel zu mobilisieren und um durch vereinfachte Verfahren und Berichterstattung besseren Zugang zu Finanzierung zu erhalten. Auf diese Weise könnten zahlreiche Maßnahmen, die bislang im Kampf gegen den Klimawandel gar nicht wahrgenommen werden, leichter erfasst werden. So könnten für Projekte unterhalb einer bestimmten Finanzierungsschwelle, beispielsweise 50 000 EUR, ein vereinfachter Antrag, der nur eine Seite umfasst, und ein vereinfachtes Formular für die Berichterstattung, das ebenfalls nur eine Seite umfasst, eingeführt werden.

4.7.

Nötig ist eine zusätzliche Finanzierung in Form von Zuschüssen in geringer Höhe, mit vereinfachten Antrags- und Berichterstattungsverfahren, die speziell auf lokale Basismaßnahmen in den Bereichen Klimawandel und Nachhaltigkeit ausgerichtet sind, und die zudem nicht an unerreichbare Kofinanzierungssätze gebunden sein dürfen. Es könnten Mechanismen zur Bündelung von Projekten entwickelt werden, um die mit der Finanzierung erzielten Auswirkungen zu verbessern und den Zugang zu Finanzierung zu erleichtern. Derartige Instrumente müssen dringend entwickelt werden.

4.8.

Es sollte ein Mechanismus entwickelt werden, um Projekten im Vorfeld der Antragstellung auf Finanzierung fachkundige Unterstützung zukommen zu lassen, sodass sie wirksam gestaltet und zweckmäßig ausgerichtet werden.

4.9.

Auf Unionsebene sollte darüber nachgedacht werden, welche innovativen Finanzierungsinstrumente insgesamt entwickelt werden sollten. Nichtstaatliche Akteure sollten von Anfang an in diese Erwägungen einbezogen werden, um für einfache und klare Zuteilungskriterien zu sorgen.

4.10.

Insgesamt sollte für eine engere Zusammenarbeit zwischen bestehenden Förder- und Finanzierungsprogrammen für Klimaschutz und Nachhaltigkeit einerseits und Netzen nichtstaatlicher Akteure andererseits gesorgt werden. Dabei geht es um Erfahrungsaustausch, Kommunikation und Dialog. Ein Forum für Klimaschutzfinanzierung kann dies erleichtern.

4.11.

Durch Finanzierungsmaßnahmen könnten auch Anreize für Maßnahmen nichtstaatlicher Akteure oder für ein klimafreundliches Verhalten nichtstaatlicher Akteure gesetzt werden. So könnten beispielsweise durch Steuererleichterungen auf mitgliedstaatlicher Ebene Niedrigemission bei der Produktion und die Mitwirkung nichtstaatlicher Akteure an Klimaschutzmaßnahmen gefördert werden.

4.12.

Im Zuge der Festlegung des neuen mehrjährigen Finanzrahmens der EU kann eventuell ein wirksamer Beitrag von Bottom-up-Klimaschutzmaßnahmen nichtstaatlicher Akteure zur Umsetzung der EU-Klimaschutzverpflichtungen gemäß dem Übereinkommen von Paris ermöglicht werden. Daher fordert der EWSA eine Aufstockung der EU-Ausgaben zur Verwirklichung der Klimaziele um mindestens 40 % (7). Zudem fordert der EWSA, dass die Beihilfen für fossile Brennstoffe rasch auslaufen und dass keine direkte oder indirekte (Ko-)Finanzierung fossiler Energieträger durch europäische Mittel erfolgt.

4.13.

Es muss ein Instrument zur Sicherung der Klimaverträglichkeit entwickelt werden, um sicherzustellen, dass Ausgaben der öffentlichen Hand auf keinen Fall zur Unterstützung von Aktivitäten verwendet werden, die die Klimakrise verschärfen. Das sollte auch für private Finanzierungsprogramme gelten. Wenn innerhalb eines Haushalts bestimmte Mittel für die Klimaschutzfinanzierung vorgesehen werden, darf das nicht bedeuten, dass andere Mittel für Maßnahmen verwendet werden, die den Klimaschutzzielen zuwiderlaufen. Das in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe c des Übereinkommens von Paris festgelegte Ziel muss umgesetzt werden.

4.14.

Das wichtigste Finanzierungsinstrument der Union, um die Bottom-up-Entwicklung vor Ort zu fördern, ist der Ansatz der von der örtlichen Bevölkerung betriebenen lokalen Entwicklung (CLLD — Community-led Local Development). Dieses Finanzierungsinstrument ist perfekt aufgestellt, um derartige Basisinitiativen zu unterstützen, und bietet die Möglichkeit, Zuschüsse und Unterstützung zu gewähren, die auf die örtlichen Gegebenheiten zugeschnitten sind. Im Dezember 2017 nahm der EWSA eine Stellungnahme zum Thema „Vorteile einer von der örtlichen Bevölkerung betriebenen lokalen Entwicklung (CLLD) für die integrierte Entwicklung des lokalen und ländlichen Raums“ (8) an, in dem die Europäische Kommission nachdrücklich aufgefordert wird, eingehend die Möglichkeiten zur Einrichtung eines Reservefonds für CLLD auf EU-Ebene zu prüfen und zu analysieren. In der Stellungnahme wird ferner empfohlen, dass die Europäische Kommission dessen ungeachtet dafür sorgen sollte, dass alle Mitgliedstaaten über einen nationalen CLLD-Fonds mit Beiträgen aus allen vier ESI-Fonds (ELER, EFRE, ESF und EMFF) verfügen. Die CLLD-Struktur könnte dazu dienen, die in Ziffer 2.7 erwähnten Kleinst- und Kleinprojekte zu unterstützen.

4.15.

Der EWSA unterstützt den im März 2018 angenommenen Fahrplan der Kommission zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums (9), um die Wertschöpfungskette im Finanzbereich insgesamt stärker auf Nachhaltigkeit auszurichten. Der EWSA hat in seinen einschlägigen Stellungnahmen (10) konkrete Empfehlungen zu diesem Aktionsplan abgegeben.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Stellungnahme des EWSA „Bündnis zur Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens von Paris“ (ABl. C 389 vom 21.10.2016, S. 20).

(2)  Stellungnahme des EWSA „Förderung von Klimaschutzmaßnahmen nichtstaatlicher Akteure“ (ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 35).

(3)  Studie des EWSA zum Thema „Instrumentarium für Multi-Stakeholder-Klimapartnerschaften — Ein politischer Rahmen für die Förderung von Bottom-up-Klimaschutzmaßnahmen“.

(4)  Stellungnahme des EWSA Klimagerechtigkeit (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 22).

(5)  Sonderbericht des IPCC über die Auswirkungen einer globalen Erwärmung von 1,5 oC über dem vorindustriellen Niveau (Oktober 2018).

(6)  Rahmenprogramm für Forschung und Innovation Horizont 2020, Finanzhilfevereinbarung Nr. 695989 — Heat Roadmap Europe.

(7)  Stellungnahme des EWSA Europäischer Finanz-Klima-Pakt (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 8).

(8)  Stellungnahme des EWSA „Vorteile einer von der örtlichen Bevölkerung betriebenen lokalen Entwicklung (CLLD) für die integrierte Entwicklung des lokalen und ländlichen Raums“ (ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 36).

(9)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Aktionsplan: Finanzierung nachhaltigen Wachstums.

(10)  Stellungnahmen des EWSA „Aktionsplan für nachhaltige Finanzierung“ (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 73), „Nachhaltiges Finanzwesen: Taxonomie und Benchmarks“ (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 103) und „Nachhaltigkeitsanforderungen an institutionelle Anleger und Vermögensverwalter“ (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 97).


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/20


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Lage der Romnija (Roma-Frauen)“

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des Europäischen Parlaments)

(2019/C 110/04)

Berichterstatter:

Ákos TOPOLÁNSZKY

Befassung

Europäisches Parlament, 30.5.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

196/2/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Ein erheblicher Anteil der Roma-Frauen (Romnija) und Roma-Mädchen (Tschaia) ist vielfacher und intersektoraler Diskriminierung ausgesetzt, weshalb sie ihre Rechte nach wie vor nicht umfassend wahrnehmen können. Romnija sind die am stärksten gefährdete Minderheitengruppe in der EU. Eine Beendigung dieser Situation ist die große Bringschuld und die Pflicht der europäischen Demokratien.

1.2.

Der EWSA bedankt sich für das Engagement zahlreicher Romnija, die gestern wie heute mutig gegen die Strukturen der Diskriminierung und die institutionalisierte Gewalt für ein europäisches Zusammenleben ohne Diskriminierung auftreten.

1.3.

Der segregierte Schulunterricht, dessen niedriges Niveau gerade in der Diskriminierung begründet ist, muss unverzüglich beendet und zugleich müssen sämtliche Elemente der qualitativ hochwertigen öffentlichen Bildung auch den Romnija zugänglich gemacht werden. Das System der Sonderschulen und die Beurteilungsverfahren der Schüler müssen einer unverzüglichen und strengen Prüfung unterzogen werden.

1.4.

Der EWSA erwartet von den Mitgliedstaaten, dass sie Praktiken im Gesundheitssystem unverzüglich ein Ende setzen, die gegen ethisch begründete Dienstleistungsstandards und entsprechende Rechtsvorschriften verstoßen, und illegale Praktiken wie die Zwangssterilisation, die Verweigerung der Gesundheitsversorgung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit oder minderwertige Dienstleistungen zur Straftat erklären.

1.5.

Die Mitgliedstaaten müssen diskriminierende Beschäftigungsformen und -instrumente unverzüglich beseitigen, gleichzeitig müssen komplexe Maßnahmen zur Erhöhung der Beschäftigungschancen der Romnija ergriffen werden.

1.6.

Ein akzeptabler Mindeststandard für Wohnraum und öffentliche Dienstleistungen muss als Grundrecht definiert, angenommen und durchgesetzt und gegebenenfalls auch in den Verfassungen der Mitgliedstaaten verankert werden.

1.7.

Gegen jede Form des Menschenhandels mit und der Hasskriminalität gegen Roma, insbesondere Romnija, muss entschlossen und nichtdiskriminierend aufgetreten werden.

1.8.

Romnija erhalten sehr wenige Möglichkeiten, die Politik, die ihr Leben beeinflusst, mitzugestalten und zu bewerten. Ihre Teilnahme an solchen Programmen ist in entsprechendem Maße sicherzustellen.

1.9.

Anders als derzeit in den meisten Mitgliedstaaten der Fall, müssen in den Aufholstrategien der EU und der Mitgliedstaaten für die Zeit nach 2020 die Belange und Interessen der Romnija besondere Beachtung finden.

2.   Situation der Romnija in der Europäischen Union

2.1.

Ein erheblicher Anteil der Roma-Frauen (Romnija) und Roma-Mädchen (Tschaia) ist vielfacher und intersektoraler Diskriminierung ausgesetzt, weshalb sie ihre Rechte nach wie vor nicht umfassend wahrnehmen können. Romnija sind die am stärksten gefährdete Minderheitengruppe in der EU. Dies ist eine systematische Verletzung der Demokratie, der Rechtstaatlichkeit und der Menschenrechte, was den europäischen Gedanken, der sich auf die in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (1) und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2) genannten Werte stützt, grundlegend schwächt. In diesem Bereich waren in letzter Zeit kaum Fortschritte festzustellen.

2.2.

Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) zeichnet (vor allem im Rahmen der EU-MIDIS-II-Studie (3)) ein genaues Bild von der benachteiligen Lage der Romnija, obwohl in den meisten Mitgliedstaaten keine nach ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht aufgeschlüsselten Daten zur Verfügungen stehen. Romnija werden in jedem Bereich der Gesellschaft, nicht nur im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung, sondern auch im Vergleich zu Roma-Männern benachteiligt.

2.3.

Der EWSA ist überzeugt, dass der europäische Gedanke genauso stark ist, wie die Schwächsten davon profitieren. Deshalb sind die Verbesserung der Situation der Romnija und die Stärkung ihrer Rolle in der Gesellschaft nicht nur eine Pflicht der Institutionen der EU und der Mitgliedstaaten, sondern gleichzeitig ein Reifetest des demokratischen Systems und der Rechtstaatlichkeit.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Laut Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union gehören zu den wichtigsten Werten, die dem europäischen Gedanken zugrunde liegen, unter anderem die Gleichberechtigung und die Einhaltung der Menschenrechte, zu denen auch die Rechte der Minderheiten zählen. Von einer tatsächlichen Durchsetzung dieser Rechte kann erst dann die Rede sein, wenn auch die am stärksten ausgegrenzten und diskriminierten Gruppen der Gesellschaft in den Genuss konkreter Veränderungen kommen, da Diskriminierung, Segregation und Antiziganismus eindeutig gegen diese Werte verstoßen.

3.2.

Die Geschlechtergleichstellung der Romnija ist die Voraussetzung für ihre wirtschaftliche Stärkung und die Durchsetzung der ihnen zustehenden, verfassungsrechtlich zu garantierenden Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und zivilen Bereich.

3.3.

Aufgrund all dessen unterstützt der EWSA, wie auch in früheren Stellungnahmen (4), die Ziele der europäischen Rahmenstrategie, doch weist er gleichzeitig nachdrücklich darauf hin, dass diese auch konsequent verfolgt werden müssen bzw. dass die erzielten Ergebnisse nicht ausreichend sind.

3.4.

Er weist ferner darauf hin, dass der Antiziganismus auf fast allen Funktionsebenen in den Mitgliedstaaten, bei Behörden und Institutionen, allgegenwärtig ist, wodurch es den Roma unmöglich ist, gleichberechtigt öffentliche Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, ihre Gleichheit vor dem Gesetz und die Pflicht ihrer Gleichbehandlung durchzusetzen, entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil in Bezug auf sie betreffende Fragen am politischen Entscheidungsprozess teilzuhaben und sich gegen die Folgen der Diskriminierung zu schützen. Das trifft im Besonderen auf Romnija zu.

3.5.

Der EWSA fordert, für eine Bestandsaufnahme der systematischen Verstöße gegen die Rechte der Romnija „Weißbücher“ zu erstellen und dabei unabhängige und glaubwürdige Organisationen der Roma-Gemeinschaft einzubeziehen, zu konsultieren und offiziell anzuerkennen, um die Grundlage für eine historische Aussöhnung zu schaffen.

3.6.

Der EWSA bedankt sich für das Engagement zahlreicher Romnija, die gestern wie heute mutig gegen die Strukturen der Diskriminierung und die institutionalisierte Gewalt für ein europäisches Zusammenleben ohne Diskriminierung auftreten.

4.   Bestimmte Bereiche der öffentlichen Politik (5)

4.1.   Bildung

4.1.1.

Segregierter Unterricht stellt stets eine Rechtswidrigkeit dar und führt zwingend zu nachteiligen Ergebnissen. Die negativen Folgen eines segregierten Unterrichts beeinträchtigen besonders Roma-Mädchen und versperren ihnen die Möglichkeiten gesellschaftlicher Mobilität. Deshalb müssen alle rechtlichen Mittel und jegliche gezielte Unterstützung durch die öffentliche Politik in Anspruch genommen sowie die erforderliche Finanzierung der zusätzlichen Kosten garantiert werden, um entsprechend den Erwartungen der EU hinsichtlich des diskriminierungsbedingten niedrigen Niveaus des segregierten Unterrichts Abhilfe zu schaffen. Zugleich muss dafür gesorgt werden, dass auch die Romnija in jeder Hinsicht Zugang zu einer qualitativ hochwertigen öffentlichen Bildung haben. Die Regierungen müssen ferner für die entsprechenden Humanressourcen, Ausbildungen und pädagogischen Programme sorgen.

4.1.2.

Eine ungerechtfertigte Einstufung von Roma-Kindern als geistig zurückgeblieben und ihre Segregation beim Schulunterricht sind als schwerste Verstöße gegen ihre Rechte zu betrachten, die ihre Zukunft zerstören. Diese Einstufungen müssen deshalb regelmäßig von unabhängigen Facheinrichtungen überprüft werden. Der Überprüfungsvorgang muss von jeder der betroffenen Seiten, insbesondere von den Eltern, den Erziehungsberechtigten oder der Schule ungehindert eingeleitet werden können.

4.1.3.

Besteht der Verdacht auf eine wiederholte und insbesondere systematische falsche Bewertung mit Segregationsabsicht oder -ergebnis, sollten die Mitgliedstaaten verpflichtet sein, unverzüglich die Gründe dafür sorgfältig zu untersuchen und die Untersuchungsergebnisse zu veröffentlichen, sie im Rahmen der nationalen Systeme zur Beseitigung der Segregation auszuwerten und entsprechend die notwendigen Schritte in der Gesetzgebung und zur Rechtsdurchsetzung zu unternehmen.

4.1.4.

Bis dahin muss das pädagogische Niveau der Sonderklassen stärker an dasjenige des allgemeinen Unterrichts angepasst werden, damit sie keine bloßen pädagogischen „Siechenhäuser“ sind.

4.1.5.

Nach Ansicht des EWSA sollten die EU-Gelder für die Länder, in denen das Ausmaß an segregiertem Unterricht nicht geringer wird oder sogar zunimmt, gekürzt, eingefroren und bei systematischen Problemen ganz entzogen werden. Der EWSA hofft, dass in solchen Situationen die Rechtsschutzmechanismen der Europäischen Union (Artikel 7 und Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit) effektiv und schnell genutzt werden.

4.1.6.

Zur Erhöhung der Bildungschancen der Romnija und zur Verringerung des Schulabbruchrisikos muss ein System der Fortbildungs- und Ausbildungsprogramme im Sinne einer zweiten Chance geschaffen werden, damit ihnen nicht nur die Möglichkeit einer staatlich geförderten oder minderwertigen, nur teilweise deklarierten oder atypischen Beschäftigung bleibt, die sie der Chancen auf gesellschaftliche Mobilität beraubt.

4.2.   Gesundheit

4.2.1.

Die oft in abgeschotteten und schwer zugänglichen Bereichen lebenden Romnija sind bei der Gesundheitsversorgung häufig mit physischer und psychischer Ablehnung, Erniedrigung, ja manchmal sogar mit Übergriffen konfrontiert. Die Möglichkeit zur Inanspruchnahme ihrer Reproduktionsrechte ist stark eingeschränkt. Der EWSA drängt darauf, dass für die Personen, die in Segregation oder Abgeschiedenheit leben, von den Mitgliedstaaten mobile Einheiten mit entsprechender Ausrüstung und Kapazität geschaffen und betrieben werden. Er drängt außerdem darauf, dass die Dienstleistungen rund um Schwangerschaftsversorgung und Geburt überprüft und die notwendigen Korrekturen durchgeführt werden.

4.2.2.

Der EWSA erwartet von den Mitgliedstaaten, dass sie Praktiken im Gesundheitssystem unverzüglich ein Ende setzen, die gegen ethisch begründete Standards und entsprechende Rechtsvorschriften verstoßen, und gegebenenfalls konsequente Schritte ergreifen. Es muss für kostenlose und leicht zugänglicher Rechtsschutzmittel zur Durchsetzung des Rechts auf Gesundheitsversorgung gesorgt werden ebenso wie für die Bereitstellung spezieller Versorgung, die auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Betroffenen eingeht, wie die Einrichtung von Gesundheitsinformationsstellen, die Ausbildung von Gesundheitsmediatoren und deren Einbeziehung ins System sowie die Umsetzung von Initiativen bezüglich öffentlicher Gesundheit, die auch für segregierte Gruppen zugänglich sind.

4.2.3.

Die Regierungen müssen dringend eindeutig und öffentlich für den Grundsatz eines gleichberechtigten Zugangs zur Gesundheitsversorgung und deren tatsächliche Durchsetzung und gegen gegenteilige Praktiken eintreten sowie auch in dieser Hinsicht Sensibilisierungsprogramme für alle Betroffene initiieren. Roma-Frauen und -Kinder ohne Krankenversicherung müssen durch gesetzliche Maßnahmen ein Versicherungsverhältnis erhalten.

4.3.   Zwangssterilisierung

4.3.1.

In zahlreichen Ländern, in denen die Reproduktionsrechte der Frauen in der Vergangenheit systematisch verletzt und Zwangssterilisationen in großer Zahl durchgeführt und als Mittel der Staatspolitik angewendet wurden, hat sich die Politik bisher noch nicht einmal entschuldigt und die Verantwortung übernommen, und dort, wo dies erfolgt ist, gab es aber keinerlei rechtliche oder materielle Wiedergutmachung. Der EWSA empfiehlt dem europäischen Gesetzgeber, alles dafür zu tun, dass die Verjährungsfrist für diese Straftaten in den Mitgliedstaaten im Rahmen der Harmonisierung des europäischen Strafrechts erheblich verlängert oder gar vollständig abgeschafft wird, da es sich um Straftaten handelt, die mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit vergleichbar sind, und konkrete Rechtsvorschriften für diese Fälle zu erlassen, nach denen die Opfer eine echte rechtliche Wiedergutmachung und finanzielle Entschädigung erhalten.

4.3.2.

In diesen Fällen bedarf es einer ehrlichen und vollständigen Aufklärung sowie Transparenz, was zur Aussöhnung führen kann und künftige Straftaten durch Staat und Verwaltung unmöglich macht. Deshalb empfiehlt der EWSA außerdem, dass in den betroffenen Mitgliedstaaten unabhängige Historikerkommissionen unter Einbeziehung der Opfer und ihrer Vertreter auch in dieser Hinsicht die in der Vergangenheit begangenen Verbrechen aufdecken und die Ergebnisse im Rahmen eines gesellschaftlichen Aussöhnungsprozesses veröffentlicht werden, wie das in Schweden im Falle des „Weißbuches“ geschehen ist.

4.4.   Beschäftigung

4.4.1.

Die Romnija sind im Vergleich zu den Roma-Männern auf dem Arbeitsmarkt in einer noch viel schlechteren Position, ihre Beschäftigungsquote ist auf kritisch niedrigem Niveau.

4.4.2.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, gezielte und umfassende Maßnahmen zu ergreifen, um die wirtschaftliche Stellung der Romnija zu stärken und sie mit den erforderlichen Kompetenzen auszustatten. Die Förderung sozialwirtschaftlicher Unternehmen, die Einführung von Mikrokreditprogrammen, der ungehinderte und nichtdiskriminative Zugang zu Arbeitsmarktleistungen sind außerordentlich wichtige Maßnahmen im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung.

4.4.3.

Die Unternehmer sind zu wichtigen Anbietern von Beschäftigungsmöglichkeiten und zentralen Akteuren im Hinblick auf das Wohlergehen der lokalen und regionalen Gemeinschaften geworden. Dies gilt besonders für die Roma-Gemeinschaften. Eine auf die Bedürfnisse von Roma-Unternehmerinnen und KMU ausgerichtete Politik bedarf spezifischer Maßnahmen, um die Roma-Frauen nicht nur zu stärken, sondern auch bei ihren Initiativen für Gemeinschaftsprojekte und Unternehmensgründungen zu unterstützen. In den meisten Mitgliedstaaten gibt es derzeit keine derartige gezielte Politik zur besonderen Unterstützung der Roma-Frauen. Der EWSA fordert deshalb, das Potenzial einer solchen Politik umfassend auszuschöpfen.

4.4.4.

Der Ausschuss ermutigt die zuständigen öffentlichen Stellen auf allen Ebenen der Gesellschaft, Arbeitsmarktschulungen durchzuführen, Arbeitsplätze und geförderte Beschäftigungsformen im notwendigen Ausmaß zu schaffen und für Fahrkosten-, Aus- und Weiterbildungsförderungen zu sorgen sowie mit Hilfe gezielter Instrumente der öffentlichen Politik die Möglichkeiten der schutzbedürftigen Romnija, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren, zu fördern.

4.4.5.

Die Mitgliedstaaten sollen alles unternehmen, um die prekäre Lage der Romnija auf dem Arbeitsmarkt zu beenden, den Formen der (quasi) Zwangsbeschäftigung, der halblegalen und illegalen Beschäftigung einen Riegel vorzuschieben.

4.4.6.

Hierfür sollten angesichts dessen, wie wichtig die Integration der Romnija auf dem Arbeitsmarkt ist, Beschäftigungsprogramme im Sinne einer zweiten Chance geschaffen werden. Außerdem sollte für sie eine Unterstützung durch Mediatoren und eine Fahrtkosten- und Ausbildungsförderung vorgesehen werden. Darüber hinaus muss alles dafür getan werden, die Diskriminierung am Arbeitsplatz zu beenden und die Unternehmensführung diesbezüglich zu sensibilisieren.

4.5.   Wohnen, öffentliche Dienste

4.5.1.

Von denjenigen, die ausgegrenzt von der Mehrheitsgesellschaft leben, leiden Frauen und Kinder am stärksten unter den verheerenden Auswirkungen der Segregation auf den Alltag. Deshalb betont der EWSA, dass auch in diesen Bereichen ein akzeptabler Mindeststandard für Wohnraum, die öffentlichen Dienstleistungen und die Infrastrukturen geschaffen werden muss, der als Grundrecht gelten und vorzugsweise in den Verfassungen der Mitgliedstaaten verankert werden sollte.

4.5.2.

Der EWSA schlägt vor, dass die Erfüllung dieser Bedürfnisse (z. B. dank der Trinkwasserversorgung, Stromversorgung, Abwasserentsorgung oder -behandlung, asphaltierte Straßen, Müllentsorgung, Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen usw.) die Grundvoraussetzung für weitere Investitionen in die Stadtentwicklung und für den Erhalt und die Verwendung von Subventionen sein muss.

4.5.3.

Unbegründeten und illegalen Räumungsverfahren muss ein Ende gesetzt und es muss dafür gesorgt werden, dass die davon betroffenen Romnija den verfügbaren und zugänglichen spezifischen Rechtsschutz in Anspruch nehmen können. Für die traumatisierten weiblichen Opfer dieser Zwangsräumungen muss eine entsprechende Versorgung sichergestellt werden.

4.6.   Abschaffung der Gewaltstrukturen

4.6.1.

Romnija und Roma-Mädchen sind in Situationen der Diskriminierung und Segregation besonders gefährdet und können leicht zu Opfern von Gewaltverbrechen werden. Sie sind unverhältnismäßig oft von allen bekannten Formen der Ausbeutung und des Menschenhandels betroffen.

4.6.2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass jegliche Form des Menschenhandels und die Gewalt gegenüber Romnija einen schweren Verstoß gegen die grundlegenden Menschenrechte darstellen, den die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausdrücklich verbietet, und die Mitgliedstaaten dementsprechend vorgehen sollten (6). Dabei handelt es sich um schwere Verbrechen, mit denen auf eine Nachfrage reagiert wird und die in verschiedenster Form äußerst einträchtige Geldquellen der internationalen organisierten Kriminalität darstellen, deren Opfer in unverhältnismäßig hohem Maße Romnija und Roma-Kinder sind.

4.6.3.

Der EWSA hofft, dass die Mitgliedstaaten diese Straftaten, die in ständig neuen Formen auftreten, unverzüglich in ihr nationales Strafgesetz aufnehmen, gezielte und koordinierte rechtliche Maßnahmen dagegen ergreifen und die Kanäle des unter Einsatz von Gewalt erzielten Profits unterbrechen und wenn möglich beseitigen. Es gilt, den sozioökonomischen Hintergrund dieser Verbrechen umfassend zu analysieren, die Umstände für das Elend, die Diskriminierung und die Gefährdung zu bestimmen und die für ihre Behebung notwendigen gesellschaftspolitischen Maßnahmen (strategisch, juristisch, finanziell sowie in Bezug auf Bildung und Forschung) konsequent zu ergreifen.

4.6.4.

Gewalt gegen Romnija geht sowohl von der Mehrheitsgesellschaft als auch von ihrer eigenen Gemeinschaft aus. Auf jeden Fall muss entschlossen gegen individuelle und organisierte Gewalt vorgegangen werden. Dabei ist ein opfer- und geschlechtsspezifischer Ansatz zu verfolgen, der der besonderen Gefährdung der Frauen und Kinder und ihrem speziellen Schutz Rechnung trägt und auf den Menschenrechten beruht.

4.6.5.

Der EWSA begrüßt, dass die EU mit der Unterzeichnung durch die Europäische Kommission Vertragspartei des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt geworden ist, das allgemein als Übereinkommen von Istanbul bekannt ist. Der EWSA drängt darauf, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union das Übereinkommen ratifizieren und ohne Vorbehalte und unter Beachtung der außergewöhnlichen Gefährdung, der Romnija in diesem Bereich ausgesetzt sind, entschlossen umsetzen.

4.6.6.

Romnija und Roma-Mädchen sind außerdem in unverhältnismäßig hohem Maße Ziel und Opfer von Hassverbrechen — insbesondere Hetze. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, um den Zugang der Betroffenen zur Justiz zu erleichtern, und mit Hilfe der Organisationen der Zivilgesellschaft Instrumente vorgesehen werden, die eine Sensibilisierung für die Aufdeckung dieser Art von Straftat ermöglichen.

4.6.7.

Der EWSA unterstützt die geografische Ausdehnung und Umsetzung von JUSTROM, des gemeinsamen Programms des Europarats und der Europäischen Kommission, um Romnija den Zugang zur Justiz zu garantieren.

4.6.8.

Er macht darauf aufmerksam, dass auch alle institutionellen Formen des Antiziganismus und der Segregation als eine Form von Gewalttat betrachtet werden können. Er unterstreicht die Notwendigkeit des Schutzes vor Straftaten dieser Art, die in staatlichen und staatlich unterstützten Versorgungseinrichtungen (Kinderschutzeinrichtungen, Sozialdienste und Gesundheitsversorgung) bzw. bei der Exekutive (Polizei, Strafverfolgung, Strafvollzug) begangen werden und denen Romnija besonders ausgesetzt sind. Er weist darauf hin, wie wichtig es ist, in diesen Fällen für einen leicht zugänglichen und kostenlosen Rechtsschutz zu sorgen.

4.6.9.

Die nationale und internationale Gesetzgebung muss den Begriff der erzwungenen Frühverheiratung als eine Form des Menschenhandels definieren und dementsprechend vorgehen. Für die Opfer der erzwungenen Kinderehe müssen alle Präventions- und Schutzinstrumente und -programme im Zusammenhang mit der Straftat des Menschenhandels zugänglich gemacht werden.

4.7.   Einbeziehung und Teilnahme

4.7.1.

Romnija erhalten sehr wenige Möglichkeiten, die Politik, die ihr Leben beeinflusst, mitzugestalten und zu bewerten. Deshalb betont der EWSA, dass nach dem Grundsatz „Nichts über uns ohne uns!“, die Einbeziehung von Romnija in entsprechendem Maße unbedingt notwendig ist, wenn Programme im Zusammenhang mit ihnen oder ihren Gemeinschaften erstellt, geplant, durchgeführt und bewertet werden. Laut Vorschlag des EWSA sollten Romnija im Falle von ausdrücklich an sie gerichteten Programmen mindestens die Mehrheit, bei die Roma-Gemeinschaften betreffenden Programmen mindestens 30 % der aktiven Teilnehmer ausmachen. Es muss ein Bewertungssystem erarbeitet werden, mit dem sich diese Verhältnisse auf zuverlässige Weise feststellen lassen.

4.7.2.

Der EWSA empfiehlt, dass diese Verhältnisse in Gremien für die staatliche und regionale Inklusionspolitik (staatliche, regionale, lokale Koordinierungsräte, Anti-Segregierungsausschüsse usw.) ebenso auf überprüfbare Weise Anwendung finden.

4.7.3.

Er fordert die Regierungen und staatlichen Stellen auf, einen tatsächlichen und inhaltlichen politischen Dialog mit Vertreterinnen der Romnija auf jeder Organisationsebene der Gesellschaft zu führen und für diesen Dialog einen institutionellen Rahmen zu schaffen. Er empfiehlt, hierfür Rechtsinstitutionen wie z. B. Frauenausschüsse im Rahmen der nationalen Roma-Plattformen zu schaffen, in denen die Romnija gezielt für ihre Vertretung sorgen können, oder die Einsetzung eines unabhängigen Beauftragten für die Romnija.

4.7.4.

Der Ausschuss macht darauf aufmerksam, dass sowohl bei der derzeitigen europäischen Rahmenstrategie als auch den nationalen Strategien zur Integration der Roma der einzelnen Mitgliedstaaten fast durchgehend die Perspektive der Romnija fehlt oder nur in sehr geringem Maße beachtet wird. Sowohl bei den Prozessen nach 2020 als auch bei der Konzipierung der künftigen Strategien für die soziale Inklusion muss der Meinung der Vertreterinnen der Romnija deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A12012M%2FTXT.

(2)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:12012P/TXT&from=en.

(3)  http://fra.europa.eu/en/project/2015/eu-midis-ii-european-union-minorities-and-discrimination-survey/publications.

(4)  ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 16, ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 110, ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 21.

(5)  Von den zahlreichen bislang von der Roma-Gemeinschaft, den für die Rechte der Roma eintretenden Organisationen der Zivilgesellschaft, Wissenschaftlern, internationalen Organisationen und dem EWSA formulierten Vorschlägen werden in der vorliegenden Stellungnahme an dieser Stelle nur diejenigen genannt, die von besonderer Bedeutung für die Durchsetzung der Rechte der Romnija sind.

(6)  Artikel 5 Absatz 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/26


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Geschlechtergleichstellung auf dem Arbeitsmarkt in Europa“

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des Europäischen Parlaments)

(2019/C 110/05)

Berichterstatterin:

Helena DE FELIPE LEHTONEN

Befassung

Europäisches Parlament, 3.5.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 1 der Geschäftsordnung

Beschluss des Plenums

DD/MM/YYYY

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

151/2/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) vertritt die Auffassung, dass es für eine Verbesserung der Geschlechtergleichstellung auf dem Arbeitsmarkt notwendig ist, eine integrierte und ehrgeizige europäische Strategie zu entwerfen, mit der systeminhärente und strukturelle Hindernisse überwunden sowie Konzepte, Maßnahmen und EU-Förderprogramme umgesetzt werden können, die die Gleichstellung von Frauen und Männern verbessern und so für beide Geschlechter eine annähernd gleiche wirtschaftliche Unabhängigkeit schaffen. Dies würde auch zur Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte beitragen.

1.2.

In dieser Stellungnahme wird erneut hervorgehoben, dass einige wohlbekannte Probleme nachdrücklicher anzugehen sind, darunter das geschlechtsspezifische Lohngefälle und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, zu denen der EWSA bereits Stellungnahmen (1) erarbeitet hat.

1.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass weitere Anstrengungen zur Bekämpfung des nach wie vor existenten geschlechtsspezifischen Lohngefälles unternommen werden müssen. Er unterstützt uneingeschränkt die Ziele der „Equal Pay International Coalition“‚ nach denen auf die Beseitigung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles bis 2030 hingearbeitet werden soll. Er bedauert, dass die Empfehlung der Europäischen Kommission zur Lohntransparenz aus dem Jahr 2014 in der Praxis kaum aufgegriffen wurde, und fordert die Mitgliedstaaten und die EU nachdrücklich dazu auf, die für eine beschleunigte Umsetzung erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

1.4.

Der EWSA erinnert daran, dass Lohntransparenz und Lohnprüfungen erheblich zur Bekämpfung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles beitragen (2). Er empfiehlt geschlechtsneutrale Entgeltsysteme, die Unvoreingenommenheit bei der Entlohnung und Einstellung von Arbeitskräften gewährleisten.

1.5.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass verstärkt Maßnahmen gegen die horizontale Geschlechtertrennung im Bildungswesen, in der Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt getroffen werden müssen. Es sollten Sensibilisierungskampagnen und andere Maßnahmen ergriffen werden, um die Geschlechterstereotype und die Geschlechtertrennung in der allgemeinen und beruflichen Bildung sowie bei der Berufswahl und im weiteren Arbeitsleben unter umfassender Nutzung der neuen Technologien anzugehen. Eine bessere Entlohnung und bessere Arbeitsbedingungen in von Frauen dominierten Branchen könnten mehr Männer zum Anlass nehmen, diese Berufe zu ergreifen.

1.6.

Zudem müssen im Rahmen eines bereichsübergreifenden Ansatzes mehr Anstrengungen zur Integration von Frauen mit besonderem Schutzbedarf in den Arbeitsmarkt sowie zu deren Stärkung unternommen werden (3).

1.7.

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Kommission, im Rahmen des Europäischen Semesters stärkeres Augenmerk auf die Kinderbetreuung und die Langzeitpflege zu legen. Dies sollte auch mittel- und langfristig eine Priorität darstellen. Der EWSA befürwortet erneute Überlegungen mit den Mitgliedstaaten darüber, wie die im Jahr 2002 beschlossenen Barcelona-Ziele zur Kinderbetreuung noch ehrgeiziger gestaltet und auf die Betreuung sonstiger abhängiger Personen ausgeweitet werden können.

1.8.

Der EWSA fordert das Parlament und den Rat auf, neue und angemessene Indikatoren in die künftigen europäischen Strukturfonds aufzunehmen, damit der finanzielle Beitrag der EU zu den verschiedenen Betreuungsleistungen und zur Geschlechtergleichstellung besser nachvollzogen werden kann.

1.9.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag zum ESF+ im Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027, in dem vorgesehen ist, die Gleichstellung von Frauen und Männern und die Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt mithilfe von Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und des Zugangs zu Kinderbetreuung und weiteren Betreuungsdiensten zu fördern. Er vertritt jedoch auch die Auffassung, dass bei der Zuweisung von EU-Mitteln stärker auf die Gleichstellung der Geschlechter geachtet werden sollte und diese als eigenständiges Ziel festgelegt und nicht mit den Zielen der Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus zusammengefasst werden sollte.

1.10.

Ferner begrüßt der EWSA das Programm InvestEU für den Zeitraum 2021-2027, aus dem Investitionen in die soziale Infrastruktur gefördert werden. Der EWSA fordert das Parlament und den Rat auf, diese neue Möglichkeit nachdrücklich zu unterstützen, um die für die Kinderbetreuung (und Betreuung nach der Schule) notwendigen Investitionen anzustoßen.

1.11.

Es besteht Nachholbedarf bei der unternehmerischen Tätigkeit von Frauen, die gefördert werden sollte, damit das enorme Potenzial der digitalen Wirtschaft und der technologischen Innovationen ausgeschöpft werden kann. Der Zugang zu Finanzmitteln muss verbessert und der Wechsel zwischen den verschiedenen Beschäftigungsformen erleichtert werden.

2.   Hintergrund und Herausforderungen

2.1.

Die vorliegende EWSA-Stellungnahme wurde auf Ersuchen des Europäischen Parlaments um eine Sondierungsstellungnahme zur „Geschlechtergleichstellung auf dem Arbeitsmarkt in Europa“ ausgearbeitet. Auf Ersuchen des Parlaments werden darin die Auswirkungen der Maßnahmen bewertet, die die Kommission in ihrer Empfehlung zur Stärkung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Frauen und Männer durch Transparenz dargelegt hat, sowie die Notwendigkeit für weitere Maßnahmen zur Bekämpfung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles.

2.2.

In Artikel 2 und Artikel 3 Absatz 3 des EU-Vertrags sowie in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wird das Recht auf Gleichstellung von Frauen und Männern als einer der Grundwerte der Union anerkannt, weshalb dessen Wahrung per se eine wichtige Aufgabe darstellt. Im Rahmen der europäischen Säule sozialer Rechte ist die Geschlechtergleichstellung und das Recht auf gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit als einer von 20 Grundsätzen festgeschrieben, die für faire und gut funktionierende Arbeitsmärkte und Sozialsysteme wesentlich sind.

2.3.

Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten fördern die Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt mit einer Mischung aus legislativen und nichtlegislativen Instrumenten, Empfehlungen, politischen Leitlinien und finanzieller Unterstützung. In ihrem Dokument „Strategisches Engagement für die Gleichstellung der Geschlechter 2016-2019“ bekräftigte die Europäische Kommission die Prioritäten, für die es sich einzusetzen gilt: gleiche wirtschaftliche Unabhängigkeit für Frauen und Männer, gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit, Gleichstellung in Entscheidungsprozessen, Würde, Unversehrtheit und Beendigung der geschlechtsspezifischen Gewalt sowie Förderung der Geschlechtergleichstellung über die EU hinaus.

2.4.

Im Jahr 2017 stieg die Frauenerwerbsquote langsam aber stetig und im gleichen Tempo wie jene der Männer auf ein historisches Hoch von 66,5 % gegenüber 78,1 % bei den Männern an. Die geschlechtsspezifische Diskrepanz bei der Beschäftigung ist jedoch mit 11,5 Prozentpunkten seit 2013 unverändert. Darüber hinaus ist es sehr unwahrscheinlich, dass das EU-Ziel für 2020 erreicht wird, demgemäß die Erwerbsquote bei Frauen und Männern 75 % betragen soll. Der Gleichstellungsindex stieg von 62 Punkten im Jahr 2005 auf 65 Punkte im Jahr 2012, jedoch nur auf 66,2 Punkte im Jahr 2015, was teilweise auf die Krise zurückzuführen ist. In einer Reihe von Mitgliedstaaten wurden bei den Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise die negativen Auswirkungen auf die Geschlechtergleichstellung nicht entsprechend berücksichtigt.

2.5.

Trotz der insgesamt erzielten Fortschritte bei der Geschlechtergleichstellung auf den europäischen Arbeitsmärkten gibt es nach wie vor Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern. Die horizontale und die vertikale Geschlechtertrennung tragen erheblich zum unbereinigten geschlechtsspezifischen Gefälle beim Bruttostundenlohn bei, das derzeit 16 % beträgt. Das Gefälle wird dadurch noch weiter verstärkt, dass Frauen deutlich häufiger in Teilzeit und in Niedriglohnbranchen arbeiten und mehr Elternurlaub nehmen, was zu Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit, seltenerem beruflichen Aufstieg und niedrigeren Rentenansprüchen führt.

2.6.

Das derzeitige geschlechtsspezifische Beschäftigungsgefälle hat für die EU erhebliche wirtschaftliche und soziale Verluste zur Folge, die sich Schätzungen zufolge auf 370 Mrd. EUR pro Jahr belaufen. Angesichts der demografischen Herausforderungen und des Schrumpfens der Bevölkerung im Erwerbsalter muss Europa das Arbeitsmarktpotenzial aller Frauen umfassend ausschöpfen, wobei auch den Faktoren Rasse, ethnische Herkunft, soziale Schicht, Alter, sexuelle Orientierung, Staatsangehörigkeit, Religion, Geschlecht, Behinderung, Flüchtlings- oder Migrantinnenstatus usw. Rechnung getragen werden muss, da diese besondere Hindernisse für die Integration in den Arbeitsmarkt darstellen können.

2.7.

Während Frauen häufiger schlechter bezahlte Tätigkeiten ausüben, für die geringere Qualifikationen notwendig sind, wie im Gesundheits- und Sozialbereich, in der Bildung, in der öffentlichen Verwaltung und im Einzelhandel, sind Männer im Ingenieurswesen, im Bau und im Verkehrsbereich überrepräsentiert. Der Mangel an Männern in Bildungs-, Gesundheits- und Sozialberufen nimmt weiter zu und wird durch das Fehlen von Vorbildern sowie durch die häufig weniger attraktiven Arbeitsbedingungen und die schlechtere Bezahlung noch verstärkt. Frauen wiederum sind in den MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) unterrepräsentiert. Im Jahr 2016 waren nur 17 % der IKT-Spezialisten in Europa weiblich.

2.8.

Während im EU-Rat über neue EU-Vorschriften beraten wird (Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben), bringt eine Mutterschaft für Frauen nach wie vor berufliche Nachteile mit sich. Die Diskriminierung von Schwangeren und Wöchnerinnen ist in vielen Mitgliedstaaten nach wie vor ein Problem. Das Beschäftigungsgefälle ist bei Müttern und Frauen mit Betreuungspflichten besonders ausgeprägt. Im Jahr 2016 waren mehr als 19 % der nicht erwerbstätigen Frauen deshalb nicht berufstätig, weil sie sich um Kinder oder Erwachsene kümmern mussten. Die Erwerbsquote von Frauen mit einem Kind im Alter von unter sechs Jahren liegt 9 % unter jener von Frauen ohne Kinder — in einigen Ländern beträgt dieser Unterschied sogar bis zu 30 %.

2.9.

Der EWSA ist ernsthaft besorgt über das Ausmaß der sexuellen Belästigung, der Frauen am Arbeitsplatz ausgesetzt sind, und über zunehmendes Cyber-Mobbing gegen Frauen. Er weist darauf hin, dass die Durchsetzung der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (4) zum Verbot von Belästigung und Diskriminierung am Arbeitsplatz verbessert werden muss (5).

2.10.

Der EWSA fordert auch, allgemeine sowie spezifische Maßnahmen für Frauen aus Gruppen mit besonderem Schutzbedarf zu ergreifen, da diese häufig mit größeren Schwierigkeiten beim Zugang zum Arbeitsmarkt konfrontiert sind. Er unterstreicht die Notwendigkeit eines bereichsübergreifenden Ansatzes, um die Arbeitsmarktchancen von Frauen zu erhöhen, die mit Mehrfachdiskriminierung konfrontiert sind.

2.11.

Es gibt nach wie vor zu wenig Unternehmerinnen. Frauen stellen zwar 52 % der Gesamtbevölkerung Europas, allerdings nur 34,4 % der Selbstständigen und 30 % der Unternehmensgründerinnen in der EU. Die materielle Situation von Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, ist schlechter als jene von selbständigen Männern. 76,3 % der selbstständig erwerbstätigen Frauen in der EU-28 arbeiten ohne Angestellte — bei den selbständigen Männern sind dies nur 69 %. Dementsprechend sind Männer häufiger Inhaber eines Unternehmens mit Angestellten, wohingegen Frauen häufiger ohne Angestellte selbstständig tätig und somit einem höheren Risiko ausgesetzt sind, ein niedrigeres Einkommen zu erzielen. Die Kreativität und das unternehmerische Potenzial von Frauen werden nicht genug zur Schaffung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung genutzt und müssen im Hinblick auf die Gründung erfolgreicher Unternehmen weiterentwickelt werden.

2.12.

Teilzeitarbeit kann ein wertvolles Instrument zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben von Frauen und Männern sein. Dennoch arbeiten Frauen häufiger Teilzeit als Männer (über 70 % der Teilzeitarbeitskräfte sind weiblich), und der Frauenanteil in den Niedriglohnbranchen (Einzelhandel, Reinigung und Pflege) ist weiter gestiegen. Die Quote von Menschen, die nicht aus freien Stücken teilzeitbeschäftigt sind, gibt sowohl für Frauen als auch für Männer weiterhin Anlass zur Besorgnis. Das Ziel, das sich die EU gesetzt hat — bis 2020 eine Erwerbsquote von 75 % zu erreichen — lässt sich nur mittels einer integrierten Strategie verwirklichen, bei der ein kohärenter Policy-Mix mit Maßnahmen verknüpft wird, die die Teilhabe am Arbeitsmarkt verbessern, hochwertige Arbeitsplätze schaffen, die Gleichbehandlung bei der Beschäftigung sicherstellen und eine ausgewogene Aufteilung der Betreuungspflichten auf beide Elternteile bzw. zwischen den Betreuungspersonen sonstiger betreuungsbedürftiger Angehöriger fördern.

3.   Weitere Bereiche mit Handlungsbedarf im Hinblick auf die Gewährleistung der Geschlechtergleichstellung auf den europäischen Arbeitsmärkten

3.1.   Schaffung von Lohntransparenz zur Beseitigung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles

3.1.1.

Das geschlechtsspezifische Lohngefälle ist eines der nachhaltigsten Hindernisse für die Gleichstellung der Geschlechter auf den Arbeitsmärkten und in der Gesellschaft sowie für das Wirtschaftswachstum. Der EWSA unterstützt uneingeschränkt die globale Initiative „Equal Pay International Coalition“ (EPIC) unter der Leitung der ILO, UN Women und der OECD, die von Regierungen, Arbeitgebern, Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft mitgetragen wird und das Ziel verfolgt, das geschlechtsspezifische Lohngefälle bis 2030 zu überwinden. Der EWSA fordert die EU auf, ihre diesbezüglichen Maßnahmen zu verstärken, um sicherzustellen, dass das geschlechtsspezifische Lohngefälle in der EU bis 2030 beseitigt wird.

3.1.2.

Der EWSA bekräftigt seine Empfehlungen zum Aktionsplan der EU zur Bekämpfung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles (6). Zudem ist der EWSA der Auffassung, dass die Neufassung der Richtlinie 2006/54/EG über Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen und die Empfehlung 2014/124/EU der Kommission zur Stärkung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Frauen und Männer durch Transparenz wirksam zur Bekämpfung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles beigetragen und weiterhin ihre Berechtigung haben. Allerdings sind weitere Anstrengungen nötig. 2013 kam die Kommission in ihrem Bericht über die Anwendung der Richtlinie 2007/43/EG zu dem Schluss, dass die praktische Anwendung der Bestimmungen zur Lohngleichheit in den Mitgliedstaaten einer der Hauptproblembereiche der Richtlinie ist.

3.1.3.

EPIC hat festgestellt, dass ein Mangel an Lohntransparenz bei der unterschiedlichen Entlohnung von Männern und Frauen eine wichtige Rolle spielt und dass eine erhöhte Lohntransparenz dazu beitragen kann, das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen zu verringern. Lohntransparenz kann wesentlich zur Bekämpfung möglicher Lohndiskriminierung beitragen. Der EWSA bedauert, dass die Empfehlung zur Lohntransparenz aus dem Jahr 2014 in der Praxis kaum aufgegriffen wurde. Zwar haben die meisten Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Verbesserung der Lohntransparenz getroffen, in einem Drittel der Länder gibt es jedoch keinerlei Maßnahmen dieser Art. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, die Umsetzung der Empfehlung zu beschleunigen, indem z. B. die Möglichkeit geschaffen wird, dass Einzelpersonen Informationen zum Entgeltniveau einfordern und Arbeitgeber in Unternehmen einer noch festzulegenden Größe Berichte über die Entgelte vorlegen bzw. Lohnprüfungen durchführen, da dies eine faire Vorgehensweise bei der Einstellung von Arbeitskräften und ihrer Entlohnung fördern würde. Darüber hinaus gilt es zu berücksichtigen, dass die Privatsphäre (und der Schutz der Daten) von Arbeitnehmern sowie die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern insgesamt umfassend gewahrt werden müssen.

3.1.4.

Im Hinblick auf die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts und zum Abbau des geschlechtsspezifischen Lohngefälles sind bessere Synergien zwischen den verschiedenen zur Verfügung stehenden Maßnahmen erforderlich. Besonders empfehlenswert sind geschlechtsneutrale Entgeltsysteme, da sie eine unvoreingenommene Herangehensweise bei der Einstellung und Entlohnung von Arbeitskräften fördern.

3.1.5.

Die Sozialpartner sind am besten in der Lage, den Wert von Qualifikationen und Berufen neu zu bewerten. Der soziale Dialog und Tarifverhandlungen können einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung dieses Ziels sowie zur Beseitigung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles leisten.

3.1.6.

Auf europäischer Ebene wird das Lohngefälle auch im Rahmen des Europäischen Semesters angegangen. 2017 wurde in den Länderberichten zu neun Mitgliedstaaten auf das geschlechtsspezifische Lohngefälle hingewiesen. Gegenüber zwölf Mitgliedstaaten wurden länderspezifische Empfehlungen ausgesprochen, in denen der Schwerpunkt vor allem auf Investitionen in Kinderbetreuungseinrichtungen, auf negativen Steueranreizen sowie auf weiteren Maßnahmen im Zusammenhang mit dem geschlechtsspezifischen Lohngefälle lag.

3.1.7.

Insbesondere ist auf eine Sensibilisierung für unbewusste Vorurteile oder die Verstärkung des Lohngefälles bei Einstellung oder Beförderung zu achten. Auch die Unterstützung durch Unternehmensorganisationen und die Zusammenarbeit von Sozialpartnern, Behörden und Gleichstellungseinrichtungen sind wesentlich, um angemessene Lösungen zu finden und so das geschlechtsspezifische Lohngefälle zu verringern.

3.2.   Bildung, Geschlechtertrennung und Stereotype

3.2.1.

Die nach wie vor bestehende horizontale Geschlechtertrennung in Bildung, Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt, die auf Stereotypen und Hürden auf dem Arbeitsmarkt beruht, muss schon ab der frühen Kindheit angegangen werden. Zwischen dieser Segregation und dem geschlechtsspezifischen Lohngefälle besteht ein enger Zusammenhang. Die Tendenz, bestimmte Berufe — und selbst Führungspositionen — unterzubewerten, sollte deutlicher aufgezeigt werden. Eine bessere Entlohnung und bessere Arbeitsbedingungen in von Frauen dominierten Branchen könnten mehr Männer zum Anlass nehmen, diese Berufe zu ergreifen, und würden somit auch der geschlechtsspezifischen Trennung in der Berufswelt entgegenwirken.

3.2.2.

Auch wenn Frauen im Rahmen der allgemeinen und beruflichen Bildung erfolgreicher sind, sehen sie sich zahlreichen Hindernissen gegenüber, wenn sie eine Laufbahn in bestimmten männlich dominierten Branchen wie IKT anstreben. Zwar entscheiden sich auch Mädchen für ein Studium oder eine Ausbildung in MINT-Berufen, jedoch üben nur 10 % der Frauen später auch einen Beruf in diesem Bereich aus. Die Geschlechtertrennung und die Stereotype in der Bildung müssen daher stärker angegangen und die vorgenannten Branchen bei Frauen stärker beworben werden.

3.2.3.

Der Mangel an Männern in Bildungs-, Gesundheits- und Sozialberufen nimmt besorgniserregende Ausmaße an. Der EWSA fordert Sensibilisierungskampagnen und die Förderung von Vorbildern auf europäischer und nationaler Ebene, um Frauen für IKT- und MINT-Berufe und Männer für Bildungs-, Gesundheits- und Sozialberufe zu begeistern.

3.3.   Betreuungsdienste zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben

3.3.1.

Eine der wesentlichen Herausforderungen für Eltern und Personen mit Betreuungspflichten besteht darin, Berufs-, Privat- und Familienleben in Einklang zu bringen. Frauen sind überdurchschnittlich stark betroffen, da sie in der Regel die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger übernehmen. Für Alleinerziehende und Personen aus besonders schutzbedürftigen Gruppen ist es besonders schwer, Beruf und Privatleben besser zu vereinbaren. Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission zur Anhebung der Erwerbstätigkeit von Eltern, durch die diesen eine bessere Vereinbarung von Berufs- und Privatleben ermöglicht werden soll.

3.3.2.

Die Aufteilung der elterlichen bzw. sonstiger Betreuungspflichten ist daher wesentlich, wenn es darum geht, für eine gleiche Teilhabe am Arbeitsmarkt zu sorgen (7). Väter nehmen Vaterschafts- und Elternurlaub kaum in Anspruch und in der Regel nur dann, wenn dieser bezahlt ist. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, die Anreize für Männer schaffen, sich mehr in das Familienleben einzubringen, wobei auch die möglichen Kosten und der organisatorische Aufwand zu berücksichtigen sind, der hierdurch für Unternehmen und insbesondere KMU entsteht.

3.3.3.

Da Betreuungspflichten einer der Hauptgründe für die niedrige Frauenerwerbsquote sind, kommt den Barcelona-Zielen, die allerdings noch nicht ausreichend umgesetzt wurden entscheidende Bedeutung zu. Es ist belegt, dass Kinderbetreuungseinrichtungen und die Erwerbsquote von Frauen positiv miteinander korrelieren. Der EWSA bedauert, dass die Barcelona-Ziele auch 15 Jahre nach ihrer Annahme nur in einer solch geringen Anzahl von Ländern umgesetzt wurden. Er fordert im Falle einer Überarbeitung ehrgeizigere Zielvorgaben, um einen Anreiz zur Förderung der Geschlechtergleichstellung zu schaffen.

Die Erschwinglichkeit und der Zugang zu Kinderbetreuung und sonstigen Betreuungsdiensten sind insbesondere für Familien mit geringerem Einkommen nach wie vor problematisch. Daher kommt es auf einen guten Mix aus hochwertigen öffentlichen und privaten Betreuungseinrichtungen an. Darüber hinaus stellen die Öffnungszeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen noch immer ein echtes Problem für berufstätige Eltern dar.

3.3.4.

Der EWSA weist außerdem darauf hin, dass berufstätige Eltern auf außerschulische Kinderbetreuungsmöglichkeiten angewiesen sind. Diese sollten in jenen Ländern zur Verfügung gestellt werden, in denen der Schultag früh endet und Eltern sich aus diesem Grund eher für eine Berufstätigkeit in Teilzeit entscheiden. Es sind zusätzliche Daten notwendig, um das Ausmaß und die Auswirkungen dieses strukturellen Problems auf die Geschlechtergleichstellung auf dem Arbeitsmarkt abschätzen zu können.

3.3.5.

Das Wachstum der Betreuungs- und Pflegebranche bietet erhebliche Chancen für den Arbeitsmarkt, die bislang nicht genutzt wurden, und erfordert aufgrund der nach wie vor starken Geschlechtertrennung sowie der häufig schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Entlohnung besondere Aufmerksamkeit. Wie vom EWSA bereits gefordert, müssen Daten zu den verschiedenen Aspekten bezahlter Betreuungs- und Pflegesysteme und der diesbezüglichen Präferenzen in Europa gesammelt werden. Dabei gilt es auch, die rasch wachsende Branche der häuslichen Pflege und den speziellen Fall der im Haushalt lebenden Pflegekräfte (8) zu berücksichtigen, die häufig in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Heimatland arbeiten oder aus Drittländern stammen und von schlechten Arbeitsbedingungen und schlechter Bezahlung berichten. Der EWSA fordert die Kommission auf, eine integrierte Strategie für den Betreuungs- und Pflegebereich anzunehmen.

3.3.6.

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Kommission, im Rahmen des Europäischen Semesters und der an die Mitgliedstaaten gerichteten länderspezifischen Empfehlungen stärkeres Augenmerk auf die Kinderbetreuung und die Langzeitpflege zu legen.

3.4.   Finanzierung der Geschlechtergleichstellung: der mehrjährige Finanzrahmen

3.4.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag zum ESF+ im Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027, in dem vorgesehen ist, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Chancengleichheit, die Nichtdiskriminierung und die Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt mithilfe von Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben sowie des Zugangs zu Kinderbetreuung zu fördern. Der EWSA fordert sowohl die EU-Organe als auch die Mitgliedstaaten auf, seine Empfehlungen zur Förderung der Geschlechtergleichstellung aus dem ESF+ umzusetzen (9).

3.4.2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass bei der Zuweisung von EU-Mitteln stärker auf die Gleichstellung der Geschlechter geachtet werden sollte. Der EWSA befürchtet, dass die Verschmelzung der Ziele der Gleichstellung von Frauen und Männern, der Bekämpfung von Diskriminierung und der Bekämpfung von Rassismus zu einem einzigen Ziel das Bewusstsein für die einzelnen Punkte verwischt und der Klarheit der den jeweiligen Bereichen zugewiesenen Beträge zuwiderläuft. Es sollten Überlegungen dazu angestellt werden, wie sich dieses Problem am besten lösen lässt.

3.4.3.

Der EWSA betont, dass in hochwertige, erschwingliche und leicht zugängliche Betreuungs- und Pflegedienste bzw. -einrichtungen für alle investiert werden muss. Der Kommissionsvorschlag zum ESF+ stellt mit den geplanten zusätzlichen Investitionen in die Kinderbetreuung einen Schritt in die richtige Richtung dar. Diese Finanzierung sollte — aufbauend auf bewährten Vorgehensweisen, die von der Kommission dokumentiert werden sollten — weiter ausgebaut werden.

3.4.4.

Der EWSA begrüßt auch das im Mehrjährigen Finanzrahmen 2012-2017 vorgesehene Programm InvestEU sowie dessen Schwerpunkt, der auf der Förderung von Investitionen in die soziale Infrastruktur liegen soll, was sich positiv auf die Geschlechtergleichstellung auswirken könnte.

3.4.5.

Der EWSA ist jedoch besorgt darüber, dass derzeit nicht bewertet wird, wie die Mitgliedstaaten die Fördermittel für die Bereitstellung von Betreuungsdiensten einsetzen. Hier muss in den nächsten Finanzierungsprogrammen Abhilfe geschaffen werden, indem in die künftigen Strukturfonds einschließlich ESF+ entsprechende Indikatoren für die Mitgliedstaaten aufgenommen werden, damit der finanzielle Beitrag der EU zu den verschiedenen Betreuungsleistungen und zur Geschlechtergleichstellung besser nachvollzogen werden kann.

3.5.   Steuer- und Leistungssysteme

3.5.1.

Es gibt Belege dafür, dass Frauen oft mit starken negativen wirtschaftlichen Anreizen konfrontiert sind, wenn sie beruflich tätig werden oder mehr arbeiten wollen, denn die Ausgestaltung der Steuersysteme kann auf Zweitverdiener — bei denen es sich meist um Frauen handelt — abschreckend wirken. Die unmittelbare Konsequenz hieraus ist, dass die Betroffenen keine oder geringere Beiträge in die Rentensysteme einzahlen, was schließlich zu niedrigeren Renten und sogar Armut führt.

3.5.2.

Im Rahmen des Europäischen Semesters wurde bereits betont, dass steuerliche Anreizsysteme so angepasst werden müssen, dass starke negative Anreize für Zweitverdiener, die beruflich tätig werden oder mehr arbeiten möchten, vermieden werden. Die Entwicklungen in den Mitgliedstaaten müssen entsprechend genau überwacht werden.

3.6.   Unternehmerinnen

3.6.1.

Das Unternehmertum bietet Frauen die Chance auf wirtschaftliche Unabhängigkeit, eine hochwertige Beschäftigung, eine erfolgreiche Berufslaufbahn sowie auf Befreiung aus Armut und sozialer Ausgrenzung. Darüber hinaus trägt es zu einer ausgewogeneren Beteiligung beider Geschlechter an Entscheidungsprozessen bei. Weibliches Unternehmertum muss gefördert werden, indem der Zugang zu und die Qualität von Sozialschutzmaßnahmen (10) verbessert werden und indem die unternehmerische Bildung in die Lehrpläne sowohl der allgemeinen als auch der beruflichen Bildung aufgenommen wird.

3.6.2.

Selbstständige Frauen sind öfter ohne abhängig Beschäftigte tätig und stärker dem Risiko von Erwerbsarmut ausgesetzt, wohingegen Männer häufiger Inhaber von Unternehmen mit Angestellten sind. Frauen sehen sich zudem verstärkt strukturellen Hürden beim Zugang zu Finanzierung sowie Stereotypen gegenüber, und oftmals mangelt es ihnen an Selbstvertrauen. Derartige Hürden gilt es abzubauen. Mentoring durch „Business Angels“ und neue Finanzierungsformen können hierbei hilfreich sein. Bestehende Netzwerke in Unternehmensorganisationen sollten aktiver gefördert und bekannt gemacht werden.

3.7.   Digitale Wirtschaft

3.7.1.

Die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, die sich aus der Globalisierung, dem technologischen Fortschritt und dem demografischen Wandel ergeben, können sowohl Arbeitnehmern als auch Unternehmern neue Perspektiven eröffnen. In den neu entstehenden und wachsenden Branchen (z. B. IKT, grüne Wirtschaft, Industrie 4.0, E-Commerce) bieten sich für Frauen viele Chancen auf einen gutbezahlten Arbeitsplatz. Der EWSA hat bereits auf das Problem der digitalen Kluft zwischen den Geschlechtern hingewiesen, die eine Reihe von Herausforderungen mit sich bringt, die angegangen werden müssen. Außerdem hat er Empfehlungen zur Überwindung der Ungleichheiten in den Bildungssystemen und auf den Arbeitsmärkten ausgesprochen (11).

3.7.2.

Um sicherzustellen, dass Frauen und Männer sich in der digitalen Wirtschaft selbstsicher bewegen, muss auf nationaler Ebene in Arbeits- und B2B-Verträgen für mehr Klarheit bezüglich der Rechte, Ansprüche auf Sozialleistungen und der Verpflichtungen gesorgt werden. Die allgemeine und die berufliche Bildung sollten im Zentrum der Strategien für die Förderung weiblicher Karrieren in den Bereichen IKT, MINT und grüne Wirtschaft stehen, und die Frage der Geschlechtergleichstellung sollte in allen Bereichen der Strategie für den digitalen Binnenmarkt berücksichtigt werden.

3.8.   Verbesserte Zusammenarbeit aller Akteure

3.8.1.

Der Rolle der Sozialpartner bei der Verhandlung von Tarifverträgen kommt im Hinblick auf die Lösung der multidimensionalen Frage der Geschlechtergleichstellung und des gleichen Entgelts auf den europäischen Arbeitsmärkten große Bedeutung zu. Im Jahr 2005 haben die Sozialpartner auf der EU-Ebene einen Aktionsrahmen zur Geschlechtergleichstellung sowie in der Folge gemeinsame Maßnahmen auf nationaler Ebene angenommen, um die Geschlechterrollen aufzubrechen, Frauen in Entscheidungspositionen zu fördern, die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zu verbessern und das geschlechtsspezifische Lohngefälle zu verringern. 2008 überarbeiteten sie ihre Vereinbarung über Elternurlaub aus dem Jahr 1996 (Richtlinie 2010/18/EU des Rates (12)), und im Jahr 2012 entwickelten sie ein Instrumentarium zur Verbesserung der Geschlechtergleichstellung in der Praxis.

3.8.2.

Auch die Organisationen der Zivilgesellschaft können einen nützlichen Beitrag zur Förderung der Geschlechtergleichstellung auf dem Arbeitsmarkt leisten, insbesondere für Personengruppen mit besonderem Schutzbedarf.

3.8.3.

Der EWSA fordert eine neue, ehrgeizige EU-Strategie zur Gewährleistung der Geschlechtergleichstellung auf den europäischen Arbeitsmärkten, die sorgfältig auf eine etwaige künftige EU-Beschäftigungsstrategie, die europäische Säule sozialer Rechte und die europäische Dimension der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung abgestimmt werden muss.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 44, ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 101.

(2)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 44.

(3)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 20.

(4)  ABl. L 204 vom 26.7.2006, S. 23.

(5)  ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 12; ABl. C 242 vom 23.7.2015, S. 9; ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 20.

(6)  ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 101.

(7)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 44.

(8)  ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 7.

(9)  Siehe EWSA-Stellungnahme „Europäischer Sozialfonds Plus“ (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 165).

(10)  ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 45.

(11)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 37.

(12)  ABl. L 68 vom 18.3.2010, S. 13.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/33


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Umsetzung des EU-Umweltrechts in den Bereichen Luftqualität, Wasser und Abfall“

(Sondierungsstellungnahme)

(2019/C 110/06)

Berichterstatter:

Arnaud SCHWARTZ

Befassung

Europäisches Parlament, 3.5.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

Sondierungsstellungnahme

Präsidiumsbeschluss

17.4.2018 (im Vorgriff auf die Befassung)

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

27.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

117/2/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt das Ziel der Überprüfung der Umsetzung des Umweltrechts (EIR-Initiative), einen Überblick über die Lage in den einzelnen Mitgliedstaaten zu geben, die maßgeblichen Lücken bei der Umsetzung des EU-Umweltrechts aufzuzeigen, Abhilfemaßnahmen zu empfehlen und denjenigen Mitgliedstaaten, die bei der Umsetzung in Verzug sind, durch das neue Instrument einer gegenseitigen Unterstützung zwischen den Experten der Mitgliedstaaten Hilfestellung zu bieten.

1.2.

Laut der einschlägigen Stellungnahme des EWSA (1) hat die EIR-Initiative klar ergeben, dass die unzureichende, fragmentierte und uneinheitliche Umsetzung des europäischen Umweltrechts ein ernsthaftes Problem in vielen Mitgliedstaaten der EU ist. Nach wie vor scheint eine Ursache der unzulänglichen Umsetzung laut EIR-Initiative der fehlende politische Wille vieler Regierungen in den Mitgliedstaaten zu sein, wesentliche Verbesserungen zu einer politischen Priorität zu machen und ausreichende Ressourcen zur Verfügung zu stellen (z. B. über den mehrjährigen Finanzrahmen — MFR). Der EWSA bekräftigt deshalb, dass die ordnungsgemäße Umsetzung des europäischen Umweltrechts im Interesse der EU-Bürger ist und einen echten wirtschaftlichen und sozialen Nutzen bringt.

1.3.

Der EWSA bestätigt ebenfalls seine in der vorgenannten Stellungnahme (2) vertretene Auffassung, dass eine wirksame Umsetzung der Umweltschutzmaßnahmen u. a. von der aktiven Mitwirkung der Zivilgesellschaft — Arbeitgeber, Arbeitnehmer und weiterer Vertreter der Gesellschaft — abhängt. In diesem Sinne wiederholt der EWSA seine Forderung nach einer umfangreicheren und strukturierten Einbeziehung der Zivilgesellschaft, um die EIR-Initiativen zu stärken. Nach Meinung des EWSA müssen die Organisationen der Zivilgesellschaft auf nationaler Ebene Gelegenheit haben, ihr Fachwissen und ihre Erkenntnisse in die Länderberichte einzubringen sowie zu den länderspezifischen strukturierten Dialogen und den Folgemaßnahmen beizutragen. Deshalb ist der EWSA weiterhin bereit, im Rahmen einer wirklich nachhaltigen und kreislauforientierten Wirtschaft eine Mittlerfunktion für den Dialog mit der Zivilgesellschaft auf EU-Ebene wahrzunehmen.

1.4.

Im Hinblick auf die Verbesserung der Rechtskonformität und der Governance im Umweltbereich betont der EWSA im Einklang mit seiner Stellungnahme „Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik“ (3) erneut, dass die gegenwärtigen Missstände das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wirksamkeit des EU-Rechts untergraben, und fordert die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission nochmals auf, umfangreiche Finanzmittel zu mobilisieren, um zusätzliches Personal zur Überwachung der Durchführung der Umweltordnungspolitik und des Umweltrechts einzustellen.

1.5.

Der EWSA betont, dass in einigen Fällen auch Umweltinvestitionen, eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit oder ein starker Durchsetzungsapparat erforderlich sind. Auch wenn es zwar bereits Umweltinspektoren gibt, benötigen die EU und ihre Mitgliedstaaten außerdem Fachrichter und Fachstaatsanwälte.

1.6.

Der EWSA weist ebenfalls aufs Neue (4) darauf hin, das neben Initiativen zur Information und Sensibilisierung der Mitgliedstaaten und der Öffentlichkeit im Hinblick auf die einzuhaltenden Vorschriften auch Maßnahmen zur Überwachung und Durchsetzung auf EU-Ebene durch die Europäische Kommission als „Hüterin der Verträge“ ergriffen werden müssen. Im Aktionsplan (5) nämlich wird den Gründen für Rechtsverstöße, beispielsweise Opportunismus oder fehlendem politischem Willen, nicht Rechnung getragen. Ungeachtet der notwendigen Unterstützung der Mitgliedstaaten kann dieser Aktionsplan wirklich nicht nur auf „weiche“ Maßnahmen setzen, um die Rechtskonformität im Umweltbereich zu verbessern.

1.7.

Sowohl die EIR-Initiative als auch der genannte Aktionsplan erstrecken sich über zwei Jahre. Der EWSA macht deshalb geltend, dass er aktiv an der Begleitung und regelmäßigen Weiterentwicklung beider Initiativen mitwirken sollte, um der Zivilgesellschaft bei der fortwährenden Verbesserung der EU-Umweltpolitik Gehör zu verschaffen.

1.8.

Aus verschiedenen Arbeiten der Europäischen Kommission wird deutlich, dass zahlreiche Umsetzungslücken auf eine mangelhafte Zusammenarbeit zwischen den für die Umsetzung des Umweltrechts zuständigen (nationalen, regionalen, lokalen) Governance-Ebenen zurückzuführen sind. Der EWSA fordert die EU auf, die Zivilgesellschaft auch in die Begleitung und fortlaufende Bewertung dieser Umsetzung einzubeziehen.

1.9.

Die Bürgerinnen und Bürger der EU messen dem Umweltschutz eine entscheidende Bedeutung bei, sind indes mehrheitlich der Auffassung, dass die EU und die nationalen Regierungen nicht genug für den Umweltschutz tun. Der Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission sollten daher mit Hilfe des EWSA enger zusammenarbeiten, um den Erwartungen der Bürger zu entsprechen. In diesem Sinn könnte der EWSA mit der Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme befasst werden, in der er untersuchen könnte, wie die Zivilgesellschaft stärker zur Erarbeitung und Umsetzung des EU-Umweltrechts beitragen könnte.

1.10.

Auf kurze Sicht fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, die im Rahmen der EIR-Initiative erstellten Liste aller in den einzelnen Mitgliedstaaten festgestellten Lücken bei der Umsetzung des EU-Umweltrechts in den Bereichen Luftqualität, Wasser und Abfall anderen zugänglich zu machen. Diese Liste sollte auf bei ihr eingegangenen Meldungen sowie einer Konsultation der organisierten Zivilgesellschaft basieren. Außerdem fordert er die Europäische Kommission auf, Abhilfemaßnahmen festzulegen und durchzuführen. Der EWSA ist bereit, entsprechend seiner Mittel und Fachkenntnis an der Festlegung der Abhilfemaßnahmen sowie an der Beurteilung ihrer künftigen Umsetzung mitzuwirken.

1.11.

Nach Meinung des EWSA sollte die Europäische Kommission nicht nur Legislativvorschläge vorlegen, sondern auch die Anwendung der Gesetze erleichtern und unterstützen, die bestehenden Rechtsvorschriften besser aufeinander abstimmen und auch für ihre bessere Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Fortschritt sowie mit den internationalen Vereinbarungen zum Schutz der Gesundheit und zur Wiederherstellung funktionierender Ökosysteme sorgen, die die Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung und soziale Gerechtigkeit sind. So ist die Durchführung der Umweltvorschriften insbesondere für die Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDG) und die Umsetzung von Klimaschutzübereinkommen von zentraler Bedeutung. In dieser Stellungnahme macht der EWSA die zuständigen Stellen daher auf verschiedene Beispiele aufmerksam, wie das Umweltrecht in den Bereichen Luftqualität, Wasser und Abfall verbessert werden kann.

1.12.

Am Beispiel des vor Kurzem vorgelegten Richtlinienvorschlags über Einwegkunststoffartikel lässt sich veranschaulichen, dass die hohe Akzeptanz der vorgeschlagenen Maßnahmen Informations- und Medienkampagnen über die Plastikvermüllung der Ozeane zu verdanken ist, die die Bürger stärker für dieses Problem sensibilisiert haben. Nach Auffassung des EWSA trifft dies auch auf zahlreiche andere Maßnahmen zu, die zum Ziel haben, den Bürgerinnen und Bürgern der EU ein Leben in Gesundheit zu ermöglichen, die Anpassung an den Klimawandel zu erleichtern und der Zerstörung der biologischen Vielfalt Einhalt zu gebieten. Der EWSA bekräftigt in diesem Sinn die Notwendigkeit einer aktiven Einbindung der Zivilgesellschaft im Bereich der Volksbildung sowie einer Ausweitung der Anstrengungen seitens der EU, der nationalen und der lokalen Behörden zur weiteren Sensibilisierung der Bürgerinnen und Bürger sowie der öffentlichen und privaten Entscheidungsträger (insbesondere in KMU und KMI) und für diese großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Bereitschaft zur Zusammenarbeit, die das Europäische Parlament mit seinem Ersuchen um Erarbeitung der vorliegenden Sondierungsstellungnahme signalisiert, in der es um die Umsetzung des EU-Umweltrechts in den Bereichen Luftqualität, Wasser und Abfall geht.

2.2.

Die Umsetzung des EU-Umweltrechts in den Bereichen Luftqualität, Wasser und Abfall erstreckt sich auf Bereiche, die vor allem für den Schutz der Ökosysteme relevant sind, erschließt gleichzeitig aber auch neue wirtschaftliche Möglichkeiten und Entwicklungen, die der Gesundheit der EU-Bürger zuträglich sind. Dabei geht es nicht nur um die Umsetzung der Richtlinien in nationales Recht — nur eine erste Etappe —, sondern auch um die Einrichtung der notwendigen Behörden bzw. die Zurverfügungstellung von Humanressourcen, die Übertragung von Kompetenzen und Verantwortung sowie die Bereitstellung von Know-how und Finanzierung. In vielen Fällen sind (öffentliche und/oder private) Umweltinvestitionen erforderlich (bspw. für die Wasseraufbereitung und die Abfallbehandlung), in anderen Fällen müssen Tätigkeiten mit umweltschädlichen Auswirkungen reglementiert werden (bspw. zur Gewährleistung der Luftqualität).

2.3.

Eine bessere Umsetzung des EU-Umweltrechts sollte in allen Mitgliedstaaten zu einer Priorität werden, und die zuständigen Behörden sollten verstärkt werden. Der EWSA hat bereits in zahlreichen Stellungnahmen einschlägige und allgemeine Empfehlungen zur Umsetzung des EU-Umweltrechts in den Bereichen Luftqualität, Wasser und Abfall ausgesprochen. Daher fordert er dazu auf, diese Stellungnahmen zu den Themen Luft (6), Wasser (7) und Abfall (8) zur Kenntnis zu nehmen.

2.4.

Abgesehen von diesen thematischen Stellungnahmen enthalten auch allgemeinere Stellungnahmen des EWSA Empfehlungen, die dem vorliegenden Ersuchen entsprechen, wie z. B. Stellungnahmen zum Zugang zu Gerichten (9), zum Vollzug des Umweltrechts und zur Umweltordnungspolitik (10) oder zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher (11), strategische Stellungnahmen (12) oder auch Stellungnahmen mit Bezug auf einen über die Europäische Union hinausgehenden geografischen Raum, in denen es insbesondere um die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (13), Freihandelsabkommen (14) oder Klimaschutz (15) geht.

2.5.

Abgesehen von der Anwendung des geltenden Rechts, die die Schaffung eines Binnenmarkts erleichtert, der einen freien und unverfälschten Wettbewerb begünstigt und des Vertrauens der Bürger, seien es Erzeuger oder Verbraucher, würdig ist, da es hohe Qualitäts- und Sicherheitsstandards beim Schutz der Bevölkerung und der Umwelt ermöglicht, sollten unbedingt die Lücken in den bestehenden Rechtsvorschriften geschlossen werden, wobei zugleich dafür zu sorgen ist, dass sich die Union im Rahmen bilateraler oder multilateraler Handelsverhandlungen systematisch die Gleichwertigkeit ihres Sozial- und Umweltrechts für importierte Produkte ausbedingt.

2.6.

In diesem Zusammenhang dürfen die in dieser Sondierungsstellungnahme enthaltenen Bemerkungen, Empfehlungen und Schlussfolgerungen nicht unter Risikogesichtspunkten betrachtet werden, sondern müssen als Chance begriffen werden, unsere Tätigkeiten so auszurichten, dass durch Wettbewerb und Zusammenarbeit Vorteile generiert werden, die in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht richtungs- und zukunftsweisend sind.

2.7.

Schließlich sei darauf hingewiesen, dass — im Hinblick auf Luft, Wasser oder Abfall — eine uneinheitliche Anwendung der EU-Rechtsvorschriften in den einzelnen Mitgliedstaaten vermieden werden muss, da es ansonsten zu Wettbewerbsverzerrungen oder ökologischen und sozialen Ungleichheiten kommt oder aber auch künstliche Grenzen entstehen, die die Verwaltung gemeinsamer und naturgemäß grenzüberschreitender Ressourcen erschweren. Daher müsste zur Stärkung aller gegenwärtigen und künftigen Maßnahmen auch für eine Harmonisierung der Steuern auf Umweltverschmutzung und Ressourcenverbrauch gesorgt und die vorhandenen Instrumente besser auf die abzudeckenden externen Kosten abgestimmt werden. Umweltpolitische Maßnahmen dürfen nicht länger als Anpassungsvariable dienen, sondern müssen zu einem wichtigen Hebel für eine strategische Neuausrichtung der menschlichen, handwerklichen, landwirtschaftlichen und industriellen Aktivitäten in der Union werden und sich dank positiver Ausstrahlungseffekte auch in den Regionen ihrer politischen Partner und Handelspartner durchsetzen.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.   Umsetzung des EU-Umweltrechts im Bereich der Luftqualität

Die meisten Verstöße gegen das EU-Umweltrecht betreffen neben der Abwasserbehandlung, der Abfallentsorgung und dem Naturschutz die Einhaltung der Luftqualitätsnormen. Im Mai 2018 verklagte die Europäische Kommission sechs Mitgliedstaaten vor dem Gerichtshof der Europäischen Union wegen Nichteinhaltung der vereinbarten Grenzwerte für die Luftqualität (16). Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Europäische Kommission eine Eignungsprüfung der Luftqualitätsrichtlinien eingeleitet hat, um ihre Wirkung im Zeitraum 2008-2018 zu prüfen. Insbesondere würden Bemühungen um eine bessere Umsetzung der Rechtsvorschriften über die Luftqualität im Freien zur Verwirklichung von Nachhaltigkeitsziel 11 (nachhaltige Städte) beitragen.

Hinsichtlich der Luftqualität sei außerdem darauf hingewiesen, dass sich die Luftverschmutzung in dreifacher Weise auswirkt:

1.

auf die Gesundheit, und zwar so stark, dass die Belastung der Innenraumluft und die Luftverschmutzung im Freien in der Europäischen Union (17) und anderswo nach wie vor ein großes Risiko darstellen. Hierbei handelt es sich sogar um das weltweit größte umweltbezogene Gesundheitsrisiko (18), das zu 6,5 Mio. vorzeitigen Todesfällen pro Jahr führt und hohe Kosten für die Gesellschaft, die Gesundheitssysteme, die Wirtschaft und all diejenigen mit sich bringt, deren Gesundheit beeinträchtigt wird. In einem einschlägigen Bericht gelangt der Europäische Rechnungshof zu dem Schluss, dass die Luftverschmutzung jährlich rund 400 000 vorzeitige Todesfälle in der EU verursacht, die Gesundheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger immer noch nicht hinreichend geschützt wird und die Maßnahmen der EU nicht die erwartete Wirkung gezeigt haben;

2.

auf die biologische Vielfalt (Auswirkungen auf die Kulturen, Wälder usw.);

3.

auf den Baubestand und natürlich auf die historischen Bauten, die wiederum eine Tourismusdimension aufweisen.

3.1.1.   Innenraumluft

a)

Zur Verbesserung der Qualität der Innenraumluft sollten die Verbraucher mit Hilfe einer Kennzeichnung informiert werden, welche Emissionen die gekauften Produkte, beispielsweise Baumaterialien, Innenausstattung, Möbel oder Haushaltswaren, abgeben. Hierzu sollte die Union nach einem Vergleich der in den verschiedenen Mitgliedstaaten geltenden Rechtsvorschriften auf der Grundlage aktueller bewährter Verfahren einen kohärenten Rahmen schaffen.

b)

Bei Gebäuden sollte nach der Phase des Baus und der Lieferung die Wartung und regelmäßige Überwachung der Lüftungsqualität vorgeschrieben werden. Diese Langzeitüberwachung würde sich natürlich positiv auf die Gesundheit auswirken, aber auch auf den Energieverbrauch.

c)

Um anfällige Personen zu schützen, deren Atemwege geschwächt oder noch in der Entwicklung sind und die sauberere Luft benötigen, sollten darüber hinaus entsprechende Aktionspläne für öffentliche Innenräume, bspw. Kindertagesstätten, umgesetzt werden.

d)

Schließlich wäre es sinnvoll, die Luftreinigungsverfahren zu vereinheitlichen. Die Union sollte Kriterien zur Messung ihrer Wirksamkeit und Unbedenklichkeit festlegen, insbesondere um jegliche kommerzielle Zweckentfremdung oder gar gesundheitliche Probleme infolge der gegenwärtigen relativen Unterregulierung zu vermeiden.

3.1.2.   Luftqualität im Freien

a)

Zur Verbesserung der Luftqualität und zur Stärkung des Vertrauens der Bürger in die EU-Institutionen müssten nicht nur die geltenden Vorschriften strenger befolgt und ihre Nichteinhaltung schärfer sanktioniert werden, sondern auch endlich diejenigen fehlenden Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in die EU-Normen einfließen, die die Gesundheit der Bürger stärker schützen.

b)

Heutzutage werden nur die PM10- und die PM2,5-Werte (Mikrometermaßstab) überwacht. Einige der ultrafeinen Partikel wirken sich jedoch viel stärker auf die Gesundheit aus (Nanometermaßstab), da sie deutlich tiefer in den menschlichen Körper eindringen und sich in lebenswichtigen Organen ansammeln können. Daher sollte dieser Tatsache in den EU-Rechtsvorschriften Rechnung getragen werden, indem eine Überwachung dieser Partikel vorgesehen wird, sodass auch ihre Konzentration in der Luft schrittweise gesenkt werden kann.

c)

Auch bei den polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) und verschiedenen anderen noch nicht überwachten, insbesondere von Verbrennungsanlagen, Schiffen, Landfahrzeugen, Baufahrzeugen usw. abgegebenen Schadstoffen sollte so verfahren werden, zumal sich dank der stetig fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und technischen Fähigkeiten bereits jetzt ein besserer Schutz der Gesundheit und der Ökosysteme erreichen ließe.

d)

Mit Blick hierauf trägt die Richtlinie über nationale Emissionshöchstmengen (19) entscheidend zur Verringerung der Luftschadstoffemissionen durch die Mitgliedstaaten bei. Allerdings gibt sie im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip nur eine Richtschnur vor, damit Mitgliedstaaten den Verpflichtungen zur Emissionssenkung nachkommen können. Die bei der Umsetzung eingeräumte Flexibilität führt zur Verwässerung der Vorschriften.

e)

Des Weiteren ist diese Richtlinie insofern verbesserungswürdig, als sie keine Ziele für die Verringerung der Methanemissionen enthält, obwohl Methan als Ozonvorläufer und Gas mit ausgeprägter Treibhauswirkung eine wichtige Luftverschmutzungsquelle ist.

f)

Um die verschiedenen EU-Vorschriften zu vereinheitlichen, sollte die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) Ziele für die Luftverschmutzung durch Emissionen aus der Landwirtschaft einführen. So stammen mehr als 95 % der Ammoniakemissionen — Ammoniak ist ein Schadstoff, der unter die Richtlinie über nationale Emissionshöchstmengen fällt — aus der Landwirtschaft. Die GAP sollte geeignete Instrumente bieten, damit die Mitgliedstaaten ihre einschlägigen Emissionsreduktionsziele erreichen können.

g)

Schließlich sei darauf hingewiesen, dass die Schadstoffe derzeit anhand ihres Gewichts (in μg/m3) quantifiziert werden, obwohl von Toxikologen seit Jahren auf wissenschaftlichen Tagungen darauf hingewiesen wird, dass vielmehr die Partikelzahl gemessen werden sollte. Ein solcher Ansatz ist mit Blick auf die eingeatmeten ultrafeinen Partikel (20) sinnvoller.

3.2.   Umsetzung des EU-Umweltrechts im Bereich Wasser

Was das Thema Wasser anbelangt, so ist vorab festzustellen, dass die einschlägige Rahmenrichtlinie im Großen und Ganzen zufriedenstellend, ihre Umsetzung allerdings nach wie vor unzureichend ist und dass es den meisten Mitgliedstaaten nicht gelungen ist, wie vorgesehen bis 2015 einen guten Umweltzustand herbeizuführen. Dasselbe gilt für Natura 2000 infolge des generellen Scheiterns des Vertragsinstruments. Es gibt Raum für verschiedene Verbesserungen und Neuerungen, insbesondere im Zusammenhang mit den wissenschaftlichen Fortschritten im Bereich der Bodenfunktionen sowie der Verbreitung und Interaktion bestimmter Schadstoffe. Darauf wird an anderer Stelle noch näher eingegangen. Fortschritte bei der Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften in Bezug auf Wasser würden zur Verwirklichung einiger der mit Nachhaltigkeitsziel 6 (sauberes Wasser und Sanitärversorgung) verknüpften Ziele beitragen.

