ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 440

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

61. Jahrgang
6. Dezember 2018


Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

537. Plenartagung des EWSA, 19.9.2018-20.9.2018

2018/C 440/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu Künstliche Intelligenz: Antizipation ihrer Auswirkungen auf die Arbeit zur Gewährleistung eines gerechten Übergangs (Initiativstellungnahme)

1

2018/C 440/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Vertrauen, Privatsphäre und Sicherheit für Verbraucher und Unternehmen im Internet der Dinge (Initiativstellungnahme)

8

2018/C 440/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Bessere Indikatoren für die Bewertung der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele — der Beitrag der Zivilgesellschaft (Initiativstellungnahme)

14

2018/C 440/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu Der Beitrag der ländlichen Gebiete Europas zum Jahr des Kulturerbes 2018 durch die Gewährleistung von Nachhaltigkeit und Zusammenhalt zwischen Stadt und Land (Initiativstellungnahme)

22

2018/C 440/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu Auswirkungen von Subsidiarität und Gold Plating auf Wirtschaft und Beschäftigung (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des österreichischen Ratsvorsitzes)

28

2018/C 440/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: Digitale Kluft zwischen den Geschlechtern (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des Europäischen Parlaments)

37

2018/C 440/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Bioökonomie — Beitrag zur Erreichung der EU-Klima- und -Energieziele sowie der UN-Nachhaltigkeitsziele (Sondierungsstellungnahme)

45


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

537. Plenartagung des EWSA, 19.9.2018-20.9.2018

2018/C 440/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Künstliche Intelligenz für Europa(COM(2018) 237 final)

51

2018/C 440/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Ermöglichung der digitalen Umgestaltung der Gesundheitsversorgung und Pflege im digitalen Binnenmarkt, die aufgeklärte Mitwirkung der Bürger und den Aufbau einer gesünderen Gesellschaft(COM(2018) 233 final)

57

2018/C 440/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu a) Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG(COM(2018) 184 final — 2018/0089 (COD)) und zu b) Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993, der Richtlinie 98/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zur besseren Durchsetzung und Modernisierung der EU-Verbraucherschutzvorschriften(COM(2018) 185 final — 2018/0090 (COD))

66

2018/C 440/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine erneuerte europäische Agenda für Forschung und Innovation — Europas Chance, seine Zukunft zu gestalten(Beitrag der Europäischen Kommission zur informellen Tagung der Staats- und Regierungschefs am 16. Mai 2018 in Sofia) (COM(2018) 306 final)

73

2018/C 440/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 596/2014 und (EU) 2017/1129 zur Förderung der Nutzung von KMU-Wachstumsmärkten(COM(2018) 331 final — 2018/0165 (COD))

79

2018/C 440/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht(COM(2018) 336 final — 2018/0168 (COD))

85

2018/C 440/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge im Hinblick auf ihre allgemeine Sicherheit und den Schutz der Fahrzeuginsassen und von ungeschützten Verkehrsteilnehmern, zur Änderung der Verordnung (EU) 2018/… und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 78/2009, (EG) Nr. 79/2009 und (EG) Nr. 661/2009(COM(2018) 286 final — 2018/0145 (COD))

90

2018/C 440/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Ergänzung der Rechtsvorschriften der EU über die Typgenehmigung im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union(COM(2018) 397 final — 2018/0220 (COD))

95

2018/C 440/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel(COM(2018) 317 final — 2018/0161 (COD))

100

2018/C 440/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung und Berichtigung der Verordnung (EU) Nr. 167/2013 über die Genehmigung und Marktüberwachung von land- und forstwirtschaftlichen Fahrzeugen(COM(2018) 289 final — 2018/0142 (COD))

104

2018/C 440/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein moderner Haushalt für eine Union, die schützt, stärkt und verteidigt — Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-2027(COM(2018) 321 final), Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung des Mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2021 bis 2027(COM(2018) 322 final/2-2018/0166 (APP)), Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union(COM(2018) 325 final — 2018/0135 (CNS)), Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der Eigenmittel, die auf der gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, dem Emissionshandelssystem der Europäischen Union und nicht wiederverwerteten Verpackungsabfällen aus Kunststoff basieren, sowie der Maßnahmen zur Bereitstellung der erforderlichen Kassenmittel(COM(2018) 326 final — 2018/0131 (NLE)), Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung von Durchführungsmaßnahmen für das Eigenmittelsystem der Europäischen Union(COM(2018) 327 final — 2018/0132 (APP)), und zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 1553/89 über die endgültige einheitliche Regelung für die Erhebung der Mehrwertsteuereigenmittel(COM(2018) 328 final — 2018/0133 (NLE))

106

2018/C 440/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über besondere Bestimmungen für das aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung sowie aus Finanzierungsinstrumenten für das auswärtige Handeln unterstützte Ziel Europäische territoriale Zusammenarbeit (Interreg)(COM(2018) 374 final — 2018/0199 (COD))

116

2018/C 440/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Mechanismus zur Überwindung rechtlicher und administrativer Hindernisse in einem grenzübergreifenden Kontext(COM(2018) 373 final — 2018/0198 (COD))

124

2018/C 440/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung einer Europäischen Arbeitsbehörde(COM(2018) 131 final — 2018/0064 (COD))

128

2018/C 440/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zum Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbstständige(COM(2018) 132 final)

135

2018/C 440/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Anpassung der gemeinsamen Visumpolitik an neue Herausforderungen(COM(2018) 251 final) und zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex)(COM(2018) 252 final — 2018/0061 (COD))

142

2018/C 440/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2004/37/EG über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch Karzinogene oder Mutagene bei der Arbeit(COM(2018) 171 final — 2018/0081 (COD))

145

2018/C 440/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Empfehlung des Rates zur verstärkten Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von durch Impfung vermeidbaren Krankheiten(COM(2018) 244 final — SWD(2018) 149 final)

150

2018/C 440/26

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 767/2008, der Verordnung (EG) Nr. 810/2009, der Verordnung (EU) 2017/2226, der Verordnung (EU) 2016/399, der Verordnung (EU) 2018/… (Interoperabilitäts-Verordnung) und der Entscheidung 2004/512/EG sowie zur Aufhebung des Beschlusses 2008/633/JI des Rates(COM(2018) 302 final)

154

2018/C 440/27

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Transparenz und Nachhaltigkeit der EU-Risikobewertung im Bereich der Lebensmittelkette und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 (allgemeines Lebensmittelrecht), der Richtlinie 2001/18/EG (absichtliche Freisetzung von GVO in die Umwelt), der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 (genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel), der Verordnung (EG) Nr. 1831/2003 (Futtermittelzusatzstoffe), der Verordnung (EG) Nr. 2065/2003 (Raucharomen), der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 (Lebensmittelkontaktmaterialien), der Verordnung (EG) Nr. 1331/2008 (einheitliches Zulassungsverfahren für Lebensmittelzusatzstoffe, -enzyme und –aromen), der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 (Pflanzenschutzmittel) und der Verordnung (EU) 2015/2283 (neuartige Lebensmittel) (COM(2018) 179 final — 2018/0088 (COD))

158

2018/C 440/28

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über unlautere Handelspraktiken in den Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen in der Lebensmittelversorgungskette(COM(2018) 173 final)

165

2018/C 440/29

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresplans für die Fischbestände in den westlichen Gewässern und angrenzenden Gewässern und für Fischereien, die diese Bestände befischen, zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/1139 zur Festlegung eines Mehrjahresplans für die Ostsee und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 811/2004, (EG) Nr. 2166/2005, (EG) Nr. 388/2006, (EG) Nr. 509/2007 und (EG) Nr. 1300/2008(COM(2018) 149 final — 2018/0074 (COD))

171

2018/C 440/30

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über einen mehrjährigen Wiederauffüllungsplan für Schwertfisch im Mittelmeer und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1967/2006 und (EU) 2017/2107(COM(2018) 229 final — 2018/0109 (COD))

174

2018/C 440/31

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Förderung von Fairness und Transparenz für gewerbliche Nutzer von Online-Vermittlungsdiensten(COM(2018) 238 final — 2018/0112 (COD))

177

2018/C 440/32

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bekämpfung von Desinformation im Internet: ein europäisches Konzept(COM(2018) 236 final)

183

2018/C 440/33

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung der Fazilität Connecting Europe und zur Aufhebung der Verordnungen (EU) Nr. 1316/2013 und (EU) 283/2014(COM(2018) 438 final — 2018/0228 (COD))

191

2018/C 440/34

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung eines Aktionsprogramms in den Bereichen Austausch, Unterstützung und Ausbildung zum Schutz des Euro gegen Geldfälschung für den Zeitraum 2021-2027 (Programm Pericles IV)(COM(2018) 369 final — 2018/0194(CNS))

199


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

537. Plenartagung des EWSA, 19.9.2018-20.9.2018

6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu „Künstliche Intelligenz: Antizipation ihrer Auswirkungen auf die Arbeit zur Gewährleistung eines gerechten Übergangs“

(Initiativstellungnahme)

(2018/C 440/01)

Berichterstatterin:

Franca SALIS-MADINIER

Beschluss des Plenums

15.2.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

183/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Künstliche Intelligenz (KI) und Robotik werden die Folgen der Digitalisierung der Wirtschaft für die Arbeitsmärkte ausweiten und verstärken (1). Der technische Fortschritt hat seit jeher Auswirkungen auf Arbeit und Beschäftigung gezeitigt, wodurch neue Formen sozialer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen erforderlich wurden. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Überzeugung, dass die technische Entwicklung einen Beitrag zum wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt leisten kann. Es wäre jedoch falsch, die Gesamtauswirkungen auf die Gesellschaft zu vernachlässigen. In der Arbeitswelt wird die KI die Tragweite der Automatisierung von Arbeitsplätzen erhöhen und verstärken (2). In diesem Sinne möchte der EWSA einen Beitrag zur Vorbereitung des gesellschaftlichen Wandels leisten, der mit dem zunehmenden Einsatz der KI und der Robotik einhergeht, indem er sich für eine Stärkung und Erneuerung des europäischen Sozialmodells einsetzt.