Einer der kritischsten Bereiche im Wasserrecht ist die Umsetzung der Richtlinie über die Behandlung von kommunalem Abwasser, bei der es große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten infolge von Governance- und Finanzierungsfragen gibt. Ungeachtet großer Bemühungen der derzeitigen Kommission gibt es in diesem Bereich immer noch großen Finanzierungsbedarf sowie ungelöste Governance-Fragen. Ausgehend von den Erfahrungen mit der Entsorgung fester Abfälle sollten neue Wege gefunden werden, um die Hersteller bei der Finanzierung einer zusätzlichen Abwasserbehandlung zur Entfernung neu entstehender Schadstoffe — wie etwa Medikamente und Mikroplastik — in die Pflicht zu nehmen.

3.2.1.   Oberflächengewässer

a)

Um den Zustand der Oberflächengewässer zu verbessern und auch um Rückschritte beim Umweltrecht und bei der Umweltordnungspolitik zu vermeiden, sollten bestimmt Begriffe definiert werden, wie etwa „ökologische Kontinuität“, „Wasserlauf“ und „Feuchtgebiet“. Beispielsweise müssen unbedingt auf EU-Ebene Regeln für die Charakterisierung von Feuchtgebieten festgelegt werden, da ein ausschließlich schutzorientierter Ansatz zu vielschichtig ist, um — zumindest in einigen Mitgliedstaaten — rechtswirksam in nationales Recht umgesetzt werden zu können.

b)

Ebenso wäre ein einheitlicher Rahmen hilfreich, der es ermöglichen würde, klare und von allen an der Umsetzung der diesbezüglichen Rechtsvorschriften beteiligten Akteuren gebilligte Bewertungen durchzuführen.

c)

Sowohl bei den Nanopartikeln, beispielsweise aus der Textilindustrie und der Lebensmittelindustrie, als auch bei den endokrinen Disruptoren, wie etwa denjenigen aus der Pharmaindustrie und der Landwirtschaft, müssten angesichts ihrer Auswirkungen auf die Ökosysteme, insbesondere Nahrungsketten, die auch den Menschen umfassen, Emissionen bereits an der Quelle reduziert und absolute Grenzwerte für Oberflächengewässer und Grundwasser festgelegt werden. Zu diesem Zweck sollte endlich alles Erforderliche getan werden, um letztendlich auch Schwellenwerte für ein Zusammenwirken dieser Stoffe, der verschiedenen bereits überwachten Stoffe und ihrer Abbauprodukte festzulegen.

3.2.2.   Grundwasser

a)

Hinsichtlich der Rechtsvorschriften zum Wasser sind die — in der Richtlinie zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik (21) festgelegten — Bestimmungen über die Deckung der durch die verschiedenen Verbraucherkategorien verursachten Kosten, die Internalisierung der externen Kosten und eine kostendeckende Gebührengestaltung weder verbindlich noch genau genug, um eine ausreichende Wirkung zu entfalten.

b)

Aufgrund des Klimawandels kann es zu Problemen bei der Grundwasserneubildung kommen, da an bestimmten Orten die städtebaulichen oder landwirtschaftlichen Praktiken zu einer nicht wünschenswerten Unterbrechung des Wasserkreislaufs führen. Dies liegt daran, dass die Böden versiegelt sind oder eine zu geringe biologische Aktivität aufweisen, was dazu führt, dass das Wasser nicht einsickert und gereinigt und auf natürliche Weise gespeichert wird, sondern es zu Oberflächenabfluss, Erosion und Schlammfluss kommt. Um eine Verschlimmerung dieser Phänomene zu verhindern, sollte die Union endlich Vorschriften zur Förderung lebendiger Böden erlassen, die auch den Vorteil hätten, zugleich eine Lösung für Probleme mit der Qualität und der Menge des für die Ökosysteme, den menschlichen Konsum sowie landwirtschaftliche und industrielle Tätigkeiten verfügbaren Wassers zu bieten.

c)

Die Wälder und Hecken und in geringerem Maße auch Dauergrünland und ohne Bodenbearbeitung langfristig bestellter Ackerboden sollten aufgrund ihrer Bedeutung für die Niederschlagsbildung durch Evapotranspiration sowie bei der Filterung, Reinigung und Speicherung von Wasser im Boden und im Grundwasser größere Beachtung finden und möglichst überall in Europa verbreitet sein, zumal sie angesichts der zunehmenden Hitzewellen und Extremwetterlagen auch anderen Lebewesen, einschließlich der zahlreichen Nützlinge, von großem Vorteil sind.

3.2.3.   Richtlinie zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik

Zur besseren Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie sollte sie im Hinblick auf Aspekte geändert werden, die teilweise zuvor genannt wurden und Folgendes betreffen:

a)

In der Präambel sollte der Ausdruck „Wasser ist keine übliche Handelsware“ durch „Wasser ist keine Handelsware“ ersetzt werden.

b)

Das Vorbeugungs- und Vorsorgeprinzip gebietet angesichts des Zustands der Gewässer in Europa die Streichung aller Ausnahmeregelungen, z. B. derjenigen in Artikel 4 Absatz 5 oder in Artikel 7 Absatz 4.

c)

Aufgrund des Gewässerzustands muss für alle Vorhaben, die das Wasser und die aquatische Umwelt belasten könnten, eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorgeschrieben werden. Daher sollte die „vereinfachte Bewertung“ (Artikel 16) gestrichen werden.

d)

Das Verursacherprinzip muss — insbesondere hinsichtlich seiner Anwendungsmodalitäten — stärker berücksichtigt werden, indem:

Artikel 9 umformuliert wird: Anstatt „Die Mitgliedstaaten berücksichtigen unter Einbeziehung der wirtschaftlichen Analyse gemäß Anhang III und insbesondere unter Zugrundelegung des Verursacherprinzips den Grundsatz der Deckung der Kosten der Wasserdienstleistungen einschließlich umwelt- und ressourcenbezogener Kosten“ sollte es „Die Mitgliedstaaten sorgen gemäß dem Verursacherprinzip dafür, dass die durch die Auswirkungen der menschlichen Aktivitäten auf das Wasser verursachten direkten und indirekten Kosten gedeckt werden“ heißen;

die Ausnahmen in Artikel 9, Absatz 4 gestrichen werden;

alle Bereiche (Landwirtschaft, Industrie, Haushalte) hinzugefügt werden, für die Mitgliedstaaten Regeln zur Abschaffung der Externalisierung der Kosten aufstellen. In einem Jahresbericht würde nach Bereichen aufgeschlüsselt festgelegt, wie dies zu erfolgen hat.

e)

Außerdem sollten alle Formulierungen wie „sorgen dafür“ durch eine tatsächliche Verpflichtung ersetzt werden (z. B. in Artikel 11, Absatz 5 oder in Artikel 14, Absatz 1).

f)

Ebenso erscheint es erforderlich, die Schwellenwerte für Schadstoffe zu senken, auch in Kombination mit anderen Richtlinien (wie derjenigen über Nitrate, Chemikalien usw.), und die prioritären Stoffe (beispielsweise durch Hinzufügung der perfluorierten Verbindungen, der Nanotechnologien usw.) auf den neuesten Stand zu bringen.

g)

Die Öffentlichkeit (Artikel 14) muss stärker einbezogen werden, in erster Linie bei der Planung. Ihre Beteiligung muss sich auf die Programme mit grundlegenden und ergänzenden Maßnahmen sowie auf sämtliche vorherigen Verwaltungskontrollen erstrecken.

h)

Was Rechtsstreitigkeiten (Artikel 23) angeht, wäre zu ergänzen, dass die Mitgliedstaaten gemäß dem Übereinkommen von Aarhus Regeln und Verfahren für den Zugang der Öffentlichkeit zu Gerichten in Wasserfragen einführen müssen.

3.3.   Umsetzung des EU-Umweltrechts im Bereich Abfall

In der Folgenabschätzung in Verbindung mit den jüngst verabschiedeten Abfallrechtsvorschriften wurden verschiedene Umsetzungsprobleme im rechtlichen Bereich sowie im Zusammenhang mit Governancefragen und Sensibilisierungsmaßnahmen ermittelt. Lücken bei der Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie sind häufig auf fehlende wirtschaftliche Instrumente wie bspw. Anreize für Recycling anstatt Deponierung zurückzuführen. Die Einführung wirtschaftlicher Instrumente dieser Art kann Kommunen jedoch vor Probleme stellen. Lokale Gebietskörperschaften haben häufig keine ausreichenden Kapazitäten, um EU-Maßnahmen und -Instrumente auf lokaler Ebene umzusetzen, was auf ein Governance-Problem hindeutet. In mehreren Mitgliedstaaten stellt auch die Durchsetzung ein großes Problem dar. Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Europäische Kommission in den letzten Jahren mit Mitgliedstaaten zusammengearbeitet hat, um Umsetzungslücken zu beheben, und beispielsweise technische Unterstützung bereitgestellt und spezifische Leitlinien für die notwendigen Veränderungen im Rahmen der 2012 und 2015 durchgeführten Maßnahmen zur Förderung der Rechtskonformität aufgestellt hat.

Die kürzlich angenommenen Legislativvorlagen zum Thema Abfall dürften zur Lösung einiger Umsetzungsprobleme und zur Verwirklichung von Nachhaltigkeitsziel 12 (nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster) beitragen, doch Governance- und Durchsetzungsprobleme müssen nach wie vor auf nationaler Ebene geregelt werden. Der EWSA hat gemeinsam mit der Europäischen Kommission eine Europäische Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft eingerichtet, die bereits wichtige Erfolge aufweisen kann und die Erfassung, den Austausch und die Verbreitung des Fachwissens und der bewährten Verfahren der verschiedenen Akteure unterstützt. Diese Plattform ist ein zentrales Instrument, das breitere Verwendung finden sollte, um die Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften in diesem Bereich zu fördern.

3.3.1.   Abfallvermeidung

a)

Die jüngste Überarbeitung der Abfallpolitik (22) bietet sich als Gelegenheit an, sich nachdrücklich für Maßnahmen einzusetzen, mit denen unser Bedarf (darunter auch unser Rohstoff- und Sekundärrohstoffbedarf) und das künftige Müllaufkommen — insbesondere die Ökosysteme und die menschliche Gesundheit gefährdender Abfall — bereits an der Quelle reduziert werden. Wir müssen also unseren Bedarf und unsere Produkte in Frage stellen und über ihr Design, die Verlängerung ihrer Lebensdauer sowie ihre anschließende Umwandlung mit möglichst geringem Materialverlust nachdenken, alles Faktoren, die sich generell auf die Umwelt, die Energiesouveränität und die wirtschaftliche Nachhaltigkeit auswirken.

b)

Um von „langlebigen Materialien“ anstatt von „Abfällen“ und einer Kreislaufwirtschaft sprechen zu können, müssen bereits bei der Konzipierung der Produkte toxische oder gefährliche Bestandteile, die ein späteres Recycling erschweren, ausgeschlossen werden.

c)

Verpackungen sollten vor allem schlicht sein, und es sollte für eine größtmögliche, schrittweise und zwingend vorgeschriebene Weiterentwicklung gesorgt werden, um jegliche Wettbewerbsverzerrungen bei den bereits bestehenden und künftigen verschiedenen Pfand- und Wiederverwendungssystemen zu vermeiden.

d)

Die Abfallvermeidung hängt auch von der Fähigkeit der Gesellschaft ab, Produkte wiederzuverwenden und zu reparieren. Hier wären ehrgeizige EU-Rechtsvorschriften erforderlich, die verbindliche Zielvorgaben enthalten und sich nicht auf freiwillige Maßnahmen beschränken.

e)

Um die wirtschaftliche Entwicklung vom Verbrauch natürlicher Ressourcen und den daraus resultierenden Umweltauswirkungen abzukoppeln, muss sich die Union ehrgeizigere Ziele für eine effizientere Ressourcennutzung in den Produktionssystemen setzen.

3.3.2.   Abfallbewirtschaftung

a)

Um das Vertrauen der Bürger, sowohl der Hersteller als auch der Verbraucher, zu gewinnen und zu wahren, muss im Rahmen der Kreislaufwirtschaft stets den jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung getragen werden, um jegliche Skandale, insbesondere Gesundheitsskandale in Verbindung mit der Konzentration oder der Ausbreitung von Schadstoffen in recycelten Materialien (beispielsweise Brom oder endokrine Disruptoren) oder in der Umwelt (Nanomaterialien oder Mikroplastik) zu vermeiden.

b)

Ein solches Vorgehen ist glaubwürdiger und wirksamer, wenn zur Erhöhung der Recyclingrate aller Materialarten bereits ab der Herstellungsphase für eine Rückverfolgbarkeit ihrer Bestandteile und eine größtmögliche Transparenz auf dem gesamten Weg zum Verbraucher gesorgt wird.

c)

In der EU muss also bei recycelten und bei Primärmaterialien das gleiche Gesundheits- und Umweltschutzniveau angelegt werden. Das Recycling von Materialien sollte nicht zu einer Weiterverwendung gefährlicher Chemikalien in höheren Konzentrationen führen. Wenn die Europäische Chemikalienagentur im Rahmen der REACH-Verordnung (23) die Verwendung von Chemikalien einschränkt und entsprechende Grenzwerte festlegt, sollte sie daher für recycelte Materialien dieselben Grenzwerte vorsehen. Materialien, die diese Grenzwerte überschreiten, müssen so behandelt werden, dass die entsprechenden Stoffe entfernt oder von der Wiederverwendung bzw. vom Recycling ausgeschlossen werden.

d)

Neben dem Ökodesign, dem Smartphones und andere elektrische und elektronische Geräte unterworfen werden sollten, sollte die Union außerdem eine wirksame Abfallpolitik für ihr eigenes Gebiet entwickeln und betreiben, anstatt die Abfälle in Drittländer zu verbringen.

e)

Wird der Ökobilanz Rechnung getragen, so sind abgesehen von Holz in besonderen Einzelfällen ebenso wie einigen gefährlichen Abfällen alle Recyclingmethoden der Verbrennung überlegen (insbesondere aufgrund der grauen Energie, die z. B. bei Kunststoff verbraucht wird). Letztere sollte — ebenso wie die Deponierung — schrittweise abgeschafft werden, wofür ehrgeizige Ziele aufgestellt werden müssen.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Stellungnahme „Überprüfung der Umsetzung der EU-Umweltpolitik“ (ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 114).

(2)  Siehe Fußnote 1.

(3)  Stellungnahme „Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik“ (ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 83).

(4)  Siehe Fußnote 3.

(5)  COM(2018) 10 final.

(6)  Stellungnahme „Ein Programm ‚Saubere Luft für Europa‘“ (ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 134); Stellungnahme „Ein asbestfreies Europa“ (ABl. C 251 vom 31.7.2015, S. 13).

(7)  Stellungnahme „Ein Aktionsplan für Menschen, Natur und Wirtschaft“ (ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 90); Stellungnahme „Internationale Meerespolitik: Der Beitrag der EU zum verantwortungsvollen Umgang mit den Weltmeeren“ (ABl. C 209 vom 30.6.2017, S. 60); Stellungnahme „Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch“ (ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 107).

(8)  Stellungnahme „Beschränkung der Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten“ (ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 110); Stellungnahme „Umsetzung des Pakets zur Kreislaufwirtschaft: Optionen zur Regelung der Schnittstelle zwischen Chemikalien-, Produkt- und Abfallrecht“ (ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 56); Stellungnahme „Eine europäische Strategie für Kunststoffe in der Kreislaufwirtschaft“ (einschl. „Hafenauffangeinrichtungen für die Entladung von Abfällen von Schiffen“) (ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 61); Stellungnahme „Der Beitrag der energetischen Verwertung von Abfällen zur Kreislaufwirtschaft“ (ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 102); Stellungnahme „Kreislaufwirtschaftspaket“ (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 98).

(9)  Stellungnahme „Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten“ (ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 65).

(10)  Siehe Fußnoten 1 und 3.

(11)  Stellungnahme „Neugestaltung der Rahmenbedingungen für die Verbraucher“ (ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 66).

(12)  Stellungnahme „Übergang zu einer nachhaltigeren Zukunft Europas — Eine Strategie für 2050“ (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 44); Stellungnahme „Neue nachhaltige Wirtschaftsmodelle“ (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 57).

(13)  Stellungnahme vom 20. Oktober 2016„Die Agenda 2030 — eine der globalen nachhaltigen Entwicklung verpflichtete Europäische Union“ (ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 58); Stellungnahme „Die zentrale Bedeutung von Handel und Investitionen für die Erreichung und Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele“ (ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 27).

(14)  Stellungnahme „Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung in den Freihandelsabkommen der EU“ (ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 27).

(15)  Stellungnahme „Das Paris-Protokoll — Ein Blueprint zur Bekämpfung des globalen Klimawandels nach 2020“ (ABl. C 383 vom 17.11.2015, S. 74); Stellungnahme „Klimagerechtigkeit“ (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 22).

(16)  http://europa.eu/rapid/press-release_IP-18-3450_de.htm.

(17)  Laut Angaben der Europäischen Umweltagentur.

(18)  Laut Angaben der WHO.

(19)  Richtlinie über nationale Emissionshöchstmengen.

(20)  https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0048969711005730?via%3Dihub.

(21)  Wasserrahmenrichtlinie.

(22)  http://ec.europa.eu/environment/waste/target_review.htm.

(23)  REACH-Verordnung — Verordnung (EG) Nr. 19007/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 396 vom 30.12.2006, S. 1, geändert im ABl. L 136 vom 29.5.2007, S. 3).


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

539. Plenartagung des EWSA, 12.12.2018-13.12.2018

22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/41


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Ein den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsener europäischer Einzelhandel“

(COM(2018) 219 final)

(2019/C 110/07)

Berichterstatter:

Ronny LANNOO

Mitberichterstatter:

Gerardo LARGHI

Befassung

Europäische Kommission, 18.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

21.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

171/3/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Mitteilung der Kommission zur Modernisierung des Einzelhandels. Der Ausschuss betont erneut die wirtschaftliche und soziale Bedeutung des Einzelhandels für alle Interessenträger und für die Gesellschaft als Ganzes (1). Der EWSA weist darauf hin, dass er bereits in früheren Stellungnahmen den Aufbau eines offenen wirtschaftlichen Umfelds mit dem Ziel empfohlen hat, den fairen Wettbewerb zu gewährleisten, um die Bedingungen für die positive Koexistenz und die Zusammenarbeit unter großen, mittelständischen, kleinen Unternehmen und Kleinstunternehmen im Einzelhandel zu schaffen.

1.2.

Der Schutz und die Förderung der Vielfalt im Einzelhandel ist von entscheidender Bedeutung, um die Bedürfnisse der Verbraucher zu erfüllen und das europäische Produktionssystem zu bewahren und zu fördern. Daher ist der EWSA der Ansicht, dass ein in der Mitteilung deutlich darzulegendes Gleichgewicht hergestellt werden muss zwischen Maßnahmen zugunsten großer Einzelhandelsunternehmen und entsprechenden Maßnahmen, die die Anforderungen der Kleinst- und Kleinunternehmen im Einzelhandel erfüllen.

1.3.

Der EWSA stellt fest, dass der Vorschlag der Kommission den „Preis“ als interessanteste Komponente für Verbraucher zu sehr in den Fokus rückt. Dies geht zu Lasten anderer wichtiger Aspekte wie Information, Produktqualität und Personalisierung, Nähe, Mobilität, Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit, Preis-Leistungsverhältnis und Kundenservice vor oder nach dem Kauf. Die Vielfalt der Produkte sollte im Interesse aller Beteiligten durch die Kommission angemessen geschützt werden.

1.4.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass das Recht auf Niederlassung im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip gehandhabt werden sollte, und dass die Konzertierung auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene der beste Weg zur Berücksichtigung der Anforderungen aller beteiligter Interessenträger ist.

1.5.

Nach Ansicht des EWSA wirken sich insbesondere manche Hindernisse für die Niederlassungsfreiheit und manche Beschränkungen für den Betrieb, wie sie derzeit in einigen Mitgliedstaaten vorhanden sind, als Hindernis für die Niederlassung neuer Unternehmen aus. Allerdings würde eine vollständige Liberalisierung nicht das erforderliche Gleichgewicht zwischen Großunternehmen sowie Klein- und Familienunternehmen gewährleisten.

1.6.

Der EWSA ist der Meinung, dass nationale Vorschriften über Ladenöffnungszeiten und Arbeitszeiten für die Sicherstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen unterschiedlicher Größenordnung und vor allem für die Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes sowohl für abhängig Beschäftigte als auch für Selbstständige — auch unter Berücksichtigung veränderter Verbrauchergewohnheiten — von zentraler Bedeutung ist.

1.7.

Der EWSA bekräftigt, dass die Konzertierung auf nationaler oder subnationaler Ebene der beste Weg ist, um Öffnungszeiten und -tage zu etablieren, um den Bedarf der Verbraucher an bestimmten Produkten und Dienstleistungen und den Wunsch einiger Unternehmen hinsichtlich Öffnung an Sonn- und Feiertagen aufeinander abzustimmen. Gleichzeitig wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Unternehmer und Beschäftigte sichergestellt und Zeit für Schulungen vorgesehen.

1.8.

Der EWSA weist im Sinne der sozialen Säule auf die Notwendigkeit hin, eine faire Entlohnung und die Qualität der Arbeit für alle Arbeitnehmer in diesem Sektor sicherzustellen, unabhängig davon, ob sie im Online- oder Offline-Handel tätig sind. Der Ausschuss bezieht sich vor allem auf Fälle von Arbeitsverträgen Tausender Beschäftigter für Online-Unternehmen, die immer noch nicht Gegenstand von Tarifverhandlungen sind, sowie auf die Verträge in großen Einzelhandelsunternehmen, die nur auf die Bewältigung größerer Kundenströme an Wochenenden ausgelegt sind (und zu einem Anstieg von Gelegenheitsarbeit führen) oder laut denen Wochenenden oder Nächte nicht als Überstunden gelten. Schließlich würde laut Auffassung des EWSA der Aufbau eines effektiven Mechanismus für den sozialen Dialog, der auch Klein- und Kleinstunternehmen einbindet, den Unternehmen bessere Entwicklungsmöglichkeiten und den Arbeitnehmern ein besseres Schutzsystem bieten.

1.9.

Der Ausschuss stimmt mit der Kommission überein, dass Innovationen im Einzelhandel, lebenslanges Lernen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie Produktförderung langfristig angeregt und unterstützt werden müssen. Er ist jedoch der Ansicht, dass der Kommissionsvorschlag durch einen Umsetzungsplan flankiert werden sollte, um diesen Prozess vor dem Hintergrund des digitalen Übergangs zu begleiten. Dafür sollten angemessene Mittel zur Verfügung stehen und ein besonderer Schwerpunkt auf Klein- und Kleinstunternehmen in Zusammenarbeit mit KMU-Verbänden gelegt werden.

1.10.

Der EWSA fordert die Behörden auf allen Ebenen auf, bei der Erstellung eines konkreten Aktionsplans für die Zukunft des europäischen Einzelhandels im 21. Jahrhundert mit allen Akteuren eng zusammenzuarbeiten (d. h. bezüglich Information, Schulung, Finanzierung und bewährte Verfahren).

2.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsdokuments

2.1.

Die Mitteilung soll einen Beitrag zur Entfaltung des Potenzials der Einzelhandelsbranche für die Wirtschaft der EU leisten, indem bewährte Verfahren ermittelt werden. Deshalb sind Anstrengungen auf Seiten der EU-Organe und der Mitgliedstaaten notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit des Sektors zu einem Zeitpunkt zu stärken, an dem der Einzelhandel durch die rasante Zunahme des elektronischen Handels und die Veränderung der Verbrauchergewohnheiten vor einem Wandel steht.

2.2.

Damit der Binnenmarkt sein Potenzial voll entfalten kann, müssen geeignete Maßnahmen auf allen Ebenen ergriffen werden. Die Produktivität der Einzelhandelsbranche der EU ist niedriger als die anderer Branchen. Dies ist auf eine Vielzahl von Steuervorschriften auf allen Ebenen sowie auf Verzögerungen beim digitalen Wandel des Marktes zurückzuführen.

2.3.

Einzelhändler stehen in Bezug auf Geschäftsniederlassungen und Betrieb vor zahlreichen Beschränkungen. Viele dieser Beschränkungen sind aufgrund legitimer Gemeinwohlziele gerechtfertigt. Diese können ebenfalls Hindernisse für Start-ups sowie für die Produktivität darstellen.

2.4.

Die Eröffnung neuer Einzelhandelsgeschäfte ist ein Schlüsselelement für die Tragfähigkeit des Sektors. Es ist wichtig, Strategien verfolgen zu können, die Online- und Offline-Präsenz im Hinblick auf den Marktzugang kombinieren. Durch einfache, transparente und effiziente Niederlassungsverfahren werden der Einzelhandelsbranche Chancen geboten, ihre Produktivität zu steigern.

2.5.

Die Kommission empfiehlt, dass Mitgliedstaaten ihre Regelungsrahmen prüfen und gegebenenfalls modernisieren. Dabei sollten sie sich, soweit dies relevant ist, von bewährten Verfahren inspirieren lassen, die bereits in anderen Mitgliedstaaten entwickelt wurden.

2.6.

Beschränkungen für den Betrieb wirken sich besonders stark auf Einzelhändler mit physischen Verkaufsstätten aus. Behörden sollten die Ausgewogenheit, die Verhältnismäßigkeit und die Effizienz solcher Beschränkungen bewerten, damit gleiche Ausgangsbedingungen gegenüber dem elektronischen Handel gewährleistet sind.

2.7.

Die Kosten für die Einhaltung der Vorschriften liegen zwischen 0,4 % und 6 % des Jahresumsatzes von Einzelhändlern. Insbesondere für Kleinstunternehmen stellt dies eine erhebliche Belastung dar. Für die — letztlich dem Verbraucher zugutekommende — Förderung der Entwicklung des Einzelhandels bedarf es eines breit angelegten Ansatzes: Vereinfachung der Rechtsrahmen, sicherstellen, dass sie für eine Multi-Channel-Umgebung tauglich sind sowie die übermäßig aufwendigen und kostspieligen Maßnahmen sowie die den Einzelhändlern auferlegten Verfahren zur Einhaltung dieser Vorschriften abbauen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt das Bestreben der Kommission, den Einzelhandel zu modernisieren, um die neuen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung und dem elektronischen Handel zu bewältigen.

3.2.

In früheren Stellungnahmen, vor allem in INT/682 zum Thema „Ein europäischer Aktionsplan für den Einzelhandel“ (2), hat der Ausschuss bereits die Schaffung eines offenen wirtschaftlichen Umfelds mit dem Ziel empfohlen, den fairen Wettbewerb zwischen Unternehmen gleicher Größenordnung abzusichern. Die EU sollte insbesondere die Bedingungen für Vielfalt, positive Koexistenz und Zusammenarbeit unter im (Online- und Offline-) Einzelhandel tätigen großen, mittleren, kleinen und Kleinstunternehmen schaffen. Die Förderung der Vielfalt im Einzelhandel der EU ist ein hervorragendes Mittel, um auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Verbrauchern zu reagieren, aber auch, um das europäische Produktionssystem zu schützen und zu fördern.

3.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Kommission den „Preis“ als interessanteste Komponente für Verbraucher zu sehr in den Fokus rückt, wohingegen das Hauptziel lauten sollte, für Verbraucher genaue Informationen bereitzustellen (Verbraucherbewusstsein). Verbrauchern sollte es freistehen, andere Aspekte beim Kauf eines Produkts in Betracht zu ziehen, wie z. B. Qualität, Produktpersonalisierung, Nachhaltigkeit, Verbrauchermobilität, Nähe, Preis-Leistungsverhältnis, Service vor und nach dem Kauf, Auswirkung auf die Kreislaufwirtschaft und Umweltkriterien. Die höhere Produktvielfalt bietet dem Produktionssektor und dem Einzelhandel in der EU einen Mehrwert und sollte daher von der Kommission angemessen geschützt werden (3).

3.4.

Der EWSA betrachtet den Ansatz der Kommission als unausgewogen zum Vorteil von großen Einzelhändlern und hält es für wichtig, diesen Ansatz mit den Bedürfnissen von Klein- und Kleinstunternehmen abzuwägen. Insbesondere ist der Ausschuss davon überzeugt, dass eine Koexistenz von großen Unternehmen und Kleinstunternehmen sowie familiengeführten Geschäften gewährleistet werden muss.

3.5.

Der EWSA stimmt zu, dass einige Beschränkungen im Niederlassungsrecht und betriebliche Beschränkungen in manchen Mitgliedstaaten ein Hindernis für die Niederlassung von neuen Unternehmen und für deren Wachstum darstellen könnten. Gleichwohl ist der Ausschuss der Ansicht, dass eine vollständige Liberalisierung des Niederlassungsrechts kein Allheilmittel ist. Außerdem sollten in diesem Zusammenhang das Subsidiaritätsprinzip gewahrt und Konzertierungen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene durchgeführt werden, um geeignete Lösungen für den Bedarf vor Ort und die Bedürfnisse aller Interessenträger zu finden.

3.6.

Der EWSA teilt die negative Auslegung der Kommission des Visser-Urteils nicht. Für den EWSA bestätigt dieser Fall die Aufgabe des Gesetzgebers in Bezug auf die Dienstleistungsrichtlinie: sie kodifiziert die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Niederlassungsfreiheit und untersagt lediglich bestimmte Auflagen wie z. B. die wirtschaftliche Bedarfsprüfung. Gleichzeitig wird anerkannt, dass „[das] Ziel des Schutzes der städtischen Umwelt […] ein zwingender Grund des Allgemeininteresses sein [kann], der eine territoriale Beschränkung […] zu rechtfertigen vermag“. Solche Bedürfnisse müssen gemäß den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität ausgewogen berücksichtigt werden.

3.7.

In diesem Zusammenhang kann viel getan werden im Prozess der Gestaltung eines europäischen Binnenmarkts, um die Verfahren für Unternehmensgründungen zu vereinfachen und um diese Verfahren transparent und einheitlich zu gestalten. Dabei müssen die auf territorialer Ebene bestehenden legitimen Einschränkungen, die im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip festgelegt wurden, respektiert werden.

3.8.

Der EWSA hält es für überaus wichtig, einige spezifische wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu bewahren und zu schützen, insbesondere wenn diese mit der Erhaltung des nationalen historischen und künstlerischen Erbes und mit sozialpolitischen und kulturpolitischen Zielen verbunden sind. Ein anderer Ansatz könnte sich nachteilig auf die lokale Bevölkerung und die Verbraucher auswirken (4).

3.9.

Insgesamt ist der EWSA der Ansicht, dass grenzüberschreitende Expansion, Größenwachstum und elektronischer Handel als ernstzunehmende Option gesehen und Unternehmen in Abstimmung mit ihren Verbänden bei diesem Prozess unterstützt werden sollten. In Übereinstimmung mit dem vorrangigen Interesse der Verbraucher (Multi-Channel-Vertrieb und Dienstleistungen) kann dies jedoch nicht als eine Verpflichtung oder als der einzige Weg zum Wachstum für alle Unternehmen betrachtet werden. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, Innovationsprozesse, Schulung und Produktförderung langfristig zu fördern und zu erhalten, u. a. durch die angemessene finanzielle Unterstützung von Klein- und Kleinstunternehmen und ihrer Verbände.

3.10.

Eine wirksame Einzelhandelspolitik muss ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Rentabilität und Effizienz mit Blick auf den Standort finden. (Mittel-) bis langfristige Überlegungen müssen speziell im Zusammenhang mit physischen Geschäftsniederlassungen und deren Verbindung zu bestehenden und möglichen zukünftigen Entwicklungen (Wohnungswesen, verfügbare Dienstleistungen usw. und damit verbundene bestehende Stadtzentren und -viertel) berücksichtigt werden. Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Kommission ihren Vorschlag in Zusammenarbeit mit den einschlägigen nationalen und regionalen Organisationen vervollständigen und strukturelle Maßnahmen mit dem Ziel einführen sollte, territoriale Entwicklungsfaktoren für die lokale Bevölkerung und Stadtzentren aufzunehmen (touristische Gebiete, lokale Raumplanung, Bauvorschriften, Bedingungen usw.).

3.11.

Der EWSA stellt fest, dass nationale Vorschriften über Ladenöffnungszeiten und Arbeitszeiten, zusammen mit den neuen technischen Lösungen, bei der Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen unter verschieden großen Unternehmen eine zentrale Rolle spielen und für einen adäquaten sozialen Schutz sowohl für die Beschäftigten als auch die Selbständigen sorgen. Vor allem stellen sie aber ein ganz wichtiges Instrument für den sozialen Schutz von Selbstständigen und abhängig Beschäftigten dar.

3.12.

Der EWSA unterstreicht erneut, dass die Konzertierung auf nationaler und subnationaler Ebene der beste Weg ist, um Öffnungszeiten und -tage festzulegen. Tatsächlich ist es von größter Bedeutung, die Bedürfnisse von Verbrauchern nach bestimmten Produkten und Dienstleistungen und den Wunsch bestimmter Unternehmen in Bezug auf die Öffnung an Sonn- und Feiertagen oder am Abend aufeinander abzustimmen, und die Erholungsbedürfnisse der Eigentümer von Kleinstunternehmen und deren Beschäftigten zu schützen. Dadurch wird auch die Vereinbarkeit von Arbeits- und Familienleben gewährleistet und die für Schulungen erforderliche Zeit verfügbar gemacht.

3.13.

Der EWSA weist im Sinne der sozialen Säule auf die Notwendigkeit hin, eine faire Entlohnung und die Qualität der Arbeit für alle Arbeitnehmer in diesem Sektor zu sichern, unabhängig davon, ob sie im Online- oder Offline-Handel tätig sind. Der Ausschuss bezieht sich vor allem auf Fälle von Arbeitsverträgen Tausender Beschäftigter für Online-Unternehmen, die immer noch nicht Gegenstand von Tarifverhandlungen sind, sowie auf die Verträge in großen Einzelhandelsunternehmen, die nur auf die Bewältigung größerer Kundenströme an Wochenenden ausgelegt sind (und zu einem Anstieg von Gelegenheitsarbeit führen) oder laut denen Wochenenden oder Nächte nicht als Überstunden gelten. Schließlich würde laut Auffassung des EWSA der Aufbau eines effektiven Mechanismus für den sozialen Dialog, der auch Klein- und Kleinstunternehmen einbindet, den Unternehmen bessere Entwicklungsmöglichkeiten und den Arbeitnehmern ein besseres Schutzsystem bieten.

3.14.

Der EWSA begrüßt die Empfehlung, dass Behörden kleinen Einzelhandelsbetrieben die Umstellung auf digitale Technologien erleichtern sollten. Allerdings kann dies nicht die einzige Option sein. Herkömmliche Geschäfte bleiben weiterhin sowohl für das Wachstum in der EU als auch im Hinblick auf den sozialen Zusammenhalt von zentraler Bedeutung, vor allem für die lokale Bevölkerung und für diejenigen Verbraucher, die nicht zur digitalen Generation zählen. Deshalb sollten Online- und Offline-Handel nebeneinander bestehen. In diesem Zusammenhang ist der EWSA der Auffassung, dass die Kommission die Schwierigkeiten unterschätzt, vor denen Klein- und Kleinstunternehmen stehen, wenn es darum geht, am elektronischen Handel teilzuhaben und davon zu profitieren.

3.15.

Der EWSA stimmt der Kommission zu, dass eine qualifizierte Schulung für Arbeitgeber, die sich am elektronischen Handel beteiligen wollen, notwendig ist. Der Ausschuss hält die Situation jedoch für komplexer: KMU, besonders kleine und Kleinstunternehmen, stehen vor vielfältigen Herausforderungen wie zum Beispiel: a) Veränderung und Anpassung ihrer internen Organisation, b) Fremdsprachenkenntnisse, c) Beschaffung von und Kenntnis der rechtlichen und administrativen Informationen, d) Aufbau eines effizienten und wettbewerbsfähigen Liefersystems, e) Überwindung von Steuer- und Sozialdumping auf EU-Ebene (Mehrwertsteuerbetrug, Fälschungen usw.). Daher fordert der EWSA die Kommission und die Mitgliedstaaten dringend dazu auf, KMU und ihre Verbände während ihrer Umstellung auf den elektronischen Handel mit einem breiten Ansatz, der alle Voraussetzungen für die Schaffung erfolgreich online operierender Unternehmen berücksichtigt, zu unterstützen.

3.16.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der elektronische Handel für viele KMU große Chancen bieten kann. Darüber hinaus weist der Ausschuss darauf hin, dass die Kommission erst kürzlich den ersten Vorschlag mit dem Ziel veröffentlicht hat, die Beziehungen zwischen Plattformen und Unternehmen im digitalen Markt zu regulieren. Bei dieser Maßnahme liegt der Fokus auf Transparenz, aber sie befasst sich nicht mit einigen der häufigen missbräuchlichen Praktiken (z. B. Paritätspreisklausel, Steuerdumping, unterschiedliche Besteuerung usw.), die den fairen Wettbewerb zwischen den gewerblichen Nutzern und großen Online-Plattformen erschweren (5). Aus diesem Grund empfiehlt der Ausschuss, dass die Kommission im Hinblick auf einen fairen Wettbewerb im digitalen Markt gleiche Wettbewerbsbedingungen schafft.

3.17.

Nach Ansicht des EWSA sind verschiedene Maßnahmen erforderlich, um die notwendigen Bedingungen für den Einzelhandel und insbesondere für KMU und Kleinstunternehmen — in denen am meisten Nettobeschäftigung entsteht — zu schaffen und das Missverhältnis zwischen Kompetenzangebot und -nachfrage zu beseitigen: Ermittlung und Antizipation des Kompetenzbedarfs stärken, einschließlich Führungskompetenz; Ausbildungs- und Schulungsergebnisse gemäß den Arbeitsmarktanforderungen verbessern, einschließlich Förderung der beruflichen Bildung; Rahmenkonditionen verbessern, um Angebot und Nachfrage besser abzustimmen; verbesserte Unterstützung für den Schulungsbedarf von KMU und Kleinstunternehmen bereitstellen.

3.18.

Der EWSA begrüßt das Augenmerk, das die Kommission den Kosten der Einhaltung der Vorschriften, vor allem für Kleinunternehmen, zumisst, und dass die Kommission auf das mangelnde Bewusstsein für die Besonderheiten dieses Sektors hinweist.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA fordert die Kommission auf, sich mit dem immer größeren Problem der Verödung von Stadtzentren und den daraus resultierenden sozialen und ökologischen Folgen zu befassen. Wie lebenswert große und kleine Städte sind, hängt nicht zuletzt vom Überleben der zahlreichen Klein- und Kleinstunternehmen (lokale Geschäfte) ab, die die Bedürfnisse von vielen Verbrauchern erfüllen, aber durch die Konzentration der großen Einzelhandelsgruppen in ihrer Existenz bedroht sind.

4.2.

Der EWSA bedauert das Fehlen jeglicher Verweise auf einen nachhaltigen Einzelhandel und die Rolle, die Klein- und Kleinstunternehmen dabei spielen können. Günstigere Rahmenbedingungen sind jedoch erforderlich, um ihnen die Verbindung zwischen nachhaltigen Entscheidungen und Wettbewerbsfähigkeit bewusst zu machen, und um maßgeschneiderte Informationen und technische Unterstützung sowie die notwendigen Kreditsysteme bereitzustellen, damit Optimierungspotenziale ausgeschöpft werden. Angesichts ihrer schwachen Position und ihres geringen Einflusses auf Verbraucher und Erzeuger sollten Klein- und Kleinstunternehmen keine Entscheidungen aufgezwungen werden.

4.3.

In der Mitteilung wird den Spannungen, z. B. unausgewogene Franchiseverträge, Zahlungsverzüge und unfaire Handelspraktiken, die in den vertraglichen Beziehungen zwischen Unternehmen vorhanden sind, keine Beachtung geschenkt. Insbesondere stellt die zunehmende Machtkonzentration in den Händen großer Handelsketten in Europa eine ernsthafte Herausforderung dar (6). Diese beiden Problemfelder hätten in der Mitteilung angesprochen werden müssen, um Wettbewerbsverzerrungen zu bekämpfen und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten.

4.4.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, wie bereits in der Stellungnahme zum Thema „Neugestaltung der Rahmenbedingungen für die Verbraucher“ unterstrichen, ein wirkungsvolles Streitbeilegungsverfahren zu konzipieren und umzusetzen, um Missbrauch wirtschaftlicher Macht und wettbewerbsverzerrende Maßnahmen in den Griff bekommen zu können.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Umsatz im Jahr 2016: 9 864 468,4 Mio. EUR; Zahl der Unternehmen (2015): 6 205 080; Wert der Erzeugung (2015): 2 687 115 Mio. EUR. Im Jahr 2016 waren 33 399 447 Personen in diesem Sektor beschäftigt, davon 27 892 082 Angestellte.

(2)  ABl. C 327 vom 12.11.2013, S. 20.

(3)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 165.

(4)  Siehe Fußnote 2.

(5)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 177.

(6)  Siehe Fußnote 3.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/46


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bericht über die Wettbewerbspolitik 2017“

(COM(2018) 482 final)

(2019/C 110/08)

Berichterstatterin:

Baiba MILTOVIČA

Befassung

Europäische Kommission, 5.9.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

21.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

188/1/9

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den prägnanten Stil und den Schwerpunkt des Berichts 2017, dem eine umfangreiche Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen beiliegt. Eine wirksam durchgesetzte Wettbewerbspolitik ist die Grundlage für eine nachhaltige Marktwirtschaft. Sie kann für gleiche Wettbewerbsbedingungen für die Produzenten von Waren und Dienstleistungen sorgen, das Vertrauen der Verbraucher stärken, den Wettbewerb anregen und grundlegende gesellschaftliche Zielsetzungen, wie z. B. die Wahlfreiheit der Verbraucher, sowie politische Ziele, wie z. B. das Wohlergehen der europäischen Bürgerinnen und Bürger und die Förderung der europäischen Marktintegration, umsetzen. In den Beziehungen zu Drittstaaten spielt sie auch eine wichtige Rolle durch die Unterstützung positiver unternehmerischer, ökologischer und sozialer Entwicklungen im internationalen Handel.

1.2.

In dem Bericht 2017 wird nachdrücklich die Einhaltung und Durchsetzung dieser Politik betont, und es werden Beispiele für entschlossene, von der Kommission ergriffene Maßnahmen angeführt. Verbraucher und kleine und mittlere Unternehmen (KMU) werden häufig von Großunternehmen, die ihre marktbeherrschende Stellung eventuell ausnutzen, benachteiligt. Deshalb werden die Maßnahmen zur Bekämpfung wettbewerbswidriger Praktiken besonders begrüßt.

1.3.

Die Zunahme wettbewerbswidriger Aktivitäten auf den Märkten ging mit der stetigen Entwicklung der nationalen Wettbewerbsbehörden (NWB) als wichtige Durchsetzungsorgane des Wettbewerbsrechts einher. Mit der Richtlinie zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten (ECN+) werden die NWB auf eine wirksamere Rolle ausgerichtet und die nationalen Befugnisse in diesem Bereich gestärkt.

1.4.

Daher ist die Stärkung der Selbstständigkeit der NWB und die Bereitstellung angemessener Mittel von entscheidender Bedeutung. Echte Unabhängigkeit, Fachkenntnis und Ausbildung sind die Voraussetzung für eine effektive Arbeit, und die ECN+-Richtlinie sollte genau überwacht werden, um zu gewährleisten, dass dies auch erreicht wird. Es sollten vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung wettbewerbswidrigen Verhaltens gefördert und die Sanktionen verschärft werden, um eine wirksame Abschreckung zu gewährleisten.

1.5.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission im Bereich der privatrechtlichen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts und ist der Auffassung, dass Sammelklagen in den Rechtssystemen aller Mitgliedstaaten erleichtert werden sollten. Die Kommission sollte weiterhin die Wirksamkeit der kollektiven Rechtsdurchsetzungsverfahren bei Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht in den verschiedenen Mitgliedstaaten überwachen und bei Bedarf weitere Maßnahmen ergreifen. Diesbezüglich ist der Vorschlag der Kommission zu Verbandsklagen im Rahmen des Vorschlags zur Neugestaltung der Rahmenbedingungen für die Verbraucher enttäuschend.

1.6.

Es sollten weitere Vorschläge zum Franchising geprüft werden, die in die Gruppenfreistellungsverordnung (1) aufgenommen werden sollen, um das wirtschaftliche und vertragliche Gleichgewicht zwischen Franchisenehmern und dem Franchisegeber wiederherzustellen.

1.7.

Von lokalen Behörden betriebene nennenswerte geschäftsähnliche Tätigkeiten, die öffentlich subventioniert sind und unlauterer Wettbewerb sein können, sollten untersucht werden, um herauszufinden, ob eine Anpassung der Vorschriften für staatliche Beihilfen oder sonstiger Instrumente erforderlich ist.

1.8.

Bezüglich der Richtlinie zum Schutz von Hinweisgebern (Whistleblower) wird bezüglich ihrer Umsetzung und Anwendung empfohlen, in innerstaatlichem Recht zu verankern, dass Hinweisgeber stets mit Gewerkschaftsvertretern in Kontakt treten können und der Hinweisgeber unter allen Umständen uneingeschränkt geschützt ist.

1.9.

Bei der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts wird empfohlen, dass die Kommission bei anhaltenden wettbewerbsbeschränken Praktiken zum Nachteil der Verbraucher die Möglichkeit hat, im Zuge einer ausführlichen Analyse der Praktiken der Energieregulierungsbehörden in allen Mitgliedstaaten in Zusammenarbeit mit CEER und ACER Maßnahmen zur Beseitigung dieser Praktiken zu ermitteln.

1.10.

Mit erneuten Überprüfung der Funktionsweise der Nahrungsmittelvertriebskette in künftigen Wettbewerbsberichten könnten Gegenmaßnahmen ermittelt und vorgeschlagen werden, um die anhaltende und ggf. unangemessene Ausnutzung der Marktstellung durch marktbeherrschende Einzelhändler zu konterkarieren.

1.11.

In der digitalen Wirtschaft bestehen bereits zahlreiche wettbewerbswidrige Praktiken, neue kommen laufend hinzu. Der Ausschuss ist darüber besorgt, dass für die Überwachung dieses sich rasch entwickelnden und finanziell dynamischen Sektors keine angemessenen Mittel bereitgestellt werden. Er fordert, dafür im Mehrjährigen Finanzrahmen spezifische Bestimmungen vorzusehen.

1.12.

Es gibt eine Reihe von Faktoren, die außerhalb des unmittelbaren Bereichs der Wettbewerbspolitik liegen, aber dennoch Sorgen in puncto Marktverzerrungen bereiten: große Unterschiede in der Unternehmensbesteuerung zwischen den Mitgliedstaaten, allgemein als Sozialdumping bekannte Beschäftigungspraktiken, Praktiken in der sog. Gig-Ökonomie und Fragen im Zusammenhang mit der Kreislaufwirtschaft und der globalen wirtschaftlichen Nachhaltigkeit. Der Ausschuss drängt die Kommission, ihre Befugnisse und Kapazitäten voll und ganz dafür einzusetzen, dass diese Graubereiche wettbewerbswidrigen Verhaltens möglichst gut überwacht, geklärt und bereinigt werden.

1.13.

Das Wettbewerbsrecht ist einer der traditionellsten Teile des gemeinschaftlichen Besitzstandes, aber es wird nicht immer den Herausforderungen dieses Jahrhunderts gerecht. Insbesondere der künstlichen Trennung von Markt und sozioökologischen Bereichen käme eine umfassende und systematische Überprüfung des EU-Wettbewerbsrechts unter Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer und sozialer Ziele zugute.

2.   Wesentlicher Inhalt des Berichts über die Wettbewerbspolitik 2017

2.1.

Die Wettbewerbspolitik ist das tragende Element des Binnenmarkts und besteht seit den Römischen Verträgen, dem Grundstein für die Europäische Union in ihrer heutigen Form. Ihr Rahmen wird abgesteckt durch Bestimmungen wie die Artikel 101 und 102 AEUV, die sowohl den Inhalt als auch den Anwendungsbereich definieren.

2.2.

Im Jahr 2017 wurden konkrete Maßnahmen zum Wohle der Verbraucher und zu Gunsten der europäischen Wirtschaft in folgenden Schwerpunktbereichen durchgeführt: Digitalwirtschaft, Energiesektor, Arzneimittel- und Agrochemie-Branche, netzgebundene Wirtschaftszweige und Finanzmärkte. Diese Zusammenfassung beleuchtet die Kernpunkte des Berichts, der seinerseits eine Zusammenfassung der umfangreichen Maßnahmen innerhalb zahlreicher Wirtschaftszweige darstellt.

2.3.

Politik muss in Vorschriften übertragen und diese müssen konsequent umgesetzt werden. Die Europäische Kommission ist Gründungsmitglied des Internationalen Wettbewerbsnetzes und darüber hinaus in allen internationalen Gremien aktiv, die sich mit Wettbewerbsfragen beschäftigen, darunter die OECD, die Unctad, die WTO und die Weltbank. Insbesondere arbeitet die Kommission eng mit den nationalen Wettbewerbsbehörden zusammen und hat neue Vorschriften in Gestalt einer Richtlinie (2) vorgeschlagen, mit der die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten das EU-Wettbewerbsrecht wirksamer durchsetzen können.

2.4.

Personen, die Kenntnis von Kartellen oder einer anderen Zuwiderhandlung haben, müssen über die erforderlichen Mittel zur Aufdeckung dieser Praktiken verfügen. Hierfür wurde ein neues Instrument für anonyme Hinweise (sog. Whistleblower-Tool) entwickelt, das die Aufdeckung vereinfacht und das derzeit aktiv genutzt wird.

2.5.

So wurden die Anforderungen bezüglich der Meldung kleinerer und weniger problematischer Beihilfemaßnahmen vereinfacht und Ausnahmen eingeführt, und 24 Mitgliedstaaten sind der Beihilfentransparenzdatenbank (Transparency Award Module) beigetreten.

2.6.

Auf konzentrierten Märkten erfolgte eine strenge Durchsetzung der Wettbewerbsregeln. Die Kommission führte eine erste Untersuchung im Arzneimittelsektor über wettbewerbswidrige Preisbildungspraktiken in der Arzneimittelindustrie durch; verschiedene Unternehmenszusammenschlüsse im agrochemischen Sektor wurden überprüft, und ein Zusammenschluss in der Zementindustrie, die den Wettbewerb behindert hätte, wurde untersagt.

2.7.

Im Energiesektor sind bereits Durchsetzungsmaßnahmen im Zusammenhang mit staatlichen Beihilfen und Kapazitätsmechanismen angelaufen, und die Überprüfung der Geschäftspraktiken von Gazprom in Mittel- und Osteuropa wurde fortgeführt mit dem vorläufigen Ergebnis, dass die EU-Wettbewerbsvorschriften verletzt wurden.

2.8.

Im Verkehrswesen wurden Übernahmen im Luftfahrtsektor geprüft und wettbewerbswidrige Handlungen im Schienenverkehr in Litauen aufgedeckt, was Bußgeldern und Korrekturmaßnahmen zur Folge hatte. Die Gewährung staatlicher Beihilfen für diesen Sektor in Griechenland und Bulgarien wurde genehmigt. Im Bereich des Straßengüterverkehrs wurden Kartellabwehrmaßnahmen gegen den Hersteller Scania ergriffen, und es wurden zahlreiche Bußgelder gegen Unternehmen des Automobilzuliefersektors verhängt.

2.9.

Die Ausweitung der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung auf Häfen und Flughäfen führte dazu, dass entsprechende staatliche Beihilfen gewährt werden konnten.

2.10.

Die Kommission kam bei der Untersuchung des geplanten Zusammenschlusses zwischen der Deutschen Börse und der London Stock Exchange Group zum Ergebnis, dass eine Monopolstellung entstehen würde, weshalb die Fusion untersagt wurde.

2.11.

Die EU-Wettbewerbspolitik wird auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU auf konstruktive und kreative Weise reagieren müssen. Gemäß den Vorgaben des Europäischen Rates sollte jedes künftige Handelsabkommen gleiche Ausgangsbedingungen sicherstellen, insbesondere in den Bereichen Wettbewerb und staatliche Beihilfen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt den Wettbewerbsbericht 2017, der zahlreiche Beispiele dafür enthält, dass die Kommission auf die Förderung des Wohlergehens und des Schutzes der Verbraucher achtet. Eine wesentliche Folge dieses Ansatzes ist nicht nur die Stärkung der Integration des Binnenmarkts, sondern auch die Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung und entsprechender sozialpolitischer Ziele.

3.2.

In den Stellungnahmen des EWSA wurde im vergangenen Jahr häufig die Bedeutung einer wirksamen und durchgesetzten Wettbewerbspolitik betont. Benchmarks für das Verbraucherwohl und die Erhaltung einer wirksamen Wettbewerbsstruktur bilden die Grundlage für die Bekämpfung von Ausbeutung, wettbewerbsausschließendem Verhalten und wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen. Eine kraftvolle Wettbewerbspolitik stärkt durch die Förderung bewährter wirtschaftlicher Verfahren die europäischen Unternehmen auf umkämpften Weltmärkten und fördert die sozialen Ziele, auf denen sie basiert.

3.3.   Kraftfahrzeugemissionen

3.3.1.

In der Stellungnahme des EWSA zum Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik (3) wurde darauf hingewiesen, dass die unzulängliche Anwendung der Mechanismen zur Sicherung des Vollzugs des Umweltrechts und einer wirksamen Umweltordnungspolitik bedauerlicherweise unlauterem Wettbewerb und wirtschaftlichen Schäden Vorschub leisten. Der Ausschuss weist darauf hin, dass die Einhaltung und Wahrung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit für eine starke Wettbewerbspolitik von grundlegender Bedeutung sind.

3.3.2.

Vor diesem Hintergrund begrüßt der Ausschuss die Tatsache, dass die vorläufige Untersuchung durch die Kommission einer etwaigen Kartellabsprache zwischen BMW, Daimler, Volkswagen, Audi und Porsche nun dazu geführt haben, dass die zuständigen Stellen ein offizielles Prüfverfahren eingeleitet haben. Dabei geht es um die Frage, ob die Unternehmen die Entwicklung von Systemen zur selektiven katalytischen Reduktion und von Partikelfiltern und damit die Einführung umweltfreundlicherer Technologien möglicherweise behindert haben.

3.4.   Mechanismus der kollektiven Rechtsdurchsetzung

3.4.1.

Der Ausschuss nimmt die endgültige Umsetzung der Schadensersatzrichtlinie (4) zur Kenntnis, die sich zum Teil mit der Problematik der Schaffung eines rechtlichen Verfahrens für Sammelklagen befasst. Gleichwohl zeugt das Zurückziehen des von der GD COMP 2009 vorbereiteten Richtlinienvorschlags zusammen mit dem unlängst im Paket zur Neugestaltung der Rahmenbedingungen für die Verbraucher aufgenommenen Vorschlag von mangelndem politischen Willen, maßgebliche Fortschritte auf dem Weg zu einem wirklich wirksamen Rahmen für Verbandsklagen auf europäischer Ebene zu erzielen. Der EWSA appelliert daher an die Kommission, die Wirksamkeit der kollektiven Rechtsdurchsetzungsverfahren bei Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht in den verschiedenen Mitgliedstaaten kontinuierlich zu überwachen und bei Bedarf weitere Maßnahmen zu ergreifen.

3.5.   Franchising im Einzelhandel

3.5.1.

Der EWSA weist darauf hin, dass es zunehmend Probleme im Zusammenhang mit Franchiseverträgen im Einzelhandelssektor gibt, die den Wettbewerb erheblich beeinträchtigen können. So führte beispielsweise ein bedeutender Rechtsstreit in den Niederlanden zwischen dem Franchisegeber HEMA und zahlreichen Franchisenehmern über bestehende Verträge und den Anteil der Einnahmen aus Online-Verkäufen zur Beendigung von Franchise-Verträgen. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, diese Situation zu analysieren und zusätzliche Vorschläge zum Thema „Franchising“ vorzubringen, die in die Gruppenfreistellungsverordnung aufgenommen werden könnten, um das wirtschaftliche und vertragliche Gleichgewicht zwischen Franchisenehmern und Franchisegebern wiederherzustellen.

3.6.   Subventionen auf kommunaler Ebene

3.6.1.

In vielen Mitgliedstaaten entwickeln Gebietskörperschaften gewerbliche Tätigkeiten und setzen dazu öffentliche Mittel oder Einrichtungen ein. Wenn Subventionen vorliegen, kann dies zu unlauterem Wettbewerb führen. So sind zum Beispiel KMU in der Gastronomie und im Tourismus mit bezuschussten Dienstleistungen in den Kantinen von Sportclubs, Freizeitzentren usw. konfrontiert. Diese Vereine und Klubs, die häufig von der Mehrwertsteuer befreit sind und von sozialen Beiträgen, wie z. B. Freiwilligenarbeit, profitieren, sind oft in Besitz der Kommunen oder erhalten von diesen öffentliche Mittel. Diese geschäftsähnlichen Tätigkeiten sind häufig (in Bezug auf Umsatz und Gewinn) wie normale Gewerbeunternehmen organisiert. Der Ausschuss ersucht die Kommission, dieses Phänomen zu überwachen und zu klären, ob eine Anpassung der Vorschriften für staatliche Beihilfen oder anderer Instrumente auf EU-Ebene entwickelt werden könnte, um diese — teilweise sogar mit EU-Mitteln geförderten — lokalen Aktivitäten zu regeln.

3.7.   Informationen über staatliche Beihilfen

3.7.1.

Die Verfügbarkeit und Nutzung der Beihilfetransparenzdatenbank ist besonders zu begrüßen, da sie es den interessierten Interessenträgern (Kommission, Wettbewerber und breite Öffentlichkeit) ermöglicht, die Übereinstimmung der staatlichen Beihilfen mit den Vorschriften zu überprüfen. Bis heute wurden etwa 30 000 Beihilfemaßnahmen veröffentlicht.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Richtlinie zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten (ECN+)

4.1.1.

Der EWSA begrüßt, dass der Schwerpunkt des Berichts auf der Durchsetzung liegt und bekräftigt seinen Standpunkt (5) zur ECN+-Richtlinie (6), die eine größere Wirksamkeit der NWB ermöglicht.

4.1.2.

Der Ausschuss hat bereits den Standpunkt vertreten, dass eine Verordnung ein wirksameres Rechtsinstrument für diesen Bereich wäre, erkennt aber auch, dass der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen werden muss. Darüber hinaus sollte die Wettbewerbspolitik die Chancengleichheit sicherstellen, indem die NWB mit den zur Bekämpfung von geheimen Kartellen notwendigen Mitteln und Rechtsinstrumenten ausgestattet werden.

4.1.3.

Obwohl die ECN+-Richtlinie Unabhängigkeit, Ressourcen und ein wirksames Instrumentarium zur Durchsetzung der Vorschriften gewährleisten sollte, bleiben Fragen bezüglich der Autonomie und den Kapazitäten der NWB offen. Eine echte Unabhängigkeit, Sachkenntnis und Ausbildung sind für eine effektive Arbeit unerlässlich. Es sollten vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung wettbewerbswidrigen Verhaltens gefördert und die Sanktionen verschärft werden, um eine wirksame Abschreckung zu gewährleisten. Die NWB sollten außerdem befugt sein, eigenständig rechtliche Schritte einzuleiten.

4.2.   Schutz von Hinweisgebern

4.2.1.

Für die Information der Öffentlichkeit über die Wettbewerbsregeln muss noch mehr unternommen werden. Dadurch wird die Wirksamkeit neuer Instrumente, mit denen Verstöße gemeldet werden können, wie z. B. das Hinweisgeber-Instrument, erhöht. Obwohl der EWSA begrüßt, dass dieses Instrument regelmäßig genutzt wird, äußert er eine Reihe von Bedenken über die vorgeschlagene Richtlinie zum Schutz von Hinweisgebern (7).

4.2.2.

Der EWSA verweist die Kommission auf seine Stellungnahme zu dieser Richtlinie (8). Darin empfiehlt er, dass der Geltungsbereich der Richtlinie nicht auf die Einhaltung des EU-Rechts beschränkt bleiben, sondern auf die Einhaltung des nationalen Rechts ausgeweitet werden sollte.

4.2.3.

Darüber hinaus müssen Klauseln über Arbeitnehmerrechte aufgenommen und Gewerkschaftsvertreter und Nichtregierungsorganisationen als Beispiele juristischer Personen genannt werden. Hinweisgeber sollten in jeder Phase des Prozesses Kontakt zu Gewerkschaftsvertretern aufnehmen können.

4.3.   Die digitale Wirtschaft

4.3.1.

Der EWSA stellt fest, dass die Ende 2017 erlassene neue Verordnung über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz (9) eine bessere Koordinierung der Verbrauchernetzwerke gewährleisten sollte, um Maßnahmen zur Bekämpfung wettbewerbswidriger Praktiken länderübergreifend durchzusetzen. So werden in der Verordnung zum Beispiel Geo-Blocking-Praktiken im elektronischen Handel aufgeführt, die natürlich ein grenzüberschreitendes Thema sind. Die Europäischen Verbraucherzentren arbeiten seit vielen Jahren an diesem Problem und haben dabei grenzüberschreitende Beispiele und Praktiken gesammelt. Es wird nun erwartet, dass im Zusammenwirken mit dem Europäischen Wettbewerbsnetz und dem Netzwerk für die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz besser koordinierte Durchsetzungsmaßnahmen ergriffen werden.

4.3.2.

In der schnell wachsenden digitalen Wirtschaft entstehen laufend zahlreiche neue Arten wettbewerbswidriger Praktiken. So können z. B. mithilfe des Einsatzes ausgeklügelter Algorithmen die Preise auf der Grundlage der über eine Person in verschiedenen anderen Quellen im Internet beschafften Daten angepasst werden, und Unternehmen können so auch im Internet Absprachen treffen. Die Kommission muss über angemessene Haushaltsmittel verfügen, um solche Praktiken zu überwachen und zu bekämpfen.

4.4.

Nach Ansicht des EWSA wäre eine bessere Zusammenarbeit zwischen den NWB und den Verbraucherorganisationen für beide Seiten von Nutzen, zumal die nationalen Verbraucherorganisationen sehr gut im Stande sind, die NWB über mutmaßliche Verstöße zu informieren. Sie können den Behörden sogar nützliche Informationen aus ihrem Umgang mit Beschwerden zur Verfügung stellen.

4.5.

Die Energieunion kann die derzeitige Entwicklung eines fairen Wettbewerbs im EU-Energiesektor vorantreiben, der nach wie vor ein Bereich ist, der ein weites Spektrum an Verbraucher- und Industriepreisen aufweist und in dem mitunter wenig Auswahl auf dem Markt besteht. Der EWSA ist der Ansicht, dass eine umfassende Analyse der Regulierungspraktiken — die sich zwischen den Mitgliedstaaten erheblich unterscheiden — die Grundlage für einen konstruktiven Dialog zur Behebung von Unstimmigkeiten bilden kann. Diese Untersuchung sollte von den NWB, den nationalen Regulierungsbehörden für Energie und der Kommission gemeinsam durchgeführt werden. Dies könnte Aufschluss über die unzureichende Auswahl und wettbewerbsbeschränkende Praktiken z. B. bei Fernwärmesystemen geben.

4.6.

Das Ausüben unangemessener Marktmacht im Lebensmitteleinzelhandel ist ein fortwährendes Problem. Die Kommission stellt sich die Frage, ob große Einzelhandelsketten aufgrund ihrer Doppelrolle als Kunden und (über Eigenmarken) als Wettbewerber ihrer Lieferanten eine zu große Verhandlungsmacht (in den bilateralen Verhandlungen mit ihren Lieferanten) und Kaufkraft (auf dem Gesamtmarkt) erlangt haben (10). Der Ausschuss drängt auf Maßnahmen im Einklang mit seiner jüngsten Stellungnahme zu diesem Thema (11) und wiederholt seine Empfehlung, dass die Kommission die Überwachung der Funktionsweise der Lebensmittelvertriebskette in künftige Berichte über die Wettbewerbspolitik aufnehmen sollte.

4.7.   Wettbewerbsrecht und Interesse der breiten Öffentlichkeit

4.7.1.

Marktverzerrungen können durch eine Reihe von Faktoren verursacht werden, die außerhalb der Reichweite der Wettbewerbspolitik im engeren Sinne liegen. Dazu gehören große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten in der Unternehmensbesteuerung, allgemein als Sozialdumping bekannte Beschäftigungspraktiken, Praktiken in der sog. Gig-Ökonomie und Fragen im Zusammenhang mit der Kreislaufwirtschaft und der globalen wirtschaftlichen Nachhaltigkeit.

4.7.2.

Das den wirtschaftlichen Ansichten der Mitte des vergangenen Jahrhunderts verhaftete Wettbewerbsrecht muss nun den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden. Es sollte eine umfassende und systematische Überprüfung des EU-Wettbewerbsrechts — unter Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer und sozialer Ziele — durchgeführt werden, um die künstliche Trennung von Markt und sozioökologischen Bereichen zu überwinden.

4.7.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass neben den Verbraucherinteressen auch die Zusagen der EU in puncto Nachhaltigkeitsziele und Pariser Klimaschutzübereinkommen zusätzlich zu den in den Verträgen bestehenden Verpflichtungen bei der Anwendung des Wettbewerbsrechts als Ziele des öffentlichen Interesses berücksichtigt werden sollten.

4.7.4.

Die Auswirkungen von Zusammenschlüssen auf künftige Generationen von Verbrauchern und Erzeugern sollten erkannt werden. Verschiedene Berechnungsmethoden für schädliche langfristige Auswirkungen sollten bewertet werden, wie z. B. bei der Lebenszykluskostenrechnung im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe bereits der Fall ist.

4.8.

Der EWSA forderte in mehreren kürzlich vorgelegten Stellungnahmen (12), dass die von der Europäischen Kommission eingeleiteten Maßnahmen zur fairen Besteuerung (im Hinblick auf multinationale Konzerne und Einzelpersonen) verstärkt werden sollten, da noch zahlreiche Fragen ungelöst sind. Dies umfasst die Bekämpfung von Steuerbetrug, Steueroasen, aggressiver Steuerplanung und unfairem Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten.

4.9.

Insbesondere bestehen nach wie vor erhebliche Marktverzerrungen aufgrund der stark unterschiedlichen nationalen Körperschaftsteuern der Mitgliedstaaten, deren Sätze zwischen 9 % und 35 % schwanken. In einigen Ländern sind sogar noch niedrigere Steuersätze wie z. B. in Kategorien wie den geistigen Eigentumsrechten zu finden. Da die Steuerpolitik im Bereich der nationalen Zuständigkeit liegt, wird es die EU-Wettbewerbspolitik stets schwer haben, die entstandenen Wettbewerbsverzerrungen auszugleichen.

4.10.

Mit der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidung, die bis zum 1. Januar 2019 in innerstaatliches Recht umgesetzt sein sollte, werden Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken festgelegt, die sich unmittelbar auf die Funktionsweise des Binnenmarkts auswirken. Sie enthält begrüßenswerte Bestimmungen, mit denen sich divergierende nationale Ansätze vermeiden lassen.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission (ABl. L 102 vom 23.4.2010, S. 1), https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/ALL/?uri=CELEX:32010R0330.

(2)  http://ec.europa.eu/competition/antitrust/proposed_directive_de.pdf.

(3)  ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 69.

(4)  Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über wettbewerbsrechtliche Schadensersatzklagen (ABl. L 349 vom 5.12.2014, S. 1).

(5)  ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 70.

(6)  Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts (COM(2017) 142 final).

(7)  Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (COM(2018) 218 final).

(8)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Stärkung des Schutzes von Hinweisgebern auf EU-Ebene. Berichterstatterin: Franca Salis-Madinier (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 155).

(9)  Verordnung (EU) 2017/2394 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 345, 27.12.2017, S. 1).

(10)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen SWD(2018) 349 final.

(11)  ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 69.

(12)  ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 1; ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 29; ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 29.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/52


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2015/1588 des Rates vom 13. Juli 2015 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen“

(COM(2018) 398 final — 2018/0222 (NLE))

(2019/C 110/09)

Berichterstatter:

Jorge PEGADO LIZ

Befassung

Europäische Kommission, 12.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

21.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

205/3/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt den Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung (EU) 2015/1588 vom 13. Juli 2015 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen (COM (2018) 398 final) zur Kenntnis. Dieser Vorschlag besteht darin, zwei weitere Beihilfegruppen in die Ermächtigungsverordnung aufzunehmen, die der Kommission den Erlass von Gruppenfreistellungen ermöglicht (Verordnung (EU) 2015/1588 des Rates (1) vom 13. Juli 2015).

1.2.

Der EWSA hält diesen Vorschlag im Rahmen einer ganzen Reihe von neuen Vorschlägen, insbesondere zum nächsten mehrjährigen Finanzrahmen, für zweckmäßig und notwendig, da er ein wesentliches Instrument für das reibungslose Funktionieren mehrerer in diesen neuen Initiativen vorgesehener Maßnahmen ist. Der Vorschlag trägt entscheidend dazu bei, dass die Kommission bei der Auswahl von Förderprojekten, die im gemeinsamen Interesse der Union liegen, eine wichtige Rolle spielt und dass staatliche Beihilfen private Investitionen ergänzen und transparent sind.

1.3.

Der EWSA stimmt daher diesem neuen Vorschlag der Kommission zu und unterstützt ihn. Darüber hinaus sollten sich die Interessenträger nach Auffassung des EWSA an die Leitlinien des Verhaltenskodex halten.

2.   Der Kommissionsvorschlag

2.1.

Am 6. Juni 2018 legte die Kommission im Rahmen einer ganzen Reihe neuer Vorschläge, insbesondere zum nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) (2), einen Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung (EU) 2015/1588 vom 13. Juli 2015 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen (3) vor.

2.2.

Mit diesem Vorschlag sollen bestimmte EU-Finanzierungsprogramme, insbesondere im Rahmen der Programme COSME und Horizont Europa, sowie das Programm „Digitales Europa“, der neue Fonds „InvestEU“ und die Förderung der Europäischen territorialen Zusammenarbeit besser mit dem Beihilferecht verzahnt werden, weshalb er eine gezielte Änderung der geltenden Beihilfevorschriften ermöglichen muss, damit die öffentlichen Mittel der Mitgliedstaaten — auch aus den auf nationaler Ebene verwalteten europäischen Struktur- und Investitionsfonds — und die von der Kommission zentral verwalteten EU-Mittel möglichst nahtlos miteinander kombiniert werden können, ohne den Wettbewerb im EU-Binnenmarkt zu verfälschen.

2.3.

Somit besteht der Vorschlag darin, zwei neue Beihilfegruppen in die Ermächtigungsverordnung aufzunehmen und es der Kommission dadurch zu ermöglichen, Gruppenfreistellungen (Verordnung (EU) 2015/1588 vom 13. Juli 2015) auf der Grundlage eindeutiger Vereinbarkeitskriterien zu erlassen, die gewährleisten, dass die Auswirkungen auf den Wettbewerb und den Handel zwischen Mitgliedstaaten begrenzt sind. Durch den Erlass solcher Gruppenfreistellungen auf der Grundlage von im Voraus klar definierten Voraussetzungen für die Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt könnten die Verwaltungsverfahren für die Mitgliedstaaten und die Kommission erheblich vereinfacht werden.

2.4.

Zusammenfassend schlägt die Kommission demnach vor, in Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung (EU) 2015/1588 die folgenden Ziffern anzufügen:

„xv)

Finanzierungen, die durch zentral verwaltete Finanzierungsinstrumente oder Haushaltsgarantien der Union weitergeleitet beziehungsweise unterstützt werden, wenn die Beihilfe in Form einer zusätzlichen Finanzierung aus staatlichen Mitteln gewährt wird,

xvi)

Projekten, die aus Programmen der Europäischen territorialen Zusammenarbeit der Union unterstützt werden“.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA hat die neuen programmatischen Initiativen der Kommission in mehreren kürzlich verabschiedeten Stellungnahmen unterstützt, insbesondere in seinen Stellungnahmen zu folgenden Themen:

a)

InvestEU (4);

b)

Programm Horizont Europa (5);

c)

Künstliche Intelligenz für Europa (6);

d)

Erneuerte europäische Agenda für Forschung und Innovation (7);

e)

Europäischer Fonds für regionale Entwicklung und Kohäsionsfonds (8);

f)

Verordnung betreffend die europäische territoriale Zusammenarbeit 2021-2027 (9);

g)

Fazilität „Connecting Europe“ (10);

h)

Umsetzung von TEN-V-Vorhaben (11);

i)

Vernetzte und automatisierte Mobilität (12);

j)

Programm „Digitales Europa“ (13);

3.2.

Der vorliegende Vorschlag der Kommission ist für das reibungslose Funktionieren mehrerer der in diesen neuen Initiativen (deren Aufzählung nicht abschließend ist, da die Gespräche zwischen den beiden gesetzgebenden Organen noch im Gange sind) vorgesehenen Maßnahmen erforderlich und trägt entscheidend dazu bei, dass die Kommission bei der Auswahl von Förderprojekten und -regelungen, die im gemeinsamen Interesse der Union liegen, eine wichtige Rolle spielt und dass die staatlichen Beihilfen private Investitionen ergänzen und transparent sind.

3.3.

Denn die Artikel 107, 108 und 109 im Kapitel zu den gemeinsamen Wettbewerbsregeln sind die Rahmenbestimmungen im Grundgesetz der EU (dem AEUV) für die Regelung der staatlichen Beihilfen.

3.4.

Im Hinblick auf die Anwendung der Verordnung (EU) 2015/1588 vom 13. Juli 2015 ist darin die Anwendung der Artikel 107 und 108 AEUV auf bestimmte Gruppen horizontaler staatlicher Beihilfen vorgesehen, unabhängig davon, ob es sich dabei um staatliche Investitionen oder staatliche Garantien handelt.

3.5.

Diese Verordnung muss angepasst werden, damit die in dem Kommissionsvorschlag genannten Ziele, die der EWSA uneingeschränkt unterstützt, erreicht werden können.

3.6.

Somit stimmt der EWSA den gemäß dem Kommissionsvorschlag an der Verordnung (EU) 2015/1588 vorzunehmenden Änderungen zu, da er sie für die Verwirklichung der genannten Ziele als notwendig erachtet.

3.7.

Zudem begrüßt der EWSA, dass die Kommission wenige Tage nach der Veröffentlichung des hier erörterten Vorschlags auch einen „Verhaltenskodex für die Durchführung von Beihilfeverfahren“ (14) veröffentlicht hat, mit dem der Kodex von 2009 (15) aufgehoben und der Mitteilung über ein vereinfachtes Verfahren Rechnung getragen wird.

3.8.

Der EWSA begrüßt diese Initiative, die darauf abzielt, die modernisierten Beihilfevorschriften, wie die in dem vorliegenden Vorschlag, bestmöglich zu nutzen, den Mitgliedstaaten, den Beihilfeempfängern und den Beteiligten Orientierungshilfen hinsichtlich des praktischen Ablaufs von Beihilfeverfahren an die Hand zu geben und „Beihilfeverfahren so transparent, einfach, klar, vorhersehbar und zügig wie möglich zu gestalten“.

3.9.

Dieser Verhaltenskodex von 2018 stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und begründet keine neuen Rechte. Er beschreibt das Verfahren und gibt Orientierungshilfen dazu. Laut einem darin enthaltenen Hinweis ist dieser Kodex parallel zu allen früher angenommenen Texten zu lesen.

3.10.

Sein Hauptzweck besteht darin, bei den Kontrollen die Zusammenarbeit der Beteiligten mit der Kommission zu fördern und das Verfahren für Unternehmen und Mitgliedstaaten verständlicher zu machen.

3.11.

Der Kodex verbessert auch das Verfahren zur Bearbeitung beihilferechtlicher Beschwerden, indem die Antragsteller verpflichtet werden, das beeinträchtigte Interesse schon bei der Einreichung des Beschwerdeformulars nachzuweisen und indem ungefähre Fristen für die Bearbeitung der Beschwerden angegeben werden.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. L 248 vom 24.9.2015, S. 1.

(2)  COM(2018) 321 final vom 2. April 2018.

(3)  COM(2018) 398 final.

(4)  ECO/474 (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 131).

(5)  INT/858 (noch nicht im ABl. veröffentlicht).

(6)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 51.

(7)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 73.

(8)  ECO/462 (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 90).

(9)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 116.

(10)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 191.

(11)  TEN/669 (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 269).

(12)  TEN/673 (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 274).

(13)  TEN/677 (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 292).

(14)  Mitteilung der Kommission C(2018) 4412 final vom 16.7.2018.

(15)  ABl. C 136 vom 16.6.2009, S. 13.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/55


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Maßnahmen der Union nach ihrem Beitritt zur Genfer Akte des Lissabonner Abkommens über Ursprungsbezeichnungen und geografische Angaben“

(COM(2018) 365 final — 2018/0189 (COD))

(2019/C 110/10)

Berichterstatter:

Arnold PUECH d’ALISSAC

Befassung

Europäisches Parlament, 10.9.2018

Rat, 17.10.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

21.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

208/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die geografischen Angaben stellen für die in der EU ansässigen Erzeuger ein einzigartiges und wertvolles Instrument auf dem immer stärker liberalisierten und von Wettbewerb geprägten Weltmarkt dar.

1.2.

Die Europäische Kommission sollte sich stets für den Schutz der Produktionsmodelle und der Qualitätssysteme einsetzen, deren Nachhaltigkeit mit ihren positiven Auswirkungen auf Verbraucher und Produzenten weltweit anerkannt ist.

1.3.

Das Besondere an geografischen Angaben liegt darin, die lokale Dimension eines Erzeugnisses hervorzuheben, um so die lokale Kultur und das lokale Fachwissen, das jeweilige Gebiet und seine agrarökologischen Besonderheiten zur Geltung zu bringen. Es gilt, diese Besonderheiten zu wahren.

1.4.

Weltweit ist ein deutlicher Trend zur Entwicklung offizieller Gütezeichen und Herkunftsbezeichnungen festzustellen.

1.5.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hebt diesen positiven Aspekt hervor und begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission, mit dem eingetragene Ursprungsbezeichnungen und geografische Angaben im Rahmen der Genfer Akte und ihrer Rechtspraxis auf internationaler Ebene geschützt werden sollen. Er hält es für unerlässlich, die Schaffung eines harmonisierten Rahmens für den Schutz von Qualitätszeichen auf internationaler Ebene anzustreben. Allerdings vertritt er die Auffassung, dass unbedingt ein globaler Ansatz erforderlich ist, der darauf abzielt, das System der Gütezeichen insgesamt zu fördern und zu schützen.

1.6.

Es sollte ein System vorgeschlagen werden, das die gerechte Behandlung aller europäischen Erzeuger gewährleistet, die eine Anerkennung der geografischen Angabe für ihre Erzeugnisse auch auf internationaler Ebene wünschen.

1.7.

Nach Auffassung des EWSA gilt es, die Rechte zu wahren, die durch diese bereits eingetragenen und auf EU-Ebene geschützten geografischen Angaben erworben wurden, um Nachteile oder Ungleichbehandlungen zu vermeiden.

2.   Der Verordnungsvorschlag

2.1.

Mit dem Vorschlag der Kommission soll der rechtliche Rahmen für eine wirksame Mitarbeit der Europäischen Union im Lissabonner Verband über Ursprungsbezeichnungen und geografische Angaben der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO — World Intellectual Property Organisation) geschaffen werden, sobald die EU Vertragspartei der Genfer Akte geworden ist.

2.2.

Gemäß der Genfer Akte schützt jede Vertragspartei eingetragene Ursprungsbezeichnungen und geografische Angaben in ihrem Gebiet gemäß ihrer eigenen Rechtsordnung und -praxis. Somit ist eine eingetragene Ursprungsbezeichnung oder geografische Angabe durch jede Vertragspartei geschützt, es sei denn, der Schutz wurde verweigert.

2.3.

Die Europäische Kommission schlägt vor, dass die Europäische Union eine (mit den Mitgliedstaaten zu vereinbarende) Liste ihrer geografischen Angaben zum Schutz im Rahmen des Lissabonner Systems einreicht, sobald sie Vertragspartei der Genfer Akte ist. Nach dem Beitritt der EU zum Lissabonner Verband können auf Initiative der Kommission oder auf Antrag eines Mitgliedstaats oder einer interessierten Erzeugergruppierung zusätzliche geografische Angaben, die in der EU geschützt und registriert sind, zur internationalen Eintragung angemeldet werden.

2.4.

Für die von der Kommission vorzunehmende Prüfung von Ursprungsbezeichnungen und geografischen Angaben, die aus dritten Vertragsparteien stammen und im internationalen Register eingetragen sind, sollten geeignete Verfahren festgelegt werden. Die Durchsetzung von Ursprungsbezeichnungen und geografischen Angaben, die aus dritten Vertragsparteien stammen und im internationalen Register eingetragen sind, durch die EU sollte gemäß Kapitel III der Genfer Akte erfolgen.

2.5.

Gemäß der Genfer Akte ist jede Vertragspartei insbesondere verpflichtet, wirksame Rechtsmittel zum Schutz eingetragener Ursprungsbezeichnungen und eingetragener geografischer Angaben bereitzustellen (siehe Artikel 14 der Genfer Akte des Lissabonner Abkommens) (1).

2.6.

Sieben EU-Mitgliedstaaten sind Mitglieder des Lissabonner Verbands und haben als solche den Schutz von Bezeichnungen aus Drittstaaten akzeptiert. Damit sie ihre internationalen Verpflichtungen erfüllen können, die vor dem Beitritt der EU zum Lissabonner Verband eingegangen wurden, sollte eine Übergangsregelung eingeführt werden, die nur auf nationaler Ebene Wirkung entfalten und keine Auswirkungen auf den unionsinternen oder internationalen Handel haben sollte.

2.7.

Die Gebühren, die gemäß der Genfer Akte und der gemeinsamen Ausführungsordnung für die Einreichung einer Anmeldung zur Eintragung einer Ursprungsbezeichnung oder einer geografischen Angabe zu entrichten sind, sind von dem Mitgliedstaat zu tragen, aus dem die Ursprungsbezeichnung oder die geografische Angabe stammt (siehe Artikel 11 der Genfer Akte des Lissabonner Abkommens) (2).

2.8.

Die EU hat einheitliche, umfassende Regelungen für den Schutz von geografischen Angaben für landwirtschaftliche Erzeugnisse eingeführt. Durch diese Regelungen erhalten geschützte Namen für die betreffenden Erzeugnisse einen weitreichenden, EU-weiten Schutz auf der Grundlage eines einheitlichen Antragsverfahrens. Der Vorschlag steht im Einklang mit der allgemeinen Politik der EU zur Förderung und Verbesserung des Schutzes geografischer Angaben durch bilaterale, regionale und multilaterale Abkommen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission, mit dem eingetragene Ursprungsbezeichnungen und geografische Angaben im Rahmen der Genfer Akte und ihrer Rechtspraxis auf internationaler Ebene geschützt werden sollen. Angesichts der immer stärkeren Globalisierung insbesondere beim Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen ist es unabdingbar, einen harmonisierten Rahmen für den Schutz von Gütezeichen auf internationaler Ebene zu schaffen.

3.2.

Die Europäische Kommission sollte sich stets für den Schutz der Produktionsmodelle und der Qualitätskontrollsysteme einsetzen, deren positive Auswirkungen auf die Gesundheit der Verbraucher und die ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit weltweit anerkannt sind.

3.3.

Die geografischen Angaben stellen für die in der EU ansässigen Erzeuger ein einzigartiges und wertvolles Instrument auf dem immer stärker liberalisierten Weltmarkt dar (5,7 % des Absatzes der Lebensmittelindustrie — mehr als 54 Mrd. EUR im Jahr 2010) (3). Allerdings bleiben alle Anstrengungen, im Bereich der Qualität zu konkurrieren, fruchtlos, wenn das wichtigste Gütezeichen unserer Qualitätsprodukte — nämlich die geografischen Angaben — auf den internationalen Märkten nicht ausreichend geschützt ist.

3.4.

Der EWSA betont, dass es sich bei den geografischen Angaben um Unterscheidungsmerkmale handelt, die es ermöglichen, konkurrierende Produkte voneinander zu unterscheiden und den Verbraucher über die Herkunft des jeweiligen Produkts zu informieren. Im Gegensatz zu Handelsmarken soll mit einer geografischen Angabe die Verbindung zwischen einem Erzeugnis und seinem Herkunftsgebiet betont werden. Das Besondere an geografischen Angaben ist also, dass die lokale Dimension eines Erzeugnisses hervorgehoben und so die lokale Kultur und das lokale Fachwissen, das jeweilige Gebiet und seine agrarökologischen Besonderheiten zur Geltung gebracht werden. Es gilt, diese Besonderheiten zu wahren.

3.5.

Bereits 2008 betonte der EWSA in seiner Stellungnahme zum Thema „Geografische Angaben und Ursprungsbezeichnungen“ (4): „In der europäischen Gesellschaft lässt sich seit langem beobachten, dass das Bewusstsein der Verbraucher hinsichtlich der Merkmale von Lebensmitteln und Agrarerzeugnissen kontinuierlich wächst. Infolgedessen steigt die Nachfrage nach Qualitätsprodukten.“ Diese Feststellung gilt heute mehr denn je, da die Nachfrage der europäischen Verbraucher nach hochwertigen Produkten aus einem bestimmten Gebiet, einer Region oder einem Land, deren Qualität und Ruf nebst anderen Eigenschaften unmittelbar auf diese geografische Herkunft zurückzuführen sind, stetig im Steigen begriffen ist (5).

3.6.

Laut einer unlängst veröffentlichten Stellungnahme des französischen Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrats mit dem Titel „Les signes officiels de qualité et d’origine des produits alimentaires“ (Offizielle Gütezeichen und Herkunftsbezeichnungen für Lebensmittel) ist weltweit ein deutlicher Trend zur Entwicklung von offiziellen Gütezeichen und Herkunftsbezeichnungen festzustellen. Geografische Angaben werden immer beliebter, weil sie einer steigenden Nachfrage seitens der Verbraucher Rechnung tragen und zugleich die Geschichte, das Kulturerbe und althergebrachte Kenntnisse würdigen, die mit einem bestimmten Gebiet verbunden sind.

3.7.

Der EWSA weist darauf hin, dass sich die geografischen Angaben laut FAO (6) sehr positiv auf die Preise auswirken, und zwar unabhängig von der Art des Erzeugnisses, dem Herkunftsgebiet oder der Dauer der Eintragung.

3.8.

In sämtlichen bilateralen Abkommen, die in letzter Zeit geschlossen wurden oder derzeit ausgehandelt werden, kommt dem Schutz der geografischen Angaben eine immer zentralere Rolle zu. Der EWSA begrüßt diese positive Entwicklung. Allerdings vertritt er die Auffassung, dass unbedingt ein globaler Ansatz erforderlich ist, der darauf abzielt, das System der Gütezeichen insgesamt zu fördern und zu schützen.

3.9.

Dazu sollte nach Einschätzung des EWSA der Vorschlag, auf Unionsebene eine Positivliste zu erstellen, die nicht auf den gebotenen globalen Schutz des Systems der geografischen Angaben abgestimmt ist, nochmals überdacht werden. Es sollte vielmehr ein System vorgeschlagen werden, mit dem die gerechte Behandlung aller europäischen Erzeuger gewährleistet wird, die eine Anerkennung ihrer geografischen Angabe auch auf internationaler Ebene wünschen. Dies gilt umso mehr, als bei den ausgewählten Kriterien andere sozioökonomische Kriterien, die von wesentlicher Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung bestimmter EU-Gebiete sind, nicht berücksichtigt werden. Rund um die geografischen Angaben bildet sich häufig eine kleinräumige Wirtschaft heraus, durch die Arbeitsplätze geschaffen werden, die sich sehr günstig auf andere Wirtschaftsbereiche wie den Tourismus auswirkt und die die Raumordnung und -nutzung positiv beeinflusst.