1.2.

Der EWSA verweist auf das Potenzial der KI und ihrer Anwendungen, insbesondere in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Verkehrs- und Energiesicherheit, Bekämpfung des Klimawandels oder Antizipation von Cybersicherheitsbedrohungen. Der Europäischen Union, den Regierungen und den Organisationen der Zivilgesellschaft kommt eine wichtige Rolle zu, wenn es darum geht, die potenziellen Vorteile der KI insbesondere für Menschen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mobilität und ältere Menschen sowie chronisch Kranke in vollem Umfang zu nutzen.

1.3.

Der EU mangelt es jedoch an Daten zur digitalen Wirtschaft und zum sozialen Wandel, den sie auslöst. Der EWSA empfiehlt eine Verbesserung der statistischen Instrumente und der Forschung, insbesondere zur KI, dem Einsatz von Industrie- und Dienstleistungsrobotern, dem Internet der Dinge sowie der neuen Geschäftsmodelle (Plattformwirtschaft, neue Beschäftigungs- und Arbeitsformen).

1.4.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, Studien über die sektoralen Auswirkungen von KI und Robotik — und der Digitalisierung der Wirtschaft im Allgemeinen — auf der Ebene der europäischen Gremien des branchenspezifischen sozialen Dialogs zu fördern und zu unterstützen.

1.5.

Es ist davon auszugehen, dass KI und Robotik zu einer Verlagerung und Veränderung von Arbeitsplätzen führen; einige Arbeitsplätze fallen weg, während andere geschaffen werden. In jedem Fall muss die EU im Einklang mit der europäischen Säule sozialer Rechte den Zugang aller Arbeitskräfte — Arbeitnehmer, Selbstständige oder Scheinselbstständige — zum Sozialschutz gewährleisten.

1.6.

Die Kommission hat eine Aufstockung des Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung vorgeschlagen, um insbesondere diejenigen Arbeitnehmer und Selbstständige zu unterstützen, die infolge der Digitalisierung der Wirtschaft entlassen wurden bzw. ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben haben (3). Der EWSA sieht hierin einen Schritt hin zur Schaffung eines echten Europäischen Fonds für den Übergang, der zu einer sozial verträglichen Steuerung des digitalen Wandels beitragen könnte.

1.7.

Der EWSA empfiehlt, die in den bisher von den EU-Institutionen sowie von den Sozialpartnern angenommenen Texten genannten Grundsätze, Verpflichtungen und Auflagen in Hinblick auf die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer insbesondere bei der Einführung neuer Technologien (u. a. KI und Robotik) (4) umzusetzen und zu stärken. Er spricht sich für ein integratives europäisches Programm für KI aus, das auf diesen Texten und der europäischen Säule sozialer Rechte fußt und bei dem alle Interessenträger einbezogen werden.

1.8.

Der EWSA empfiehlt, in den ethischen Leitlinien für die KI, die die Kommission ausarbeiten wird, eine klare Grenze in der Interaktion Arbeitnehmer-intelligente Maschine abzustecken, sodass der Mensch nie zum Befehlsempfänger einer Maschine werden kann. Im Sinne einer integrativen KI sollten in diesen Leitlinien Grundsätze für die Beteiligung, die Zuständigkeiten und die Aneignung der Produktionsverfahren festgelegt werden, damit, wie es in der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation heißt, die Arbeitnehmer bei ihrer Beschäftigung die Befriedigung haben können, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse in vollem Umfang zu entfalten und das Beste zum Gemeinwohl beizutragen.

1.9.

Der EWSA empfiehlt ferner, dass diese Leitlinien die Grundsätze der Transparenz bei der Nutzung von KI-Systemen für die Einstellung, Bewertung und Führung von Arbeitnehmern sowie im Bereich Arbeitsschutz und Arbeitsbedingungen mit einschließen. Schließlich müssen sie auch im Einklang mit den Grundsätzen der Nichtdiskriminierung den Schutz der Rechte und Freiheiten bei der Verarbeitung personenbezogener Daten von Arbeitnehmern gewährleisten.

1.10.

Die Umsetzung der ethischen Leitlinien für die KI muss kontrolliert werden. Diese Aufgabe der Kontrolle oder Beaufsichtigung (auch unmittelbar in den Unternehmen) könnte eine europäische Beobachtungsstelle für Ethik in KI-Systemen übernehmen.

1.11.

Der EWSA empfiehlt, für Ingenieure und Konstrukteure intelligenter Maschinen Bildungsmaßnahmen auf dem Gebiet der Ethik zu organisieren, damit sich keine neuen Formen eines digitalen Taylorismus etablieren, bei denen die Menschen bloß noch die Anweisungen intelligenter Maschinen zu befolgen haben. Die Verbreitung bewährter Verfahren und der Erfahrungsaustausch in diesem Bereich müssen gefördert werden.

1.12.

Der EWSA fordert eine Klärung des Grundsatzes der gesetzlichen Haftung. In der Beziehung zwischen Mensch und Maschine neu auftretende Risiken für die Gesundheit und Sicherheit müssen mit einem ehrgeizigeren Ansatz im Rahmen der Richtlinie über Produkthaftung (5) angegangen werden.

1.13.

Angesichts der Gefahr eines zunehmenden sozialen Ungleichgewichts infolge des digitalen Wandels fordert der EWSA die EU-Institutionen auf, eine Debatte über die Frage der Finanzierung der öffentlichen Haushalte und der Sozialsysteme in einer Wirtschaft einzuleiten, in der die Robotik-Dichte steigt (6), während die Besteuerung der Arbeit nach wie vor die wichtigste Quelle für Steuereinnahmen in Europa ist. Im Sinne des Gerechtigkeitsprinzips sollte sich diese Debatte sinnvollerweise auch auf die Frage der Umverteilung der Gewinne aus der Digitalisierung beziehen.

2.   Einleitung

2.1.

Die KI hat sich seit dem Aufkommen dieses Konzepts im Jahr 1956 und während der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts uneinheitlich entwickelt. Sie weckte immer wieder große Hoffnungen, führte aber ebenso zu großen Enttäuschungen. Seit einigen Jahren erlebt die KI jedoch einen neuen, erheblichen Aufschwung dank der Erhebung, Organisation und Speicherung einer in der Geschichte der Menschheit bisher einmaligen Menge an Daten (Big Data) sowie aufgrund der exponentiellen Zunahme der Rechenleistung der Computer und der Leistungsfähigkeit der Algorithmen.

2.2.

Der EWSA hat 2017 eine umfassende Stellungnahme zum Thema KI (7) erarbeitet, in der darauf hingewiesen wird, dass es keine genaue Definition der KI gibt. Für die Zwecke dieser Stellungnahme wird die KI als Disziplin betrachtet, die darauf abzielt, die digitalen Technologien zur Schaffung von Systemen einzusetzen, die die kognitiven Fähigkeiten des Menschen eigenständig reproduzieren können. Dazu gehört insbesondere die Erfassung von Daten, eine Art von Verständnis und Anpassung (maschinelle Problemlösung, maschinelles Nachdenken und Lernen).

2.3.

Die Systeme der KI können heute Probleme lösen, die so komplex sind, dass sie mitunter die menschliche Intelligenz überfordern. Es scheint potenziell unendlich viele Anwendungen zu geben, sowohl im Bank- und Versicherungswesen, in den Bereichen Verkehr, Gesundheitsversorgung, Bildung, Energie, Marketing und Verteidigung als auch in der Industrie, im Bauwesen, in der Landwirtschaft, im Handwerk usw (8). Von der KI wird erwartet, dass sie die Effizienz der Prozesse zur Herstellung von Gütern und Erbringung von Dienstleistungen steigert, die Rentabilität der Unternehmen stimuliert und zu mehr Wirtschaftswachstum beiträgt.

2.4.

Dieser neue Boom der KI wirft auch wieder viele Fragen in Bezug auf ihre potenzielle Rolle in der Gesellschaft, ihr Maß an Autonomie und ihre Interaktion mit dem Menschen auf. Wie in der Stellungnahme des EWSA von 2017 zum Thema KI (9) hervorgehoben wurde, beziehen sich diese Fragen insbesondere auf Ethik, Sicherheit, Transparenz, Privatsphäre und Arbeitsnormen, Bildung, Barrierefreiheit, Rechts- und Verwaltungsvorschriften, politische Steuerung und Demokratie.