3.10.

Der EWSA fordert die Kommission auf, den Folgen der künftig neu gestalteten Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich sowie den Auswirkungen Rechnung zu tragen, die die Festlegung einer Positivliste auf die laufenden Verhandlungen haben könnte, die auf der Grundlage des Schutzes des Qualitätssystems der EU insgesamt geführt werden sollten. Das Vereinigte Königreich muss auch nach seinem Austritt aus der EU die geografischen Angaben beachten, die von einem System gewährleistet werden, das ihm bisher zunutze war.

3.11.

Der EWSA weist nachdrücklich darauf hin, dass der Agrar- und Lebensmittelsektor der Union einer erheblichen Bedrohung durch Produktfälschungen ausgesetzt ist. Laut einem kürzlich veröffentlichten Bericht (7) der Europäischen Kommission sind Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse am häufigsten von Produktfälschungen betroffen.

3.12.

Der EWSA ruft in Erinnerung, dass zum jetzigen Stand bereits sieben Mitgliedstaaten der EU Vollmitglieder des Lissabonner Abkommens sind (Bulgarien, Frankreich, Italien, Portugal, die Slowakei, die Tschechische Republik und Ungarn) und dass dieses Abkommen derzeit über 1 000 eingetragene geografische Angaben umfasst, bei denen der Schutz der geschützten Ursprungsbezeichnung (g.U.) bzw. der geschützten geografischen Angabe (g.g.A.) durch ein einziges Eintragungsverfahren sichergestellt ist.

3.13.

Nach Auffassung des EWSA gilt es, die Rechte zu wahren, die durch diese bereits eingetragenen und auf EU-Ebene geschützten geografischen Angaben erworben wurden, um Nachteile oder Ungleichbehandlungen zu vermeiden.

3.14.

Der EWSA verweist schließlich auf die derzeit einzige zum wirtschaftlichen Wert der geografischen Angaben in der EU verfügbare Studie aus dem Jahr 2012 (8). Die Höhe des Wertgewinns für die geografischen Angaben („value premium rate“) hat sich jedoch allem Anschein nach seither nicht wesentlich verändert.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  http://www.wipo.int/edocs/pubdocs/fr/wipo_pub_239.pdf.

(2)  Ebenda.

(3)  Siehe Ausschreibung AGRI-2011-EVAL-04.

(4)  ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 57.

(5)  Verordnung (EU) Nr. 1151/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 über Qualitätsregelungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel (ABl. L 343 vom 14.12.2012, S. 1) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1540542863415&uri=CELEX:32012R1151.

(6)  Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen.

(7)  https://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/report_on_eu_customs_enforcement_of_ipr_2017_en.pdf (derzeit nur in englischer Sprache verfügbar).

(8)  https://ec.europa.eu/agriculture/external-studies/value-gi_en (derzeit nur in englischer Sprache verfügbar).


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/58


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgender Vorlage: „Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Bankenaufsichtsbehörde), der Verordnung (EU) Nr. 1094/2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung), der Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde), der Verordnung (EU) Nr. 345/2013 über Europäische Risikokapitalfonds, der Verordnung (EU) Nr. 346/2013 über Europäische Fonds für soziales Unternehmertum, der Verordnung (EU) Nr. 600/2014 über Märkte für Finanzinstrumente, der Verordnung (EU) 2015/760 über europäische langfristige Investmentfonds, der Verordnung (EU) 2016/1011 über Indizes, die bei Finanzinstrumenten und Finanzkontrakten als Referenzwert oder zur Messung der Wertentwicklung eines Investmentfonds verwendet werden, der Verordnung (EU) 2017/1129 über den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt zu veröffentlichen ist, und der Richtlinie (EU) 2015/849 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung“

(COM(2018) 646 final — 2017/0230 (COD))

(2019/C 110/11)

Hauptberichterstatter:

Petr ZAHRADNÍK

Befassung

Europäisches Parlament, 4.10.2018

Rat der Europäischen Union, 12.11.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Verabschiedung im Plenum

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

121/0/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Flexibilität, mit der die Europäische Kommission auf die aktuellen Probleme der Bank- und Finanzinstitute reagiert und zusätzliche Maßnahmen ergreift, um den Praktiken der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung entgegenzuwirken.

1.2.

Gleichzeitig ist der EWSA der Ansicht, dass die verstärkte Koordinierung zwischen den Aufsichtsbehörden und die Erhöhung der Effizienz der von ihnen verwendeten Verfahren mit einer Koordinierung der Zusammenarbeit mit anderen einschlägigen Akteuren einhergehen sollte, damit dieses sehr gefährliche Problem wirksam gelöst werden kann.

1.3.

Der EWSA warnt davor, dass Technologie und Kommunikation nicht nur die Schaffung innovativer Finanzprodukte zum Nutzen von Anlegern und Inventoren ermöglichen, sondern gleichzeitig auch eine starke Versuchung für Kriminelle auf dem Gebiet der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung darstellen. Er spricht sich daher für Lösungen aus, die auf eine möglichst weitgehende Beseitigung künftiger Risiken ausgerichtet sind.

1.4.

Der EWSA unterstreicht, dass dieses Thema in Bezug auf Drittländer angesichts der Verschärfung der geopolitischen, sicherheitspolitischen und politischen Risiken immer mehr an Bedeutung gewinnt, und betont, dass die EU alles daransetzen muss, Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu beseitigen und den Missbrauch des Finanzmarktes und der Finanzinstitute der EU zu unterbinden.

1.5.

Der EWSA erachtet die in dem Legislativvorschlag unterbreiteten Maßnahmen zwar für durchaus wichtig, aber mit Blick auf die Bereiche Koordinierung, Organisation und Zuständigkeiten für unzulänglich. Daher sind für eine erfolgreiche Lösung des Problems weitere Maßnahmen erforderlich. Gleichzeitig teilt er die Auffassung der Europäischen Kommission, dass es im Interesse der Gangbarkeit und Nachhaltigkeit des eingeschlagenen Weges besser ist, schrittweise vorzugehen, um eine erhebliche Störung der Stabilität und Funktionalität des derzeitigen Systems zu verhindern.

1.6.

Der EWSA hält es im Rahmen der neuen Aufteilung der Befugnisse unter den Aufsichtsorganen für wünschenswert, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der europäischen Bankenaufsichtsbehörde (EBA) mit ihren neuen, erweiterten Zuständigkeiten und den nationalen Aufsichtsbehörden zu finden, damit alle Interessenträger die ihnen zur Verfügung stehenden Kapazitäten für die gewünschte Lösung des Problems bestmöglich nutzen.

1.7.

Der EWSA unterstreicht, wie wichtig die interne und externe Kommunikation über das Thema Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung ist, um das Ziel dieser Maßnahmen zu erreichen. Im Falle der internen Kommunikation ist die Optimierung und der Schutz der Informationsflüsse zwischen den zuständigen Aufsichtsbehörden von grundlegender Bedeutung; bei der externen Kommunikation handelt es sich um Information und Aufklärung für die interessierte Öffentlichkeit als Form der Prävention und Vorbereitung für den Fall, dass es zu solchen kriminellen Handlungen kommen sollte.

1.8.

Der EWSA fragt sich, warum der Bankensektor als derjenige Sektor ausgemacht wurde, der für den Missbrauch zu Zwecken der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung am anfälligsten ist, sodass die Position und die Befugnisse der EBA und nicht die der beiden anderen EU-Aufsichtsbehörden gestärkt werden.

1.9.

Der EWSA spricht sich dafür aus, die neuen Beziehungen zwischen der EBA und den übrigen EU-Aufsichtsbehörden sowie den Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten und insbesondere der Drittstaaten im Bereich der Koordinierung und des gemeinsamen Handelns bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung genauer zu umreißen.

2.   Allgemeiner Hintergrund des Vorschlags und wichtigste Fakten

2.1.

Seit 2011 ist in der EU das neue Europäische Finanzaufsichtssystem (ESFS) in Kraft, das erheblich zur Stabilität und Risikominderung auf den Finanzmärken beigetragen hat. Es hat zu einer Harmonisierung der Finanzmarktvorschriften in der EU und zu einer Konvergenz der Aufsichtstätigkeiten geführt. Der anschließende Aufschwung der technologischen und finanziellen Innovationen hat jedoch das Spektrum der kriminellen Aktivitäten, bei denen auf dem Finanzsektor Straftaten begangen werden und Geldwäsche betrieben wird, noch erweitert. Beide Arten von Aktivitäten sind natürlich nicht nur in hohem Maße gesellschaftlich unerwünscht und verwerflich, sie verzerren auch die Funktionsfähigkeit und Effizienz der Finanzmärkte. Denn ihr vorrangiges Ziel besteht nicht darin, die Rendite auf Grundlage objektiver Möglichkeiten für die Entwicklung einzelner Vermögenswerte und deren Bewertung zu maximieren, sondern geheim zu halten, zu verschleiern und nicht offen zu legen; diese Verfahren hängen wiederum damit zusammen, dass die Finanzmittel möglicherweise nicht optimal verteilt sind.

2.2.

Die vorgeschlagenen Maßnahmen zielen nicht nur darauf ab, die Möglichkeiten zur Begehung von Straftaten oder zur Legalisierung ihrer Folgen zu verhindern oder zu verringern, sondern auch die Widerstandsfähigkeit der Finanzinstitute, die Opfer solcher Straftaten wurden, zu bewahren und ihre Stabilität und Sicherheit im Interesse der Kunden und Anleger zu gewährleisten. Dadurch werden auch die politischen Risiken und Reputationsrisiken sowohl der einzelnen Mitgliedstaaten, als auch der EU als Ganzes verringert.

2.3.

Da die Finanzmärkte derzeit stärker als je zuvor multinational aufgestellt und miteinander verflochten sind, ist die Schaffung eines Systems, dass seine Funktion auch in einem grenzüberschreitenden Kontext erfüllt, ausgesprochen wichtig, denn empirische Analysen zeigen, dass diese kriminellen Handlungen immer häufiger grenzübergreifend begangen werden, unter anderem mithilfe von Rechtssubjekten aus Drittländern. Die auch noch so gut organisierte Verfolgung dieser Straftaten nur durch einen Mitgliedstaat reicht nicht aus, um letztendlich den Erfolg dieser Bemühungen zu sichern. Daher ist eine wirksame Zusammenarbeit zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden zur Bekämpfung der Geldwäsche bzw. den nationalen Finanzaufsichtsbehörden und den diesbezüglichen EU-Behörden und außerdem auch mit den Aufsichtsbehörden von Drittstaaten sehr wichtig.

2.4.

Die vorgeschlagene Maßnahme, um die es in dieser Stellungnahme geht, ist im Hinblick auf diese Bemühungen lückenhaft. Damit sie Erfolg haben, ist eine Koordinierung mit anderen Elementen, die in der Summe einen systematischen und planmäßigen Ansatz bilden, der die Verübung derartiger Straftaten durch die Täter maximal erschwert, von grundlegender Bedeutung.

2.5.

Der Vorschlag zielt insbesondere auf Folgendes ab:

Optimierung der Nutzung des verfügbaren Fachwissens und der eingesetzten Ressourcen, indem Aufgaben im Zusammenhang mit der Verhütung und Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung bei der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde zentralisiert werden;

Präzisierung des Umfangs und Inhalts der Aufgaben, die der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Geldwäsche übertragen werden;

Verstärkung der Instrumente für die Durchführung von Aufgaben zur Bekämpfung von Geldwäsche;

Stärkung der Koordinierungsfunktion der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde im Zusammenhang mit internationalen Aspekten der Bekämpfung von Geldwäsche.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung immer wichtiger wird, und zwar nicht nur aufgrund des dynamischen technologischen Wandels und der finanziellen Innovationen, sondern auch aufgrund der unlängst aufgedeckten zahlreichen Fälle, in denen das Banken- und Finanzsystem in mehreren EU-Mitgliedstaaten durch Straftaten geschädigt wurde. Auch die Erhöhung des geopolitischen Risikos einschließlich terroristischer Aktivitäten kann in diesem Zusammenhang als relevant angesehen werden.

3.2.

Der EWSA ist beunruhigt darüber, dass diese Problematik dadurch weiter verschärft wird, dass diese kriminellen Tätigkeiten und die Versuche, die daraus entstehenden Erträge mithilfe des Finanzsektors zu legalisieren, nicht nur grenzüberschreitend innerhalb der EU, sondern auch im Zusammenhang mit kriminellen Aktivitäten stattfinden, die sich auch auf Drittländer erstrecken. Der EWSA begrüßt, dass sich die Europäische Kommission aktiv darum bemüht, hier Abhilfe zu schaffen.

3.3.

Der EWSA weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass — obwohl die Überprüfung des Europäischen Finanzaufsichtssystems vor etwa einem Jahr (1) behandelt worden ist und der EWSA seine diesbezügliche Stellungnahme (2) am 15. Februar 2018 im Plenum verabschiedet hat — neue Erkenntnisse und Umstände dazu geführt haben, diesen Vorschlag durch die Aufnahme zusätzlicher Elemente zu aktualisieren, um seine Wirksamkeit zu erhöhen. Der Inhalt der betreffenden Stellungnahme des EWSA bleibt jedoch gültig und in vollem Umfang relevant. Gleichzeitig begrüßt der EWSA die flexible Reaktion der Europäischen Kommission auf eine Reihe von Bankenskandalen in mehreren EU-Mitgliedstaaten, die bestätigt haben, dass Straftäter in der Lage sind, sowohl die technologischen Instrumente und Kommunikationsmittel als auch die geltenden Rechtsvorschriften für ihre Zwecke zu missbrauchen.

3.4.

Der EWSA stellt fest, dass die neuen Elemente des Vorschlags vor allem technischer und organisatorischer Art sind, obwohl die Lösungen, die zu einer Verbesserung der jetzigen Lage führen, umfassender und komplexer sein müssen. Der EWSA fügt hinzu, dass der Vorschlag einen engen Fragenkomplex betrifft, der mit der Ausweitung der Befugnisse der EBA und einer verstärkten Koordinierung der EBA mit den nationalen Aufsichtsbehörden bei der Bekämpfung der Geldwäsche sowie in gewisser Hinsicht und in ausgewählten Fällen auch mit Kontrollen über sie verbunden ist. Auf der anderen Seite wird in dem Vorschlag beispielsweise nicht auf die Tätigkeit der Zentralstellen für Geldwäsche-Verdachtsanzeigen eingegangen. Der Vorschlag bezieht sich im Großen und Ganzen auf die Koordinierung von Tätigkeiten und Verfahren und nicht auf die konkrete Bekämpfung der Geldwäsche.

3.5.

Der EWSA weist warnend und nachdrücklich darauf hin, dass die Geldwäsche nicht nur die Legalisierung von Erträgen aus Tätigkeiten ermöglicht, die als unvereinbar mit dem Recht und als strafbar angesehen werden, sondern dass sie gleichzeitig auch zu einer irrationalen Ressourcenallokation führt, wobei das Hauptziel dieser Vorgänge darin besteht, „nicht erkannt“ zu werden und die investierten Mittel zu „legalisieren“ oder an einen anderen Ort zu überstellen, an dem weitere Straftaten begangen werden, nicht aber notwendigerweise darin, Gewinn zu erzielen. Der EWSA respektiert und unterstreicht die Tatsache, dass die vorgeschlagene Änderung keine Analyse der neuen Trends und der Umstände enthält, unter denen die Geldwäsche gegenwärtig stattfindet. Im Zusammenhang mit der Beseitigung dieser unlauteren Praktiken konzentriert sich der Vorschlag ausschließlich und gezielt auf ausgewählte Bereiche, in denen es vornehmlich darum geht, die Rolle der EBA unter den europäischen Aufsichtsbehörden bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu stärken und die Kommunikation der EBA mit den nationalen, für die Bekämpfung der Geldwäsche zuständigen Aufsichtsbehörden, die durchweg Teil der Aufsichtsbehörden für den Banken- bzw. Finanzmarkt sind, besser zu koordinieren.

3.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine angemessene Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der EBA und den nationalen Behörden unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips in diesem Zusammenhang unbedingt erforderlich ist. Eine Stärkung der Zuständigkeiten der EBA im Falle grenzübergreifender Transaktionen ist absolut unerlässlich, legitim und gerechtfertigt. Andererseits sollte die Zuständigkeit für ausschließlich nationale Fälle, in denen die EBA nicht in vollem Umfang ermitteln kann, jedoch weiterhin in den Händen der nationalen Behörden liegen.

3.7.

Angesichts der Tatsache, dass das Thema Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung für die Gewährleistung eines soliden wirtschaftlichen und finanziellen Umfelds in der gesamten EU von grundlegender Bedeutung ist, fragt sich der EWSA, ob es nicht angemessen wäre, innerhalb der Exekutive der EU eine spezielle Organisation für diesen Bereich zu schaffen, beispielsweise eine neue Generaldirektion. Dieses Thema gewinnt mit Blick auf die Einsetzung einer neuen Europäischen Kommission im Herbst 2019 immer mehr an Bedeutung.

3.8.

Der EWSA fragt sich außerdem, mit welcher Begründung vorgeschlagen wird, dass die EBA bei der Lösung dieses Problems eine wichtige koordinierende Rolle spielen soll. Heißt das etwa, dass die Europäische Kommission der Ansicht ist, dass der Bankensektor der EU den größten Spielraum für Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung bietet?

3.9.

Der EWSA teilt die Ansicht, dass im Rahmen dieses Vorschlags eine wirksame Kommunikation über die Lösung dieses Problems stattfinden muss. Diese Kommunikation sollte nicht nur auf eine wirksame Informationsübermittlung zwischen allen beteiligten Aufsichtsbehörden (interne Kommunikation), sondern auch darauf ausgerichtet sein, dass der öffentliche Raum (Kunden des Finanzsektors und die breite Öffentlichkeit) entsprechend informiert wird.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA fordert, dass in dem Vorschlag — in Form eines umfassenden Mandats für den gesamten Finanzmarkt — ganz konkret die Bereiche und Verbindungen festgelegt werden, in denen die EBA gegenüber den übrigen Aufsichtsbehörden der EU für die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung eine beherrschende Stellung innehaben wird.

4.2.

Ebenso fordert der EWSA eine nähere Klarstellung der Bedingungen, unter denen die EBA die Verfahren der innerstaatlichen Aufsichtsbehörden überwachen oder unmittelbar Entscheidungen über einzelne Wirtschaftsteilnehmer des Finanzsektors treffen kann.

4.3.

Der EWSA ist gleichzeitig sehr an den Modalitäten für eine Zusammenarbeit mit den Aufsichtsbehörden in Drittländern interessiert.

4.4.

Der EWSA fordert ferner nähere Informationen darüber, wie alle relevanten Informationen im Zusammenhang mit Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, die von den nationalen Behörden bereitgestellt werden, zusammengeführt werden sollen für den Fall, dass sie aus geheimen oder streng geheimen Quellen stammen, und wie diese Informationen geschützt werden sollen.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Ursprünglicher Legislativvorschlag COM(2017) 536 final vom 20.9.2017. Er zielte darauf ab, die Fähigkeit der europäischen Aufsichtsbehörden zur Gewährleistung einer konvergenten und effizienten Finanzmarktaufsicht zu stärken; allerdings war die Ausweitung des Mandats dieser Behörden auf Fragen der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung nicht Gegenstand dieses Vorschlags.

(2)  ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 63.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/62


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der Gemeinsamen Aktion 98/700/JI des Rates, der Verordnung (EU) Nr. 1052/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EU) 2016/1624 des Europäischen Parlaments und des Rates“

Ein Beitrag der Europäischen Kommission zur Tagung der Staats- und Regierungschefs vom 19./20. September 2018 in Salzburg

(COM(2018) 631 final — 2018/0330 (COD))

(2019/C 110/12)

Hauptberichterstatter:

Antonello PEZZINI

Befassung

Europäische Kommission, 29.10.2018

Europäisches Parlament, 22.10.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 AEUV

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

127/1/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist überzeugt, dass die Außengrenzen in einem Raum der Freizügigkeit zu gemeinsamen Grenzen werden und dass jeder, der an irgendeiner Stelle das Hoheitsgebiet der Union betritt, in den gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Europäischen Union mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten für die Bürger sowie für die nationalen Behörden und die europäischen Organe eintritt.

1.2.

Der EWSA fordert nachdrücklich eine bessere Migrationssteuerung, damit gemeinsam mit den Mitgliedstaaten die Ursachen angegangen werden können, die die Menschen dazu veranlassen, ein besseres Leben fern ihrer Heimat zu suchen.

1.3.

In Ermangelung eines von allen Mitgliedstaaten festgelegten und geteilten Rahmens einer gemeinsamen Politik für Migration und Entwicklungshilfe in den Auswanderungsländern empfiehlt der EWSA, davon abzusehen, der Kommission Befugnisse zu übertragen, damit sie eigenständig Rechtsakte erlassen kann.

1.4.

Der EWSA unterstützt nachdrücklich den Vorschlag, die Agentur mit einer eigenen, 10 000 Einsatzkräfte umfassenden ständigen Fazilität auszustatten, über die sie in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten verfügen kann, um

die EU-Außengrenzen zu schützen,

irreguläre Grenzübertritte zu verhindern,

die legale Migration zu steuern,

die Rückführung irregulärer Migranten wirksam umzusetzen.

1.5.

Der EWSA empfiehlt, die notwendige Zusammenarbeit zwischen der Agentur und den nationalen Stellen, die traditionell für die Grenzkontrollen zuständig sind, auf europäischer Ebene zu definieren und zu organisieren.

1.6.

Der EWSA hält es für ebenso wichtig, dass durch eine unmissverständliche gemeinsame Definition der Aufgaben der Agentur Kompetenzüberschneidungen und -konflikte vermieden werden, und fordert eine klare und transparente Festlegung der Befehlskette zwischen Bediensteten der Agentur und nationalen Beamten.

1.7.

Der EWSA empfiehlt, dass die Agentur bei besonderen und unverhältnismäßigen Herausforderungen an den Außengrenzen in der Lage sein sollte, auf Ersuchen eines Mitgliedstaats einzugreifen und Soforteinsätze an den Grenzen zu organisieren und zu koordinieren, indem sie — in Zu- und Abstimmung mit dem betreffenden Mitgliedstaat, der die Kontrolle und Zuständigkeit für die Verwaltung behalten muss — Teams der ständigen Reserve der europäischen Grenz- und Küstenwache entsendet.

1.8.

Der EWSA teilt die Empfehlungen zum Personal der Agentur sowohl in Bezug auf die „Achtung des menschlichen Lebens“ und die Beschränkungen des Schusswaffengebrauchs als auch in Bezug auf die Verweigerung oder Erteilung von Visa an der Grenze, wobei es sich in beiden Fällen um wichtige Befugnisse der für die öffentliche Ordnung zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten handelt.

1.8.1.

In dieser Hinsicht empfiehlt der EWSA, dass die Mitgliedstaaten in beiden Fällen das Subsidiaritätsprinzip geltend machen können und dass das Statut der Bediensteten der Agentur ein hohes Maß an Verpflichtungen vorsieht, vor allem was die Vertraulichkeit betrifft.

1.9.

Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, die in Anhang V Kapitel 3 des Vorschlags vorgesehenen Kontrollverfahren im Falle von Verstößen der Bediensteten zu verstärken. Die Verfahren sollten die Befassung der Gerichte der Union vorsehen.

1.10.

Angesichts der Rolle, die der Agentur übertragen werden soll, empfiehlt der Ausschuss im Falle der Ingewahrsamnahme von Personen und ihrer etwaigen Rückführung in ihre Herkunftsländer, für die statutarischen Bediensteten Schulungen durchzuführen, die sich auf die Achtung der Grundrechte beziehen.

1.11.

Der Ausschuss hält es für unabdingbar, dass die Agentur einen erheblichen Teil ihrer Haushaltsmittel für die Modernisierung ihrer eigenen Ausrüstung aufwendet.

1.12.

Nach Ansicht des EWSA sollte der mehrjährige strategische Politikzyklus für einen integrierten europäischen Grenzschutz vom Europäischen Parlament und vom Rat nach Konsultation des EWSA festgelegt werden, wohingegen die jährliche Planung nach einem festgelegten Fahrplan an die Grenz- und Küstenwache delegiert werden sollte, einschließlich der Verpflichtung zur jährlichen Berichterstattung über die abgeschlossenen Aktionen, die verwendeten Haushaltsmittel und die erfüllten Aufgaben.

1.13.

Was die internationale Zusammenarbeit betrifft, empfiehlt der Ausschuss eine enge Verknüpfung zwischen den im Verordnungsvorschlag vorgesehenen Maßnahmen mit der Entwicklung anderer relevanter Maßnahmen, insbesondere dem Cotonou-Abkommen.

1.14.

Der Ausschuss empfiehlt eine Stärkung des Konsultationsforums, das die Agentur mit der Beteiligung relevanter Organisationen unterstützt, und fordert, über den EWSA auch die organisierte Zivilgesellschaft in die Tätigkeiten des Forums einzubeziehen.

2.   Hintergrund

2.1.

Die Außengrenzen werden in einem Raum der Freizügigkeit zu gemeinsamen Grenzen: Diese erstrecken sich heute auf einer Länge von über 50 000 Kilometern, wobei ein Sicherheitsproblem in einem Mitgliedstaat oder an den Grenzen eines Mitgliedstaats auch Auswirkungen auf alle Mitgliedstaaten haben kann.

2.1.1.

Der gemeinsame Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beruht deshalb auf gegenseitigem Vertrauen, insbesondere angesichts neuer Herausforderungen, unklarer Bedrohungen und unvorhersehbarer Ereignisse, die eine stärkere Zusammenarbeit, Einsätze durch qualifizierte Einsatzkräfte, eine bessere Information und insgesamt die konkrete Verwirklichung der Solidarität erfordern, durch die Werte jedes einzelnen Staates in ihrer Gesamtheit gestärkt werden.

2.2.

Mit dem Vertrag von Lissabon wurde eine Bestimmung über den Grenzschutz eingeführt, konkret wird im dritten Teil des AEUV, Kapitel V Artikel 77 Absatz 1 Buchstabe c über die Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung unter dem Ziel „Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ festgehalten, dass „ein integriertes Grenzschutzsystem an den Außengrenzen eingeführt werden soll“.

2.3.

Aus den Verträgen geht zudem hervor, dass zur Freizügigkeit der Bürger innerhalb der Union zwangsläufig eine gemeinsame Politik zur Steuerung und Kontrolle der Migrationsströme aus Drittländern gehören muss.

2.3.1.

Eine weitere Fortsetzung der derzeitigen unzureichenden Kontrollen an den Außengrenzen oder die Einführung neuer, der geschichtlichen Entwicklung zuwiderlaufender interner Kontrollen würden der gesamten EU hohe wirtschaftliche Kosten verursachen und dem Binnenmarkt, der einer der größten Erfolge des europäischen Einigungsprozesses ist, schweren Schaden zufügen.

2.4.

Der integrierte europäische Grenzschutz, der auf dem Modell der vierstufigen Zugangskontrolle fußt, umfasst

Maßnahmen in Drittstaaten wie diejenigen im Rahmen der gemeinsamen Visumpolitik,

Maßnahmen mit benachbarten Drittstaaten,

Maßnahmen zum verstärkten und besseren Schutz der Außengrenzen,

Risikoanalysen und Maßnahmen im Schengen-Raum und im Bereich Rückkehr.

2.5.

Nach der Einrichtung eines ersten Netzwerks aus nationalen Experten unter Leitung eines gemeinsamen Expertengremiums mit dem Namen Strategischer Ausschuss für Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen (SAEGA) (1) in den Jahren 2002-2003 wurde mit der Gründung von Frontex (2) eine Europäische Agentur für die Koordinierung des Grenzschutzes geschaffen.

2.6.

Die Agentur zur Koordination der Zusammenarbeit wurde 2016 (3) auf der Grundlage der Erfahrungen der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache mit dem Ziel eines besseren Schutzes der Außengrenzen der Mitgliedstaaten und des Schengen-Raums ersetzt, um

eine Bewertung der Schwachstellen in den Kapazitäten für Personenkontrollen an den Grenzen durch die Mitgliedstaaten vorzusehen;

gemeinsame Aktionen und Soforteinsätze zu Grenzsicherungszwecken zu organisieren, um die Fähigkeit der Mitgliedstaaten, die Außengrenzen zu schützen, zu stärken und auf die Herausforderungen, die sich im Zusammenhang mit illegaler Einwanderung oder grenzüberschreitender Kriminalität stellen, zu reagieren;

der Kommission bei der Koordinierung von Unterstützungsteams Hilfe zu leisten, wenn ein Mitgliedstaat an bestimmten Punkten der Außengrenze einem unverhältnismäßig hohen Migrationsdruck ausgesetzt ist;

konkret in Situationen, die ein dringendes Handeln an den Außengrenzen erfordern, zu reagieren;

technische und operative Unterstützung im Rahmen von Such- und Rettungsaktionen für in Seenot geratene Personen bei Grenzüberwachungseinsätzen bereitzustellen;

die Einrichtung eines Soforteinsatzpools von mindestens 1 500 Grenzschutzbeamten zu unterstützen;

Verbindungsbeamte der Agentur in den Mitgliedstaaten zu ernennen;

Rückführungsmaßnahmen und -einsätze zu organisieren, zu koordinieren und durchzuführen;

die operative Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten beim Grenzmanagement zu fördern.

2.7.

Seit ihrer Gründung im Oktober 2016 ist die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache zu einer wichtigen Anlaufstelle der EU für Rückführungen (4) geworden, die in der Lage ist, die Mitgliedstaaten bei der Rückführung von Personen ohne Aufenthaltserlaubnis in der EU wirksam zu unterstützen.

2.8.

Das Europäische Parlament hat sich zu dieser Frage in mehreren Entschließungen geäußert und dabei „seine tiefe Besorgnis über die Umsetzung der Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache ((EU) 2016/1624)“ bekundet und bekräftigt, „dass die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Mehrzweckoperationen durchführt, damit in den einschlägigen Gebieten auf See die erforderlichen Such- und Rettungsdienste zur Stelle sind“ (5), und dass die vollumfängliche Strategie des integrierten Grenzmanagements rasch eingeführt werden muss.

2.9.

Der EWSA hat eine Entschließung (6)„Plädoyer für das Schengener Übereinkommen“ verabschiedet, in der er den Rat und die Mitgliedstaaten aufforderte, die Freizügigkeit zu garantieren, und betonte in einer Stellungnahme (7), dass dies „mit einer Verbesserung der Transparenz über die Steuerung und die Tätigkeiten der Agentur sowie über ihre Rechenschaftspflicht (‚accountability‘) einhergehen“ müsse.

2.10.

Der EWSA hat darüber hinaus deutlich darauf hingewiesen (8), dass „die Zusammenarbeit zwischen der Grenzagentur und den nationalen Behörden“ und „die Koordinierung zwischen den einzelnen Agenturen und Einrichtungen, die für Grenzkontrollen, Bewachung der Küsten, Sicherheit des Seeverkehrs, Seenotrettung, Zoll und Fischerei zuständig sind,“ verbessert werden müssen, und betont, dass die „Verbesserung des Außengrenzmanagements entsprechend den Änderungen am gemeinsamen Asylsystem angepasst werden sollte“.

2.11.

„Wenn sich Menschen an den Außengrenzen (seien es See- oder Landgrenzen) in einer für ihre Sicherheit oder ihr Leben bedrohlichen Situation befinden, besteht die vornehmste Pflicht der Grenzwache und der übrigen vor Ort tätigen Einrichtungen darin, diese Personen zu retten und angemessen zu versorgen“ (9).

2.12.

Der EWSA unterstreicht nachdrücklich — im Einklang mit der Europäischen Migrationsagenda und dem „Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“ (Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration (10)), dass die Migrationssteuerung verbessert werden muss, um die Ursachen anzugehen, die Menschen veranlassen, anderswo leben zu wollen.

3.   Vorschläge der Kommission

3.1.

Der Vorschlag der Europäischen Kommission zielt auf eine Reform der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache ab, wobei die Agentur mit neuen Kapazitäten ausgestattet wird, insbesondere durch die Einrichtung einer ständigen Reserve der europäischen Grenz- und Küstenwache und die Anschaffung eigener Ausrüstung, auch um anderen, neuen oder potenziellen Aufgaben begegnen zu können.

3.2.

Die Kommission veranschlagt die Kosten für das bestehende und das künftige Mandat auf 1,22 Mrd. EUR für den Zeitraum 2019-2020 und 11,27 Mrd. EUR für den Zeitraum 2021-2027 und schlägt vor, bis 2020 eine ständige Reserve für die Europäische Grenz- und Küstenwache (EBCG) (11) einzurichten, die über Durchführungsbefugnisse verfügt und aus 10 000 Einsatzkräften besteht. Damit verfügt die Agentur über eine eigene wirksame und flexible operative Finanzausstattung, um ihre Tätigkeit entsprechend den operativen Erfordernissen anzupassen.

3.3.

Die aufzubauende ständige Reserve muss in eine gut funktionierende Europäische Grenz- und Küstenwache integriert werden, in der die Mitgliedstaaten, die Union und ihre Agenturen (12), insbesondere die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, gut koordiniert sind und auf gemeinsame politische Ziele hinarbeiten.

3.4.

Die Vorschläge gelten nicht für das Königreich Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich (sofern nicht andere Kooperationsmöglichkeiten definiert werden), während ihre Anwendung auf Gibraltar ausgesetzt wird. Da sie jedoch die Umsetzung der Schengen-Regelungen betreffen, wird ihre Anwendung auf Island, das Königreich Norwegen, die Schweizerische Eidgenossenschaft und das Fürstentum Liechtenstein ausgeweitet.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA ist überzeugt, dass die Außengrenzen in einem Raum der Freizügigkeit als gemeinsame Grenzen gelten müssen und dass jeder, der an irgendeiner Stelle das Hoheitsgebiet der Union betritt, damit den gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten — betritt.

4.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass zu lange gezögert wurde, ein integriertes Außengrenzenmanagement-System — wie in Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe d AEUV vorgesehen — im Einklang mit einer dringend erforderlichen gemeinsamen Festlegung durch alle Mitgliedstaaten umzusetzen.

4.3.

Der Ausschuss unterstützt das Vorhaben, die Agentur mit eigenen Einsatzkräften auszustatten, damit die EU über die erforderlichen Kapazitäten verfügt, um die EU-Außengrenzen zu schützen, Sekundärmigration zu verhindern und die Rückführung irregulärer Migranten wirksam umzusetzen.

4.4.

Der EWSA hat als erste EU-Institution die Einrichtung einer europäischen Grenzwache (13) vorgeschlagen und unterstützt dieses Ziel voll und ganz, um die Außengrenzen durch eine ständige Reserve und einen wirksamen und integrierten europäischen Grenzschutz zu sichern. Die Agentur sollte den Schutz der Außengrenzen im Geist der geteilten Verantwortung regelmäßig zu überwachen, nicht nur durch ihr Lagebewusstsein und ihre Risikoanalyse, sondern auch durch die Entsendung von Experten der Agentur in die Mitgliedstaaten.

4.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Agentur bei besonderen und unverhältnismäßigen Herausforderungen an den Außengrenzen in der Lage sein sollte, auf Ersuchen eines Mitgliedstaats einzugreifen und Soforteinsätze an den Grenzen zu organisieren und zu koordinieren, indem sie — mit Zu- und in Abstimmung mit dem betreffenden Mitgliedstaat, der die die vorrangige Zuständigkeit für die Verwaltung der eigenen Außengrenzabschnitte behalten muss — Teams der ständigen Reserve der europäischen Grenz- und Küstenwache entsendet.

4.6.

Der EWSA hält einzelne Einsätze der Agentur auf Beschluss der Europäischen Kommission zwar für nützlich, „allerdings nur in dringenden Fällen und nach einem transparenten Verfahren, das die umgehende Information der europäischen Gesetzgeber (Parlament und Rat) gewährleistet“ (14). Er hält es für verfrüht, der Kommission permanent die Befugnis zu übertragen, eigenständig Rechtsakte zur Festlegung der politischen Prioritäten und strategischen Leitlinien für ein integriertes europäisches Grenzmanagement zu erlassen, da es ja noch keinen gemeinsam von allen Mitgliedstaaten abgesteckten Rahmen für eine EU-Migrationspolitik und EU-Entwicklungspolitik zur Unterstützung der Auswanderungsländer gibt.

4.7.

Der EWSA stimmt jedoch zu, der Kommission Durchführungsbefugnisse mit Bezug auf die Handbücher von EUROSUR und FADO, die gemeinsamen Normen für die Lagebilderstellung und das Risikomanagement sowie die finanzielle Unterstützung für die ständige Reserve zu übertragen.

4.8.

Nach Ansicht des EWSA sollte der mehrjährige strategische Politikzyklus für den integrierten Grenzschutz Europas nach Konsultation des EWSA durch das Europäische Parlament und den Rat festgelegt werden, wohingegen die jährliche Planung nach einem vom Verwaltungsrat der Agentur festgelegten Fahrplan an die Grenz- und Küstenwache delegiert werden sollte, vorbehaltlich der jährlichen Berichterstattung über die abgeschlossenen Aktionen, die verwendeten Haushaltsmittel und die erfüllten Aufgaben.

4.9.

Der EWSA hält es für wichtig, das beratende Forum zu stärken, das den Generaldirektor und den Verwaltungsrat der Agentur in Fragen der Grundrechte und der Umsetzung des mehrjährigen strategischen Politikzyklus unter Beteiligung des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO), der EU-Agentur für Grundrechte (FRA), des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen und anderer zuständiger Organisationen unterstützt, und fordert, dass die organisierte Zivilgesellschaft über den EWSA in die Tätigkeiten des Forums einbezogen wird.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, die in Anhang V vorgesehenen Kontrollverfahren zu stärken, sowohl in Bezug auf den Schusswaffengebrauch als auch in Bezug auf die Verweigerung oder Erteilung von Visa an der Grenze, wobei es sich in beiden Fällen um wichtige Befugnisse der für die öffentliche Ordnung zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten handelt.

5.1.1.

Entsprechende Aufmerksamkeit sollten auch Anhang III und Anhang V erhalten, um die Kohärenz zwischen nationalen und europäischen Rechtsvorschriften zu gewährleisten und dadurch unterschiedliche Verhaltensweisen von Personen zu verhindern, die am selben Ort tätig werden sollen und über gleiche Kompetenzen und Qualifikationen verfügen, aber für die unterschiedliche Einsatzregeln gelten.

5.2.

Das von den Mitgliedstaaten vorgesehene Maß an Verpflichtungen, insbesondere in Bezug auf die Privatsphäre, sollte ausdrücklich gewährleistet werden.

5.3.

Der EWSA hält es für unerlässlich, dass die EU angesichts der Tatsache, dass über die nationalen Grenzbeamten und die Bediensteten der Agentur hinaus Akteure aus unterschiedlichen Bereichen (Zoll, Pflanzenschutz, Sicherheit, Finanzen, Einwanderung und Rückführung, interkulturelle Vermittlung, Grundrechte) sowie EASO-Bedienstete, ETIAS-Beamte, EUROSUR-Analysten und Verbindungsbeauftragte gemeinsam an den Grenzen präsent sind, Maßnahmenpakete für die bereichs- und agenturübergreifende Weiterbildung auflegt (15).

5.4.

Es müssen außerdem Diskriminierungen bezüglich der Behandlung und der Arbeitsbedingungen zwischen den Bediensteten der Agentur und der nationalen Behörden vermieden werden, die über gleiche Ausbildungen, Kompetenzen und Qualifikationen verfügen und gleiche Aufgaben erfüllen sollen.

5.5.

In Bezug auf die internationale Zusammenarbeit empfiehlt der EWSA eine enge Verknüpfung zwischen den im Verordnungsvorschlag vorgesehenen Maßnahmen und den übrigen einschlägigen Politikbereichen wie auch mit den Maßnahmen im Zusammenhang mit Wirtschafts- und Handelsabkommen, insbesondere im Rahmen des Dialogs zwischen der EU und den AKP-Staaten über das Cotonou-Abkommen.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Strategischer Ausschuss für Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen (SAEGA).

(2)  Schaffung der Agentur durch die Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 des Rates (ABl. L 349 vom 25.11.2004, S. 1), später geändert durch die Verordnungen (EG) Nr. 863/2007 (ABl. L 199 vom 31.7.2007, S. 30), (EU) Nr. 1168/2011 (ABl. L 304 vom 22.11.2011, S. 1) und (EU) Nr. 1052/2013 (ABl. L 295 vom 6.11.2013, S. 11) des Europäischen Parlaments und des Rates.

(3)  Die Verordnung (EU) 2016/1624 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 251 vom 16.9.2016, S. 1) ist am 6. Oktober 2016 in Kraft getreten.

(4)  Bislang hat die EU 17 Rückübernahmeabkommen geschlossen. Das Cotonou-Abkommen, das den Rahmen für die Beziehungen der EU mit 79 Staaten in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean bildet, beinhaltet Bestimmungen über die Rückführung irregulärer Migranten in ihre jeweiligen Herkunftsländer.

(5)  Verordnung (EU) Nr. 656/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 189 vom 27.6.2014, S. 93).

(6)  ABl. C 133 vom 14.4.2016, S. 1.

(7)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 109.

(8)  Siehe Fußnote 7.

(9)  Ebda.

(10)  Https://www.iom.int/global-compact-migration.

(11)  European Border and Coast Guard.

(12)  Unter anderem die Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (EMSA), die Europäische Fischereiaufsichtsagentur (EFCA) und das Satellitenzentrum der EU, Europol oder die Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (eu-LISA).

(13)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 29; ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 109; Stellungnahme des EWSA zum Thema „Asyl- und Migrationsfonds (AMF) und Fonds für integriertes Grenzmanagement“ (SOC/600, ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 184).

(14)  Siehe Fußnote 7.

(15)  Art. 69 sieht die Zusammenarbeit der Agentur mit zwölf weiteren Agenturen und nationalen Dienststellen vor.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/67


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verhinderung der Verbreitung terroristischer Online-Inhalte“

Ein Beitrag der Europäischen Kommission zur Tagung der Staats- und Regierungschefs vom 19./20. September 2018 in Salzburg

(COM(2018) 640 final — 2018/0331 (COD))

(2019/C 110/13)

Berichterstatter:

José Antonio MORENO DÍAZ

Befassung

Europäischer Rat, 24.10.2018

Europäisches Parlament, 22.10.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 114 Absatz 1 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Beschluss des Präsidiums

11.12.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

126/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Initiative zur Verbesserung der Sicherheit der Menschen in der EU. Allerdings hat sich der Ausschuss in der Debatte über das Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit immer für die notwendige Verteidigung der Grundfreiheiten ausgesprochen, darunter die Meinungsfreiheit, den Informations- und Kommunikationszugang, das Telekommunikationsgeheimnis sowie den Zugang zu einem effektiven Rechtsschutz und einem gerechten und zügigen Verfahren.

1.2.

Die jüngsten Terroranschläge in der EU haben deutlich gemacht, wie Terroristen soziale Netze auf illegale Weise nutzen, um Unterstützer zu gewinnen und vorzubereiten. Terroristen nutzen verschlüsselte Kommunikationskanäle, um terroristische Aktivitäten zu planen und zu erleichtern, und sie nutzen Websites, um ihre Gräueltaten zu verherrlichen, andere aufzufordern, ihrem Beispiel zu folgen, und in der Öffentlichkeit Angst zu schüren.

1.3.

Der EWSA fordert, vage Rechtsbegriffe wie „terroristische Informationen“, „terroristische Handlungen“, „terroristische Gruppierungen“ oder „Verherrlichung des Terrorismus“ durch entsprechende Kriterien möglichst genau zu definieren.

1.4.

Terroristische Inhalte, die für diese Zwecke im Internet geteilt werden, werden durch die Anbieter von Hostingdiensten, die das Hochladen von Inhalten Dritter erlauben, weiterverbreitet. Bei mehreren Terroranschlägen, die Europa in jüngster Zeit erschütterten, haben terroristische Inhalte im Internet nachweislich eine entscheidende Rolle dabei gespielt, sog. „einsame Wölfe“ zu radikalisieren und zu Anschlägen zu bewegen.

1.5.

Darüber hinaus sind technische Präventivmaßnahmen (Parameter-Automation, Algorithmen, Suchmaschinen usw.) zwar sehr nützlich, doch ist das Handeln des Menschen als Mittler und Vermittler bei der richtigen Bewertung entsprechender Inhalte wesentlich.

1.6.

Der EWSA hält es für notwendig, die Verbreitung terroristischer Informationen und die Online-Anwerbung über soziale Netze zu bekämpfen. Ebenso muss aber auch Zensur oder auferlegte Selbstzensur im Internet bekämpft werden. Der Ausschuss weist darauf hin, dass im Bereich des Internets für alle Menschen in der EU ein wirksames Recht auf Information und auf freie Meinungsäußerung garantiert werden muss.

1.7.

Der Schutz des Internets und die Bekämpfung radikaler Gruppen sollten dazu beitragen, das Vertrauen in das Internet zu stärken und deshalb die wirtschaftliche Entwicklung dieser Branche zu gewährleisten.

1.8.

Der EWSA betont, dass bewertet werden muss, wie sich die Umsetzung dieses Vorschlags auf kleine und mittlere Unternehmen auswirken würde und ob diesbezüglich ein Übergangszeitraum möglich ist, damit sich die KMU besser vorbereiten können und Wettbewerbsverzerrungen zum Vorteil der großen Unternehmen vermieden werden.

1.9.

Die im Verordnungsvorschlag enthaltenen Maßnahmen für den Schutz des Internets und den Schutz von Jugendlichen und der Bevölkerung müssen strengen gesetzlichen Regelungen unterliegen und allen Menschen das Recht auf Information und den Rechtsbehelf gegen Verwaltungsentscheidungen garantieren.

1.10.

Der EWSA hält es für notwendig, dass auch die Zugangsanbieter bewertet werden und dass die Social-Media-Manager proaktiv handeln, damit Vereinigungen, Nichtregierungsorganisationen und Nutzer entsprechende Inhalte melden und unmittelbar dagegen vorgehen können: Diese „Gegendiskurse“ müssen als Präventivmaßnahmen stärker verbreitet werden.

1.11.

Es gilt, die Vielzahl von Online-Plattformen in Europa und die unterschiedliche Größe dieser Unternehmen zu berücksichtigen und die Bestimmungen des Vorschlags für kleine Unternehmen anzupassen.

1.12.

Der EWSA fordert, den Nutzern die nationalen Vorschriften über die Verwendung oder Herstellung terroristischer Inhalte deutlich in Erinnerung zu rufen. Außerdem fordert er, den Rechtsbehelf gegen Verwaltungsentscheidungen durch eine klare Aufklärung über dieses Recht und über die Online-Instrumente zu seiner Ausübung sicherzustellen.

2.   Kontext des Vorschlags

2.1.

Die Allgegenwart des Internets ermöglicht es Nutzern, mit Hunderten von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt zu kommunizieren und zu arbeiten, Kontakte zu pflegen sowie Informationen zu erstellen, zu erhalten und zu teilen. Aus diesem Grund schlägt die Kommission die Einrichtung von Mechanismen zur Verhinderung der Übermittlung und Verbreitung terroristischer Inhalte vor (1).

2.2.

Eine begriffliche Unterscheidung ist wichtig, wobei der Begriff „Internet“ zu umfassend ist. „Internet“ bezeichnet sowohl das Web als auch soziale Netze sowie das Darknet. Dieser Begriff beinhaltet auch das Internet der Dinge, die in einem elektronischen Krieg offenkundige Sicherheitslücken sind. Beispielsweise kommunizieren IS-Anwerber heutzutage einfacher über Konsolen für Online-Spiele als über das Web. Der Formulierung „zur Vorbereitung und Erleichterung terroristischer Handlungen“ bezieht sich weder auf das Internet noch auf die sozialen Netze, sondern auf das Darknet. Im Übrigen haben die großen Internet-Konzerne (GAFAM) keine Tätigkeiten im Darknet oder in verschlüsselten Netzwerken.

2.3.

Die Möglichkeit, so viele Adressaten zu minimalen Kosten zu erreichen, bietet jedoch auch Kriminellen einen Anreiz, das Internet für illegale Zwecke zu missbrauchen. Die jüngsten Terroranschläge in der EU haben deutlich gemacht, wie Terroristen dabei vorgehen — sie nutzen das Internet missbräuchlich, um Unterstützer zu gewinnen und vorzubereiten, terroristische Aktivitäten zu planen und zu erleichtern, ihre Gräueltaten zu verherrlichen, andere aufzufordern, ihrem Beispiel zu folgen, und um in der breiten Öffentlichkeit Angst zu schüren.

2.4.

Zwar waren im EU-Internetforum unterschiedliche Akteure vertreten, aber nicht alle betroffenen Anbieter von Hostingdiensten haben daran teilgenommen. Außerdem reichen Umfang und Tempo der bei den Hostingdiensteanbietern erzielten Fortschritte insgesamt nicht aus, um das Problem wirksam anzugehen. Es sollten gezielte Anstrengungen für eine adäquate Schulung von Moderatoren für soziale Netze unternommen werden.

2.5.

Terroristische Inhalte, die für diese Zwecke im Internet geteilt werden, werden durch die Anbieter von Hostingdiensten, die das Hochladen von Inhalten Dritter erlauben, weiterverbreitet. Bei mehreren Terroranschlägen in Europa haben terroristische Inhalte im Internet nachweislich eine entscheidende Rolle dabei gespielt, sog. „einsame Wölfe“ zu radikalisieren und zu Anschlägen zu bewegen. Auch wurde festgestellt, dass sich jüngere Menschen stärker davon beeinflussen lassen.

3.   Zusammenfassung und allgemeine Bemerkungen zum Vorschlag für eine Verordnung

3.1.

Der EWSA hat bereits zu illegalen Online-Inhalten Stellung genommen (2). Diese neue Initiative der Kommission gilt nun konkret terroristischen Online-Inhalten.

3.2.

Zur Zielgruppe des Verordnungsvorschlags zählen die Anbieter von Hosting-Diensten, die ihre Dienste — unabhängig von ihrem Sitz oder ihrer Größe — in der EU anbieten.

3.3.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass Anbieter von Informationen und Suchmaschinen sowie Hosting-Websites oder -Netzwerke miteinbezogen werden sollten.

3.4.

Kleine und mittlere Unternehmen verfügen in personeller und finanzieller Hinsicht nicht über die technischen Kapazitäten, um gegen terroristische Inhalte wirksam vorzugehen. Nach Ansicht des EWSA muss es möglich sein, die Fristen und Verfahren für diese Unternehmen anzupassen. Den KMU könnte ein Aufschub für die Umsetzung der Verordnung gewährt werden.

3.5.

Ebenso sollten proaktive und präventive Maßnahmen von Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft insgesamt gewürdigt werden.

3.6.

Damit sichergestellt ist, dass terroristische Inhalte tatsächlich entfernt werden, wird mit der Verordnung die Entfernungsanordnung eingeführt, die durch Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung von einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats ausgestellt werden kann. In diesem Fall ist der Anbieter von Hostingdiensten verpflichtet, innerhalb einer Stunde den Inhalt zu entfernen oder den Zugang zu diesem Inhalt zu deaktivieren.

3.7.

In den einzelnen Ländern ist unterschiedlich definiert, was terroristische Inhalte sind. Es ist wichtig, diesen Sachverhalt zu klären, um Willkür und Rechtsunsicherheit zu vermeiden.

3.8.

Die Frist von einer Stunde erscheint nicht realistisch, da z. B. derzeit in Frankreich zwischen der Meldung einer Quelle und ihrer Entfernung aus dem Netz im Falle von Pädophilie 16 Stunden und im Falle terroristischer Websites 21 Stunden vergehen, weil es lange dauert, bis eine Website kategorisiert ist. Nach Auffassung des EWSA sollte eine realistischere und wirksamere Frist festgelegt werden.

3.9.

Hostingdiensteanbieter sind gemäß der Verordnung dazu verpflichtet, gegebenenfalls proaktive, im Verhältnis zum Risiko stehende Maßnahmen zu ergreifen und terroristisches Material aus ihren Diensten auch mit Hilfe automatischer Erkennungswerkzeuge zu entfernen. Dies ist von entscheidender Bedeutung; deshalb muss die technologische Innovation zur Entwicklung technischer Instrumente gefordert und unterstützt werden.

3.10.

Die Kommission schlägt vor, u. a. automatische Erkennungswerkzeuge einzusetzen, und fordert die Unternehmen auf, die Forschung zur Entwicklung geeigneter technischer Instrumente nachdrücklich zu unterstützen.

3.11.

Zum Schutz nichtterroristischer Inhalte vor einer irrtümlichen Entfernung enthält der Vorschlag Auflagen zur Festlegung von Rechtsbehelfen und Beschwerdemechanismen, mit denen sichergestellt werden soll, dass Nutzer die Entfernung ihrer Inhalte anfechten können. Außerdem werden mit der Verordnung Transparenzpflichten für die Maßnahmen eingeführt, die die Anbieter von Hostingdiensten gegen terroristische Inhalte ergreifen, womit die Rechenschaftspflicht gegenüber Nutzern, Bürgern und Behörden gewahrt wird.

3.12.

Das Augenmerk sollte nicht nur der Kontrolle und Überprüfung von Inhalten gelten, sondern auch Maßnahmen der menschlichen und technischen Moderation. Die Frage der Zensur durch menschliche Moderatoren ist unter Umständen sehr bedenklich in Bezug auf die Achtung der Rechte von Arbeitnehmern und die Anwendung der Vorschriften über das Recht aller Bürger in der EU auf Information und Privatsphäre.

3.13.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Anbieter denjenigen unterrichten muss, der Eigentümer der Website oder der Information ist, die zensiert werden soll. Jeder hat nämlich das Recht auf Unterrichtung über eine Verwaltungsentscheidung.

3.14.

Um dieses Recht sicherzustellen, fordert der EWSA die Zugangsanbieter auf, in den Nutzungsbedingungen die Kunden über ihre Rechte und Pflichten zu informieren, z. B. über die Pflicht, Informationsproduzenten über Entfernungsanordnungen zu unterrichten, und über die den Kunden zur Verfügung stehenden Rechtsmittel.

4.   Erläuterung einzelner Bestimmungen des Vorschlags

4.1.

Terroristische Online-Propaganda dient dem Zweck, Menschen zu Terroranschlägen anzustiften, indem sie beispielsweise mit detaillierten Anweisungen, wie größtmöglicher Schaden angerichtet werden kann, versorgt werden. Weitere Propaganda wird in der Regel veröffentlicht, nachdem solche Gräueltaten begangen wurden, wobei diese Taten dann verherrlicht und andere aufgefordert werden, diesem Beispiel zu folgen. Diese Verordnung leistet einen Beitrag zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, indem die Zugänglichkeit terroristischer Inhalte, die zur Verletzung der Grundrechte auffordern, verringert wird.

4.2.

Für die Zwecke dieser Verordnung enthält der Vorschlag folgende Begriffsbestimmungen:

„Hostingdiensteanbieter“: Anbieter von Diensten der Informationsgesellschaft, die darin bestehen, die durch einen Inhalteanbieter bereitgestellten Informationen im Auftrag des Inhalteanbieters zu speichern und die gespeicherten Informationen Dritten zur Verfügung zu stellen (3);

„Inhalteanbieter“ einen Nutzer, der Informationen bereitgestellt hat, die in seinem Auftrag von einem Hostingdiensteanbieter gespeichert wurden oder gespeichert werden (4);

nach Auffassung des EWSA sollte ein neuer Punkt hinzugefügt werden, der Folgendes umfasst:

„Anbieter von Informationen“: Suchmaschinen, die die Identifizierung von Inhalten und den Zugang dazu ermöglichen.

4.3.

Unter „terroristischen Inhalten“ ist eines oder mehrere der folgenden Informationselemente zu verstehen:

a)

Aufruf zu oder Befürwortung von terroristischen Straftaten, auch durch ihre Verherrlichung, sodass die Gefahr besteht, dass solche Taten begangen werden;

b)

Ermutigung, an terroristischen Straftaten mitzuwirken;

c)

Förderung der Aktivitäten einer terroristischen Vereinigung, insbesondere durch Ermutigung zur Beteiligung an oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Sinne des Artikels 2 Absatz 3 der Richtlinie (EU) 2017/541;

d)

technische Anleitungen oder Methoden für das Begehen terroristischer Straftaten (5);

nach Auffassung des EWSA sollte ein neuer Punkt hinzugefügt werden, der folgendes umfasst:

Anwerbung und Befähigung von Personen zum Zweck des Begehens oder der Unterstützung terroristischer Handlungen.

4.4.

Die Definition von zu zensierendem Inhalt ist sehr kurz, denn es gibt viele Texte, Bilder, Videos und andere Inhalte und Formate, die den Terrorismus nicht durch den Aufruf zu konkreten Taten verherrlichen, sondern indem sie extremistische, zu Gewalt verleitende Lehren verbreiten und unterstützen.

4.5.

Die Verordnung trägt auch dazu bei, Unternehmen zu bekämpfen, die durch ihre Tätigkeiten extremistische und zu Gewalt verleitende Lehren verbreiten und unterstützen. Sie muss zudem zur Bekämpfung der Anwerbung über soziale Netze beitragen.

4.6.

Artikel 1 enthält den Gegenstand und verweist darauf, dass die Verordnung Vorschriften zur Vermeidung des Missbrauchs von Hostingdiensten für die Verbreitung terroristischer Online-Inhalte festlegt, worunter auch Sorgfaltspflichten von Anbietern von Hostingdiensten sowie von den Mitgliedstaaten zu ergreifende Maßnahmen fallen.

4.7.

Die Formulierung bezüglich des Missbrauchs von Hostingdiensten für die Verbreitung terroristischer Online-Inhalte sollte ersetzt werden und sich auch auf die Verbreitung von Inhalten, Botschaften oder Material zu Propagandazwecken sowie die Nennung von URL und Informationen erstrecken, mit denen auf terroristische Inhalte oder Botschaften zugegriffen werden kann. Dies würde auch Suchmaschinen einbeziehen.

4.8.

Nach Artikel 5 sind hingegen die Anbieter von Hostingdiensten verpflichtet, Maßnahmen festzulegen, die eine unverzügliche Bewertung von Inhalten ermöglichen, die von einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats oder einer Einrichtung der EU gemeldet wurden, ohne jedoch die Entfernung des gemeldeten Inhalts oder bestimmte Fristen für ein Tätigwerden vorzuschreiben.

4.9.

Der EWSA ist der Ansicht, dass im Interesse der Effizienz mit der Erarbeitung einer begrenzten Liste von Kriterien begonnen werden sollte, um Arten von Inhalten und Botschaften, die terroristischer Natur sind oder den Terrorismus verherrlichen, zu definieren. Damit soll Rechtssicherheit erreicht werden, um Willkür bei Anordnungen zur Entfernung von Inhalten zu vermeiden sowie die Rechte auf Information und Meinungsfreiheit zu schützen. Die Verordnung sollte auch bestimmte Kriterien umfassen, die es ermöglichen, auf europäischer Ebene Inhalte zu kategorisieren, wie Informationen über terroristische Gruppierungen, Informationen zur Verherrlichung des Terrorismus oder zur Rechtfertigung terroristischer Handlungen sowie technische Informationen oder Anleitungen, die die Herstellung von Waffen für einen potenziellen Anschlag erleichtern, sowie Aufrufe, sich diesen Gruppen anzuschließen.

4.10.

Artikel 14 sieht die Einrichtung von Anlaufstellen sowohl durch Hostingdiensteanbieter als auch durch die Mitgliedstaaten vor, um insbesondere bei Meldungen und Entfernungsanordnungen die Kommunikation zwischen ihnen zu erleichtern. Zum Schutz der hier berührten Menschenrechte sollten diese Anlaufstellen nach Ansicht des EWSA auf die Problemerkennung spezialisierte Richter umfassen, die nicht nur darin geschult sind, terroristische Einstellungen, Verhaltensweisen oder Handlungen zu erkennen, sondern die auch technische Kenntnisse haben. Diese Anforderungen müssen sowohl für Hostingdiensteanbieter wie auch für die Anlaufstellen der Mitgliedstaaten gelten, um insbesondere bei Meldungen und Entfernungsanordnungen die Kommunikation zwischen ihnen zu erleichtern.

4.11.

In der Verordnung sollte präzisiert werden, dass Hostingdiensteanbieter dazu verpflichtet sind, Informationen für alle zugänglich zu machen, um eine angemessene Arbeitsweise der Anlaufstellen zu gewährleisten sowie Inhalt und Form der Kommunikation zwischen den Teilen dieser Anlaufstellen zu definieren.

4.12.

Nach Artikel 16 müssen Hostingdiensteanbieter, die keinen Sitz in einem Mitgliedstaat haben, aber Dienste in der EU anbieten, einen rechtlichen Vertreter in der EU benennen. Diese Anforderung sollte nach Auffassung des EWSA auf Zugangsanbieter und Internetunternehmen ausgeweitet werden, um Suchmaschinen, soziale Netze, mobile Internet-Apps, die Spielebranche usw. zu erfassen.

4.13.

Hostingdiensteanbieter, die im Internet aktiv sind, spielen in der digitalen Wirtschaft eine zentrale Rolle, indem sie Unternehmen und Bürger miteinander verbinden und öffentliche Debatten sowie die Verbreitung und den Erhalt von Informationen, Meinungen und Ideen ermöglichen, was erheblich zu Innovation, Wirtschaftswachstum und der Schaffung von Arbeitsplätzen in der EU beiträgt. Der EWSA ist der Ansicht, dass dies auf Internetdiensteanbieter, Hostingdienste, digitale soziale Netze und Unternehmen, die Dienstleistungen im Bereich der digitalen Telefonie anbieten, ausgeweitet werden sollte.

4.14.

Der Verordnungsvorschlag enthält eine Reihe von Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten umzusetzen sind, um terroristische Inhalte zu ermitteln, deren rasche Entfernung durch die Hostingdiensteanbieter zu ermöglichen und die Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten, Hostingdiensteanbietern und gegebenenfalls den zuständigen Einrichtungen der EU zu erleichtern. Nach dem Verständnis des EWSA zielen alle diese Maßnahmen darauf ab, terroristische Inhalte zu begrenzen, ihre rasche Entfernung durch die Hostingdiensteanbieter zu ermöglichen und terroristische Propaganda und Anwerbung im Internet zu reduzieren.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  COM(2018) 640 final.

(2)  ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 19.

(3)  COM(2018) 640 final, Artikel 2 Absatz 1.

(4)  COM(2018) 640 final, Artikel 2 Absatz 2.

(5)  COM(2018) 640 final, Artikel 2 Absatz 5.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/72


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1141/2014 im Hinblick auf ein Überprüfungsverfahren für im Zusammenhang mit Wahlen zum Europäischen Parlament begangene Verstöße gegen Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten“

(COM(2018) 636 final — 2018/0328 (COD))

(2019/C 110/14)

Hauptberichterstatterin:

Marina YANNAKOUDAKIS

Befassung

Europäisches Parlament, 1/10/2018

Rat, 24.10.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Beschluss des Präsidiums

16.10.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

109/2/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt den Standpunkt der Europäischen Kommission in Bezug auf die Notwendigkeit dieser Verordnung angesichts der jüngsten Ereignisse im Zusammenhang mit dem Fall „Facebook-Cambridge Analytica“, bei dem es um die mutmaßlich unrechtmäßige Verarbeitung personenbezogener Daten geht.

1.2.

Der EWSA ist sich bewusst, dass in der heutigen Welt technologische Entwicklungen, die sozialen Medien und die Speicherung personenbezogener Daten durch Unternehmen in der gesamten EU unausweichlich sind. Die Notwendigkeit dieser Instrumente wird nicht in Frage gestellt, da wir uns in einer globalen Hightech-Welt bewegen. Die Herausforderung besteht darin, in diesem Bereich auf eine Weise tätig zu werden, die den Schutz der EU-Bürger, Transparenz und Freiheit ihrer grundlegenden Menschenrechte ermöglicht.

1.3.

Die Nutzung von Daten und die sozialen Medien haben den Wahlkampf der politischen Parteien grundlegend verändert, da potenzielle Wähler mit ihrer Hilfe gezielt angesprochen werden können. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass die sozialen Medien zunehmend genutzt werden, um das Abstimmungsverhalten der Bürger zu beeinflussen. Der EWSA erwartet von der Behörde für europäische politische Parteien und europäische politische Stiftungen (1) (die „Behörde“), dass sie Bereiche untersucht, in denen Verstöße stattfinden könnten, und Möglichkeiten vorschlägt, um dies zu verhindern. Zudem sollte sie ein System von Kontrolle und Gegenkontrolle vorsehen, mit dem sichergestellt wird, dass der Datenschutz und die Nutzung von Daten im Rahmen klar definierter Parameter erfolgen.

1.4.

Der EWSA unterstützt die Ziele des Vorschlags der Kommission und teilt die Auffassung, dass Demokratie einer der Grundwerte ist, die das Fundament der Europäischen Union bilden; um eine funktionierende repräsentative Demokratie auf europäischer Ebene zu gewährleisten, sehen die Verträge vor, dass die EU-Bürger im Europäischen Parlament direkt vertreten werden.

1.5.

Diese Vertretung erfolgt in Form gewählter Mitglieder entweder von politischen Parteien oder von Einzelpersonen, die sich in den Mitgliedstaaten zur Wahl stellen. Die Wahlplattform hat sich in den letzten zehn Jahren weiterentwickelt, wobei die sozialen Medien an Bedeutung gewonnen haben. Die Europäische Kommission muss sich nun mit dieser Entwicklung beschäftigen. Die personell aufgestockte Behörde ist eine Möglichkeit, um den Schutz personenbezogener Daten sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass diese Daten nicht dazu missbraucht werden, um daraus einen politischen Nutzen zu ziehen. Diesbezüglich muss vorrangig dafür gesorgt werden, dass bei den Wahlen gleiche Voraussetzungen für alle herrschen und dass keine Gruppe einen Vorteil aus der Nutzung von Daten ziehen kann.

1.6.

Um jedoch zu gewährleisten, dass die Behörde ordnungsgemäß funktioniert, bedarf es verlässlicher Parameter in Bezug auf ihre Befugnisse und Zuständigkeiten. Derzeit sorgen die Datenschutzbehörden der Mitgliedstaaten dafür, dass es nicht zu einem Missbrauch von Daten durch die politischen Parteien kommt. Die Bedingungen der Zusammenarbeit zwischen der Behörde und den nationalen Datenschutzbehörden müssen ordnungsgemäß festgelegt werden. In vielen Mitgliedstaaten leiden die Datenschutzbehörden unter einer begrenzten Mittel- und Personalausstattung. Die Kommission sollte daher in Erwägung ziehen, sie finanziell zu unterstützen, um eine Zusammenarbeit mit der Behörde zu ermöglichen.

1.7.

Der EWSA hat in seiner Stellungnahme zum Schutz personenbezogener Daten (2) auf mögliche Probleme hingewiesen, die durch den Missbrauch von Daten entstehen können, und sich mit den problematischen Bereichen befasst.

1.8.

Der EWSA befürwortet die personelle Aufstockung der Behörde, da er der Ansicht ist, dass die Behörde mit dieser Mitarbeiterzahl besser gerüstet ist für eine Zusammenarbeit mit den nationalen Datenschutzbehörden, um so zu gewährleisten, dass Datenschutzverletzungen ordnungsgemäß untersucht und entsprechende Sanktionen verhängt werden.

1.9.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass sich das Verfahren für die Wahl zum Europäischen Parlament in jedem Mitgliedstaat nach seinen einzelstaatlichen Bestimmungen richtet. Der EWSA erwartet ferner, dass Verstöße gegen Datenschutzvorschriften der Behörde entweder von den Datenschutzbehörden oder von einzelnen Parteien gemeldet werden.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

Jüngste Fälle haben gezeigt, dass Bürger das Ziel von Massendesinformationskampagnen im Internet werden können, die darauf abzielen, Wahlen die Glaubwürdigkeit und Legimitation zu nehmen. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass personenbezogene Daten von Bürgern in rechtswidriger Weise benutzt worden sind, um die demokratische Debatte und freie Wahlen zu beeinflussen.

2.2.

Im Mai 2018 trat die Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) in Kraft, die strenge Vorschriften für die Verarbeitung und den Schutz personenbezogener Daten enthält. Sie gilt für alle europäischen und nationalen politischen Parteien und sonstigen Akteure im Zusammenhang mit Wahlen, einschließlich Datenvermittlern und Plattformen der sozialen Medien.

2.3.

Im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2019 hat die Europäische Kommission eine Reihe gezielter Änderungen an der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1141/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen (3) vorgeschlagen, um sicherzustellen, dass die Wahlen nach strikten demokratischen Regeln und unter uneingeschränkter Wahrung der europäischen Werte, insbesondere Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Grundrechte, verlaufen.

2.4.

Diese Änderungen sollen es insbesondere ermöglichen, Sanktionen gegen europäische politische Parteien oder Stiftungen zu verhängen, die durch Verstöße gegen Datenschutzvorschriften Einfluss auf die Wahl zum Europäischen Parlament nehmen bzw. zu nehmen versuchen. Die Sanktionen belaufen sich auf 5 % des Jahresbudgets der betreffenden europäischen politischen Partei oder Stiftung. Die Sanktion wird von der Behörde verhängt. Zusätzlich dürfen die Parteien oder Stiftungen, denen ein Verstoß nachgewiesen wurde, in dem Jahr, in dem die Sanktion verhängt wurde, keine Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union beantragen.

2.5.

Ferner enthält der Vorschlag ein Verfahren, mit dem überprüft werden kann, ob ein von einer nationalen Datenschutzbehörde aufgedeckter Verstoß gegen Datenschutzvorschriften genutzt wurde, um das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament zu beeinflussen. An diesem Verfahren wirkt ein „Ausschuss unabhängiger Persönlichkeiten“ mit, der auf Ersuchen der Behörde tätig wird. Artikel 11 der Verordnung ist diesem Ausschuss unabhängiger Persönlichkeiten gewidmet. Er besteht aus sechs Experten, die von der Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat benannt werden, aber nicht bei diesen Organen beschäftigt sind.

2.6.

Um sicherzustellen, dass die Behörde über genügend Personal verfügt, um ihre Aufgaben unabhängig und wirksam wahrzunehmen, wird außerdem vorgeschlagen, ihr Personal um sieben Bedienstete aufzustocken (zusätzlich zu den derzeit drei Bediensteten, zu denen auch ihr Direktor zählt).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA unterstützt die Ziele des Vorschlags und teilt die Auffassung, dass Demokratie einer der Grundwerte ist, die das Fundament der Europäischen Union bilden. Um eine funktionierende repräsentative Demokratie auf europäischer Ebene zu gewährleisten, sehen die Verträge vor, dass die EU-Bürger im Europäischen Parlament direkt vertreten werden. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass die Bürger ihr demokratisches Recht ohne Einschränkungen und unbehindert ausüben können. Eingriffe in die freie Entscheidung während der Wahlen sind undemokratisch und nicht hinnehmbar.

3.2.

Der EWSA stellt fest, dass personenbezogene Daten im Wahlkampf verstärkt genutzt werden. Bei den Wahlen im Vereinigten Königreich 2017 flossen mehr als 40 % der Ausgaben für Wahlwerbung in digitale Kampagnen. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass personenbezogene Daten attraktiv sind, um bestimmte Gruppen gezielt anzusprechen. Es ist jedoch nicht hinnehmbar, dass personenbezogene Daten ohne das Wissen der betroffenen Personen weitergegeben werden. Dies stellt eine grundlegende Verletzung der Menschenrechte dar.

3.3.

Die Entwicklung des Internets, die Geschwindigkeit der Informationsübertragung und die globalen Auswirkungen erfordern einen konsequenten Schutz der gespeicherten Daten. Die Datenschutz-Grundverordnung enthält hierzu strenge Vorschriften. Insbesondere müssen personenbezogene Daten auf rechtmäßige Weise und nach Treu und Glauben verarbeitet werden. Politische Parteien dürfen Daten nach der Datenschutz-Grundverordnung derzeit rechtmäßig im Rahmen bestimmter Parameter nutzen. Das „Canvassing“, die Stimmenwerbung im Wahlkampf verläuft zunehmend über die sozialen Medien. Der Versuch, das Canvassing gänzlich zu unterbinden, käme dem demokratischen Prozess nicht unbedingt zugute, da dies die Möglichkeiten der politischen Parteien einschränken würde, ihre potenziellen Wähler über ihr Wahlprogramm zu informieren.

3.4.

Der EWSA unterstreicht die Souveränität der Mitgliedstaaten in Bezug auf Wahlen. Die Kommission muss bei ihrer Arbeit diese Souveränität der Mitgliedstaaten achten. Die EU kann die Sanktionierung nationaler politischer Parteien nicht gesetzlich vorschreiben, da hierfür die Mitgliedstaaten zuständig sind. Daher kann die EU nur Maßnahmen für die Verhängung von Sanktionen gegen politische Parteien auf europäischer Ebene vorschlagen. Zu diesem Zweck schlägt die Kommission eine Änderung der Verordnung vor, die ihr Statut und ihre Finanzierung regelt. Dies wird der Behörde echte Handlungsmöglichkeiten geben, wenn Missbrauch nachgewiesen wurde.

4.   Besondere Bemerkungen und Empfehlungen

4.1.

Der EWSA ist sich darüber im Klaren, dass die Behörde derzeit personell unterbesetzt ist. Die Arbeitsbelastung des Direktors und der beiden Mitarbeiter ist bereits sehr hoch, und die anstehende Wahl zum Europäischen Parlament wird die Belastung nur noch weiter erhöhen. Der EWSA unterstützt daher den Vorschlag, der Behörde ständiges Personal zur Verfügung zu stellen und ihrem Direktor die Befugnisse einer Anstellungsbehörde zu übertragen, da es entscheidend darauf ankommt, dass die Behörde über genügend Personal verfügt, um die Wahlen ordnungsgemäß zu beobachten.

4.2.

Die Nutzung von Daten und die sozialen Medien haben den Wahlkampf der politischen Parteien grundlegend verändert, da potenzielle Wähler mit ihrer Hilfe gezielt angesprochen werden können. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass die sozialen Medien zunehmend genutzt werden, um das Abstimmungsverhalten der Bürger zu beeinflussen. Der EWSA erwartet von der Behörde, dass sie Bereiche untersucht, in denen Verstöße stattfinden könnten, und Möglichkeiten vorschlägt, um dies zu verhindern. Zudem sollte sie ein System von Kontrolle und Gegenkontrolle vorsehen, mit dem sichergestellt wird, dass der Datenschutz und die Nutzung von Daten im Rahmen klar definierter Parameter erfolgen.

4.3.

Der EWSA hält es für erforderlich, zu klären, was eine versuchte Einflussnahme auf die Wahlen durch einen Verstoß gegen die Datenschutzvorschriften genau beinhaltet. Die Einrichtung einer Arbeitsgruppe sollte erwogen werden, in der die Datenschutzbehörden der Mitgliedstaaten und die Behörde vertreten sind, um bewährte Arbeitsmethoden der Behörde und der Datenschutzbehörden zu ermitteln, da der Datenschutz in der EU keine Grenzen kennt.

4.4.

Der Direktor der Behörde wird nach dem in Artikel 6 Absatz 3 der Verordnung festgelegten Verfahren ernannt. Er/Sie ist unabhängig und gegenüber den Organen der EU nicht rechenschaftspflichtig. Er/Sie muss jedoch der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament einen Jahresbericht vorlegen, weswegen es möglicherweise ratsam ist, dem EP die Befugnis zu erteilen, Fragen zu diesem Bericht zu stellen und darüber abzustimmen. Dies würde eine gewisse Rechenschaftspflicht der Behörde gewährleisten und die Transparenz dieses Prozesses erhöhen.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  www.appf.europa.eu.

(2)  ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 123.

(3)  ABl. L 317 vom 4.11.2014, S. 1.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/75


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds“

(COM(2018) 476 final)

(2019/C 110/15)

Berichterstatter:

Aurel Laurențiu PLOSCEANU

Ko-Berichterstatter:

Eric BRUNE

Befassung

Europäisches Parlament, 2.7.2018

Rat, 4.7.2018

Beschluss des Präsidiums

10.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 173 Absatz 3 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständiges Arbeitsorgan

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

22.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

200/1/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) erachtet die konsequente Umsetzung der globalen Strategie der EU und des Umsetzungsplans für Sicherheit und Verteidigung im Einklang mit der gemeinsamen Erklärung von EU und NATO vom Juli 2016 sowie im Rahmen des Prinzips der kollektiven Sicherheit der Vereinten Nationen als unerlässlich.

1.2.

Seit 2017 spricht sich der EWSA für die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsunion aus und unterstützt den Europäischen Verteidigungs-Aktionsplan, einschließlich der Einrichtung eines gemeinsamen Europäischen Verteidigungsfonds. Nach Auffassung des EWSA zielt die Stärkung der europäischen Verteidigung nicht auf eine Schwächung, sondern auf die Stärkung der NATO und der transatlantischen Beziehungen ab.

1.3.

Der EWSA unterstützt nachdrücklich den am 13. Juni 2018 veröffentlichten Kommissionsvorschlag für eine Verordnung zur Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds im Rahmen des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) 2021-2027.

1.4.

Der EWSA fordert signifikante qualitative Fortschritte bei der europäischen Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich. Eine eingeschränkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Verteidigungsbereich führt tatsächlich zu Doppelstrukturen und zu einer Verteidigungsindustrie, die weiterhin stark fragmentiert ist. Die transnationale Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen und die weitere Integration der Industrie werden durch die mangelnde Integration auf der Nachfrageseite des Marktes nicht stimuliert. Dies führt zu einem ineffizienten Mitteleinsatz, überlappenden industriellen Fähigkeiten, technologischen Lücken und zu einem Fehlen neuer, insbesondere in Kooperation durchgeführter, Programme.

1.5.

Der EWSA befürwortet das Ziel strategischer Autonomie mit der Entwicklung von Schlüsseltechnologien in kritischen Bereichen und strategischen Fähigkeiten, das eng mit der Notwendigkeit einer soliden Beurteilung und Koordination verknüpft ist. Es gilt zu gewährleisten, dass diese Technologien auf europäischer Ebene beherrscht, beibehalten und hergestellt werden können, sodass die EU erforderlichenfalls autonom Entscheidungen treffen und handeln kann.

1.6.

Der EWSA erachtet die Entwicklung gemeinsamer Verteidigungsfähigkeiten als eine Grundvoraussetzung für die Stärkung der industriellen und technischen Verteidigungsbasis Europas.

1.7.

Der EWSA betont, dass sich die Europäische Union um die Erhaltung, Verjüngung und Entwicklung eines hochqualifizierten Arbeitskräftepotenzials bemühen muss.

1.8.

Der EWSA schlägt vor, dass die Europäische Union ihre Bemühungen um eine Harmonisierung der Ausfuhrbestimmungen innerhalb der EU beschleunigt.

1.9.

Der EWSA unterstützt ausdrücklich die besondere Berücksichtigung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) sowie Start-up-Unternehmen, auch im Bereich von Forschung und Entwicklung zu Verteidigungszwecken.

1.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der EU-Haushalt bei der Unterstützung von Verteidigungstätigkeiten nationale Verteidigungsausgaben nicht ersetzen oder als Ersatz fungieren sollte, sondern vielmehr eine umfassendere und bessere Zusammenarbeit in der Verteidigung initiieren und beschleunigen sollte. Ebenso darf die Verwendung des EU-Haushalts für Verteidigungsforschung nicht auf Kosten der zivilen Forschung in anderen Bereichen erfolgen. Selbst wenn die Entscheidungen über Investitionen im Verteidigungsbereich und über Programme der Verteidigungsentwicklung nach wie vor ein Vorrecht der Mitgliedstaaten sind, könnte der Europäische Verteidigungsfonds einen EU-Mehrwert bringen, indem er Anreize für die gemeinsame Forschung an und die Entwicklung von Produkten und Technologien im Bereich der Verteidigung schafft.

1.11.

Der EWSA ist der festen Auffassung, dass eine stärker harmonisierte und vereinfachte Verteidigungspolitik Effizienzgewinne bringen könnte, wenn die Marktanteile der europäischen Verteidigungsindustrie und der technologischen Basis erhöht und die Produkte besser zwischen den Staaten, Regionen und Unternehmen verteilt werden.

1.12.

Der Europäische Verteidigungsfonds wird seine Wirkung nur dann entfalten können, wenn durch ihn tatsächlich sinnvolle Maßnahmen gefördert werden. Seine Arbeitsprogramme sollten daher auf der Grundlage eines soliden europäischen Verteidigungsplanungsprozesses aufgestellt werden, in denen die Kernprioritäten in Bezug auf die Fähigkeit Europas benannt werden.

1.13.

Der EWSA befürwortet den Ansatz der Zusammenarbeit, bei dem die Beteiligung von KMU sowie der Staaten, die die Absichtserklärung nicht unterzeichnet haben, angestrebt wird — angesichts ihrer Kompetenzen, mit denen sie zur Verbreiterung der industriellen und technologischen Basis der europäischen Verteidigungsindustrie beitragen können.

1.14.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, die Leistungen der europäischen Fonds in Fällen, in denen europäische Unternehmen zur selben Gruppe gehören, zu beschränken und bei der Beteiligung eines Drittstaats an Entwicklungen, die vom Europäischen Verteidigungsfonds gefördert werden, Garantien zu verlangen.

1.15.

Der EWSA ist zwar der Auffassung, dass europäische Fonds von der Europäischen Kommission verwaltet werden sollten. Seiner Ansicht nach kann sich die Europäische Verteidigungsagentur jedoch bei der Festlegung des Bedarfs an Verteidigungsgütern der Gemeinsamen Organisation für Rüstungskooperation (OCCAR) sinnvoll einschalten. Dabei kann sie von ihren — nicht immer positiven — Erfahrungen profitieren und an der Verwaltung der Programme teilnehmen. Denn eine Redundanz der Kompetenzen in diesem Bereich würde die Wirksamkeit des Systems beeinträchtigen.

1.16.

Der EWSA unterstützt die Idee, dass Forschung und Entwicklung einem Ethik-Ausschuss unterliegen müssen. Ethische Bedingungen müssen klar formuliert und bereits bei der Bewertung des Vorschlags geprüft werden, um für Rechtssicherheit und -klarheit zu sorgen.

1.17.

Der EWSA ist besorgt über die Zukunft der Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit und spricht sich für eine starke Sicherheits- und Verteidigungspolitik aus, zu der auch die Beteiligung des Vereinigten Königreichs am Europäischen Verteidigungsfonds gehört.

1.18.

Der EWSA ist der Ansicht, dass sich unser alternder Kontinent bedroht fühlt und eine Tendenz zu Schuldzuweisungen sowie zur Verwechslung von Problemen wie Terrorismus und Migrationsbewegungen zeigt, wobei es an einem hinreichenden Maß der Solidarität sowohl innerhalb als auch zwischen den Mitgliedstaaten mangelt. Die Folge ist ein Wiederaufleben von Nationalismus und autoritären Regimen in der Nachbarschaft der Union, durch die unsere Demokratie unter Druck gerät. Ein industriepolitisches Instrument vom Kaliber des Europäischen Verteidigungsfonds enthebt die EU nicht von weiterführenden Überlegungen über die europäische Verteidigungspolitik.

2.   Inhalt des Vorschlags

2.1.

Der geopolitische Kontext ist im letzten Jahrzehnt instabil geworden: Wir sind mit einem komplexen Umfeld voller Herausforderungen konfrontiert, in dem neue Gefahren wie hybride Bedrohungen und Cyberattacken mit der Wiederkehr traditioneller Herausforderungen einhergehen.

2.2.

In der gemeinsamen Erklärung von Rom vom 25. März 2017 stellten die Spitzenvertreter von 27 Mitgliedstaaten sowie des Europäischen Rates, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission fest, dass die Union ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik stärken und eine wettbewerbsfähigere und stärker integrierte Verteidigungsindustrie fördern wird.

2.3.

Die europäische Verteidigung sieht sich mit beträchtlichen Marktineffizienzen konfrontiert, die auf ungenutzte Skaleneffekte (Fragmentierung der nationalen Märkte mit einem einzigen Abnehmer) und Doppelung von Ressourcen auf europäischer Ebene zurückzuführen sind.

2.4.

Die Nachfrage kommt beinahe ausschließlich aus den Mitgliedstaaten. Die nationalen Verteidigungshaushalte, insbesondere im Bereich Forschung und Entwicklung (FuE), wurden jedoch in den vergangenen zehn Jahren beträchtlich gekürzt.

2.5.

Im Jahr 2015 wurden nur 16 % der Verteidigungsgüter über gemeinsame europäische Beschaffungsvorhaben gekauft, was weit von dem im Rahmen der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) vereinbarten gemeinsamem Richtwert von 35 % entfernt ist.

2.6.

Der Verteidigungssektor ist in den einzelnen Ländern stark fragmentiert, wobei es zu erheblichen Überschneidungen sowie infolgedessen zu Ineffizienzen aufgrund ungenutzter Skalen- und Lerneffekte kommt.

2.7.

Die bestehende Situation ist unhaltbar und die Entwicklung umfassender Verteidigungssysteme der nächsten Generation ist für einzelne EU-Mitgliedstaaten immer schwieriger zu bewältigen.

2.8.

Durch die unzureichende Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten ist die EU-Verteidigungsindustrie noch weniger in der Lage, die industriellen und technologischen Fähigkeiten aufrechtzuerhalten, die für die Wahrung der strategischen Autonomie der EU und die Deckung ihres aktuellen und künftigen Sicherheitsbedarfs erforderlich sind.

2.9.

Am 7. Juni 2017 nahm die Kommission eine Mitteilung über die Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds an, der zwei „Fenster“ umfasst, nämlich ein Forschungs- und ein Fähigkeitenfenster. Der Mitteilung war ein Vorschlag für eine Verordnung zur Einrichtung des Europäischen Programms zur industriellen Entwicklung im Verteidigungsbereich (EDIDP) im Rahmen des Fähigkeitenfensters beigefügt.

2.10.

Der Vorschlag für eine Verordnung zur Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds im Rahmen des MFR 2021-2027 wurde am 13. Juni 2018 von der Kommission veröffentlicht.

2.11.

Der Europäische Verteidigungsfonds ist als ein Instrument zur Förderung der Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der technologischen und industriellen Basis der Verteidigung der EU konzipiert und trägt damit zur strategischen Autonomie der EU bei. Der Fonds soll Kooperationsprogramme in Gang bringen, die ohne einen EU-Beitrag nicht zustande kämen, und zielt darauf ab, die notwendigen Anreize für die Förderung der Zusammenarbeit in jeder Phase des industriellen Zyklus zu setzen.

2.12.

Kooperationsprojekte mit erheblicher grenzüberschreitender Beteiligung von KMU werden besonders gefördert. Dadurch wird sichergestellt, dass der Fonds für Begünstigte aus allen Mitgliedstaaten offen bleibt, unbeschadet ihrer Größe und ihres Standorts.

2.13.

Vorgesehener Geltungsbeginn des vorgeschlagenen Rechtsakts für eine Union mit 27 Mitgliedstaaten ist der 1. Januar 2021.

2.14.

Während die Verteidigungsforschung in den Geltungsbereich des Rahmenprogramms für Forschung und Innovation („Horizont Europa“) fällt, werden die entsprechenden spezifischen Bestimmungen im Zusammenhang mit der Verteidigungsforschung, wie Ziele, Beteiligungsregeln und Durchführungsmechanismen, im vorliegenden Vorschlag festgelegt.