2.5.

Die verschiedenen Ansätze in der Debatte über KI müssen miteinander verwoben werden, um diese Debatte aus der rein wirtschaftlichen Perspektive herauszuholen, in der sie mitunter festgefahren ist. Ein solcher multidisziplinärer Rahmen wäre für die Analyse der Auswirkungen der KI auf die Arbeitswelt von Nutzen, da diese einer der Hauptorte der Interaktion zwischen Mensch und Maschine ist. Die Technik hat die Arbeit von jeher stark beeinflusst. Die Auswirkungen der KI auf Beschäftigung und Arbeit erfordern daher besondere Aufmerksamkeit auf politischer Ebene, da es zu den wesentlichen Aufgaben der Institutionen gehört, die Prozesse des wirtschaftlichen Wandels sozialverträglich zu gestalten (10).

2.6.

Mit dieser Initiativstellungnahme soll die Problematik der KI in Bezug auf die Arbeit beleuchtet werden, insbesondere ihre Beschaffenheit und Organisation sowie die Arbeitsbedingungen. Wie vom EWSA bereits unterstrichen (11), bedarf es einer Verbesserung der Statistiken und der Forschung, um exakte Prognosen hinsichtlich der Entwicklung der Arbeitsmärkte zu erstellen sowie klare Indikatoren für bestimmte Trends etwa in Bezug auf die Qualität der Arbeit, die zunehmend ungleiche Verteilung der Arbeitsplätze und der Einkommen sowie die Arbeitsbedingungen im Rahmen des digitalen Wandels zu entwickeln. Der EU mangelt es an Daten zu der sogenannten kollaborativen Wirtschaft, den Plattformen zur Vermittlung von Arbeit auf Abruf, den neuen Modellen der Vergabe von Unteraufträgen im Internet sowie dem Einsatz von Industrie- und Dienstleistungsrobotern, dem Internet der Dinge und dem Einsatz und der Verbreitung von KI-Systemen.

3.   KI und die Entwicklung des Beschäftigungsvolumens

3.1.

Die Frage, wie sich die Einführung der KI und der Robotik in den Produktionsverfahren auf das Beschäftigungsvolumen auswirkt, ist umstritten. In zahlreichen Studien wurde versucht, diese Frage zu beantworten, ohne dass sich ein wissenschaftlich begründeter Konsens herausbildete. Die großen Schwankungen in den Ergebnissen (je nach Untersuchung reicht der Anteil der bedrohten Arbeitsplätze von 9 % bis 54 % (12)) spiegeln die Komplexität der methodischen Ansätze und deren bestimmenden Einfluss auf die Forschungsergebnisse wider.

3.2.

Die Prognosen sind eher vage, da neben dem technischen Potenzial zur Automatisierung auch weitere Faktoren zum Tragen kommen, etwa politische, regulatorische, wirtschaftliche und demografische Entwicklungen, aber auch die Frage der sozialen Akzeptanz. Dass die Technologie zur Verfügung steht, heißt noch nicht, dass sie eingesetzt und verbreitet wird.

3.3.

Schließlich ist es nach wie vor unmöglich, vorherzusagen, wie viele Arbeitsplätze in den einzelnen Branchen unterm Strich automatisiert werden können, ohne den Wandel der Berufsbilder und das Tempo der Schaffung neuer Arbeitsplätze zu berücksichtigen. Voraussetzung für die Entwicklung von KI-Systemen ist nämlich die Schaffung neuer Arbeitsplätze in den Bereichen Ingenieurswesen, Informatik und Telekommunikation (Ingenieure, Techniker und Bedienungspersonal bzw. Betreiber), ebenso wie für die Verarbeitung von Massendaten (Big Data) — Datenbeauftragte (data officers), Datenanalysten (data analysts), „Datenentdecker“ (data miners) usw.

3.4.

Die Rolle der öffentlichen Einrichtungen wird darin bestehen, die Sozialverträglichkeit dieses digitalen Wandels sicherzustellen, der sowohl die Quantität als auch die Qualität der Arbeitsplätze betreffen könnte (13). Ein von den Fachleuten besonders herausgestelltes Risiko ist die Gefahr eines zunehmenden Ungleichgewichts der Beschäftigung zwischen den „Superstars“ auf der einen Seite, die über die erforderlichen Qualifikationen für die digitale Wirtschaft verfügen, und den „Verlierern“ auf der anderen Seite, deren Qualifikationen, Erfahrung und Fertigkeiten durch diesen Wandel schrittweise irrelevant werden. In ihrer jüngsten Mitteilung (14) schlägt die Europäische Kommission eine Reaktion auf diese Herausforderung vor, die sich im Wesentlichen auf die Aspekte Bildung, Aus- und Weiterbildung und Verbesserung der Grundkompetenzen in den Bereichen Schreiben, Lesen und Rechnen sowie der digitalen Kompetenzen bezieht. Diese Reaktion verdient die Unterstützung wirtschaftlichen und sozialen Interessenträger, etwa im Rahmen des sozialen Dialogs auf nationaler, europäischer, sektoraler und branchenübergreifender Ebene (15).

3.5.

Diese Bemühungen reichen jedoch nach Auffassung der EWSA als Reaktion auf die Herausforderungen nicht aus, insbesondere nicht als Antwort auf die Unsicherheit bezüglich des Wandels der Arbeitsplätze. In diesem Zusammenhang sollten drei einander ergänzende Denkrichtungen eingeschlagen werden: die einer „inklusiven“ KI, die der Antizipation des Wandels und schließlich — wenn Sozialpläne unvermeidlich werden — die der sozial verantwortbaren und geregelten Umstrukturierungen.

4.   Inklusive und intelligente KI und Robotik

4.1.

Der EWSA befürwortet den Grundsatz, dass ein Programm der inklusiven KI und Robotik umgesetzt wird. Dies bedeutet, dass es bei der Einführung neuer Verfahren unter Einsatz der neuen Technologien in den Unternehmen sinnvoll ist, die Arbeitnehmer in die Funktionsweise dieser Verfahren entsprechend einzubinden. Wie der WRR (16) vermerkt, kann die „inklusive und intelligente“ Einführung neuer Technologien, bei der die Arbeitnehmer weiterhin im Mittelpunkt der Prozesse stehen und an deren Verbesserung mitwirken, zur Verbesserung der Herstellungsverfahren beitragen (17).

4.2.

Da Algorithmen bei der Festlegung der Bedingungen für die Einstellung, Beschäftigung und Bewertung der Arbeitsleistung eine wichtige Rolle spielen, unterstützt der EWSA den Grundsatz der algorithmischen Transparenz. Dabei geht es nicht darum, die Codes zu enthüllen, sondern die Parameter und Kriterien, nach denen die Entscheidungen getroffen werden, verständlich zu machen. Ein menschliches Eingreifen muss jedoch noch möglich sein.

4.3.

Eine arbeitnehmerzentrierte KI sorgt dafür, dass die Meinungen derer berücksichtigt werden, die im Rahmen der neuen technischen Verfahren arbeiten sollen, dass die Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die in den Händen der Arbeitnehmer bleiben, klar festgelegt sind und dass sich den Arbeitnehmern weiterhin Möglichkeiten bieten, sich Formen der Arbeit anzueignen, damit sie nicht lediglich zu Ausführenden werden.

4.4.

Der Grundsatz der rechtlichen Haftung muss geklärt werden. Industrie- bzw. Dienstleistungsroboter arbeiten zunehmend mit dem Menschen zusammen. Die KI sorgt dafür, dass Roboter „aus ihren Käfigen herauskommen“, was zu Unfällen führen kann (18). Daher müssen die Verantwortlichkeiten für autonome Systeme bei Unfällen klar festgelegt sein, und die Risiken für die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer müssen gedeckt sein. Die Europäische Kommission stellt derzeit im Rahmen der Richtlinie über die Produkthaftung (19) Überlegungen zu diesen neuen Gefahren an. In Bezug auf den Arbeitsschutz ist jedoch ein ehrgeizigerer Ansatz notwendig.

4.5.

Den Grundsatz der Fairness in der Welt der Arbeit einzuhalten, bedeutet, den Arbeitnehmer nicht des Bezugs zu seiner Arbeit zu berauben. Fachleute betonen die Gefahr, dass die KI zu einer gewissen Dequalifizierung der Arbeitnehmer beitragen könnte. Aus diesem Grund muss im Einklang mit den Bestimmungen der Verfassung der IAO dafür gesorgt werden, dass die Arbeitnehmer bei ihrer Beschäftigung die Befriedigung haben können, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse in vollem Umfang zu entfalten und das Beste zum Gemeinwohl beizutragen. Aus unternehmerischer Sicht dient dies auch der Aufrechterhaltung der Arbeitsmotivation.

5.   Antizipation des Wandels

5.1.

In zahlreichen Studien wird eine Schwächung des europäischen — und teilweise auch des nationalen — sozialen Dialogs konstatiert, obwohl die Kommission und der Europäische Rat ihren Willen bekundet haben, diesen Dialog wieder in Schwung zu bringen. Dabei ist dieser soziale Dialog eines der am besten geeigneten Instrumente zur Bewältigung der sozialen Herausforderungen der Digitalisierung. Deshalb plädiert der EWSA nachdrücklich dafür, dass sich dieser Dialog in den Unternehmen und auf allen relevanten Ebenen einbürgert, um die Veränderungen sozialverträglich vorzubereiten. Der EWSA bekräftigt, dass der soziale Dialog zu den Garanten des sozialen Friedens und einer Verringerung der Ungleichheiten gehört. Die Organe der EU müssen über politische Erklärungen bezüglich einer Neubelebung hinausgehen und ihrer großen Verantwortung gerecht werden, den sozialen Dialog zu fördern und mit Inhalt zu füllen.

5.2.

Gerade bei der Einführung dieser Technologien müssen durch diesen Dialog die Aussichten bezüglich der Umgestaltung der Produktionsverfahren in den Unternehmen und Branchen deutlich werden, ebenso wie die neuen Qualifikationsanforderungen sowie der Aus- und Weiterbildungsbedarf. Außerdem kann man sich bereits im Vorfeld Gedanken über den Einsatz der KI zur Verbesserung der organisatorischen Abläufe und der Produktionsverfahren, zur Weiterbildung der Arbeitnehmer und zur Optimierung der dank KI freigesetzten Ressourcen machen, um neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln oder die Qualität des Kundendienstes zu verbessern.

5.3.

Sozial verantwortliche Umstrukturierung

5.4.

Für den Fall, dass Sozialpläne unvermeidlich werden, besteht die Herausforderung in der sozialverträglichen Gestaltung der Umstrukturierungen. Wie die europäischen Sozialpartner in ihrem Orientierungsleitfaden für die Bewältigung des Wandels und dessen sozialer Konsequenzen (20) ausgeführt haben, wird in zahlreichen Fallstudien darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, alle möglichen Alternativen zu Entlassungen, wie Aus- und Weiterbildung, Umschulung und Unterstützung bei der Firmengründung, auszuloten.

5.5.

Bei Umstrukturierungen muss im Einklang mit den einschlägigen europäischen Richtlinien (21) mittels Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer die Möglichkeit gewahrt werden, Risiken frühzeitig zu erkennen, den Zugang der Arbeitnehmer zur Fortbildung im Unternehmen zu fördern und bei gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit die Arbeitsorganisation flexibler zu gestalten sowie die Arbeitnehmer stärker in die Unternehmensabläufe und in die Gestaltung der Zukunft des Unternehmens einzubeziehen.

5.6.

Schließlich hebt die Kommission zu Recht hervor, dass die EU im Einklang mit der europäischen Säule sozialer Rechte (22) den Zugang aller Bürger — einschließlich der Beschäftigten und Selbstständigen bzw. Scheinselbstständigen — zum Sozialschutz gewährleisten muss, „unabhängig von der Art und Dauer ihres Arbeitsverhältnisses“.

6.   KI und die Veränderung der Arbeitsbedingungen

6.1.

Am 25. April 2018 hat die Europäische Kommission ein europäisches Konzept zur Förderung der Maßnahmen für Investitionen in die Entwicklung von KI und zur Formulierung von Ethik-Leitlinien vorgeschlagen. Sie verweist auf das Potenzial für Veränderungen unserer Gesellschaften durch Technologien der KI etwa in den Bereichen Verkehr, Gesundheitswesen und verarbeitendes Gewerbe.

6.2.

Dieses Potenzial für den Wandel kommt in den Produktionsverfahren zum Tragen und wirkt sich auch auf den Inhalt der Arbeit aus. Diese Auswirkungen können sich als positiv erweisen, insbesondere in Bezug auf die Frage, wie die KI diese Verfahren verbessern und die Qualität der Arbeit steigern kann. Die gleichen positiven Auswirkungen kann es bezüglich „flexibler“ Beschäftigungsformen geben, bei denen die Aufteilung der Entscheidungsbefugnis von größerer Bedeutung ist, ebenso wie die Autonomie der Teams, die Multifunktionalität, die horizontale Organisation und die innovativen und partizipativen Verfahren (23).

6.3.

Wie der EWSA (24) und die Kommission selbst hervorgehoben haben, kann die KI den Arbeitnehmern bei repetitiven, anstrengenden oder gar gefährlichen Aufgaben helfen, während einige Anwendungen der KI zur Verbesserung des Wohlergehens der Arbeitnehmer und zur Erleichterung ihres Alltags beitragen können.

6.4.

Diese Vision wirft allerdings neue Fragen auf, vor allem im Hinblick auf das Zusammenspiel zwischen KI und Arbeitnehmer und die Veränderung des Inhalts der Arbeit. Inwieweit werden intelligente Maschinen in den Fabriken, Unternehmen und Büros autonom sein und welche Arten von Komplementarität mit menschlicher Arbeit wird es geben? Der EWSA betont, dass die Definition des Verhältnisses zwischen Mensch und Maschine in der neuen Arbeitswelt von entscheidender Bedeutung ist. Dabei ist ein Ansatz, dessen Schwerpunkt auf der Kontrolle des Menschen über die Maschine liegt, von grundlegender Bedeutung (25).

6.5.

Grundsätzlich ist es ethisch nicht vertretbar, dass ein Mensch unter der Kontrolle künstlicher Intelligenz steht oder als Befehlsempfänger einer Maschine angesehen wird, die ihm vorschreibt, welche Aufgaben er wie und innerhalb welcher Fristen zu erfüllen hat. Diese ethische Grenze wird anscheinend jedoch manchmal überschritten (26). Deshalb sollte sie in den ethischen Leitlinien für die KI klar abgesteckt werden.

6.6.

Die EU sollte vor allem sicherstellen, dass es in der heutigen Zeit nicht zu einer Reproduktion neuer Formen eines digitalen Taylorismus durch die Entwickler intelligenter Maschinen kommt. Wie der EWSA unlängst hervorgehoben hat, ist es daher unerlässlich, dass die europäischen Forscher, Ingenieure, Konstrukteure und Unternehmer, die an der Entwicklung und Vermarktung von KI-Systemen mitwirken, nach Kriterien der ethischen und sozialen Verantwortung handeln. Durch die Einbeziehung von Ethik und Geisteswissenschaften in den Ausbildungsgang für Ingenieure lässt sich diesem Gebot Rechnung tragen (27).

6.7.

Eine weitere Frage betrifft die Überwachung und die Kontrolle durch das Management. Alle sind sich darin einig, dass es einer angemessenen Überwachung der Produktionsverfahren und damit auch der geleisteten Arbeit bedarf. Heute ermöglichen neue technische Instrumente potenziell den Einsatz intelligenter Systeme zur lückenlosen Echtzeitkontrolle der Arbeitnehmer, was die Gefahr einer unverhältnismäßigen Beaufsichtigung und Kontrolle birgt.

6.8.

Die Frage nach der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit der Überwachung der zu leistenden Arbeit und der Leistungsindikatoren sowie nach der Vertrauensbeziehung zwischen dem Manager und dem kontrollierten Mitarbeiter ist ein Thema, das ebenfalls auf der Tagesordnung des sozialen Dialogs auf nationaler, europäischer, branchenübergreifender und sektoraler Ebene stehen sollte.

6.9.

Die Frage voreingenommener Algorithmen und von „Trainingsdaten“ sowie die potenziell negativen Diskriminierungseffekte sind nach wie vor umstritten. Einerseits gibt es die Meinung, dass die Prognosealgorithmen und -software für die Rekrutierung von Personal die Diskriminierung bei der Einstellung verringern und „intelligentere“ Einstellungsverfahren fördern können. Andere sind der Ansicht, dass bei Rekrutierungssoftware stets die Gefahr besteht, dass diese „Rekrutierungsroboter“ — selbst unbeabsichtigt — die Voreingenommenheit der Entwickler widerspiegeln. Einige Fachleute sind der Ansicht, dass algorithmische Modelle nichts anderes sind und sein werden als mathematisch ausgedrückte Meinungen (28). Daher muss dafür Sorge getragen werden, dass stets ein Einspruch bei einem menschlichen Ansprechpartner erhoben werden kann (im Einklang mit dem vorstehend genannten Grundsatz der Transparenz der Entscheidungskriterien) und dass die Erfassung und Verarbeitung von Daten den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Zweckgebundenheit entspricht. In jedem Fall dürfen die Daten nicht zu anderen Zwecken verwendet werden als denen, für die sie erhoben wurden (29).

6.10.

Die den Mitgliedstaaten durch die Datenschutz-Grundverordnung eingeräumte Möglichkeit, per Gesetz oder durch Kollektivvereinbarungen spezifischere Vorschriften zur Gewährleistung des Schutzes der Rechte und Freiheiten hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Beschäftigtendaten im Kontext eines Arbeitsverhältnisses vorzusehen, ist ein kräftiger Hebel, den die Mitgliedstaaten und die Sozialpartner nutzen sollten (30).

6.11.