2.15.

Der Vorschlag strebt Synergien mit anderen zivilen FuE-Initiativen der EU, etwa in den Bereichen Sicherheit und Cybersicherheit, Grenzschutz, Küstenwache, Seeverkehr und Weltraum, an.

2.16.

Es ist eine enge Verknüpfung zwischen dem Fonds und den im Rahmen der geplanten Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigung (PESCO) durchgeführten Projekten vorgesehen.

2.17.

Berücksichtigt werden im Rahmen des Fonds der EU-Plan zur Fähigkeitenentwicklung (CDP), in dem die Prioritäten für die Verteidigungsfähigkeiten ermittelt werden, und die Koordinierte Jährliche Überprüfung der Verteidigung (CARD) der EU.

2.18.

In diesem Zusammenhang können auch die einschlägigen Maßnahmen der Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) und anderer Partner berücksichtigt werden, wenn sie den Interessen der Union im Bereich der Sicherheit und Verteidigung dienen.

2.19.

Darüber hinaus berücksichtigt der Fonds Verteidigungstätigkeiten, die im Rahmen der Europäischen Friedensfazilität, eines außerhalb des MFR vorgeschlagenen außerbudgetären Instruments, durchgeführt werden.

2.20.

Der betreffende Vorschlag sieht die Möglichkeit vor, die Unterstützung im Rahmen des Fonds durch die Bereitstellung von Finanzmitteln zu ergänzen, die aus dem Fonds „InvestEU“ besichert werden.

2.21.

Mit dem Fonds sollte auf Marktversagen oder suboptimale Investitionsbedingungen angemessen reagiert werden, ohne dass private Finanzierungen dupliziert oder verdrängt werden; zudem sollten die Maßnahmen einen klaren europäischen Mehrwert aufweisen.

2.22.

Die Union muss mehr Verantwortung für den Schutz ihrer Interessen, ihrer Werte und der europäischen Lebensart übernehmen und dabei die NATO ergänzen und mit ihr zusammenarbeiten.

2.23.

Die Europäische Union muss ihre strategische Autonomie verbessern, wenn sie für die Bedrohungen von morgen gewappnet sein und ihre Bürgerinnen und Bürger schützen will. Dafür bedarf es der Entwicklung von Schlüsseltechnologien in kritischen Bereichen und des Ausbaus der strategischen Fähigkeiten, um die Technologieführerschaft sicherzustellen.

2.24.

Die Entscheidung über Investitionen im Verteidigungsbereich und in Programme der Verteidigungsentwicklung ist nach wie vor ein Vorrecht der Mitgliedstaaten und bleibt in ihrer Zuständigkeit.

2.25.

Der vorgeschlagene politische Ansatz steht in einem angemessenen Verhältnis zum Umfang und zur Schwere der festgestellten Probleme. Die Initiative ist auf die Ziele beschränkt, die von den Mitgliedstaaten selbst nicht in zufriedenstellender Weise verwirklicht und daher voraussichtlich besser durch Maßnahmen der EU erreicht werden können.

2.26.

Die Vorbereitende Maßnahme im Bereich Verteidigungsforschung (PADR) wurde im April 2017 auf den Weg gebracht und für einen Zeitraum von drei Jahren mit Mitteln in Höhe von insgesamt 90 Mio. EUR ausgestattet. Mit den ersten, 2018 unterzeichneten Finanzhilfevereinbarungen hat die Maßnahme bereits erste konkrete Ergebnisse gezeigt, derzeit sind allerdings noch alle Projekte im Gang.

2.27.

Die vorgeschlagene Verordnung über das Europäische Programm zur industriellen Entwicklung im Verteidigungsbereich für 2019-2020 wird mit Haushaltsmitteln in Höhe von 500 Mio. EUR ausgestattet und am 1. Januar 2019 in Kraft treten.

2.28.

Vom 13. Januar 2018 bis zum 9. März 2018 fand eine öffentliche Konsultation aller Interessenträger zum Europäischen Verteidigungsfonds statt. Obwohl aus ethischer Perspektive Kritik zum Ausdruck gebracht wurde, wird die Initiative von den direkt betroffenen Interessenträgern unterstützt. Die Vorschriften über Rechte des geistigen Eigentums (IPR) für Verteidigungszwecke müssen angepasst werden.

2.29.

Die für den Zeitraum 2021-2027 vorgeschlagene Mittelausstattung beläuft sich auf 13 Mrd. EUR (zu jeweiligen Preisen), davon 4,1 Mrd. EUR für Forschungsmaßnahmen und 8,9 Mrd. EUR für Entwicklungsmaßnahmen.

2.30.

Vorbehaltlich der Bestätigung der Kosteneffizienz mithilfe einer Kosten-Nutzen-Analyse kann der Fonds von einer Exekutivagentur der Kommission verwaltet werden.

2.31.

Es wird ein Überwachungssystem zur Unterstützung der Leistungsberichterstattung und -bewertung vorgeschlagen. Die Ergebnisse werden nach und nach verfügbar sein.

2.32.

In ihrem Vorschlag für den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021-2027 legt die Kommission ein noch ehrgeizigeres Ziel fest, um zu gewährleisten, dass die Klimaziele in allen EU-Programmen durchgängig berücksichtigt werden. Danach sollen 25 % der EU-Ausgaben zu Klimazielen beitragen. Der Beitrag des Europäischen Verteidigungsfonds zum Erreichen dieses allgemeinen Ziels wird auf geeigneter Gliederungsebene mithilfe des Klima-Marker-Systems der EU und — sofern verfügbar — mit präziseren Methoden verfolgt.

2.33.

Der Vorschlag sieht als Geltungsbeginn den 1. Januar 2021 vor.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA verweist auf seine bereits in den Stellungnahmen CCMI/149 (2017) und CCMI/116 (2013) und CCMI/100 (2012) genannten Forderungen. Die Globale Strategie der EU und der Umsetzungsplan für Sicherheit und Verteidigung bieten hierzu auch wichtige Ansätze. Der EWSA hält die konsequente Umsetzung dieser Initiativen im Einklang mit der gemeinsamen Erklärung von EU und NATO vom Juli 2016 sowie im Rahmen des Prinzips der kollektiven Sicherheit der Vereinten Nationen für unerlässlich.

3.2.

Angesichts der aktuellen geostrategischen Gegebenheiten und sicherheitspolitischen Entwicklungen muss Europa seine Sicherheits- und Verteidigungskapazitäten stärken. Eine klare Vorstellung von den gemeinsamen strategischen Zielen der Union ist unabdingbar, fehlt jedoch bislang noch und muss dringend entwickelt werden. Dies ist eine Voraussetzung für die Ermittlung der erforderlichen Verteidigungsfähigkeiten, die auf einer tragfähigen technischen und industriellen Basis für die europäische Verteidigung aufbauen müssen.

3.3.

Der Rückzug der USA aus dem mit dem Iran im Jahr 2015 unterzeichneten Atomabkommen, die Krise in der Ukraine, Russlands besorgniserregende Machtdemonstrationen an den Grenzen der baltischen Staaten und der östlichen EU-Grenze, der Flächenbrand in Libyen und im Irak und Syrien, die anhaltende Instabilität in der Sahelzone, die mögliche politische und militärische Konfrontation zwischen einer amerikanisch-israelisch-saudischen Achse und einer iranisch-syrisch-russischen Achse, und all das vor dem Hintergrund von Cyberbedrohungen, einem Anstieg des Autoritarismus in Europa und der erhöhten Unberechenbarkeit der US-Diplomatie belegen: der strategische Balanceakt der EU war noch nie so komplex und besorgniserregend.

3.4.

Sicherheitsfragen innerhalb der EU und in den angrenzen Regionen gehören zu den vorherrschenden Anliegen der Bürger und Staatsoberhäupter gleichermaßen.

3.5.

Mindestens vier Aspekte muss die EU auf möglichst einvernehmliche Art und Weiseberücksichtigen: Entscheidungsautonomie, Antizipation von Krisen, politischer Einfluss und Kohärenz zwischen unseren Interessen und unseren demokratischen Grundsätzen.

3.6.

Im Jahr 2017 sprach sich der EWSA für den Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion aus und unterstützte den Europäischen Verteidigungs-Aktionsplan, einschließlich der Einrichtung eines gemeinsamen Europäischen Verteidigungsfonds.

3.7.

Der EWSA hat zu signifikanten qualitativen Fortschritten bei der europäischen Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich aufgerufen. Eine eingeschränkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Verteidigungsbereich führt tatsächlich zu Doppelstrukturen und einer weiterhin stark fragmentierten Verteidigungsindustrie. Die transnationale Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen und die weitere Integration der Industrie werden durch die unzureichende Integration auf der Nachfrageseite des Marktes nicht stimuliert. Dies hat einen ineffizienten Mitteleinsatz, Doppelstrukturen im Zusammenhang mit industriellen Fähigkeiten, Technologierückstand und das Fehlen neuer Programme, insbesondere von in Zusammenarbeit durchgeführter Programme zur Folge.

3.8.

Der EWSA befürwortet das Ziel strategischer Autonomie bei ermittelten kritischen industriellen Kapazitäten und Technologien. Dieses Ziel ist eng mit der Notwendigkeit einer soliden Beurteilung und Koordination verknüpft, um zu gewährleisten, dass diese Technologien auf europäischer Ebene beherrscht, beibehalten und hergestellt werden können, damit die EU Entscheidungen treffen und erforderlichenfalls autonom handeln kann.

3.9.

Der EWSA unterstützt die Entscheidung, den Verteidigungssektor mithilfe nachfrageorientierter Industriepolitik zu unterstützen.

3.10.

Der EWSA teilt die Ansicht, dass es möglich sein sollte, den gesamten europäischen Bedarf an Verteidigungsgütern durch eine größere Effizienz der nationalen Haushalte zu decken.

3.11.

Der EWSA stimmt zu, dass eine Kohärenz der Programme auf europäischer Ebene zu einer Vergrößerung des durch die europäische Verteidigungsindustrie bedienten europäischen Marktes führen könnte.

3.12.

Der EWSA weist darauf hin, dass eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung gemeinsamer Verteidigungsfähigkeiten in der Stärkung der industriellen und technischen Basis für die Verteidigung Europas besteht.

3.13.

Der EWSA betont, dass die Europäische Union an der Entwicklung hochqualifizierter Arbeitskräfte und der Gewinnung der Arbeitskräfte mit derartigen Fähigkeiten arbeiten muss.

3.14.

Der EWSA schlägt vor, dass die Europäische Union ihre Bemühungen um eine Harmonisierung der Exportregelungen innerhalb der EU beschleunigt.

3.15.

Der EWSA unterstützt ausdrücklich die besondere Berücksichtigung von KMU, auch im Bereich von Forschung und Entwicklung zu Verteidigungszwecken.

3.16.

Der EWSA hat es abgelehnt, bestehende Fonds, die wirtschaftlichen oder sozialen Zielen dienen, für Verteidigungszwecke einzusetzen.

3.17.

Der EWSA hat eine besondere Berücksichtigung der für die Verteidigung bereitgestellten nationalen Haushaltsmittel im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts abgelehnt. Verteidigungsausgaben dürfen die öffentlichen Haushalte nicht destabilisieren.

3.18.

Der EWSA hat die Einrichtung eines Verteidigungsfonds mit einem separaten Forschungs- und einem Fähigkeitenfenster unterstützt. Dies könnte der Konzipierung eines integrierten Planungsprozesses für Investitionen in den gesamten Technologiezyklus zugutekommen. Die Entscheidungen zur Auftragsvergabe verbleiben in den Händen der Mitgliedstaaten. Eine gemeinsame Beschaffung kann jedoch die Effizienz der Nachfrageseite erhöhen und zur Wettbewerbsfähigkeit und Effizienz der europäischen Verteidigungsindustrie beitragen. EU-Haushaltsmittel für Verteidigungstätigkeiten sollten nationale Verteidigungsausgaben nicht ersetzen oder als Ersatz fungieren, sondern vielmehr eine umfassendere und bessere Zusammenarbeit in der Verteidigung initiieren und beschleunigen. Ebenso darf die Verwendung des EU-Haushalts für die Verteidigungsforschung nicht auf Kosten der zivilen Forschung in anderen Bereichen erfolgen. Der Europäische Verteidigungsfonds soll Kooperationsprogramme in Gang bringen und durch die Unterstützung von Tätigkeiten im Bereich Forschung und Entwicklung die notwendigen Anreize für die Förderung der Zusammenarbeit in jeder Phase des industriellen Zyklus setzen. Selbst wenn die Entscheidungen über Investitionen im Verteidigungsbereich und in Programme der Verteidigungsentwicklung nach wie vor ein Vorrecht der Mitgliedstaaten sind, könnte der Europäische Verteidigungsfonds einen EU-Mehrwert bringen, indem er Anreize für die gemeinsame Forschung an und Entwicklung von Produkten und Technologien im Bereich der Verteidigung schafft.

3.19.

Der Verteidigungssektor ist nicht nur von strategischer Bedeutung für die Sicherheit und Verteidigung der Unionsbürger, sondern er leistet mit einem Gesamtumsatz von 100 Mrd. EUR pro Jahr und rund 500 000 hochqualifizierten direkt oder indirekt angestellten Arbeitskräften auch einen wesentlichen Beitrag für Wirtschaft und Wohlstand in Europa. Dieser Sektor ist die Quelle von hochmodernen Produkten, Dienstleistungen und Technologien, bei denen Innovation sowie Forschung und Entwicklung (FuE) für die Wettbewerbsfähigkeit eine zentrale Rolle spielen.

3.20.

Die europäische Verteidigungsindustrie und FuE-Ausgaben konzentrieren sich hauptsächlich auf die sechs Länder, die die Absichtserklärung unterzeichnet haben (Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Schweden und das Vereinigte Königreich), mit einem Anteil von 95 % bei Investitionen, mehrheitlich KMU, Unternehmen mit mittlerer Kapitalisierung und Spitzenunternehmen. Eine stärker vereinfachte und harmonisierte Verteidigungspolitik könnte über die weitere Spezialisierung von Ländern, Regionen und Unternehmen zu Effizienzsteigerungen bei bestimmten Technologien führen.

3.21.

Die Unterzeichnerstaaten der Absichtserklärung dominieren den europäischen Verteidigungsmarkt in Bezug auf die Anzahl der aktiven Unternehmen und deren Waffenverkäufe. Im Vereinigten Königreich ist bspw. BAE Systems das größte Rüstungsunternehmen. SAAB ist das größte schwedische Unternehmen für Luft- und Raumfahrt und Verteidigung, während in Frankreich die Unternehmen Dassault Aviation, Naval Group, Safran und Thales zu den größten gehören. In Deutschland sind Rheinmetall, ThyssenKrupp Marine Systems und Diehl wichtige Unternehmen. In Italien stellen Leonardo und Fincantieri die zwei wichtigsten Unternehmen dar. Airbus, ein transeuropäisches Unternehmen, ist nach BAE Systems das zweitgrößte in Europa. Eine weitere wichtige transnationale Gesellschaft ist MBDA, ein Joint Venture der drei europäischen Marktführer in der Luft- und Raumfahrt und Verteidigung (Airbus, BAE Systems und Leonardo), das in der Raketen- und Raketensystemherstellung tätig ist. KNDS, zu der Nexter und KMW gehören, schickt sich ebenfalls an, ein transeuropäisches Unternehmen zu werden. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass nicht alle Unternehmen ausschließlich im Bereich des Verteidigungsmarktes tätig sind, was auch die unterschiedlichen Verhältnisse zwischen Umsatz und Beschäftigtenzahl erklärt.

Betrachtet man kleinere Unternehmen, sind laut aktueller IHS-Studie beinahe 1 600 KMU in der Verteidigungsindustrie in Europa tätig, während die Gesamtzahl der KMU in den Lieferketten der Verteidigungsgüter auf 2 000-2 500 geschätzt wird. Einige dieser Unternehmen haben ein „doppeltes Standbein“ und sind sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich tätig. KMU spielen in jedem Fall eine wichtige Rolle in der Verteidigungsindustrie und sind ein Schlüssel für Wettbewerbsfähigkeit.

3.22.

Die europäische Verteidigungsindustrie ist in Europa nicht gleichmäßig verteilt. Dies legt nahe, dass erhöhte Militärausgaben der EU-Mitgliedstaaten nicht allen Mitgliedstaaten gleichmäßig zufließen können. Wenn höhere Ausgaben in einem Land zu Firmen in anderen Ländern fließen, könnte dies zu neuen Handelsströmen führen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der Europäische Verteidigungsfonds wird seine Wirkung nur dann entfalten können, wenn durch ihn tatsächlich sinnvolle Maßnahmen unterstützt werden. Seine Arbeitsprogramme sollten daher auf der Grundlage eines soliden europäischen Verteidigungsplanungsprozesses aufgestellt werden, in dem die wichtigsten Prioritäten in Bezug auf die Fähigkeit Europas benannt werden.

4.2.

Der EWSA unterstützt die kontinuierliche Zusammenarbeit im Dienste der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, und ebenso die Zusammenarbeit mit KMU auch aus Staaten, die die Absichtserklärung nicht unterzeichnet haben. Ein Rückkehrrecht, das mitunter die Redundanz von Kompetenzen verstärkt hat, sollte jedoch nicht wieder eingeräumt werden.

4.3.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, die Leistungen europäischer Fonds auf europäische Unternehmen in europäischer Hand zu beschränken und bei der Beteiligung eines Drittstaats an Entwicklungen, die vom Europäischen Verteidigungsfonds gefördert werden, Garantien zu verlangen.

4.4.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, dass die Gewährung europäischer Darlehen von der Europäischen Kommission verwaltet werden sollte. Seiner Ansicht nach kann sich die Europäische Verteidigungsagentur jedoch bei der Festlegung des Bedarfs an Verteidigungsgütern und der Gemeinsamen Organisation für Rüstungskooperation (OCCAR) sinnvoll einschalten. Dabei kann sie von ihren — nicht immer positiven — Erfahrungen profitieren und an der Verwaltung der Programme teilnehmen. Denn eine Überschneidung von Fähigkeiten in diesem Bereich würde die Wirksamkeit des Systems beeinträchtigen.

4.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass Forschung und Entwicklung einem Ethik-Ausschuss unterliegen müssen. Ethische Bedingungen müssen klar formuliert und bereits bei der Bewertung des Vorschlags geprüft werden, um für Rechtssicherheit und -klarheit zu sorgen.

4.6.

Der EWSA befürwortet zwar die Idee der industriellen Souveränität Europas, fragt sich jedoch, wie sie politisch umgesetzt werden kann, da sich die meisten europäischen Mitgliedstaaten als Teil des Atlantischen Bündnisses verstehen, während viele Staaten an einem nationalen Souveränitätskonzept festhalten.

4.7.

Der EWSA ist besorgt über die Zukunft der Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit und spricht sich für eine starke Sicherheits- und Partnerschaftspolitik aus, zu der auch die Beteiligung des Vereinigten Königreichs am Europäischen Verteidigungsfonds gehört.

4.8.

Von der in vielerlei Hinsicht disruptiven Entwicklung der Globalisierung betroffen, sind sich die Europäer bereits einiger ihrer Fehler und Illusionen bewusst. Ihr größter Fehler ist es, nicht zu handeln. Die Politik der strategischen Enthaltsamkeit, die es uns ermöglicht hat, uns auf die Wirtschaft zu konzentrieren und uns während des Kalten Kriegs bis zur Jahrhundertwende so viel Wohlstand gebracht hat, ist nun zu einem der größten Stolpersteine für Europa geworden.

4.9.

Europa war lange Zeit in der Welt tonangebend, zuerst alleine, dann gemeinsam mit den USA. In einer Welt, in der die globale Erwärmung zunimmt und autoritäre Regime erstarken, werden die Entwicklungsungleichheiten unter den Staaten, aber auch innerhalb der Staaten untragbar. Unser alternder Kontinent fühlt sich bedroht und zeigt eine Tendenz zu Schuldzuweisungen sowie zur Verwechslung von Problemen wie Terrorismus und Migrationsbewegungen, wobei es an einem hinreichenden Maß der Solidarität in und zwischen den Mitgliedstaaten mangelt. Die Folge ist ein Wiederaufleben von Nationalismus und Autoritarismus, welche die europäischen Demokratien unter Druck setzen. Ein industriepolitisches Instrument vom Kaliber des Europäischen Verteidigungsfonds enthebt die EU nicht von weiterführenden politischen Überlegungen darüber, was wir verteidigen wollen und wie wir diese Verteidigung organisieren wollen.

4.10.

Bei der europäischen Verteidigung geht es nicht nur um strategische Bedrohungen, externe Interventionen, militärische Kapazitäten, technologische Innovation und industrielle Exzellenz. Die größte Bedrohung, der Europa heute gegenübersteht, ist die Herausforderung für die europäische Demokratie selbst. Diese politische Dimension darf im Rahmen der gemeinsamen Verteidigungspolitik nicht länger ignoriert werden.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/82


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischer Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF)“

(COM(2018) 380 final)

(2019/C 110/16)

Berichterstatter:

Vladimír NOVOTNÝ

Ko-Berichterstatter:

Pierre GENDRE

Befassung

Europäisches Parlament, 11.6.2018

Rat, 22.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 175 Absatz 3 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

22.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

201/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Kommission, der die Fortführung des Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF) über den 31. Dezember 2020 hinaus ermöglicht. Der EWSA empfiehlt, dass der Anwendungsbereich des EGF, der erweitert wurde, um nicht nur Entlassungen aufgrund schwerwiegender Störungen der Wirtschaft, sondern auch infolge neuer globaler Finanz- und Wirtschaftskrisen zu erfassen, den erheblichen Beschäftigungsveränderungen beispielsweise infolge der Entwicklung der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz, der Umstellung auf eine Niedrigemissionswirtschaft und der möglichen Folgen eines Rückgangs des Welthandels Rechnung trage. Der EGF sollte so zu einem dauerhaften Instrument werden, um die negativen Auswirkungen der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts auf den Arbeitsmarkt abzufedern.

1.2.

Der EWSA stellt fest, dass es gewisse Unklarheiten in Bezug auf die Rolle der verschiedenen EU-Fonds gibt, und empfiehlt daher, alle Interessenträger auf einfache und deutliche Weise über den Umfang ihrer jeweiligen Maßnahmen sowie deren eventuelle Komplementarität zu informieren. Der EWSA weist darauf hin, dass der EGF nicht darauf abzielt, nationale Rechtsvorschriften oder Bestimmungen aufgrund von Tarifverträgen zu ersetzen, sondern dass er diese erforderlichenfalls ergänzen kann.

1.3.

Der EWSA fordert die Regierungen der Mitgliedstaaten auf, in Zusammenarbeit mit der Kommission auf nationaler Ebene Mechanismen zu schaffen, um die Kapazitäten der Verwaltungsstrukturen zu stärken und so die Vorbereitung der Antragstellung kleiner und mittlerer Unternehmen auf EGF-Intervention und die Unterstützung von Arbeitnehmern, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, zu erleichtern und effizienter zu gestalten.

1.4.

Der EWSA bekräftigt seine Forderung, die Sozialpartner und andere Organisationen der Zivilgesellschaft von Beginn an und in allen Phasen an den Verfahren zur Bearbeitung der Anträge auf Finanzhilfe aus dem EGF zu beteiligen, und zwar sowohl auf Unternehmensebene als auch auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene.

1.5.

Der EWSA teilt die Ansicht der Kommission, dass entlassene Arbeitnehmer und Selbständige, die ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben haben, unabhängig von der Art ihres Beschäftigungsvertrags oder -verhältnisses gleichermaßen Zugang zum EGF haben sollten.

1.6.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten und die an der EGF-Beschlussfassung beteiligten Organe der Union auf, ihr Möglichstes zu tun, um den Verfahrensablauf zu beschleunigen und zu vereinfachen, damit die reibungslose und rasche Verabschiedung von Beschlüssen zur Inanspruchnahme des EGF sichergestellt werden kann.

1.7.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, benachteiligten Gruppen einschließlich junger und älterer Arbeitsloser und von Armut bedrohter Personen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, da diese Gruppen bei der Suche nach einer dauerhaften Beschäftigung vor besonderen Problemen stehen.

1.8.

Der EWSA weist nachdrücklich darauf hin, dass die Unterstützung im Interesse der Begünstigten so schnell und effizient wie möglich zur Verfügung gestellt werden sollte.

2.   Hintergrund der Stellungnahme und des betreffenden Legislativvorschlags

2.1.   Ursprung und Entwicklung des Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung

2.1.1.

Der Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF) war durch die Verordnung (EG) Nr. 1927/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates (1) für die Dauer des Programmplanungszeitraums 2007-2013 eingerichtet worden, um die berufliche Wiedereingliederung von Arbeitnehmern in Gebieten, Wirtschaftszweigen, Territorien oder Arbeitsmärkten zu erleichtern, die unter dem Schock einer schwerwiegenden Störung der Wirtschaftsentwicklung zu leiden haben. Der EGF unterstützt Menschen; seine Aufgabe ist es jedoch nicht, in Schwierigkeiten geratenen Unternehmen zu helfen.

2.1.2.

Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Wirtschafts- und Finanzkrise führte die Kommission im Jahr 2008 eine Überarbeitung des EGF durch mit dem Ziel, den Anwendungsbereich des Fonds für den Zeitraum vom 1. Mai 2009 bis zum 30. Dezember 2011 zu erweitern und die Kofinanzierungsquote von 50 % auf 65 % zu erhöhen, um auf diese Weise die Mitgliedstaaten zu entlasten.

2.1.3.

Der Anwendungsbereich des EGF wurde 2009 auch auf Arbeitnehmer ausgedehnt, die als direkte Folge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise entlassen wurden.

2.1.4.

Für den mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020 wurde der Anwendungsbereich des EGF durch die Verordnung (EU) Nr. 1309/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (2) erneut erweitert. Durch diese Erweiterung konnten Entlassungen nicht nur infolge weitreichender Strukturveränderungen im Welthandelsgefüge, sondern auch infolge einer etwaigen neuen globalen Finanz- und Wirtschaftskrise abgedeckt werden.

2.1.5.

Am 17. November 2017 proklamierten das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission gemeinsam die europäische Säule sozialer Rechte. Die Grundsätze dieser Säule dienen als übergeordneter Leitrahmen für den Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung.

2.2.   Der neue EGF-Vorschlag für den Zeitraum nach 2020

2.2.1.

Hauptziel des neuen Vorschlags ist es sicherzustellen, dass der EGF über den 31. Dezember 2020 hinaus unbefristet weiterarbeiten kann, denn es handelt sich hier um ein über die Obergrenzen des mehrjährigen Finanzrahmens hinausgehendes besonderes Instrument.

2.2.2.

Der EGF könnte auch dann Unterstützung bieten, wenn unvorhergesehene Krisen zu einer schwerwiegenden Störung der Wirtschaft auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene führen. Solche unvorhergesehenen Krisen können eine schwere Rezession bei wichtigen Handelspartnern oder ein Zusammenbruch des Finanzsystems sein.

2.2.3.

Zugang zu Unterstützung durch den EGF haben Arbeitnehmer unabhängig von der Art ihres Arbeitsvertrags oder ihres Beschäftigungsverhältnisses. So können nicht nur Arbeitnehmer mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag einbezogen werden, sondern auch Arbeitnehmer mit befristeten Arbeitsverträgen, Zeitarbeitskräfte, geschäftsführende Inhaber von Mikrounternehmen und Selbständige.

2.2.4.

Ein Antrag auf Unterstützung von Arbeitnehmern aus dem EGF kann nur gestellt werden, wenn die Zahl der Entlassenen über einer bestimmten Mindestschwelle liegt. Der Schwellenwert von 250 ist niedriger als der für den Programmplanungszeitraum 2014-2020 festgelegte Wert. In vielen Mitgliedstaaten sind die meisten Arbeitnehmer in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) beschäftigt.

2.2.5.

Im Mittelpunkt des EGF stehen aktive Arbeitsmarktmaßnahmen, deren Zweck es ist, den entlassenen Arbeitnehmern rasch wieder zu einem festen Arbeitsplatz zu verhelfen. Der EGF kann nicht zur Finanzierung passiver Maßnahmen verwendet werden. Beihilfen dürfen nur eingeschlossen werden, wenn sie als Anreize konzipiert sind, die den entlassenen Arbeitnehmern die Teilnahme an aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen erleichtern sollen; der Anteil von Beihilfen an einem koordinierten Paket aktiver Arbeitsmarktmaßnahmen ist begrenzt.

2.2.6.

Die Mitgliedstaaten beantragen eine Inanspruchnahme nur im Fall einer echten Notlage. Der EGF darf weder Maßnahmen, die bereits von anderen im mehrjährigen Finanzrahmen vorgesehenen Fonds und Programmen der EU gedeckt sind, noch nationale Maßnahmen ersetzen und auch nicht an die Stelle von Maßnahmen treten, für die die entlassenden Unternehmen aufgrund des nationalen Rechts oder aufgrund von Kollektivvereinbarungen verantwortlich sind.

2.2.7.

Die Voraussetzung für einen Antrag auf Unterstützung sollte als erfüllt gelten, wenn sich eine größere Umstrukturierungsmaßnahme erheblich auf die lokale oder regionale Wirtschaft auswirkt.

2.2.8.

Bis zum 31. Dezember 2021 ist eine Ex-post-Evaluierung der bestehenden Verordnung durchzuführen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, der die Fortführung des EGF über den 31. Dezember 2020 hinaus ermöglicht. Er hat in der Vergangenheit eine Reihe von Stellungnahmen zum EGF verabschiedet, in denen er seine Unterstützung für den EGF zum Ausdruck brachte, und seines Erachtens sind diese Stellungnahmen weiterhin aktuell (3) (4) (5) (6).

3.2.

Der EWSA betont, wie wichtig nach wie vor die Rolle des EGF als flexibler Fonds ist, der Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz im Zuge großangelegter Umstrukturierungen verloren haben, unterstützt und ihnen dabei hilft, möglichst schnell einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Er empfiehlt, die Lage der Beschäftigten zu berücksichtigen, deren Arbeitszeit dauerhaft verkürzt wird, ohne dass es zu einem Ausgleich für das geringere Einkommen käme.

3.3.

Nach Ansicht des EWSA wäre es sinnvoll, detailliertere Überwachungsdaten zu erheben, insbesondere in Bezug auf die Kategorie der Arbeitskräfte, ihr Ausbildungs- und Berufsprofil, ihren Beschäftigungsstatus und ihre Beschäftigungsart. Angesichts des zu erwartenden Verwaltungsaufwands eines solchen Vorgehens und der damit verbundenen Belastung unterstützt der EWSA die von der Kommission vorgeschlagene Alternative, derartige Informationen mit Hilfe eines Online-Fragebogens für die Begünstigten einzuholen.

3.4.

Der EWSA teilt die Ansicht der Kommission, dass entlassene Arbeitnehmer und Selbständige, die ihre Haupterwerbstätigkeit aufgegeben haben, unabhängig von der Art ihres Beschäftigungsvertrags oder -verhältnisses gleichermaßen Zugang zum EGF haben sollten.

3.5.

Nach Ansicht des EWSA sollten die Finanzbeiträge des EGF in erster Linie in aktive Arbeitsmarktmaßnahmen fließen, die auf die rasche Wiedereingliederung der Begünstigten in ein nachhaltiges Beschäftigungsverhältnis abzielen. Darüber hinaus sollte die berufliche und geografische Mobilität der Arbeitnehmer gefördert werden, um ihren Wiedereinstieg zu erleichtern.

3.6.

Der EWSA nimmt den jährlichen Höchstbetrag von 225 Mio. EUR für den Zeitraum 2021-2027 zur Kenntnis und ist der Auffassung, dass diese Mittelausstattung angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Lage in der EU angemessen ist. Er weist jedoch darauf hin, dass sich dieser Betrag im Falle einer erneuten tiefgreifenden Krise oder in Fällen wie der Beschleunigung des technologischen Wandels und der Energiewende als nicht mehr ausreichend erweisen könnte.

3.7.

Der EWSA empfiehlt, im Zuge der Halbzeitüberprüfung des mehrjährigen Finanzrahmens auch den EGF im Hinblick auf die Inanspruchnahme der Finanzmittel und die Höhe der Schwelle von 250 Entlassungen zu überprüfen, und fordert die Kommission auf, in Zusammenarbeit mit der Haushaltsbehörde der EU eine entsprechende Anpassung der EGF-Mittel vorzubereiten.

3.8.

Die Kommission sollte für diesen Fall eine Aufstockung der Mittel auf etwa eine Milliarde Euro in Betracht ziehen. Da der EGF als Notfonds konzipiert wurde, muss darüber hinaus gewährleistet werden, dass die für eine solche Mittelaufstockung erforderlichen Beschlüsse gegebenenfalls so schnell wie möglich gefasst werden.

3.9.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, benachteiligten Gruppen einschließlich junger und älterer Arbeitsloser und von Armut bedrohter Personen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, da diese Gruppen bei der Suche nach einer dauerhaften Beschäftigung vor besonderen Problemen stehen.

3.10.

Die Mitgliedstaaten und die an der EGF-Beschlussfassung beteiligten Organe der Union sollten ihr Möglichstes tun, um den Verfahrensablauf zu beschleunigen und zu vereinfachen, damit die reibungslose und rasche Verabschiedung von Beschlüssen zur Inanspruchnahme des EGF sichergestellt werden kann. Der EWSA weist nachdrücklich darauf hin, dass die Unterstützung im Interesse der Begünstigten so schnell und effizient wie möglich zur Verfügung gestellt werden sollte.

3.11.

Der EWSA begrüßt, dass die europäische Säule sozialer Rechte für den EGF als übergeordneter Leitrahmen dient, der es der Union bei großen Umstrukturierungsmaßnahmen ermöglicht, die einschlägigen Grundsätze in die Praxis umzusetzen. Angesichts der Schwierigkeit, die Ursache für Entlassungen an einem bestimmten Faktor festzumachen, empfiehlt der EWSA, dass die Inanspruchnahme des EGF in Zukunft vor allem auf dem Vorliegen beträchtlicher Auswirkungen von Umstrukturierungsmaßnahmen basieren sollte, die nicht nur mit der Globalisierung zusammenhängen, sondern insbesondere auch mit anderen weitreichenden Veränderungen wie beispielsweise der Dekarbonisierung, der Digitalisierung und Industrie 4.0 und den damit einhergehenden technologischen Veränderungen und Transformationsprozessen sowie mit weiteren Veränderungen infolge einer Vielzahl von Gründen — angefangen von großen Standortverlagerungen oder Entlassungen bis hin zu einer Finanz- oder Wirtschaftskrise. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA ausdrücklich die Ausweitung des Anwendungsbereichs des EGF auf Arbeitsmarktrisiken, die durch strukturelle Veränderungen infolge der Digitalisierung und der Fortschritte im Bereich der Dekarbonisierung entstehen.

3.12.

Der EWSA ist der Überzeugung, dass der EGF besser mit den übrigen Politikbereichen der EU abgestimmt werden sollte und dass die Synergien zwischen dem EGF und den übrigen Fonds und Programmen (z. B. dem Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen, dem ESF, dem Programm der Europäischen Union für Beschäftigung und soziale Innovation (EaSI) und dem Gesundheitsprogramm der EU) sowie ihre Wechselwirkungen genauer geregelt werden sollten.

3.13.

Angesichts des Widerspruchs zwischen der derzeitigen Bezeichnung des Fonds und seinen Zielsetzungen sowie im Interesse der Beibehaltung der englischen Abkürzung „EGF“ schlägt der EWSA vor, die Bezeichnung „Europäischer Fonds für die Anpassung an die Globalisierung“ in „Europäischer Fonds für Anpassung und Globalisierung“ zu ändern oder eine ähnliche Bezeichnung zu finden, die zur eingeführten Abkürzung „EGF“ passt.

3.14.

Nach Auffassung des EWSA sollte der Anwendungsbereich des EGF künftig auf die Unterstützung von Programmen wie den auf nationaler Ebene entwickelten „Kurzarbeit“- oder „Short-time“-Programmen ausgedehnt werden.

4.   KMU

4.1.

Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) stellen rund 80 % der Arbeitsplätze in der EU, und gleichzeitig gehören sie im Falle von Krisen- oder Transformationsprozessen zu den am stärksten gefährdeten Unternehmen. Der EWSA fordert die Regierungen der Mitgliedstaaten daher auf, in Zusammenarbeit mit der Kommission auf nationaler Ebene Mechanismen zu schaffen und die Kapazitäten der Verwaltungsstrukturen zu stärken, um die Vorbereitung der Antragstellung kleiner und mittlerer Unternehmen auf EGF-Intervention und die Unterstützung von Arbeitnehmern, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, zu erleichtern und effizienter zu gestalten.

4.2.

Der EWSA unterstützt die vorgeschlagene Gleichstellung von abhängig Beschäftigten und Selbständigen (Artikel 7) unter Vorbehalt der Nicht-Kumulierung selbständiger und unselbständiger Erwerbstätigkeit sowie im Falle der Beendigung der Haupttätigkeit.

4.3.

Der EWSA befürwortet den Schutz von Eigentümern sehr kleiner Unternehmen, die infolge einer Wirtschafts- und Finanzkrise oder eines technologischen Wandels ihre Arbeit verlieren könnten, und teilt die Ansicht, dass auch diese Personen Unterstützung aus dem EGF erhalten können. Das sollte allerdings nicht bedeuten, dass ein „Selbständiger“ wie in Artikel 4 des Verordnungsvorschlags der Kommission als Person definiert wird, die weniger als zehn Arbeitskräfte beschäftigt hat. Eine solche Definition würde sich auf die europäischen Rechtsvorschriften ganz unterschiedlich auswirken, weil verschiedene Kategorien von Arbeit und Wirtschaftstätigkeit gleich bezeichnet würden. Zur Verwirklichung des vom EWSA unterstützten Ziels, die Eigentümer sehr kleiner Unternehmen zu schützen, sollte die Kommission eine andere Lösung finden.

4.4.

Der EWSA schlägt der Kommission vor, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten die Wirkung des EGF durch eine Informationskampagne — auch für KMU — zu erhöhen, damit ihre Arbeitnehmer die Möglichkeiten auf Unterstützung aus dem EGF besser nutzen können.

4.5.

Der EWSA begrüßt die neue Konfiguration der Interventionskriterien (Artikel 5), die insbesondere der Situation in den kleinen und mittleren Unternehmen Rechnung trägt, in denen ein großer Teil der Arbeitnehmer beschäftigt ist. Ungeachtet des Schwellenwerts von 250 Arbeitnehmern ist es wichtig, die Unternehmensgruppe und/oder die Gebietseinheit insgesamt zu berücksichtigen, wenn mehrere Zweigstellen derselben Gruppe, in denen es zum Abbau von Arbeitsplätzen kommt, diese Schwelle einzelnen nicht erreichen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Der EWSA empfiehlt, bei der Berechnung der Zahl der Entlassungen und der Fälle der Aufgabe der Tätigkeit (Artikel 6), der förderfähigen Begünstigten (Artikel 7) und der förderfähigen Maßnahmen (Artikel 8) mehr Flexibilität walten zu lassen, damit die Hilfe die betroffenen Arbeitnehmer so schnell wie möglich erreicht.

5.2.

Der EWSA empfiehlt darüber hinaus, die Verwaltungsverfahren im Zusammenhang mit der Einreichung der Anträge (Artikel 9) weitgehend zu vereinfachen und so den gesamten Prozess zu beschleunigen. Durch die Vereinfachung der Unterlagen und die Einführung technischer Hilfe für die Mitgliedstaaten, in denen dies erforderlich ist, kann die Tragweite der Maßnahmen im Rahmen des Fonds erhöht werden.

5.3.

Der EWSA ist überzeugt, dass die Verwaltungsmaßnahmen (Ziffer 2 des Anhangs des Verordnungsvorschlags) vereinfacht werden müssen, insbesondere die Bestimmungen bezüglich der Überwachung und Berichterstattung, der Management- und Kontrollsysteme sowie der Maßnahmen zur Prävention von Betrug und Unregelmäßigkeiten.

5.4.

Der EWSA befürwortet die Einschränkung der Förderfähigkeit gemäß Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b des Vorschlags, in dem es heißt, dass die Unterstützung aus dem EGF nicht an die Stelle von Verbindlichkeiten treten darf, die den Unternehmen aufgrund des nationalen Rechts oder von Kollektivvereinbarungen entstehen. Dadurch sollten marktbasierte Maßnahmen aufgrund von Kollektivvereinbarungen nicht generell von einer möglichen Unterstützung durch den EGF ausgeschlossen werden.

5.5.

Der EWSA geht davon aus, dass die Kommission bei der bevorstehenden Ex-post-Bewertung des EGF den Ursachen für die uneinheitliche Inanspruchnahme des EGF in den Mitgliedstaaten besondere Aufmerksamkeit schenken wird, insbesondere den Ursachen für die geringe Absorption oder sogar die Nichtverwendung der EGF-Mittel in folgenden Ländern: Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Luxemburg, Malta, Slowakei, Tschechische Republik, Ungarn, Vereinigtes Königreich und Zypern.

5.6.

Der EWSA bekräftigt seine Forderung, die Sozialpartner und andere Organisationen der Zivilgesellschaft von Beginn an und in allen Phasen an den Verfahren zur Bearbeitung der Anträge auf Finanzhilfe aus dem EGF zu beteiligen, und zwar sowohl auf Unternehmensebene als auch auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene. Auch die regionalen Strukturen und Gemeinden können angesichts ihrer genauen Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten und Besonderheiten eine wichtige Rolle spielen.

5.7.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, in der Verordnung zu präzisieren, dass sich der Begriff „Arbeitnehmer“ auch auf die beschäftigten Mitglieder von Genossenschaften bezieht.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. L 406 vom 30.12.2006, S. 1.

(2)  Verordnung (EU) Nr. 1309/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über den Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (2014-2020) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1927/2006 (ABl. L 347 vom 20.12.2013, S. 855).

(3)  ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 38.

(4)  ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 141.

(5)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 92.

(6)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 17.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/87


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Programm Kreatives Europa (2021 bis 2027) und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1295/2013)“

(COM(2018) 366 final)

(2019/C 110/17)

Berichterstatterin:

Emmanuelle BUTAUD-STUBBS

Ko-Berichterstatter:

Zbigniew KOTOWSKI

Befassung

Europäisches Parlament, 14.6.2018

Rat, 21.6.2018

Beschluss des Präsidiums

19.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 173 Absatz 3 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständig

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

22.11.2018

Verabschiedung im Plenum

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

207/2/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Programm „Kreatives Europa“ (2021 bis 2027) (COM(2018) 366 final) und die diesbezüglichen im Anhang II festgelegten Indikatoren. Die Gestaltung eines starken und geeinten Europas muss auf der Vielfalt der kulturellen Wurzeln beruhen, die über Bildung vermittelt werden sollte. Die Fortsetzung dieses Programms sollte als äußerst wertvoller Beitrag zur Entwicklung der europäischen Kultur sowie der Kulturen der einzelnen Mitgliedstaaten betrachtet werden, wobei es sich um einen Grundpfeiler unserer Gesellschaft und einen Schmelztiegel unserer demokratischen Werte handelt.

1.2.

Seit vielen Jahren setzt sich der EWSA für den wichtigen Beitrag ein, den die Kultur- und Kreativwirtschaft zur Wertschöpfung, zur Schaffung von Arbeitsplätzen, zur Inklusivität und zum Wachstum in der EU leistet (1). Der OECD zufolge wurden 2012 durch die urheberrechtsintensiven Wirtschaftszweige (2)4,2 % des BIP und 3,2 % der Arbeitsplätze in der EU generiert. Nach Artikel 2 des Vorschlags für eine Verordnung (COM(2018) 366) umfasst der Kultur- und Kreativsektor „Architektur, Archive, Bibliotheken und Museen, Kunsthandwerk, den audiovisuellen Bereich (einschließlich Film, Fernsehen, Videospiele und Multimedia), das materielle und immaterielle Kulturerbe, Design (einschließlich Modedesign), Festivals, Musik, Literatur, darstellende Kunst, Bücher und Verlagswesen, Radio und bildende Kunst“.

1.3.

Angesichts der besonderen Merkmale kreativer Tätigkeiten und Prozesse, die sich nicht immer leicht in den allgemeinen Rahmen des Arbeitsrechts einfügen, ist sich der EWSA vollkommen der sozialen Herausforderungen bewusst, die in einigen Mitgliedstaaten angegangen werden sollten: Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Beseitigung unbezahlter Überstunden, Bekämpfung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten, Förderung menschenwürdiger Arbeit, bessere Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen, Erleichterung der Mobilität, Inklusion behinderter und ausgegrenzter Menschen, Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung usw.

1.4.

Nach Auffassung des EWSA reichen die geplanten Haushaltsmittel von 1,8 Mrd. EUR für die ehrgeizigen Zielsetzungen des Programms „Kreatives Europa“ 2021-2027 nicht aus. Deshalb fordert der EWSA eine höhere Mittelausstattung. Diese umfangreichen Investitionen in die Kreativität Europas, seine Künstler, Kulturschaffenden, Musiker, Schriftsteller, Fotografen, Architekten, Erfinder von Videospielen, Filmemacher usw. werden der EU helfen, sich im Wettbewerb mit großen Ländern (USA, Japan, Südkorea), die auf nationaler Ebene und in internationalen Organisationen bewusst „Soft Power“-Strategien einsetzen, erfolgreich zu behaupten. Die Finanzierung durch die EU sollte durch nationale und regionale öffentliche Mittel ergänzt werden. Spezifische Steueranreize könnten die Gemeinnützigkeit (z. B. Restaurierung von Kulturgütern) fördern und das Crowdfunding zur Schaffung neuer Geschäftsmodelle erleichtern.

1.5.

Nach Ansicht des EWSA muss auch in rechtliche und technische Instrumente investiert werden, um wirksamer gegen alle Formen der Förderung von Gewalt und Diskriminierung — insbesondere bei der Herstellung von Online-Videospielen für Kinder und junge Menschen — vorzugehen.

1.6.

Der EWSA befürwortet die Einbeziehung der kreativen und kulturellen Dimension in die auswärtige Politik der EU (Handelspolitik, internationale Beziehungen usw.) (3).

1.7.

Diese bislang einmalige finanzielle Zielvorgabe sollte in folgenden drei Bereichen erreicht werden:

eine erhöhte Mittelausstattung von 1 930 000 EUR (statt 1 850 000 EUR) des Programms „Kreatives Europa“ im Zeitraum 2021-2027, einschließlich zusätzlicher Mittel in Höhe von 80 Mio. EUR für den SEKTORÜBERGREIFENDEN Aktionsbereich, die weitere „sich wechselseitig befruchtende“ Projekte zwischen den kulturellen und kreativen Branchen selbst (Musik, Mode, Design, Kunst, Kino, Verlagswesen usw.) und zwischen diesen Branchen und anderen Industriezweigen ermöglichen werden, und mehr Mittel für weitere Schulungsmaßnahmen im Bereich Medien angesichts der Tatsache, dass der Pluralismus der Medien seit Kurzem in der EU infrage gestellt wird;

finanzielle Unterstützung für Kultur und Kreativität im Rahmen verschiedener EU-Programme, um „die Kultur stärker in die anderen Politikbereiche einzubeziehen, was sowohl der Kultur als auch dem jeweiligen anderen Bereich zum Vorteil gereichen würde“ (4): Horizont 2020, Europäischer Sozialfonds, Digitales Europa, Kohäsionsfonds, Erasmus;

fortgesetzte Unterstützung der Garantiefazilität für die „Kultur- und Kreativbranche“, damit Garantien und erforderlichenfalls eigenkapitalähnliche Hilfen für KMU und Start-ups bereitgestellt werden.

1.8.

Dieses erneute Engagement für ein stärker durch Kultur und Kreativität geprägtes Europa wird dank der Integration von Kreativität, Design und modernsten Techniken auch verschiedenen Branchen und industriellen Wertschöpfungsketten der EU zugutekommen — von Textilien, Bekleidung, Lederwaren, Möbeln, Keramik, Spielwaren, Tourismus und Kunstgewerbe bis hin zu Automobilindustrie, Bauwesen, Gesundheit und Wohlergehen, grüner Energie usw. In Europa gibt es viele Beispiele für den erfolgreichen Wandel von Industrieregionen oder Städten hin zur Kreativwirtschaft mit größerer Wertschöpfung (Turin).

1.9.

Die „digitale Revolution“ in diesen urheberrechtsintensiven Branchen bietet besonders große Chancen, und es sollten ausreichende Investitionen in Ausrüstung und Software (z. B. künstliche Intelligenz, Blockchain, 3D-Druck, Digitalisierung von Archiven) und in Ausbildung gefördert werden.

1.10.

Das Innovationspotenzial dieser Branchen ist unbegrenzt, da sie sich weitgehend auf individuelle Kreativität, Kompetenz und Fantasie stützen. Aus diesem Grund sollte die Kultur- und Kreativwirtschaft ein spezifisches Budget im Rahmen von „Horizont 2020“ erhalten (mindestens 3 Mrd. EUR, also etwas weniger als ihr Anteil am EU-BIP von 4,2 %).

1.11.

Auf dem US-Markt finden gegenwärtig große Fusionen statt, die sich auf die Kultur- und Kreativwirtschaft der EU auswirken werden. In diesem Zusammenhang ersucht der EWSA die Kommission um eine Ausschreibung für einen 2019 vorzulegenden Business-Intelligence-Bericht über die wichtigsten wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen in den USA im Zusammenhang mit Medien, Kino und dem audiovisuellen Sektor sowie ihre voraussichtlichen Auswirkungen auf ihre EU-Pendants in den Bereichen Produktion, Nutzung und Verbreitung.

1.12.

Angesichts der Tatsache, dass die EU-27 erheblich von einem kontinuierlichen Dialog zwischen dem Vereinigten Königreich als einem Hauptakteur in diesen Branchen profitieren könnte, fordert der EWSA die Europäische Kommission dazu auf, jeden bilateralen Dialog zwischen Regierungen und Netzen zu unterstützen, der den Weg für ein bilaterales Abkommen ebnen könnte, um im Rahmen von „Kreatives Europa“ 2021-2027 ehrgeizige bilaterale Programme fortzuführen. Ähnliche bilaterale Programme wurden in der Vergangenheit (2014-2020) bereits mit Drittländern wie Georgien, Serbien oder der Ukraine vereinbart.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.   Eine ehrgeizigere Zielsetzung

2.2.

Der Vorschlag für eine Verordnung (COM(2018) 366) stützt sich auf Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union, der besagt, dass es das Ziel der EU ist, „den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“, und dass die EU „den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt [wahrt] und […] für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas [sorgt]“. Es besteht jedoch gemeinhin der Eindruck, dass die Zahl der Herausforderungen gestiegen ist, insbesondere der Wettbewerb durch Online-Plattformen und Suchmaschinen, die Konzentration des Sektors auf wenige große Marktteilnehmer oder die zunehmende „Desinformation“.

2.3.

Mit diesem neuen Programm möchte die Kommission es den Teilnehmern ermöglichen, technisch und künstlerisch innovative europäische grenzüberschreitende Initiativen für den Austausch, das gemeinsame Schaffen, die Koproduktion und die Verbreitung europäischer Werke zu entwickeln. Außerdem soll die Stellung der europäischen Akteure auf den europäischen und globalen Märkten gestärkt werden. Beispiele für bewährte Methoden in diesem Bereich gibt es im Zusammenhang mit den Maßnahmen des „Eurimages“-Fonds des Europarates.

2.4.   Eine höhere, aber immer noch unzureichende Mittelausstattung

2.4.1.

Die vorgeschlagenen Haushaltsmittel in Höhe von 1,85 Mrd. EUR für 27 Mitgliedstaaten gehen über die gegenwärtigen Mittel hinaus, entsprechen aber nur einem Tausendstel des Gesamtbetrags des mehrjährigen Finanzrahmens der EU für den Zeitraum 2021-2027, der sich auf 1 135 Mrd. EUR beläuft.

2.5.

Die von der Kommission vorgeschlagenen Mittel verteilen sich auf drei Bereiche:

Aktionsbereich KULTUR mit 609 Mio. EUR (33 % der Gesamtmittel gegenüber 31 % der Gesamtmittel des Programms „Kreatives Europa“ 2014-2020);

Aktionsbereich MEDIA mit 1 081 Mio. EUR (58 % der Gesamtmittel gegenüber 56 % der Gesamtmittel des Programms „Kreatives Europa“ 2014-2020);

SEKTORÜBERGREIFENDER Aktionsbereich mit160 Mio. EUR (9 % der Gesamtmittel gegenüber 13 % der Gesamtmittel des Programms „Kreatives Europa“ 2014-2020).

2.5.1.

Der EWSA fordert zusätzliche Mittel in Höhe von 80 Mio. EUR für den SEKTORÜBERGREIFENDEN Aktionsbereich, um das Potenzial der „sich wechselseitig befruchtenden“ Projekte (5) (digitale Wirtschaft, Tourismus, Kunst, Luxusgüter, Kultur, Digitaldruck usw.) voll und ganz auszuschöpfen und um mehr praktische Lösungen im Bereich Medienkompetenz zu finden.

2.5.2.

Das Ziel, vorrangig auf ein breites Publikum ausgerichtete Projekte zu fördern, ist für den audiovisuellen Sektor (Aktionsbereich MEDIA) geeignet, sollte aber nicht für alle kulturellen Tätigkeiten, insbesondere in ländlichen Gebieten, gelten. Sozialer Zusammenhalt und soziale Inklusion stehen im Mittelpunkt des europäischen Projekts.

2.6.   Der Brexit und die Kultur- und Kreativwirtschaft

2.6.1.

Die Durchführung des neuen Programms erfolgt in den EU-27 nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs, also eines der Mitgliedstaaten, in denen die Kultur- und Kreativwirtschaft großes Gewicht hat (90 Mrd. GBP im Jahr 2016, 2 Mio. Arbeitnehmer). Nach Auffassung des EWSA ist es für die Dynamik von „Kreatives Europa“ wesentlich, weiterhin enge kulturelle Beziehungen zum Vereinigten Königreich zu pflegen und — immer da wo möglich und notwendig — die bilaterale Zusammenarbeit zu fördern. Das Ziel eines spezifischen und maßgeschneiderten Abkommens mit dem Vereinigten Königreich zur Fortsetzung von Maßnahmen und Programmen sollte auf Artikel 8 des Verordnungsvorschlags basieren und im Einklang mit der überarbeiteten Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste stehen.

2.7.   Erkenntnisse aus dem Vorgängerprogramm Kreatives Europa 2014-2020

2.7.1.

In den verschiedenen von der Kommission in Auftrag gegebenen Bewertungsstudien wurden die folgenden wesentlichen Defizite ermittelt:

die Haushaltsmittel reichen nicht aus, um auf EU- oder sektorspezifischer Ebene eine spürbare Wirkung zu erzielen;

zu stark fragmentierte Finanzierung für das MEDIA-Programm;

zu komplexer Zugang zu den EU-Programmen und -Finanzmitteln und zu komplexe administrative Berichterstattungspflichten, insbesondere für KMU und Einzelpersonen sowie erstmalige Antragsteller;

unausgewogene Mittelverteilung je nach Mitgliedstaat.

2.7.2.

Bei einer von Sylvia Costa, Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Bildung, am 6. Oktober 2016 in Paris organisierten Anhörung benannten Interessenträger weitere konkrete Probleme:

die Erfolgsquote der Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen für den Aktionsbereich KULTUR (11 %) ist zu niedrig;

die maximale Dauer einer literarischen Übersetzung (zwei Jahre) ist zu kurz;

die Zahl der Drittländer, die an bestimmten Projekten beteiligt werden können, ist zu begrenzt;

das Konzept der „experimentellen Tätigkeiten“ sollte gefördert und unterstützt werden, ebenso wie das der „Innovation“.

Um diesen Kritikpunkten Rechnung zu tragen, schlägt die Kommission für 2021-2027 bestimmte Vereinfachungen vor, nämlich:

mehr Flexibilität, sodass Arbeitsprogramme an unvorhergesehene Umstände angepasst werden können;

mehr Partnerschaftsrahmenvereinbarungen und Finanzhilfen nach dem Kaskadenprinzip;

mehr Anreize zur Auszeichnung von Ergebnissen, mit dem Ziel, ein größeres Publikum zu erreichen;

systematische Verwendung elektronischer Formulare und Berichte sowie geringere Berichterstattungspflichten.

2.8.   Der Aktionsbereich Kultur

2.8.1.

Die Gesamtmittel von 609 Mio. EUR dienen zur Förderung der grenzüberschreitenden Verbreitung von Werken und der Mobilität von Kulturakteuren, zur Unterstützung von Partnerschaften, Netzen und Plattformen, die eine größere Reichweite in Europa und darüber hinaus für europäische Akteure des Kultur- und Kreativsektors bzw. ihre Werke erzielen wollen, sowie zur Förderung von europäischer Identität, europäischem Kulturerbe und europäischen Werten durch Schärfung des Kulturbewusstseins, Kunsterziehung und Kreativität im Bildungswesen. Außerdem sollen besondere Maßnahmen der EU wie die Kulturhauptstädte Europas, EU-Kulturpreise und das europäische Kulturerbe-Siegel unterstützt werden. Eine weitere Priorität besteht in der Förderung des Aufbaus internationaler Kapazitäten im europäischen Kultur- und Kreativsektor, sodass dieser auf internationaler Ebene agieren kann.

Nach Ansicht des EWSA sollte die vorgeschlagene Verordnung um einen Absatz über „volkstümliche“ bzw. „Amateur“-Kreativität ergänzt werden, da genau diese Form der Kreativität die Voraussetzung für die Entwicklung und Verbreitung einer echten humanistischen und künstlerischen Sensibilität geschaffen hat.

2.9.   Der Aktionsbereich media

2.9.1.

Dieses Programm erstreckt sich auf audiovisuelle Medien, Kino und Videospiele und ist mit insgesamt 1 081 000 EUR ausgestattet. Es ist mit einigen spezifischen Legislativinstrumenten verknüpft, nämlich mit der Überarbeitung des Urheberrechts und der überarbeiteten Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste.

2.9.2.

Das erstgenannte Instrument (COM(2016) 593 final) wurde am 12. September 2018 vom Europäischen Parlament in erster Lesung verabschiedet.

Dieser Vorschlag hat drei wesentliche Zielsetzungen: a) Verbesserung des Online-Zugangs und des grenzüberschreitenden Zugangs für Fernseh- und Hörfunkprogramme über Plattformen für Videoabruf; b) Harmonisierung und Modernisierung der Ausnahmen von den Urheberrechten im EU-Recht in den Bereichen Lehrtätigkeiten, Forschung und Erhaltung des kulturellen Erbes; c) Schaffung eines gut funktionierenden Markts für Urheberrechte für Presseverlage, Urheber und ausübende Künstler, die Inhalte für Online-Plattformen produzieren.

2.9.3.

Mit der überarbeiteten Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste werden mehrere Ziele verfolgt: Schaffung weiterer Möglichkeiten für die Förderung europäischer Werke innerhalb (mindestens 30 % EU-Werke auf Online-Videoplattformen) und außerhalb der EU, Förderung der Zusammenarbeit in der gesamten Wertschöpfungskette von den frühen Phasen der Produktion bis hin zur Verbreitung und Ausstellung sowie Verbesserung des Schutzes von Kindern und Verbrauchern.

2.9.4.

Die Haushaltsmittel in Höhe von 1 081 000 EUR zur Förderung des europäischen audiovisuellen Sektors einschließlich der Filmindustrie sowie der Bereiche Fernsehen und Videospiele sind mit folgenden Zielen verbunden: a) Schaffung von Anreizen für Zusammenarbeit und Innovation bei der Produktion europäischer audiovisueller Werke; b) Verbesserung des grenzüberschreitenden Kinoverleihs und der grenzüberschreitenden Online-Verbreitung; c) Unterstützung der internationalen Präsenz audiovisueller Werke aus der EU durch die Verbesserung von Werbung und Vertrieb für europäische Werke und durch innovatives Storytelling einschließlich virtueller Realität.

2.10.   Der Sektorübergreifende Aktionsbereich

2.10.1.

Insgesamt 160 Mio. EUR werden für die Unterstützung sektorübergreifender Projekte zwischen Akteuren im Kultur- und Kreativbereich (Musik, Medien, Literatur, Kunst usw.) bereitgestellt, um den Kontaktstellen für „Kreatives Europa“ dabei zu helfen, in ihrem eigenen Land für das Programm zu werben und die „Bedingungen für eine freie, vielfältige und pluralistische Medienlandschaft, für Qualitätsjournalismus und für die Entwicklung von Medienkompetenz“ zu verbessern (Artikel 6 Buchstabe c, COM(2018) 366 final).

2.10.2.

Das letzte Ziel hält der EWSA für besonders relevant: Im Jahr 2017 wurde die Pressefreiheit in mehreren Mitgliedstaaten eingeschränkt. Vor diesem besonderen Hintergrund fordert der EWSA mehr Mittel zur Unterstützung der Förderung der Meinungsfreiheit und eines vielfältigen, pluralistischen Medienumfelds, der Förderung hoher Medienstandards hinsichtlich der Inhalte sowie von Programmen für die Entwicklung der Medienkompetenz, sodass die Bürgerinnen und Bürger ein kritisches Medienverständnis entwickeln.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.   Das Urheberrecht im digitalen Zeitalter

3.1.1.

Eine OECD-Studie aus dem Jahr 2015 über das Urheberrecht im digitalen Zeitalter verdeutlicht die intensive rechtliche und öffentliche Diskussion über die Frage, wie das nationale Urheberrecht an die Internet-Revolution angepasst werden kann.

Die wichtigsten Fragestellungen betreffen a) den Umfang des Urheberrechts, b) verwaiste Werke, c) Urheberrechtsausnahmen und -beschränkungen, d) die Registrierung von Urheberrechten und e) die Durchsetzung.

3.1.2.

Der EWSA möchte eine Lanze brechen für das neue damit zusammenhängende Urheberrecht für Verleger für die digitale Nutzung ihrer Presseveröffentlichungen (wie in Artikel 11 des Vorschlags für eine Richtlinie über das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt vorgeschlagen), den Schutz von Inhalten durch Online-Dienste (wie in Artikel 13 vorgeschlagen), den Vertragsanpassungsmechanismus (Artikel 15) und das Streitbeilegungsverfahren (Artikel 16).

3.2.

Angesichts des scharfen internationalen Wettbewerbs bedarf es einer klaren Strategie der EU für die Kultur- und Kreativwirtschaft, sowohl im Hinblick auf die Binnenmarktpolitik als auch die auswärtige Politik (internationale Agenda für Kultur, Kulturdiplomatie, Handelspolitik).

3.2.1.

US-amerikanische Unternehmen wie Apple mit iTunes, seit 2010 die größte Online-Musikplattform der Welt, Netflix mit 130 Mio. Abonnenten im Jahr 2017 und YouTube mit 1 300 000 Nutzern im Monat und über 5 Mrd. angeschauten Videos pro Tag sind auf dem Gebiet der Online-Plattformen marktbeherrschend.

3.2.2.

Beispielsweise machen in der Filmindustrie (6) Produktionen und Koproduktionen aus den Vereinigten Staaten im Jahr 2012 90 % der Filme mit den höchsten in dem Jahr verzeichneten Besucherzahlen aus, was in logischer Konsequenz zu einer klaren und fast unangefochtenen Dominanz der englischen Sprache führt.

3.2.3.

Seit Kurzem werden in den USA große Fusionen durchgeführt, die verdeutlichen, dass bei der Produktion, Verbreitung und Nutzung audiovisueller Inhalte ein tief greifender Wandel stattfindet. Welche Auswirkungen werden diese weitreichenden Veränderungen in den USA auf den noch immer fragmentierten audiovisuellen Sektor der EU haben, wenn ihm weniger öffentliche Mittel zur Verfügung stehen und die grenzüberschreitende Verbreitung aufgrund begrenzter Mittel und sprachlicher Barrieren auf anhaltend niedrigem Niveau bleibt? Eine unabhängige Studie mit quantitativen und qualitativen Daten wäre sehr nützlich.

Andere wichtige Länder wie China, Japan, Indien und Kanada haben wirksame und langfristige Anreizmaßnahmen ergriffen, um sowohl intern als auch extern die vorteilhaften Aspekte ihrer „Soft Power“ zu unterstützen; die EU sollte dasselbe tun.

3.3.   Diversifizierung und Modernisierung von Geschäftsmodellen

3.3.1.

Innovative Geschäftsmodelle für die urheberrechtsintensiven Wirtschaftszweige in der EU sollten in drei Richtungen gefördert werden:

a)

Nutzung aller digitalen Instrumente (KI, Blockchain, „Big Data“, 3D-Druck usw.) als Chance zur inhaltlichen Bereicherung kultureller Güter und Dienstleistungen und zur Verbesserung ihrer Zugänglichkeit für Verbraucher;

b)

Möglichkeiten im Zusammenhang mit einer verbesserten Übertragbarkeit von Inhalten bei grenzüberschreitenden Projekten;

c)

Suche nach neuen Möglichkeiten zur Generierung von Einnahmen (Abonnements, „Pay-per-View“ usw.) ohne den Ausschluss schutzbedürftiger Verbraucher.

3.3.2.

In zahlreichen Studien wurde ein „Ausstrahlungseffekt“ zwischen der Kultur- und Kreativwirtschaft und mehreren Wirtschaftszweigen mit einer „kulturellen und kreativen Komponente“ nachgewiesen. An der Schnittstelle zwischen der Kultur- und Kreativwirtschaft und den digitalen Technologien befindet sich eine wichtige Quelle für bahnbrechende und inkrementelle Innovationen.

3.3.3.

Natürlich sollten bestimmte kulturelle Aktivitäten, denen öffentliche oder private Mittel zugutekommen, nicht allein auf Gewinnerzielung ausgerichtet sein. Das neue Programm sollte sich auch auf „nicht marktorientierte“ Aktivitäten erstrecken.

3.4.   Zugang zu Finanzmitteln

3.4.1.

Im Juni 2016 hat der Europäische Fonds für strategische Investitionen eine neue Garantiefazilität eingerichtet, um Kleinstunternehmen sowie kleine und mittlere Unternehmen in der Kultur- und Kreativwirtschaft zu unterstützen, die nur schwer Zugang zu Krediten in ihren eigenen Ländern erhalten. Für diesen neuen Mechanismus war zunächst ein Betrag von 121 Mio. EUR geplant, der voraussichtlich 600 Mio. EUR an Darlehen und anderen Finanzprodukten einbringen wird.

3.4.2.

Nach einem schleppenden Start haben neun Mitgliedstaaten — Spanien, Frankreich, Rumänien, Belgien, die Tschechische Republik, Finnland, Italien, Luxemburg und das Vereinigte Königreich — mit dem Europäischen Investitionsfonds (EIF) Vereinbarungen über eine Gesamtkapazität von mehr als 300 Mio. EUR an potenziellen Darlehen unterzeichnet. 2017 beschloss der EIF, weitere 70 Mio. EUR bereitzustellen. Einem Bericht des EIF über die Nutzung der „CCI-Garantie“ vom März 2018 zufolge wurde diese Fazilität von 418 Akteuren des Kultur- und Kreativsektors in Form von Darlehen über einen Gesamtbetrag von 76 Mio. EUR genutzt, was einem Darlehen von 182 000 EUR pro Einrichtung entspricht.

3.4.3.

Der EWSA legt den zuständigen Behörden auf der nationalen und lokalen Ebene in städtischen und ländlichen Gebieten dringend nahe, diese spezifische Fazilität zu fördern, um das Wachstum der Kultur- und Kreativwirtschaft zu unterstützen sowie Investitionen und neue Unternehmen in diesen Wirtschaftszweigen anzuziehen. Es ist ihre Aufgabe, die wachsende Kluft zwischen „intelligenten Städten“ mit einer hohen Konzentration (7) der Kultur- und Kreativwirtschaft einerseits und den ländlichen Gebieten andererseits zu vermeiden.

3.5.   Soziale Fragen

3.5.1.

Daten aus einigen Mitgliedstaaten geben Aufschluss über unlautere und unbefriedigende soziale Arbeitsbedingungen: unbezahlte Arbeitsstunden, regelmäßige Überstunden, Zeitverträge, nicht gewünschte Teilzeitarbeit, schlechte Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen, fehlende Investitionen in Ausbildung, geschlechtsspezifische Unterschiede (8), mangelnde ethnische Vielfalt, sexuelle Belästigung, geringer sozialer Schutz, unzureichende Mobilität aufgrund von Doppelbesteuerung und schwieriger Zugang zu Visa für Drittstaatsangehörige.

Einige Mitgliedstaaten haben soziale Kriterien eingeführt, die die Kultur- und Kreativwirtschaft erfüllen muss, um den Zugang zu EU-Finanzmitteln zu erhalten, wodurch das europäische Sozialmodell im Einklang mit der potenziellen Rolle der öffentlichen Finanzierung unterstützt wird.

3.5.2.

Der soziale Dialog auf nationaler Ebene sollte gefördert werden, um geeignete Lösungen zur Verbesserung der Situation zu finden. Auf EU-Ebene bedarf es weiterer unabhängiger Studien über die Arbeitsbedingungen in der Kultur- und Kreativwirtschaft als Inspirationsquelle für eine neue Politik. So zeigt eine neuere Untersuchung, dass das Kriterium „Beschäftigung“ wirksamer sein könnte als das Kriterium „sektorspezifisch“, weil sich nur 30,7 % der „kreativen“ Arbeitsplätze innerhalb der Kultur- und Kreativwirtschaft befinden (9).

3.5.3.   Cluster und Netze

Regionale Cluster spielen eine wichtige Rolle bei der Förderung neuer Kooperationsmodelle und grenzübergreifender Partnerschaften. Die Schaffung neuer regionaler Cluster und Netze für die Kultur- und Kreativwirtschaft sollte durch das neue Programm sowie konstruktive Partnerschaften zwischen existierenden Clustern und Netzen (Emilia-Romagna, Hamburg, Mailand usw.) angeregt werden, die eine Ausweitung und die Verbreitung bewährter Methoden fördern könnte.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 83, NAT/738 (ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 22), SOC/590 (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 148).

(2)  Zu den urheberrechtsintensiven Wirtschaftszweigen gehören neun Bereiche: Presse und Literatur, Musik, Opern- und Theaterproduktion, Film und Video, Fotografie, Software und Datenbanken, bildende Kunst und Grafik, Werbung und Kunst sowie Verwertungsgesellschaften für Urheberrechte.

(3)  „Künftige Strategie der EU für internationale Kulturbeziehungen“, JOIN(2016) 29 final.

(4)  Zitat aus dem Diskussionspapier des bulgarischen Ratsvorsitzes Der Weg vor uns: langfristige Vision für den Beitrag der Kultur in der EU nach 2020 vom 27. April 2018.

(5)  Siehe Ziffer 4.6 der Stellungnahme des EWSA, ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 83.

(6)  Diversity and the film industry: An analysis of the 2014 UIS Survey on Feature Film Statistics, März 2016, S. 31.

(7)  64 % der „kreativen“ Arbeitsplätze befinden sich in städtischen Gebieten; Jef Vlegels und Walter Ysebaert Creativiteit, diversiteit en werkomstandigheden: een analyse van de drietand van culturele en creative arbeid in België, Sociologos 39, S. 241.

(8)  Siehe Aktionsplan zur Gleichstellung der Geschlechter im Rahmen des Ausschusses für den audiovisuellen sozialen Dialog.

(9)  Jef Vlegels und Walter Ysebaert, Sociologos 39, S. 210-241.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/94


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestanforderungen für die Wasserwiederverwendung (laufendes Programm)“

(COM(2018) 337 final)

(2019/C 110/18)

Berichterstatter:

Mindaugas MACIULEVIČIUS

Befassung

Europäisches Parlament, 2.7.2018

Rat, 26.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Präsidiums

19.9.2017

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

27.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

140/1/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Es handelt sich hier um eine aktuelle und sehr positive Initiative der Europäischen Kommission. Die vorgeschlagene Verordnung wird die Entwicklung sicherer, zusätzlicher Wasserressourcen für die landwirtschaftliche Bewässerung enorm fördern — dieses Wasser kann so aufbereitet werden, dass es für landwirtschaftliche Zwecke sicher ist und erforderlichenfalls auch bereits wertvolle, nützliche Nährstoffe sowie geeignete bodenverbessernde organische Substanzen enthält.

1.2.

Der Zusatznutzen einer solchen Regelung besteht in erster Linie darin, dass der Druck auf die Trinkwasservorräte verringert wird. Zudem werden auch öffentliche und private Investitionen in die Bereitstellung dieser ergänzenden Wasserressourcen gefördert. Diese gesonderten, spezifischen Behandlungs- und Versorgungsinfrastrukturen für landwirtschaftliche Zwecke werden die vorhandenen Quellen und Versorgungsinfrastrukturen ergänzen, die, je nach Mitgliedstaat, als grundlegende Dienste von staatlichen, kommunalen oder privaten Unternehmen erbracht werden.

1.3.

Der EWSA begrüßt diese vorgeschlagene Verordnung als nützliche Ergänzung zur Durchführung der Wasserrahmenrichtlinie sowie als Beitrag zum Paket zur Kreislaufwirtschaft. Durch sie wird eine nachhaltigere Nutzung der bestehenden Wasserressourcen gefördert und das Vertrauen der Verbraucher in die Sicherheit der betroffenen landwirtschaftlichen Erzeugnisse erhöht.

1.4.

Die Verbraucher waren bisher nicht darüber im Bilde, dass es zwischen den Mitgliedstaaten Unterschiede bei den Standards für Wasserwiederverwendung gibt, und vielen von ihnen ist auch nicht klar, dass vielerorts aufbereitetes Wasser zur Bewässerung verwendet wird. Mit dieser Verordnung wird ein schlüssiger, wissenschaftlich fundierter Ansatz verfolgt, weshalb sie als entscheidender Beitrag zur Politik für Lebensmittelsicherheit gelten kann.

1.5.

Entgegen dem Eindruck, der durch den allgemeinen Titel der Verordnung erweckt wird, liegt der inhaltliche Schwerpunkt des Vorschlags gezielt auf der Wiederverwendung von kommunalem Abwasser zu Bewässerungszwecken. Zwar wird dies in der Begründung der Verordnung erwähnt, doch wird empfohlen, dies deutlicher herauszustellen, um Bedenken, dass Wiederverwendungsmöglichkeiten in der Industrie und in den Haushalten ignoriert werden, gar nicht erst aufkommen zu lassen.

1.6.

Eine mögliche Wasserwiederverwendung für die Grundwasseranreicherung ist zwar nicht Gegenstand des Verordnungsvorschlags, aber dennoch von Interesse. Es sollten weitere technische Untersuchungen angestrengt werden, um die in der Folgenabschätzung ermittelten komplexen Probleme zu lösen.

1.7.

Der EWSA empfiehlt dringend, in allen Mitgliedstaaten die Wasserressourcen effektiv zu überwachen und Rechenschafts- und Durchsetzungsbestimmungen umzusetzen, damit die Verordnung ihre größtmögliche geplante Wirkung entfalten kann. Insbesondere müssen Verbote illegaler Wasserentnahmen konsequenter durchgesetzt werden.

1.8.

Für die erforderlichen Kapitalinvestitionen in den Aufbau der nötigen Infrastruktur für die Wasserwiederverwendung sprechen triftige wirtschaftliche Gründe. Indes würde der Infrastrukturbau durch die Strukturfonds unterstützt, vor allem den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Kohäsionsfonds.

1.9.

Obwohl davon ausgegangen wird, dass die Auswirkungen auf den Wettbewerb mit Einfuhren aus Drittländern neutral sein werden, fordert der EWSA die Kommission mit Nachdruck auf, die Entwicklung entsprechender Standards auf EU-Ebene als Gelegenheit zu nutzen, zusammen mit der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit in den internationalen Diskussionen über die Aufstellung von Standards für die Wasserwiederverwendung ein Zeichen zu setzen, damit Einfuhren aus Drittländern ebenfalls die Auflagen erfüllen. Der EWSA hat sich stets für einheitliche internationale Landwirtschaftsstandards eingesetzt, und mit dieser Verordnung kann ein weltweiter Maßstab für die Wiederverwendung von Wasser gesetzt werden (1).

2.   Einleitung

2.1.

Aufgrund des Klimawandels und des zunehmenden Bedarfs erleben viele Teile der EU bereits Wasserstress (2), wobei ein Drittel des EU-Gebiets bereits das ganze Jahr über von Wasserknappheit und -qualitätsproblemen betroffen ist (3). In früheren Stellungnahmen des EWSA wurden diese Belange hervorgehoben, mit Nachdruck zu mehr Investitionen in die Abwasserbehandlung zur Wiederverwendung aufgefordert und darauf hingewiesen, dass das Ziel der Schließung des Wasserkreislaufs nicht länger unrealistisch erscheint (4). Ein Großteil der Wasserressourcen wird für die landwirtschaftliche Bewässerung genutzt, insbesondere in den südlichen Mitgliedstaaten, in denen die Agrarproduktion einen erheblichen Beitrag zur Wirtschaft leistet. Mit dieser Verordnung wird keine Ausweitung der bereits bewässerten Gebiete bezweckt, sondern die sicherere und effizientere Nutzung der vorhandenen Wasserressourcen.

2.2.

Die Erhaltung des Vertrauens der Verbraucher in die Lebensmittelversorgung und das Regulierungs- und Aufsichtssystem, durch das ihre Sicherheit gewährleistet wird, ist verständlicherweise eine der höchsten Prioritäten in der Union. Mit dieser Verordnung wird die Sicherheit in diesem Bereich, in dem es derzeit große Unterschiede zwischen den Standards der Mitgliedstaaten gibt, erhöht. Durch diese Verordnung könnte die für Bewässerung verfügbare Wassermenge potenziell um 4,9 Mrd. m3 jährlich erhöht werden, wobei der Wasserstress insgesamt um über 5 % verringert würde. Sie wird die Sicherheit von aufbereitetem Wasser gewährleisten und ein hohes Schutzniveau für die menschliche und tierische Gesundheit und die Umwelt sicherstellen.

2.3.

Diese Verordnung kann als Beitrag zur Stärkung der Kreislaufwirtschaft, zur Verbesserung der Lebensmittelsicherheit in der EU und zur Förderung der öffentlichen Gesundheit angesehen werden. Sie zielt direkt auf die Notwendigkeit ab, harmonisierte Mindestqualitätsanforderungen für aufbereitetes Wasser festzulegen, von dem der weitaus größte Teil in der Landwirtschaft eingesetzt wird. Für größere öffentliche Transparenz wird gesorgt, indem vorgeschrieben wird, dass angemessene und aktuelle Informationen über die Wiederverwendung von Wasser im Internet abrufbar sein müssen. Darüber hinaus wird mit der vorgeschlagenen Verordnung ein Beitrag zur Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG) und insbesondere von Ziel 6 betreffend sauberes Wasser und Sanitärversorgung geleistet. Sie ergänzt den Vorschlag der Kommission für eine neue Gemeinsame Agrarpolitik, indem sie zu einer besseren Wasserbewirtschaftung in der Landwirtschaft beiträgt, da die Landwirte Zugang zu einer nachhaltigeren Wasserversorgung erhalten.

2.4.

Es ist anzumerken, dass diese Verordnung als Teil eines laufenden Programms vorgelegt wird und langfristig beabsichtigt wird, andere Bereiche der Wasserwiederverwendung zu berücksichtigen. Der Schwerpunkt dieser spezifischen Verordnung ist jedoch sehr eng gefasst und bezieht sich fast ausschließlich auf die Aufbereitung von bereits behandeltem kommunalen Abwasser, damit es für verschiedene Formen der landwirtschaftlichen Bewässerung verwendet werden kann. Die Wiederverwendung in den Haushalten und in der Industrie geht über den Geltungsbereich des vorliegenden Vorschlags hinaus und ist zum Teil auch bereits abgedeckt, z. B. durch die Richtlinie über die Behandlung von kommunalem Abwasser, die derzeit überarbeitet wird (5).

3.   Zusammenfassung des Kommissionsvorschlags

3.1.

Die vorgeschlagene Verordnung ist Teil eines integrierten Wasserbewirtschaftungsansatzes zur Bewältigung der schwerwiegenden und zunehmenden Wasserstressproblematik in der gesamten EU. Neben Wassereinsparungen und Maßnahmen für einen sorgfältigeren Umgang mit Wasser kann mit behandeltem Wasser aus kommunalen Abwasserbehandlungsanlagen eine verlässliche alternative Versorgung ermöglicht werden.

3.2.

Die Wiederverwendung von Wasser ist im Allgemeinen weniger umweltschädigend als andere alternative Formen der Wasserversorgung und kann eine Reihe von ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorteilen bieten. Der Schwerpunkt der Verordnung liegt auf der Wasserwiederverwendung in der landwirtschaftlichen Bewässerung, die derzeit etwa ein Viertel der Gesamtentnahme von Süßwasser in der EU ausmacht.

3.3.

Die Verordnung gilt unmittelbar für die Mitgliedstaaten sowie für die Wirtschaftsbeteiligten und fördert möglicherweise die Entwicklung und Akzeptanz von Umwelttechnologie. In dem Vorschlag werden Mindestanforderungen an die Qualität und Überwachung von aufbereitetem Wasser festgelegt, die wesentlichen Risikomanagementaufgaben eingeführt und ein harmonisierter Ansatz für die Wasserwiederverwendung für Bewässerungszwecke in der EU formuliert. Konkret werden in dem Vorschlag festgelegt:

3.3.1.

Mindestanforderungen an die Qualität von aufbereitetem Wasser und die Überwachung, einschließlich mikrobiologischer Elemente (z. B. Werte für E. coli-Bakterien) und Überwachungsanforderungen für die Routine- und Validierungsüberwachung. Dadurch wird garantiert, dass aufbereitetes Wasser, das gemäß der vorgeschlagenen Verordnung hergestellt wird, für die Bewässerung geeignet ist.

3.3.2.

Wesentliche Risikomanagementaufgaben, durch die die Mindestanforderungen zusätzlich abgesichert werden, d. h. die Identifizierung von zusätzlichen Gefahren, die bewältigt werden müssen, damit die Wasserwiederverwendung sicher ist. Dies beinhaltet hauptsächlich die Aufstellung eines Risikomanagementplans für die Wasserwiederverwendung durch den Betreiber der Aufbereitungsanlage, welcher erforderlich ist, damit die zuständige Behörde eine Genehmigung erteilt, und welcher mindestens alle fünf Jahre zu überprüfen ist.

3.3.3.

Größere Transparenz. Durch die neuen Transparenzvorschriften wird vorgeschrieben, dass die Öffentlichkeit online auf benutzerfreundliche Weise Informationen über die Wasserwiederverwendungspraktiken in ihrem jeweiligen Mitgliedstaat erhält. Zur Festlegung detaillierter Vorschriften über das Format und die Darstellung der bereitzustellenden Informationen ist ein Durchführungsrechtsakt erforderlich.

3.4.

Es ist vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten mit Unterstützung der Europäischen Umweltagentur Datensätze mit Informationen über die Wasserwiederverwendung entwickeln. Letztere gibt regelmäßig einen Überblick über die Umsetzung der Verordnung auf Unionsebene. Die erste Evaluierung soll sechs Jahre nach dem Inkrafttreten der Verordnung vorgenommen werden.

3.5.

Es ist anzumerken, dass die Mitgliedstaaten gemäß der vorgeschlagenen Verordnung nicht verpflichtet sind, eine Abwasserbehandlung zu Bewässerungszwecken durchzuführen. Ihr vorrangiger Zweck besteht darin, bei den zahlreichen Interessenträgern — Wasserbehörden, Landwirten, Investoren und Verbrauchern — das Vertrauen zu schaffen, dass bei der Bereitstellung des Wassers, das zu Bewässerungszwecken verwendet wird, durchgängig die höchsten Sicherheitsstandards angewandt wurden. Das wird gegenüber der aktuellen Praxis ein erheblicher Fortschritt sein.

3.6.

In der Folgenabschätzung sowie unterstützenden Studien sind die technischen Aspekte, insbesondere Nachweise/Messung, Sicherheitsstandards und Schwellenwerte, eingehend analysiert worden.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA befürwortet diese Verordnung als Beitrag zur Minderung des Drucks des Klimawandels und als sinnvolle Ergänzung zur Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie (WRR) und der Kreislaufwirtschaft allgemein. Er nimmt die positiven Beispiele für eine umfangreiche Wasserwiederverwendung im Zusammenhang mit der landwirtschaftlichen Erzeugung zur Kenntnis, insbesondere aus Zypern und Israel, wo derzeit fast 90 % des behandelten Abwassers wiederverwendet werden. Er wirft die Frage auf, ob in der Verordnung über die Wasserwiederverwendung nicht auch die Frage der Rückgewinnung von Wärme aus Wasser vor dessen Weiterleitung in die Abwasserbehandlungsanlagen hätte berücksichtigt werden sollen. Entsprechende Vorrichtungen sollten in Ein- und Mehrfamilienhäusern, Schwimmbädern und Hotels installiert werden.

4.2.

In der vorgeschlagenen Verordnung wird der Vorrang von Wasserspar- und -rationalisierungsmaßnahmen in der Hierarchie der Wasserpolitik bestätigt. Die freiwillige Wiederverwendungsoption wird nur gewählt, wenn sie zweckdienlich, sicher und kostenwirksam ist. Für die Wasserwiederverwendung zu Bewässerungszwecken gibt es beträchtlichen Spielraum, insbesondere in einigen der südlichen EU-Mitgliedstaaten, die diese Möglichkeit nur in geringem Umfang nutzen; so werden beispielsweise in Italien und Griechenland nur 5 % und in Spanien 12 % des behandelten Abwassers wiederverwendet, und es ist erfreulich, dass die Wasserwiederverwendung mittlerweile stetig zunimmt.

4.3.

Der EWSA merkt an, dass mit der Verordnung ein einheitlicher Ansatz für Qualitätsstandards für zur Wiederverwendung bestimmtes Wasser festgelegt werden soll, an dem es bislang mangelt. Im Allgemeinen sind sich die Verbraucher der großen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Qualität des zur Bewässerung wiederverwendeten Wassers nicht bewusst. Durch einen gemeinsamen Mindeststandard werden Akzeptanz und Investitionen gefördert und die Sicherheit der Verbraucher in Gesundheitsfragen verbessert.

4.4.

Der EWSA nimmt außerdem zur Kenntnis, dass Bedenken in Bezug auf Pathogene, neue Schadstoffe, Desinfektionsnebenprodukte und Antibiotikaresistenzen nun berücksichtigt worden sind (in Anhang 2), und zwar auf der Grundlage des technischen „Science for Policy“-Berichts der GFS, in dem das Gesundheits- und Umweltrisikomanagement bei der Wasserwiederverwendung zur landwirtschaftlichen Bewässerung ausführlich untersucht wird (6). Dadurch sollte auf Einzelprojektbasis sichergestellt werden, dass die Böden, das Grundwasser, das Trinkwasser und die Lebensmittelerzeugnisse geschützt werden.

4.5.

Häufig ist der Preis für konventionelle Wasserressourcen allgemein zu niedrig angesetzt und berücksichtigt nicht die Umwelt- und Ressourcenkosten. Zudem findet immer noch eine beträchtliche illegale Entnahme aus Flüssen und über private Bohrlöcher statt. Damit die Verordnung ihre größtmögliche geplante Wirkung entfalten kann, müssen in allen Mitgliedstaaten die Wasserressourcen effektiv überwacht und Rechenschafts- und Durchsetzungsbestimmungen umgesetzt werden.

4.6.