An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass diese Gefahren nicht nur abhängig Beschäftige betreffen. Mit dem Aufkommen der elektronischen Vergabe von Unteraufträgen, des Arbeitens auf einer Plattform und der verschiedenen Formen der Schwarmarbeit (crowdworking) gehen ebenfalls neue Systeme der automatisierten Verwaltung von Leistung und Einsatzbereitschaft einher, bei denen allem Anschein nach bisweilen die ethischen Grenzen überschritten werden (Einschalten der Webcam des Arbeitnehmers durch die Plattform, ferngesteuerte Erstellung von Bildschirmfotos usw.).

6.12.

Die Algorithmen dieser Plattformen, die unter anderem die Entlohnung des Selbstständigen, seinen Ruf im Netz und seine Möglichkeiten des Zugangs zu Aufträgen bestimmen, sind oftmals nicht transparent. Ihre Funktionsweisen werden den Arbeitnehmern nicht erläutert, die keinen Einblick in die Funktionskriterien haben, die auf sie angewandt werden.

7.   Einen gerechten Übergang vorbereiten

7.1.

Mittelfristig erfordert die von vielen Experten hervorgehobene Gefahr eines zunehmenden sozialen Ungleichgewichts eine Grundsatzdebatte über die Zukunft unserer Sozialmodelle sowie ihrer Finanzierung. Der EWSA fordert die Kommission zur Lancierung einer Debatte über die Frage der Besteuerung und der Finanzierung der öffentlichen Haushalte und der kollektiven Sozialschutzsysteme in einer Wirtschaft auf, in der die Robotik-Dichte rasant steigt (31), während die Besteuerung der Arbeit nach wie vor die wichtigste Quelle für Steuereinnahmen in Europa ist. In dieser Debatte sollte auch die Frage der Umverteilung der Dividenden der Digitalisierung behandelt werden.

7.2.

Die Kommission schlägt eine Aufstockung des Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF) vor, um damit u. a. diejenigen Arbeitnehmer und Selbstständigen zu unterstützen, deren Arbeitsplatz infolge der Digitalisierung der Wirtschaft verloren geht bzw. die ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben haben (32). Der EWSA sieht hierin einen Schritt hin zur Schaffung eines echten Europäischen Fonds für den Übergang, der zu einer Antizipation und sozial verträglichen Steuerung des digitalen Wandels und der damit einhergehenden Umstrukturierungen beitragen könnte.

7.3.

Die sozialen — und im weiteren Sinne gesellschaftlichen — Aspekte der KI sind in zunehmendem Maße Gegenstand von Debatten in den Mitgliedstaaten. Die jüngsten Diskussionen im britischen Parlament (33) und im französischen Senat haben gezeigt, dass es einer ethischen Herangehensweise an KI bedarf, die auf einer Reihe von Grundsätzen wie Lauterkeit, Transparenz, Nachvollziehbarkeit der algorithmischen Systeme, Ethik und Verantwortlichkeit für Anwendungen der KI sowie Sensibilisierung der Wissenschaftler, Sachverständigen und Fachleute hinsichtlich eines möglichen Missbrauchs der Ergebnisse ihrer Untersuchungen beruht. In Frankreich bemüht man sich im Villani-Bericht, der KI „einen Sinn zu verleihen“ (34). Zahlreiche Experten der Universitäten Yale, Stanford, Cambridge und Oxford warnen vor „ungelösten Schwachstellen“ der KI und verweisen auf die zwingende Notwendigkeit, diese Probleme vorherzusehen, zu vermeiden bzw. abzuschwächen (35). Auch der Forschungsfonds von Québec (FRQ) beschäftigt sich seit einigen Monaten in Zusammenarbeit mit der Universität Montreal mit einem Projekt für eine weltweite Beobachtungsstelle für die gesellschaftlichen Auswirkungen der KI und der Digitalisierung (36).

7.4.

All diese Initiativen zeigen, dass die Debatte über KI aus der rein wirtschaftlichen und technischen Perspektive herausgeholt werden muss. Die öffentlichen Diskussionen über die Rolle, die die Gesellschaft der KI insbesondere auch in der Arbeitswelt zuweisen will, müssen ausgeweitet werden. Durch solche Überlegungen kann vermieden werden, der „falschen Dichotomie“ zwischen einer völlig naiven und optimistischen Vision der KI und ihrer Auswirkungen und einer Schreckensvision zu erliegen (37). Auch wenn die Lancierung dieser Debatte auf nationaler Ebene ein sinnvoller erster Schritt ist, kommt der EU jedoch ebenfalls eine Rolle zu, insbesondere bei der Entwicklung ethischer Leitlinien, mit der die Kommission bereits begonnen hat.

7.5.

Mit der Umsetzung dieser Leitlinien sollte eine Beobachtungsstelle für die Ethik von KI-Systemen beauftragt werden. Es geht darum, die KI und ihre Anwendungen im Rahmen der Grundrechte in den Dienst des Wohlergehens und der Selbstbestimmung der Bürger und der Arbeitnehmer zu stellen und zu verhindern, dass sie direkt oder indirekt zum Verlust der Eigenverantwortung und Selbstständigkeit, zum Verlernen und zur Dequalifizierung der Arbeitnehmer beitragen. Der Grundsatz, dass der Mensch in allen Kontexten und eben auch im Rahmen der Arbeit an den „Schalthebeln“ sitzen sollte, muss konkrete Anwendung finden.

7.6.

Dieser Grundsatz muss auch für andere Branchen wie die Gesundheitsberufe gelten, die Dienstleistungen erbringen, die einen starken Bezug zum Leben sowie zur Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität der Menschen haben. Nur durch strenge ethische Regeln kann sichergestellt werden, dass nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die Verbraucher, Patienten, Kunden und diverse Dienstleister die Vorteile der neuen Anwendungen der KI in vollem Umfang nutzen können.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Acemoglu, D., Restrepo, P. (2018), „Artificial Intelligence, Automation and Work“, NBER-Arbeitspapier 24196, Januar 2018. Siehe auch: Conseil d’orientation pour l’emploi (2017), Automatisation, numérisation et emploi. (Band 1) (www.coe.gouv.fr).

(2)  Acemoglu, D., op.cit.; Conseil d’orientation pour l’emploi (2017), op. cit.

(3)  COM(2018) 380 final.

(4)  Richtlinie 2002/14/EG; Gemeinsame Absichtserklärung der UNICE-EGB-CEEP über den sozialen Dialog und die neuen Technologien, 1985; Gemeinsamer Standpunkt der Sozialpartner zu den neuen Technologien, der Arbeitsorganisation und der Anpassungsfähigkeit des Arbeitsmarktes, 1991; Orientierungsleitfaden für die Bewältigung des Wandels und dessen sozialer Konsequenzen, 2003.

(5)  COM(2018) 246 final.

(6)  https://ifr.org/ifr-press-releases/news/robots-double-worldwide-by-2020.

(7)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 1.

(8)  Siehe insbesondere https://www.techemergence.com.

(9)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 1.

(10)  Eurofound (2018), Automation, digitalisation and platforms: Implications for work and employment, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg.

(11)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161.

(12)  Frey und Osborne, 2013; Bowles, 2014; Arntz, Gregory und Zierahn, 2016; Le Ru, 2016; McKinsey, 2016; OECD, 2017; siehe auch die Sondierungsstellungnahme CCMI/136, (ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161).

(13)  http://www.oecd.org/employment/future-of-work/.

(14)  COM(2018) 237 final.

(15)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 15.

(16)  Wetenschappelijke Raad voor het Regeringsbeleid (Wissenschaftlicher Beirat der niederländischen Regierung).

(17)  https://english.wrr.nl/latest/news/2015/12/08/wrr-calls-for-inclusive-robot-agenda.

(18)  Siehe die Arbeiten zum Thema „Aufkommende Risiken“ der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (https://osha.europa.eu/de/emerging-risks). Nach Ansicht der Agentur müssen „die aktuellen Ansätze und technischen Standards zum Schutz der Arbeitnehmer vor dem Risiko der Arbeit mit kollaborativen Robotern […] als Vorbereitung auf diese neuen Entwicklungen überprüft werden.“

(19)  COM(2018) 246 final.

(20)  Gemeinsamer Text von UNICE, CEEP, UEAPME und EGB, 16.10.2003.

(21)  Richtlinie 2002/14/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft.

(22)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 54; ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 15; ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 7; ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 30.

(23)  ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 30.

(24)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 15.

(25)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 1, ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 15.

(26)  In mehreren europäischen Medien wurde über die Arbeitsbedingungen in einigen Logistikzentren berichtet, in denen Arbeitnehmer in jeder Hinsicht von Algorithmen gesteuert werden, die ihnen vorgeben, welche Aufgaben sie erfüllen müssen und wieviel Zeit sie darauf verwenden dürfen, und in denen ihre Leistung in Echtzeit gemessen wird.

(27)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 15.

(28)  Cathy O’Neil, Harvard-Doktorandin und Datenwissenschaftlerin: „Models are opinions embedded in mathematics“ (https://www.theguardian.com/books/2016/oct/27/cathy-oneil-weapons-of-math-destruction-algorithms-big-data).

(29)  Siehe u. a. die Studien der französischen Datenschutzbehörde CNIL „Comment permettre à l’homme de garder la main? Les enjeux éthiques des algorithmes et de l’intelligence artificielle“ (Wie kann der Mensch die Kontrolle behalten? Ethische Grundfragen der Algorithmen und der künstlichen Intelligenz),

https://www.cnil.fr/sites/default/files/atoms/files/cnil_rapport_garder_la_main_web.pdf).

(30)  Verordnung (EU) Nr. 2016/679 (Artikel 88).

(31)  https://ifr.org/ifr-press-releases/news/robots-double-worldwide-by-2020.

(32)  COM(2018) 380 final.

(33)  https://www.parliament.uk/ai-committee.

(34)  http://www.enseignementsup-recherche.gouv.fr/cid128577/rapport-de-cedric-villani-donner-un-sens-a-l-intelligence-artificielle-ia.html.

(35)  https://www.eff.org/files/2018/02/20/malicious_ai_report_final.pdf.

(36)  http://nouvelles.umontreal.ca/article/2018/03/29/le-quebec-jette-les-bases-d-un-observatoire-mondial-sur-les-impacts-societaux-de-l-ia/.

(37)  Acemoglu, D., op. cit. Siehe auch Eurofound 2018, Automation, digitalisation and platforms: Implications for work and employment, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg, S. 23: „The risks comprise unwarranted optimism, undue pessimism and mistargeted insights“.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Vertrauen, Privatsphäre und Sicherheit für Verbraucher und Unternehmen im Internet der Dinge“

(Initiativstellungnahme)

(2018/C 440/02)

Berichterstatter:

Carlos TRIAS PINTÓ

Mitberichterstatter:

Dimitris DIMITRIADIS

Beschluss des Plenums

15.2.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

182/3/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Das Internet der Dinge (Internet of Things, IoT) eröffnet Bürgern und Unternehmen durch die Interkonnektivität von Personen und Gegenständen ein riesiges Spektrum an Möglichkeiten. Für eine erfolgreiche Umsetzung ist allerdings eine Reihe von Garantien und Kontrollen notwendig.

1.2.

Da einer der Grundpfeiler des IoT darin besteht, dass Entscheidungen automatisch getroffen werden, in die der Mensch nicht eingreift, sollte sichergestellt werden, dass die Entscheidungen nicht die Verbraucherrechte untergraben und weder mit ethischen Risiken verbunden sind noch im Konflikt mit Grundsätzen oder grundlegenden Menschenrechten stehen.

1.3.

Der EWSA fordert die EU-Organe und die Mitgliedstaaten dazu auf:

1.3.1.

zum Schutz der Sicherheit und der Privatsphäre einen angemessenen Rechtsrahmen zu erarbeiten, der strenge Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen vorsieht;

1.3.2.

die Haftung aller Akteure in der Produktlieferkette und die damit zusammenhängenden Informationsströme genau festzulegen, damit keine Rechtslücken entstehen, wenn verschiedene Hersteller und Händler gleichzeitig beteiligt sind;

1.3.3.

angemessene Ressourcen bereitzustellen und wirksame Mechanismen für die Koordination zwischen der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten einzuführen, mit denen die kohärente und einheitliche Umsetzung sowohl der zu überarbeitenden als auch neuer Rechtsvorschriften gewährleistet wird und die zugleich das internationale Umfeld berücksichtigen;

1.3.4.

die Entwicklung neuer Technologien im Zusammenhang mit dem IoT zu überwachen, um hohe Sicherheit, umfassende Transparenz und faire Zugangsbedingungen zu gewährleisten;

1.3.5.

europäische und internationale Normungsinitiativen zu fördern, mit denen die Zuverlässigkeit, die Verfügbarkeit, die Belastbarkeit und die Instandhaltung von Produkten gewährleistet wird;

1.3.6.

die Märkte zu überwachen und für gleiche Wettbewerbsbedingungen bei der Einführung des IoT zu sorgen, damit es nicht zu einer Konzentration transnationaler Wirtschaftsmacht in den Händen der auf dem Gebiet der neuen Technologie tätigen Akteure kommt;

1.3.7.

sich im Bereich digitaler Kompetenzen zur Förderung von Sensibilisierungs- und Schulungsmaßnahmen in Verbindung mit Grundlagenforschung und Innovationen auf diesem Gebiet zu verpflichten;

1.3.8.

die vollständige Umsetzung und wirksame Verwendung der Verfahren der alternativen Streitbeilegung und der Online-Streitbeilegung (ADR und ODR) zu gewährleisten;

1.3.9.

sich für die Einführung, die Umsetzung und das reibungslose Funktionieren einer europäischen Regelung für Sammelklagen einzusetzen, die Unterlassungs- und Schadensersatzklagen ermöglicht, auch wenn durch die Nutzung des Internets der Dinge kollektive Schäden oder Verluste entstehen. Dies sollte Gegenstand der Neugestaltung der Rahmenbedingungen für die Verbraucher („New Deal for Consumers“) sein.

1.4.

Das Vertrauen der Verbraucher beruht auf der strikten Einhaltung der einschlägigen Rechtsvorschriften und der Verbreitung einer guten Unternehmenspraxis im Bereich Privatsphäre und Sicherheit. Es ist Aufgabe der Organe, diese in die Strategien für die soziale Verantwortung der Unternehmen und sozial verantwortliche Investitionen zu integrieren.

1.5.

Das IoT wird sich zunehmend positiv auf Gesellschaft und Wirtschaft auswirken, sofern es angemessen mit der Entwicklung sozial- und umweltpolitischer Maßnahmen im Rahmen der kollaborativen Wirtschaft, der Kreislaufwirtschaft und der Functional Economy verknüpft wird.

2.   Hintergrund und Kontext

2.1.

Durch die rasante Entwicklung des Internets kam es in den letzten 15 Jahren in allen Bereichen des täglichen Lebens zu Veränderungen, die sich auch auf die verschiedenen Verbrauchergewohnheiten auswirken. Aller Voraussicht nach wird die IoT-Revolution in den nächsten zehn Jahren den Energie-, Agrar- und Verkehrssektor sowie traditionellere Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche erreichen, weshalb ganzheitliche Strategien für einen klugen Umgang mit diesen technologischen Umwälzungen notwendig sind.

2.2.

Das IoT-Konzept entstand im Massachusetts Institute of Technology (MIT) und basiert im Kern auf einer Welt, in der Geräte vollständig miteinander vernetzt sind, sodass verschiedene interoperable Prozesse gemeinsam automatisiert werden können. Die Europäische Union bereitet sich seit längerem auf die Bewältigung der digitalen Konvergenz und der neuen IoT-Herausforderungen vor: angefangen mit dem Plan „i2010 — Eine europäische Informationsgesellschaft für Wachstum und Beschäftigung“ (1) bis hin zum jüngsten Aktionsplan zum Internet der Dinge (siehe das 2016 vorgelegte Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen Advancing the Internet of Things in Europe zur Mitteilung Digitalisierung der europäischen Industrie. Die Chancen des digitalen Binnenmarkts in vollem Umfang nutzen (2)).

2.3.

Der EWSA hat sich wiederholt zur vierten industriellen Revolution geäußert, die sich durch die Konvergenz von digitalen, physikalischen und biologischen Technologien auszeichnet. Er verweist hierbei insbesondere auf seine Stellungnahme aus dem Jahr 2017 (3). Das Internet der Dinge ist nämlich das bevorzugte Anwendungsgebiet für die modernsten Formen der künstlichen Intelligenz, auf dem auch die vom EWSA definierten Grundsätze — insbesondere das Prinzip der „Kontrolle durch den Menschen“ („human in control“) — auf die Probe gestellt werden.

2.4.

IoT-Geräte erfüllen oft nicht die zum Schutz der Nutzerdaten erforderlichen Authentifizierungsstandards. Dadurch können Probleme entstehen, weil die Geräte, Daten und Akteure in der Lieferkette Sicherheitslücken ausgesetzt sind.

2.5.

Neue Technologien wie die Blockchain-Technologie können Sicherheitsproblemen und dem Verlust von Vertrauen entgegenwirken: Sie können eingesetzt werden, um Messungen von Sensordaten nachzuvollziehen, Kopien mit manipulierten Daten zu verhindern, aber auch um die Integrität und die Rückverfolgbarkeit von Modifikationen zu gewährleisten. Dank eines dezentralen Rechnungsbuchs können IoT-Geräte erkannt, Authentifizierungen durchgeführt und Daten sicher und ohne Ausfälle übertragen werden. IoT-Sensoren können dazu verwendet werden, Daten über eine Blockchain statt über einen Dritten zu übertragen. Die Verwendung von Smart Contracts (intelligenten Verträgen) ermöglicht die Autonomie von Geräten sowie eine einzigartige Identität und Datenintegrität. Die Einführungs- und Betriebskosten sind aufgrund des fehlenden Intermediärs vergleichsweise gering. Zu guter Letzt speichern die IoT-Geräte der Blockchain den Verlauf der vernetzten Geräte, wodurch mögliche Probleme leichter gelöst werden können (4).