In der vorgeschlagenen Verordnung wird ein Genehmigungsverfahren für Wasserwiederverwendungsprojekte definiert, das eine klare Verteilung der Verantwortlichkeiten zwischen den verschiedenen Akteuren des Wasserzyklus für die Wasserwiederverwendung ermöglichen sollte.

4.7.

Der EWSA begrüßt die durch die Verordnung gebotene Gelegenheit zur Förderung einer auf Wiederverwendung ausgerichteten Anpassung oder Auslegung von Abwasserbehandlungsanlagen, die Fertigation erleichtert. Dabei werden unter gebührender Berücksichtigung der Sicherheitsaspekte lösliche Düngemittel wie Stickstoff und Phosphor sowie geeignete bodenverbessernde organische Substanzen, die bei der Wassernutzung der privaten Haushalte und der Industrie in den Wasserkreislauf gelangt sind, aus dem Abwasser bereitgestellt. Diese zusätzlichen Vorteile sind indes gegenüber dem übergeordneten Ziel, durch Wiederverwendung neue Wasserressourcen zu erschließen, zweitrangig.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Es ist anzumerken, dass sich der Begriff „Wasserwiederverwendung“ auf die Nutzung von Wasser bezieht, das aus (vorwiegend kommunalem) Abwasser gewonnen wird und nach der Behandlung eine Qualität erreicht, die für den beabsichtigten Verwendungszweck angemessen ist.

5.2.

Die Verordnung hebt vor allem darauf ab, die Qualität und Sicherheit wiederverwendeten Wassers aus kommunalen Abwasserbehandlungsanlagen zu gewährleisten. Sie betrifft nicht die Vorschriften für Trinkwasser oder direkte Maßnahmen für rationelle Wassernutzung. Der EWSA stellt jedoch fest, dass die wirksame Behandlung von Abwasser und seine Wiederverwendung im Vergleich zu anderen Optionen einen erheblichen Nutzen für die Umwelt aufweisen. 2017 beispielsweise beliefen sich Dürre-Schäden in der italienischen Landwirtschaft auf schätzungsweise 2 Mrd. EUR. Das Extremwetter im Sommer 2018, das viele Mitgliedstaaten betroffen hat, dürfte EU-weit noch größere Ausfälle verursachen. Mit der Wasserwiederverwendung könnten schätzungsweise 47 % des gesamten Bewässerungsbedarfs in Italien gedeckt werden, aber derzeit wird sie kaum genutzt.

5.3.

Obwohl vor allem in den südlichen Mitgliedstaaten ein riesiges Potenzial für die Nutzung von aufbereitetem Wasser in der landwirtschaftlichen Bewässerung besteht, werden die von dieser Verordnung ausgehenden technischen und operationellen Impulse künftig EU-weit Nutzen bringen.

5.4.

Die Verantwortung für die Sicherstellung der Lebensmittelsicherheitsstandards, die im Allgemeinen von der EU auf der Grundlage der Verordnung über das Allgemeine Lebensmittelrecht festgelegt werden, liegt, soweit sachdienlich, bei den Mitgliedstaaten. Durch die vorgeschlagene Verordnung wird sichergestellt, dass die Verbrauchersicherheit von höchster Bedeutung ist, wenn Wasser zur Bewässerung von Nahrungsmittelpflanzen wiederverwendet wird. Bei landwirtschaftlichen Einfuhren aus Drittländern sind die EU-Lebensmittelsicherheitsgesetze einzuhalten, wobei derzeit keine spezifischen Anforderungen betreffend Bewässerungspraktiken in Drittländern bestehen. Es wird argumentiert, dass gemeinsame EU-Standards als Modell für Drittländer und insbesondere unsere bilateralen Handelspartner dienen könnten, doch wird dies von Verhandlungen auf internationaler Ebene abhängen. Sowohl unbehandeltes als auch behandeltes Abwasser wird weltweit bereits in erheblichem Umfang zur Bewässerung eingesetzt, u. a. auch in vielen Ländern, aus denen die EU landwirtschaftliche Erzeugnisse einführt.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Stellungnahme des EWSA „Die Rolle der Landwirtschaft in multilateralen, bilateralen und regionalen Handelsverhandlungen im Lichte der WTO-Ministerkonferenz von Nairobi“ (Ziffer 4.3) (ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 20).

(2)  Wasserstress liegt vor, wenn die verfügbaren Wasserressourcen in einem bestimmten Zeitraum nicht ausreichen, um den Wasserbedarf zu decken, oder wenn ihre Nutzung aufgrund von mangelhafter Qualität eingeschränkt ist.

(3)  COM(2012) 672 final.

(4)  Stellungnahme des EWSA „Ein Blueprint für den Schutz der europäischen Wasserressourcen“ (ABl. C 327 vom 12.11.2013, S. 93).

(5)  Richtlinie 91/271/EWG des Rates vom 21. Mai 1991 über die Behandlung von kommunalem Abwasser (ABl. L 135 vom 30.5.1991, S. 40).

(6)  Bericht der Gemeinsamen Forschungsstelle: Towards a legal instrument on water reuse at EU level.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/99


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Angleichung der Berichterstattungspflichten im Bereich der Umweltpolitik und zur Änderung der Richtlinien 86/278/EWG, 2002/49/EG, 2004/35/EG, 2007/2/EG, 2009/147/EG und 2010/63/EU, der Verordnungen (EG) Nr. 166/2006 und (EU) Nr. 995/2010 sowie der Verordnungen (EG) Nr. 338/97 und (EG) Nr. 2173/2005 des Rates“

(COM(2018) 381 final — 2018/0205 (COD))

(2019/C 110/19)

Berichterstatter:

Vladimír NOVOTNÝ (CZ-I)

Befassung

Europäisches Parlament, 11.6.2018

Rat, 22.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 114, Artikel 192 Absatz 1, Artikel 207 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Präsidiumsbeschluss

17.4.2018 (im Vorgriff auf die Befassung)

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.10.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

359

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

208/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Angleichung der Berichterstattungspflichten im Bereich der Umweltpolitik und geht davon aus, dass dieser Vorschlag dazu beitragen wird, die Transparenz der Berichte und ihrer Vorbereitung zu erhöhen, eine Evidenzgrundlage zur Bewertung der Wirksamkeit umweltpolitischer Maßnahmen zu schaffen, die Verfahren zu vereinfachen und den Verwaltungsaufwand sowohl für die Mitgliedstaaten als auch für die Kommission zu verringern.

1.2.

Der EWSA unterstützt uneingeschränkt den neuen Ansatz der Europäischen Kommission zur Umweltberichterstattung, der darin besteht, die Verfahren zur Datenerhebung, Berichterstattung und anschließenden Umweltprüfung grundlegend zu modernisieren und dabei auf die Systeme INSPIRE und COPERNICUS, die Übertragung von Daten in Echtzeit und die elektronische Datenverarbeitung zurückzugreifen. Nach Ansicht des EWSA erfüllt der Vorschlag der Kommission die Grundsätze des Konzepts für eine bessere Rechtsetzung und des Programms REFIT.

1.3.

Nach Ansicht des EWSA sollten die zentralen Datenbanken der Europäischen Umweltagentur (EUA) die Möglichkeit bieten, Umweltdaten und -informationen mit geografischen, wirtschaftlichen und sozialen Daten zu verknüpfen und umfassend zu interpretieren.

1.4.

Der EWSA bekräftigt erneut die Notwendigkeit, die Organisationen der Zivilgesellschaft in die Ausarbeitung und Erörterung der Umweltberichte in den Mitgliedstaaten einzubinden.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Anpassung an die Änderungen der spezifischen Anforderungen an die Umweltberichterstattung bei gleichzeitiger Gewährleistung einer hohen Qualität der Umweltdaten und der Umweltberichterstattung wirksamer ist, als wenn nach einem Einheitskonzept vorgegangen würde.

1.6.

Der EWSA ist der Überzeugung, dass die Modernisierung der Umweltberichterstattung und die anschließende Verarbeitung und Auswertung der Umweltdaten erheblich zur Verwirklichung der Ziele des Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Übereinkommen von Aarhus) beitragen wird.

1.7.

Der EWSA fordert die Regierungen der Mitgliedstaaten, ihre Behörden und Einrichtungen, die Europäische Kommission und die Europäische Umweltagentur dazu auf, sich verstärkt darum zu bemühen, für ein breites Spektrum der Zivilgesellschaft und ihrer auf diesem Gebiet tätigen Organisationen die Zugänglichkeit der Umweltberichte und -informationen zu verbessern und deren Klarheit und Aussagekraft zu erhöhen.

1.8.

Der EWSA empfiehlt, den gemeinschaftlichen Besitzstand auf dem Gebiet der Erfassung von Daten, der Informationen und der Berichterstattung im Umweltbereich auch künftig regelmäßig zu bewerten und zu überprüfen, den Zeitraum zwischen der Erhebung der Daten, ihrer Verarbeitung und ihrer Veröffentlichung zu verkürzen und die Zugänglichkeit, Transparenz und Verständlichkeit dieser Daten zu verbessern.

1.9.

Der EWSA fordert die Umweltorganisationen dazu auf, die Öffentlichkeit stärker für die Umweltsituation in ihren Ländern und Regionen zu sensibilisieren. Er fordert die Kommission nachdrücklich auf, diese Maßnahmen zu fördern und zu finanzieren.

2.   Das Kommissionsdokument

2.1.

Im Jahr 2017 hat die Kommission eine umfassende Eignungsprüfung der Berichterstattung im Umweltbereich veröffentlicht. Bei dieser Prüfung wurden 181 Berichtspflichten ausgewertet, die sich aus 58 umweltrechtlichen Vorschriften der EU ergeben.

2.2.

Es wurde eine umfassende Querschnittsanalyse der Berichtspflichten (1) mit dem Ziel vorgenommen, die Transparenz zu erhöhen, eine Evidenzgrundlage für künftige Bewertungen bereitzustellen und den Verwaltungsaufwand für die Mitgliedstaaten und die Kommission zu vereinfachen und zu verringern.

2.3.

Die Auswertung der relevanten Einzelvorschriften ergab, dass hinsichtlich der in den folgenden Rechtsvorschriften festgelegten Berichtspflichten Verbesserungsmöglichkeiten bestehen:

Richtlinie 2002/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (2) (Umgebungslärmrichtlinie) (3),

Richtlinie 2004/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (4) (Umwelthaftungsrichtlinie) (5),

Richtlinie 2007/2/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (6) (INSPIRE-Richtlinie — Geodateninfrastruktur) (7),

Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (8) und Richtlinie 92/43/EWG des Rates (9) (Vogelschutzrichtlinie und Habitatrichtlinie) (10),

Richtlinie 2010/63/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (11) (Tierversuchsrichtlinie) (12),

Verordnung (EG) Nr. 166/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates (13) über das Europäische Schadstofffreisetzungs- und -verbringungsregister (E-PRTR) (14),

Richtlinie 86/278/EWG des Rates (15) (Klärschlammrichtlinie),

Verordnung (EU) Nr. 995/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates (16) (Holzhandelsverordnung (EUTR)),

Verordnung (EG) Nr. 338/97 des Rates (17) (CITES),

Verordnung (EG) Nr. 2173/2005 des Rates (18) über Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung und Handel im Forstsektor (FLEGT).

Derzeit findet ein Angleichungsprozess bezüglich der aktuellen, 2018 vorgelegten Vorschläge der Europäischen Kommission zu den Themen Trinkwasser, persistente organische Schadstoffe, Wiederverwendung von Abwasser und Einwegkunststoffartikel statt.

2.4.

Auf der Grundlage dieser Prüfung wurden ein Vorschlag zur Angleichung der einzelnen Rechtsvorschriften, die eine Umweltberichterstattung vorsehen, sowie ein detaillierter Plan zur Durchführung der vorgeschlagenen Änderungen erarbeitet.

2.5.

Zweck des Vorschlags ist es, unter Beachtung der Grundsätze der Notwendigkeit, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit die bereits bestehenden und im EU-Recht verankerten Pflichten in Bezug auf die Überwachung der Umsetzung, der Berichterstattung und der Transparenz zu optimieren. Der Vorschlag zielt ferner darauf ab, die Anforderungen der betreffenden Rechtsvorschriften aufeinander abzustimmen und die Evidenzgrundlage für die Umsetzung der EU-Politik zu verbessern.

2.6.

Der Vorschlag enthält Schritte zur Verbesserung der Transparenz und der Subsidiarität (in acht Rechtsakten), zur Vereinfachung oder Abschaffung der Berichterstattung (in sieben Rechtsakten), zur Angleichung der Zeitpläne für die Berichterstattung (in drei Rechtsakten), zur Vereinfachung unionsweiter Übersichten und zur Klarstellung der Rolle der EU-Organe (in acht Rechtsakten) und zur Vorbereitung auf künftige Bewertungen (in fünf Rechtsakten).

2.7.

Der Vorschlag soll dazu beitragen, dass die Öffentlichkeit auf nationaler Ebene Zugang zu klaren Umweltinformationen hat. So trägt er dazu bei, dass die Öffentlichkeit einen Überblick über das umweltpolitische Geschehen in Europa insgesamt erhält und dass die nationalen Behörden bei grenzüberschreitenden Fragestellungen unterstützt werden. Der Vorschlag soll zudem den Verwaltungsaufwand für die Mitgliedstaaten verringern, die Subsidiarität stärken und den Zugang der Bürger zu Informationen über die Umsetzung verbessern.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Angleichung der Berichterstattungspflichten im Bereich der Umweltpolitik (19) und sieht darin einen grundlegenden Schritt hin zu einer umfassenden Modernisierung der Verfahren für die Ausarbeitung und Vorlage von Umweltberichten. Er spricht sich dafür aus, die Systeme INSPIRE und COPERNICUS sowie die Möglichkeiten zur elektronischen Datenverarbeitung und der Datenübertragung in Echtzeit zu nutzen und bei der Kommunikation weniger auf formale schriftliche Berichte zu setzen, sondern mehr auf den Aufbau dynamischer zentraler Datenbanken auf Ebene der Kommission und der Europäischen Umweltagentur. Der EWSA stellt im Einklang mit der Ansicht der Kommission und dem Wortlaut des Verordnungsvorschlags ferner fest, dass es sich um rein verfahrenstechnische Änderungen und nicht um Änderungen des Gegenstands der einzelnen Rechtsvorschriften handelt, in denen es um die Auswahl der Umweltindikatoren und das Verzeichnis der geregelten Substanzen und deren Grenzwerte geht.

3.2.

Die Vereinfachung und Angleichung der Verfahren für die Umweltberichterstattung wird nach Auffassung des EWSA zu mehr Effizienz und Transparenz bei diesen Berichten führen. Der EWSA geht davon aus, dass es durch diesen Vorschlag zu einer Verringerung des Verwaltungsaufwands und der Kosten für die im EU-Umweltrecht festgelegten Berichtspflichten sowie zu einer erheblichen Verkürzung des Zeitraums zwischen der Erhebung der Daten und ihrer Veröffentlichung kommen wird.

3.3.

Der EWSA hält es für unabdingbar, nicht nur die Zugänglichkeit, sondern auch die Verständlichkeit der Berichte und Umweltinformationen für weite Kreise der Zivilgesellschaft zu verbessern. Er betont erneut, dass die Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle spielt, und zwar nicht nur bei der Nutzung von Umweltinformationen, sondern auch durch die aktive Beteiligung an der Erhebung, Aufbereitung und Erörterung dieser Informationen und Berichte. In diesem Zusammenhang unterstreicht der EWSA die Bedeutung der UVP-Verfahren (Umweltverträglichkeitsprüfung) und der Beteiligung der Zivilgesellschaft an den diesbezüglichen Diskussionen.

3.4.

Der Vorschlag zur Überarbeitung mehrerer geltender Rechtsvorschriften ist Teil des Programms der Kommission zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung (REFIT (20)). Der EWSA hat in diesem Zusammenhang die Stellungnahme zum „Programm REFIT“ (21) vorgelegt, in der er seine Besorgnis über die in Umweltverträglichkeitsprüfungen festgestellten Mängel äußert und nachdrücklich fordert, dass die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Aspekte umfassend und ausgewogen geprüft werden.

3.5.

In seiner Stellungnahme zur „Überprüfung der Umsetzung des EU-Umweltrechts“ (22) hat der EWSA darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, die Zivilgesellschaft aktiv in die Beschlussfassung und die Überprüfung einzubeziehen, was auch für die Überprüfung der Rechtsvorschriften gilt, die die Umweltberichterstattung regeln.

3.6.

Der Vorschlag der Europäischen Kommission enthält Querverweise auf die Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (23) über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und die Richtlinie 2007/2/EG über Geodaten und gewährleistet die Kohärenz mit den Bestimmungen dieser Rechtsvorschriften. In seiner Stellungnahme zum Thema „Zugang zu nationalen Gerichten in Bezug auf Durchführungsvorschriften für das EU-Umweltrecht“ (24) wies der EWSA auf die Bedeutung des „Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten“ (Übereinkommen von Aarhus) hin.

3.7.

Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass sich der Vorschlag der Kommission lediglich auf die Berichtspflichten im Umweltbereich bezieht, die sich aus den Rechtsvorschriften der EU ergeben. Ein bedeutender Teil der Umweltberichterstattung findet jedoch freiwillig statt — auf der Ebene der Unternehmen, der Branchenverbände, der Städte, Gemeinden und anderer Organisationen sowie der Organisationen der Zivilgesellschaft.

3.7.1.

Beispiele für ein solches freiwilliges Engagement, das auch Umweltberichte einschließt, sind die von Einzelunternehmen erstellten Berichte im Rahmen der Global Reporting Initiative (GRI), die Berichte von Branchenverbänden, etwa im Rahmen der Initiative „Responsible Care“ der chemischen Industrie (Rat der Europäischen Chemieindustrie — CEFIC), sowie die Berichte über die soziale Verantwortung der Unternehmen, die oftmals auch einen Umweltteil enthalten.

3.7.2.

Folgenabschätzungen im Umweltbereich und damit zusammenhängende Informationen werden der Öffentlichkeit zudem im Rahmen der Umweltmanagementsysteme von EMS und EMAS bereitgestellt.

3.7.3.

In diesen Initiativen hat sich die aktive Beteiligung der Organisationen der Zivilgesellschaft an der Prüfung der Berichte langfristig bewährt und zu einer Stärkung des Vertrauens zwischen der Zivilgesellschaft auf der einen und den Unternehmen auf der anderen Seite geführt. Auf lokaler wie auch auf internationaler Ebene kommen im Bereich der Umweltinformationen auch Umweltverträglichkeitsprüfungen zur Anwendung.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Verbesserung der Transparenz und der Subsidiarität

Der EWSA ist davon überzeugt, dass der Vorschlag der Europäischen Kommission dazu beiträgt, unter Wahrung der Subsidiarität die Transparenz zu erhöhen und den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen benutzerfreundlicher zu gestalten.

4.2.   Vereinfachung oder Abschaffung von Berichtspflichten

Nach Auffassung des EWSA wäre es zur Verringerung des Verwaltungsaufwands angebracht, das Verfahren der Berichterstattung durch Textinformationen zu vereinfachen oder durch ein geeigneteres Verfahren zu ersetzen und den Fokus auf einen besseren öffentlichen Zugang zu Informationen zu legen. Er fordert die Europäische Kommission auf, die Ausarbeitung mehrerer wichtiger synthetischer Umweltindikatoren, die für weite Kreise der Gesellschaft in den Mitgliedstaaten verständlich sein sollten, in Angriff zu nehmen. Dadurch wäre es leichter, Meinungen über den Umweltschutz in ihrem Land oder ihrer Region einzuholen und Initiativen für positive Veränderungen auf den Weg zu bringen.

4.3.   Angleichung der Zeitpläne der Berichterstattung

Der EWSA befürwortet eine Straffung der Berichterstattungsfristen für die in der Richtlinie 2002/49/EG (25) vorgesehenen Lärmkarten und Aktionspläne sowie die Gewährung ausreichend langer Fristen für öffentliche Konsultation und eine stärkere Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Überprüfung und Überarbeitung von Aktionsplänen. Er unterstützt vergleichbare Regelungen auch in anderen Rechtsvorschriften, sofern sich dadurch die Qualität und Verfügbarkeit der Umweltdaten und -berichte nicht verringert.

4.4.   Vereinfachung unionsweiter Überblicke und Klarstellung der Rolle der EU-Organe

Nach Ansicht des EWSA muss unbedingt klargestellt und präzisiert werden, welche Rolle die Kommission und die Europäische Umweltagentur bei den jeweiligen Berichtsverfahren spielen.

4.5.   Vorbereitung auf künftige Bewertungen

Der EWSA begrüßt, dass die von der Kommission durchgeführte Prüfung eine Reihe von Überschneidungen, fehlenden Verknüpfungen und überflüssigen Anforderungen — sowohl in der Struktur der Daten und Berichte als auch in den Anforderungen an die Häufigkeit der Berichterstattung — sowie weitere Verbesserungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Effizienz der Berichterstattung ergeben hat. Er ist überzeugt, dass auch in Zukunft noch weitere Verbesserungsmöglichkeiten gefunden werden können. Daher empfiehlt er, dass die Funktionsweise des gemeinsamen Besitzstands in diesem Bereich regelmäßig bewertet wird. Die Kommission sollte Bewertungen vornehmen und die Mitgliedstaaten zur Übermittlung der hierfür erforderlichen Informationen auffordern. In diesem Zusammenhang hat der EWSA die Stellungnahme zum Thema „Zukunftsfähige Rechtsetzung“ (SC/045) (26) verabschiedet, in der er Empfehlungen für das künftige Vorgehen bei der Rechtsetzung ausgesprochen hat.

4.6.   Daten im Zusammenhang sehen

Der EWSA empfiehlt, die zentralen Datenbanken der Europäischen Umweltagentur so aufzubauen, dass Umweltdaten und -informationen mit geografischen, wirtschaftlichen und sozialen Daten verknüpft werden können, um so eine umfassende und sachlich richtige Interpretation dieser Daten zu ermöglichen. Er begrüßt die Schritte der Europäischen Kommission zur Einführung besserer Rechtsvorschriften, die darauf ausgerichtet sind, durch eine Überarbeitung der Meldepflichten gemäß Verordnung (EG) Nr. 166/2006 (Europäisches Schadstofffreisetzungs- und -verbringungsregister — E-PRTR), die Pflichten von geringerer Bedeutung betrifft, den Verwaltungsaufwand zu verringern. Gleichzeitig weist der EWSA darauf hin, dass der Grundsatz der Vertraulichkeit bestimmter Geschäftsgeheimnisse gewahrt werden muss, was allerdings der Transparenz und der Zugänglichkeit der Berichte und Daten im Umweltbereich nicht im Wege stehen darf.

4.7.   Einige Teiländerungen

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die vorgeschlagenen Änderungen künftig an den Besonderheiten der einzelnen Teilvorschriften zur Einführung von Berichtspflichten im Umweltbereich ausgerichtet werden sollten, anstatt sich nach einem Einheitskonzept zu richten. Er befürwortet zudem die Angleichung der in den Richtlinien 2009/147/EG (Vogelschutzrichtlinie) und 92/43/EWG (Habitatrichtlinie) vorgeschriebenen Berichtszeiträume.

4.8.   Aufforderung der Öffentlichkeit zur Teilnahme an Umweltaktionen

Der EWSA fordert die Umweltorganisationen dazu auf, die Öffentlichkeit stärker für die Umweltsituation in ihren Ländern und Regionen zu sensibilisieren. Er fordert die Kommission nachdrücklich auf, diese Maßnahmen zu fördern und zu finanzieren.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  SWD(2017) 230.

(2)  ABl. L 189 vom 18.7.2002, S. 12.

(3)  SWD(2016) 454.

(4)  ABl. L 143 vom 30.4.2004, S. 56.

(5)  SWD(2016) 121.

(6)  ABl. L 108 vom 25.4.2007, S. 1.

(7)  COM(2016) 478 und SWD(2016) 273.

(8)  ABl. L 20 vom 26.1.2010, S. 7.

(9)  ABl. L 206 vom 22.7.1992, S. 7.

(10)  SWD(2016) 472 final.

(11)  ABl. L 276 vom 20.10.2010, S. 33.

(12)  COM(2017) 631 und SWD(2017) 353.

(13)  ABl. L 33 vom 4.2.2006, S. 1.

(14)  SWD(2017) 711.

(15)  ABl. L 181 vom 4.7.1986, S. 6.

(16)  ABl. L 295 vom 12.11.2010, S. 23.

(17)  ABl. L 61 vom 3.3.1997, S. 1

(18)  ABl. L 347 vom 30.12.2005, S. 1.

(19)  COM(2018) 381 final — 2018/0205 (COD).

(20)  https://ec.europa.eu/info/law/law-making-process/evaluating-and-improving-existing-laws/refit-making-eu-law-simpler-and-less-costly_de

(21)  Stellungnahme des EWSA zum „Programm REFIT“ (ABl. C 230 vom 14.7.2015, S. 66).

(22)  Stellungnahme des EWSA zur „Überprüfung der Umsetzung der EU-Umweltpolitik“ (ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 114).

(23)  ABl. L 41 vom 14.2.2003, S. 26.

(24)  Stellungnahme des EWSA zum „Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten“ (ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 65).

(25)  Richtlinie 2007/2/EG.

(26)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Zukunftsfähige Rechtsetzung“ (ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 51).


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/104


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 508/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates“

(COM(2018) 390 final — 2018/0210 (COD))

(2019/C 110/20)

Berichterstatter:

Brian CURTIS (UK-II)

Befassung durch den Rat

12.7.2018

Befassung durch das EP

2.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 42, Art. 43 Abs. 2, Art. 91 Abs. 1, Art. 100 Abs. 2, Art. 173 Abs. 3, Art. 175, Art. 188, Art. 192 Abs. 1, Art. 194 Abs. 2, Art. 304 und Art. 349 AEUV

 

 

Beschluss des Präsidiums

22.5.2018 (im Vorgriff auf die Befassung)

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

27.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

214/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Kommission, der ein flexibleres System für die Mitgliedstaaten in Übereinstimmung mit ihren strategischen Prioritäten vorsieht sowie ein nachhaltiges Geschäftsmodell für Fischer unterstützen und die Wettbewerbsfähigkeit des Fischereisektors bewahren soll. Insbesondere fordert der EWSA eine rasche Annahme, einen besser zugänglichen Finanzierungsmechanismus sowie ein verhältnismäßigeres und einheitlicheres Sanktionssystem. Die organisierte Zivilgesellschaft und die Plattformen der regionalen Interessenträger sollten in alle Phasen einbezogen werden, d. h. von der Aufstellung der nationalen Pläne über die Umsetzung bis hin zur endgültigen Bewertung.

1.2.

Nach Auffassung des EWSA sollte der derzeitige Haushalt für den EMFF (6,4 Mrd. EUR) beibehalten werden. Dies ist unerlässlich, um die radikalen Änderungen und Anpassungen durchzuführen, die die Europäische Union vom Fischereisektor verlangt. Diesbezüglich ist insbesondere erwähnenswert, dass der aktuelle EMFF 0,6 % des MFR 2014-2020 ausmacht, was bedeutet, dass eventuelle Kürzungen bei seiner Mittelausstattung zwar den Gesamthaushalt der EU nicht weiter beeinträchtigen, aber schwerwiegende Konsequenzen für viele Küstenregionen haben könnten.

1.3.

Der EWSA stellt fest, dass der Vorschlag der Kommission nicht auf einer detaillierten wirtschaftlichen und sozialen Folgenabschätzung beruht. Dieser Schwachpunkt wird durch die seit mehr als 20 Jahren andauernde Krise des Fischereisektors noch verschärft. Deshalb fordert der Ausschuss die unverzügliche Einschaltung der Europäischen Kommission (insbesondere der GD Beschäftigung) und die Einleitung eines sektorbasierten sozialen Dialogs, um die am besten geeigneten Maßnahmen zum Ausgleich dieser wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen zu ermitteln.

1.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Aquakultur und die blaue Wirtschaft immer noch sehr weit davon entfernt sind, einen Ausgleich für den Verlust von Betrieben und Arbeitsplätzen zu schaffen. Der Ausschuss fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, einen vereinfachten Mechanismus sowohl für neue Aquakulturvorhaben als auch für die Modernisierung bestehender Anlagen zu entwickeln.

1.5.

Im neuen EMFF sollten die soziale Dimension vorrangig behandelt und Maßnahmen zur Förderung des sozialen Dialogs, der Sicherheit, der Arbeitsbedingungen und des Kapazitätsaufbaus gestärkt und finanziert werden, um so die Kompetenz der Arbeitnehmer zu steigern und den Generationswechsel zu unterstützen.

1.6.

Der Ausschuss ersucht die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten, verstärkt tätig zu werden und die vollständige Rückverfolgbarkeit von Einfuhren durchzusetzen, sowohl unter dem Blickwinkel der IUU als auch der Lebensmittelsicherheit. Die Bekämpfung aller Formen von Sklaverei und Ausbeutung entweder an Bord oder während der Verarbeitung an Land sollte ein Eckpfeiler der neuen globalen Strategie der EU für Fischerei und die Meerespolitik sein.

1.7.

Der EWSA empfiehlt, neue Schiffe zu finanzieren, um die alten Schiffe zu ersetzen, wenn die betreffende Flotte keine Überkapazitäten hat und die Zielarten auf MSY-Niveau befischt werden. Diese Maßnahme sollte den Einsatz nachhaltigerer und effizienterer Motoren zur Verringerung der CO2-Emissionen und für die Sicherheit der Besatzung umfassen.

1.8.

Der Ausschuss empfiehlt, die geltenden Kriterien für die Bereitstellung von finanzieller Unterstützung und einem Ausgleich im Falle der vorübergehenden oder endgültigen Einstellung der Fangtätigkeit beizubehalten. Es ist wichtig, dass sowohl die Fischer als auch die Eigner von Fischereifahrzeugen diese Finanzinstrumente in Anspruch nehmen können.

1.9.

Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag für spezifische Maßnahmen zugunsten der kleinen Küstenfischerei, die für die Lebensgrundlage und das kulturelle Erbe vieler Küstenstädte und -gemeinden ein entscheidender Faktor ist. Zur Förderung eines nachhaltigen Geschäftsmodells für die kleine Fischerei ist es ferner wichtig, dort maßgeschneiderte Erhaltungsmaßnahmen sowie technische Maßnahmen zu entwickeln, wo die kleine Fischerei weiter verbreitet ist (z. B. im Mittelmeer). Solche Maßnahmen sollten an die verschiedenen Fangformen und an die biologischen Besonderheiten der einzelnen Meere angepasst werden. Der EWSA hält eine effektive Datenerhebung, Kontrolle und Durchsetzung für entscheidende Vorbedingungen für eine verantwortungsvolle Fischereibewirtschaftung, die den sozialen und wirtschaftlichen Nutzen für die Fischer und die lokalen Gemeinschaften fördert.

2.   Einführung und Methodik

2.1.

Der neue Europäische Meeres- und Fischereifonds (EMFF) ist Teil des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) 2021-2027. Der EMFF unterstützt als wichtiges Instrument die Erreichung der Ziele der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP), fördert die Umsetzung der Meerespolitik der Union und stärkt die internationale Meerespolitik, insbesondere im Rahmen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung.

2.2.

Der EWSA betrachtet den neuen langfristigen EU-Haushalt als einen entscheidenden Faktor für nachhaltige Entwicklung, Wachstum und Kohäsion und für die Zukunft Europas generell. Aus diesem Grund weist die vorliegende Stellungnahme einen engen Zusammenhang mit allen anderen Stellungnahmen auf, in denen bestimmte Fonds im Rahmen des neuen MFR 2021-2027 erörtert werden (1).

3.   Wesentlicher Inhalt des Vorschlags

3.1.

Der neue EMFF 2021-2027 wird sich auf vier Prioritäten konzentrieren:

Förderung nachhaltiger Fischereien und der Erhaltung der biologischen Meeresressourcen;

Beitrag zur Ernährungssicherheit durch nachhaltige und wettbewerbsfähige Aquakultur und Märkte;

Ermöglichung des Wachstums einer nachhaltigen blauen Wirtschaft und Förderung florierender Küstengemeinschaften;

Stärkung der internationalen Meerespolitik und Schaffung sicherer, geschützter, sauberer und nachhaltig bewirtschafteter Meere und Ozeane.

3.2.

Der neue EMFF-Haushalt wird sich auf 6,14 Mrd. EUR zu jeweiligen Preisen belaufen. Die Mittel werden hauptsächlich im Rahmen der direkten und der indirekten Mittelverwaltung bereitgestellt. 5,31 Mrd. EUR werden für die Unterstützung im Rahmen der geteilten Mittelverwaltung mit Mitgliedstaaten und 0,83 Mrd. EUR für die Unterstützung im Rahmen der direkten Mittelverwaltung durch die Europäische Kommission bereitgestellt.

3.3.

Der Vorschlag der Kommission hat zum Ziel, die Beschränkungen des EMFF 2014-2020 zu überwinden und ein Finanzierungssystem zu schaffen, mit dem neue Herausforderungen im Rahmen der Nachhaltigkeitsziele bewältigt werden können. Die wichtigsten Elemente des neuen EMFF sind nachstehend im Einzelnen aufgeführt:

3.3.1.   Vereinfachung

Der EMFF 2014-2020 stützt sich auf eine rigide Beschreibung der Finanzierungsmöglichkeiten und Förderfähigkeitsregeln, was die Durchführung für die Mitgliedstaaten und Begünstigten erschwert hat. Der EMFF 2021-2027 bietet ein größeres Spektrum an Möglichkeiten, mit denen die Mitgliedstaaten Unterstützung für ihre strategischen Prioritäten bereitstellen können. Insbesondere werden in der Verordnung verschiedene Unterstützungsbereiche im Rahmen der einzelnen Prioritäten beschrieben, was einen flexiblen Rahmen für die Umsetzung bietet. Die Mitgliedstaaten stellen ihr Programm auf, in dem sie die am besten geeigneten Mittel zur Erreichung der Prioritäten des EMFF angeben. Sie werden bei der Festlegung der Förderfähigkeitsregeln flexibel sein dürfen.

3.3.2.   Abstimmung mit anderen EU-Fonds

Im neuen MFR sind Regeln, die bei allen Fonds Anwendung finden, in einer Dachverordnung festgelegt. Insbesondere sollen gezielte Synergien mit anderen Fonds (EFRE, ESF usw.) entwickelt werden.

3.3.3.   Konditionalität

Im Einklang mit der Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung (Rio+20) und dem Nachhaltigkeitsziel (SDG) Nr. 14 über die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Ozeane setzt sich die EU dafür ein, eine nachhaltige blaue Wirtschaft zu fördern, die biologischen Ressourcen zu bewahren und einen guten Umweltzustand zu erreichen, bestimmte Formen der Fischereisubventionen zu verbieten, die zu Überkapazität und Überfischung beitragen, Subventionen abzuschaffen, die zu illegaler, nicht gemeldeter und unregulierter (IUU) Fischerei beitragen, und keine solchen Subventionen einzuführen. Aus diesem Grund werden in der Verordnung Einschränkungen und Bedingungen („nicht förderfähige Vorhaben“) festgelegt, um schädliche Auswirkungen auf die Bestandserhaltung zu vermeiden.

3.3.4.   Leistungsorientierung

Die Ergebnisse der Unterstützung aus dem EMFF werden auf der Grundlage von Indikatoren bewertet werden. Die Mitgliedstaaten werden über die Fortschritte bei der Erreichung der festgelegten Etappenziele und Zielwerte Bericht erstatten. Die Kommission wird eine jährliche Leistungsüberprüfung auf Grundlage der von den Mitgliedstaaten vorbereiteten Leistungsberichte vornehmen und dabei potenzielle Durchführungsprobleme frühzeitig erkennen und Korrekturmaßnahmen ergreifen.

3.3.5.   Ökologische, soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit

Nachhaltige Fischerei und Aquakultur gehören zu den Hauptzielen der GFP. In Übereinstimmung mit einem weit gefassten Konzept der Nachhaltigkeit sollte neben den Umweltzielen der wirtschaftliche, soziale und beschäftigungspolitische Nutzen angestrebt werden. Der höchstmögliche Dauerertrag (Maximum sustainable yield — MSY) wird weiterhin die wichtigste Methode zur Sicherstellung einer nachhaltigen Fischerei bleiben. Für den Übergang hin zu nachhaltigeren Tätigkeiten wird Unterstützung bereitgestellt. Ein Ausgleich für die außergewöhnliche Einstellung der Fangtätigkeit wird nur dann gewährt, wenn die Auswirkungen solcher Umstände für die Fischer erheblich sind (2). Kleine Küstenfischerei, Gebiete in äußerster Randlage, Generationswechsel, allgemeine und berufliche Bildung sowie Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz werden im Rahmen des neuen EMFF besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten. Die Anlandeverpflichtung könnte aufgrund ihrer enormen finanziellen Auswirkungen weiterhin ein kritischer Punkt bleiben. Deshalb wird der EMFF Innovationen und Investitionen unterstützen, die zur Umsetzung der Anlandeverpflichtung beitragen, beispielsweise Investitionen in selektive Fanggeräte, die Verbesserung der Hafeninfrastruktur und in die Vermarktung unerwünschter Beifänge. Schließlich wird Unterstützung für Fischer und Häfen bereitgestellt, die moderne Einsammelmethoden und fortschrittliche Abfallentsorgung für verlorene Fanggeräte und Abfälle im Meer einführen.

3.4.

Mehr als 60 % des in der EU konsumierten Fisches wird aus Drittländern eingeführt (3). Um diese Lücke zu schließen, muss neben der Fischereitätigkeit auch die Aquakultur unterstützt werden, bei der Fisch mit hohen Qualitätsstandards erzeugt und zu erschwinglichen Preisen verfügbar gemacht wird. Aus diesem Grund wird der EMFF die Förderung und nachhaltige Entwicklung der Aquakultur, einschließlich der Süßwasseraquakultur, unterstützen.

3.5.

60 % der Ozeane liegen außerhalb nationaler Gerichtsbarkeit. Das bedeutet, dass die EU aktiver werden muss und eine stärkere Rolle bei der globalen Herausforderung der internationalen Meerespolitik spielen muss. Der EMFF wird diese Verpflichtung zu sicheren, geschützten, sauberen und nachhaltig bewirtschafteten Ozeane im Rahmen der direkten Mittelverwaltung unterstützen. Schließlich werden auch ein besserer Schutz der Grenzen (Zusammenarbeit der Küstenwachen) und die Meeresüberwachung zunehmend zu Herausforderungen, die über den EMFF 2021-2027 unterstützt werden.

3.6.

Diese Unterstützung wird durch spezifische Mittel für die Europäische Fischereiaufsichtsagentur, die partnerschaftlichen Abkommen über nachhaltige Fischerei (SFPAs) und die Mitgliedschaft der Union in regionalen Fischereiorganisationen (RFO) und anderen internationalen Organisationen ergänzt werden, die auch zur Durchsetzung der Politik der Union in den Bereichen Fischerei und maritime Angelegenheiten beitragen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, der ein flexibleres System für die Mitgliedstaaten in Übereinstimmung mit ihren strategischen Prioritäten vorsieht sowie ein nachhaltiges Geschäftsmodell für Fischer unterstützen und die Wettbewerbsfähigkeit des Fischereisektors bewahren soll. Insbesondere weist der Ausschuss darauf hin, dass das Hauptproblem des derzeitigen EMFF der geringe Grad der Umsetzung ist (4). Dies ist auf zwei wesentliche Ursachen zurückzuführen:

Verspätete Genehmigung und entsprechend verspätete Umsetzung. Die Mitgesetzgeber haben die EMFF-Verordnung erst im Mai 2014 angenommen, und danach benötigten die Mitgliedstaaten weitere Zeit, um ihre nationalen Programme aufzustellen und zu billigen.

Das aktuelle System ist zu kompliziert und bürokratisch. Außerdem zögern viele Fischer, bevor sie Fördermittel beantragen, aufgrund des unverhältnismäßigen finanziellen Risikos, dem sie sich möglicherweise aussetzen. Gemäß Artikel 12 Absatz 2 des Vorschlags (der die bestehenden Bestimmungen aufrechterhält) gilt während eines Zeitraums von fünf Jahren nach Vornahme der letzten Zahlung, dass die Fischer bei Vorliegen eines schweren Verstoßes ihrerseits (5) rückwirkend als nicht förderfähig erachtet werden und verpflichtet sind, alles zurückzuerstatten, was sie erhalten haben. Eine solche Anforderung sollte gestrichen werden.

4.2.

Aus den oben dargelegten Gründen fordert der EWSA eine rasche Annahme, einen besser zugänglichen Finanzierungsmechanismus sowie ein verhältnismäßigeres und einheitlicheres Sanktionssystem. Alle Fischer sollten den EMFF als ein nutzerfreundliches System betrachten, das darauf ausgelegt ist, ihre Tätigkeit in Bezug auf Nachhaltigkeit und Qualität zu verbessern. Dieser Aspekt wird entscheidenden Einfluss auf die Umsetzung und Einhaltung der neuen Fischereikontrollregelung haben, zu der die Europäische Kommission vor kurzem einen Vorschlag vorgelegt hat (6). Der Ausschuss empfiehlt, die organisierte Zivilgesellschaft und die Plattformen der regionalen Interessenträger in alle Phasen einzubinden, d. h. von der Aufstellung der nationalen Pläne über die Umsetzung bis hin zur endgültigen Bewertung.

4.3.

Der neue EMFF-Haushalt (6,14 Mrd. EUR) wurde im Vergleich zum laufenden EMFF 2014-2020 (6,4 Mrd. EUR) um 4 % gekürzt. Der EWSA ist sich darüber im Klaren, dass der Brexit ein stichhaltiger Grund für diese Kürzung ist. Dessen ungeachtet weist der EWSA darauf hin, dass für die von der Europäischen Union geforderten radikalen Veränderungen des Fischereisektors, in dem 150 000 Fischer beschäftigt sind und der mit seinen 730 000 Beschäftigten in der gesamten Wertschöpfungskette nahezu 400 Mrd. EUR jährlich an Löhnen erzeugt und an Gewinn erwirtschaftet, ein höherer Betrag oder zumindest keine Kürzungen des derzeitigen Haushalts erforderlich wären. Diesbezüglich ist erwähnenswert, dass der aktuelle EMFF 0,6 % des MFR 2014-2020 ausmacht, was bedeutet, dass eventuelle Kürzungen bei seiner Mittelausstattung zwar den Gesamthaushalt der EU nicht weiter beeinträchtigen, aber schwerwiegende Konsequenzen für viele Küstenregionen haben könnten.

4.4.

Der EWSA stellt fest, dass der Vorschlag der Kommission nicht auf einer detaillierten wirtschaftlichen und sozialen Folgenabschätzung beruht. Dieser Mangel wird durch die seit über 20 Jahren anhaltende Krise des Fischereisektors ebenso wie durch die Tatsache verschärft, dass die für eine nachhaltigere Fischerei und Aquakultur vorgesehenen Maßnahmen diesen Trend nicht umkehren konnten (7). Deshalb fordert der Ausschuss die unverzügliche Einschaltung der Europäischen Kommission (insbesondere der GD Beschäftigung) und die Einleitung eines sektorbasierten sozialen Dialogs (8), um die am besten geeigneten Maßnahmen zum Ausgleich dieser wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen zu ermitteln.

4.5.

Der EWSA weist darauf hin, dass die vorgenommenen Maßnahmen zur Entwicklung der Aquakultur und der blauen Wirtschaft immer noch sehr weit davon entfernt sind, einen Ausgleich für den Verlust von Betrieben und Arbeitsplätzen zu schaffen, was hauptsächlich auf ein übermäßig bürokratisches System zurückzuführen ist. Der Ausschuss fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, einen vereinfachten Mechanismus sowohl für neue Aquakulturvorhaben als auch mit besonderem Fokus auf der Modernisierung bestehender Anlagen auf regionaler Ebene zu ermöglichen, der auch die Festlegung von Gebieten der Zuteilung für die Aquakultur (AZA) einschließt.

4.6.

Die nachhaltige Fischerei bleibt das vorrangige Ziel, weswegen der Fischereisektor in die Lage versetzt werden sollte, dies zu erreichen. Aus dem Vorschlag der Kommission für diese Priorität geht jedoch nicht hervor, welche Maßnahmen, die über den aktuellen EMFF finanziert werden, in die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Sicherheit einfließen, z. B. für Ausbildung, Beratungsdienste, Förderung des Humankapitals, sozialer Dialog, Jungfischer oder Sicherheit und Gesundheitsschutz. Der Sektor selbst und die Behörden haben auf einen Fachkräftemangel hingewiesen, der den Generationswechsel beeinträchtigt. Der EWSA fordert die Mitgesetzgeber auf, die soziale Dimension vorrangig zu behandeln und Maßnahmen zur Förderung des sozialen Dialogs, der Sicherheit, der Arbeitsbedingungen und des Kapazitätsaufbaus zu stärken und zu finanzieren, um so die Kompetenz der Arbeitnehmer zu steigern. Ansonsten werden keine jungen Fachkräfte in diesem Sektor arbeiten wollen.

4.7.

Die Modernisierung von Schiffen zur Erhöhung der Sicherheit an Bord ohne eine Erhöhung der Fangkapazität, Generationswechsel und angemessene Arbeitsbedingungen, Ausbildung und Entlohnung sind wichtige Indikatoren für die Defizite der EU im Hinblick auf Wachstum und Stärke. Der EMFF sollte die Fischer an der Erhaltung der marinen biologischen Vielfalt beteiligen, unter anderem auch durch die Förderung innovativer Fanggeräte zur Verbesserung der Selektivität, durch Studien zur Folgenabschätzung oder durch Minderung der Fischereiauswirkungen. In diesem Rahmen wird der von der Kommission verfolgte Ansatz des „Herunterfahrens“ nicht alle mit Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit verbundenen Probleme lösen können.

4.8.

Der EWSA stellt fest, dass der größte Teil des aus Drittländern eingeführten Fisches auf weniger nachhaltige Weise gefangen wurde als vergleichbare EU-Fänge, ganz zu schweigen von den Arbeitsbedingungen an Bord oder bei der Fischverarbeitung an Land. Die daraus resultierenden niedrigeren Preise erzeugen unlauteren Wettbewerb gegenüber den EU-Fischern und schaden ihren Bestrebungen, beim Erstverkauf stabile Mindestpreise zu erreichen, die eine Voraussetzung für deren Überleben sind. Der Ausschuss ersucht die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten, verstärkt tätig zu werden und die vollständige Rückverfolgbarkeit von Einfuhren durchzusetzen, sowohl unter dem Blickwinkel der IUU als auch der Lebensmittelsicherheit. Zudem sollten die Verbraucher durch Sensibilisierungskampagnen über die Qualität von europäischem Fisch informiert werden. Auch fragwürdige Praktiken des Einzelhandels, zum Beispiel die Auslage von aufgetautem Fisch in Frischfischtheken ohne klare und eindeutige Kennzeichnung, müssen eingedämmt werden.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Der Ausschuss befürwortet den von der Europäischen Kommission eingeschlagenen neuen Ansatz, der zum Ziel hat, einen allgemeinen Rahmen ohne präskriptive Maßnahmen aufzustellen, der den Mitgliedstaaten, den durchführenden Behörden und den Begünstigten mehr Flexibilität bietet. Vor allem sollte dieses vereinfachte System die Möglichkeit eröffnen, maßgeschneiderte nationale Programme zu entwickeln. Hierbei müssen allerdings EU-weit gleiche Ausgangsbedingungen für den Zugang zur Förderung in der gesamten EU sichergestellt sein. Darüber hinaus sollte die Dachverordnung, die alle Durchführungsbestimmungen umfasst, die gemeinsame Nutzung von verschiedenen Finanzierungsprogrammen der EU erleichtern. Klare Mechanismen müssen festgelegt werden, um zu überprüfen, ob öffentliche Mittel tatsächlich dort eingesetzt werden, wo sie am dringendsten gebraucht werden, und ob finanzielle Hilfe für die nachhaltige Bewirtschaftung der Meere zugeteilt wird.

5.2.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag zur Festlegung von vier wesentlichen Prioritäten. Insbesondere begrüßt der Ausschuss den spezifischen Schwerpunkt auf der Meerespolitik und der lokalen Entwicklung im Einklang mit seinen früheren Stellungnahmen, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen und kleine Fischereien zu unterstützen (9). Dennoch weist der EWSA darauf hin, dass kürzlich Fälle von Sklaverei und Ausbeutung auf europäischen Schiffen aufgedeckt wurden (10). Leider sind solche Praktiken in Drittstaaten noch stärker verbreitet (einschließlich Kindersklaverei). Nach Auffassung des EWSA sollte die Kommission in ihrer neuen globalen Strategie die Bekämpfung aller Formen der Ausbeutung von Menschen zum Eckpfeiler nehmen.

5.3.

Der Ausschuss sieht in der Erneuerung der Fischereiflotte ein entscheidendes Problem, da europäische Fischereifahrzeuge im Durchschnitt über 30 Jahre alt sind und eine einfache Aufrüstung oft nicht ausreichend ist. Aus diesem Grund empfiehlt der EWSA, die Finanzierung neuer Schiffe zu fördern, um die alten Schiffe zu ersetzen, wenn die betreffende Flotte keine Überkapazitäten hat und die Zielarten auf MSY-Niveau befischt werden. Außerdem müssten im Sinne der Strategie der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) zur Verringerung der Treibhausgasemissionen von Schiffen, die ihre jährlichen Treibhausgasemissionen bis 2050 um mindestens 50 % senken möchten, größere Fahrzeuge ihre Motoren austauschen, um sich für die Verwirklichung dieses internationalen Ziels zu rüsten. Daher sollte die Beschaffung nachhaltigerer und effizienterer Motoren zur Verringerung der CO2-Emissionen und für die Sicherheit der Besatzung unbedingt aufgenommen werden. Tatsächlich ist die Fischerei laut Einschätzung der FAO eine potenziell gefährliche Tätigkeit und eine korrekte Schulung über Gesundheits- und Sicherheitsbelange am Arbeitsplatz ist notwendig, um die Zahl der Todesfälle, Verletzungen und arbeitsbedingten Erkrankungen zu verringern (11). Aus all diesen Gründen wäre es wichtig, die Fangkapazität und den Schutz der biologischen Vielfalt von der Erneuerung der Flotte und der Motoren zu trennen.

5.4.

Die Unterstützung einer vorübergehenden Einstellung ist wichtig für die Erholung der Bestände, insbesondere in den Schonzeiten, und sorgt gleichzeitig für einen teilweisen Ausgleich der Einkommensverluste der Fischer. Die Kommission behält diese Maßnahme im neuen Finanzrahmen bei, schlägt aber neue Anforderungen vor, die in der früheren Verordnung nicht enthalten waren. Solange keine Berichte über eine missbräuchliche Verwendung von Mitteln, die für eine vorübergehende Einstellung vorgesehen waren, vorliegen, sollte die Kommission die bestehenden Kriterien einhalten und weiterhin ansetzen, um der größten Zahl an Fischern, die diese Unterstützung eventuell benötigen, diese Unterstützung auch zukommen zu lassen. Der gleiche Grundsatz sollte für die endgültige Einstellung der Fangtätigkeit gelten. In beiden Fällen ist es wichtig, dass diese finanzielle Unterstützung den Fischern und nicht nur den Eignern von Fischereifahrzeugen zugutekommt, wie im geltenden EMFF festgelegt ist.

5.5.

Die Fischerei ist eine Saisontätigkeit, und der Fang ist nicht sicher und kann gelegentlich die Nachfrage auf dem Markt übersteigen. Daher muss es möglich sein, Produktionsüberschüsse sinnvoll zu verwalten, durch die Unterstützung der Stabilisierung eines Teils der Produktion, bevor sie in den Verkauf geht, insbesondere im Fall geringerer Fangmengen. Daher sollte der EMFF weiterhin Erzeugerorganisationen unterstützen, die zeitweise Lagermöglichkeiten für Fischereierzeugnisse benötigen, die für den menschlichen Verzehr bestimmt sind. Damit diese Hilfe voll einsatzfähig ist, sollte sie unverzüglich zur Verfügung gestellt werden. In dieser Hinsicht unterstützt der EWSA die Beibehaltung von Mechanismen für einen Ausgleich für die Lagerkosten.

5.6.

Der Generationswechsel ist ein weiterer kritischer Punkt für die Zukunft des Sektors. Einige neue Initiativen für den leichteren Erwerb eines gebrauchten Schiffes, für berufliche Schulung und verbesserte Arbeitsbedingungen können nützlich sein, jedoch lösen sie das Hauptproblem, die geringe Kapitalrendite, nicht. Dies wird besonders deutlich bei kleinen Fischereien mit Fischereifahrzeugen von einer Länge weniger als 12 m, die auf Familienebene betrieben werden. Der EWSA stellt fest, dass der kontinuierliche Verlust von Fischereifahrzeugen und Arbeitsplätzen im Widerspruch zur Einschätzung der Kommission steht, die in Übereinstimmung mit dem Output der globalen Meereswirtschaft eine Verdoppelung des Outputs des EU-Fischereisektors bis zum Jahr 2030 prognostiziert (12).

5.7.

Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag für spezifische Maßnahmen zugunsten der kleinen Küstenfischerei, die für die Lebensgrundlage und das kulturelle Erbe vieler Küstenstädte und -gemeinden ein entscheidender Faktor ist. Auf diesen Bereich entfallen fast 75 % aller in der EU registrierten Fischereifahrzeuge und fast die Hälfte aller Arbeitsplätze. Während der letzten Jahrzehnte mussten traditionelle und kleine Fischereien den höchsten Preis für die Krise zahlen und sie benötigen eine spezifische Strategie, um ihre Marktstellung wieder zu festigen. Diese Initiative wird sich auch auf wirtschaftlich geschwächte lokale Gemeinschaften positiv auswirken.

5.8.

Nach Auffassung des Ausschusses sind innovative Herangehensweisen notwendig, um die Rechte von kleinen Fischereien zu verwalten, und eine weitere Zusammenarbeit ist unerlässlich, damit der Sektor seine Fangquoten/Tage auf See steuern, die Erzeugung mit der Vermarktung verknüpfen oder Probleme in Bezug auf limitierende Arten lösen kann. Die Küstenstädte und -gemeinden und die Meeresumwelt werden am meisten profitieren, wenn Fangmöglichkeiten auf der Grundlage transparenter ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Kriterien zugeteilt werden. Mittel zur Förderung von Nachhaltigkeit und partizipativen Prozessen können dazu beitragen, diese Herausforderungen zu meistern, und sie können Maßnahmen beinhalten wie die Ausrichtung von Workshops oder die Gestaltung partizipativer Prozesse, um mit der Wissenschaft und anderen Interessenträgern zu interagieren.

5.9.

Von der örtlichen Bevölkerung betriebene lokale Entwicklung (CLLD) hat sich während des Programmplanungszeitraums 2014-2020 als sehr nützliches Instrument erwiesen. Diese Strategie spielte eine wichtige Rolle hinsichtlich der Stärkung der wirtschaftlichen Diversifizierung in lokalen Gemeinschaften. Aus diesem Grund begrüßt der Ausschuss den Vorschlag, diese Strategie auf alle Bereiche der blauen Wirtschaft auszudehnen. Die Zuweisung von Mitteln für eine nachhaltige blaue Wirtschaft sollte allerdings sozialen und wirtschaftlichen Nutzen für gegenwärtige und zukünftige Generationen absichern, die Vielfalt, Produktivität, Widerstandsfähigkeit und den Wert von Meeresökosystemen an sich wiederherstellen und schützen und saubere Technologien, erneuerbare Energien sowie an der Kreislaufwirtschaft orientierte Materialströme unterstützen.

5.10.

Der Ausschuss betrachtet die Erklärung von Malta 2017 „MedFish4Ever“ als Eckpfeiler der EU-Maßnahmen. Dessen ungeachtet ist der EWSA davon überzeugt, dass spezifische Erhaltungsmaßnahmen sowie technische Maßnahmen an die verschiedenen Fangformen und an die biologischen Besonderheiten des Mittelmeers angepasst werden sollten. In der Tat hat der EWSA festgestellt, dass das erfolgreiche Modell, welches im Mehrjahresplan für spezifische Fischerei mit einer Fischart (z. B. in der Ostsee) vorgesehen ist, weniger effektiv für gemischte Fischereien ist (z. B. im Mittelmeer) (13). Außerdem unterscheiden sich die Fangmethoden in Nord- und Südeuropa grundlegend. Vor allem im Mittelmeer ist die Fischerei von kleinen und traditionellen Fischereien geprägt (14). Demzufolge empfiehlt der Ausschuss die Unterstützung von Forschungen zur Bestandsbewertung und die Erhebung von Daten, um maßgeschneiderte, effizientere Systeme zum Schutz der biologischen Vielfalt zu entwickeln. Eine effektive Datenerhebung, Kontrolle und Durchsetzung sind entscheidende Vorbedingungen für eine verantwortungsvolle Fischereibewirtschaftung, die den sozialen und wirtschaftlichen Nutzen für Fischer und lokale Gemeinschaften fördert.

5.11.

Wie bereits vom EWSA dargelegt (15), ist die Anlandeverpflichtung sowohl für die Fischereibetriebe als auch für die nationalen Behörden aufgrund ihrer Komplexität und der hohen Kosten beim Übergang zu einer nachhaltigen Fischerei (beispielsweise Einsatz von speziellen selektiven Fanggeräten) eines der Hauptprobleme für den Sektor. Mit dem neuen Vorschlag der Kommission zur Fischereiaufsicht (16) sollen die derzeitigen Verpflichtungen für kleine Fischereifahrzeuge erweitert und generell neue Pflichten und Aufgaben für den gesamten Sektor festgelegt werden (d. h. vorgeschriebene Videoüberwachungsanlagen (CCTV) an Bord). Der EWSA hält ein unkomplizierteres, flexibles und pragmatisches Kontrollsystem für erforderlich. Außerdem sollte auf nationaler Ebene für eine große Anzahl von Fischereifahrzeugen geeignete Unterstützung bereitgestellt werden. Aus diesem Grund hängt der Erfolg der Umsetzung der neuen Kontrollregelung von der raschen und vollumfänglichen Umsetzung des EMFF 2021-2027 ab, damit alle Fischer bei der Einhaltung der neuen Verordnung Unterstützung erhalten (17).

5.12.

Der EWSA weist darauf hin, dass die neue EU-Richtlinie über die Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststofferzeugnisse (18) (d. h. gebrauchte Fanggeräte) in Verbindung mit der neuen Richtlinie über Hafenauffangeinrichtungen (19) neue Szenarien und Möglichkeiten für nachhaltige Fischerei und die Kreislaufwirtschaft eröffnet. Die Maßnahme mit dem Ziel, die Rückführung von Fanggeräten durch Anreize für die Fischer zu fördern, sollte auf die Rückführung aller anderen Abfallprodukte sowie während der Fangaktivitäten eingesammelten Abfälle im Meer erweitert werden.

5.13.

Diese Initiative sollte für den Sektor grundlegend sein, da die Fischer der aktuellen Gesetzeslage zufolge verpflichtet sind, für die Abfallentsorgung in den Häfen zu zahlen. Das bedeutet, dass die Fischer mittlerweile für die Säuberung der Meere und die Entsorgung von Abfall zahlen, den sie selbst nicht verursacht, sondern lediglich eingesammelt haben. Nach Auffassung des EWSA könnten die Fischer für einen erheblichen Mehrwert sorgen. Wenn sie angemessen geschult würden, könnte die Säuberung der Meere ähnlich wie der Fischerei-Tourismus (die blaue Wirtschaft) für sie zu einer profitablen Wirtschaftstätigkeit werden (20).

5.14.

Der EWSA unterbreitet im Einklang mit dem Vorschlag der Kommission, 25 % des gesamten EU-Haushalts für Klimaschutzmaßnahmen zuzuweisen, den Vorschlag, dass ein erheblicher Anteil dieser Gelder in die Modernisierung der Häfen fließen sollte, um die Entsorgungslücke hinsichtlich der Abfälle im Meer zu schließen und die Kreislaufwirtschaft zu unterstützen. Spezifische Mittel sollten im Rahmen einer umfassenderen Strategie zur Abfallvermeidung im Meer für die Säuberung von Flüssen vorgesehen werden (21). Der EWSA ist der Auffassung, dass Modelle der offenen Governance, die Behörden und die organisierte Zivilgesellschaft auf lokaler Ebene einbeziehen, zum Beispiel „Flussverträge“, mithilfe einer strukturierten Herangehensweise nachgebildet werden könnten, um auf diese Weise den Aufbau von grenzübergreifenden Netzwerken zu fördern (22).

5.15.

Viele Interessenträger haben sehr genau die Schwierigkeiten erkannt, die der Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen in Gebieten entgegenstehen, in denen andere Nutzungen des Meeres existieren, vor allem in Gebieten, die mit Flotten aus Drittländern gemeinsam genutzt werden (23). Aus diesem Grund könnte eine stärkere Rolle der EU in der internationalen Meerespolitik mehr Möglichkeiten im Hinblick auf ökologische Nachhaltigkeit und fairen Wettbewerb eröffnen.

5.16.

Der EWSA unterstützt die Durchsetzung von Kontrollen von Schiffen aus Drittländern. Ferner weist der Ausschuss darauf hin, dass ein besseres System zur Rückverfolgbarkeit von Fisch aus Drittländern sinnvoll wäre, um gegen Betrug vorzugehen und die Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Stellungnahmen des EWSA: Mehrjähriger Finanzrahmen für den Zeitraum nach 2020 (ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 106); Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen 2021-2027 (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 83); Verordnung über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und den Kohäsionsfonds 2021-2027 (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 90); Verordnung über die Europäische territoriale Zusammenarbeit 2021-2027 (ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 116); Verordnung über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit 2021-2027 (ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 124); Europäischer Sozialfonds Plus (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 165); Vorschlag für „Horizont Europa“ (das neue neunte Rahmenprogramm für Forschung und Innovation) (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 33).

(2)  Wenn die gewerblichen Tätigkeiten des betreffenden Schiffs für mindestens 90 aufeinanderfolgende Tage unterbrochen werden und wenn die aus der Einstellung der Tätigkeit ergebenden wirtschaftlichen Verluste mehr als 30 % des durchschnittlichen Jahresumsatzes des betreffenden Unternehmens während eines bestimmten Zeitraums ausmachen.

(3)  COM(2018) 390 final, S. 12.

(4)  Der aktuelle EMFF 2014-2020 wurde nur in sehr begrenztem Maße umgesetzt. Zu erwähnen ist insbesondere, dass 29 % der Mittel den ausgewählten Projekten zugewiesen und gerade einmal 8 % der Gesamtmittel im Rahmen dieser ausgewählten Projekte gebunden wurden. Quelle: Europäische Kommission. https://cohesiondata.ec.europa.eu/funds/emff#.

(5)  Ein schwerer Verstoß ist mit einer Geldbuße verbunden. Eine solche Geldbuße kann je nach Schwere des Verstoßes variieren. Beispielsweise kann sich in Spanien die Geldbuße auf einen Betrag zwischen 601 und 60 000 EUR belaufen. Das bedeutet, dass ein Fischer je nach Schweregrad des Verstoßes zu einer Geldbuße von lediglich 601 EUR verurteilt werden könnte. Aufgrund von Artikel 10 Absatz 2 könnte er jedoch auch bis zu Hunderttausende von Euro an Fördermitteln für eine Investition einbüßen, die eventuell fünf Jahre früher abgeschlossen und bezahlt worden ist. Dies hat vor allem auf kleine Fischereien erhebliche Auswirkungen.

(6)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Fischereiaufsicht (siehe Seite 118 dieses Amtsblatts).

(7)  Z. B. ist in Italien an 8 000 km Küstenlinie die Zahl der Fischerfahrzeuge in den letzten 30 Jahren um ca. 33 % zurückgegangen. Die Schiffe sind durchschnittlich 34 Jahre alt und brauchen dringend notwendige Aufrüstungen oder müssen durch neue ersetzt werden. 18 000 Arbeitsplätze sind in diesem Zeitraum verloren gegangen (der Fischereisektor in Italien beschäftigt 25 000 Arbeitnehmer). Angaben: Mipaaf, 2016.

(8)  EU-Ausschuss für den sektoralen sozialen Dialog — Seefischerei (EUSSDC).

(9)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Mehrjahresplan für die Fischerei kleiner pelagischer Arten in der Adria“ (ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 68).

(10)  https://www.theguardian.com/world/2018/may/18/we-thought-slavery-had-gone-away-african-men-exploited-on-irish-boats.

(11)  Laut Schätzungen der FAO treten weltweit über 32 000 Todesfälle im Fischereisektor pro Jahr auf (https://safety4sea.com/fishers-fatalities-give-impetus-to-fishing-vessel-safety-work/).

(12)  OECD: Ocean Economy in 2030 (Die Meereswirtschaft im Jahr 2030), 2016.

(13)  GFCM (2016), Der Zustand der Fischerei im Mittelmeer und im Schwarzen Meer, S. 26. Wie von der GFCM-FAO hervorgehoben, ist es leichter, eine gezielte Befischung in Meeren mit einzelnen Arten durchzuführen, da dort nur wenige Fischarten koexistieren, und demzufolge ist eine Festsetzung von Fangbeschränkungen einfacher. Demgegenüber findet man in Meeren mit mehreren Arten viele unterschiedliche Fischarten im gleichen Gebiet.

(14)  Stellungnahmen des EWSA zu den Themen „Reform der GFP“, Ziffer 1.3 (ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 183) und „Mehrjahresplan für die Fischerei kleiner pelagischer Arten in der Adria“( ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 68).

(15)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Anlandeverpflichtung“ (ABl. C 311 vom 12.9.2014, S. 68). Ziffer 1.2 „[…] ist der Verordnungsvorschlag allerdings zu komplex und verursacht den Fischern bei der Erfüllung der Anlandeverpflichtung einen übermäßig und unverhältnismäßig großen Zusatzaufwand. Daher sollte auf pragmatischere, klarere, einfachere und flexiblere Vorschriften gesetzt werden, die den Fischern tatsächlich genügend Zeit dafür lassen, sich innerhalb einer Übergangsfrist anzupassen, ohne harten Sanktionen ausgesetzt zu sein.“

(16)  COM(2018) 368 final.

(17)  Siehe Fußnote 6.

(18)  COM(2018) 340 final.

(19)  COM(2018) 33 final.

(20)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Einwegkunststoffartikel“ (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 207).

(21)  UNEP-Bericht, 2016. 80 % der Abfälle im Meer stammen aus den Flüssen.

(22)  Siehe Fußnote 20.

(23)  MEDAC, Fragen zur EU-Förderung für die Fischerei und den maritimen Sektor nach 2020, Februar 2018.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/112


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Ein Europa, das schützt: Saubere Luft für alle“

(COM(2018) 330 final)

(2019/C 110/21)

Berichterstatter:

Octavian Cătălin ALBU

Befassung

Europäische Kommission, 18.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Beschluss des Plenums

19.6.2018

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

27.11.2018

Verabschiedung im Plenum

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

129/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

In den letzten 30 Jahren hat sich die Luftqualität in der Union dank der Maßnahmen verbessert, die in diesem Zusammenhang auf Unionsebene durchgeführt wurden. Trotzdem bleibt noch viel zu tun, da bei den wichtigsten Luftschadstoffen zahlreiche Überschreitungen der zulässigen Grenzwerte zu verzeichnen sind. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, eng zusammenzuarbeiten, da die Luftqualität von entscheidender Bedeutung für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger der EU ist. Der EWSA hält es für wichtig, hinsichtlich der Luftqualität und der Umweltbedingungen Alarm zu schlagen.

1.2.

Nach Auffassung des EWSA muss unbedingt eine Verringerung der durch Gewerbe, öffentliche Einrichtungen, Haushalte und Verkehr verursachten Luftverschmutzung erzielt werden. Die Organe der Union und die Mitgliedstaaten müssen dabei mit positivem Beispiel vorangehen, und es müssen mehr Programme zur Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger beim Umstieg auf saubere, moderne und energieeffizientere Heizmethoden aufgelegt werden.

1.3.

Da der Verkehr zu den Hauptverursachern der Luftverschmutzung gehört, begrüßt der EWSA das Paket für saubere Mobilität, das mehrere Initiativen umfasst, die zur Senkung der CO2-Emissionen sowie zur Verringerung der Umweltverschmutzung auf lokaler und regionaler Ebene beitragen.

1.4.

Die von der Kommission zur Abhilfe gegen bestimmte Probleme — Stichwort Abgasskandal — vorgeschlagenen zusätzlichen legislativen Maßnahmen oder die Maßnahmen gegen Mitgliedstaaten, die die bestehenden Normen zur Luftreinhaltung nicht eingehalten haben, sind ein Schritt in die richtige Richtung, und der EWSA unterstützt diesen Ansatz.

1.5.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass die neuen Umweltvorschriften — etwa im Verkehrsbereich — mit Maßnahmen zur wirtschaftlichen Unterstützung einhergehen müssen, um die Innovation und die Entwicklung neuer sauberer Technologien zu fördern, wie beispielsweise Batterien, Elektroautos und alternative Heizungs- und Belüftungsanlagen.

1.6.

Der EWSA ist besorgt, da im landwirtschaftlichen Bereich zwar Fortschritte bei der Verringerung der Luftverschmutzung erzielt wurden, diese aber nicht ausreichen. Der EWSA empfiehlt für die Zukunft, die Gemeinsame Agrarpolitik, neben anderen Finanz- und Investitionsinstrumenten, stärker auf Initiativen zur Verringerung der Umweltauswirkungen auszurichten und im Hinblick auf Beihilfen, die Landwirten für die Durchführung von Programmen zur Erreichung dieser Ziele gewährt werden, konsistenter und kohärenter zu gestalten. Eine gute Idee in diesem Zusammenhang sind Genossenschaften, in denen die Landwirte aus landwirtschaftlichen Abfällen Biogas und daraus elektrische Energie erzeugen.

1.7.

Die internationale Zusammenarbeit ist von entscheidender Bedeutung für die Bekämpfung der Umweltverschmutzung und des Klimawandels und der EWSA begrüßt den breiten Konsens zwischen den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Verwirklichung der Ziele des Übereinkommens von Paris. Eine ganz besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang dem Austausch bewährter Verfahren sowie dem Netz der Umweltdiplomatie zu. Darüber hinaus sind konkrete Maßnahmen zur Reduzierung der Schadstoffemissionen in den Mitgliedstaaten erforderlich, um die Ziele des Übereinkommens zu erreichen.

1.8.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, eng zusammenzuarbeiten, da die Luftqualität von entscheidender Bedeutung für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger der EU ist. Zudem empfiehlt der EWSA eine möglichst enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission einerseits und der Zivilgesellschaft und den Vertretern der lokalen und regionalen zivilgesellschaftlichen Organisationen andererseits, um Umweltschutzprogramme sowie Kampagnen zur Aufklärung, Information und Sensibilisierung der Öffentlichkeit in Bezug auf die Luftqualität zu konzipieren und durchzuführen.

2.   Einleitung

2.1.

In den letzten 20 bis 30 Jahren hat sich die Luftqualität in der Union deutlich verbessert, was einschlägigen spezifischen Strategien der Union und der Mitgliedstaaten zu verdanken ist, die auf ein Luftqualitätsniveau abzielen, das nicht mit negativen Auswirkungen und signifikanten Risiken für die menschliche Gesundheit und die Umwelt einhergeht. So ist — trotz eines Anstiegs des BIP der Union — der Luftschadstoffausstoß gesunken, bei Ammoniak um 8 % und bei Schwefeloxiden um 72 % (1).

2.2.

Die Luftqualität ist von maßgeblicher Bedeutung für die Gesundheit der Bevölkerung. Die wichtigsten Quellen der Luftverschmutzung sind Feinstaub (PM — particulate matter) (PM10 und PM2,5) sowie bodennahes Ozon, das direkt von den Stickoxiden (NOx) beeinflusst wird, die in die Luft abgegeben werden. Laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind 8 % der Todesfälle durch Lungenkrebs und 3 % der Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf Feinstaub in der Atemluft zurückzuführen (2). Aus denselben Gründen sind unionsweit mehr als 400 000 vorzeitige Todesfälle pro Jahr zu verzeichnen (3).

2.3.

Angesichts dieser Faktoren ist bei den Bürgerinnen und Bürgern eine zunehmende Besorgnis hinsichtlich des Ausmaßes der Luftverschmutzung festzustellen (4). Deshalb ist durch legislative Maßnahmen auf Unionsebene und auf der Ebene der Mitgliedstaaten das Ziel festgelegt worden, zu einer Luftqualität zu gelangen, die keine negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung und auf die Umwelt hat; durch eine umfassende Einhaltung der bestehenden Rechtsvorschriften der Union in Sachen Luftqualität soll eine schrittweise Verringerung der Schadstoffemissionen erreicht werden.

2.4.

Die diesbezüglichen Strategien und Maßnahmen der Union beruhen auf drei Säulen:

Säule 1 umfasst die Luftqualitätsnormen, die je nach Schadstoff von allen Mitgliedstaaten seit 2005 bzw. seit 2010 eingehalten werden müssen.

Bei Säule 2 handelt es sich um die unlängst überarbeiteten nationalen Emissionsreduktionsziele, die bis 2020 bzw. 2030 erreicht werden müssen und die einen weiteren Schadstoff umfassen, nämlich Feinstaub (PM2,5).

Die Säule 3 betrifft Emissionsnormen für die wichtigsten Verschmutzungsquellen, d. h. für Fahrzeuge und Schiffe, Industrieanlagen und Energieerzeugungsanlagen. Im Nachgang zum Abgasskandal wurde im Jahr 2015 das Legislativpaket zu den Emissionen von Fahrzeugen im praktischen Fahrbetrieb angenommen und die Kommission hat neue Normen für niedrigere CO2-Emissionen von neuen PKW, Kleintransportern und schweren Nutzfahrzeugen vorgeschlagen.

2.5.

Laut dem Bericht der Europäischen Umweltagentur zur Luftqualität in Europa für das Jahr 2017 sind die wichtigsten Quellen der Luftverschmutzung in Europa: Verkehr (Straßenverkehr und sonstiger Verkehr), Verfeuerung von Brennstoffen zu gewerblichen Zwecken sowie in öffentlichen Einrichtungen und in Haushalten, Energieerzeugung, industrielle Prozesse, Landwirtschaft und Abfälle (5).

2.5.1.

Der Anteil des Straßenverkehrs an der Gesamtluftverschmutzung beträgt 39 % bei Stickoxiden (NOx), 29 % bei Ruß, 20 % bei Kohlenmonoxid (CO) und 11 % bei Feinstaub (PM10 und PM2,5). Mit dem Paket für saubere Mobilität zielt die Kommission darauf ab, neue CO2-Emissionsnormen für 2025 bzw. 2030 festzulegen. Neue Technologien, etwa im Bereich der Batterien, der alternativen Kraftstoffe und der zugehörigen Infrastruktur, werden durch eine Überarbeitung der einschlägigen Vorschriften (6) und durch Aktionspläne (7) gefördert. Ferner wird durch den neuen Rechtsrahmen des Pakets für saubere Mobilität zur Steigerung der Effizienz — auch der Energieeffizienz — die integrierte Nutzung von Zügen und Lastkraftwagen (8) und zur Verringerung von Staus und Emissionen die Entwicklung von Fernbuslinien (9) gefördert.

2.5.2.

Die Verfeuerung von Brennstoffen zu gewerblichen Zwecken sowie in öffentlichen Einrichtungen und in Haushalten hat den größten Anteil (42 % und 57 %) an der Luftverschmutzung durch Feinstaub (PM2,5 und PM10) und Kohlenmonoxid (CO), aber auch durch Ruß (BC — Black Carbon, ein wichtiger Luftschadstoff, der durch die unvollständige Verbrennung von fossilen Brennstoffen und Biomasse entsteht). Die Werte für die durch diesen Bereich verursachte Luftverschmutzung sind im Zeitraum 2000-2015 praktisch konstant geblieben.

2.5.3.

Die Verringerung der Schadstoffemissionen (um 59 % bei SO2 und um 19 % bei NOx, jeweils bezogen auf den Gesamtwert) aus der Strom- und Wärmeerzeugung konnte dank der Entwicklung und der verstärkten Nutzung von alternativen Energiequellen, durch die Kraft-Wärme-Kopplung, die Modernisierung der Energieerzeugungsanlagen und die Steigerung ihres Wirkungsgrads, die energetische Optimierung von Produktionsprozessen, die Verbesserung der Energieeffizienz von Gebäuden sowie durch das schrittweise Verbot der Verfeuerung von fossilen Brennstoffen und ihren Ersatz durch Methangas erzielt werden.

2.5.4.

Im Hinblick auf die Verringerung der Emissionen von Industrieanlagen (um 50 % bei flüchtigen organischen Verbindungen außer Methan (NMVOC) und um 17 % bei Feinstaub (PM10) wurden Maßnahmen im Sinne und unter Einhaltung der auf EU-Ebene geltenden Rechtsvorschriften ergriffen. Zur Vermeidung und Überwachung von Verschmutzung muss jede Industrieanlage über eine Betriebsgenehmigung und eine Registrierung verfügen, in denen Grenzwerte für Schadstoffemissionen sowie die erforderlichen Umweltschutzmaßnahmen niedergelegt sind.

2.5.5.

Angesichts der Tatsache, dass die Landwirtschaft 95 % der Ammoniakemissionen (NH3) und 52 % der Methanemissionen (CH4) erzeugt, ist deren Verringerung maßgebend. Einschlägige Ansätze umfassen agronomische Maßnahmen (ausgewogener Einsatz von Stickstoff in den landwirtschaftlichen Betrieben, Nutzung von bodenbedeckenden Kulturen und Leguminosen auf Ackerflächen zur Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit), Maßnahmen im Bereich der Viehhaltung (Lagerung von Mist und Gülle in geschlossenen Behältern sowie Nutzung in Biogasanlagen), Maßnahmen energetischer Art (Nutzung von Biomasse zum Heizen, Installation von Photovoltaikanlagen, Verringerung des Verbrauchs von herkömmlichen Brennstoffen und Strom) sowie Agrarumweltmaßnahmen (Verbesserung der beruflichen Qualifikation von Landwirten sowie Förderung emissionsarmer landwirtschaftlicher Verfahren).

2.6.

Der EWSA äußert seine Besorgnis hinsichtlich des Zustands der Umwelt. In der Vergangenheit hat er diesbezüglich bereits die Alarmglocke geläutet (10) und betont, „dass mehr Anstrengungen notwendig sind, um Umweltprobleme von vornherein zu verhindern, und dass stets Vorbeugungsmaßnahmen der Vorzug vor Abhilfemaßnahmen gegeben werden sollte“ (11).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt die Maßnahmen, die die Union ergriffen hat, um eine Luftqualität zu erreichen, die sich weder auf die Gesundheit der Menschen noch auf die Umwelt negativ auswirkt, vertritt jedoch die Auffassung, dass die Anstrengungen sowohl auf Unionsebene als auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten erheblich verstärkt werden müssen, da die bisher erzielten Ergebnisse nicht umfassend zufriedenstellend sind. Obgleich Fortschritte bei der Verringerung der Schadstoffemissionen erzielt worden sind, wirkt sich die Luftqualität nach wie vor nachteilig auf die Gesundheit der Bevölkerung aus (12).

3.2.

Der EWSA bringt seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass die Feinstaubkonzentration in der Luft derzeit in weiten Gebieten der Union die zulässigen Grenzwerte überschreitet. Bei PM10 sind von 19 % der Überwachungsstationen Überschreitungen des zulässigen täglichen Grenzwerts gemeldet worden und bei PM2,5 von 6 % der Überwachungsstationen. Bedauerlicherweise waren 19 % der städtischen Bevölkerung der Union im Jahr 2015 einer unzulässig hohen PM10-Belastung ausgesetzt (Anstieg gegenüber dem Vorjahr); bei PM2,5 waren es 7 % (Rückgang gegenüber dem Vorjahr).

3.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass in Mittel- und Osteuropa in Millionen von Haushalten mit Holz und Kohle geheizt wird. Laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation trägt diese Praxis in Mittel- und Osteuropa zur derzeitigen und zukünftigen Belastung der Luft durch PM2,5 bei, die auf dem Stand des Zeitraums 2010-2015 stagniert (13). Es sind verstärkte Maßnahmen erforderlich, um die Bevölkerung beim Umstieg auf sauberere Wärmequellen zu unterstützen und sie einzubinden.

3.4.

Ferner bringt der EWSA seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass die jährlichen Grenzwerte für Stickstoffdioxid (NO2) in 22 Mitgliedstaaten — bei 10 % der Überwachungsstationen — erheblich überschritten werden, wobei in einigen Großstädten Werte verzeichnet werden, die mehr als das Doppelte der zulässigen Normen betragen.

3.5.

Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass sowohl für die Bevölkerung als auch für die Wirtschaft die Luftqualität von entscheidender Bedeutung ist (14). Daher müssen die europäischen und nationalen Entscheidungsträger konkrete Schritte unternehmen, um in diesem Bereich einen Rechtsrahmen zu schaffen und durchzusetzen.

3.6.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass es im Hinblick auf die Verringerung der Schadstoffemissionen durch Gewerbe, öffentliche Einrichtungen und Haushalte unbedingt erforderlich ist, dass die Mitgliedstaaten mit Unterstützung der Kommission die Energieeffizienz der Gebäude entschlossen voranbringen und durch Modernisierungsmaßnahmen steigern, den Wirkungsgrad der Strom- und Wärmeerzeugungsanlagen verbessern, die städtischen Fernwärmenetze ausbauen und modernisieren und alternative Klimaanlagen fördern. Ein Beispiel hierfür ist der Sitz der Europäischen Zentralbank, an dem eine innovative und ökologische Heizungs- und Belüftungsanlage verwendet wird.

3.7.

Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass die Luftverschmutzung in Innenräumen keineswegs vernachlässigt werden darf. Die Qualität der Luft, die wir in Innenräumen einatmen, ist von wesentlicher Bedeutung für unsere Gesundheit, insbesondere bei schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen. Rauchen, Kochen, Feuchtigkeit, Belüftungsanlagen, brennende Kerzen, Reinigungsmittel, Wachs oder Lack, bestimmte Baustoffe — all das kann in erheblichem Maße zu einer Verschmutzung der Luft in Innenräumen führen. Deshalb ist unbedingt eine kohärente Strategie erforderlich, um gesunde Gebäude sicherzustellen.

3.8.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Mitgliedstaaten gemeinsam mit der Kommission ein neues Stadtentwicklungskonzept ausarbeiten und umsetzen sollten, das u. a. auf die Einführung eines umweltfreundlichen öffentlichen Verkehrs abzielt, verschiedene Anreize für die Elektro- und Hybridmobilität bietet, IT-Anwendungen zur Warnung der Bürger im Falle einer Überschreitung der zulässigen Höchstwerte für Luftschadstoffe nutzt und mit dem Ziel einer deutlich besseren Luftqualität die Ausweitung der Grünflächen in den Städten fördert.

3.9.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass der Zugang der Bürgerinnen und Bürger zu Informationen und Daten zur Luftqualität von erheblicher Bedeutung für die Bekämpfung der Luftverschmutzung ist (15). Informations- und Aufklärungskampagnen können die Öffentlichkeit für die Gefahren der Luftverschmutzung und die Auswirkungen des Handelns jedes Einzelnen sensibilisieren. Das Engagement von Müttern, die sich wegen der Schadstoffbelastung Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder machen, für die Luftreinhaltung muss zur Kenntnis genommen und gewürdigt werden. Diese Frauen betrachten Einschränkungen bei der Umweltnutzung als Beschneidung ihrer Bürgerrechte.

3.10.

Der EWSA begrüßt die Initiative von Nichtregierungsorganisationen und Bürgerinnen und Bürgern, die sich an die zuständigen Gerichte gewandt haben, um die Behörden ihres Mitgliedstaats zur Einführung zusätzlicher Maßnahmen zur Verringerung der Luftverschmutzung zu zwingen. In der Tschechischen Republik, in Deutschland, in Italien und im Vereinigten Königreich haben die Gerichte zugunsten der Kläger entschieden (16).

3.11.

Nach Auffassung des EWSA müssen — neben den Zielen für die Erzeugung erneuerbarer Energie — Strategien zur Reduzierung der CO2-Emissionen ausgearbeitet und so gestaltet werden, dass sie sich tatsächlich auf die Umwelt auswirken, ohne die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten zu ersticken.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Die Kommission legt besonderen Wert auf die Einhaltung der Fahrzeugabgasnormen, insbesondere nach dem Abgasskandal, und führt Maßnahmen zur Überprüfung der Einhaltung der durch die einschlägigen Rechtsvorschriften der Union vorgeschriebenen Pflichten durch.

4.2.

In dieser Hinsicht unterstützt der EWSA die Position der Kommission, die die Mitgliedstaaten aufgefordert hat, alle denkbaren Änderungen und Verbesserungen zu prüfen, sodass die von diesen Fahrzeugen erzeugten Abgase innerhalb der geltenden Grenzwerte verbleiben, und bei Nichterfüllung dieser Bedingungen Vorschläge zum verpflichtenden und/oder freiwilligen Rückruf der betroffenen Fahrzeuge vorzulegen.

4.3.

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission, Vertragsverletzungsverfahren gegen 16 Mitgliedstaaten wegen der Luftverschmutzung durch Feinstaub PM10 sowie gegen 13 Mitgliedstaaten wegen der Luftverschmutzung durch Stickstoffdioxid (NO2) einzuleiten, und empfiehlt den betreffenden Mitgliedstaaten, so bald wie möglich Maßnahmen zu ergreifen, durch die die Zeiträume, in denen die Grenzwerte überschritten werden, verkürzt oder ausgeschaltet werden können.

4.4.

Ferner begrüßt der EWSA den Beschluss der Kommission, gegen drei Mitgliedstaaten (Ungarn, Italien und Rumänien) wegen Nichteinhaltung der Grenzwerte für die Luftverschmutzung durch Feinstaub PM10 und gegen drei weitere Mitgliedstaaten (Frankreich, Deutschland und Vereinigtes Königreich) wegen Nichteinhaltung der Grenzwerte für die Luftverschmutzung durch NO2 beim Gerichtshof der Europäischen Union Klage zu erheben. Die sechs genannten Mitgliedstaaten sind der Aufforderung, konkrete und wirksame Maßnahmen zur Verringerung der Luftverschmutzung auf die zulässigen Grenzwerte vorzuschlagen, nicht rechtzeitig nachgekommen.

4.5.

Angesichts der hohen, durch Kraftfahrzeuge verursachten Luftverschmutzung begrüßt der EWSA die von der Kommission im Rahmen der Pakete zur Mobilität vorgeschlagenen Emissionssenkungsmaßnahmen, u. a. die Richtlinie über saubere Fahrzeuge, neue CO2-Emissionsnormen für Pkw und schwere Nutzfahrzeuge, einen Aktionsplan zur Infrastruktur für alternative Kraftstoffe und eine Batterieinitiative. Diese Maßnahmen werden auch dazu beitragen, die Emissionen, um die es in dieser Stellungnahme geht, zu senken.

4.6.

Der EWSA begrüßt die von der Kommission vorgeschlagenen neuen Normen, mit denen auf eine erhebliche Verbesserung der Qualität und der Unabhängigkeit der vor dem Inverkehrbringen von Fahrzeugen durchzuführenden Typgenehmigungs- und Prüfungsverfahren sowie auf eine wirksamere Kontrolle der bereits auf dem Markt befindlichen Fahrzeuge abgezielt wird. In der Verordnung zur Einführung dieser Normen, die im September 2020 in Kraft treten soll, wird am Verbot von Abschalteinrichtungen festgehalten, eine Senkung der Grenzwerte für die Schadstoffemissionen von Fahrzeugen angestrebt und der erforderliche Rechtsrahmen für eine Umstellung auf emissionsarme und emissionsfreie Fahrzeuge geschaffen.

4.7.