2.6.

Auf der anderen Seite werden derzeit Open-Source-Technologien entwickelt, die den Austausch von Informationen und Werten zwischen Maschinen im IoT ermöglichen. Sie erlauben kein Datamining, sondern nutzen eine Architektur auf Grundlage eines mathematischen Konzepts, das als gerichteter azyklischer Graph (engl. directed acyclic graph, kurz DAG) bekannt ist. Dabei fallen keine Transaktionskosten an, und die Kapazität des Netzwerks (Tangle) nimmt mit der Anzahl der Nutzer zu.

2.7.

Wir stehen vor einem enormen wirtschaftlichen (5) und sozialen Potenzial, das große Chancen eröffnet, aber aufgrund seines multidisziplinären und bereichsübergreifenden Charakters auch erhebliche Herausforderungen und entsprechende Risiken mit sich bringt, die gleichermaßen Unternehmen, Verbraucher, Behörden und Bürger betreffen. Bei diesem Thema sollte daher ein gemeinsamer Ansatz verfolgt werden, allerdings sollten zugleich auch Besonderheiten bestimmter Fälle berücksichtigt werden. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass im Jahr 2020 die Zahl der vernetzten Geräte bei 50 Mrd. liegen wird und u. a. Fernsehgeräte, Kühlschränke, Überwachungskameras und Fahrzeuge mit entsprechenden Verbraucheranwendungen ausgestattet sein werden.

2.8.

IoT-Anwendungen bringen in einer globalisierten Welt bereits jetzt wirtschaftliche und soziale Vorteile mit sich. Hierzu gehören u. a. die Erweiterung des Angebots sozioökonomisch orientierter Dienste, kürzere Rückkopplungszyklen, Fernwartung, Unterstützung bei der Entscheidungsfindung, eine bessere Zuweisung von Ressourcen oder die Fernsteuerung von Diensten. Es gibt allerdings auch höchst sensible Faktoren — wie Privatsphäre und Sicherheit, Informationsasymmetrien und die Transparenz von Transaktionen, komplizierte Haftung, Produkt- und Systemsperren oder auch die Zunahme hybrider Produkte, die die Eigentums- und Besitzverhältnisse verändern und die Verbraucher dazu bewegen, Fernabsatzverträge mit eingeschränkten Garantien abzuschließen.

2.9.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten stehen vor enormen rechtlichen Herausforderungen, da viele Merkmale des IoT (hohe Komplexität und eine hohe gegenseitige Abhängigkeit, Autonomie, die Erzeugung und/oder Verarbeitung von Daten und die Offenheit) auch auf andere neue digitale Technologien wie Blockchain, 3D-Druck und Cloud-Computing zutreffen. Der EWSA ist der Ansicht, dass das Arbeitsdokument der Europäischen Kommission über die Haftung für neue digitale Technologien (6) ein weiterer Schritt in die richtige Richtung ist.

2.10.

Um den Nutzen des IoT zu maximieren und die Risiken auf ein Minimum zu reduzieren, ist es erforderlich, zugängliche, eindeutige, prägnante und präzise Informationen bereitzustellen, insbesondere die Inklusion und digitale Anbindung der schutzbedürftigsten Verbraucher zu fördern und vollständig rückverfolgbare Produkte und Dienste anhand integrierter Standards hinsichtlich Vertrauen, Privatsphäre und Sicherheit zu gestalten.

3.   Vertrauen der Verbraucher und Unternehmen in das IoT

3.1.

Das IoT ist ein komplexes Ökosystem, das die Vernetzung von Geräten unterschiedlicher Hersteller, Händler und Softwareentwickler ermöglicht. Das kann die Klärung von Haftungsfragen erschweren, wenn es zu Verstößen gegen Vorschriften oder zu Sachschäden oder sonstigen Schäden für Dritte oder Systeme durch defekte Produkte oder durch über das Netz durch Dritte (mit Ausnahme der Endnutzer) zweckentfremdete Produkte kommt. Es ist sogar möglich, dass viele der Akteure in der globalen Wertschöpfungskette des Produkts nicht über ausreichende Kenntnisse und Erfahrung auf den Gebieten Sicherheit und Datenschutz bei Netzwerkgeräten verfügen.

3.2.

Daher ist bei der Haftung ein neuer Ansatz erforderlich, wonach sowohl die Verbraucher als auch die Unternehmen, die IoT-Anwendungen nutzen, in einem Umfeld geschützt werden, in dem richtig konfigurierte Produkte infolge digitaler Sicherheitsvorfälle defekt oder unzulässig zweckentfremdet (z. B. durch Hacker) und unsicher werden können. In diesem Umfeld sollte es möglich sein, automatisierte Entscheidungen, die die allgemein anerkannten ethischen Grundsätze und Menschenrechte verletzen, vorherzusehen, zu verhindern und sich davor zu schützen.

3.3.

Der EWSA begrüßt sowohl die Überarbeitung der Richtlinie aus dem Jahr 1985 über die Haftung für fehlerhafte Produkte (7) als auch die unlängst erfolgte Einrichtung einer Multistakeholder-Sachverständigengruppe für Haftung und neue Technologien, die ein Interessengleichgewicht zwischen Herstellern und Verbrauchern gewährleisten soll. Durch einen neuen Haftungsrahmen sollte sichergestellt werden, dass Haftung und Sicherheit entlang der Wertschöpfungskette sowie während der Lebensdauer des Produkts eindeutig nachvollzogen werden können. Dabei sollte Nachhaltigkeit als neuer Faktor berücksichtigt werden, der dazu verpflichtet, die Aktualisierung, Verbesserung, Portabilität, Kompatibilität, Wiederverwendung, Reparatur oder Anpassung von Produkten zu ermöglichen.

3.4.

Im Zusammenhang mit dem IoT sollte insbesondere in Erwägung gezogen werden, für alle Akteure in der Produktlieferkette die Haftung zu bestimmen, damit keine Rechtslücken entstehen, wenn verschiedene Hersteller und Händler gleichzeitig beteiligt sind. Der EWSA hält es für unerlässlich, eindeutig festzulegen, welche Verfahren die Verbraucher in jedem Fall durchlaufen müssen, wobei alternative Streitbeilegungsverfahren zu fördern sind.

3.5.

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung vorvertraglicher Informationen, transparenter Vertragsbestimmungen und klarer Bedienungsanleitungen für Geräte. Etwaige Risiken und Schutzvorkehrungen sollten ausdrücklich hervorgehoben werden.

3.6.

Die Interoperabilität und Kompatibilität von Geräten und der damit verbundenen Software muss gewährleistet werden, um Schwierigkeiten zu vermeiden und dem Verbraucher die Möglichkeit zu geben, die Anbieter miteinander zu vergleichen. Der EWSA betont, dass dieser Faktor auch für die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen zwischen großen Unternehmen und KMU von entscheidender Bedeutung ist.

3.7.

Schließlich spricht sich der EWSA für die Achtung der Netzneutralität aus und fordert die Kommission auf, das Marktverhalten genau zu überwachen.

4.   Privatsphäre der Verbraucher im IoT

4.1.

Durch die neue Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) (8) haben die Verbraucher nun mehr Kontrolle über ihre persönlichen Daten und Privatsphäre-Präferenzen. Der Nutzer eines Geräts sollte darüber entscheiden können, wie die von ihm generierten Daten genutzt werden und wer darauf zugreifen darf, denn durch die Datenvielfalt, -aggregation und -verknüpfung wird die Privatsphäre im IoT-Ökosystem ernsthaft gefährdet.

4.2.

Ebenfalls zu berücksichtigen ist, wie sich die Vielzahl von Produkten, Diensten und Entitäten auf die Privatsphäre und den Datenschutz auswirkt, wenn Daten aufgrund von Interkonnektivität automatisch übertragen werden. Ebenso könnten durch die Verarbeitung oder Weiterverarbeitung von Informationen aus ursprünglich harmlosen Daten genaue Erkenntnisse über die Gewohnheiten, Aufenthaltsorte, Interessen und Vorlieben einzelner Personen gewonnen werden, sodass das Profil des Nutzers leichter zugänglich wird und nachverfolgt werden kann.

4.3.

Rechtliche Garantien sollten gewährleisten, dass die Nutzer ihre Rechte auf Privatsphäre und den Schutz personenbezogener Daten uneingeschränkt wahrnehmen können. So können mögliche negative Auswirkungen wie diskriminierende Praktiken, aufdringliche Vermarktung, der Verlust der Privatsphäre oder Sicherheitsverstöße verhindert werden. Die Verbraucher ihrerseits müssen über Informationen über den wirtschaftlichen Wert ihrer Daten verfügen und sich das Recht vorbehalten, diese zu teilen.

4.4.

Wie in der DS-GVO vorgesehen, sollten Unternehmen und Regulierungsbehörden regelmäßig das Ausmaß der Erhebung personenbezogener Daten überprüfen und die Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit der verarbeiteten Daten für die Diensteerbringung bewerten. Die Aspekte und Auswirkungen der Privatsphäre sollten in jeder Phase der Planung, der Konzeption und der Entwicklung eines vernetzten Produkts und des Online-Ökosystems, in das es eingebunden ist, bewertet werden (Privatsphäre durch Technik). Deshalb sollten die Grundsätze „Datenschutz durch Technikgestaltung und datenschutzfreundliche Voreinstellungen“ im Internet der Dinge konsequent umgesetzt werden.