Angesichts der hohen Schadstoffemissionen an Ammoniak (NH3) und Methan (CH4) aus der Landwirtschaft (17) sind unbedingt aktive Maßnahmen zur Verringerung dieser Emissionen erforderlich. Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Gemeinsame Agrarpolitik in den nächsten Jahren verstärkt darauf ausgerichtet werden muss, einzelne Landwirte und landwirtschaftliche Genossenschaften bei ihren Anstrengungen zur Verringerung der Schadstoffemissionen zu unterstützen und ihren Zugang zu Finanzierungen der europäischen Kreditinstitute zu erleichtern, sodass die Programme zur Verringerung der Schadstoffemissionen durchgeführt werden können. Ferner sollten im Rahmen künftiger GAP-Programme zur Entwicklung des ländlichen Raums Agrarumweltmaßnahmen zur Senkung dieser Emissionen vorgesehen werden.

4.8.

Der EWSA bringt seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass trotz der im Agrarsektor durchgeführten Maßnahmen im Zeitraum 2000 bis 2015 und der Bemühungen der Landwirte die NH3- und CH4-Emissionen jeweils nur um 7 % zurückgegangen sind. Infolge der zunehmenden Tierhaltung stiegen die NMVOC-Emissionen (flüchtige organische Verbindungen außer Methan), die insbesondere auf Viehdung zurückzuführen sind, EU-weit um 6 % an; die Emissionen pro Kilogramm Fleisch gingen hingegen zurück.

4.9.

Angesichts der Tatsache, dass die Luftverschmutzung ein grenzüberschreitendes Phänomen darstellt, ist es nach Auffassung des EWSA unbedingt erforderlich, dass die Mitgliedstaaten — gemäß den auf Unionsebene vereinbarten Zielen und Grundsätzen — koordiniert vorgehen und zugleich den Grundsatz der Subsidiarität wahren. Es gibt diesbezügliche Erfolgsbeispiele, und wir müssen möglichst viele derartige Initiativen unterstützen.

4.10.

Der Ausschuss ist überzeugt, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten im Sinne einer besseren Harmonisierung der europäischen und nationalen Strategien eng mit der Zivilgesellschaft, die die Bevölkerung sensibilisiert sowie Programme auf lokaler und regionaler Ebene ausarbeitet, zusammenarbeiten müssen.

4.11.

Der EWSA begrüßt den in der Europäischen Union bestehenden breiten Konsens bezüglich des Klimaschutzübereinkommens von Paris und vertritt die Auffassung, dass die EU ihre Anstrengungen im Geiste dieses Konsenses verfolgen und auf die Verwirklichung der gesteckten Ziele hinarbeiten muss, was auch zu einer besseren Luftqualität führen wird.

4.12.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten, die das noch nicht getan haben, auf, Strategien zur Abschaffung der Kohle als Energiequelle auszuarbeiten. Sieben Mitgliedstaaten haben die Kohle bereits aus dem Energiemix ausgeschlossen und neun weitere planen einen derartigen Schritt (18).

4.13.

Nach Auffassung des EWSA sollte die Union bewährte Verfahren auch mit internationalen Partnern austauschen. Wir können die Auswirkungen der Luftverschmutzung in anderen Teilen der Welt nicht ignorieren, da sie sich sowohl direkt als auch indirekt auf uns auswirken können. Das Netz der Umweltdiplomatie und eine kohärente Entwicklungspolitik sind wichtiger denn je.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Air quality in Europe — 2017 report (Luftqualität in Europa — Bericht für 2017).

(2)  Weltweit atmen neun von zehn Menschen verschmutzte Luft, aber es gibt inzwischen immer mehr Länder, die Gegenmaßnahmen ergreifen.

(3)  Air quality in Europe — 2017 report (Luftqualität in Europa — Bericht für 2017).

(4)  Spezial-Eurobarometer 468 „Einstellung der europäischen Bürger gegenüber der Umwelt“.

(5)  Air quality in Europe — 2017 report (Luftqualität in Europa — Bericht für 2017).

(6)  COM/2017/0653 final — 2017/0291 (COD)

(7)  COM/2017/0652 final

(8)  COM/2017/0648 final — 2017/0290 (COD)

(9)  COM/2017/0647 final — 2017/0288 (COD)

(10)  ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 134.

(11)  ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 83.

(12)  Europäischer Rechnungshof, Sonderbericht Nr. 23/2018.

(13)  Weltgesundheitsorganisation: Residential heating with wood and coal: health impacts and policy options in Europe and North America (Wohnraumbeheizung mit Holz und Kohle: gesundheitliche Auswirkungen und strategische Optionen in Europa und Nordamerika).

(14)  Spezial-Eurobarometer 468 „Einstellung der europäischen Bürger gegenüber der Umwelt“.

(15)  Air quality in Europe — 2017 report (Luftqualität in Europa — Bericht für 2017).

(16)  Europäischer Rechnungshof, Sonderbericht Nr. 23/2018.

(17)  Markus Amann, Measures to address air pollution from agricultural sources (Maßnahmen zur Verringerung der Luftverschmutzung aus landwirtschaftlichen Quellen).

(18)  Overview: National coal phase-out announcements in Europe (Überblick: Ankündigungen der europäischen Staaten zum Kohleausstieg).Europe Beyond Coal (Europa nach der Kohle).


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/118


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 des Rates und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 768/2005, (EG) Nr. 1967/2006, (EG) Nr. 1005/2008 des Rates und der Verordnung (EU) 2016/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Fischereiaufsicht“

(COM(2018) 368 final — 2018/0193 (COD))

(2019/C 110/22)

Berichterstatter:

Emilio FATOVIC

Befassung

Europäisches Parlament, 10.9.2018

Rat, 5.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Beschluss des Plenums

19.6.2018 und 18.9.2018

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

27.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

219/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) befürwortet im Wesentlichen den Legislativvorschlag der Kommission zur Fischereiaufsicht. Nichtsdestotrotz wurden einige von den Interessenträger des Sektors aufgezeigte Probleme nicht gebührend berücksichtigt bzw. klar gelöst.

1.2.

Der EWSA bekräftigt den Grundsatz, wonach das Konzept der Nachhaltigkeit aus wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Sicht betrachtet werden muss. In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, dass der Kommissionsvorschlag eine klare Abschätzung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen vermissen lässt. Angesichts der schweren Krise des Sektors in verschiedenen europäischen Ländern, die beträchtliche Auswirkungen auf die Beschäftigung und die Wirtschaft der Küstengemeinden hat, wäre eine solche Folgenabschätzung hingegen zweckmäßig.

1.3.

Im Verordnungsvorschlag werden zwei schwerwiegende und wichtige Aspekte außer Acht gelassen: der Brexit und der Klimawandel. Beide Faktoren werden auf sich unterschiedliche Weise auf die Fangmethoden und -gebiete auswirken und bedürfen angemessener Maßnahmen und Handlungen, um im Fischereisektor keine Ungleichgewichte zu verursachen.

1.4.

Das Kontroll- und Sanktionssystem, das auf einem Punktesystem für die Fanglizenzen beruht, muss EU-weit einheitlich umgesetzt werden, um sowohl für einen lauteren Wettbewerb zwischen den Akteuren zu sorgen als auch die Qualität und Rückverfolgbarkeit von Fischereierzeugnissen im Interesse der Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger Europas sicherzustellen. Gleichzeitig müssen Sanktionen auf Risikomanagementkriterien basieren, angemessen sein und abschreckend wirken.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Digitalisierung mit Sicherheit ein wichtiges Instrument ist, um wirksame und effiziente Kontrollen sicherzustellen. Der EWSA weist aber darauf hin, dass die Pflichten für Fischer im Vergleich zur vorangegangenen Regelung nicht bedeutend weniger geworden sind (das gilt insbesondere für die kleine Fischerei) und auch nicht, wie von der Kommission angekündigt, in ausreichendem Maße vereinfacht wurden. Es wird empfohlen, weitere ergänzende Untersuchungen zur praktischen Umsetzbarkeit bestimmter Vorschriften mit besonderem Augenmerk auf Schiffe mit einer Länge von unter 10 Metern durchzuführen.

1.6.

Der EWSA lehnt die horizontale Verpflichtung zur Installation eines Video-Überwachungssystems (CCTV) auf Fischereifahrzeugen ab, da sie im Widerspruch zu den Kernarbeitsnormen, den Vorschriften im Bereich Schutz der Privatsphäre und dem Schutz von Betriebsgeheimnissen steht. Er schlägt hingegen vor, dass die Mitgliedstaaten in bestimmten Flottensegmenten, in denen schwere Verstöße verbreitet und häufig sind, Risikobewertungen durchführen, und dass die Kontrollbehörden die Schiffe je nach deren früheren Verstößen zur Installation des CCTV verpflichten. In Bezug auf die Überwachung der Pflicht zur Anlandung schlägt der EWSA einen verstärkten Einsatz von Beobachtern an Bord vor und empfiehlt die Schaffung eines freiwilligen Mechanismus der Einführung des CCTV mit Anreizen für jene Bootseigner, die daran teilnehmen wollen. Gleichzeitig wird empfohlen, für Schiffe, die wiederholt schwere Verstöße begangen haben, eine vorübergehende Pflicht zum CCTV einzuführen.

1.7.

Der neue EMFF 2021-2027 wird bei der Anpassung der europäischen Schiffe an die neuen Rechtsvorschriften eine Schlüsselrolle spielen. Es ist überaus wichtig, dass die Mittel für alle Antragsteller auf nationaler Ebene leicht zugänglich sind. Der Ausschuss ist insbesondere gegen die Einführung rückwirkender Vorschriften, die bereits im Falle eines einzigen schweren Verstoßes die Eigner zur Rückzahlung eventueller zuvor erhaltener und ordnungsgemäß gemeldeter Finanzmittel verpflichten.

1.8.

Der EWSA erinnert daran, dass die meisten Betrugsfälle und Verstöße gegen die Kernarbeitsnormen und Umweltvorschriften Drittstaaten betreffen. Dennoch gelangt der Fisch aus diesen illegalen Praktiken noch relativ leicht auf die Teller der europäischen Bürgerinnen und Bürger. Es ist wichtig, dass im Rahmen der neuen Rückverfolgbarkeitssysteme auch diese Probleme angegangen werden und die gesamte Lieferkette überwacht wird. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass es auch heute noch auf einigen europäischen Schiffen zu ausbeuterischen Beschäftigungspraktiken kommt. Folglich wird empfohlen, dass diese Praktiken von den Kontrollbehörden besonders aufmerksam verfolgt und hart bestraft werden, um sie endgültig zu beseitigen.

1.9.

Der EWSA stellt insbesondere fest, dass sich Erfolgsmodelle von mehrjährigen Fangplänen für die nur eine Art umfassende Fischerei kaum wirksam auf die Mehrartenfischerei übertragen lassen, was mit schwerwiegenden Folgen für die Umwelt und die Wirtschaft einhergeht. Aus diesem Grund empfiehlt der EWSA eine ausführlichere Erhebung von Daten zu den Beständen, um daraus bedarfsgerechte Strategien zu entwickeln, die besser dazu geeignet sind, die biologische Vielfalt zu schützen, ohne dem Fischereisektor zu sehr zu schaden.

1.10.

Nach Ansicht des EWSA sollte das geplante Anreizsystem für Fischer, Fanggeräte an Land zu bringen, auf alle Abfälle ausgedehnt werden, die während der Fischereitätigkeit im Meer aufgesammelt werden. Diese Initiative wäre für die Sauberkeit der Meere von entscheidender Bedeutung, denn bislang kommen die Fischer für die Säuberung der Meeresverschmutzung auf, die sie nicht verursacht haben. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Fischer im Zuge einer entsprechenden Schulung einen wichtigen Beitrag leisten und einerseits zur Sauberkeit des Meeres beitragen und andererseits einen positiven wirtschaftlichen Gesamtkreislauf für diese Tätigkeit schaffen könnten.

2.   Einleitung

2.1.

Der Erfolg der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) hängt im Wesentlichen von der Umsetzung einer wirksamen Überwachungs- und Durchsetzungsregelung ab. Solche Maßnahmen sind in vier verschiedenen Rechtsakten dargelegt: 1) in der Fischereikontrollverordnung, 2) in der Verordnung zur Errichtung einer Europäischen Fischereiaufsichtsagentur (EFCA), 3) in der Verordnung über ein System zur Bekämpfung der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten Fischerei (IUU-Verordnung) und 4) in der Verordnung über die nachhaltige Bewirtschaftung von Außenflotten.

2.2.

Mit Ausnahme der kürzlich überarbeiteten Verordnung über die nachhaltige Bewirtschaftung von Außenflotten war die derzeitige Fischereikontrollregelung vor der reformierten GFP erstellt worden und ist somit nicht vollständig mit dieser kohärent. Zudem sind diese Regelungen mehr als zehn Jahre alt und berücksichtigen weder die aktuellen und künftigen Erfordernisse hinsichtlich Fischereidaten und Flottenüberwachung, noch sind sie für die neuen Fangmethoden und Fangtechniken und die neuen Überwachungstechnologien und Datenaustauschsysteme angemessen. Schließlich werden in der derzeitigen Regelung von der Union verabschiedete Initiativen wie die Strategie für Kunststoffe, die Strategie für einen digitalen Binnenmarkt und die internationale Meerespolitik nicht berücksichtigt.

2.3.

Obgleich also die derzeitige Fischereikontrollregelung zur Verbesserung der bisherigen Situation beigetragen hat, wurden in der REFIT-Bewertung der Kommission, einem Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofs und einer Entschließung des Europäischen Parlaments bestimmte Schwachstellen festgestellt. Die Interessenträger haben die Nachteile des derzeitigen Systems bestätigt. Aus diesen Überlegungen hat sich ergeben, dass das geltende Regelwerk in seiner Gesamtheit überarbeitet werden muss.

3.   Zusammenfassung des Vorschlags der Kommission

3.1.

Der Vorschlag der Kommission dient der Änderung von fünf Verordnungen und verfolgt folgende Zielsetzungen: 1) Schließen der Lücken zwischen der GFP und anderen politischen Strategien der EU, 2) Vereinfachung des Rechtsrahmens und Verringerung von unnötigem Verwaltungsaufwand, 3) Verbesserung der Verfügbarkeit, Verlässlichkeit und Vollständigkeit von Fischereidaten, insbesondere von Fangdaten, und Ermöglichen des Datenaustauschs und der gemeinsamen Nutzung von Daten und 4) Beseitigung von Hindernissen, die der Entwicklung einer Kultur der Rechtstreue und der Gleichbehandlung von Betreibern innerhalb der Mitgliedstaaten und zwischen den Mitgliedstaaten entgegenstehen.

3.2.   Änderungen an der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 des Rates (1) zur Einführung einer gemeinschaftlichen Kontrollregelung zur Sicherstellung der Einhaltung der Vorschriften der Gemeinsamen Fischereipolitik

3.2.1.

Inspektion und Überwachung: Klarstellung des Inspektionsprozesses, der Pflichten der Inspektoren sowie der Kapitäne und der Betreiber. Die Inspektionsberichte werden digitalisiert, wodurch die Nutzung von Daten und der Datenaustausch zwischen den zuständigen Behörden und den Mitgliedstaaten erleichtert wird.

3.2.2.

Sanktionen: Es wird eine Liste gemeinsamer Kriterien eingeführt, anhand derer bestimmte Verstöße als schwer eingestuft werden. Es werden zwingende administrative Sanktionen und Mindestgeldbußen für schwere Verstöße aufgestellt, um die Abschreckung und Wirksamkeit des Sanktionssystems in allen Mitgliedstaaten zu erhöhen und gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Des Weiteren wird das Punktesystem für Schiffe mit Lizenz ausgebaut und präzisiert.

3.2.3.

Daten: Es werden verbindliche digitale Systeme zur Ortung und Meldung der Fänge eingeführt, die für alle Fischereifahrzeuge der EU gelten, einschließlich für Schiffe mit einer Länge über alles (LOA) von weniger als 12 m. Für die kleine Fischerei ist ein vereinfachtes System mittels Mobiltelefon vorgesehen. Die Freizeitfischerei wird ebenfalls einer strengeren Kontrolle unterworfen. Mithilfe digitaler Instrumente soll sichergestellt werden, dass die gesamte Lieferkette (einschließlich aus Drittländern eingeführte Erzeugnisse) rückverfolgt werden kann und die an Bord stattfindenden Tätigkeiten systematisch überwacht werden. Dazu sollen auch Video-Überwachungssysteme (CCTV) zur Kontrolle der Pflicht zur Anlandung zum Einsatz kommen.

3.2.4.

Angleichung an andere Strategien der EU: Die Meldung von verloren gegangenem Fanggerät wird durch ein genaueres Ausfüllen des (elektronischen) Logbuchs vereinfacht. Die Verpflichtung, die erforderliche Ausrüstung zur Bergung von verlorenen gegangenem Fanggerät an Bord mitzuführen, wird auf Fischereifahrzeuge unter 12 m Länge ausgeweitet. Es werden Bestimmungen hinsichtlich der Markierung und Kontrolle von Fanggeräten für die Freizeitfischerei festgelegt.

3.3.   Änderungen an der Verordnung (EG) Nr. 768/2005 des Rates (2) zur Errichtung einer Europäischen Fischereiaufsichtsagentur

3.3.1.

In dem Vorschlag wird der geografische Anwendungsbereich der Kontrollbefugnisse der Europäischen Fischereiaufsichtsagentur ausgedehnt. Dieser beschränkt sich nicht mehr auf internationale Gewässer. Die Verwaltung und der Austausch von Daten und auch die Finanzierungsverfahren der Agentur werden vereinfacht.

3.3.2.

Die Europäische Kommission hat diese Maßnahmen mit dem im Juli 2018 vorgelegten Vorschlag COM(2018) 499 zur Kodifizierung der Verordnung (EG) Nr. 768/2005 über die Europäische Fischereiaufsichtsagentur eingeführt, mit dem die diversen Vorschriften, die in dieser Verordnung enthalten sind, ersetzt bzw. übernommen werden. Dieser Vorschlag wurde vom EWSA bereits in einer gesonderten Stellungnahme (3) befürwortet.

3.4.   Änderungen an der Verordnung (EG) Nr. 1005/2008 des Rates (4) über ein Gemeinschaftssystem zur Verhinderung, Bekämpfung und Unterbindung der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten Fischerei

3.4.1.

Die auf die Fangbescheinigungsregelung der EU bezogenen Änderungen sehen die Schaffung einer Datenbank für die Verwaltung von Fangbescheinigungen (CATCH) vor, wodurch risikobasierte Kontrollen ermöglicht, die Gelegenheiten für betrügerische Einfuhren eingeschränkt und der Verwaltungsaufwand für die Mitgliedstaaten verringert werden. Die operationellen Funktionen der CATCH-Datenbank werden stufenweise entwickelt. Hinsichtlich der Funktion und der weiteren Entwicklung von CATCH werden der Kommission Befugnisse zum Erlass von delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten übertragen. Die Inspektion und die Sanktionen werden an das neue Regelungsumfeld angeglichen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Die Rechtsetzungsinitiative der Kommission, die mit den Standpunkten der Mitgliedstaaten, der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften und Interessenträger im Einklang steht, wird im Allgemeinen befürwortet. Ziel dieser Initiative war es, den Rechtsrahmen für die Kontrollen zu präzisieren, zu vereinfachen, zu modernisieren und an die Entwicklungen in der Politik und der Rechtsetzung anzupassen und somit für Rechtssicherheit und die einheitliche Anwendung dieses Rahmens innerhalb der gesamten Europäischen Union zu sorgen.

4.2.

Eine genaue Analyse des Vorschlags hat ergeben, dass einige von den Interessenträgern des Fischereisektors genannten Probleme (z. B. zur Anlandeverpflichtung, Überbürokratisierung, Verhältnismäßigkeit des Sanktionssystems) trotz des umfassenden von der Kommission angeführten Konsultationsprozesses in dem neuen Legislativvorschlag nicht ausreichend berücksichtigt wurden bzw. dieser keine klaren Lösungen enthält (5).

4.3.

Der EWSA bekräftigt den Grundsatz, wonach das Konzept der Nachhaltigkeit aus wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Sicht betrachtet werden muss. In diesem Sinne bleibt die nachhaltige Fischerei das Hauptziel. Aber der Fischereisektor muss auch in die Lage versetzt werden, dieses Ziel zu erreichen. Aus diesem Grund dürfen die Umweltmaßnahmen nicht losgelöst von anderen Schlüsselaspekten betrachtet werden, die es zu verbessern gilt, wie Arbeitsbedingungen und Sicherheit am Arbeitsplatz, Generationenwechsel, Rentabilität der Unternehmen, Ausbildung von Fachpersonal, Lebensfähigkeit von Küstengemeinden.

4.4.

Es wird darauf hingewiesen, dass in den Verordnungsvorschlägen zwei schwerwiegende und wichtige Aspekte außer Acht gelassen wurden: Brexit und Klimawandel. Der erste dürfte eine umfassende Überarbeitung des Stabilitätsmechanismus sowie eine Reduzierung der Fangmöglichkeiten in bislang europäischen Gewässern mit sich bringen. Der Klimawandel wiederum verursacht erhebliche Veränderungen im Verhalten und in den Lebensräumen der Fische; Fischwanderungen werden immer häufiger.

4.5.

Der EWSA weist darauf hin, dass der Vorschlag der Kommission sich nicht auf eine eindeutige Folgenabschätzung bezüglich der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen stützt. Dies ist umso schwerwiegender, als sich der Fischereisektor seit mehr als 20 Jahren in einigen EU-Regionen in einer Krise befindet und die bislang von der Kommission bezüglich Nachhaltigkeit und Aquakultur eingeleiteten Maßnahmen keine Kehrtwende herbeigeführt haben (6). Deshalb fordert der Ausschuss die unverzügliche Einbindung der GD Beschäftigung und die Einleitung eines sektorbasierten sozialen Dialogs (7), um die am besten geeigneten Maßnahmen für die Abschätzung und ggf. die Kompensation der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Vorschläge zu ermitteln (8).

4.6.

Im jüngsten Bericht des Europäischen Rechnungshofs wird vorrangig gefordert, dass das Kontroll- und Sanktionssystem, das auf einem Punktesystem für die Fanglizenzen beruht, EU-weit einheitlich umgesetzt wird, um sowohl für einen lauteren Wettbewerb zwischen den Akteuren zu sorgen als auch die Qualität und Rückverfolgbarkeit von Fischereierzeugnissen im Interesse der Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger Europas sicherzustellen.

4.7.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Digitalisierung mit Sicherheit ein wichtiges Instrument ist, um wirksame und effiziente Kontrollen sicherzustellen. Ebenso positiv anzumerken ist, dass für Schiffe mit einer Länge über alles (LOA) von weniger als 12 Metern vereinfachte digitale Überwachungsgeräte vorgesehen sind (z. B. Mobiltelefon für die Ortung, auch wenn es auf offener See in weiten Bereichen keine Netzabdeckung gibt, was eine Überwachung der Schiffe unmöglich macht). Der EWSA weist aber darauf hin, dass die Pflichten für Fischer im Vergleich zur vorangegangenen Regelung nicht bedeutend weniger geworden sind (das gilt insbesondere für die kleine Fischerei) und auch nicht, wie von der Kommission angekündigt, in ausreichendem Maße vereinfacht wurden.

4.8.

Die digitalen Überwachungsgeräte sollen Einsparungen sowohl im Hinblick auf die Kosten als auch auf die Zeit ermöglichen. Die Ausweitung der Pflichten auf die kleine Fischerei wäre möglich, da die Mitgliedstaaten in dem ihnen zur Verfügung stehenden Übergangszeitraum von zwei Jahren den lokalen Besonderheiten Rechnung tragen können; für Boote mit weniger als 10 Metern LOA, oft ohne Steuerhaus und mit nur einer Person an Bord, könnte sie allerdings eine Belastung darstellen; Für diesen Sonderfall wird eine zusätzliche Untersuchung zur praktischen Umsetzbarkeit empfohlen, um ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Notwendigkeit der Überwachung und der tatsächlichen Fähigkeit der Fischer, all diese Aufgaben wahrzunehmen.

4.9.

In diesem Zusammenhang dürften nach Ansicht des EWSA die zur Klarstellung des Sanktionssystems eingeführten Maßnahmen sicherlich nützlich sein. Es ist aber von entscheidender Bedeutung, dass diese in den einzelnen Mitgliedstaaten einheitlich angewandt werden und auf echten Risikomanagementkriterien basieren, die angemessen sind und abschreckend wirken. Aus der Analyse des Vorschlags ergeben sich einige widersprüchliche Aspekte wie die Anknüpfung der Höhe der Sanktionen an den Marktwert der gefangenen Fische (das Zwei- bis Fünffache des Wertes des Erzeugnisses), der je nach Gebiet, Jahreszeit und Bestand der betreffenden Art sehr unterschiedlich ausfallen kann und auch einen Anreiz zum Gesetzesverstoß bewirken könnte.

4.10.

Der EMFF ist für den Übergang zum neuen von der Kommission vorgesehenen Kontrollsystem entscheidend und unentbehrlich. Der Ausschuss lehnt das bereits im derzeitigen Überwachungssystem und im aktuellen EMFF enthaltene Prinzip ab, wonach ein schwerer Verstoß zur sofortigen Rückzahlung eventuell in den fünf vorangegangenen Jahren erhaltener europäischer Mittel führt. Diese strenge und rückwirkende Maßnahme ist einer der Hauptgründe für die Verzögerungen bei der Erfüllung der Zielsetzungen des EMFF, da viele Fischer keine EU-Mittel beantragen, weil sie fürchten, sie bei als schwer eingestuften Verstößen, die bisweilen ein eher geringes Bußgeld nach sich ziehen, zurückerstatten zu müssen. Bei den Sanktionen muss daher verstärkt auf die Verhältnismäßigkeit geachtet werden, damit aus der Abschreckung keine Demotivation wird.

4.11.

Der EWSA lehnt die Verpflichtung zur Installation eines Video-Überwachungssystems (CCTV) auf Fischereifahrzeugen zur Überwachung der Pflicht zur Anlandung entschieden ab. Diese Art von Maßnahmen steht seiner Ansicht nach im Widerspruch zu den Kernarbeitsnormen, den Vorschriften im Bereich Schutz der Privatsphäre und dem Schutz von Betriebsgeheimnissen, insbesondere, da sie horizontaler Natur sind und durch eventuelle Risiken aufgrund früherer wiederholter Verstöße nicht gerechtfertigt werden können. Er schlägt hingegen vor, dass die Mitgliedstaaten in bestimmten Flottensegmenten, in denen schwere Verstöße verbreitet und häufig sind, Risikobewertungen durchführen, und dass die Kontrollbehörden die Schiffe je nach deren früheren Verstößen zur Installation des CCTV verpflichten. Der Ausschuss ist überzeugt, dass sich die Ziele der ökologischen Nachhaltigkeit und der wirtschaftlichen Neubelebung des Sektors nicht über eine Überwachung und Kontrolle der Fischereitätigkeiten im Stil von „Big Brother“ erreichen lassen, sondern nur mit Hilfe klarer, feststehender und transparenter Vorschriften und Sanktionen, die unionsweit wirksam und einheitlich angewandt werden.

4.12.

Der EWSA schlägt insbesondere vor, den Einsatz von Beobachtern an Bord zu stärken. Des Weiteren wird die Schaffung eines freiwilligen Mechanismus zur Einführung des CCTV anhand von Anreizen vorgeschlagen, zum Beispiel durch die Möglichkeit, die eigene Fangquote für Arten, für die der höchstmögliche Dauerertrag erreicht wurde, zu erhöhen, indem auf die gegebenenfalls verfügbare Fangreserve des Mitgliedstaats zurückgegriffen wird, oder durch ein Verfahren für die vorrangige und vereinfachte Überwachung und Anlandung. Gleichzeitig wird empfohlen, für Schiffe, die wiederholt schwere Verstöße begangen haben, eine vorübergehende Pflicht zum CCTV einzuführen.

4.13.

Der EWSA ist der Ansicht, dass der neue EMFF 2021-2027 eine Schlüsselrolle bei der Anpassung der europäischen Schiffe an die neuen Rechtsvorschriften spielen wird. Es ist insbesondere wichtig, dass die Mittel für alle Antragsteller auf einzelstaatlicher Ebene leicht zugänglich sind.

4.14.

Der EWSA hat auch bereits in früheren Stellungnahmen (9) den Standpunkt vertreten, dass es wichtig ist, die Fangkapazität anhand angemessenerer Parameter in Bezug auf die Tonnage und die Maschinenleistung festzulegen, da diese Faktoren für die Sicherheit der Mannschaft an Bord sowie zum Erreichen eines nachhaltigeren CO2-Ausstoßes von wesentlicher Bedeutung sind.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Die Überfischung ist sicherlich eine der wichtigsten Ursachen für den Rückgang der Fischbestände im Meer. Nach Auffassung des Ausschusses sollten neben diesem Aspekt jedoch auch andere, für die Meerestiere und -pflanzen ebenfalls schädliche Aspekte berücksichtigt werden, so etwa die Umweltverschmutzung, der Klimawandel, der Seeverkehr und Unterwasserbohrungen (Lärmbelästigung). Ein offenerer Ansatz ist für die Erarbeitung effizienter Strategien für den Schutz mariner Lebensräume von entscheidender Bedeutung.

5.2.

Ein wirksames Sanktionssystem muss leicht und einfach umzusetzen sein, damit es wirksam abschreckt. Der Ausschuss weist darauf hin, dass das Punktesystem unter Umständen die Mannschaft bestrafen kann, obwohl es die Entscheidungen und das Verhalten des Kapitäns des Fischereifahrzeugs sind, die faktisch bestraft werden sollen, und zwar auch mit schwerwiegenden Maßnahmen bis hin zur Aussetzung der Fanglizenz. Während der Aussetzung der Fanglizenz (10) müssen Schutzmaßnahmen für die Arbeitnehmer auf den Fischereifahrzeugen ergriffen werden, die nach Fang bezahlt werden und Gefahr laufen, keinen Lohn zu erhalten oder sich Arbeit auf einem anderen Schiff suchen oder die Beschäftigung ganz wechseln zu müssen. Da es sich hier um einen Sektor in Schwierigkeiten handelt, drohen die Aussichten auf eine Erholung des Sektors mit der fortlaufenden Abwanderung von Arbeitskräften, Kompetenzen und Fachwissen noch kleiner zu werden.

5.3.

Der EWSA befürwortet den Vorschlag, das Überwachungssystem auch auf die Freizeitfischerei auszudehnen, bei der in jüngerer Zeit viele Fälle der Umgehung der für die „klassische“ Fischerei geltenden Vorschriften aufgetreten sind. Insbesondere wird empfohlen, der Freizeitfischerei als Einkommensquelle besondere Aufmerksamkeit zu schenken und sie von der Freizeitfischerei als Hobby und für den Eigenbedarf zu unterscheiden. Diese Maßnahme ist ein wesentlicher Schritt, um die Fischer zu schützen, die sich an die Vorschriften halten, und um Formen des unlauteren Wettbewerbs sowie, in den schwereren Fällen, der illegalen Fischerei zu bekämpfen.

5.4.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass es sehr wichtig ist, die Rückverfolgbarkeit von Fischereierzeugnissen sicherzustellen. Die Abschaffung der Ausnahme von der Pflicht zur Eintragung der an Bord mitgeführten Fangmengen von weniger als 50 kg in das Logbuch wird jedoch möglicherweise vor allem kleinere Fischer vor große Schwierigkeiten stellen. Diese könnten für diese bürokratischen Formalitäten, die in Meeren mit großer Artenvielfalt wie dem Mittelmeer sehr aufwendig sein können, sehr viel Zeit zu verlieren, ehe sie anlanden dürfen, und können damit den gefangenen Fisch nicht zum besten Preis verkaufen. Daher wird empfohlen, den jetzigen Schwellenwert beizubehalten, und aufmerksam zu überwachen, dass dies keine unterwünschten Auswirkungen mit sich bringt.

5.5.

Der von der Kommission vorgeschlagene neue Mechanismus zur Rückverfolgbarkeit wird insbesondere im Hinblick auf eingeführte Erzeugnisse befürwortet. Die meisten Betrugsfälle und Verstöße gegen die Kernarbeitsnormen (ILO-Übereinkommen) und Umweltvorschriften betreffen nämlich Drittstaaten. Dennoch gelangt der Fisch aus diesen illegalen Praktiken noch relativ leicht auf die Teller der europäischen Bürgerinnen und Bürger. Dennoch gibt es auch heute noch auf einigen europäischen Schiffen ausbeuterische Beschäftigungspraktiken (11), die von den Kontrollbehörden besonders aufmerksam verfolgt und hart bestraft werden sollten, um sie endgültig zu beseitigen.

5.6.

Der Ausschuss weist darauf hin, dass das engmaschige Netz an Kontrollen für die Zwecke der Rückverfolgbarkeit nicht beim Erstverkauf unterbrochen werden darf, da eine Kontrolle der gesamten Lieferkette vom Meer bis zum Endverbraucher sichergestellt werden muss. Auch in diesem Fall wird empfohlen, die aktive Beteiligung aller Interessenträger, vom Großhandel über die Verarbeitung bis hin zum Einzelhandel, sicherzustellen.

5.7.

Die Erklärung von Malta aus dem Jahr 2017 „MedFish4Ever“ ist ein Eckstein in der Strategie der EU. Dennoch ist der EWSA der Auffassung, dass die technischen Maßnahmen und die Maßnahmen zur Erhaltung von Fischbeständen an die unterschiedlichen Fangmethoden und die biologischen Merkmale des jeweiligen Meeres angepasst werden sollten. Der EWSA hat insbesondere festgestellt, dass sich Erfolgsmodelle von Fangplänen für die nur eine Art umfassende Fischerei kaum wirksam auf die Mehrartenfischerei übertragen lassen, was mit schwerwiegenden Folgen für die Umwelt und die Wirtschaft einhergeht (12). Aus diesem Grund empfiehlt der EWSA eine ausführlichere Erhebung von Daten zu den Beständen, um daraus bedarfsgerechte Strategien zu entwickeln, die besser dazu geeignet sind, die biologische Vielfalt zu schützen, ohne dem Fischereisektor zu sehr zu schaden (13).

5.8.

Der EWSA hat bereits in früheren Stellungnahmen (14) dargelegt, dass die Kombination aus einer strengen Quotenregelung und der neuen Pflicht zur Anlandung eines der großen Probleme des Sektors ist. Die hohen Kosten für den Übergang zu einer nachhaltigeren Fischerei (z. B. selektive Fanggeräte) müssen in vollem Umfang durch den EMFF unterstützt werden. Der EWSA fordert ein vereinfachtes, auf eine Risikoanalyse gestütztes pragmatisches Überwachungssystem und wünscht sich dazu eine umfassende Maßnahme auf einzelstaatlicher Ebene mit Unterstützung der Interessenträger, um den Übergang für eine große Zahl an Fischereifahrzeugen zu unterstützen.

5.9.

Gemäß dem Vorschlag der Kommission soll das Wiegen aller Fischereierzeugnisse durch einen registrierten Betreiber bei der Anlandung, also vor der Lagerung, dem Transport oder dem Verkauf, erfolgen. Nach Ansicht des EWSA ist es wichtig, die jetzige Möglichkeit der Durchführung von Stichprobenkontrollen beizubehalten. Darüber hinaus wird empfohlen, in Fällen, in denen die Fischereierzeugnisse vor der Vermarktung transportiert werden bzw. der Erstverkauf in einem Drittland stattfindet, die aktuelle Frist für die Übermittlung der erforderlichen Unterlagen an die zuständigen Behörden (innerhalb von 48 Stunden nach der Anlandung) beizubehalten, um Verzögerungen und daraus resultierende Qualitätsverluste zu vermeiden.

5.10.

Der EWSA hat den Vorschlag der Kommission zu Einwegkunststoffartikeln begrüßt (15), insbesondere die Anreize dafür, unbrauchbar gewordene oder beschädigte Fanggeräte zurück an Land zu bringen, damit sie leichter recycelt werden können (16). Zusammen mit der neuen Strategie für Häfen (17) eröffnet diese Maßnahme neue Szenarien und Chancen für die nachhaltige Fischerei und die Kreislaufwirtschaft. Nach Ansicht des EWSA sollte das geplante Anreizsystem für Fischer, Fanggeräte an Land zu bringen, auf alle Arten von Abfällen ausgedehnt werden, die während der Fischereitätigkeit im Meer aufgesammelt werden. Darüber hinaus sollte geprüft werden, ob die größere Verantwortlichkeit der Erzeuger nicht dazu führt, dass den Unternehmen im Fischereisektor höhere Kosten für die Anschaffung von Netzen anfallen. Der EMFF könnte das am besten geeignete Finanzinstrument zur Unterstützung dieses Prozesses sein.

5.11.

Diese Initiative würde einen wichtigen Beitrag zur Sauberkeit der Meere leisten, denn bislang müssen die Fischer für die Kosten aufkommen, die entstehen, um die während der Fischerei aufgesammelten Abfälle an Land zu bringen. Diese Abfälle machen unter anderem 90 % des Fangguts aus, und die Fischer müssen diese trennen und sie, wenn ihre Kategorisierung nicht möglich ist, als „Sondermüll“ einstufen, was besondere Formen der Behandlung nach sich zieht. In der Praxis bedeutet das, dass die Fischer nach den geltenden Rechtsvorschriften für die Säuberung des Meeres von einer Verschmutzung aufkommen müssen, für die sie nicht verantwortlich sind. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Fischer im Zuge einer entsprechenden Schulung einen wichtigen Beitrag leisten und einerseits zur Sauberkeit des Meeres beitragen und andererseits einen positiven wirtschaftlichen Gesamtkreislauf für diese Tätigkeit schaffen könnten (18).

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. L 343 vom 22.12.2009, S. 1.

(2)  ABl. L 128 vom 21.5.2005, S. 1.

(3)  EWSA-Stellungnahme NAT/756 zur Europäischen Fischereiaufsichtsagentur (kodifizierter Text) ( ABl. C 62 vom 15.2.2019, S 310).

(4)  ABl. L 286 vom 29.10.2008, S. 1.

(5)  Der Beirat für das Mittelmeer (MEDAC), der Beirat für die Fernflotte (LDAC) und Europeche haben wiederholt spezielle Anfragen und Vorschläge zur Überwindung der aktuellen Probleme des Sektors vorgelegt, die in das von der Kommission vorgeschlagene Legislativpaket keinen Eingang gefunden haben.

(6)  In Italien ist an 8 000 km Küstenlinie die Zahl der Fischerfahrzeuge in den letzten 30 Jahren um ca. 33 % zurückgegangen. Die Schiffe sind durchschnittlich 34 Jahre alt und brauchen dringend notwendige Aufrüstungen oder müssen durch neue ersetzt werden. 18 000 Arbeitsplätze sind in diesem Zeitraum verloren gegangen (der Fischereisektor in Italien beschäftigt 27 000 Arbeitnehmer). Angaben: italienisches Ministerium für Landwirtschafts-, Ernährungs- und Forstpolitik, 2016.

(7)  Im Rahmen des EU-Ausschusses für den sektoralen sozialen Dialog — Seefischerei (EUSSDC).

(8)  EWSA-Stellungnahme NAT/749 zum Europäischen Meeres- und Fischereifonds (EMFF) (siehe S. 104 dieses Amtsblatts).

(9)  EWSA-Stellungnahme NAT/749 zum Europäischen Meeres- und Fischereifonds (EMFF) (siehe Fußnote 8).

(10)  Die Fanglizenz kann, je nach Häufigkeit des wiederholten Verstoßes, für die Dauer von mindestens vier Monaten bis maximal einem Jahr ausgesetzt oder sogar endgültig entzogen werden.

(11)  Siehe Artikel im The Guardian „We thought slavery had gone away“: African men exploited on Irish boats.

(12)  Allgemeine Kommission für die Fischerei im Mittelmeer (GFCM), The State of Mediterranean and Black Sea Fisheries [Der Zustand der Fischerei im Mittelmeer und im Schwarzen Meer], 2016, S. 26. Wie von der GFCM-FAO hervorgehoben, ist es in monospezifischen Meeren leichter, eine gezielte Befischung durchzuführen, da dort nur wenige Fischarten koexistieren; demzufolge ist eine Festsetzung von Fangbeschränkungen einfacher. Demgegenüber findet man in Meeren mit mehreren Arten viele unterschiedliche Fischarten im gleichen Gebiet.

(13)  EWSA-Stellungnahme zum Mehrjahresplan für die Fischerei kleiner pelagischer Arten in der Adria (ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 68). EWSA-Stellungnahme NAT/749 zum Europäischen Meeres- und Fischereifonds (EMFF) (siehe Fußnote 8).

(14)  EWSA-Stellungnahme zur Anlandeverpflichtung (ABl. C 311 vom 12.9.2014, S. 68). Ziffer 1.2 „Seines Erachtens ist der Verordnungsvorschlag allerdings zu komplex und verursacht den Fischern bei der Erfüllung der Anlandeverpflichtung einen übermäßig und unverhältnismäßig großen Zusatzaufwand Daher sollte auf pragmatischere, klarere, einfachere und flexiblere Vorschriften gesetzt werden, die den Fischern tatsächlich genügend Zeit dafür lassen, sich innerhalb einer Übergangsfrist anzupassen, ohne harten Sanktionen ausgesetzt zu sein.“

(15)  EWSA-Stellungnahme NAT/742 zu Einwegkunststoffartikeln (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 207).

(16)  COM(2018) 340 final.

(17)  COM(2018) 33 final.

(18)  EWSA-Stellungnahme zur Europäischen Strategie für Kunststoffe in der Kreislaufwirtschaft (einschließlich Maßnahmen gegen Abfälle im Meer) (ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 61).

EWSA-Stellungnahme NAT/742 zu Einwegkunststoffartikeln (siehe Fußnote 15).

EWSA-Stellungnahme NAT/749 zum Europäischen Meeres- und Fischereifonds (EMFF) (siehe Fußnote 8).


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/125


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2008/106/EG über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten und zur Aufhebung der Richtlinie 2005/45/EG“

(COM(2018) 315 final — 2018/0162 (COD))

(2019/C 110/23)

Berichterstatterin:

Tanja BUZEK

Befassungen

Europäisches Parlament, 11.6.2018

Rat, 6.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 100 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

20.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

201/3/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA unterstützt weitgehend die Ziele, die die Kommission in ihrem Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2008/106/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (1) über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten und zur Aufhebung der Richtlinie 2005/45/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (2) über die gegenseitige Anerkennung von Befähigungszeugnissen der Mitgliedstaaten für Seeleute festgelegt hat. Der EWSA ist der Auffassung, dass die im Rechtsrahmen vorgesehenen Änderungen notwendig, verhältnismäßig und kostenwirksam sind.

1.2.

Der EWSA erkennt zwar an, dass beide Richtlinien sowohl zur Verbesserung der theoretischen und praktischen Ausbildung von Seeleuten, die an Bord von unter EU-Flagge fahrenden Schiffen arbeiten, als auch zur beruflichen Mobilität von Seeleuten, die über ein in der EU ausgestelltes Befähigungszeugnis verfügen, beigetragen haben, hält es jedoch für ratsam, in diesem Bereich einen Schritt weiter zu gehen. Daher empfiehlt der EWSA, die Überarbeitung der Richtlinie 2008/106/EG zu nutzen, um eine breitere europäische Debatte unter Einbeziehung der Kommission, der Mitgliedstaaten, der Ausbildungseinrichtungen und der Industrie darüber anzustoßen, wie weiter in das europäische maritime Qualifikationsniveau investiert werden kann, damit sowohl die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Flotte erhalten werden kann als auch die Kapazität der Branche, hochwertige Arbeitsplätze für europäische Seeleute und andere maritime Berufsgruppen hervorzubringen.

1.3.

Der EWSA empfiehlt insbesondere, auf die Einrichtung eines EU-Forums hinzuarbeiten, in das die Ausbildungseinrichtungen, die Industrie, die maritimen Cluster im weiteren Sinne und die nationalen Seebehörden mit dem Ziel eingebunden werden, die Ausbildung der Seeleute zu verbessern, sowie europäische Aufbaulehrgänge für maritime Berufe zu entwickeln, die über die international vereinbarten Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten hinausgehen. Solche weiterführenden Lehrgänge wären ein Wettbewerbsvorteil für europäische Seeleute, denn auf diese Weise würden sie Fähigkeiten erwerben, die über die auf internationaler Ebene erforderlichen Fähigkeiten hinausgehen. Außerdem würden sie die Attraktivität der Berufe in der Seefahrt in der EU erhöhen, insbesondere mit Blick auf Frauen und junge Menschen.

1.4.

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, zukunftssichere Ausbildungspakete mit besonderen Schwerpunkten auf den Bereichen Qualitätsmanagement sowie „grüne“ und digitale Kompetenzen zu entwickeln, und ist der Auffassung, dass die Förderung fortgeschrittener Kompetenzen mit einer bestimmten Zertifizierung und Nachweisen einhergehen sollte.

1.5.

Der EWSA empfiehlt zur weiteren Verbesserung des Bildungssystems für Seeleute in Europa außerdem den Aufbau eines europäischen Netzes von Instituten zur Aus- und Fortbildung von Seeleuten, das bestimmte Qualitätskriterien erfüllt. Mit Blick auf die Ausbildung von Kapitänen und Offizieren empfiehlt er weiterhin die Schaffung eines an die Besonderheiten der Branche angepassten Austauschprogramms zwischen den verschiedenen Instituten zur Aus- und Fortbildung von Seeleuten in der ganzen EU nach dem Vorbild des Programms Erasmus.

1.6.

Bezüglich des überarbeiteten Systems für die Anerkennung der von Drittländern ausgestellten Befähigungszeugnisse für Seeleute hält es der EWSA für außerordentlich wichtig, dass antragstellende Mitgliedstaaten vor der Einreichung ihres Antrags bei der Kommission die nationalen Reederverbände und Gewerkschaftsorganisationen zu der Frage konsultieren, ob die Anerkennung eines neuen Drittlands wünschenswert ist. Der EWSA präzisiert zudem, dass die Schätzung der Zahl der Seeleute, die möglicherweise angestellt werden, (sofern verfügbar) nur ein Kriterium bei der Entscheidung über die Anerkennung eines neuen Drittlands sein sollte und dass diese in transparenter Weise zu erfolgen hat.

1.7.

Der EWSA hat Bedenken in Bezug auf die Verlängerung der Frist für die Annahme eines Beschlusses über die Anerkennung neuer Drittländer von 18 auf 24 Monate bzw. unter bestimmten Umständen auf 36 Monate, da sich das Verfahren für ein Land, das alle Anforderungen eindeutig erfüllt, so möglicherweise unnötig in die Länge zieht. Er schlägt deshalb vor, das Verfahren innerhalb eines möglichst kurzen, aber angemessenen Zeitrahmens abzuschließen, mit der Maßgabe, dass diese Frist entsprechend verlängert werden kann, wenn Korrekturmaßnahmen erforderlich sind.

1.8.

Um eine angemessene Verwendung der Gemeinschaftsmittel sicherzustellen, schlägt der EWSA vor, Artikel 20 dahingehend zu ändern, dass die Bestimmungen über den Widerruf der Anerkennung eines Drittstaats auch für diejenigen Drittländer gelten, die im Laufe von mindestens fünf Jahren keine nennenswerte Anzahl von Kapitänen und Offizieren stellen. Der EWSA präzisiert, dass die endgültige Entscheidung über den Widerruf der Anerkennung nach wie vor bei den Mitgliedstaaten liegt und im üblichen Verfahren im COSS getroffen wird, wobei von den Mitgliedstaaten vorgelegte relevante Informationen berücksichtigt werden können.

1.9.

Da es bei der Seeverkehrssicherheit keine Abstriche geben darf, empfiehlt der EWSA, dass die Regelung für eine erneute Prüfung derjenigen Drittländer, die nur eine begrenzte Zahl von Kapitänen und Offizieren in der EU-Flotte stellen, nicht weniger streng sein sollte als die für andere Länder geltende Regelung.

1.10.

Neben den vorgeschlagenen Modifikationen des Änderungsverfahrens (Artikel 27), nach denen die Kommission befugt ist, delegierte Rechtsakte zur Änderung der Richtlinie 2008/106/EG zu erlassen, fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, frühzeitig Maßnahmen für eine Umsetzung von Änderungen zu ergreifen, damit Verlängerungen und Phasen pragmatischer Auslegung, die früher aufgrund der Untätigkeit von Flaggenstaaten erforderlich waren, nicht mehr notwendig sein werden.

2.   Hintergrund

2.1.

Die EU-Vorschriften über die theoretische und praktische Ausbildung von Seeleuten und die Erteilung von Befähigungszeugnissen für Seeleute basieren hauptsächlich auf den internationalen Mindestanforderungen, die durch das Übereinkommen (in der geänderten Fassung) der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) über Normen für die Ausbildung, die Erteilung von Befähigungszeugnissen und den Wachdienst von Seeleuten (STCW-Übereinkommen) geregelt sind.

2.2.

Zusätzlich zur Einbindung des STCW-Übereinkommens auf EU-Ebene durch die Richtlinie 2008/106/EG in der geänderten Fassung stellt das EU-Rahmenwerk einen kosteneffizienten gemeinsamen EU-Mechanismus bereit, der zur Anerkennung der Systeme zur theoretischen und praktischen Ausbildung von Seeleuten und zur Erteilung von Befähigungszeugnissen für Seeleute aus Drittländern genutzt wird. Dieser Mechanismus ist so konzipiert, dass die Bewertung und erneute Überprüfung der Einhaltung der Anforderungen des STCW-Übereinkommens durch Drittländer auf zentralisierte und einheitliche Weise durchgeführt werden. Dadurch wird vermieden, dass jeder Mitgliedstaat diese Bewertungen und Überprüfungen einzeln durchführen muss, insbesondere angesichts der Tatsache, dass derzeit auf EU-Ebene mehr als 40 Drittländer zu diesem Zweck anerkannt sind.

2.3.

Das regulatorische System bietet durch die Richtlinie 2005/45/EG ebenfalls ein vereinfachtes Verfahren für die Anerkennung der von den Mitgliedstaaten erteilten Befähigungszeugnisse für Seeleute. Mit dieser Richtlinie soll die Mobilität von EU-Seeleuten auf unter EU-Flagge fahrenden Schiffen gefördert werden, denn sie ermöglicht ohne jegliche weitere Ausgleichsmaßnahmen die Anerkennung von Befähigungszeugnissen von Kapitänen und Offizieren.

2.4.

Durch den oben genannten Rechtsrahmen sollen ein hohes Niveau an Sicherheit des menschlichen Lebens auf See und der Schutz der Meeresumwelt erreicht werden, indem die Risiken von Seeunfällen minimiert werden. Es besteht Einvernehmen darüber, dass zur Erreichung dieses Ziels die Verbesserung der theoretischen und praktischen Ausbildung und der Erteilung von Befähigungszeugnissen der Beschäftigten in Schlüsselpositionen an Bord von unter EU-Flagge fahrenden Schiffen von entscheidender Bedeutung ist.

2.5.

Seinen Ursprung hat der Vorschlag in dem Programm zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung (REFIT) der Kommission, mit dem bewertet wird, in welchem Ausmaß beide Richtlinien ihre Zielsetzungen erreicht haben. Der EWSA stellt fest, dass die vorgeschlagene Überarbeitung das Ergebnis einer eingehenden Bewertung ist, in die eine umfassende Studie der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (EMSA) („Study for the REFIT evaluation of Directives 2008/106/EC and 2005/45/EC“ [Studie zur REFIT-Bewertung der Richtlinien 2008/106/EG und 2005/45/EG — nur auf Englisch] vom September 2017 (3))‚ eine öffentliche und eine gezielte Konsultation sowie spezielle Workshops eingeflossen sind, an denen die Mitgliedstaaten und die Sozialpartner in der Form von Schiffseignern und Gewerkschaften der Seeleute beteiligt waren.

2.6.

Die Ergebnisse der REFIT-Bewertung wurden allgemein als positiv betrachtet und es wurde das Fazit gezogen, dass die EU-Vorschriften dazu beigetragen haben, nicht den Normen genügende Besatzungen zu verdrängen, die Mobilität von Seeleuten in der Union zu fördern und gleiche Ausgangsbedingungen zwischen in der EU und in Drittländern ausgebildeten Seeleuten zu erreichen.

2.7.

Allerdings wurden einige Mängel bei der Effizienz des Rechtsrahmens und der Verhältnismäßigkeit einiger seiner Anforderungen ermittelt. Infolgedessen ist die Absicht des Vorschlags der Kommission, die erkannten Schwachpunkte zu beheben, indem die bestehenden Rechtsvorschriften vereinfacht und gestrafft werden. Konkreter gesagt wurde ein weiteres Eingreifen für notwendig erachtet, und zwar zu folgenden Zwecken:

Sicherstellung der Anpassung an die jüngsten Änderungen des STCW-Übereinkommens;

Aktualisierung der Begriffsbestimmung von Befähigungszeugnissen, die zwischen Mitgliedstaaten anerkannt werden, mittels einer Zusammenführung von Richtlinie 2005/45/EG und Richtlinie 2008/106/EG;

Erstellung von Kriterien für eine neue Anerkennung/erneute Prüfung von Drittländern, um finanzielle und personelle Ressourcen effizienter zu nutzen;

Festlegung von Prioritätskriterien für die erneute Prüfung von Drittländern mit Schwerpunkt auf den Ländern, die den höchsten Anteil an Seeleuten stellen, während für die anderen Länder gleichzeitig eine Verlängerung der Frist für die erneute Prüfung erwogen werden sollte;

Verlängerung der Anerkennungsfrist von neuen Drittländern, um diesen genug Zeit zu geben, gegebenenfalls Korrekturmaßnahmen anzunehmen und umzusetzen.

3.   Wesentlicher Inhalt des Vorschlags

3.1.

Das generelle Ziel des Vorschlags ist die Vereinfachung und Straffung der bestehenden Rechtsvorschriften. Dazu gehören insbesondere:

die kontinuierliche Anpassung der relevanten EU-Rechtsvorschriften an das STCW-Übereinkommen;

die Verbesserung der Effizienz und Wirksamkeit des zentralisierten Mechanismus zur Anerkennung von Drittländern;

eine Erhöhung der rechtlichen Sicherheit in Bezug auf die gegenseitige Anerkennung der von Mitgliedstaaten ausgestellten Befähigungszeugnisse für Seeleute.

3.2.

Der zentralisierte Mechanismus zur Anerkennung der von Drittländern ausgestellten Befähigungszeugnisse für Seeleute macht es erforderlich, dass erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen von der Kommission zur Verfügung gestellt werden, die bei dieser Aufgabe von der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs unterstützt wird, um einerseits neue Anerkennungsanträge von den Mitgliedstaaten zu bewerten und andererseits regelmäßig erneute Prüfungen der bereits anerkannten Drittländer durchzuführen.

3.3.

Um die verfügbaren Ressourcen besser zu nutzen, schlägt die Kommission vor, das Anerkennungsverfahren transparenter zu gestalten, indem den antragstellenden Mitgliedstaaten die Möglichkeit gegeben wird, die Gründe für die Einreichung des Anerkennungsantrags zu erläutern. Diese Maßnahme beinhaltet, dass die Mitgliedstaaten gemeinsam die Notwendigkeit einer Anerkennung neuer Drittländer erörtern.

3.4.

Ferner schlägt die Kommission Prioritätskriterien für die erneute Prüfung von anerkannten Drittländern auf der Grundlage der Überlegung vor, dass die verfügbaren Ressourcen von den Ländern, die eine niedrige Zahl von Seeleuten für die EU-Flotte stellen, umgelenkt werden sollten, und zwar auf jene Drittländer, die viele Arbeitskräfte stellen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Kommission zur Änderung der Richtlinie 2008/106/EG über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten, einschließlich des in den Geltungsbereich aufzunehmenden vereinfachten Verfahrens zur gegenseitigen Anerkennung der von den Mitgliedstaaten erteilten Befähigungszeugnisse für Seeleute, und zur Aufhebung der Richtlinie 2005/45/EG.

4.2.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass dies eine notwendige Überarbeitung darstellt, da in der Tat Potenzial zur Verbesserung der Effizienz des administrativen Rahmens in Bezug auf das System zur gegenseitigen Anerkennung gemäß dieser Richtlinie besteht, um eine effektivere Zuweisung von finanziellen und personellen Ressourcen der Kommission und der EMSA zu ermöglichen.

4.3.

Der EWSA begrüßt insbesondere die Bedeutung, die die Kommission dem Niveau der Transparenz beimisst, die bei der Bearbeitung von Forderungen zur Anerkennung von Befähigungszeugnissen von Seeleuten aus Drittländern herrschen sollte. Der EWSA hält den neuen Verfahrensschritt, der den antragstellenden Mitgliedstaaten erlaubt, die Gründe für den Anerkennungsantrag darzulegen, für verhältnismäßig, transparent und kosteneffizient. Den antragstellenden Mitgliedstaaten wird dennoch die Möglichkeit eingeräumt, das Drittland einseitig anzuerkennen, bis ein gemeinsamer Beschluss getroffen wird. Insofern wird mit dem Verfahren für den Beschluss über die Anerkennung eines Drittlands ein Gleichgewicht geschaffen zwischen der notwendigen Transparenz in Bezug auf die Steuerung und sinnvolle Verwendung öffentlicher Gelder — durch die Anerkennung anfallende Kosten — und dem Ziel der Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Flotte durch die Beschäftigung von Seeleuten aus den entsprechenden Drittländern.

4.4.

Der EWSA ist der Ansicht, dass der EU-Rechtsrahmen über die theoretische und praktische Ausbildung und die Erteilung von Befähigungszeugnissen von Seeleuten einen Beitrag dazu geleistet hat, die Erfordernisse des Arbeitsmarkts in der Seefahrt zu erfüllen, indem der Zugang zur Beschäftigung an Bord von Schiffen unter EU-Flagge für alle Kapitäne und Offiziere, die ein gültiges STCW-Befähigungszeugnis innehaben, erleichtert wurde, unabhängig von deren Wohnort oder Staatsangehörigkeit. Während kein Zweifel daran besteht, dass die Schifffahrt in einem globalisierten Markt stattfindet, möchte der EWSA daran erinnern, dass für die EU Investitionen in das eigene maritime Qualifikationsniveau von enormer Bedeutung sind, um eine kritische Masse europäischer Seeleute zu bewahren, durch die die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Schifffahrt und der maritimen Cluster in der gesamten EU aufrechterhalten wird. So wird eine Perspektive mit hochqualifizierten Arbeitsplätzen und lohnenswerten beruflichen Laufbahnen auf See oder landseitigen, verwandten Tätigkeiten, insbesondere für junge Menschen in Europa, geschaffen, während gleichzeitig der Anteil der EU-Seeleute bei den Beschäftigten in der globalen Seefahrt aufrechterhalten oder sogar erhöht wird (die gegenwärtige Zahl von 220 000 EU-Seeleuten entspricht 18 % der Gesamtzahl der Seeleute weltweit) (4).

4.5.

Vor diesem Hintergrund legt der EWSA den Mitgliedstaaten nahe, mit Blick auf die Stärkung der Wirksamkeit und Effizienz des Ausbildungssystems im Seeverkehr die in der EU-Seeverkehrsstrategie bis 2018 (5) enthaltenen Empfehlungen sowie die an die Europäische Kommission gerichteten politischen Empfehlungen der Taskforce für Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit im Seeverkehr (6) endlich umzusetzen. Insbesondere fordert der EWSA die Europäische Kommission und die beiden gesetzgebenden Organe der EU dazu auf, die in diesem Abschnitt nachfolgend aufgeführten Empfehlungen zu berücksichtigen.

4.6.

Der EWSA empfiehlt, auf die Einrichtung eines EU-Forums hinzuarbeiten, in das die Ausbildungseinrichtungen, die Industrie, die maritimen Cluster im weiteren Sinne und die nationalen Seebehörden mit dem Ziel eingebunden werden, die Ausbildung der Seeleute und damit ihre Chancen auf einen Arbeitsplatz, ihre berufliche Entwicklung und ihre Mobilität zu verbessern. Eine zentrale Aufgabe dieses Netzes wäre die Entwicklung europäischer Aufbaulehrgänge für maritime Berufe, die über die international vereinbarten Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten hinausgehen (auch als „Exzellenz-Befähigungszeugnisse für Seeleute“ — oder „STCW+“ — bezeichnet) (7). Solche weiterführenden Lehrgänge wären ein Wettbewerbsvorteil für europäische Seeleute, denn auf diese Weise würden sie Fähigkeiten erwerben, die über die auf internationaler Ebene erforderlichen Fähigkeiten hinausgehen.

4.7.

Vor diesem Hintergrund betont der EWSA, wie wichtig es ist, zukunftssichere Ausbildungspakete mit besonderen Schwerpunkten auf den Bereichen Qualitätsmanagement sowie „grüne“ und digitale Kompetenzen zu entwickeln, wobei gerade die digitalen Kompetenzen von größter Bedeutung sind, da sich die Technologie an Bord von Schiffen, der Informations- und Kommunikationsdatenaustausch sowie die landseitigen Unterstützungssysteme rasant weiterentwickeln. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Förderung fortgeschrittener Kompetenzen mit einer bestimmten Zertifizierung und Nachweisen einhergehen sollte, um zu verdeutlichen, dass die Verbesserung der maritimen Ausbildung ein Trumpf ist, der den europäischen Seeleuten hilft, ihre Berufsaussichten zu verbessern, was wiederum die Attraktivität der Berufe in der Seefahrt in der EU erhöhen wird, insbesondere mit Blick auf Frauen und junge Menschen. Gleichzeitig werden die Effizienz und die Qualität des Schiffsbetriebs verbessert, wozu auch eine kontinuierliche Innovation und die Senkung von Kosten gehört.

4.8.

In gleicher Weise wäre es auch ratsam, mit Blick auf eine weitere Verbesserung des Bildungssystems für Seeleute in Europa den Aufbau eines europäischen Netzes von Instituten zur Aus- und Fortbildung von Seeleuten in Erwägung zu ziehen, das bestimmte Qualitätskriterien erfüllt. Zu diesem Zweck empfiehlt der EWSA, sich an dem europäischen Netz der Binnenschifffahrtsschulen — EDINNA (Education in Inland Navigation) — zu orientieren, das 2009 mit dem Ziel gegründet wurde, die Lehrpläne für die theoretische und praktische Ausbildung mit Blick auf die höchsten Standards zu harmonisieren. Diese Plattform erwies sich als hervorragendes Instrument für den Austausch von Know-how und einen abgestimmten Ansatz zur Entwicklung beruflicher Kompetenzen. Ferner empfiehlt der EWSA für die Ausbildung von Kapitänen und Offizieren die Errichtung eines an die Besonderheiten der Branche angepassten Austauschprogramms zwischen den verschiedenen Instituten zur Aus- und Fortbildung von Seeleuten in der ganzen EU nach dem Vorbild des Programms Erasmus.

4.9.

Außerdem spricht sich der EWSA für ein konzertiertes politisches Handeln der EU und der Mitgliedstaaten aus, um die Industrie darin zu unterstützen, auf die Herausforderungen der Digitalisierung, Automatisierung und des notwendigen ökologischen Umbaus der Branche zu reagieren. Der EWSA weist darauf hin, dass diese Herausforderungen besser bewältigt werden können, wenn die Existenz eines in Europa ansässigen, hochwertigen, zukunftsfähigen Aus- und Fortbildungssystem für Seeleute sichergestellt ist. Vor diesem Hintergrund begrüßt der EWSA den bevorstehenden Beginn des auf vier Jahre angelegten Projekts SkillSea. Dieses Projekt wird die Kooperation zwischen der Industrie — einschließlich der europäischen Sozialpartner im Seeverkehr, des Verbands der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (ECSA) und der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) — und den Aus- und Fortbildungsanbietern sowie nationalen Behörden fördern, um Fortschritte bei den Lehrplänen für die theoretische und praktische Ausbildung von Seeleuten in Europa voranzubringen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass die Richtlinien 2005/45/EG und 2008/106/EG zusammengeführt wurden, denn er ist der Ansicht, dass eine solche Verschmelzung die Umsetzung effektiver machen wird und mit großer Wahrscheinlichkeit zu mehr Klarheit beitragen sowie den Rahmen für die Ausbildung und die Erteilung von Befähigungszeugnissen für Seeleute vereinfachen wird. Mit einer derartigen Zusammenführung wird vor allem das Problem der veralteten Begriffsbestimmung von Befähigungszeugnissen in Richtlinie 2005/45/EG angegangen, Klarheit geschaffen und die Anpassung der Begriffsbestimmung von Befähigungszeugnissen von Seeleuten, die von den Mitgliedstaaten anerkannt werden, ermöglicht. Es muss in der Tat sichergestellt werden, dass die Begriffsbestimmung für die Befähigungszeugnisse von Seeleuten im Einklang mit den im Jahr 2012 eingeführten Begriffsbestimmungen aktualisiert wird. Eine solche Aktualisierung wird voraussichtlich die Rechtssicherheit im System der gegenseitigen Anerkennung zwischen EU-Mitgliedstaaten erhöhen.

5.2.

Mit dem neuen Artikel 5b wird das Ziel verfolgt, das System der gegenseitigen Anerkennung von Befähigungszeugnissen für Seeleute, die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Richtlinie 2008/106/EG ausgestellt wurden, aufzunehmen. Der EWSA hält diese Ergänzung für unverzichtbar, denn sie präzisiert, welche Befähigungszeugnisse gegenseitig anerkannt werden sollen, damit Seeleute, die Inhaber eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Befähigungszeugnisses sind, an Bord von Schiffen arbeiten können, die unter der Flagge eines anderen Mitgliedstaats fahren.

5.3.

Der EWSA unterstützt uneingeschränkt und befürwortet weiter die Arbeitskräftemobilität, um Kapitänen und Offizieren mit in der EU ausgestellten Befähigungszeugnissen und Reedern in Europa zu helfen, auf reibungslose Weise zueinander zu finden. Diesbezüglich nimmt der EWSA mit Zufriedenheit zur Kenntnis, dass laut Angaben der Kommission (8) im Jahr 2015 mehr als 47 000 anerkannte Befähigungszeugnisse, die ursprünglich von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt wurden, in der Union Gültigkeit hatten. Dies entspricht ca. 25 % der Gesamtzahl von Kapitänen und Offizieren, die für eine Beschäftigung an Bord von Schiffen unter EU-Flagge zur Verfügung stehen.

5.4.

Die vorstehend genannten Zahlen zeigen, dass das System zur gegenseitigen Anerkennung der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Befähigungszeugnisse für Seeleute ermutigende Ergebnisse erbracht hat, wenn man den Aspekt der Förderung der Mobilität von EU-Seeleuten an Bord von unter EU-Flagge fahrenden Schiffen betrachtet. Zudem betont der EWSA, wie wichtig es ist, kontinuierlich zum Schutz europäischer Arbeitsplätze auf See, zur Absicherung der Zukunft der Institute zur Aus- und Fortbildung von Seeleuten in der EU und zur Wahrung des europäischen maritimen Know-how insgesamt beizutragen.

5.5.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag einer Anpassung der Richtlinie 2008/106/EG an die jüngsten Änderungen des STCW-Übereinkommens, damit rechtliche Unstimmigkeiten in der Richtlinie in Verbindung mit dem internationalen Rechtsrahmen vermieden werden. Eine derartige Anpassung wird voraussichtlich eine harmonisierte Umsetzung auf EU-Ebene sicherstellen und Schiffsbesatzungen helfen, sich neue Kompetenzen und Fähigkeiten anzueignen, insbesondere im Hinblick auf die Aus- und Fortbildungsanforderungen für Seeleute, die auf Fahrgastschiffen und an Bord von Schiffen arbeiten, die dem IMO-Code über die Sicherheit von Schiffen, die Gase oder andere Brennstoffe mit niedrigem Flammpunkt verwenden (IGF-Code), und dem IMO-Code über die Sicherheit von Schiffen, die in Polargewässern verkehren (Polar-Code), unterliegen. Gleichzeitig wird dadurch deren berufliche Laufbahn gefördert.

5.6.

Der EWSA stellt eine überproportionale Verwendung von finanziellen und personellen Ressourcen der Gemeinschaft für die Bewertung von neuen Drittländern in Frage, die möglicherweise keine nennenswerte Anzahl von Kapitänen und Offizieren stellen können. Aus diesem Grund unterstützt der EWSA uneingeschränkt den Vorschlag der Kommission, dass jeder neue, von einem Mitgliedstaat unterbreitete Antrag auf Anerkennung eines Drittlands von einer Analyse begleitet werden soll, die auch Schätzungen der Anzahl der Kapitäne und Offiziere, die aus dem betreffenden Land voraussichtlich beschäftigt werden können, enthalten soll. Darüber hinaus hält es der EWSA für besonders wichtig, dass die Mitgliedstaaten vor der Einreichung des Antrags bei der Kommission die nationalen Reederverbände und Gewerkschaftsorganisationen zu der Frage konsultieren, ob die Anerkennung eines neuen Drittlands wünschenswert ist. Der EWSA präzisiert allerdings, dass die Schätzung der Zahl der Seeleute, die möglicherweise angestellt werden, (sofern verfügbar) nur ein Kriterium bei der Entscheidung über die Anerkennung eines neuen Drittlands sein sollte und dass diese in transparenter Weise zu erfolgen hat.

5.7.

In dem Bemühen um höhere Effizienz und eine bessere Verwendung der verfügbaren Ressourcen nimmt der EWSA mit Zufriedenheit zur Kenntnis, dass im Rahmen des Vorschlags (Artikel 19) eine Begründung vorgelegt und von den Mitgliedstaaten erörtert werden muss, wenn ein Mitgliedstaat einen Antrag auf Anerkennung eines neuen Drittlands einreichen will. Der EWSA möchte klarstellen, dass die abschließende Entscheidung über die Anerkennung oder Nichtanerkennung eines neuen Drittlands bei den Mitgliedstaaten verbleibt und im Rahmen des normalen Verfahrens erfolgt, das eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit im Ausschuss für die Sicherheit im Seeverkehr und die Vermeidung von Umweltverschmutzung durch Schiffe (COSS) vorsieht. Der EWSA begrüßt ferner die Tatsache, dass eine Ausnahmeregelung ermöglicht wird, damit ein Mitgliedstaat Befähigungszeugnisse von einem Drittland einseitig anerkennen kann, während das Ergebnis der Prüfung abgewartet wird. Der EWSA unterstützt nachdrücklich eine solche Ausnahmeregelung, die eine angemessene und kostenwirksame Lösung darstellt und gleichzeitig der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Flotte dient.

5.8.

In Bezug auf die Fristverlängerung zur Annahme eines Beschlusses über die Anerkennung neuer Drittländer von 18 auf 24 Monate bzw. unter bestimmten Umständen auf 36 Monate betrachtet der EWSA die vorgeschlagene Maßnahme als gerechtfertigt, sofern eine zwingende Notwendigkeit bei dem entsprechenden Drittland vorliegt, Korrekturmaßnahmen durchzuführen. Jedoch hat der EWSA Bedenken dahingehend, ob eine Verlängerung des Anerkennungsverfahrens automatisch der richtige Mechanismus ist, denn es kann auch der Fall sein, dass sich das Verfahren für ein Land, das alle Anforderungen eindeutig erfüllt, so möglicherweise unnötig in die Länge zieht. Deshalb würde der EWSA vorschlagen, dass das Ziel weiterhin darin bestehen sollte, das Verfahren innerhalb eines möglichst kurzen, aber angemessenen Zeitrahmens abzuschließen, mit der Maßgabe, dass dieser Zeitrahmen so lange wie nötig verlängert werden kann, falls Korrekturmaßnahmen erforderlich sind.

5.9.

Im überarbeiteten Artikel 20 wird ein besonderer Grund angefügt, durch den die Anerkennung eines Drittlands widerrufen werden kann, wenn dieses Land über einen Zeitraum von mehr als 5 Jahren keine Seeleute in der Flotte der EU gestellt hat. Der EWSA möchte klarstellen, dass die abschließende Entscheidung über den Entzug oder Nichtentzug einer Anerkennung bei den Mitgliedstaaten verbleibt und im Rahmen der normalen Verfahren des COSS erfolgt und dass in diesem Zusammenhang die Möglichkeit bestehen sollte, von den Mitgliedstaaten vorgelegte relevante Informationen zu berücksichtigen. Der EWSA unterstützt die Überarbeitung grundsätzlich, möchte aber darauf hinweisen, dass zum Zweck einer angemessenen Verwendung der Ressourcen immer noch berücksichtigt werden sollte, ob ein Drittland eine nennenswerte Anzahl oder überhaupt Kapitäne und Offiziere bereitstellt. Vor diesem Hintergrund und im gänzlichen Einklang mit den Verfahren schlägt der EWSA vor, dass die Anerkennung eines Drittlands widerrufen werden kann, falls es im Laufe von mindestens fünf Jahren keine nennenswerte Anzahl von Kapitänen und Offizieren bereitstellt.

5.10.

Der EWSA zweifelt an dem Grundgedanken hinter der Änderung von Artikel 21, mit der vorgesehen wird, dass der Zeitraum für eine erneute Prüfung auf Basis von Prioritätskriterien auf bis zu zehn Jahre ausgedehnt werden kann. Der EWSA stellt fest, dass — rein mathematisch betrachtet — Drittländer, die eine höhere Anzahl von Seeleuten stellen, theoretisch eine größere Gefahr für den sicheren Betrieb von Schiffen darstellen als jene Länder, die nur eine begrenzte Anzahl von Seeleuten stellen. Aus diesen Gründen und in der Erwägung, dass es bei der Seeverkehrssicherheit keine Abstriche geben darf, empfiehlt der EWSA, dass das Bewertungsprogramm für diejenigen Drittländer, die nur eine begrenzte Zahl von Kapitänen und Offizieren in der EU-Flotte stellen, nicht weniger streng sein sollte.

5.11.

Der EWSA unterstützt die Änderung von Artikel 25a, denn sie ist notwendig, um die von den Mitgliedstaaten übermittelten Informationen über die Zahl der Vermerke zur Bestätigung der Anerkennung von Befähigungszeugnissen, die von Drittländern erteilt wurden, auf transparente Weise verwenden zu können. Dies geschieht zum Zweck der Aufhebung von Anerkennungen und der Priorisierung der erneuten Prüfungen von Drittländern wie in Artikel 20 und Artikel 21 vorgesehen.

5.12.

Der EWSA ist sich vollauf bewusst, dass angesichts des globalen Charakters der Schifffahrt das Ziel verfolgt werden muss, einen Konflikt zwischen den internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und deren Verpflichtungen auf Unionsebene zu vermeiden. Dieses Ziel verlangt eine kontinuierliche Anpassung des europäischen Rechtsrahmens an das STCW-Übereinkommen. Dadurch wird es ermöglicht, gleiche Ausgangsbedingungen zwischen der EU und Drittländern bei der Umsetzung des internationalen Rechtsrahmens für die theoretische und praktische Ausbildung und die Erteilung von Befähigungszeugnissen von Seeleuten zu etablieren. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen und im Falle von zukünftigen Änderungen des STCW-Übereinkommens hält der EWSA es für relevant, die Kommission zu ermächtigen, Änderungen durch delegierte Rechtsakte durchzuführen, um eine reibungslosere und schnellere Anpassung an die Änderungen im STCW-Übereinkommen und -Code sicherzustellen.

5.13.

Diesbezüglich fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, frühzeitig Maßnahmen für eine Umsetzung von Änderungen zu ergreifen, damit Verlängerungen und Phasen pragmatischer Auslegung, die früher aufgrund der Untätigkeit von Flaggenstaaten erforderlich waren, nicht mehr notwendig sein werden.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. L 323 vom 3.12.2008, S. 33.

(2)  ABl. L 255 vom 30.9.2005, S. 160.

(3)  https://ec.europa.eu/transport/sites/transport/files/legislation/2017-09-stwc-support-study-refit-eval-dirs-20080106-20050045.pdf

(4)  SWD(2016) 326 final.

(5)  COM(2009) 8 final.

(6)  Die Taskforce für Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit im Seeverkehr wurde vom Vizepräsidenten der Kommission Siim Kallas eingesetzt und legte am 9. Juni 2011 ihren Bericht vor.

(7)  COM(2009) 8 final.

(8)  SWD(2017) 18 final.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/132


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Programm der Europäischen Atomgemeinschaft für Forschung und Ausbildung (2021-2025) in Ergänzung des Rahmenprogramms für Forschung und Innovation ‚Horizont Europa‘“

(COM(2018) 437 final — 2018/0226 (NLE))

(2019/C 110/24)

Berichterstatterin:

Giulia BARBUCCI

Befassung

Europäische Kommission, 12.7.2018

Rat der Europäischen Union, 13.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

20.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

208/3/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag für eine Verordnung über das Programm der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) für Forschung und Ausbildung 2021-2025. Er betont die Kontinuität mit vorangegangenen Programmen zur Förderung der Forschung und Entwicklung in den Bereichen Fusion, Kernspaltung und nukleare Sicherheit und gegenüber den Arbeiten der GFS, wobei neue Interventionsbereiche wie Strahlenschutz und Stilllegung kerntechnischer Anlagen angegangen werden.

1.2.

Der EWSA hält die Mittelausstattung des Euratom-Programms angesichts der festgesetzten Ziele für angemessen und hält es für unerlässlich, die Finanzausstattung ungeachtet der Ergebnisse der Brexit-Verhandlungen beizubehalten. Diesbezüglich hält es der Ausschuss für ebenso entscheidend, dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus dem Euratom-Programm große Beachtung zu schenken, insbesondere hinsichtlich bereits bestehender Forschungsschwerpunkte, gemeinsamer Infrastrukturen und der sozialen Auswirkungen auf das Personal (z. B. Arbeitsbedingungen) außerhalb und innerhalb des britischen Hoheitsgebiets.

1.3.

Nach Auffassung des EWSA ist das JET-Projekt (Joint European Torus) für die Entwicklung des ITER-Projekts ausschlaggebend. ITER ist im Übrigen das wissenschaftliche Nachfolgeprojekt des JET. Daher ist es nach Ansicht des Ausschusses wichtig, dass der JET (entweder als EU-Projekt oder als gemeinsames Projekt der EU und des Vereinigten Königreichs) in Betrieb bleibt, bis ITER in Betrieb genommen wird.

1.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die im Programm eingeführten innovativen Aspekte wie seine Vereinfachung, die Erweiterung der Ziele (ionisierende Strahlungen und Stilllegung von Anlagen), die bessere Synergie mit dem Programm „Horizont Europa“ und die Möglichkeit zur Finanzierung von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen für Forscher (z. B. Marie Skłodowska-Curie) den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger entsprechen und die Effizienz und Wirksamkeit des Programms steigern.

1.5.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die nukleare Sicherheit als dynamisches Konzept verstanden werden muss, das eine ständige Überwachung und Anpassung der geltenden Rechtsvorschriften auf der Grundlage der neuesten Entdeckungen und Innovationen umfasst und die gesamte Lebensdauer der Anlagen abdeckt. Besonderes Augenmerk muss auf Anlagen an Grenzen zwischen EU-Staaten gerichtet werden. In diesem Zusammenhang ist die Koordinierung zwischen den nationalen und lokalen Behörden zu stärken und die wirkungsvolle Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger sowie der Arbeitnehmer sicherzustellen.

1.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Bildung ab der Pflichtschule sowie die berufliche Bildung für die Annäherung von jungen Menschen an wissenschaftliche und technologische Themen ausschlaggebend sind. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um in Zukunft die Zahl der europäischen Forscher in dieser Branche zu erhöhen, die der Nachfrage des Wirtschafts- und Forschungssystems aktuell nicht gerecht wird.

2.   Einführung

2.1.

Der Vorschlag für eine Verordnung über das Programm der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) für Forschung und Ausbildung 2021-2025 ist Teil des Legislativpakets zum Rahmenprogramm für Forschung und Innovation „Horizont Europa“ 2021-2027 (1). Für das vorgeschlagene Programm wird gemäß Artikel 7 des Euratom-Vertrags ein Zeitraum von fünf Jahren festgelegt mit der Möglichkeit einer Verlängerung um zwei Jahre, um seine Geltungsdauer an die des Programms „Horizont Europa“ und des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) anzupassen.

2.2.

Das Programm „Horizont Europa“ wird im Zeitraum 2021-2027 über eine Finanzausstattung in Höhe von 100 Mrd. EUR verfügen, von denen 2,4 Mrd. EUR für das Euratom-Programm bestimmt sind. Das Rahmenprogramm „Horizont Europa“ legt darüber hinaus den Bezugsrahmen für die Instrumente und Beteiligungsregeln sowie die Bestimmungen über Durchführung, Evaluierung und Governance fest. Die durch das Euratom-Programm unterstützten Forschungsbereiche sind aus rechtlichen (unterschiedliche Verträge) und verwaltungstechnischen Gründen (um Überschneidungen zu vermeiden) nicht in „Horizont Europa“ enthalten, wobei jedoch die Synergien zwischen den Programmen gestärkt werden.

2.3.

Zum Programmvorschlag „Horizont Europa“ hat der EWSA eine Ad-hoc-Stellungnahme verabschiedet (2), mit der diese Stellungnahme hinsichtlich der Vision und der Empfehlungen zusammenhängt. Zudem hat der EWSA diesbezüglich zwei weitere Stellungnahmen zum ITER-Projekt (3) und zur Stilllegung kerntechnischer Anlagen (4) abgegeben.

3.   Wesentlicher Inhalt des Vorschlags

3.1.

Das Euratom-Programm für Forschung und Ausbildung betrifft die unterschiedlichen Anwendungen der Kernenergie in Europa sowohl für die Stromerzeugung als auch für andere Zwecke in anderen Sektoren (beispielsweise ionisierende Strahlungen im medizinischen Bereich). Die Anstrengungen der Europäischen Union sind darauf ausgerichtet, die Innovation und die Entwicklung sicherer Technologien zu fördern, die Risiken zu reduzieren und den Strahlenschutz zu optimieren. Euratom ermöglicht es, die Beiträge der Mitgliedstaaten durch die gemeinsame Nutzung von Innovations-, Forschungs- und Ausbildungsprozesse zu ergänzen.

3.2.

In dem Vorschlag werden das Budget sowie gemeinsame Forschungsziele sowohl für direkte Maßnahmen (die direkt durch die Kommission mittels ihrer Gemeinsamen Forschungsstelle, GFS, ausgeführt werden) als auch für indirekte Maßnahmen (die von öffentlichen oder privaten Teilnehmern ausgeführt werden, die von dem Programm finanziell unterstützt werden) festgelegt, die in Übereinstimmung mit den mit den Mitgliedstaaten vereinbarten Arbeitsprogrammen durchgeführt werden.

3.3.

Das Euratom-Programm 2021-2025 wird in direkter Mittelverwaltung durchgeführt. Wenn ihr dies angebracht und wirksam erscheint, kann die Kommission jedoch eine geteilte und/oder indirekte Mittelverwaltung beschließen und im Einklang mit Artikel 10 des Euratom-Vertrags Mitgliedstaaten, Personen oder Unternehmen sowie Drittländer, internationale Organisationen oder Angehörige von Drittländern durch Vertrag mit der Durchführung bestimmter Teile des Programms betrauen.

3.4.

Das Programm wird die wichtigsten Forschungstätigkeiten des laufenden Euratom-Programms fortsetzen (Strahlenschutz, nukleare Sicherheit sowohl der kerntechnischen Anlagen als auch im Rahmen der internationalen Politik, Entsorgung radioaktiver Abfälle und Fusionsenergie), wobei ein größerer Schwerpunkt auf die Stilllegung und auf die unterschiedlichen Anwendungen ionisierender Strahlung außerhalb der Stromerzeugung gelegt wird. Die für den Zeitraum 2021-2025 vorgeschlagenen Mittel in Höhe von 1 675 000 000 EUR werden auf die Bereiche Kernfusionsforschung und -entwicklung (724 563 000 EUR), Kernspaltung, nukleare Sicherheit und Strahlenschutz (330 930 000 EUR) und die GFS (619 507 000 EUR) aufgeteilt.

3.5.

Die Ausweitung der Ziele verstärkt den übergreifenden Charakter des Instruments und stellt dieses stärker in den Dienst der Bürger. Insbesondere muss bei einer wachsenden Zahl an unterschiedlichen Anwendungen ionisierender Strahlung der Schutz der Menschen und der Umwelt vor unnötiger Strahlenexposition gewährleistet werden. Technologien, die ionisierende Strahlung nutzen, werden in Europa in einer Reihe von Bereichen täglich eingesetzt, vor allem in der Medizintechnik. Folglich wird auch die Forschung im Bereich des Strahlenschutzes bereichsübergreifend weiterentwickelt, sowohl im Bereich der Kernenergieerzeugung als auch in der Medizin, ohne jedoch andere Anwendungsformen in den Bereichen Industrie, Landwirtschaft, Umwelt und Sicherheit auszuschließen.

3.6.

Um der zunehmenden Nachfrage gerecht zu werden, besteht ein weiterer innovativer Bestandteil der Forschungsaktivität in der Entwicklung und Evaluierung von Technologien für die Stilllegung und die ökologische Sanierung kerntechnischer Anlagen. Diese Komponente dient der Vervollständigung aller Sicherheitsaspekte, die bereits im laufenden Programm enthalten sind: nukleare Sicherheit (beziehungsweise die Sicherheit der Reaktoren und des Brennstoffkreislaufs), Entsorgung abgebrannter Brennstoffe und radioaktiver Abfälle, Strahlenschutz und Notfallvorsorge (Nuklearunfälle und radioökologische Forschung) sowie Aktionen zur Umsetzung der politischen Maßnahmen zur nuklearen Sicherheit, Sicherungsmaßnahmen und Nichtverbreitung.

3.7.

Diese Initiativen werden um eine spezifische Maßnahme zur Entwicklung von Fusionsenergie ergänzt, die als potenziell unerschöpfliche und klimafreundlichere Energiequelle gilt. Der Schwerpunkt des Vorschlags liegt insbesondere darin, die weitere Verwirklichung des Fahrplans für die Kernfusion zu gewährleisten, der den Bau des ersten Fusionskraftwerks in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ermöglichen sollte. Aus diesem Grund wird die EU mit einem spezifischen Programm (5) weiterhin das ITER-Projekt und künftig auch das DEMO-Projekt unterstützen.

3.8.

Neben den Forschungsarbeiten sieht der Vorschlag schließlich auch die Möglichkeit der Teilnahme von Nuklearforschern an Aus-und Fortbildungsprogrammen (beispielsweise Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen) vor, um weiterhin ein hohes Kompetenzniveau sowie eine entsprechende Finanzunterstützung zu gewährleisten und den Zugang zu europäischen und internationalen Forschungsinfrastrukturen (GFS eingeschlossen) zu ermöglichen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA befürwortet den Vorschlag für eine Verordnung über das Euratom-Programm (2021-2025). Insbesondere begrüßt der Ausschuss die zunehmende Verflechtung im Rahmen des Programms „Horizont Europa“, die gemeinsame Mechanismen in Bezug auf die Governance, den Zugang zu und die Verwaltung von Fonds gewährleistet, sowie das Zusammenwirken von Forschungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, wobei unnötige Überschneidungen vermieden werden.

4.2.

Der EWSA hält das für Euratom vorgesehene Budget im Hinblick auf die durch die EU im Nuklearsektor festgesetzten Ziele für angemessen. Aus diesem Grund hält der Ausschuss es für wichtig, die Finanzausstattung ungeachtet der Verhandlungsergebnisse zum Brexit beizubehalten. Diesbezüglich hält es der Ausschuss für ebenso entscheidend, dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus dem Euratom-Programm große Beachtung zu schenken, insbesondere hinsichtlich bereits bestehender Forschungsschwerpunkte, gemeinsamer Infrastrukturen und der sozialen Auswirkungen auf das Personal (z. B. Arbeitsbedingungen) außerhalb und innerhalb des britischen Hoheitsgebiets (6).

4.3.

Der EWSA weist insbesondere darauf hin, dass für die Umsetzung des ITER-Projekt die Unterstützung durch JET erforderlich ist. Die JET-Anlage befindet sich im Vereinigten Königreich und wird von Euratom finanziert. Im Rahmen des JET-Projekts werden u. a. Teile der derzeit im Bau befindlichen ITER-Anlage getestet, die der wissenschaftliche Nachfolger des JET ist. Diese weltweit einmalige Anlage kann nicht ersetzt werden. Aus diesem Grund ist es nach Ansicht des Ausschusses wichtig, dass der JET (entweder als EU-Projekt oder als gemeinsames Projekt der EU und des Vereinigten Königreichs) in Betrieb bleibt, bis ITER in Betrieb genommen wird.

4.4.

Der Ausschuss unterstützt den im Wesentlichen darauf ausgerichteten Ansatz des Verordnungsvorschlags, die Forschungsarbeiten und die bereits bestehende Planung fortzuführen, so z. B. im Rahmen des ITER-Projekts, das ein wichtiges Ziel innerhalb der Prozesse der Dekarbonisierung (7), Energieversorgung und industriellen Entwicklung (8) darstellt. Das neue Programm enthält zudem interessante Neuerungen und erweitert die Bandbreite an förderfähigen Forschungs- und Innovationsarbeiten, die der Entwicklung und dem Wachstum dienen.

4.5.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich den Vorschlag, auch Maßnahmen im Bereich der ionisierenden Strahlung für die Finanzierung in Betracht zu ziehen, wodurch der bereichsübergreifende Charakter des Programms im Einklang mit dem Teilbereich gesellschaftliche Herausforderungen von „Horizont Europa“ gestärkt wird. Diesbezüglich müssen die Forschungs- und Innovationsergebnisse in den Bereichen Patente und neue Technologien angesichts ihres breit gefächerten Anwendungsbereichs (9) schnell und systematisch verbreitet werden.

4.6.

Die auf europäischer Ebene finanzierten und mit vereinten Anstrengungen erzielten Ergebnisse müssen den Bürgerinnen und Bürgern vermittelt werden. Dies wird ihr Vertrauen in die Wissenschaft und Forschung sowie das Bewusstsein für die Bedeutung der Europäischen Union und einer spezifischen Strategie für die Verbesserung der Lebensqualität aller stärken.

4.7.

Ebenso begrüßt der Ausschuss die Ausweitung der Finanzierung für die Forschung und die gemeinsame Nutzung von Wissen im Bereich der Stilllegung und ökologischer Sanierung kerntechnischer Anlagen, sowohl um den wachsenden Erfordernissen der Mitgliedstaaten gerecht zu werden, als auch um den Kreis der Verwaltung von Kernenergieerzeugungsprozessen zu schließen, die unbedingt auch eine sichere ökologische Sanierung der stillgelegten Anlagen umfassen muss.

4.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Ausweitung des Programms auf Aus- und Fortbildungsmaßnahmen wie die Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen eine entscheidende Rolle für die Erhaltung des hohen Kompetenzstandards innerhalb der EU spielt. Dennoch ist es auch wichtig, neben qualitativen auch quantitative Ziele festzulegen, da bis heute die Zahl der europäischen Forscher in diesem Bereich nicht ausreicht, um alle Anforderungen der europäischen Wirtschaft und Forschung zu erfüllen (10).

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Der neue Rahmen für nukleare Sicherheit, der nach der Fukushima-Katastrophe geschaffen wurde (11), stellt eine Reaktion auf die Bedenken der Bürgerinnen und Bürger dar. Die Europäische Union hat ein System mit systematischen Kontrollen (Peer Reviews) und dynamischen und mehrschichtigen Sicherheitsmechanismen eingeführt, die die Sicherheitsstandards der Anlagen erhöht haben. Der Ausschuss empfiehlt, die korrekte Umsetzung dieser Richtlinie zu überwachen, sie hinsichtlich der neuen Herausforderungen zu aktualisieren und anzupassen und dabei die gesamte Lebensdauer der Anlagen — von der Planung neuer über die konstante Anpassung bereits bestehender Reaktoren bis hin zu ihrer Stilllegung, abzudecken (12). In diesem Zusammenhang ist der Ausschuss der Ansicht, dass sich mit Überwachungsmaßnahmen durch externe und unabhängige Akteure höhere Sicherheitsstandards gewährleisten ließen.

5.2.

Da sich viele Reaktoren an der Grenze zwischen zwei oder mehreren EU-Mitgliedstaaten befinden, ist es wichtig, einen verstärkten Kooperationsrahmen zwischen den Staaten zu schaffen, um schnelle Reaktionsmechanismen bei nicht vorhersehbaren grenzüberschreitenden Unfällen zu schaffen (13) und somit eine wirkungsvolle Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den betroffenen lokalen und nationalen Behörden sicherzustellen. Dieser Prozess gemäß Artikel 8 der Richtlinie 2014/87/Euratom muss auch wirkungsvolle und sachgemäße Informations- und Schulungsmaßnahmen für Arbeitnehmer und Bürger vorsehen, für die Formen der Unterstützung durch spezifische Finanzierungsinstrumente bereitgestellt werden. Ähnliche Initiativen sollten mit angrenzenden Drittländern durchgeführt werden, in denen die gleichen Risiken bestehen (14).

5.3.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Vergabe von Unteraufträgen ein Unsicherheitsfaktor bei der Wartung von Kernkraftwerken sein könnte und empfiehlt daher, diese zu beschränken und streng zu kontrollieren (15).

5.4.

Nach Ansicht des EWSA ist es von ausschlaggebender Bedeutung, das Interesse der Jugendlichen für die Naturwissenschaften und Technologie zu wecken und zu fördern, was ein aktives und fundiertes Engagement der schulischen Lehrkräfte voraussetzt. Diese sollten regelmäßig an Schulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, als positive Wissensträger fungieren und offene Diskussionen mit den Schülern zu diesem Thema fördern — frei von Vorurteilen und Stereotypen.

5.5.

Der EWSA unterstützt insbesondere Initiativen (auch über das Erasmus+-Programm), die auf die Verbreitung von Wissenschaft, Technologie, Ingenieurwesen, Mathematik und Kunst an Schulen ausgerichtet sind. Durch diesen Ansatz werden die Studierenden dazu ermutigt, eine systematische und experimentelle Haltung einzunehmen, da ihnen die Gelegenheit geboten wird, Probleme der realen Welt auf kreative Weise zu lösen. Die bereits durch die EU finanziell unterstützten Forschungsarbeiten und Projekte haben in den letzten Jahren äußerst positive Ergebnisse hervorgebracht. Dies zeigt, dass dieser Ansatz das Interesse für technische, mathematische und naturwissenschaftliche Themen weckt, die Studierende bei ihrer Studienwahl als eine der ersten Optionen in Erwägung ziehen (16).

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  COM(2018) 435 final.

(2)  INT/858, Horizont Europa (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 33).

(3)  TEN/680, MFR und ITER, (siehe Seite 136 dieses Amtsblatts).

(4)  TEN/681, MFR und Stilllegung kerntechnischer Anlagen / radioaktive Abfälle (siehe Seite 141 dieses Amtsblatts).

(5)  TEN/680, MFR und ITER (siehe Fußnote 3).

(6)  https://www.nature.com/articles/d41586-018-06826-y.

(7)  ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 37.

(8)  ABl. C. 229 vom 31.7.2012, S. 60.

(9)  INT/858, Horizont Europa (siehe Fußnote 2).

(10)  ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 38.

(11)  Richtlinie 2014/87/Euratom und damit verbundene Richtlinien.

(12)  ABl. C 341 vom 21.11.2013, S. 92.

(13)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 127.

(14)  ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 104.

(15)  ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 38.

(16)  ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 6.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/136


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Änderung der Entscheidung 2007/198/Euratom über die Errichtung des europäischen gemeinsamen Unternehmens für den ITER und die Entwicklung der Fusionsenergie sowie die Gewährung von Vergünstigungen dafür“

(COM(2018) 445 final — 2018/0235 (NLE))

(2019/C 110/25)

Berichterstatter:

Ulrich SAMM

Befassung

Europäische Kommission, 12.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

20.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

202/0/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält fest, dass saubere Energie ein vorrangiges Ziel ist und die Fusionsenergie hierfür als eine mögliche langfristige Lösung anerkannt wird, wobei Europa bei der Entwicklung kohlenstofffreier nachhaltiger Fusionstechnologien, die zur Sicherung unseres Energiemixes beitragen, eine Vorreiterrolle übernimmt.

1.2.

Der EWSA betont, dass die für die Entwicklung eines Fusionskraftwerks erforderlichen umfangreichen langfristigen Investitionen weiterhin ein gewisses industrielles Risiko bergen, mit der erfolgreichen Realisierung eines Fusionskraftwerks jedoch ein neuer Faktor ins Spiel käme, der die derzeitige Energieversorgung durch eine disruptive Innovation erheblich verändern würde, da der Fusionsbrennstoff in ausreichendem Maße zur Verfügung stünde und eine nahezu unerschöpfliche Energiequelle wäre.

1.3.

In dem Vorschlag werden die zentralen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem nächsten MFR thematisiert, um die positive Dynamik des ITER-Projekts fortzusetzen. Durch die Zusammenarbeit sieben globaler Partner (EU, Vereinigte Staaten, Russland, Japan, China, Südkorea und Indien) wird derzeit in Cadarache (Frankreich) der erste Fusionsreaktor ITER mit einer Wärmeleistung von 500 MW errichtet. Er soll im Jahr 2025 in Betrieb gehen, und der Vollbetrieb (500 MW) ist für 2035 vorgesehen. Der EWSA begrüßt die guten Fortschritte der letzten Jahre, nachdem Probleme durch eine grundlegende Reform des ITER-Projekts (neues Management und ein überarbeiteter Zeitplan in Verbindung mit der ITER-Ausgangsbasis) gelöst worden waren.

1.4.

Der EWSA fordert die Kommission auf, stärker in den Blickwinkel zu rücken, dass das ITER-Projekt unbedingt mit der von EUROfusion betriebenen europäischen Fusionsforschung verbunden werden muss, die über das Programm für Forschung und Ausbildung (EURATOM) finanziert wird und den Joint European Torus (JET), eine wichtige, in Culham (Vereinigtes Königreich) angesiedelte Versuchsanlage betreibt. Neben dem Bau des ITER bedarf es auch einer gründlichen Vorbereitung, und nur eine starke europäische Forschungsgemeinschaft kann die flankierenden Programme und die Führungsrolle Europas aufrechterhalten.

1.5.

Der EWSA weiß um den Mehrwert der EU, der sich im Erfolg von EUROfusion zeigt, dem Forschungsprogramm in Europa, an dem bei weitem die meisten Mitgliedstaaten (außer Luxemburg und Malta) beteiligt sind und das mit seinen grundlegenden Projekten dazu beiträgt, dass die EU in diesem Bereich weltweit führend ist.

1.6.

Der EWSA begrüßt, dass der neue, von EUROfusion entwickelte europäische Fahrplan für die Verwirklichung der Fusionsenergie den Weg hin zu einem ersten Fusionskraftwerk klar absteckt — mit den Zielen einer verstärkten Beteiligung der Industrie, der Ausbildung von Fusionswissenschaftlern und -ingenieuren in ganz Europa und einer engen Zusammenarbeit mit Drittländern. Der Fahrplan basiert auf der Annahme, dass der ITER 2035 im Routinebetrieb bei hoher Leistung ist. Auf der Grundlage der Ergebnisse ist die Konzeption eines ersten Fusionskraftwerks (DEMO), das erstmals Strom für das Netz liefert, etwa 2040 abgeschlossen. Dann kann mit dem Bau begonnen werden.

1.7.

Der EWSA weiß, dass das ITER-Projekt mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat, die nur im JET gelöst werden können, und teilt daher die Bedenken betreffend die Auswirkungen des Brexits auf die Weiterführung von JET. Zur Minimierung der Risiken beim ITER-Betrieb und zur Optimierung seines Forschungsplans ist es nach Auffassung des EWSA wichtig, dass der JET in dem Zeitraum zwischen 2020 und dem Erstbetrieb des ITER weiterbetrieben wird (als Anlage der EU oder als Gemeinschaftsanlage der EU und des Vereinigten Königreichs), da es keine Auffanglösungen für den Ausfall des JET in dieser Zeit gibt.

1.8.

Der Kommissionsvorschlag enthält den ITER-Haushalt, doch wird die Frage ausgeklammert, ob der für das flankierende Kernfusionsforschungsprogramm erforderliche Haushalt angemessen ist. Der EWSA betont, dass die Mittel für EUROfusion im Zeitraum 2021-2025 im Einklang mit den Zielen des Fahrplans für die Kernfusion stehen müssen, in dem die Arbeiten für den ITER von zentraler Bedeutung sind.

1.9.

Der EWSA begrüßt die Zweckdienlichkeit der Investitionen in die Fusionstechnologie für Industrie und KMU. Im Zeitraum 2008-2017 wurden im Rahmen von „Fusion for Energy“ Aufträge und Zuschüsse in Höhe von rund 3,8 Mrd. EUR in ganz Europa vergeben. Mindestens 500 Unternehmen, darunter KMU, und über 70 FuE-Organisationen aus ca. 20 verschiedenen Mitgliedstaaten und der Schweiz haben von Investitionen in ITER-Tätigkeiten profitiert. Darüber hinaus haben ITER-Partner aus Drittländern ebenfalls Verträge mit der europäischen Industrie unterzeichnet, um die Fertigung ihrer eigenen Komponenten für den ITER zu fördern, wodurch zusätzliche neue Arbeitsplätze für die europäischen Unternehmen entstehen und ihr Wachstum gefördert wird. Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass der größte Nettoeffekt der ITER-Investitionen in Form von Spin-offs und Technologietransfers, die neue Geschäftsmöglichkeiten in anderen Wirtschaftszweigen eröffnen, erzielt wird.

1.10.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass die europäische Kernfusionsforschung im Allgemeinen und die Realisierung des ITER im Besonderen als herausragendes Beispiel für die Wirksamkeit gemeinsamer europäischer Projekte dienen kann. Die auf europäischer Ebene finanzierten und mit vereinten Anstrengungen erzielten Ergebnisse müssen den Bürgerinnen und Bürgern vermittelt werden, um ihr Vertrauen in Wissenschaft und Forschung zu stärken und ihr Bewusstsein für die Bedeutung der Europäischen Union zu schärfen.

2.   Einleitung

2.1.

ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor) ist ein Projekt der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit, das 2005 von sieben globalen Partnern (ITER-Partner: EU, Vereinigten Staate, Russland, Japan, China, Südkorea und Indien) auf den Weg gebracht wurde. Ziel des Projekts ist es, die wissenschaftliche und technologische Realisierbarkeit der Fusionsenergie zu friedlichen Zwecken durch den Bau und Betrieb des ersten 500 MW-Fusionsreaktors ITER in Cadarache (Frankreich) zu demonstrieren. Der EWSA hat dieses Projekt bereits in mehreren Stellungnahmen (1) unterstützt. Der ITER ist die nächste Etappe auf dem Weg zur Fusionsenergie, der innovativsten und vielversprechendsten nachhaltigen Energiequelle, mit der zum einen der zunehmende Energiebedarf gedeckt und zum anderen die Entwicklung erneuerbarer Energien gefördert werden kann.

2.2.

Im Jahr 2015 wurde im Rahmen einer umfassenden Reform des ITER-Projekts ein neues Management für die ITER-Organisation (IO) und für „Fusion for Energy“ (F4E) ernannt. Ein überarbeiteter Zeitplan in Verbindung mit der ITER-Ausgangsbasis wurde am 19. November 2016 vom ITER-Rat gebilligt. In diesem Zeitplan ist als frühestmögliches technisch machbares Datum für das erste Plasma Dezember 2025 vorgesehen; der Vollbetrieb (500 MW) unter Verwendung von Deuterium-Tritium-Brennstoff soll demnach im Jahr 2035 aufgenommen werden. Die positive Einschätzung der Fortschritte des ITER-Projekts in den letzten Jahren wurde durch unabhängige Bewertungen bekräftigt, in denen die Stabilisierung des Projekts und eine realistische Grundlage für seinen Abschluss bestätigt werden.

2.3.

Die EU trägt durch die Mitgliedsstelle „Fusion for Energy“ (F4E) mit Sitz in Barcelona (Spanien) zur ITER-Organisation bei. F4E ist ein gemäß Kapitel 5 des Euratom-Vertrags errichtetes gemeinsames Unternehmen. Gemäß seiner Satzung verfügt es — auf Empfehlung des Rates der EU — über ein eigenes Haushaltsentlastungsverfahren durch das Europäische Parlament. Im Jahr 2015 wurde eine neue F4E-Finanzverordnung verabschiedet; die Verantwortung für die Überwachung des ITER und somit der F4E wurde von der GD RTD auf die GD ENER übertragen.

2.4.

Neben dem Bau des ITER erhält die Fusionsforschung eine weitreichende und breit aufgestellte wissenschaftliche Unterstützung durch das Forschungs- und Ausbildungsprogramm (2), welches das allgemeine Forschungsprogramm „Horizont Europa“ ergänzt (3). Neben den klassischen Forschungsarbeiten im Nuklearbereich deckt dieses Programm auch grundlegende Forschungsarbeiten zur Entwicklung der Fusionsenergie entsprechend dem Fahrplan für die Fusionsforschung ab, der einen optimierten Weg über den ITER und das Demonstrationskraftwerk (DEMO) hin zur kommerziellen Nutzung der Fusionskraftwerke absteckt. Darin werden nicht nur die wichtigsten erforderlichen Anlagen, sondern auch die notwendigen Forschungsaktivitäten zur Unterstützung des ITER und des DEMO dargelegt.

2.5.

Der Fahrplan für die Fusionsforschung wurde von EUROfusion entwickelt, das für die Koordinierung der europäischen Fusionsforschungstätigkeiten verantwortlich ist. Diesem Konsortium gehören 30 nationale Forschungsinstitute und etwa 150 Hochschulen aus 26 Mitgliedstaaten sowie der Schweiz und der Ukraine an. EUROfusion hat seinen Sitz in Garching (Deutschland); der zentrale Versuchsreaktor, der Joint European Torus (JET), ist in Culham, Vereinigtes Königreich, angesiedelt.

3.   Wesentlicher Inhalt des Vorschlags

3.1.

In dem Vorschlag (4) werden die zentralen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem nächsten MFR thematisiert, um die positive Dynamik des ITER-Projekts fortzusetzen, kontinuierliche Fortschritte bei Bau und Montage zu gewährleisten und das Engagement aller ITER-Partner zu sichern. Zur Bewältigung dieser Herausforderungen muss die EU dauerhaft die Führungsrolle bei dem Projekt übernehmen, die durch eine hervorragende Leistung von F4E und die vollständige Bereitstellung des Anteils der EU an den Finanzierungsverpflichtungen und Sachleistungen untermauert werden muss.

3.2.

Die von Euratom benötigten Mittel für die erfolgreiche Fertigstellung der Anlage und den Beginn des Betriebs bzw. der Erprobungsphase werden in der von der Kommission im Juni 2017 angenommenen Mitteilung „EU-Beitrag zum reformierten ITER-Projekt“ näher erläutert.

3.3.

Die Kommission fordert das Europäische Parlament und den Rat auf, im mehrjährigen Finanzrahmen für den Zeitraum 2021-2027 im Zusammenhang mit den Euratom-Mittelbindungen für den ITER den Höchstbetrag von 6 070 000 000 EUR (zu jeweiligen Preisen) festzulegen. Dies wird als die kritische Masse an Finanzmittel erachtet, die notwendig ist, damit ITER-bezogene Maßnahmen der EU entsprechend der neuen Ausgangsbasis für den Bau des ITER Wirkung zeigen können. Der vorgeschlagene Haushalt beruht auf dem frühestmöglichen technisch machbaren Termin für die Fertigstellung des ITER ohne Rückstellungen und somit auf der Annahme, dass alle größeren Risiken begrenzt werden können.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA stellt fest, dass die Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit und unserer Energieversorgung von zentraler Bedeutung ist; sie wird aber nur dann auch nachhaltig sein, wenn sie mit der Bekämpfung des Klimawandels einhergeht. Kohlenstofffreie nachhaltige Energiequellen sind daher entscheidend für unseren künftigen Wohlstand und unser künftiges Wohlergehen. Saubere Energie ist ein vorrangiges Ziel, und die Fusionsenergie wird hierfür als eine mögliche langfristige Lösung anerkannt, wobei Europa bei der Entwicklung kohlenstofffreier nachhaltiger Fusionstechnologien eine Vorreiterrolle übernimmt.

4.2.

Der EWSA betont, dass die für die Entwicklung eines Fusionskraftwerks erforderlichen umfangreichen langfristigen Investitionen weiterhin ein gewisses industrielles Risiko bergen, mit der erfolgreichen Realisierung eines Fusionskraftwerks jedoch ein neuer Faktor ins Spiel käme, der die derzeitige Energieversorgung durch eine disruptive Innovation erheblich verändern würde. Fusionsbrennstoff steht in ausreichendem Maße zur Verfügung und ist eine nahezu unerschöpfliche Energiequelle: Tritium kann aus Lithium hergestellt werden, einem Metall, das überall in der Erdkruste und im Meerwasser zu finden ist, und Deuterium ist im Wasser der Erde vorhanden.

4.3.

Der EWSA verweist auf die spezifischen Sicherheitsmerkmale einer Fusion im Vergleich zur herkömmlichen Kernspaltung. Ein Fusionskraftwerk ist naturgemäß sicher: Nur wenige Gramm Brennstoff bilden das Plasma, das bei Störfällen schnell von selbst erlischt. Deuterium-Tritium-Reaktionen setzen Neutronen frei, die Materialien an den Wänden aktivieren. Die anfallenden radioaktiven Nebenprodukte sind kurzlebig, sodass die meisten Materialien nach einer bestimmten Abklingzeit wiederverwertet werden können und keine neues Endlager für radioaktive Abfälle erforderlich ist.

4.4.

Der EWSA fordert die Kommission auf, stärker in den Blickwinkel zu rücken, dass das ITER-Projekt unbedingt mit der von EUROfusion betriebenen europäischen Fusionsforschung verbunden werden muss. Neben dem Bau des ITER bedarf es auch einer gründlichen Vorbereitung und flankierender Programme. In Europa trägt ein koordiniertes Programm über den JET und andere Reaktoren neben der Entwicklung von Modellen und Simulationen zur Erprobung und Entwicklung von ITER-Betriebsszenarien sowie zur Projizierung und Optimierung der Leistung des ITER und der Konzeption des DEMO bei. Der Betrieb des JET-Tokamak mit einer Deuterium-Tritium-Mischung und einer ITER-ähnlichen Wand ist der Schlüssel zur Vorbereitung des ITER-Betriebs.

4.5.

Der EWSA weiß um den Mehrwert der EU, der sich im Erfolg von EUROfusion zeigt, dem Forschungsprogramm in Europa, an dem bei weitem die meisten Mitgliedstaaten (außer Luxemburg und Malta) beteiligt sind und das mit seinen grundlegenden Projekten dazu beiträgt, dass die EU in diesem Bereich weltweit führend ist. Investitionen und Forschungsmittel sind Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Hochschulen zugutegekommen.

4.6.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass die europäische Kernfusionsforschung im Allgemeinen und die Realisierung des ITER im Besonderen als herausragendes Beispiel für die Wirksamkeit gemeinsamer europäischer Projekte dienen kann. Die auf europäischer Ebene finanzierten und mit vereinten Anstrengungen erzielten Ergebnisse müssen den Bürgerinnen und Bürgern vermittelt werden, um ihr Vertrauen in Wissenschaft und Forschung zu stärken und ihr Bewusstsein für die Bedeutung der Europäischen Union zu schärfen, denn es wird ein entferntes und schwieriges Ziel erreicht, das mit den Anstrengungen und Finanzmitteln einzelner Länder allein nicht verwirklicht werden kann und sich langfristig nicht nur erheblich auf technologischer und industrieller Ebene, sondern auch auf die Forschung, die Industrie und die KMU auswirken wird — und bereits kurz- und mittelfristig insbesondere auf die Wirtschaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Der EWSA begrüßt, dass der neue europäische Fahrplan für die Verwirklichung der Fusionsenergie den Weg hin zu einem ersten Fusionskraftwerk klar absteckt — mit den Zielen einer verstärkten Beteiligung der Industrie, der Ausbildung von Fusionswissenschaftlern und -ingenieuren in ganz Europa und einer engen Zusammenarbeit mit Drittländern. Der Fahrplan umfasst den kurzfristigen Zeitraum bis zur Inbetriebnahme des ITER (2025), den mittelfristigen bis zum Routinebetrieb des ITER bei hoher Leistung (2035) und den langfristigen hin zu einem ersten Fusionskraftwerk (DEMO), das erstmals Strom an das Netz liefert.

5.2.

Der ITER ist das zentrale Instrument des Fahrplans, da mit ihm die meisten der wichtigen Meilensteine auf dem Weg zur Kernfusion erreicht werden dürften. Somit wird der überwiegende Teil der kurzfristig für EUROfusion vorgeschlagenen Mittel für den ITER und den damit verbundenen Versuchen bereitgestellt, darunter den Joint European Torus (JET) in Culham (England). Der EWSA ist sich bewusst, dass mit dem JET der Nachweis erbracht wurde, dass der Bau und Betrieb einer Großinfrastruktur für die Fusionsforschung effizient ist und den Nutzen für Wissenschaft und Industrie maximiert.

5.3.

Der EWSA unterstützt die Forderung der ITER-Organisation, im JET im Zeitraum vor dem ersten Plasma im ITER Ergebnisse zu erzielen, die einen wertvollen Beitrag leisten. Der JET verfügt über einzigartige Kapazitäten, da es sich um den einzigen Tokamak handelt, der für den Betrieb mit Tritium geeignet, mit den Materialien der ersten ITER-Wand ausgerüstet und komplett ferngesteuert ist, sodass sein Betrieb zu dem ITER-Forschungsplan in puncto Risikoverringerung, Kosteneinsparungen und Betriebsgenehmigung für den ITER beitragen kann. Dies ist besonders wichtig, da der von der Kommission vorgeschlagene ITER-Haushalt ohne Rückstellungen ist und somit auf der Annahme beruht, dass alle größeren Risiken begrenzt werden können.

5.4.

Der EWSA weiß, dass das ITER-Projekt mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat, die nur im JET gelöst werden können, und teilt daher die Bedenken betreffend die Auswirkungen des Brexits auf die Weiterführung des JET. Zur Minimierung der Risiken beim ITER-Betrieb und zur Optimierung seines Forschungsplans ist es nach Auffassung des EWSA wichtig, dass der JET in dem Zeitraum zwischen 2020 und dem Erstbetrieb des ITER weiterbetrieben wird (als Anlage der EU oder als Gemeinschaftsanlage der EU und des Vereinigten Königreichs), da es keine Auffanglösungen für den Ausfall des JET in dieser Zeit gibt.

5.5.

Der Kommissionsvorschlag enthält den ITER-Haushalt, doch wird die Frage ausgeklammert, ob der für das flankierende Kernfusionsforschungsprogramm erforderliche Haushalt ausreichend ist. Dieser ist Gegenstand eines eigenen Vorschlags (5), in dem wiederum die Anforderungen für den ITER ausgeklammert werden. Der EWSA betont, dass die Mittel für EUROfusion im Zeitraum 2021-2025 im Einklang mit den Zielen des Fahrplans für die Kernfusion stehen müssen, in dem die Arbeiten für den ITER wesentliche Bestandteile sind, während die Konzeptionstätigkeiten für den DEMO verstärkt werden müssen.

5.6.

Der EWSA begrüßt die Zweckdienlichkeit der Investitionen in die Fusionstechnologie für Industrie und KMU. Die EU-Investitionen in den Bau des ITER bringen bedeutende Vorteile für die europäische Industrie, und die Forschungsgemeinschaft gibt der Industrie die Möglichkeit, an wegweisenden Aktivitäten in den Bereichen FuE, Technologie, Bau und Fertigung für ITER-Komponenten teilzuhaben. Dabei werden neues Wissen geschaffen und Spin-offs entwickelt, die Wirtschaftswachstum und Beschäftigung fördern. Im Zeitraum 2008-2017 wurden im Rahmen von „Fusion for Energy“ 839 Aufträge und Zuschüsse in Höhe von ca. 3,8 Mrd. EUR in ganz Europa vergeben. Mindestens 500 Unternehmen, darunter KMU, und über 70 FuE-Organisationen aus ca. 20 verschiedenen Mitgliedstaaten und der Schweiz haben von Investitionen in ITER-Tätigkeiten profitiert. Darüber hinaus haben ITER-Partner aus Drittländern ebenfalls Verträge mit der europäischen Industrie unterzeichnet, um die Fertigung ihrer eigenen Komponenten für den ITER zu fördern, wodurch zusätzliche neue Arbeitsplätze für die europäischen Unternehmen entstehen und ihr Wachstum gefördert wird.

5.7.

Der EWSA nimmt die von der Kommission bereitgestellten umfassenden Informationen (6) zur Kenntnis, wonach der größte Nettoeffekt der ITER-Investitionen in Form von Spin-offs und Technologietransfers erzielt wird. Für den ITER entwickelte Technologien eröffnen neue Geschäftsmöglichkeiten in anderen Wirtschaftszweigen, da die Mitarbeit am ITER die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen in der Weltwirtschaft steigert, Gelegenheit für traditionelle Unternehmen bietet, auf dem High-Tech-Markt mitzumischen, und auch für die High-Tech-Industrie und KMU in Europa eine einzigartige Chance für Innovation und die Entwicklung von Produkten zur Nutzung außerhalb der Kernfusion ist.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 302 vom 7.12.2004, S. 27; ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 127; ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 60.

(2)  Stellungnahme TEN/678 — „Euratom-Programm für Forschung und Ausbildung 2021-2025“, Berichterstatterin: Giulia Barbucci (siehe Seite 132 dieses Amtsblatts).

(3)  Stellungnahme INT/858 Horizont Europa, Berichterstatter: Lobo Xavier (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 33).

(4)  COM(2018) 445 final.

(5)  COM(2018) 437 final und Stellungnahme TEN/678, Berichterstatterin: Giulia Barbucci (siehe Fußnote 2).

(6)  „Study on the impact of the ITER project activities in the EU“, ENER/D4/2017-458, (2018), Trinomics (Rotterdam) und Cambridge Econometrics.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/141


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines Hilfsprogramms für die Stilllegung des Kernkraftwerks Ignalina in Litauen (Ignalina-Programm) und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1369/2013 des Rates“

(COM(2018) 466 final — 2018/0251 (NLE))

„Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines spezifischen Finanzierungsprogramms für die Stilllegung kerntechnischer Anlagen und die Entsorgung radioaktiver Abfälle und zur Aufhebung der Verordnung (Euratom) Nr. 1368/2013 des Rates“

(COM(2018) 467 final — 2018/0252 (NLE))

und „Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Evaluierung und Durchführung der EU-Hilfsprogramme für die Stilllegung kerntechnischer Anlagen in Bulgarien, der Slowakei und Litauen“

(COM(2018) 468 final)

(2019/C 110/26)

Berichterstatter:

Rudy DE LEEUW

Befassung

Europäische Kommission, 12.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

20.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

177/8/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Kommission und weist auf die Empfehlungen für künftige Begleitmaßnahmen hin, die im Hauptteil der Stellungnahme formuliert werden.

1.2.

Der EWSA schlägt keine Änderungen am Vorschlag vor, sondern fordert eine intensivere Überwachung der Aktivitäten zu den in der Stellungnahme herausgestellten Aspekten, insbesondere in Bezug auf folgende Punkte:

ein Konzept, das auf die nachhaltige Entwicklung bei der Auswahl der Energieträger setzt;

die angemessene Berücksichtigung der konkreten Situation insbesondere in Litauen sowie in den anderen betroffenen Ländern im Hinblick auf sozioökonomische Aspekte;

die Verbreitung des im Bereich des Rückbaus erworbenen Fachwissens in der gesamten EU sowie die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Schulung der Arbeitnehmer;

die sichere und nachhaltige Entsorgung der anfallenden nuklearen Abfälle;

die Stärkung der Leistungsindikatoren, die auch die Leistung in Bezug auf den Schutz der Arbeitnehmer vor Strahlung umfassen müssen.

1.3.

Neben Experten und Behörden sollte auch die Zivilgesellschaft darin bestärkt und unterstützt werden, sich an der Überwachung dieser Aktivitäten zu beteiligen.

1.4.

Da mehrere Kernkraftwerke das Ende ihrer Lebensdauer bereits erreicht haben oder demnächst erreichen werden, fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, diese Situation zu bewerten und einen Bericht mit Vorschlägen vorzulegen, um die Kosten wie auch die Risiken der Stilllegung von Kernkraftwerken und der Lagerung radioaktiver Abfälle zu minimieren. In dem Bericht sollten auch die Auswirkungen der erheblichen Verringerung der Kapazitäten für die Wiederaufbereitung von Brennstoffen und radioaktiven Abfällen in der EU aufgrund des Brexits und im Gegenzug die Wiederaufbereitungs-Überkapazitäten des Vereinigten Königreichs berücksichtigt werden.

2.   Wesentlicher Inhalt der Vorschläge

2.1.

Die Kommission schlägt vor, die Hilfs- und Finanzierungsprogramme für die „Stilllegung kerntechnischer Anlagen und die Entsorgung radioaktiver Abfälle“ in Bulgarien (Kosloduj 1-4), der Slowakei (Bohunice IV 1-2) und Litauen (Ignalina 1-2) während des durch den mehrjährigen Finanzrahmen nach 2020 (MFR 2021-2027) abgedeckten Zeitraums fortzusetzen.

2.2.

Diese Vorschläge bringen zwei Veränderungen mit sich:

Mehr Flexibilität bei der Mittelverwendung: „[…] Eine zusätzliche Haushaltsflexibilität kann durch eine Neuverteilung der Mittel auf die einzelnen Maßnahmen erreicht werden, wenn und soweit dies angesichts der Fortschritte der Maßnahmen erforderlich ist.“ Hiermit werden die veränderlichen und oft unvorhersehbaren Ausgaben in einem bestimmten Jahr berücksichtigt;

Die Aufnahme der Stilllegungsprogramme für einige kerntechnische Anlagen der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) in Deutschland, Italien, Belgien und den Niederlanden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt, dass nach Verwirklichung eines der Programmziele (bessere Anpassung an die Erfordernisse und Gewährleistung einer sicheren Stilllegung der Anlage) im Mittelpunkt der nächsten Phase Stilllegungsaktivitäten stehen, die mit sicherheitsrelevanten radiologischen Herausforderungen verbunden sind. Diese Aktivitäten sind auch unter dem Blickwinkel eines Konzepts zu bewerten, das im Einklang mit den internationalen Übereinkommen, deren Vertragspartei die EU ist, auf ein nachhaltiges Energiesystem ausgerichtet ist (Klimaschutzübereinkommen von Paris, Verpflichtung der EU auf eine Niedrigemissionswirtschaft usw.).

3.2.

In dem Bericht über die Bewertung und Durchführung der EU-Hilfsprogramme für die Stilllegung kerntechnischer Anlagen in Bulgarien, der Slowakei und Litauen (im Folgenden „Bericht“) wird bestätigt, dass die Fortsetzung der Programme finanziell machbar ist. Der EWSA merkt an, dass sich die Haushaltsansätze für die Fortsetzung und den Abschluss des Kosloduj- und des Bohunice-Programms im mehrjährigen Finanzrahmen nach 2020 auf weniger als ein Viertel des entsprechenden Betrags im MFR 2014-2020 belaufen (63 Mio. EUR für Kosloduj und 55 Mio. EUR für Bohunice) und die Erreichung des vereinbarten Endzustands des Stilllegungsprozesses sichern. Im mehrjährigen Finanzrahmen nach 2020 werden 522 Mio. EUR veranschlagt, was über den im MFR 2014-2020 bereitgestellten Mitteln liegt.

3.3.

Der EWSA betont, dass in Bezug auf Litauen nach wie vor Bedenken bestehen. Er verweist darauf, dass die von der Kommission vorgesehenen Mittel nur 70 % des Bedarfs für diesen Zeitraum decken, und ist deshalb der Auffassung, dass der Vorschlag weder ein Zeichen der Solidarität setzt noch eine ausreichende finanzielle Unterstützung für ein Projekt bedeutet, das auch für die Nachbarstaaten wichtig ist. Ein erfolgreicher Rückbau des Kernkraftwerks Ignalina ist die größte Herausforderung im Bereich der nuklearen Sicherheit in der Europäischen Union und sollte so erfolgen, dass die Risiken für die Bürger der Europäischen Union möglichst gering gehalten werden.

3.4.

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission, einige ihrer GFS-Anlagen in das Programm für Bulgarien und die Slowakei aufzunehmen. Für den Rückbau der kerntechnischen Anlagen der GFS werden 348 Mio. EUR veranschlagt. Der EWSA betont die Vorbildfunktion der EU bei der Verwaltung ihrer eigenen GFS-Aktivitäten, da diese in der ausschließlichen Zuständigkeit der Kommission (GFS) als Genehmigungsinhaberin liegt. Nach dem Euratom-Vertrag muss die GFS ihre nuklearen Altlasten entsorgen und ihre abgeschalteten kerntechnischen Anlagen stilllegen. Das Programm bietet ein erhebliches Potenzial für den Wissenserwerb und -austausch. Somit werden die Mitgliedstaaten bei der Stilllegung ihrer eigenen Anlagen unterstützt.

3.5.

Der EWSA betont zudem, wie wichtig es im Interesse des Erkenntnisausbaus ist, die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Rückbaus zu erfassen, etwa auf den Arbeitsmarkt, die Gesundheitsindikatoren und die strukturelle Entwicklung einer Region in einem Mitgliedstaat.Die Rückbauarbeiten sollten als Gelegenheit genutzt werden, die Arbeitskräfte vor Ort theoretisch und praktisch in Aktivitäten weiterzubilden, die für die Zukunft entscheidend sein werden. Derartige Schulungen dürfen nicht von der Finanzierung ausgeschlossen werden.

3.6.

In Verbindung mit seiner Forderung nach einer engeren Überwachung empfiehlt der EWSA, im Rahmen des Programms Finanzmittel für die Gewährleistung der angemessenen Einbindung interessierter lokaler und nationaler Organisationen der Zivilgesellschaft bereitzustellen, um eine unabhängige, glaubwürdige und dauerhafte öffentliche Überwachung der Tätigkeiten zu sichern, die mit dieser finanziellen Unterstützung durchgeführt werden.

3.7.

Der EWSA stellt zufrieden fest, dass die Slowakei, Bulgarien und Litauen bei der Stilllegung ihrer Kernreaktoren innerhalb der vereinbarten Frist erhebliche Fortschritte erzielt haben. Er weist indes auf die Herausforderungen in nächster Zukunft hin, namentlich den Rückbau der Reaktorkerne und weitere Arbeiten in den Reaktorgebäuden. Die Einschränkungen bei der Entsorgung nuklearer Abfälle, besonders in Verbindung mit Kohle, und alte Reaktoren in Frankreich und im Vereinigten Königreich werden in dem Bericht nur am Rande gestreift. Der EWSA schlägt vor, dass die Entsorgung der nuklearen Abfälle, die ein langfristig sehr schwerwiegendes Problem ist, in dem Bericht eingehender geprüft wird.

3.8.

Der EWSA weist zudem auf das bewährte Verfahren, das insbesondere in Ignalina angewendet wird, hin, ehemalige Kraftwerksmitarbeiter bei der Arbeitsplatzsuche in den betroffenen Regionen zu unterstützen; dies ist nicht nur ein sozial wertvolles Unterfangen, sondern fördert auch die Entwicklung spezifischer, mit der Stilllegung verbundener Kompetenzen und den Wissenstransfer. Er erachtet dies als interessante Option, um auf die Bedürfnisse dieser Menschen einzugehen, die zudem mit Umschulungsmaßnahmen für die Arbeitnehmer einhergehen kann. Forschungseinrichtungen sollten darin bestärkt werden, aktiv an derartigen Projekten teilzunehmen, die finanziell angemessen zu unterstützen sind.

3.9.

Der Umfang der Programme steht im Einklang mit der EU-Sicherheitsordnung, die in drei Richtlinien enthalten ist:

1)

Richtlinie 2011/70/Euratom des Rates (1) über einen Gemeinschaftsrahmen für die verantwortungsvolle und sichere Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle;

2)

Richtlinie 2009/71/Euratom des Rates (2) und ihre Änderungsrichtlinie 2014/87/Euratom des Rates (3) über einen Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheit kerntechnischer Anlagen;

3)

Richtlinie 2013/59/Euratom des Rates (4) zur Festlegung grundlegender Sicherheitsnormen für den Schutz vor den Gefahren einer Exposition gegenüber ionisierender Strahlung.

3.10.

Aus historischen Gründen jedoch weichen diese Richtlinien teilweise von dem Grundsatz ab, dass letztlich die Mitgliedstaaten für die Bereitstellung angemessener finanzieller Mittel für die Stilllegung kerntechnischer Anlagen und die Entsorgung radioaktiver Abfälle verantwortlich sind. Der EWSA hat diesem Standpunkt aus Gründen der Solidarität bereits zugestimmt.

3.11.

Darüber hinaus ist eine höhere nukleare Sicherheit nicht nur auf regionaler und nationaler Ebene von entscheidender Bedeutung, sondern auch für ganz Europa und weltweit. Gemeinsame Anstrengungen für einen sicheren Umgang mit technischen Fragen bei der Stilllegung kerntechnischer Anlagen sowie die Aneignung entsprechender Kenntnisse sind nicht nur für die betroffenen Regionen und Mitgliedstaaten wichtig, sondern für die gesamte Europäische Union. Der EWSA unterstreicht deshalb, dass eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den Programmbeteiligten einerseits und der Kommission andererseits notwendig ist.

3.12.

Der EWSA begrüßt, dass das Programm die Entwicklung neuer hocheffizienter Instrumente für die Reduzierung der Abfallmengen ermöglicht hat. Er empfiehlt der Kommission, proaktiv vorzugehen und den Wissensaustausch in diesem Bereich zu fördern.

3.13.

Der EWSA weiß um die Bedeutung der für die Überwachung der Stilllegungsfortschritte und -kosten verwendeten grundlegenden Leistungsindikatoren. Er hebt hervor, wie wichtig die aufmerksame Überwachung und die effiziente Umsetzung der Programmvorgaben ist, und betont, dass durch die von der EU finanzierten Aktivitäten entsprechend den bereits genannten europäischen Richtlinien hochwertige Arbeitsplätze unter Wahrung eines höchstmöglichen Niveaus an Sicherheit und Strahlenschutz gefördert werden müssen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Angesichts dieser Überlegungen ist der EWSA der Auffassung, dass es möglich sein sollte, einen konkreteren Überblick über den aktuellen Stand des betrieblichen Strahlenschutzes an jedem Standort zu erhalten und eine ALARA-Strategie („As Low As Reasonably Achievable“ — so niedrig wie vernünftigerweise erreichbar) auszuarbeiten. Gemäß Artikel 5 der Richtlinie 2013/59/Euratom des Rates zur Festlegung grundlegender Sicherheitsnormen für den Schutz vor den Gefahren einer Exposition gegenüber ionisierter Strahlung liegt es in der ausschließlichen Verantwortung der betroffenen Mitgliedstaaten, hierfür Sorge zu tragen. Die Begrenzung der Strahlendosis, der Arbeitnehmer ausgesetzt sind, auf optimierte Werte der effektiven Dosis ist ein symptomatischer Indikator, der dem Programmziel zur radiologischen Sicherheit entspricht. Diese Daten müssen in den Registern der Behörden für Strahlenschutz und -sicherheit der betroffenen Mitgliedstaaten enthalten sein.

4.2.

Ein weiteres Problem ist die Entsorgung radioaktiver Abfälle, die eindeutig in der alleinigen Verantwortung der Mitgliedstaaten liegt. Der EWSA empfiehlt dennoch, dass die Kommission nicht nur den Wissensaustausch, sondern auch, soweit gesetzlich möglich, eine dynamische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten unterstützt. Dies wird zu einem hohen Maß an Sicherheit innerhalb vernünftiger wirtschaftlicher Parameter beitragen.

4.3.

Betreffend die Zusammenarbeit mit lokalen Sicherheitsbehörden sind nur wenige Informationen verfügbar. Dennoch erfordern einige Probleme, die in dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines spezifischen Finanzierungsprogramms für die Stilllegung kerntechnischer Anlagen und die Entsorgung radioaktiver Abfälle und zur Aufhebung der Verordnung (Euratom) Nr. 1368/2013 angeführt werden, weitere Aufmerksamkeit, besonders wenn es „aufgrund der langwierigen Genehmigungsverfahren der nationalen Behörden […] schwierig ist, das Programm zu verwalten […]“. Die Kommission verfügt über viele Instrumente, um diese Zusammenarbeit zu fördern, insbesondere im Rahmen der Gruppe der europäischen Aufsichtsbehörden für nukleare Sicherheit.

4.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass mehrere Kernkraftwerke in der EU das Ende ihrer Lebensdauer bereits erreicht haben oder demnächst erreichen werden und stillgelegt werden müssen. Dies fällt in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Der EWSA fordert die Europäische Kommission dennoch auf, diese Situation zu bewerten und einen Bericht mit Vorschlägen vorzulegen, um die Kosten wie auch die Risiken der Stilllegung von Kernkraftwerken und der Lagerung radioaktiver Abfälle zu minimieren. In dem Bericht sollten auch die Auswirkungen der erheblichen Verringerung der Kapazitäten für die Wiederaufbereitung von Brennstoffen und radioaktiven Abfällen in der EU aufgrund des Brexits und im Gegenzug die Wiederaufbereitungs-Überkapazitäten des Vereinigten Königreichs berücksichtigt werden.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. L 199 vom 2.8.2011, S. 48.

(2)  ABl. L 172 vom 2.7.2009, S. 18.

(3)  ABl. L 219 vom 25.7.2014, S. 42.

(4)  ABl. L 13 vom 17.1.2014, S. 1.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/145


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Empfehlung für einen Beschluss des Rates über die Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen über ein Übereinkommen zur Errichtung eines multilateralen Gerichtshofs für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten“

(COM(2017) 493 final)

(2019/C 110/27)

Berichterstatter:

Philippe DE BUCK

Mitberichterstatterin:

Tanja BUZEK

Befassung

13.12.2017 (Europäische Kommission)

Rechtsgrundlage

Artikel 207 AEUV

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe REX

Annahme in der Fachgruppe

23.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

206/3/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist sich der Tatsache bewusst, dass das Verfahren zur Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten (ISDS) in Handels- und Investitionsabkommen von zahlreichen Interessenträgern in Bezug auf Fragen der Legitimität, Kohärenz und Transparenz zunehmend kontrovers gesehen wird. Die Kritikpunkte umfassen unter anderem verfahrens- und materiellrechtliche Erwägungen.

1.2.

Der EWSA hat sich aktiv an der Debatte über die Modernisierung und Reform des Investitionsschutzes beteiligt. So hat er in seinen Stellungnahmen REX/464 und REX/411 verschiedene Bedenken und Empfehlungen dazu formuliert.

1.3.

Daher begrüßt der EWSA die Bemühungen der Europäischen Kommission um eine multilaterale Reform des ISDS im Rahmen der Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht (UNCITRAL) und ist der Ansicht, dass die EU allen Ansätzen und Ideen, die bezüglich der ISDS-Reform vorgebracht wurden, unbedingt offen gegenüberstehen sollte.

1.4.

Der EWSA befürwortet insbesondere, dass die Transparenz insofern stärker in den Vordergrund gerückt wird, als NRO nunmehr die Beratungen beobachten oder sogar an ihnen teilnehmen können.

1.5.

Der EWSA hält es für sehr wichtig, dass die Beiträge aller Interessenträger in der Arbeitsgruppe III der UNCITRAL willkommen sind, um die Inklusivität zu erhöhen, und fordert, dass das Verfahren zur Auswahl der Interessenträger weiter verbessert und ausgewogener gestaltet wird. Der EWSA fordert die Kommission zudem auf, sich nach Kräften um eine aktive Einbeziehung des EWSA in die Tätigkeit der Arbeitsgruppe III zu bemühen.

1.6.

Der EWSA hat stets anerkannt, dass ausländische Direktinvestitionen einen wichtigen Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisten und ausländische Investoren weltweit vor direkter Enteignung geschützt werden müssen, keinerlei Diskriminierung unterliegen dürfen und die gleichen Rechte genießen müssen wie inländische Investoren.

1.7.

Er hat jedoch auch immer betont, dass das Recht eines Staates, im öffentlichen Interesse Rechtsvorschriften zu erlassen, nicht durch internationale Investitionsabkommen ausgehöhlt werden darf.

1.8.

Im Zusammenhang mit der Schaffung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs muss nach Ansicht des EWSA eine Reihe grundlegender Fragen geklärt werden, die den Geltungsbereich, den Schutz des öffentlichen Interesses, die Zugänglichkeit und das Verhältnis zu inländischen Gerichten betreffen.

1.9.

Geltungsbereich: Der EWSA befürwortet zwar einen stärker ganzheitlich ausgerichteten Ansatz, der sowohl materiellrechtliche als auch verfahrensrechtliche Aspekte des Investitionsschutzes umfasst, nimmt jedoch zur Kenntnis, dass der vorgeschlagene Geltungsbereich sich nur auf die verfahrensrechtlichen Aspekte der Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten erstreckt.

1.10.

Öffentliches Interesse: Der EWSA hält es für wesentlich, dass der multilaterale Investitionsgerichtshof in keiner Weise die Fähigkeit der EU oder der Mitgliedstaaten, ihren Verpflichtungen gemäß internationalen Umwelt- und Menschenrechtsübereinkommen und Tarifverträgen sowie zum Schutz der Verbraucher gerecht zu werden, beeinträchtigen darf, und auch nicht ihr Recht, verfahrensrechtliche Bestimmungen zum Schutz vor Klagen zu erlassen, die sich gegen dem Gemeinwohl dienende Rechtsvorschriften richten. Der EWSA ist deshalb der Ansicht, dass dies nur durch die Aufnahme einer Klausel über die Normenhierarchie und eines Gemeinwohlvorbehalts ausreichend verwirklicht werden kann.

1.11.

Rechte Dritter und Gegenklagen: Nach Ansicht des EWSA ist die Zulassung von „amicus curiae“-Schriftsätzen ein begrüßenswerter erster Schritt, wobei aber sichergestellt werden muss, dass die Richter diese auch gebührend berücksichtigen. Er begrüßt, dass im Mandat auch die Möglichkeit einer Intervention Dritter vorgesehen ist, und empfiehlt die Prüfung der Rolle Dritter — Anwohner, Arbeitnehmer, Gewerkschaften, Umweltverbände oder Verbraucher.

1.12.

Verhältnis zu inländischen Gerichten: Der EWSA ist der Ansicht, dass sich der multilaterale Investitionsgerichtshof unter keinen Umständen negativ auf das Justizwesen in der EU und die Eigenständigkeit des Unionsrechts auswirken darf. Er weist darauf hin, dass die Frage des Verhältnisses zwischen den inländischen Gerichten und dem multilateralen Investitionsgericht von den einzelnen Interessenträgern unterschiedlich beurteilt wird, ermutigt die Kommission jedoch, die Frage der Ausschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe und ihre potenzielle Funktionsweise im Kontext eines multilateralen Investitionsgerichtshofes weiter zu untersuchen.

1.13.

Unabhängigkeit und Legitimität der Richter: Die Ernennung von Richtern auf permanenter Basis ist ein wesentlicher Faktor für den Aufbau einer Rechtsprechung und für eine bessere Vorhersehbarkeit. Im Hinblick auf die fachliche Eignung der Richter sollten ein mit entsprechenden Nachweisen belegtes Fachwissen in vielfältigen Bereichen des Rechts gefordert sein. Der EWSA begrüßt die Festlegung klarer und anspruchsvoller Kriterien für die Auswahl der Richter, um die Rechtsstaatlichkeit und das Vertrauen der Öffentlichkeit zu gewährleisten, und fordert ein transparentes Auswahlverfahren mit öffentlicher Kontrolle.

1.14.

Ein wirksames System: Ein Sekretariat sollte mit der eigentlichen Verwaltung des multilateralen Investitionsgerichtshofs betraut werden, wobei die Bereitstellung ausreichender Mittel für seine Arbeit sicherzustellen ist und die Verwaltungskosten unter Berücksichtigung verschiedener Kriterien unter den Vertragsparteien gerecht aufzuteilen sind. KMU müssen das gleiche Maß an Schutz und den Zugang zu Streitbeilegungsmechanismen zu angemessenen Bedingungen und Kosten genießen, und alle Entscheidungen des multilateralen Investitionsgerichtshofs sollten durchsetzbar sein und veröffentlicht werden.

1.15.

Ein hohes Maß an Schutz und potenzieller Übergangszeitraum: Es muss darauf hingewiesen werden, dass keines der von der EU oder den Mitgliedstaaten unterzeichneten Abkommen automatisch der Zuständigkeit des Gerichtshofs unterstellt wird und dass im Interesse eines möglichst umfassenden Investitionsschutzes während eines potenziellen Übergangszeitraums weiterhin die vereinbarten Streitbeilegungsverfahren gelten, bis die Verfassungsmäßigkeit und Zulässigkeit eines multilateralen Investitionsgerichtshofs nach EU-Recht gegeben ist.

2.   Hintergrund

2.1.

Das seit den 1970er-Jahren durch mehr als 3 200 Verträge stetig ausgebaute Investitionsschutzsystem umfasst materiellrechtliche Investitionsschutzklauseln und Klauseln zum Streitbeilegungsverfahren, die Mechanismen vorsehen, mit denen Investoren gemäß den Rechtsvorschriften der Verträge Ansprüche gegenüber Aufnahmestaaten geltend machen können (ISDS).

2.2.

Der EWSA verweist auf eine aktuelle, im Rahmen der OECD-Arbeitspapiere über Internationale Investitionen erschienene Veröffentlichung von Fachreferent Joachim Pohl mit dem Titel „Societal benefits and costs of International Investment Agreements“ (Gesellschaftliche Vorteile und Kosten von internationalen Investitionsabkommen — eine kritische Überprüfung der Aspekte und verfügbaren empirischen Belege) (1).

2.3.

In den letzten Jahren war die Reform der Investor-Staat-Streitbeilegung (ISDS) ein zentrales Thema der Debatte über die EU-Investitionspolitik, deren Investitionsschutzsystem von zahlreichen Interessenträgern in Bezug auf Fragen der Legitimität, der Kohärenz und Transparenz zunehmend kontrovers gesehen wird. Die Kritikpunkte umfassen unter anderem verfahrens- und materiellrechtliche Erwägungen.

2.4.

Diese Bedenken kamen auch bei zwei öffentlichen Konsultationen zum Ausdruck, die von der Europäischen Kommission organisiert wurden. Die erste Konsultation fand während der Verhandlungen über die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) (2) im Jahr 2014 statt. Die zweite Konsultation wurde 2017 im Rahmen der multilateralen Bemühungen zur Reform der Systeme zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten organisiert (3).

2.5.

Das Europäische Parlament hat in seiner Entschließung vom 8. Juli 2015 zum TTIP die Kommission aufgefordert, „das ISDS-Verfahren durch ein neues Verfahren für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten zu ersetzen, das den demokratischen Grundsätzen entspricht und der demokratischen Kontrolle unterliegt, in dessen Rahmen etwaige Streitsachen in öffentlichen Verfahren transparent von öffentlich bestellten, unabhängigen Berufsrichtern verhandelt werden, eine Berufungsinstanz vorgesehen ist, die Kohärenz richterlicher Urteile sichergestellt wird die Rechtsprechung der Gerichte der EU und der Mitgliedstaaten geachtet wird und die Ziele des Gemeinwohls nicht durch private Interessen untergraben werden können“ (4).

Entwicklungen auf Ebene der EU

2.6.

Als Reaktion auf die Kritik am derzeitigen ISDS und den Reformdruck aus der Zivilgesellschaft hat die Kommission eine neue Investitionsgerichtsbarkeit (ICS), d. h. ein neues System für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten, vorgeschlagen und sie in das umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) und in die Freihandelsabkommen EU-Singapur und EU-Vietnam integriert.

2.7.

In diesem Zusammenhang enthält Artikel 8.29 des CETA eine besondere Bestimmung, wonach die Parteien aufgefordert sind, künftig die Möglichkeit der Errichtung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs zu erwägen: „Die Vertragsparteien streben für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten gemeinsam mit anderen Handelspartnern die Errichtung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs mit Rechtsbehelfsinstanz an. Bei Errichtung eines solchen multilateralen Mechanismus erlässt der Gemischte CETA-Ausschuss einen Beschluss, dem zufolge Entscheidungen in von diesem Abschnitt erfassten Investitionsstreitigkeiten in Anwendung des multilateralen Mechanismus getroffen werden, und legt geeignete Übergangsregelungen fest.“

2.8.

Allerdings ist noch keines der genannten Abkommen ratifiziert, und im Zusammenhang mit dem ICS im CETA ist ein Fall vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängig (5). Mit einer Entscheidung dürfte innerhalb der nächsten Monate nicht zu rechnen sein.

2.9.

Der EWSA stellt fest, dass das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen EU-Japan kein Kapitel über den Schutz von Investitionen enthält, weil Japan dem Vorschlag der EU zur Investitionsgerichtsbarkeit nicht folgen konnte.

Mitwirkung des EWSA

2.10.

Im Rahmen dieses Prozesses hat sich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) aktiv an der Debatte über die Modernisierung und Reform des Investitionsschutzes, insbesondere des Systems zur Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten, beteiligt, u. a. durch die Organisation von zwei öffentlichen Anhörungen, im Juni 2016 (6) und im Februar 2018 (7). Der EWSA verabschiedete zu diesem Thema die Stellungnahmen REX/464 „Der Standpunkt des EWSA zu spezifischen Kernaspekten der transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP)“ (8) und REX/411 „Investitionsschutz und Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat in Handels- und Investitionsabkommen der EU mit Drittländern“ (9).

2.11.

Der EWSA stellte darin fest, dass ausländische Direktinvestitionen ein wichtiger Beitrag zum Wirtschaftswachstum sind und ausländische Investoren weltweit vor direkter Enteignung geschützt werden müssen, keinerlei Diskriminierung unterliegen dürfen und die gleichen Rechte genießen müssen wie inländische Investoren.

2.12.

Gleichzeitig betonte der EWSA, dass das Recht eines Staates, im öffentlichen Interesse Rechtsvorschriften zu erlassen, von größter Bedeutung ist und durch internationale Investitionsabkommen (IIA) nicht ausgehöhlt werden darf. Eine eindeutige Bestimmung, die dieses Recht auf allen Ebenen verankert, ist von wesentlicher Bedeutung.

2.13.

Der EWSA war abschließend der Auffassung, dass der Vorschlag der Kommission für die Investitionsgerichtsbarkeit ein Schritt in die richtige Richtung war, jedoch in einigen Punkten verbessert werden muss, damit sie als unabhängiges internationales Rechtsorgan tätig werden kann. Zudem nahm der EWSA den Einwand einiger Interessenträger zur Kenntnis, dass in ordnungsgemäß funktionierenden und hochentwickelten inländischen Rechtssystemen ein eigenes Schiedssystem für Investitionsstreitigkeiten nicht nötig sei.

2.14.

Der EWSA hat konkrete Bedenken zum ISDS in seiner Stellungnahme zum Thema „Investitionsschutz und Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat in Handels- und Investitionsabkommen der EU mit Drittländern“ formuliert (10). Diese Bedenken betrafen folgende Punkte: Interessenkonflikte und Befangenheit von Schiedsrichtern, unseriöse Klagen, die Beschaffenheit des Schiedsgerichtssystems, der Rückgriff auf ISDS, ohne erst andere Methoden der Streitbeilegung anzuwenden, die unnötige Inanspruchnahme von ISDS bei Streitigkeiten zwischen Ländern mit entwickelten Rechtssystemen, die potenzielle Unvereinbarkeit von ISDS mit dem EU-Recht und die Intransparenz der Verfahren.

Multilaterale Ebene

2.15.

Gleichzeitig laufen auch auf multilateraler Ebene Gespräche über eine Reform des ISDS. Am 10. Juli 2017 beschloss die Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht (UNCITRAL) auf Ersuchen ihrer Mitglieder, darunter auch der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (11), die regierungsgeleitete Arbeitsgruppe III einzusetzen. Ihr wurde der Auftrag erteilt, (1) Bedenken hinsichtlich der ISDS zu ermitteln und zu prüfen, (2) zu beurteilen, ob eine Reform in Anbetracht der festgestellten Bedenken wünschenswert ist, und (3) der Kommission entsprechende Lösungen vorzulegen, sofern die Arbeitsgruppe zu dem Schluss gelangt, dass eine Reform wünschenswert ist (12).

2.16.

Im weiteren Sinne leistet die Welthandelskonferenz der Vereinten Nationen (Unctad) ebenfalls einen Beitrag zur aktuellen Debatte über die Reform des ISDS und bietet eine Analyse der derzeitigen internationalen IIA und Empfehlungen für die Modernisierung der IIA. Dazu gehören: Förderung einheitlicher Auslegungen der Vertragsbestimmungen, Änderung oder Ersatz veralteter Abkommen, Bezugnahme auf globale Standards, multilaterale Bemühungen und Kündigung oder Rücktritt von alten Abkommen (13).

2.17.

Unctad-Statistiken zufolge, die auf der öffentlichen Anhörung des EWSA im Februar 2018 hervorgehoben wurden, sind in den letzten Jahren 107 Investitionsabkommen mit ISDS beendet und nicht ersetzt worden. Im vergangenen Jahr wurden sogar mehr Investitionsabkommen beendet als neu geschlossen (14). Der EWSA stellt fest, dass einige Länder damit begonnen haben, ihren Standpunkt hinsichtlich ISDS zu überdenken.

2.18.

Der EWSA weist darauf hin, dass neben der Reform des ISDS auch verschiedene politische Instrumente zur Wahrung eines tragfähigen Umfeldes für Investitionen beitragen können, darunter:

Stärkung der inländischen Justiz;

Absicherung der Investoren, beispielsweise durch die Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur der Weltbank;

Streitvermeidung;

weitere Formen der Streitbeilegung wie die Mediation;

Förderung von Investitionen und

zwischenstaatliche Streitschlichtungsverfahren.

2.19.

Abschließend nimmt der EWSA die Resolution 26/9 des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen vom 26. Juni 2014 zur Kenntnis, mit der dieser beschloss, eine unbefristete zwischenstaatliche Arbeitsgruppe zu transnationalen Unternehmen und anderen Firmen in Bezug auf Menschenrechte mit dem Mandat einzusetzen, ein internationales rechtsverbindliches Instrument zur Regulierung der Tätigkeiten transnationaler Unternehmen und anderer Firmen innerhalb der internationalen Menschenrechtsnormen auszuarbeiten (15). Mit diesem rechtsverbindlichen Instrument der Vereinten Nationen („UN binding treaty“), das derzeit von den UN-Mitgliedern erörtert wird, sollen internationale Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte bei den Aktivitäten transnationaler Unternehmen kodifiziert werden. Der EWSA wird die möglichen Auswirkungen im Kontext der Handels- und Investitionsabkommen in der Zukunft beobachten.

Mandat der Kommission

2.20.

Am 13. September 2017 veröffentlichte die Europäische Kommission eine „Empfehlung für einen Beschluss des Rates über die Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen über ein Übereinkommen zur Errichtung eines multilateralen Gerichtshofs für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten“ (16). Das Mandat wurde in der von den Mitgliedstaaten geänderten Fassung am 20. März 2018 im Rat angenommen (17).

2.21.

Mit den angenommenen Verhandlungsrichtlinien wird ein ständiger Gerichtshof mit unabhängigen Richtern angestrebt, der in der Lage ist, beständige, vorhersehbare und kohärente Entscheidungen zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten zu treffen, die auf bilateralen oder multilateralen Vereinbarungen beruhen, wenn beide Seiten (oder mindestens zwei Vertragsparteien) vereinbart haben, dass diese in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fallen. Zudem ist die Einrichtung einer Berufungsinstanz vorgesehen. Insgesamt betrachtet muss der Gerichtshof auf eine wirtschaftliche, transparente und effiziente Weise funktionieren, was auch für die Ernennung von Richtern gilt. Der Gerichtshof muss auch die Beteiligung Dritter zulassen (einschließlich zum Beispiel interessierter Umwelt- oder Arbeitnehmerorganisationen).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Europäischen Kommission bezüglich einer multilateralen Reform der Investor-Staat-Streitbeilegung. Der EWSA würdigt ferner die Entwicklungen im Rahmen der ISDS-Reform, die multilateralen Anstrengungen nach UNCITRAL sowie die verschiedenen Anstrengungen auf nationaler Ebene.

3.2.

Nach Ansicht des EWSA sollte die EU allen Optionen für Reformen des ISDS und vor allem verschiedenen alternativen Ansätzen und Ideen gegenüber, die bezüglich des ISDS vorgebracht wurden, unbedingt offen eingestellt sein. Von anderen Ländern und Organisationen erstellte Vorschläge sollten berücksichtigt und beurteilt werden, insbesondere durch die Arbeitsgruppe III von UNCITRAL.

3.3.

In diesem Zusammenhang nimmt der EWSA zur Kenntnis, dass der Schwerpunkt der von der Europäischen Kommission durchgeführten öffentlichen Konsultation „Options on a multilateral reform of investment dispute resolution“ (Optionen für eine multilaterale Reform des Systems zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten) vorrangig auf technischen Fragen bezüglich der Einrichtung eines ständigen multilateralen Investitionsgerichtshofs lag. Der EWSA möchte betonen, dass die Frage, ob die Kommission bei ihrer Bewertung andere Meinungen berücksichtigt hat, von den Interessenträgern ganz unterschiedlich beantwortet wird.

3.4.

Obwohl die Verhandlungen über die Einrichtung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs noch nicht begonnen haben und zu erwarten ist, dass sie langwierig und kompliziert sein werden, begrüßt der EWSA das verstärkte Engagement der Europäischen Kommission für mehr Transparenz, insbesondere die Veröffentlichung des Entwurfs für ein Verhandlungsmandat. Der EWSA begrüßt, dass der Rat das endgültige, von den Mitgliedstaaten gebilligte Mandat veröffentlicht hat. Dies ist ein wichtiger Schritt, damit die Diskussionen und potenziellen Verhandlungen durch Transparenz, Rechenschaftspflicht und Inklusion geprägt sind.

3.5.

Die Beratungen unter der Schirmherrschaft der UNCITRAL sind vor allem unter dem Gesichtspunkt der Transparenz ein Schritt in die richtige Richtung, da die NRO diese Diskussionen beobachten und sogar an ihnen teilnehmen können. Der EWSA verweist jedoch darauf, dass nicht allen relevanten Interessenträger Zugang zu den Verfahren gewährt wurde und dass noch mehr Organisationen der Wirtschaft, der Gewerkschaften sowie sonstige Organisationen, die öffentliche Interessen vertreten, von der UNCITRAL zur Arbeitsgruppe III eingeladen werden sollten. Die Beschlussfassung muss vollständig transparent und konsensbasiert sein.

3.6.

Der EWSA hält es für sehr wichtig, dass die Beiträge aller Interessenträger in der Arbeitsgruppe willkommen sind, um die Inklusivität zu erhöhen, und dass das Verfahren zur Auswahl der Interessenträger weiter verbessert und ausgewogener gestaltet wird. Er fordert die Europäische Kommission daher auf, seine aktivere Einbeziehung sicherzustellen.

3.7.

Die Errichtung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs ist ein langfristiges Vorhaben, das eine kritische Masse von Staaten erfordert, die als Vertragsparteien dem Übereinkommen beitreten wollen. Die EU sollte daher alle notwendigen diplomatischen Bemühungen unternehmen, um Drittländer dazu zu bewegen, sich an diesen Verhandlungen zu beteiligen. Der EWSA hält es zudem für besonders wichtig, dass dieses Projekt auch von Entwicklungsländern getragen und unterstützt wird.

3.8.

Ein künftiger multilateraler Investitionsgerichtshof würde die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten im Rahmen zahlreicher bestehender internationaler Investitionsabkommen erleichtern. Trotz einer gewissen Ähnlichkeit der materiellrechtlichen Investitionsschutzklauseln in bilateralen Investitions- oder Freihandelsabkommen, die Kapitel zum Investitionsschutz enthalten, ist eine vollständige Harmonisierung der Regelung nur schwer zu erreichen.

3.9.

Dies würde eine breiter angelegte Reform erfordern. Obwohl das ICS-System noch nicht umgesetzt ist und derzeit vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) noch geprüft wird, könnte es in der Form, wie es im umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommen EU-Kanada (CETA) (18) und den Freihandelsabkommen EU-Singapur (19), EU-Vietnam und EU-Mexiko vorgesehen ist und in Zukunft in weiteren Abkommen vorgesehen werden könnte (20), Erfahrungen liefern und zur Ausarbeitung von Regeln für einen multilateralen Investitionsgerichtshof beitragen.

3.10.

Die Empfehlung der Kommission zielt auf die Schaffung eines neuen Systems zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten ab. Der EWSA begrüßt, dass durch das neue System etlichen Anliegen der Zivilgesellschaft entsprochen werden könnte. Eine Reihe von grundsätzlichen Fragen ist allerdings noch offen und muss geklärt werden.

Grundsätzliche Fragen

3.11.

Da sich der multilaterale Reformprozess des ISDS noch in der Anfangsphase befindet, wurde von den Interessenträgern eine Reihe von grundlegenden Fragen aufgeworfen, die mit der Einrichtung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs in einem Zusammenhang stehen. Diese befassen sich schwerpunktmäßig mit Aspekten in Bezug auf den Anwendungsbereich — ob die Reform materiell- oder verfahrensrechtliche Elemente des Investitionsschutzes umfassen soll oder beides, sowie auf den Zugang zu dem Mechanismus — ob nur Investoren Ansprüche vor einem multilateralen Investitionsgerichtshof geltend machen können oder auch Dritte —, und die Ausschöpfung inländischer Rechtsmittel — ob zuerst die verfügbaren inländischen Rechtsmittel auszuschöpfen sind, bevor ein Investor ein Verfahren bei einem künftigen multilateralen Investitionsgerichtshof anstrengen kann. In dieser Stellungnahme werden diese Fragen einer Betrachtung unterzogen.

3.12.

Der EWSA möchte diesbezüglich darauf hinweisen, dass bei einer Einrichtung des Investitionsgerichtshofs sowohl dem Subsidiaritätsprinzip als auch Artikel 1 EUV Rechnung getragen werden muss, wonach „Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden“ (21).

3.13.

Der EWSA nimmt die Bedenken zur Kenntnis, dass der multilaterale Investitionsgerichtshof zu einer Erweiterung des ISDS-Systems führen könnte, ohne dass dabei zunächst bestehende Bedenken über die Investitionsgerichtsbarkeit, einschließlich über ihre Vereinbarkeit mit dem EU-Recht, angemessen ausgeräumt werden. Der EWSA teilt die Ansicht, dass ein internationaler Investitionsgerichtshof unter keinen Umständen zu einem generellen Ersatz für ein nationales Streitbeilegungssystem in Ländern, die über ein angemessenes Rechtssystem verfügen, werden darf.

3.14.

Mehrere Interessenträger haben erhebliche Bedenken hinsichtlich der Zweckmäßigkeit geäußert, das Verfahren zu reformieren, bevor eine Untersuchung des materiellen Rechts, das in Bezug auf einen künftigen multilateralen Investitionsgerichtshof zur Anwendung kommen soll, und eine Beauftragung eines institutionalisierten multilateralen Organs mit der Auslegung dieser Vorschriften erfolgt sind. Ebenso gibt es Befürchtungen, dass dadurch möglicherweise eine neue rechtliche Machtbasis geschaffen werden könnte. Andere Interessenträger teilen die Auffassung der Europäischen Kommission, dass das materielle Recht in den zugrunde liegenden Abkommen geregelt wird.

4.   Geltungsbereich der vorgeschlagenen Reform: materiellrechtliche Schutzklauseln oder Streitbeilegungsverfahren

4.1.

Der EWSA stellt fest, dass die vorgeschlagene multilaterale Reform sich nur auf die verfahrensrechtlichen Aspekte der Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten erstreckt.

4.2.

Obwohl der EWSA einen umfassenderen Ansatz befürwortet, der sowohl materiellrechtliche als auch verfahrensrechtliche Aspekte des Investitionsschutzes umfasst, weiß er um die Komplexität der Materie und sieht die Notwendigkeit einer politischen Unterstützung auf multilateraler Ebene.

4.3.

Bei den Beratungen im Rahmen der UNCITRAL wurden von der Arbeitsgruppe III eine Reihe von Herausforderungen ermittelt. Diese betreffen u. a. die Frage, ob zunächst das Verfahren und dann das materielle Recht zur Streitbeilegung zwischen Investoren und Staaten reformiert werden kann. Die UNCITRAL hält dies für eine schwierige, jedoch keineswegs unlösbare Aufgabe. Diesbezüglich wird die Arbeitsgruppe III Fragen prüfen, die zwar verfahrenstechnischer Art sind, allerdings auch für die Legitimität und die Schlüssigkeit des gesamten Systems bedeutsam sind, wie z. B. ein Verhaltenskodex für Schiedsrichter, Finanzierung durch Dritte und Parallelverfahren.

4.4.

Der materiellrechtliche Investitionsschutz wird normalerweise durch eine Reihe von Prinzipien garantiert, darunter: Inländergleichbehandlung, Meistbegünstigung, gerechte und billige Behandlung und Garantie von Kapitaltransfers. Jedoch gelten Beschränkungen für die Klagen, die ausländische Investoren in die Streitbeilegung einbringen können. So sollen beispielsweise keine Klagen allein aufgrund entgangenen Gewinns oder einer bloßen Änderung der nationalen Rechtsvorschriften eingereicht werden können.

4.5.

Die Staaten tragen den geäußerten Bedenken mit verschiedenen Maßnahmen Rechnung. Sie reichen von umfassenderen Ansätzen wie der Entwicklung neuer Modelle für Abkommen, bei denen sowohl die materiellrechtlichen als auch die verfahrensrechtlichen Aspekte des Investitionsschutzes reformiert werden, bis hin zu gezielteren Ansätzen, die sich entweder auf die Reform der materiellrechtlichen oder der verfahrensrechtlichen Komponente des Investitionsschutzes beziehen. Der EWSA stellt fest, dass die EU mit der Investitionsgerichtsbarkeit bereits damit begonnen hat, einen stärker ganzheitlich geprägten Ansatz zu fördern, zumindest auf bilateraler Ebene.

4.6.

Die Kommission strebt nach eigener Aussage an, dass ein — noch einzurichtender — multilateraler Investitionsgerichtshof in allen zukünftigen Abkommen der EU das Standardmodell für die Lösung von Investitionsstreitigkeiten sein und zugleich auch die derzeitigen Verfahrensmechanismen in bestehenden Investitionsabkommen der EU und der Mitgliedstaaten ersetzen sollte.

4.7.

In diesem Zusammenhang sollte die Einrichtung eines multilateralen Investitionsgerichtshofes, falls dieses Vorhaben umgesetzt wird, das bestehende System der Investor-Staat-Streitbeilegung auf eine solche Weise reformieren, dass einerseits ein wirksamer Schutz von ausländischen Direktinvestitionen gewährleistet wird und andererseits voll und ganz den von den Interessenträgern vorgebrachten Bedenken Rechnung getragen wird. Der EWSA stellt fest, dass diesbezüglich erhebliche Fortschritte erzielt worden sind, insbesondere im Zusammenhang mit den jüngsten von der EU ausgehandelten modernen Freihandelsabkommen.

5.   Das öffentliche Interesse

5.1.

Der EWSA hält es für wesentlich, dass der multilaterale Investitionsgerichtshof in keiner Weise die Fähigkeit der EU oder der Mitgliedstaaten, ihren Verpflichtungen gemäß internationalen Umwelt- und Menschenrechtsübereinkommen und Tarifverträgen sowie zum Schutz der Verbraucher gerecht zu werden, beeinträchtigen darf.

5.2.

In erster Linie sollte das Übereinkommen zur Errichtung des multilateralen Investitionsgerichtshofs eine Klausel über die Normenhierarchie enthalten, mit der sichergestellt wird, dass im Falle eines Widerspruchs zwischen Bestimmungen in einem internationalen Investitionsabkommen einerseits und einem anderen internationalen Umwelt-, sozialen oder Menschenrechtsabkommen andererseits, das für eine der Streitparteien verbindlich gilt, die Verpflichtungen aus dem internationalen Umwelt-, sozialen oder Menschenrechtsabkommen gegenüber den Investitionsabkommen Vorrang haben (22). Diese Klausel ist besonders wichtig, um sicherzustellen, dass die Vertragsparteien des multilateralen Investitionsgerichtshofs über die notwendigen Freiräume verfügen, um die Ziele des Übereinkommens von Paris zu erreichen, was erhebliche Gesetzesänderungen notwendig macht, um eine erfolgreiche Energiewende zu meistern.

5.3.

Zudem sind verfahrensrechtliche Bestimmungen zum Schutz vor Klagen notwendig, die sich gegen im öffentlichen Interesse erlassene Rechtsvorschriften richten, damit das Recht der Vertragsparteien, solche Rechtsvorschriften nach eigenem Ermessen zu erlassen, gegenüber dem Investorschutz Vorrang hat. Der EWSA ist der Ansicht, dass dies nur durch die Aufnahme eines Gemeinwohlvorbehalts ausreichend verwirklicht werden kann. Dies muss jedoch mit geeigneten Garantien einhergehen, dass dieser Vorbehalt nicht missbraucht wird. In diesem Zusammenhang müssen beim Regelungsrecht im Bereich des Sozialschutzes ausdrücklich Tarifverträge erwähnt werden, einschließlich dreiseitiger und/oder generalisierter (Erga-Omnes-)Vereinbarungen, damit ausgeschlossen ist, dass sie als Verstoß gegen den Vertrauensschutz für Investoren ausgelegt werden (23).

5.4.

Der EWSA stellt fest, dass mit Artikel 8.18 Absatz 3 des CETA bereits sichergestellt ist, dass ein Investor keine Klage einreichen darf, wenn die Investition mit einer arglistigen Täuschung, mit dem Verschweigen von Tatsachen, mit Korruption oder mit einem Verhalten, das einen Verfahrensmissbrauch darstellt, einhergeht. Ein mögliches zukünftiges Übereinkommen zur Errichtung des multilateralen Investitionsgerichtshofs sollte daher sicherstellen, dass diese Klausel über das anwendbare Recht noch um Betrug, Menschenrechtsverletzungen oder Verstöße gegen das (internationale) Umwelt-, Sozial- oder Verbraucherrecht erweitert wird.

5.5.

Strenge Kriterien zur Verhinderung unseriöser Klagen und für die frühzeitige Abweisung von unbegründeten Fällen sollten ebenfalls in den Verfahrensvorschriften des multilateralen Investitionsgerichtshofs verankert werden. Die Existenz von beschleunigten Vorabentscheidungsverfahren ist besonders wichtig, um unseriöse Klagen abzuweisen, da damit einem Kritikpunkt am derzeitigen System begegnet und künftig dem Missbrauch ein Riegel vorgeschoben wird. Zusätzlich wird ein solches beschleunigtes Verfahren für Klagen, die jeder rechtlichen Grundlage entbehren, zur Reduzierung der Kosten für das Funktionieren des Gerichtshofs beitragen.

5.6.

Der EWSA weist darauf hin, dass während seiner öffentlichen Anhörung als ein problematischer Bereich die Möglichkeit der Finanzierung von Klagen durch Dritte genannt wurde. Die Finanzierung durch Dritte könnte den ursprünglichen Zielen des Investitionsabkommens zuwiderlaufen und falsche Anreize schaffen. Daher empfiehlt der EWSA, die Auswirkungen und die Notwendigkeit der Finanzierung durch Dritte und ihrer Reglementierung im Rahmen des multilateralen Investitionsgerichtshofs (24) zu untersuchen.

6.   Rechte Dritter und Widerklagen

6.1.

Nach Ansicht des EWSA könnte die Einreichung von „amicus curiae“-Schriftsätzen (25) zugelassen werden, wie sie gegenwärtig bereits im Rahmen zahlreicher Verfahren zur Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten möglich sind, was ein begrüßenswerter erster Schritt zur Etablierung eines ausgewogenen und gerechten Systems ist. Der EWSA hält es jedoch für unerlässlich, sicherzustellen, dass das Übereinkommen zur Errichtung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs „amicus curiae“-Schriftsätze nicht nur für zulässig erklärt, sondern auch sicherstellt, dass die Richter diese bei ihren Beratungen gebührend berücksichtigen müssen.

6.2.

Aus diesem Grund begrüßt der EWSA die Aufnahme der Möglichkeit der Intervention von Dritten in das Mandat für den multilateralen Investitionsgerichtshof. Dennoch empfiehlt der EWSA die Prüfung der Rolle von Dritten über die derzeitigen Regeln der UNCITRAL hinaus, um die Etablierung eines ausgewogenen und gerechten Systems und einen wirksamen Rechtsschutz für betroffene Dritte — Anwohner, Arbeitnehmer, Gewerkschaften, Umweltverbände oder Verbraucher — sicherzustellen.

6.3.

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Kommission, im Rahmen des Vorschlags für einen TTIP-Investitionsgerichtshof die Möglichkeit einer Intervention Dritter vorzusehen und im Mandat zu präzisieren, dass solche Interventionen allen Interessenträgern offen stehen sollten, die in einem Fall ein rechtliches Interesse haben. Der EWSA fordert ferner die Kommission auf, sicherzustellen, dass bestehende Kriterien für den multilateralen Investitionsgerichtshof keine unnötigen Einschränkungen enthalten und einen fairen Zugang zu Verfahren ermöglichen, im Geiste der Verpflichtungen der EU im Rahmen des Übereinkommens von Aarhus und in vollständiger Übereinstimmung mit diesen Verpflichtungen.

6.4.

Einige Interessenträger unterstützen die Auffassung, dass der multilaterale Investitionsgerichtshof ebenfalls über Klagen Dritter sowie Widerklagen von Staaten gegen Investoren befinden können sollte, da dies in Einklang mit vorhandenen Entwicklungen im Rahmen des Systems zur Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten steht. Dieses Thema wirft zahlreiche rechtliche und praktische Fragen auf, die sorgfältig geprüft werden müssen. Diese Möglichkeit richtet sich beispielsweise nach dem anwendbaren Recht, sprich den materiellrechtlichen Bestimmungen in den Abkommen, die in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fallen.

6.5.

Der EWSA fordert die Kommission auf, sicherzustellen, dass der multilaterale Investitionsgerichtshof die Möglichkeit von Klagen Dritter zumindest nicht ausschließt. Zu diesem Zweck könnte ein Übereinkommen zur Einrichtung des multilateralen Investitionsgerichtshofes Bestimmungen enthalten, nach denen solche Klagen zulässig sind, wenn die Parteien eines internationalen Abkommens die Zuständigkeit des multilateralen Investitionsgerichtshofes für die Beilegung solcher Streitigkeiten vereinbart haben.

7.   Verhältnis zu den nationalen Gerichten

7.1.

Der EWSA ist der Ansicht, dass sich der multilaterale Investitionsgerichtshof unter keinen Umständen negativ auf das Justizwesen der EU und die Eigenständigkeit des Unionsrechts auswirken darf. Der EWSA verweist auf seine Stellungnahme REX/411 und die darin enthaltene Feststellung, dass es auf der Grundlage der EU-Verträge und des Verfassungsrechts erhebliche Bedenken hinsichtlich des Verhältnisses zwischen ISDS und der EU-Rechtsordnung gibt. Daher erachtete er es als unbedingt erforderlich, dass der EuGH vor der Beschlussfassung durch die zuständigen Institutionen und vor dem vorläufigen Inkrafttreten von der Kommission ausgehandelter internationaler Investitionsabkommen im Rahmen eines Gutachtens formell überprüft, ob die ISDS mit dem EU-Recht im Einklang steht.

7.2.

In diesem Zusammenhang möchte der EWSA auf zwei Rechtssachen hinweisen, die vom Europäischen Gerichtshof behandelt wurden, auf dem ehemaligen ISDS-Schlichtungssystem basieren und für die Diskussion von Bedeutung sind. Erstens hat der EuGH in seinem Gutachten 2/15 vom 16. Mai 2017 über das Freihandelsabkommen mit Singapur festgestellt, dass ISDS nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fällt, da dass ISDS „die Streitigkeiten der gerichtlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten entzieht“. Zweitens kam der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache C-284/16, Slowakische Republik gegen Achmea BV über EU-interne Investitionsabkommen zu dem Ergebnis, dass ISDS die Streitigkeiten der gerichtlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und in der Folge auch dem System von Rechtsbehelfen im EU-Rechtssystem entzieht.

7.3.

Der EWSA begrüßt es, dass die belgische Regierung ein Gutachten gemäß Artikel 218 Absatz 11 AEUV über die Vereinbarkeit der Investitionsgerichtsbarkeit im CETA mit den EU-Verträgen angefordert hat. Dies entspricht einer Forderung des EWSA in seiner Stellungnahme „Die Position des EWSA zu spezifischen Kernaspekten der Verhandlungen über die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP)“ (26). Der EWSA bringt seine Hoffnung zum Ausdruck, dass das Gutachten 1/17 des EuGH den EU-Organen die dringend benötigten Leitlinien zu wichtigen Fragen des europäischen Verfassungsrechts geben wird.

7.4.

Der EWSA merkt an, dass einige Interessenträger der Ansicht sind, dass die wirksamste Form der Wahrung der Befugnisse der nationalen Gerichte darin besteht, die Klagebefugnis beim multilateralen Investitionsgerichtshof auf Staaten und internationale Organisationen wie die EU zu begrenzen. Das zwischenstaatliche Streitschlichtungssystem ist zudem nach dem Völkerrecht der standardmäßig eingesetzte Mechanismus für die Beilegung von Streitigkeiten, das bereits in mehreren Investitionsabkommen eingesetzt wurde, und sollte daher bezüglich des Investitionsrechts vorgezogen werden. Der EWSA stellt dennoch fest, dass andere Interessenträger der Ansicht sind, dass die Investor-Staat-Streitbeilegung im Falle von Investitionen eine wirksamere Option darstellt, da sie ihrer Ansicht nach eine neutrale, entpolitisierte und kostenwirksame Lösung für eine Streitbeilegung bietet. Sie ist seit ihrer Einrichtung vor einigen Jahrzehnten das standardmäßig eingesetzte System zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten.

7.5.

Der EWSA merkt an, dass die Interessenträger bezüglich des Verhältnisses zwischen den innerstaatlichen Gerichten und dem multilateralen Investitionsgericht unterschiedlicher Auffassung sind. Einige sehen im multilateralen Investitionsgerichtshof die letzte Instanz, die nach der obligatorischen Ausschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittel angerufen werden kann, andere wiederum meinen, dass der derzeit durch die Kommission vertretene „no U-turn“-Ansatz ebenfalls eine gute Arbeitsgrundlage für den multilateralen Investitionsgerichtshof wäre.

7.6.

Nach dem „no U-turn“-Ansatz hat ein Investor das Recht, sich an die örtlichen Gerichte oder direkt an die Investitionsgerichtsbarkeit/den multilateralen Investitionsgerichtshof zu wenden. Sobald der Fall dann aber auf einem dieser beiden Wege abschließend behandelt wurde, kann ein Investor ihn vor dem anderen Gericht nicht erneut verhandeln lassen. Einige Interessenträger sind der Ansicht, dass dieser Ansatz eine erfolgreiche Lösung für die vorgebrachten Bedenken ist, dass Investoren wegen derselben Rechtsverletzung Klagen bei mehreren Gerichten anstrengen könnten. Sie stellen ferner heraus, dass mehrere internationale Investitionsabkommen diesen Ansatz verfolgen (27). In einer Analyse von Unctad (28) wird festgestellt, dass mit der „no U-turn“-Klausel eine internationale Klage eines Investors wegen behaupteter Verstöße gegen ein IIA und gleichzeitige innerstaatliche Verfahren durch Tochtergesellschaften des Investors wegen behaupteter Vertragsverletzungen oder Verstöße gegen das innerstaatliche Recht ausgeschlossen werden sollen.

7.7.

Die Voraussetzung der vorherigen Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe ist ein fundamentaler Grundsatz des Völkergewohnheitsrechts und der internationalen Menschenrechtsnormen. Von den EU-Mitgliedstaaten wurden auch mehrere Investitionsabkommen mit Drittstaaten mit ausdrücklichen Bestimmungen geschlossen, nach denen die Kläger zunächst alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausschöpfen müssen (29). Der Grundgedanke hinter dieser Regelung ist, dass sie den Staaten, in denen die Verletzung aufgetreten ist, eine Möglichkeit bietet, auf ihre eigene Weise im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung Abhilfe zu schaffen, und immer dann zur Anwendung kommt, wenn internationale und nationale Verfahren demselben Zweck dienen (30). Der Internationale Gerichtshof erachtete dies als sehr wichtig, weshalb eine implizite Auslegung, dass sie durch ein internationales Abkommen außer Kraft gesetzt werden könne, nicht zulässig sei (31). Aus diesem Grund sollte diese Regelung nach Ansicht einiger Interessenträger im Übereinkommen zur Errichtung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs eindeutig enthalten sein.

7.8.

Vor dem Hintergrund der vorstehend dargelegten Argumente fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, die Frage der Ausschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe und ihre potenzielle Funktionsweise im Kontext eines multilateralen Investitionsgerichtshofes weiter zu untersuchen.

8.

Unabhängigkeit und Legitimität der Richter

8.1.

Ganz gleich, welche institutionelle Struktur gewählt wird (eigenständige internationale Organisation oder Anbindung an eine bestehende Einrichtung), so muss die Unabhängigkeit eines multilateralen Investitionsgerichtshofs gewährleistet sein. Die Ernennung von Richtern auf permanenter Basis wird als wesentlicher Faktor für den Aufbau einer Rechtsprechung angesehen, wodurch die Vorhersehbarkeit verbessert und eine Abkehr vom ISDS-Ansatz vollzogen wird, die dieses Verfahren häufig als sprunghaft wahrgenommen wird.

8.2.

Falls die Einrichtung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs durchgeführt wird, sollte das eigentliche Ziel also darin bestehen, ständige Richter zu ernennen. In den Anfangsphasen der Einrichtung des Gerichtshofs sollte dieser in der Lage sein, sich selbst zu organisieren, wobei die Zahl der zu behandelnden Rechtssachen zu berücksichtigen ist. Ein ausschlaggebender Faktor wird die anfängliche Zahl der Vertragsparteien des Übereinkommens zur Errichtung des Gerichts sein, sowie die Zahl der Abkommen, die in die Zuständigkeit des Gerichts überantwortet werden.

8.3.

Obwohl das Verfahren zur Ernennung der Richter nicht aus den Empfehlungen der Europäischen Kommission für das Mandat hervorgeht, begrüßt der EWSA die Festlegung klarer und anspruchsvoller Kriterien, auch zu den Qualifikationen der Bewerber und zu der Einhaltung eines Verhaltenskodex, wie der Magna Charta der Richter (32), die Interessenkonflikte verhindern und die Unabhängigkeit der Richter gewährleisten soll. Dies ist überaus wichtig, um die Rechtsstaatlichkeit und das Vertrauen der Öffentlichkeit zu gewährleisten.

8.4.

Im Hinblick auf die fachliche Eignung der Richter sollten neben völkerrechtlichem Fachwissen mit entsprechenden Nachweisen auch Kenntnisse in Bereichen wie dem Investitions-, Verbraucher-, Umwelt-, Arbeitsrecht und der Menschenrechtsgesetzgebung sowie der Streitbeilegung gefordert sein. Nur so ist gewährleistet, dass die Richter die erforderliche Erfahrung haben, um die verschiedenen Arten von Fällen verhandeln zu können, die mit diversen Branchen und Investitionsarten verbunden sind und mit denen das Gericht befasst wird, und in der Lage sind, den rechtlichen Kontext vollständig zu erfassen und zu behandeln.

8.5.

Der EWSA befürwortet außerdem ein Verfahren zur Ernennung der Richter, das transparent ist und Kriterien für eine ausgewogene Vertretung aller Vertragsparteien des Übereinkommens zur Errichtung des Gerichts entspricht. Der Auswahlprozess sollte transparent sein und dem Grundsatz der öffentlichen Rechenschaftspflicht entsprechen.

8.6.

Gewährleistung der Transparenz, Zugang zu Informationen für die breite Öffentlichkeit und Zugang für die Interessenträger, z. B. durch Akkreditierung, sind weitere wesentliche Elemente zur Verbesserung der Glaubwürdigkeit und der Legitimität des Systems. Die UNCITRAL-Bestimmungen über Transparenz in Investor-Staat-Schiedsverfahren und das Übereinkommen der Vereinten Nationen über Transparenz in Investor-Staat-Schiedsverfahren auf der Grundlage von Abkommen (die sog. Mauritius-Konvention für Transparenz) sollten dem künftigen multilateralen Investitionsgerichtshof als eine Grundlage für die Bestimmungen über Transparenz dienen.

9.   Ein wirksames System

9.1.

Ein Sekretariat sollte mit der eigentlichen Verwaltung des multilateralen Investitionsgerichtshofs betraut werden. Zwar ist gegenwärtig nicht klar, ob das Gericht eine ganz neue Organisation sein oder einer bestehenden internationalen Organisation angegliedert werden wird, doch ist sicherzustellen, dass für die Arbeit des Sekretariats ausreichende Mittel abgestellt werden.

9.2.

Im Mandatsentwurf wird vorgeschlagen, die Verwaltungskosten unter den Vertragsparteien gerecht aufzuteilen und dabei verschiedene Kriterien zu berücksichtigen, wie etwa den wirtschaftlichen Entwicklungsstand der Vertragsparteien, die Zahl der Abkommen pro Vertragspartei und den Umfang der internationalen Ströme oder Bestände an Investitionen der Vertragsparteien.

9.3.

Zur Umlegung der Kosten für die gerichtliche Verhandlung dieser Fälle findet sich im Entwurf des Mandats keine Aussage (ausgenommen die Vergütung der Richter, deren Festlegung vorgeschlagen wird). Der EWSA dringt auf eine Klärung dieser Frage.

9.4.

In beträchtlichem Umfang werden ausländische Direktinvestitionen durch kleine und mittlere Unternehmen getätigt, die auf das gleiche Maß an Schutz und den Zugang zu Streitbeilegungsmechanismen zu angemessenen Bedingungen und Kosten angewiesen sind.

9.5.

In Erwägung zu ziehen ist auch die Möglichkeit eines Schlichtungsverfahrens für eine einvernehmliche Streitbeilegung.

9.6.

Alle Entscheidungen des multilateralen Investitionsgerichtshofs sollten durchsetzbar sein und veröffentlicht werden.

10.   Ein hohes Maß an Schutz und potenzieller Übergangszeitraum

10.1.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Festlegung, dass ein Abkommen in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt, sollte darin liegen, dass beide Parteien ihre Zustimmung erteilen. Dies bedeutet in der Praxis, dass Abkommen, die von der EU oder den Mitgliedstaaten der EU unterzeichnet worden sind, nicht automatisch der Zuständigkeit des Gerichtshofs unterstellt sein werden, sondern nur dann, wenn die Drittpartei einverstanden ist.

10.2.

In diesem Zusammenhang sollten während eines potenziellen Übergangszeitraums vom gegenwärtigen System der Investor-Staat-Streitbeilegung und der Investitionsgerichtsbarkeit hin zur Errichtung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs die vereinbarten Streitbeilegungsverfahren weiter gelten, um ein hohes Maß an Investitionsschutz zu garantieren, bis die Verfassungsmäßigkeit und Zulässigkeit eines multilateralen Investitionsgerichtshofs nach EU-Recht gegeben ist — die von Belgien beim Gerichtshof angestrengte Rechtssache ist noch anhängig (33).

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  http://www.oecd-ilibrary.org/finance-and-investment/societal-benefits-and-costs-of-international-investment-agreements_e5f85c3d-en.

(2)  http://trade.ec.europa.eu/consultations/index.cfm?consul_id=179.

(3)  http://trade.ec.europa.eu/consultations/index.cfm?consul_id=233.

(4)  http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P8-TA-2015-0252+0+DOC+XML+V0//DE.

(5)  Am 6. September 2017 ersuchte Belgien um ein Gutachten des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Vereinbarkeit des ICS mit folgenden Punkten: (1) ausschließliche Zuständigkeit des EuGH für die endgültige Auslegung des EU-Rechts, (2) allgemeiner Gleichheitsgrundsatz und das Erfordernis der „praktischen Auswirkungen“ des EU-Rechts, (3) Recht auf Zugang zu Gerichten und (4) Recht auf eine unabhängige und unparteiische Justiz. (https://diplomatie.belgium.be/sites/default/files/downloads/ceta_summary.pdf).

(6)  https://www.eesc.europa.eu/en/agenda/our-events/events/public-hearing-framework-eesc-own-initiative-opinion-position-eesc-specific-key-issues-ttip-negotiations.

(7)  https://www.eesc.europa.eu/en/agenda/our-events/events/multilateral-investment-court-hearing

(8)  Siehe „Der Standpunkt des EWSA zu spezifischen Kernaspekten der Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP)“ (Initiativstellungnahme), (ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 30).

(9)  Siehe Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema Anlegerschutz und Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat in Handels- und Investitionsabkommen der EU mit Drittländern (ABl. C 332 vom 8.10.2015, S. 45). Die Stellungnahme enthält einen Anhang, der sich auf ein mögliches multilaterales Instrument für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten bezieht.

(10)  Siehe Fußnote 9.

(11)  Die EU ist kein Staat und daher kein Mitglied, hat jedoch einen erweiterten Beobachterstatus bei UNCITRAL inne.

(12)  http://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get?OpenAgent&DS=A/CN.9/WG.III/WP.142&Lang=E.

(13)  http://unctad.org/en/PublicationsLibrary/diaepcb2017d3_en.pdf.

(14)  Unctad IIA Issues Note „Recent Developments in the International Investment Regime“ (Jüngste Entwicklungen bezüglich der internationalen Investitionsvorschriften), Mai 2018; abrufbar unter http://investmentpolicyhub.unctad.org/Publications/Details/1186.

(15)  http://www.ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/WGTransCorp/Pages/IGWGOnTNC.aspx.

(16)  http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:52017PC0493.

(17)  http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-12981-2017-ADD-1-DCL-1/de/pdf.

(18)  https://www.eesc.europa.eu/en/agenda/our-events/events/multilateral-investment-court-hearing.

(19)  Durch sein Gutachten 2/15 vom 16. Mai 2017 hat der Gerichtshof der Europäischen Union Klarheit über die Art des Freihandelsabkommens zwischen der EU und Singapur geschaffen und geklärt, welche Teile des Abkommens in die ausschließliche Zuständigkeit der EU fallen und welche der sog. geteilten Zuständigkeit unterliegen und somit eine Ratifizierung durch die einzelstaatlichen Parlamente erfordern. https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2017-05/cp170052de.pdf.

(20)  Beispielsweise enthalten das Freihandelsabkommen EU-Chile (derzeit in Überarbeitung) und das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen EU-Japan (abgeschlossen 2017) kein Kapitel über Investitionsschutz, jedoch wurde von den Vertragsparteien vereinbart, diese Frage weiter zu erörtern und in Zukunft zu behandeln; so soll auch bei den künftigen Freihandelsabkommen mit Australien und Neuseeland verfahren werden.

(21)  Darüber hinaus ist diese Bestimmung ebenfalls Teil internationaler Menschenrechtskonventionen, unter anderem der Europäischen Menschenrechtskonvention (ECHR).

(22)  Eine kritische Analyse bisheriger ISDS-Schiedsgerichtsfälle findet sich in: Andreas Kulick, Global Public Interest in International Investment Law (Cambridge University Press 2012), 225-306.

(23)  Siehe Fußnote 8.

(24)  http://ccsi.columbia.edu/work/projects/third-party-funding-in-investor-state-dispute-settlement/.

(25)  Amicus curiae: bedeutet wörtlich „Freund des Gerichts“. Eine Person mit einem großen Interesse an der Streitsache, die allerdings selbst nicht als Partei beteiligt ist, kann beim Gericht die Einreichung eines Schriftsatzes beantragen, dies vordergründig im Auftrag einer Partei, in Realität aber zur Darlegung der eigenen Sichtweise. Weitere Informationen zum Begriff (in englischer Sprache): https://legal-dictionary.thefreedictionary.com/amicus+curiae.

(26)  Siehe Fußnote 8.

(27)  Zahlreiche von den Vereinigten Staaten und Kanada geschlossene Abkommen beinhalten solche Bestimmungen. Zum Beispiel das bilaterale Investitionsabkommen Kanada-Jordanien (2009) in Artikel 26 zu Bedingungen für die Erhebung einer Klage bei einem Schiedsgericht.

(28)  Unctad Series on Issues in International Investment Agreements II, Investor-State Dispute Settlement (Unctad, 2014): http://unctad.org/en/PublicationsLibrary/diaeia2013d2_en.pdf.

(29)  Siehe zum Beispiel Artikel 5 des 1976 geschlossenen bilateralen Investitionsabkommens zwischen Deutschland und Israel, Artikel 8 des 1978 geschlossenen bilateralen Investitionsabkommens zwischen Ägypten und Schweden, Artikel 7 des bilateralen Investitionsabkommens Rumänien-Sri Lanka aus dem Jahr 1981, Artikel 8 des 2007 geschlossenen bilateralen Investitionsabkommens Albanien-Litauen, Artikel XI des bilateralen Investitionsabkommens Uruguay-Spanien aus dem Jahr 1992, Artikel X des 1991 geschlossenen bilateralen Investitionsabkommens Uruguay-Polen.

(30)  Interhandel (Schweiz v. Vereinigte Staaten), Vorläufige Beschwerdepunkte, 1959 IGH, Bericht 6, Randnr. 27 (21. März 1959). Abrufbar unter http://www.icj-cij.org/docket/files/34/2299.pdf.

(31)  Elettronica Sicula S.p.A. (ELSI) (Italien v. Vereinigte Staaten), Urteil, 1989 IGH Rep. 15, 28 I.L.M. 1109 (Juli 20), Abs. 50

(32)  https://rm.coe.int/16807482c6.

(33)  Siehe Fußnote 5.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/156


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung des Instruments für Heranführungshilfe (IPA III)“

(COM(2018) 465 final — 2018/0247 (COD))

(2019/C 110/28)

Berichterstatter:

Dimitris DIMITRIADIS

Befassung

Europäisches Parlament, 2.7.2018

Europäische Kommission, 12.7.2018

Rat der Europäischen Union, 18.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

23.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

181/1/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung des Instruments für Heranführungshilfe (IPA III) für den Zeitraum 2021-2027.

1.2.

Der EWSA begrüßt außerdem, dass beim IPA III der Schwerpunkt auf Leistung liegen sollte, sodass die Zuteilung von Mitteln insgesamt stärker von den Reformzusagen und -fortschritten der Begünstigten abhängt. Der Einsatz von Leistungsindikatoren wird zur Gesamtbewertung von IPA III beitragen und steht im Einklang mit den Empfehlungen (1), die der EWSA bezüglich IPA II ausgesprochen hatte.

1.3.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass die Einrichtung des Instruments für Heranführungshilfe im Einklang mit der neuen Strategie der Kommission für den westlichen Balkan mit dem Titel „Eine glaubwürdige Erweiterungsperspektive für und ein verstärktes Engagement der EU gegenüber dem westlichen Balkan“, die am 6. Februar 2018 vorgelegt wurde, sowie deren sechs Leitinitiativen steht, die von der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, der Intensivierung der Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit und Migration durch gemeinsame Ermittlungsgruppen, der Europäischen Grenz- und Küstenwache bis hin zur Ausdehnung der EU-Energieunion auf den westlichen Balkan, zur Senkung der Roamingkosten und zum Aufbau von Breitbandverbindungen in der Region reichen (2). Sie steht ebenfalls im Einklang mit der Erweiterungspolitik der Europäischen Union im Hinblick auf einen möglichen künftigen Beitritt der Türkei.

1.4.

Der EWSA bekräftigt erneut seine Haltung, dass gemäß Artikel 49 des Vertrags über die Europäische Union jeder europäische Staat, der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Angehörigen von Minderheiten, achtet und sich für die Förderung dieser Werte einsetzt, die Mitgliedschaft in der Union beantragen kann.

1.5.

Der EWSA begrüßt, dass sich der im Verordnungsentwurf über IPA III für den Zeitraum 2021-2027 vorgesehene finanzielle Bezugsrahmen gemäß dem Vorschlag der Europäischen Kommission auf rund 14,5 Mrd. EUR belaufen wird.

1.6.

Er begrüßt darüber hinaus, dass 25 % der Mittel für Klimaziele aufgewendet werden sollen.

1.7.

Der EWSA begrüßt weiterhin, dass im Rahmen von IPA III nicht von vornherein Partnerzuweisungen festgelegt werden sollen, wodurch mehr Flexibilität entsteht. Mit dem IPA-Programmplanungsrahmen soll dem sich wandelnden Bedarf der Partner Rechnung getragen und für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Vorhersehbarkeit und leistungsbezogener Finanzierung gesorgt werden.

1.8.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission, die Kandidatenländer und potenziellen Kandidatenländer auf, die Hinweise, die der EWSA nach der Halbzeitbewertung von IPA II (3) gegeben hat, sowie viele seiner vorangegangenen Empfehlungen (4) vollständig umzusetzen.

1.9.

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der Heranführungshilfe für die Unterstützung der Wirtschaftsreformen und die Schaffung eines günstigen und vorhersehbaren wirtschaftlichen Umfelds, um das Unternehmertum, die Gründung von Unternehmen und das Wachstum von KMU voranzubringen und so die Wettbewerbsfähigkeit, das Wirtschaftswachstum und die Schaffung neuer und angemessener Arbeitsplätze zu fördern.

1.10.

Der EWSA betont die Bedeutung von Wirtschaftsreformprogrammen und einer sinnvollen Einbeziehung der Sozialpartner und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen in den Prozess der Entwicklung und Umsetzung dieser Programme. Der EWSA fordert, dass mehr Mittel, einschließlich organisatorischer Finanzhilfen, für den Kapazitätsaufbau der Sozialpartner und der zivilgesellschaftlichen Organisationen bereitgestellt werden, damit sie sich wirksam an diesen Prozessen beteiligen können. Verbesserungen der Qualität und des Inhalts des sozialen Dialogs in den Kandidatenländern und potenziellen Kandidatenländern sollten gefördert werden.

1.11.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die über IPA III bereitgestellte Finanzausstattung für die Integration der Volkswirtschaften des westlichen Balkans in die EU wichtig ist.

1.12.

Der EWSA unterstützt den Standpunkt, dass Reformfortschritte der IPA-Begünstigten wesentlich sind, um die Absorptionsrate (bei IPA II zwischen 64,3 % und 88,9 %) und Nutzung der Mittel zu verbessern, und betont, dass zwischen den Begünstigten des westlichen Balkans eine Kultur der Zusammenarbeit gestärkt werden muss. Der Fall der Türkei ist deutlich komplexer und schwieriger. Die finanzielle Unterstützung eines Landes, in dem eine weitere Verschlechterung der Bürgerrechtslage nicht auszuschließen ist, erfordert ein behutsames Vorgehen und muss mit Auflagen verknüpft werden.

1.13.

Der EWSA betont, dass die Heranführungshilfe genutzt werden muss, um die Kapazitäten der Verwaltung der Kandidatenländer und potenziellen Kandidatenländer zu erhöhen und sie so auf die künftige Nutzung der Strukturfonds und auf die Teilnahme an der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU vorzubereiten.

1.14.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass die EU strenge und wirksame Mechanismen schaffen sollte, um die Zuweisung von Heranführungshilfen an alle Kandidatenländer und potenziellen Kandidatenländer zu überwachen. Insbesondere im Fall der Türkei sollten dauerhafte Rückstände in verschiedenen Bereichen stärker berücksichtigt werden.

1.15.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Durchführung von IPA III insbesondere in den ersten Jahren beschleunigt werden muss, um strukturelle Verzögerungen beim Abschluss von Verträgen und bei der Umsetzung zu vermeiden und bereits vorhandene Rückstände schrittweise abzubauen. Die Kommission sollte der indirekten Mittelverwaltung mit den Begünstigten besondere Aufmerksamkeit widmen. Die Halbzeitbewertung hat gezeigt, dass dieses Verwaltungsverfahren zwar die Eigenverantwortung der Begünstigten gestärkt hat, die schleppende Vertragsvergabe jedoch zu langen Verzögerungen bei der Durchführung geführt hat, vor allem in der Türkei.

1.16.

Der EWSA betont, dass die Überwachung auf der Grundlage der im Vorschlag der Europäischen Kommission genannten Indikatoren erfolgen muss. Es werden einschlägige Leistungsindikatoren festgelegt und in den IPA-Programmplanungsrahmen aufgenommen, und den Empfängern von EU-Mitteln werden angemessene Berichtspflichten auferlegt. Die Erweiterungsberichte werden bei der Bewertung der Ergebnisse der IPA-III-Hilfen als Referenz herangezogen. Durch ein System der Leistungsberichterstattung soll sichergestellt werden, dass die Erfassung von Daten für die Überwachung der Umsetzung und der Ergebnisse effizient, wirksam und rechtzeitig erfolgt.

1.17.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Kommission ihre Maßnahmen regelmäßig überwachen und die Fortschritte bei der Zielerreichung überprüfen sollte. Bei den Evaluierungen werden die praktischen Auswirkungen des Instruments anhand der einschlägigen Indikatoren und Zielvorgaben bewertet, und es wird eingehend untersucht, inwieweit das Instrument als relevant, wirksam und effizient eingestuft werden kann, ob es einen hinreichenden EU-Mehrwert schafft und ob Kohärenz mit anderen EU-Politikbereichen besteht. Außerdem werden die Evaluierungen Erkenntnisse erbringen, durch die etwaige Defizite bzw. Probleme oder Möglichkeiten zur weiteren Verbesserung der Maßnahmen oder ihrer Ergebnisse ermittelt werden können und deren Nutzung bzw. Wirkung maximiert werden kann.

1.18.

Der EWSA vertritt nachdrücklich die Auffassung, dass Kontrollvorgaben festgelegt und bewährte Verfahren für alle Kandidatenländer und potenziellen Kandidaten zugänglich gemacht werden müssen, sodass sie diese Mittel aktiver in Anspruch nehmen.

1.19.

Der EWSA betont, dass im neuen Vorschlag für eine Verordnung auch hervorgehoben wird, wie wichtig eine stärkere Koordinierung und Zusammenarbeit mit anderen Gebern und Finanzinstitutionen, einschließlich des Privatsektors, ist.

1.20.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, das Potenzial einer langfristigeren Perspektive für die Durchführung zu prüfen. Dies würde die Vorhersehbarkeit verbessern und den zeitlichen Druck nehmen, insbesondere in Bereichen, in denen es während des aktuellen Zeitraums zu erheblichen Verzögerungen gekommen ist.

1.21.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Qualität der (Arbeits-)Unterlagen, die für die Sektoransatzplanung verwendet werden, insgesamt verbessert und die Sektoransatzplanung gemeinsam mit allen einschlägigen Parteien klarer gestaltet werden muss. Zu diesem Zweck empfiehlt der EWSA außerdem, Maßnahmen zu ergreifen, um die Kapazität der Europäischen Kommission im Hinblick auf die durchgängige Berücksichtigung horizontaler Belange zu verbessern. Insgesamt müssen die Kapazitäten aller Institutionen, die an der Umsetzung der Heranführungshilfe beteiligt sind, verbessert werden. Hierfür sollten die Institutionen in den Kandidatenländern und potenziellen Kandidatenländern auch eine ausgewogene technische Unterstützung erhalten.

1.22.

Der EWSA ist der Auffassung, dass das IPA III dazu genutzt werden sollte, in der Öffentlichkeit der Kandidatenländer und potenziellen Kandidatenländer das Verständnis für die Grundwerte der EU zu verbessern und das Wissen um den Mehrwert der Heranführungshilfe zu verbreiten. Dies sollte im Rahmen von Zuschussprogrammen erfolgen, die von den Delegationen der Europäischen Union verwaltet werden.

1.23.

Der EWSA begrüßt, dass die Heranführungshilfe an a) Rechtsstaatlichkeit, b) eine gute Regierungsführung und Grundrechte, c) die sozioökonomische Entwicklung, d) die Angleichung an Politik und Besitzstand der EU, e) gutnachbarliche Beziehungen und Aussöhnung sowie f) regionale Zusammenarbeit geknüpft wird.

2.   Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung und Grundrechte

2.1.

Der EWSA betont, dass die Standards in allen Kandidatenländern und potenziellen Kandidatenländern noch immer stark von denen der EU abweichen. In der Türkei ist die Lage schwieriger als zuvor, insbesondere nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 und der Verhängung des Kriegsrechts.

2.2.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass im Rahmen von IPA III Investitionen in Projekte mit Bezug zur Rechtsstaatlichkeit weitergeführt werden sollten, mit denen Länder dabei unterstützt werden, eine stabile und professionelle Rechtsdurchsetzung und Justizbehörden aufzubauen, die unabhängig und frei von äußerer Beeinflussung sind.

2.3.

Der EWSA ist darüber hinaus der Ansicht, dass ein besonderes Interesse daran bestehen sollte, ein effizientes System zu schaffen, um die Grenzen zu schützen, die Migrationsströme zu steuern, humanitäre Krisen zu vermeiden und denjenigen Asyl zu gewähren, die es benötigen. Technische Hilfe seitens der EU zur Unterstützung verantwortungsvoller Governance-Ansätze in diesen Bereichen könnte sich als sehr hilfreich erweisen. Darüber hinaus müssen alle Kandidatenländer und potenziellen Kandidaten Mechanismen entwickeln, um das organisierte Verbrechen zu bekämpfen und Terrorismus und illegale Einwanderung zu stoppen. Die Türkei sollte sich nachdrücklicher für die Umsetzung des am 28. März 2016 unterzeichneten Abkommens mit der EU einsetzen, das darauf abzielt, die irreguläre Einwanderung nach Europa über die Türkei zu beenden (5).

2.4.

Der EWSA betont, dass der öffentliche Sektor aller Kandidatenländer und potenzieller Kandidaten noch immer von Klientelismus, Intransparenz, Korruption und Ungleichheit geprägt ist.

2.5.

Der EWSA ist sich dessen bewusst, dass Minderheiten in allen Kandidatenländern und potenziellen Kandidatenländern aufgrund von diskriminierendem Verhalten und einer ablehnenden Haltung ihnen gegenüber noch immer vielen Problemen ausgesetzt sind.

2.6.

Der EWSA vertritt nachdrücklich die Auffassung, dass Initiativen zur Reform und Entpolitisierung des öffentlichen Sektors, zur Förderung von Transparenz und Rechenschaftspflicht sowie zur Verbesserung elektronischer Behördendienste und der Managementorientierung vorrangig zu behandeln sind. In diesem Zusammenhang sollte die Heranführungshilfe genutzt werden, um sinnvolle Möglichkeiten für die Einbeziehung eines möglichst breiten Spektrums zivilgesellschaftlicher Organisationen in die Politikgestaltung zu schaffen.

2.7.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass die Zivilgesellschaft als wesentlicher Treiber für die Rechtsstaatlichkeit anerkannt werden sollte und dass zivilgesellschaftliche Initiativen in den Heranführungsprogrammen entsprechend priorisiert werden sollten.

2.8.

Der EWSA ist außerdem der Ansicht, dass im Rahmen der Heranführungshilfe insbesondere Institutionen gefördert werden sollten, die die Gleichheit und die Achtung der Menschenrechte fördern.

3.   Sozioökonomische Entwicklung

3.1.

Der EWSA räumt ein, dass die Partner finanzielle Unterstützung benötigen, da sie unter dauerhaft hohen Arbeitslosenquoten (im ersten Quartal 2018 z. B. 21,6 % in FYR und 35,3 % im Kosovo (*1)) leiden und im Hinblick auf das BIP pro Kopf nur langsam zu den EU-Ländern aufschließen.

3.2.

Der EWSA ist sich dessen bewusst, dass alle Partner des westlichen Balkans (6) und die Türkei unter Armut, hoher Arbeitslosigkeit, dem informellen Sektor, niedrigen Löhnen, Korruption, rechtswidrigem Handeln und der Emigration qualifizierter Arbeitskräfte und dem Braindrain leiden.

3.3.

Der EWSA erachtet die Rolle der Bildung, einschließlich des gleichberechtigten Zugangs zu Bildungssystemen, in allen Partnerländern auf dem westlichen Balkan und der Türkei für die Förderung der europäischen Werte, der Toleranz gegenüber Minderheiten und der Geschlechtergleichstellung, für die Bekämpfung von Vorurteilen und die Stärkung des sozialen Zusammenhalts als wesentlich.

3.4.

Der EWSA ist ferner der Auffassung, dass im Rahmen von IPA III eine Agenda für den sozialen Zusammenhalt umgesetzt werden muss, indem die Effizienz und Wirksamkeit der Bildungssysteme und auf diese Weise Qualifikationsdefizite sowie das Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage verbessert und die durch digitale und technische Veränderungen in der Wirtschaft entstehenden Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt angegangen werden. Eine verstärkte finanzielle Förderung von Programmen zur beruflichen Bildung, für die Lehrlingsausbildung und für lebenslanges Lernen sowie eine engere Einbindung der Sozialpartner und anderer einschlägiger zivilgesellschaftlicher Organisationen in ihre Gestaltung würden dazu beitragen, das Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu beheben und die hohe Arbeitslosigkeit sowie die Zahl unbesetzter Stellen zu verringern.

3.5.

Der EWSA betont, dass über die Heranführungshilfe Mechanismen eingerichtet werden müssen, mit denen Armut bekämpft und für Zugang zum Arbeitsmarkt gesorgt werden kann, insbesondere für junge Menschen, Frauen und Minderheiten, um die Auswanderung und Abwanderung (hoch-)qualifizierter Arbeitskräfte zu verhindern.

3.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Vertiefung und Ausweitung des sozialen Dialogs eine unabdingbare Voraussetzung für die sozioökonomische Entwicklung ist. Die Sozialpartner müssen bei der Gestaltung und Umsetzung politischer Maßnahmen eine wichtige Rolle spielen.

3.7.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass die Kapazität zur Stärkung der makroökonomischen Stabilität verbessert und die Entwicklung hin zu einer funktionierenden Marktwirtschaft, die dem Wettbewerb und den Marktkräften in der Union standhalten kann, unterstützt werden muss. Dies sollte bei der Zuweisung von Heranführungshilfe für alle Kandidatenländer und potenziellen Kandidaten Priorität haben. Allerdings muss auch das wirtschaftliche Niveau der Volkswirtschaften der IPA-III-Begünstigten besonders berücksichtigt werden. Unternehmertum, Selbständigkeit, KMU und Mikrofinanzierung sollten nicht vernachlässigt werden.

3.8.

Der EWSA fordert, dass ein besonderes Augenmerk darauf gelegt werden muss, die Marktorientierung des privaten Sektors und die Wettbewerbsfähigkeit privatwirtschaftlicher Unternehmen durch Zuweisungen der Heranführungshilfe zu stärken.

3.9.

Der EWSA ist der Ansicht, dass Organisationen der Zivilgesellschaft im Rahmen von IPA III über einen Zeitraum von mindestens 36 Monaten Betriebskostenzuschüsse erhalten sollten.

3.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Auswirkungen der im Rahmen von IPA II auf ländliche/bürgernahe und kleine zivilgesellschaftliche Organisationen ausgerichteten kleinen Regelungen für die Weitervergabe von Zuschüssen verstärkt werden sollten, insbesondere durch eine sehr viel stärkere Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen in alle Planungsphasen für jedes neue System zur Weitervergabe von Zuschüssen.

3.11.

Der EWSA betont, dass die an der Heranführungshilfe beteiligten Institutionen Hilfe leisten müssen, um digitale Technologien und Verteilungsnetze zu stärken, den Umweltschutz zu verbessern und höchstmögliche nukleare Sicherheitsstandards festzulegen.

3.12.

Der EWSA ist außerdem der Ansicht, dass die Einrichtung von Institutionen, die den gleichberechtigten Zugang zu kindlicher Bildung fördern, berufliche Bildungsansätze weiterentwickeln, die Qualität der Hochschulbildung verbessern, sich für lebenslanges Lernen einsetzen und für Instrumente bzw. Institutionen zur Regelung der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern, der Tarifverhandlungen, der Beilegung von Tarifstreitigkeiten sowie eines Verfahrens für einen strukturierten sozialen Dialog zwischen den Sozialpartnern eintreten, im Rahmen der Heranführungshilfe vorrangig behandelt werden sollte.

4.   Angleichung an Politik und Besitzstand der EU

4.1.

Der EWSA ist sich dessen bewusst, dass die Standards in allen Kandidatenländern und potenziellen Kandidatenländern noch immer stark von denen der EU abweichen.

4.2.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Standards, Strategien und Verfahren der Kandidatenländer und potenziellen Kandidaten, einschließlich der Vorschriften über staatliche Beihilfen, an diejenigen der Union angeglichen werden sollten.

4.3.

Der EWSA betont, dass die Kandidatenländer und potenziellen Kandidatenländer nicht nur ihre Rechtsvorschriften an den legislativen Teil des gemeinschaftlichen Besitzstands angleichen, sondern sich auch mit den politischen Maßnahmen, die derzeit in der EU erörtert und entwickelt werden, vertraut machen und ihre Politik nach Möglichkeit darauf ausrichten müssen. Dazu gehören die europäische Säule sozialer Rechte, die Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen und die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung sowie die Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten in Bezug auf die Flüchtlings- und Migrantenströme und die integrierte Grenzkontrolle.

5.   Gutnachbarliche Beziehungen und Aussöhnung

5.1.

Die Kandidatenländer und potenziellen Kandidatenländer des westlichen Balkans und die Türkei kämpfen noch immer mit den Folgen von Krieg und Konflikten, ethnischem Hass, irredentistischen Bewegungen und schwelenden Konflikten, die jederzeit wieder aufflammen könnten. Die Beilegung der dringendsten bilateralen Fragen muss vor einem EU-Beitritt nachdrücklich gefördert werden, wobei es andererseits das Verfahren verzögern könnte, wenn auf der Lösung aller noch offenen Fragen bestanden wird. Der Wiederaufbau der Handelsbeziehungen und anderer wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den Ländern könnte zur Konfliktlösung und zum Wirtschaftswachstum beitragen.

5.2.

Der EWSA begrüßt Initiativen — sei es vonseiten staatlicher Bildungs- und Kultureinrichtungen, von Hochschulen und Organisationen der Zivilgesellschaft —, die auf Aussöhnung, gutnachbarschaftliche Beziehungen und die Entwicklung einer kritischen Haltung gegenüber der Vergangenheit gerichtet sind.

5.3.

Der EWSA betont, dass es den Prozess der Integration vereinfachen würde, die Kapazitäten der Organisationen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner, einschließlich der Berufsverbände, zu stärken und die Vernetzung der in der EU und in den begünstigten Ländern angesiedelten Organisationen auf allen Ebenen zu fördern.

5.4.

Der EWSA ist der Ansicht, dass im Rahmen von IPA III Mittel für Organisationen der Zivilgesellschaft bereitgestellt werden sollten, die den zivilgesellschaftlichen Raum für Engagement und Beteiligung verbessern. Die zivilgesellschaftliche Infrastruktur und regionale thematische zivilgesellschaftliche Plattformen und Netzwerke sollten im Rahmen von IPA III stärker unterstützt werden.

6.   Regionale Zusammenarbeit

6.1.

Energie- und Verkehrsnetze sollten als Vektoren für die Entwicklung und den Verbund der Region aufgefasst werden. Dies würde helfen, den Bürgern der Kandidatenländer und potenziellen Kandidatenländer des westlichen Balkans und der Türkei eine klare Vorstellung von den sozialen, wirtschaftlichen und umweltbezogenen Vorteilen eines EU-Beitritts zu vermitteln. So geben zum Beispiel Energieeffizienz und Energieeinsparungen Impulse für neue Unternehmenstätigkeiten und tragen zur Schaffung „grüner“ wie auch herkömmlicher Arbeitsplätze bei.

6.2.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass Institutionen und Initiativen, die die Kandidatenländer und potenziellen Kandidaten in den Bereichen Energie, Kommunikation, Digitalisierung, Innovation, Verkehr und Umweltschutz miteinander verbinden, im Rahmen der Heranführungshilfe prioritär behandelt werden sollten. Die Zusammenarbeit der Städte Kula in Bulgarien und Boljevac in Serbien, die Spezialfahrzeuge, Aufklärungsdrohnen und persönliche Schutzausrüstung für die Bekämpfung von Waldbränden erwerben wollten, ist ein Beispiel für ein vorbildliches Verfahren (7).

6.3.

Der EWSA unterstützt den Vertrag über eine Verkehrsgemeinschaft, der am 12. Juli 2017 von der EU und den Kandidatenländern und potenziellen Kandidatenländern des westlichen Balkans unterzeichnet wurde, und fordert die Parteien auf, ihn weiter auszugestalten. In diesem Zusammenhang sollten die Europäische Kommission, die Europäische Investitionsbank und die Partner des westlichen Balkans ihre Investitionen auf den Anschluss der Westbalkan-Infrastruktur an das TEN-V-Kernnetz der EU konzentrieren. Ein gemeinsames Programm, in dem die verfügbaren Mittel ermittelt werden und ein gemeinsamer Plan festgelegt wird, ist daher erforderlich.

6.4.

Eine verbesserte Infrastruktur wird zur Senkung der Verkehrs- und Energiekosten beitragen, umfangreiche Investitionen in der Region reizvoller machen und den Handel innerhalb der Region erleichtern. Darüber hinaus wird die Förderung des Digitalausbaus und die schrittweise Senkung der Roamingentgelte in den Staaten des westlichen Balkans zur Entwicklung von Unternehmen, zur Steigerung der Produktivität und zu Verbesserungen der Lebensqualität beitragen. Allerdings ist die fehlende Infrastruktur nicht das Haupthindernis für eine Zusammenarbeit zwischen den Partnern auf dem westlichen Balkan. Die Feindseligkeiten der Vergangenheit und weiterhin ungelöste Konflikte zwischen den Ländern schränken Umfang und Inhalt der Zusammenarbeit ein. Dies könnte teilweise durch die Förderung von grenzüberschreitenden Kooperationsprojekten unter IPA-Ländern behoben werden.

6.5.

Die Medien und andere Formen der Kommunikation sollten genutzt werden, um die Präsenz und die Bedeutung der EU-Aktivitäten in den Kandidatenländern und potenziellen Kandidatenländern hervorzuheben. Darüber hinaus sollten während des gesamten Prozesses des Beitritts zur EU die Fähigkeiten der örtlichen Beamten zur Verwaltung und Durchführung von Projekten ausgebaut werden.

7.   Besondere Bemerkungen zu dem Vorschlag für die IPA-III-Verordnung

7.1.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass der Vorschlag auf Erfolgen und im Rahmen der vorangegangenen Programmplanungszeiträume gewonnenen Erkenntnissen aufbaut und dass er geeignet ist, die verfolgten Ziele zu verwirklichen. Der EWSA betont dennoch, dass die Kandidatenländer und potenziellen Kandidatenländer Herausforderungen gegenüberstehen, die sich von denen der Mitgliedstaaten deutlich unterscheiden, und dass daher viel Raum für Flexibilität geschaffen werden muss.

7.2.

Der EWSA steht vollständig hinter den für das IPA III genannten Zielen, möchte aber betonen, dass direkte Auswirkungen kurzfristig nur schwer greifbar sein werden. Der EWSA empfiehlt daher, dass der Mehrwert künftiger Maßnahmen eingehend in Bezug auf den Umfang des Engagements, das politische Gewicht und die Vertretung der Interessen einer größtmöglichen Anzahl von Begünstigten bewertet wird. Besonders gelobt werden sollte der Umstand, dass die im laufenden Programmplanungszeitraum gewährte Budgethilfe in den Empfängerländern (z. B. Serbien, Montenegro und Albanien) wie ein Katalysator für institutionelle Veränderungen und einen verbesserten politischen Dialog gewirkt hat.

7.3.

In Anbetracht der schwierigen Situation der meisten Begünstigten empfiehlt der EWSA, dass die Dokumentationsanforderungen ausreichend vereinfacht werden und der Schwerpunkt darauf liegen sollte, die Eigenverantwortung der Empfänger für die Ergebnisse zu unterstützen und sicherzustellen. Zu diesem Zweck sollte die indirekte Mittelverwaltung mit den begünstigten Ländern fortgesetzt und von Maßnahmen für den Aufbau von Kapazitäten flankiert werden, damit Interessenträger sich konstruktiv in den gesamten Planungsprozess einbringen können.

7.4.

Der EWSA ist der Überzeugung, dass die Komplementarität der im Rahmen von IPA III finanzierten Maßnahmen und der Maßnahmen, die in den Kandidatenländern und potenziellen Kandidatenländern über andere Mittel gefördert werden, gestärkt werden muss.

7.5.

Der EWSA schlägt vor, dass in den Kandidatenländern und potenziellen Kandidatenländern während des Verhandlungsverfahrens auf nationaler Ebene besondere Maßnahmen ergriffen werden, um die chronischen Verzögerungen, Engpässe und Ineffizienzen zu überwinden, die sich im laufenden Programmplanungszeitraum gezeigt haben. Selbstverständlich müssen hierbei der im Vergleich zu den nationalen Haushalten einiger Begünstigter relativ niedrige Umfang an IPA-Mitteln sowie die Notwendigkeit eines tragfähigen Konsenses zwischen der Europäischen Kommission und den nationalen Institutionen der Begünstigten berücksichtigt und der politische Dialog untermauert werden.

8.   Bewährte Verfahren

8.1.

Antragsvorlagen: Diese müssen weiter vereinfacht und innerhalb des IPA und auch gegenüber anderen Gebern vereinheitlicht und an andere nationale rechtliche Anforderungen angeglichen werden. Es gibt zu viele Leitlinien und Anweisungen — hier besteht Spielraum für eine Vereinheitlichung, wobei Besonderheiten in einem eigenen Kapitel zusammengefasst werden sollten.

8.2.

Die Qualifikationen, Kenntnisse und Fähigkeiten der öffentlichen Auftraggeber einschließlich der Kontroll- und Prüfstellen sollten verbessert werden, insbesondere in Fällen, in denen ein Problem einer Auslegung bedarf und für eine Antwort viel Zeit erforderlich ist.

8.3.

In einigen Systemen zur Vergabe von Zuschüssen gelten übertriebene Anforderungen in Bezug auf die Analyse der Projektumgebung, der Lage in den Regionen usw. Dies ist für den durchschnittlichen Antragsteller sehr anspruchsvoll und kann auch umgekehrt geregelt werden. Die Vergabebehörden können Experten beauftragen, diese Analysen durchzuführen und zu bewerten, wie tragfähig ein Projekt ist.

8.4.

Ein benutzerfreundlicherer Ansatz für die Antragsteller: Antragspakete können vorab geprüft werden, oder Mitarbeiter der zuständigen Behörden (oder Stellen für technische Hilfe) können diesbezüglich beratend tätig sein. Auch sollte mehr Zeit zur Verfügung stehen, um die Verwaltungsanforderungen zu erfüllen.

8.5.

Vertragsänderungen: Es sollte für Flexibilität und schnellere Bearbeitungszeiten gesorgt werden. In der Regel wird ein Programm über ein oder zwei Jahre festgelegt, worauf ein langwieriges Antragsverfahren folgt. Entsprechend müssen Vertragsänderungen flexibel möglich sein.

8.6.

Öffentlichkeitsarbeit, Markenaufbau und Sichtbarkeit: Hier gibt es Spielraum für eine Vereinfachung und Optimierung der Anforderungen. Außerdem muss die Sichtbarkeit der von der EU finanzierten Projekte erhöht werden.

8.7.

Die Sektor- und Projektbögen mit den Zielwerten für die Indikatoren sollten überarbeitet werden, um sie dem eigentlichen Umsetzungszeitraum anzupassen.

8.8.

Sektorreformvereinbarungen tragen zur Umsetzung von politischen Reformen und zur Verwirklichung sektorspezifischer Ergebnisse bei. Mögliche, im Rahmen von IPA III zu ergreifende Maßnahmen: Einbeziehung geschulter Mitarbeiter in die operative Struktur; Bereitstellung einer angemessenen und dauerhaften technischen Unterstützung für die operative Struktur. Die Eigenverantwortung der wesentlichen Interessenträger des Verfahrens sollte gestärkt werden. Herausforderungen bei der Programmplanung: Im Programm aufeinanderfolgende Verträge können zu einer Verletzung der vertraglichen Frist führen, woraus sich im Umsetzungsverfahren viele Probleme ergeben können.

8.9.

Die potenziellen Risiken, die sich im Berichtszeitraum des IPA II gezeigt haben, haben deutlich gemacht, dass Engagement und effiziente interministerielle Zusammenarbeit und Koordinierung sichergestellt werden müssen. Dies ist auf die Komplexität der Interventionen und die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen spezifischen nationalen Einrichtungen zurückzuführen, wobei zu berücksichtigen ist, dass die geplanten Reformen in die Zuständigkeit verschiedener Regierungsstellen fallen.

8.10.

Auf Projektebene liegen die Probleme bei der Vorbereitung auf die Vergabe bzw. den Abschluss von Verträgen hauptsächlich in der Einhaltung der Voraussetzungen, Herausforderungen bei der Abfolge und Koordinierung mit verwandten Projekten bzw. Verträgen sowie in fehlenden Kapazitäten, die die rechtzeitige Vorbereitung ordentlicher Ausschreibungsunterlagen verhindern.

8.11.

Aus Vergabesicht sollten insbesondere die folgenden gewonnenen Erkenntnisse in Zukunft berücksichtigt werden: unzureichende Kapazitäten wegen der Mitarbeiterfluktuation in den begünstigten Institutionen; schlechte Qualität der von den Begünstigten eingereichten Unterlagen; fehlendes internes praxisorientiertes Fachwissen für komplexe Projekte; mangelnde Eigenverantwortung der wesentlichen Interessenträger für das Verfahren; komplexe Abfolge von Verträgen im Rahmen des Programms, die zu Verletzungen der Vertrags- bzw. Umsetzungsfristen führt; rechtzeitige Erfüllung der Voraussetzungen usw.

8.12.

Ein häufig auftretendes Problem betrifft die Diskrepanz zwischen den Indikatoren in den ursprünglichen Sektor- bzw. Projektbögen und den späteren Werten bis zum Ende des Berichtszeitraums des Programms. Auch sind die Qualität und der Umfang der Indikatoren in einigen Fällen unangemessen, was eine effiziente Programmüberwachung verhindert.

8.13.

Der Inhalt einiger Verträge, die von dezentralen Behörden verwaltet werden, hängt von den Ergebnissen der früheren Verträge ab, die von zentralen öffentlichen Auftraggebern geschlossen wurden. Dies ist eine Gefahr für die rechtzeitige Ausschreibung und Durchführung von Verträgen, die von dezentralen Behörden verwaltet werden.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Instrument für Heranführungshilfe/Europäisches Nachbarschaftsinstrument (ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 77).

(2)  Die Grundprinzipien der EU-Strategie für den westlichen Balkan wurden von der Kommission am 6. Februar 2018 in ihrer Mitteilung „Eine glaubwürdige Erweiterungsperspektive für und ein verstärktes Engagement der EU gegenüber dem westlichen Balkan“ (COM(2018) 65 final) dargelegt.

(3)  https://ec.europa.eu/europeaid/evaluation-instrument-pre-accession-assistance-ipa-ii-draft-report_de.

(4)  Vgl. Verweis in Fußnote 1.

(5)  http://www.europarl.europa.eu/legislative-train/theme-towards-a-new-policy-on-migration/file-eu-turkey-statement-action-plan.

(*1)  Diese Bezeichnung berührt nicht die Standpunkte zum Status und steht im Einklang mit der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates und dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovos.

(6)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt und europäische Integration auf dem Westbalkan — Herausforderungen und Prioritäten“ (ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 15).

(7)  https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/3/2018/EN/C-2018-3051-F1-EN-MAIN-PART-1.PDF.


22.3.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/163


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit und Instrument für Zusammenarbeit im Bereich der nuklearen Sicherheit“

(COM(2018) 460 final — 2018/0243 (COD))

(2019/C 110/29)

Berichterstatter:

Cristian PÎRVULESCU

Befassung

Europäisches Parlament, 2.7.2018

Europäische Kommission, 12.7.2018

Rat der Europäischen Union, 18.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 AEUV

 

Artikel 206 Euratom-Vertrag

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

23.11.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

12.12.2018

Plenartagung Nr.

539

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

176/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit

1.1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt die allgemeinen und besonderen Ziele des Vorschlags und hält den Schritt zur Vereinfachung der Instrumente für Nachbarschaft und Drittländer für begrüßenswert und sinnvoll. Die EU muss konstruktive, realistische und pragmatische Beziehungen zu den Nachbar- und Drittstaaten aufbauen, in denen Werte eine zentrale Rolle spielen.

1.1.2.

Der Ausschuss nimmt die in diesem Vorschlag von der Kommission und den anderen europäischen Organen sowie den Mitgliedstaaten zum Ausdruck gebrachte Entschlossenheit zur Kenntnis, die Entwicklung der Zivilgesellschaft, der Demokratie und der Systeme zum Schutz der Menschenrechte zu unterstützen. Die Funktionsweise des neuen konsolidierten Instruments sollte in allen Phasen — von der Planung bis zur Überwachung und Bewertung — auf die Förderung der Werte der EU — einschließlich Rechtsstaatlichkeit, Integrität, Pluralismus, Demokratie und Schutz der Menschenrechte — ausgerichtet sein. In diesem Zusammenhang fordert der Ausschuss die Europäische Kommission nachdrücklich auf, die Mittelzuweisung für die thematischen Programme „Menschenrechte und Demokratie“ sowie „Zivilgesellschaft“ maßgeblich aufzustocken.

1.1.3.

Der Ausschuss unterstützt das Ziel des Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit, nämlich die Werte und Interessen der EU mit Blick auf die Verfolgung der Ziele und Grundsätze ihres auswärtigen Handelns weltweit zu verteidigen und zu fördern. In der Mitteilung wird ferner festgestellt, dass bei der Umsetzung dieser Verordnung die Kohärenz mit anderen Bereichen des auswärtigen Handelns und anderen relevanten Politikfeldern der EU gewährleistet ist, wie es auch in der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) zum Ausdruck kommt. Daher muss bei allen Strategien berücksichtigt werden, wie sie sich auf sämtlichen Ebenen — d. h. einzelstaatlich, innerhalb der EU, in Drittstaaten und global — auf die nachhaltige Entwicklung auswirken.

1.1.4.

Der Ausschuss nutzt diese Gelegenheit, um der Europäischen Union in Erinnerung zu rufen, dass mit der Agenda 2030 eine Welt angestrebt wird, in der jedes Land unter Berücksichtigung seines Entwicklungsstandes und seiner Kapazitäten von einem anhaltenden, integrativen und nachhaltigen Wirtschaftswachstum sowie von Umweltschutz und sozialer Entwicklung, einschließlich menschenwürdiger Arbeit für alle, profitiert. Eine Welt, in der Demokratie, verantwortungsvolle Staatsführung und Rechtsstaatlichkeit sowie ein förderliches Umfeld auf nationaler und internationaler Ebene wesentliche Elemente für eine nachhaltige Entwicklung sind.

1.1.5.

Diese große Verantwortung zur Unterstützung des Aktionsplans der Agenda 2030 für die Menschen, den Planeten und den Wohlstand erfordert eine stärkere Konzentration auf die Unterstützungsinstrumente sowie deren Organisation und Einbindung in den schwierigen weltpolitischen Kontext. Die Straffung und Vereinheitlichung der eingesetzten Instrumente ist ein großer Schritt hin zu einem effizienten, an Prioritäten orientiertem Handeln zur Erreichung der vorgeschlagenen Ziele. Die EU kann sich durch entschlossenes Handeln oft für die am stärksten gefährdeten Gruppen und Einzelpersonen einsetzen. Dieser Verantwortung muss sie auch weiterhin entsprechend nachkommen.

1.1.6.

Nachbar- und Drittländer stehen vor einer Reihe großer, vielfältiger und sich überlagernder Probleme. In dem gegenwärtigen globalen Klima, in dem Reformen zur Förderung von Demokratisierung, politischer Stabilisierung und wirtschaftlicher Entwicklung anscheinend ins Stocken geraten sind, muss die EU ihre Bemühungen verstärken, anstatt sie zurückzufahren. Sie sollte ständigen Kontakt zu den Regierungen der Nachbar- und Drittstaaten halten und diese zu einer verantwortungsbewussten Zusammenarbeit motivieren und ermutigen. Ihre partnerschaftlichen Beziehungen zu den Regierungen dieser Länder sollten solide, selbstbewusst und klar darauf ausgerichtet sein, die Lebensbedingungen der dort lebenden Menschen zu verbessern.

1.1.7.

Der Ausschuss befürwortet ein proaktives Handeln der EU bis 2030, um Armut und Hunger ein Ende zu setzen, Ungleichheiten in und zwischen den Ländern zu bekämpfen, friedliche, gerechte und integrative Gesellschaften zu errichten, die Menschenrechte zu schützen und die Gleichstellung der Geschlechter sowie die Stärkung der Rolle von Frauen und Mädchen zu fördern und den nachhaltigen Schutz unseres Planeten und seiner natürlichen Ressourcen sicherzustellen.

1.1.8.

Der Ausschuss begrüßt den in diesem Vorschlag enthaltenen Schritt, den Verwaltungsaufwand für die EU-Organe und die Mitgliedstaaten zu verringern und sich stärker auf die politischen Ziele und das Engagement gegenüber externen Partnern zu konzentrieren. Der Ausschuss begrüßt und unterstützt die im Vorschlag zu erkennenden deutlichen Fortschritte: mehr Vereinfachung und Flexibilität und bessere Überwachung der Ergebnisse.

1.1.9.

Der Ausschuss begrüßt die Erweiterung der Haushalts- und Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments im Anschluss an die Aufnahme der gegenwärtig aus dem Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) finanzierten Maßnahmen in den EU-Haushalt.

1.1.10.

Der Ausschuss legt der Europäischen Kommission nahe, auf die mit den vorangegangenen Instrumenten erzielten Ergebnisse und Fortschritte aufzubauen. So wurden z. B. im Rahmen des Instruments für Demokratie und Menschenrechte alle wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte anerkannt und der soziale Dialog gefördert (1). Die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und faire Wahlen einsetzen, wurden trotz der feindlichen Haltung einiger Regierungen ihnen gegenüber unterstützt. Dieses Engagement sollte beibehalten und verstärkt werden.

1.1.11.

Der Ausschuss unterstreicht die Bedeutung des demokratischen Prozesses und der Abhaltung von Wahlen in den Nachbar- und Drittstaaten und legt der Europäischen Kommission nahe, der Entwicklung starker und unabhängiger Wahlinstitutionen Vorrang einzuräumen. Die EU-Organe sollten eng mit der Venedig-Kommission, dem Europarat, der OSZE und den Netzwerken von Wahlexperten zusammenarbeiten, um deren entscheidende Unterstützung für faire und solide Wahlen zu konkretisieren.

1.1.12.

Der Ausschuss fordert die Mitgliedstaaten auf, dank ihrer langjährigen Beziehungen zu Nachbar- und Drittstaaten umfassend dabei mitzuwirken, dass dieses Instrument noch bessere Ergebnisse erzielen kann.

1.1.13.

Der Ausschuss unterstützt die in der Stellungnahme des Ausschusses der Regionen enthaltenen Empfehlungen und ruft die Kommission ebenfalls dazu auf, stets dafür zu sorgen, dass die relevanten Interessengruppen, einschließlich der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften, ordnungsgemäß konsultiert werden und rechtzeitig Zugang zu relevanten Informationen erhalten, damit sie ihrer wichtigen Rolle bei der Konzipierung, Durchführung und begleitenden Überwachung von Programmen gerecht werden können. Der Ausschuss betont weiterhin, dass die Demokratie auf subnationaler Ebene in die Leitgrundsätze aufgenommen werden sollte, da die Bürgerinnen und Bürger Demokratie auf der lokalen und regionalen am unmittelbarsten erfahren können.

1.2.   Instrument für Zusammenarbeit im Bereich der nuklearen Sicherheit

1.2.1.

Hinsichtlich des Europäischen Instruments für die nukleare Sicherheit wurde nach der Atomkatastrophe von Fukushima ganz offensichtlich, dass die mit der Nutzung von Kernenergie einhergehenden Probleme und Gefahren globaler Natur sind. Leider befasst sich der Vorschlag auf strategischer und politischer Ebene nicht mit der legitimen Forderung nach einer langfristigen und von den Bürgern, der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft ausgehenden Planung im Bereich der Kernenergie.

1.2.2.

Der Ausschuss begrüßt die Absicht der Kommission, im Bereich der Kernenergie Maßnahmen einzubeziehen, die mit der Entwicklungspolitik und der Politik einer internationalen Zusammenarbeit in den Bereichen Gesundheit, Landwirtschaft, Industrie im Einklang stehen und Sozialprojekte berücksichtigen, die sich mit den Folgen nuklearer Unfälle befassen. Es ist jedoch nicht klar, wie sich diese Absicht mit den verfügbaren Mitteln und unter den gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen in der Praxis umsetzen lässt.

1.2.3.

Die Rolle der Internationalen Atomenergie-Organisation ist grundlegend, und die Organisation sollte Verantwortung für die Gewährleistung von Transparenz und Frühwarnung bei der Entwicklung neuer Kernkraftwerke auf der ganzen Welt übernehmen. Die EU sollte bei der Förderung der nuklearen Sicherheit mit internationalen Organisationen und Einrichtungen umfassend zusammenarbeiten.

1.2.4.

Verstärkte Anstrengungen sind erforderlich, um sicherzustellen, dass bestehende und geplante Anlagen in der Nachbarschaft Europas hohen Standards für Transparenz und Sicherheit entsprechen. Der EWSA fordert alle Mitgliedstaaten auf, sich für dieses Ziel einzusetzen und nukleare Sicherheit zu einem Hauptziel der bilateralen und multilateralen Beziehungen mit den Partnerländern zu machen.

1.2.5.

Zudem hält der Ausschuss angesichts der zentralen globalen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Kernenergie und der vielen nuklearen Anlagen in den Nachbarländern der EU die für den Zeitraum 2021-2027 geplante Finanzausstattung in Höhe von 300 Mio. EUR zu jeweiligen Preisen zur Durchführung dieser Verordnung für vollkommen unzureichend.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.   Hintergrund des Vorschlags — Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit

2.1.1.

In der Mitteilung werden die wichtigsten Prioritäten und der allgemeine Haushaltsrahmen für Programme im Rahmen des auswärtigen Handelns der EU unter der Rubrik „Nachbarschaft und die Welt“ festgelegt, einschließlich der Einrichtung des Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit.

2.1.2.

Mit dem vorliegenden Vorschlag wird die EU weiterhin eine aktive Rolle spielen können, unter anderem bei der Förderung der Menschenrechte, des Wohlstands, der Stabilisierung, der Entwicklung, der Sicherheit, der Bekämpfung der Ursachen von irregulärer Migration, des Handels, der Bekämpfung des Klimawandels und beim Umweltschutz. Allerdings wird sie dies im Zuge eines umfassenderen Ansatzes tun können und über größere Flexibilität verfügen, um Ressourcen dorthin zu verlagern, wo ein Wandel des internationalen Kontextes dies erforderlich macht.

2.1.3.

Dieser Vorschlag schafft den grundlegenden Rahmen für die Durchführung der Politikmaßnahmen des auswärtigen Handelns und die Umsetzung internationaler Verpflichtungen. Zu den internationalen Verpflichtungen zählen die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung‚ das Pariser Klimaschutzübereinkommen, die Aktionsagenda von Addis Abeba, der Sendai-Rahmen für Katastrophenvorsorge 2015-2030 und die Resolution 2282 (2016) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen über einen dauerhaften Frieden. Auf EU-Ebene umfasst der Politikrahmen die in den Verträgen aufgeführten Bestimmungen über das auswärtige Handeln, die in der Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, dem neuen Europäischen Konsens über die Entwicklungspolitik‚ der erneuerten Partnerschaft EU-Afrika und in der überarbeiteten Europäischen Nachbarschaftspolitik sowie in anderen Strategiedokumenten näher ausgeführt werden. Die Verordnung wird auch den Rahmen für die Umsetzung der Nachfolgepartnerschaft zum derzeitigen Abkommen von Cotonou bilden‚ das die Assoziierung und die Partnerschaft zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Staaten in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits begründet.

2.1.4.

Die Folgenabschätzung kam zu dem Ergebnis, dass — abgesehen von sehr spezifischen Instrumenten wie der humanitären Hilfe mit ihrem Grundsatz der Neutralität — die meisten Instrumente in einem einzigen Instrument zusammengefasst werden könnten. Dazu zählen: die gemeinsame Durchführungsverordnung, das Instrument für Entwicklungszusammenarbeit, der Europäische Entwicklungsfonds, der Europäische Fonds für nachhaltige Entwicklung, das Mandat für Finanzierungen außerhalb der Europäischen Union, das Europäische Nachbarschaftsinstrument, das Europäische Instrument für Demokratie und Menschenrechte, der Garantiefonds, das Stabilitäts- und Friedensinstrument und das Partnerschaftsinstrument. Eigenständig bleiben sollten: das Instrument für Heranführungshilfe, die humanitäre Hilfe, der Haushalt der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, das Instrument für die überseeischen Länder und Gebiete (einschließlich Grönland), das Katastrophenschutzverfahren der Union, das Europäische Freiwilligenkorps für humanitäre Hilfe, die Unterstützung der türkisch-zyprischen Gemeinschaft, die Soforthilfereserve sowie die neue Europäische Friedensfazilität.

2.1.5.

Die Bündelung einer Reihe von Instrumenten in einem umfassenden Instrument wird die Möglichkeit bieten, die Verwaltungs- und Kontrollsysteme zu rationalisieren und den Verwaltungsaufwand für die EU-Organe und die Mitgliedstaaten zu verringern. Statt auf mehrere Programmplanungsprozesse könnten sich die Diskussionen stärker auf die politischen Ziele und die Zusammenarbeit mit externen Partnern konzentrieren. Darüber hinaus müssten Maßnahmen, die eine Kumulation von Fördermitteln aus verschiedenen Unionsprogrammen erhalten, unter Berücksichtigung aller beteiligten Programme und ihrer jeweiligen Vorschriften nur einmalig geprüft werden.

2.1.6.

Vereinfachung bedeutet nicht, dass Abstriche bei der Aufsicht oder der Rechenschaftspflicht gemacht würden. Das interinstitutionelle Gleichgewicht würde in vollem Umfang gewahrt bleiben. Die Haushalts- und Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments würden durch die Einbeziehung der derzeit aus dem Europäischen Entwicklungsfonds finanzierten Maßnahmen in den EU-Haushalt sogar ausgeweitet werden.

2.1.7.

Die Finanzausstattung sollte sich wie folgt zusammensetzen:

a)

68 000 Mio. EUR für die geografischen Programme:

EU-Nachbarländer: mindestens 22 000 Mio. EUR;

Subsahara-Afrika: mindestens 32 000 Mio. EUR;

Asien und pazifischer Raum: 10 000 Mio. EUR;

Nord- und Südamerika und karibischer Raum: 4 000 Mio. EUR;

b)

7 000 Mio. EUR für die thematischen Programme:

Menschenrechte und Demokratie: 1 500 Mio. EUR;

Organisationen der Zivilgesellschaft: 1 500 Mio. EUR;

Stabilität und Frieden: 1 000 Mio. EUR;

Globale Herausforderungen: 3 000 Mio. EUR;

c)

Krisenreaktionsmaßnahmen: 4 000 Mio. EUR.

2.1.8.

Die in Artikel 6 Absatz 2 genannten Beträge erhöhen sich im Einklang mit Artikel 15 um das mit 10 200 Mio. EUR ausgestattete Flexibilitätspolster für neue Herausforderungen und Prioritäten.

2.1.9.

Die Länder mit dem größten Unterstützungsbedarf, insbesondere die am wenigsten entwickelten Länder, Länder mit geringem Einkommen und Länder, die sich in einer Krisen- oder Nachkrisensituation oder in einer fragilen oder prekären Situation befinden, einschließlich kleiner Inselentwicklungsländer, werden bei der Ressourcenzuweisung prioritär behandelt.

2.1.10.

Die Programme „Stabilität und Frieden“ und „Menschenrechte und Demokratie“ sowie die Krisenreaktionsmaßnahmen stehen Stellen aller Länder offen, da aufgrund des weltweiten Geltungsbereichs der Maßnahmen ein möglichst breites Angebot im Interesse der Union liegt; weitere Gründe sind die schwierigen Umstände, unter denen diese Hilfe geleistet wird, und die Notwendigkeit eines raschen Handelns. Internationale Organisationen sind ebenfalls förderfähig.

2.1.11.

Der neue europäische Konsens über die Entwicklungspolitik (im Folgenden „Konsens“), der am 7. Juni 2017 unterzeichnet wurde, bietet einen Rahmen für ein gemeinsames Konzept im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit der Union und ihrer Mitgliedstaaten, um die Agenda 2030 und die Aktionsagenda von Addis Abeba umzusetzen. Im Mittelpunkt der Politik der Entwicklungszusammenarbeit stehen die Beseitigung der Armut, die Bekämpfung von Diskriminierung und Ungleichheiten, der Grundsatz, niemanden zurückzulassen, sowie die Stärkung der Resilienz.

2.1.12.

Insbesondere sollen entsprechend den Vorgaben des Konsenses durch die Maßnahmen im Rahmen dieser Verordnung 20 % der über diese Verordnung finanzierten öffentlichen Entwicklungshilfe in die soziale Inklusion und die menschliche Entwicklung fließen, einschließlich in die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und der Teilhabe von Frauen.

2.1.13.

Um sicherzustellen, dass die Ressourcen dort eingesetzt werden, wo der Bedarf am größten ist (insbesondere in den am wenigsten entwickelten Ländern und den Ländern in fragilen Situationen und Konfliktsituationen), sollte diese Verordnung zur Verwirklichung des gemeinsamen Ziels beitragen, innerhalb der Laufzeit der Agenda 2030 0,20 % des EU-Bruttonationaleinkommens für die am wenigsten entwickelten Länder bereitzustellen.

2.1.14.

Diese Verordnung sollte der notwendigen Fokussierung auf strategische Prioritäten Rechnung tragen, und zwar sowohl in geografischer Hinsicht (Länder der Europäischen Nachbarschaft und Afrika sowie fragile Länder, die am dringendsten Hilfe benötigen) als auch unter thematischen Aspekten (Sicherheit, Migration, Klimawandel und Menschenrechte).

2.1.15.

Die Europäische Nachbarschaftspolitik in ihrer überarbeiteten Fassung von 2015 zielt auf die Stabilisierung der Nachbarländer und die Stärkung ihrer Resilienz ab, insbesondere durch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung: Wirtschaft, Soziales und Umwelt. Um ihr Ziel zu erreichen, wurde der Schwerpunkt der überarbeiteten Europäischen Nachbarschaftspolitik auf vier prioritäre Bereiche gelegt: gute Regierungsführung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf den folgenden Bereichen liegt: Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft; wirtschaftliche Entwicklung; Sicherheit; Migration und Mobilität, einschließlich der Bekämpfung der Ursachen von irregulärer Migration und Flucht und Vertreibung.

2.1.16.

Demokratie und Menschenrechte, einschließlich der Gleichstellung der Geschlechter und Teilhabe von Frauen, sollten bei der gesamten Durchführung dieser Verordnung berücksichtigt werden. Die EU-Unterstützung im Rahmen der thematischen Programme für Menschenrechte und Demokratie und Organisationen der Zivilgesellschaft sollte gleichwohl eine besondere ergänzende und zusätzliche Funktion haben, da sie global ausgerichtet und mit Blick auf ihre Handlungsfreiheit von der Zustimmung der Regierungen und der Behörden der betreffenden Drittländer unabhängig ist.

2.1.17.

Organisationen der Zivilgesellschaft sollten als breites Spektrum von Akteuren mit unterschiedlichen Rollen und Aufgabenstellungen betrachtet werden, das alle nichtstaatlichen und gemeinnützigen Organisationen umfasst, die unparteiisch und gewaltfrei sind und in denen Menschen sich zusammenschließen, um gemeinsame politische, kulturelle, soziale oder wirtschaftliche Ziele und Ideale zu verfolgen. Aktiv sind diese Organisationen von der lokalen bis zur nationalen und von der regionalen bis hin zur internationalen Ebene, und zu ihnen gehören formelle und informelle Organisationen in städtischen Gebieten und im ländlichen Raum.

2.1.18.

Diese Verordnung sollte die Union in die Lage versetzen, in Ergänzung zur Migrationspolitik der Europäischen Union und ihrer Verpflichtung im Rahmen der Agenda 2030 migrationsbezogenen Herausforderungen, Anforderungen und Chancen gerecht zu werden. Mit dieser Verpflichtung (Nachhaltigkeitsziel 10.7) wird der positive Beitrag der Migranten zu integrativem Wachstum und nachhaltiger Entwicklung anerkannt, ebenso wie die Tatsache, dass die internationale Migration eine vielschichtiges Phänomen von großer Bedeutung für die Entwicklung der Herkunfts-, Transit- und Zielländer ist, die kohärente und umfassende Maßnahmen erfordert. Damit geht auch die Verpflichtung zur internationalen Zusammenarbeit einher, um eine sichere, geordnete und reguläre Migration unter uneingeschränkter Achtung der Menschenrechte und der humanen Behandlung von Migranten unabhängig von ihrem Migrationsstatus sowie von Flüchtlingen und Vertriebenen sicherzustellen. Eine derartige Zusammenarbeit sollte auch die Resilienz der Gemeinschaften stärken, die Flüchtlinge aufnehmen.

2.2.   Besondere Bemerkungen

2.2.1.

Die Nachhaltigkeitsziele bieten eine gute Grundlage für eine zunehmende Kohärenz zwischen Innen- und Außenpolitik, und der Ausschuss ist der Ansicht, dass die Konzentration auf die Nachhaltigkeitsziele 16.3, 16.6 und 16.7 — Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, transparenten Institutionen und partizipativen und repräsentativen Entscheidungsprozessen — wichtig ist, um die Bemühungen zu bündeln und sie strategisch auszurichten.

2.2.2.

Das neue Instrument hat den Vorteil, die Kohärenz auswärtiger Maßnahmen und Tätigkeiten zu begünstigen. Diese Kohärenz sollte sowohl über die europäische Steuerung des Instruments als auch auf Ebene der Nachbar- und Drittländer gefördert werden. Die zentralen und lokalen Behörden dieser Länder verfügen nicht alle im gleichen Maß über die Ressourcen zur Koordinierung und Durchführung der Programme. Mit Hilfe der EU sowie mit Unterstützung und Beteiligung der Zivilgesellschaft und sozialer Interessenträger sollten Vorkehrungen für die Koordinierung der verschiedenen Aktivitäten auf allen Regierungs- und Verwaltungsebenen getroffen werden.

2.2.3.

Die Bandbreite der Herausforderungen und Anforderungen in den Partnerländern machen intensivere Planungsprozesse für jedes Land erforderlich. Dies wird in den Mitteln der Umsetzung der Agenda 2030 und in Nachhaltigkeitsziel 17 anerkannt, in dem es heißt: Der Umfang und der ambitionierte Charakter der neuen Agenda erfordern eine mit neuem Leben erfüllte globale Partnerschaft, um ihre Umsetzung zu gewährleisten. Diese Partnerschaft wird in einem Geist der globalen Solidarität wirken. Sie wird ein intensives globales Engagement zur Unterstützung der Umsetzung aller Ziele und Zielvorgaben erleichtern, indem sie die Regierungen, den Privatsektor, die Zivilgesellschaft und andere Akteure zusammenbringt und alle verfügbaren Ressourcen mobilisiert.

2.2.4.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass ein entsprechender Prozess ins Leben gerufen werden sollte, der für jedes Land einen integrierten Plan hervorbringt, der einem politischen Konsens unterläge und auf Verwaltungsebene prioritär behandelt würde. In der Praxis wird dieser Plan Synergien und Komplementarität gewährleisten und dazu beitragen, Maßnahmen auszumachen und die Wirkung der europäischen Unterstützung in den Partnerländern zu ermitteln.

2.2.5.

Nach Ansicht des Ausschusses sollten die Bemühungen zur Vereinfachung der Verwaltungs- und Finanzverfahren vorrangig behandelt werden, um zivilgesellschaftlichen Organisationen und lokalen Behörden den Zugang zu EU-Finanzhilfen erheblich zu erleichtern.

2.2.6.

Der Ausschuss teilt die Auffassung, dass der für Außenmaßnahmen veranschlagte Betrag die Summe der Finanzmittel des EEF und der übrigen Außenfinanzierungsinstrumente nicht unterschreiten sollte. Er begrüßt auch, dass die Flexibilität des EEF in den EU-Haushalt übernommen wurde.

2.2.7.

Der Ausschuss hebt die Bedeutung des Nachhaltigkeitsziels 16 hervor, insbesondere die Verwaltungsstruktur des neuen Instruments und der mit ihm einhergehenden Entscheidungsverfahren. Als Vertreter der organisierten europäischen Zivilgesellschaft mit Sachwissen und Beziehungen in vielen Nachbar- und Drittländern bietet der Ausschuss an, in allen Phasen der Maßnahmen und Projekte im Rahmen dieses Instruments eine Rolle zu übernehmen.

2.2.8.

Der Ausschuss hofft, dass die Ersetzung des bestehenden Europäischen Instruments für Demokratie und Menschenrechte, das auf das Nachhaltigkeitsziel 16 gerichtet ist, insbesondere auf die Förderung von Maßnahmen im Bereich der Menschenrechte, Grundfreiheiten und Demokratie in Drittländern, in keiner Weise den Geltungsbereich und die Struktur dieser Maßnahmen beeinträchtigen, sondern sie vielmehr stärken wird.

2.2.9.

Der Ausschuss erkennt an, dass auf nationaler und internationaler Ebene dringend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels erforderlich sind, und unterstützt das Ziel der EU, mindestens 25 % ihres Haushalts zu diesem Zweck bereitzustellen.

2.2.10.

Der Ausschuss unterstreicht die Erklärung der Agenda 2030 zu den Zusammenhängen und dem integrierten Charakter der Nachhaltigkeitsziele, die für die Verwirklichung des Ziels dieser Agenda von entscheidender Bedeutung sind. Wir empfehlen die Aufstellung von bereichsübergreifenden Programmen, die mehrere relevante Handlungsfelder abdecken und in einzelnen Drittländern zu konkreten Ergebnissen führen können. So beeinträchtigt der Klimawandel beispielsweise die Landwirtschaft in Afrika südlich der Sahara. Die Tatsache, dass das Land nicht bewirtschaftet werden kann, führt zum Zerfall der Gemeinschaften und ist eine wesentliche Ursache für die Migration nach Europa. In der Praxis könnten diese Menschen als „Klimaflüchtlinge“ betrachtet werden. Erforderlich ist hier eine vielschichtige Reaktion, in deren Mittelpunkt die Eindämmung der Wüstenbildung sowie die Durchführung von Unterstützungsprogrammen stehen sollten — sowohl für die gefährdeten Menschen als auch für diejenigen, die sich für den Weg der Migration entschieden haben.

2.2.11.

Drittstaaten, die auch Herkunftsländer von Migranten und Flüchtlingen sind, sollten bei der Verbesserung ihrer Kapazitäten und wirtschaftlichen Infrastrukturen sowie bei der Bewältigung der größten Herausforderungen im wirtschaftlichen, politischen, sozialen und ökologischen Bereich unterstützt werden. Mit dem Instrument sollten die Ursachen von Migration, insbesondere im Hinblick auf Flüchtlinge, angegangen werden. Die bestehenden Mittel sollten strategisch eingesetzt werden, um Frieden, Stabilität, Demokratie und Wohlstand in den Partnerländern zu fördern.

2.2.12.

Der Ausschuss merkt an, dass voraussichtlich 10 % der Gesamtmittelausstattung der EU dafür eingesetzt werden, die Ursachen von irregulärer Migration und Flucht und Vertreibung zu bekämpfen und das Migrationsmanagement und die Migrationssteuerung zu fördern, einschließlich des Schutzes der Rechte von Flüchtlingen und Migranten gemäß den Zielen dieser Verordnung. Der Ausschuss appelliert bei dieser Gelegenheit an die EU und ihre Mitgliedstaaten, ihren internationalen Verpflichtungen in Bezug auf Migranten nachzukommen.

2.2.13.

Wie bei dem vorgenannten Planungsprozess empfiehlt der Ausschuss die Aufnahme einer länderspezifischen Komponente in die Kontrolle, Bewertung und Berichterstattung über die Durchführung der Verordnung. Eine Aufschlüsselung von Maßnahmen und Indikatoren nach Ländern könnte dazu beitragen, festzustellen, inwieweit Synergien und Komplementaritäten vorhanden sind oder nicht und inwieweit sie den grundlegenden Zielen der EU-Politik entsprechen.

2.2.14.

Grundsätzlich ruft der Ausschuss die Kommission dazu auf, stets dafür zu sorgen, dass wichtige Interessenträger der Partnerländer, einschließlich zivilgesellschaftlicher Organisationen und lokaler Behörden, angemessen konsultiert werden und rechtzeitig Zugang zu relevanten Informationen erhalten, damit sie sich an der Erstellung, Umsetzung und begleitenden Überwachung von Programmen auf zweckdienliche Weise beteiligen können.

2.2.15.

Der Ausschuss begrüßt die Anwendung des Prinzips der Verantworungsübernahme in Bezug auf die Partnerländer, und ist auch der Ansicht, dass der richtige Weg darin besteht, für die Umsetzung der Programme die Systeme der jeweiligen Partnerländer zu nutzen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass dazu die richtigen Voraussetzungen bestehen und die Effizienz, Integrität und Neutralität dieser Systeme glaubwürdig garantiert sein müssen.

2.2.16.

Mit Blick auf die geografische Programmplanung und die Schaffung eines besonderen, maßgeschneiderten Rahmens für die Zusammenarbeit empfiehlt der Ausschuss, dass die Europäische Kommission nicht nur nationale Indikatoren berücksichtigt, sondern sich auch auf territorial definierte Gemeinschaften konzentriert, die Gefahr laufen, ignoriert zu werden. Die Situation der Bevölkerung auf dem Land und abseits von Hauptstädten und Ballungsräumen zeichnet sich oft durch Prekarität und Schutzbedürftigkeit aus. Diese Tatsache sollte zunächst einmal anerkannt und dann im Planungsprozess berücksichtigt werden.

2.2.17.

Bei der geografischen Programmplanung sollte außerdem die Situation nicht geografisch definierter gesellschaftlicher Gruppen und Gemeinschaften Berücksichtigung finden, die unter Umständen mit ernsthaften Problemen zu kämpfen haben, z. B. Jugendliche, Senioren und Menschen mit Behinderungen und andere Gruppen

2.3.   Hintergrund des Vorschlags — Europäisches Instrument für nukleare Sicherheit

2.3.1.

Das Ziel des neuen Europäischen Instruments für nukleare Sicherheit besteht darin, auf der Grundlage der Erfahrungen der Europäischen Atomgemeinschaft mit Tätigkeiten im Bereich der nuklearen Sicherheit gemäß Artikel 206 des Euratom-Vertrags die Anwendung wirksamer und effizienter Standards für die nukleare Sicherheit in Drittländern zu fördern.

2.3.2.

Das Ziel dieser Verordnung besteht darin, die im Rahmen der [NDICI-Verordnung] finanzierten Maßnahmen der Zusammenarbeit im Nuklearbereich zu ergänzen. Aufbauend auf den Tätigkeiten innerhalb der Gemeinschaft und im Einklang mit den Bestimmungen der vorliegenden Verordnung sollen insbesondere ein hohes Niveau an nuklearer Sicherheit und Strahlenschutz sowie effiziente und wirksame Sicherungsmaßnahmen für Kernmaterial in Drittländern gefördert werden. Diese Verordnung zielt insbesondere auf Folgendes ab:

a)

Förderung einer wirksamen Sicherheitskultur im Nuklearbereich und Anwendung höchster Standards in den Bereichen nukleare Sicherheit und Strahlenschutz sowie kontinuierliche Verbesserung der nuklearen Sicherheit;

b)

verantwortungsvolle und sichere Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle sowie Stilllegung und Sanierung ehemaliger kerntechnischer Anlagen und Einrichtungen;

c)

Einführung effizienter und wirksamer Sicherungssysteme.

2.3.3.

Die im Rahmen dieses Vorschlags finanzierten Maßnahmen sollten mit den Maßnahmen im Einklang stehen, die im Rahmen des (ebenfalls nukleare Tätigkeiten abdeckenden) Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit, des Instruments für Heranführungshilfe‚ des Beschlusses über die überseeischen Länder und Gebiete‚ der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der neu vorgeschlagenen Europäischen Friedensfazilität, die außerhalb des EU-Haushalts finanziert wird, durchgeführt werden, und diese Maßnahmen ergänzen.

2.3.4.

Die Tätigkeit der Kernindustrie der EU findet auf einem globalen Markt mit einem Volumen von 3 Billionen Euro bis 2050 statt. In diesem Bereich sind direkt eine halbe Million Menschen beschäftigt. In 14 Mitgliedstaaten sind 129 Kernreaktoren in Betrieb, und in zehn dieser Staaten ist der Bau neuer Reaktoren geplant. Die EU verfügt über den fortschrittlichsten rechtsverbindlichen Rahmen für die nukleare Sicherheit weltweit, und europäische Unternehmen sind stark an der globalen Kernbrennstofferzeugung beteiligt. (Pressemitteilung des EWSA „EESC urges the EU to adopt a more comprehensive nuclear strategy (PINC)“, Nr. 58/2016, 22.9.2016)

2.4.   Besondere Bemerkungen

2.4.1.

Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag in Form einer Verordnung, die seine einheitliche Anwendung und seine rechtsverbindliche, vollständige und unmittelbare Anwendbarkeit sicherstellt. Die Union und die Gemeinschaft sind in der Lage und dafür verantwortlich, die Tätigkeiten der Mitgliedstaaten zu ergänzen, wenn potenziell gefährliche Situationen zu bewältigen oder besonders kostenintensive Interventionen erforderlich sind. In dem Vorschlag wird darauf hingewiesen, dass die Union und die Gemeinschaft in einigen Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten nicht aktiv sind, die wichtigsten und manchmal auch die einzigen Akteure sind.

2.4.2.

Nach der Atomkatastrophe von Fukushima wurde es augenscheinlich, dass die mit der Nutzung von Kernenergie einhergehenden Probleme und Gefahren globaler Natur sind. Der einzigartige Charakter der EU macht sie im Rahmen der weltweiten Bemühungen um nukleare Sicherheit und saubere Technologien zu einem der hauptverantwortlichen und am besten mit Ressourcen ausgestatteten Akteure.

2.4.3.

Leider befasst sich der Vorschlag auf strategischer und politischer Ebene nicht mit der legitimen Forderung nach einer langfristigen und von den Bürgern, der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft ausgehenden Planung im Bereich der Kernenergie. Es ist nicht klar, wie die EU ihre Ressourcen einsetzen wird, um die wichtigsten Herausforderungen der Kernenergie im Zusammenhang mit der wachsenden Sorge und dem steigenden Bedarf an sauberer und erschwinglicher Energie in der EU und weltweit zu bewältigen.

2.4.4.

Die Rolle der Internationalen Atomenergie-Organisation ist grundlegend, und die Organisation sollte Verantwortung für die Gewährleistung von Transparenz und Frühwarnung bei der Entwicklung neuer Kernkraftwerke auf der ganzen Welt übernehmen. Die EU sollte bei der Förderung der nuklearen Sicherheit mit internationalen Organisationen und Einrichtungen umfassend zusammenarbeiten.

2.4.5.

Die EU sollte die höchsten Standards für nukleare Sicherheit aktiv fördern und gewährleisten, dass die fortschrittlichsten europäischen Verfahren, bewährten Methoden und Technologien im Interesse der Sicherheit neu geplanter Anlagen und Reaktoren weltweit gefördert werden.

2.4.6.

Verstärkte Anstrengungen sind erforderlich, um sicherzustellen, dass bestehende und geplante Anlagen in der Nachbarschaft Europas hohen Standards für Transparenz und Sicherheit entsprechen. Der EWSA fordert alle Mitgliedstaaten auf, sich für dieses Ziel einzusetzen und nukleare Sicherheit zu einem Hauptziel der bilateralen und multilateralen Beziehungen mit den Partnerländern zu machen.

2.4.7.

Der EWSA vertritt nach wie vor die Auffassung, dass die Europäische Kommission in ihrem Vorschlag für ein hinweisendes Nuklearprogramm (PINC) für die Ziele bei der Energieerzeugung aus Kernenergie und die entsprechenden Investitionen drängende Fragen nicht aufgegriffen hat: Wettbewerbsfähigkeit der Kernenergie, ihr Beitrag zur Versorgungssicherheit und zu den Klimaschutz- und CO2-Zielen, ihre Sicherheit. Offen bleiben auch die Fragen der Transparenz und der Vorbereitung auf Notfälle (2).

2.4.8.

Der Ausschuss begrüßt die Absicht der Kommission, die Kohärenz und Komplementarität mit dem Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit sicherzustellen, auch durch die Durchführung von ihre umfassenderen Ziele ergänzenden Maßnahmen im Nuklearbereich, hauptsächlich die friedliche Nutzung der Kernenergie im Einklang mit der Entwicklungspolitik und der Politik einer internationalen Zusammenarbeit in den Bereichen Gesundheit, Landwirtschaft und Industrie sowie unter Berücksichtigung von Sozialprojekten, die sich mit den Folgen nuklearer Unfälle befassen. Es ist jedoch nicht klar, wie sich diese Absicht mit den verfügbaren Mitteln und unter den gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen in der Praxis umsetzen lässt.

2.4.9.

Angesichts der zentralen globalen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Kernenergie und der vielen nuklearen Anlagen in den Nachbarländern der EU hält der Ausschuss die für den Zeitraum 2021-2027 geplante Finanzausstattung in Höhe von 300 Mio. EUR zu jeweiligen Preisen zur Durchführung dieser Verordnung für vollkommen unzureichend.

Brüssel, den 12. Dezember 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Europäisches Instrument für Demokratie und Menschenrechte (EIDHR)“, Berichterstatter: Herr Iuliano (ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 13); Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Finanzierungsinstrument für die Entwicklungszusammenarbeit der EU: die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft und der Sozialpartner“, Berichterstatter: Herr Iuliano (ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 123).

(2)  Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, Stellungnahme zum hinweisenden Nuklearprogramm, Berichterstatter: Brian Curtis, verabschiedet am 22. September 2016 (ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 104).