4.5.

Ebenso sollte jedes vernetzte Produkt standardmäßig so konfiguriert werden, dass die Privatsphäre bestmöglich geschützt wird (durch Technikgestaltung und durch datenschutzfreundliche Voreinstellungen), damit das Verhalten und die Beschäftigung der Nutzer nicht unfreiwillig verfolgt werden.

4.6.

In jedem Fall sollten die Verbraucher zweifelsfrei wissen, welche Daten erfasst werden, wer darauf Zugriff hat und wozu sie während der aktiven Verbindung mit dem Produkt oder dem Dienst verwendet werden sollen. Zudem sollten die Verbraucher die geltende Datenschutzerklärung kennen und darüber informiert sein, ob die verwendeten Algorithmen Einfluss auf die Qualität, den Preis oder den Zugang zu einem Dienst haben.

5.   Sicherheit der Verbraucher und Unternehmen im IoT

5.1.

Durch die Vernetzung von Geräten, die für das IoT-Ökosystem wesentlich ist, kann die Entwicklung illegaler oder unerwünschter technologischer Verfahrensweisen vorangetrieben werden, weshalb im IoT-Ökosystem leicht für virale Verbreitung nutzbare Schwachstellen entstehen können. Daher sollte in einem umfassenden Ansatz jede einzelne Systemkomponente sicher ausgelegt werden.

5.2.

Die angebotenen Produkte und Updates im Zusammenhang mit Cybersicherheit müssen ihre Berechtigung haben und nicht bloß einzelne Geräte betreffen, sondern auch Sicherheitsrisiken abdecken, die aufgrund der Vernetzung mit anderen Geräten im IoT entstehen. Die Sicherheitsstandards dürfen dabei nicht aufgrund der Geräteanzahl sinken.

5.3.

In diesem Zusammenhang sieht der Vorschlag für eine Verordnung über die EU-Cybersicherheitsagentur (9) einen Rahmen zur Zertifizierung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) vor, der eine freiwillige Sicherheitszertifizierung und Kennzeichnung für unterschiedliche Produkttypen, u. a. für IoT-Produkte, ermöglicht. Der EWSA begrüßt diese Maßnahme, bringt allerdings auch seine Bedenken darüber zum Ausdruck, dass sie nicht obligatorisch ist.

5.4.

Die Cybersicherheitsmaßnahmen sollten sich gegen jegliche Arten von Schwachstellen richten, insbesondere gegen Hackerangriffe, unerlaubten Zugriff und Missbrauch sowie Schwachstellen im Zusammenhang mit Zahlungsmitteln und Finanzbetrug. In diesem Kontext befürwortet der EWSA die Befugnisse der Multistakeholder-Sachverständigengruppe für Haftung und neue Technologien.

5.5.

Weiterhin sollten die Verbraucher vor Gefahren für die persönliche Sicherheit geschützt werden, die u. a. mit kontaktlosen Anwendungen, der Nutzung gemeinsamer Frequenzbänder, der Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern oder möglichen Interferenzen mit vernetzten medizinischen Geräten zur Aufrechterhaltung lebenswichtiger Funktionen einhergehen. Der EWSA spricht sich dafür aus, im Falle von Risiken für die Gesundheit, die Sicherheit sowie die persönlichen und wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher Maßnahmen zur Überwachung und präventiven Marktrücknahme zu ergreifen.

5.6.

Unternehmen sollten Standards für bewährte Verfahren — wie z. B. Sicherheit durch Technik und datenschutzfreundliche Voreinstellungen — befolgen und sich externen unabhängigen Bewertungen unterziehen. Unternehmen sollten verpflichtet sein, Sicherheitsvorfälle oder Datenschutzverletzungen zu melden und dabei auch über die Haftung für Schäden und Nichteinhaltung der Rechtsvorschriften zu informieren.

5.7.

Unternehmen sollten den Verbrauchern einfache und zugängliche Informationen zur Verfügung stellen, damit die Verbraucher fundierte Entscheidungen treffen und Sicherheitsmaßnahmen ergreifen können, und sie sollten Sicherheitsupdates anbieten, die im Laufe des Produktlebenszyklus notwendig sind.

5.8.

Der Mangel an kohärenten Rechtsvorschriften zu IoT-Netzen sollte behoben werden. Um die gegenwärtige Infrastruktur zu verbessern, müssen zukunftsfähige Breitbandtechnologien sowie andere Technologien der nächsten Generation entwickelt werden.

6.   Vorschläge für politische Maßnahmen (10)

6.1.

Öffentliche Verwaltungen sollten sich bei der Ausübung ihrer Befugnisse in den verschiedenen Gebieten der Europäischen Union aktiv an der Erarbeitung von Maßnahmen und IoT-Aktionsplänen beteiligen, um ein Gleichgewicht zwischen den Interessenträgern zu erreichen, Probleme frühzeitig zu erkennen und mögliche nachteilige Auswirkungen angemessen abzumildern. Der EWSA schlägt vor:

6.1.1.

Testumgebungen (Sandbox), also physische Räume, Cluster usw., für Pilotprojekte und Machbarkeitsstudien (Proof of Concept) zu schaffen. Das Ziel sollte sein, neben Technologien auch Regulierungsmodelle (11) zu erproben;

6.1.2.

die technologische Infrastruktur zu finanzieren, welche die Entwicklung innovativer IoT-Projekte im Rahmen des neuen Programms „Horizont Europa“ ermöglicht;

6.1.3.

unabhängige Institute und Agenturen mit der Vermittlung und Aufsicht bei IoT-Projekten zu beauftragen. Der EWSA begrüßt die im Verordnungsvorschlag über Cybersicherheit aus dem Jahr 2017 vorgesehenen einschlägigen Maßnahmen und ruft die Kommission dazu auf, die Normungsprozesse in der digitalen Wirtschaft wirksam zu fördern und dazu die nötigen Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen (12);

6.1.4.

öffentlich-private Partnerschaften und kollaborative Plattformen zu fördern und dabei die Wissenschaft, die Industrie und die Verbraucher miteinzubeziehen;

6.1.5.

Investitionen in die Entwicklung lokaler Geschäftsmodelle zu fördern, welche die Vorteile des IoT nutzen und die Berücksichtigung komplexer Aspekte wie Datenschutz und -eigentum erleichtern;

6.1.6.

Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau in der Wirtschaft mit Blick auf die Mitverantwortung durchzuführen. Es sollte gewährleistet werden, dass im Einklang mit der sogenannten „Sorgfaltspflicht“, wie sie in der neuen Verordnung zur Cybersicherheit gefordert wird, alle IKT-Produkte und -Dienste der Sicherheit und dem Datenschutz durch Technikgestaltung und datenschutzfreundliche Voreinstellungen Rechnung tragen; in diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA das Vorhaben, als Ergänzung zu dieser Verordnung Verhaltenskodizes zu erarbeiten;

6.1.7.

Initiativen zur europäischen und internationalen Normung zu fördern, damit IoT-Systeme die grundlegenden Eigenschaften Zuverlässigkeit, Sicherheit, Verfügbarkeit, Belastbarkeit, Wartbarkeit sowie Einsatzfähigkeit aufweisen. Gerade die Normung ist für die schnelle Umstellung auf hoch digitalisierte industrielle Fertigungsprozesse von entscheidender Bedeutung;

6.1.8.

dafür Sorge zu tragen, dass Nutzern des IoT, insbesondere den am stärksten benachteiligten oder in dünn besiedelten Gebieten lebenden Menschen, ein erschwinglicher und hochwertiger Zugang geboten wird;

6.1.9.

Sensibilisierungskampagnen und Bildungsprogramme anzustoßen, um Unternehmen und Verbrauchern den Einstieg in das IoT zu erleichtern und ihnen die notwendigen Fähigkeiten und Kompetenzen zu vermitteln (13), wobei ein besonderes Augenmerk auf benachteiligte Gruppen und die Vielfalt zu richten ist;

6.1.10.

Initiativen im Bereich der Bildung zur Sicherstellung einer angemessenen Prävention einzuleiten, da Kinder sich bereits ab einem frühen Alter in einer digitalen Umgebung bewegen;

6.1.11.

diagnostische Analysen und Studien einzuleiten, um die Auswirkungen des IoT auf Bereiche wie neue nachhaltige Produktionsmodelle und Verbrauchsmuster zu untersuchen;

6.1.12.

die vollständige Umsetzung und wirksame Verwendung der Verfahren der alternativen Streitbeilegung und der Online-Streitbeilegung (ADR und ODR) zu gewährleisten;

6.1.13.

sich für die Einführung, die Umsetzung und das reibungslose Funktionieren einer europäischen Regelung für Sammelklagen einzusetzen, die Unterlassungs- und Schadensersatzklagen ermöglicht, auch wenn durch die Nutzung des Internets der Dinge kollektive Schäden oder Verluste entstehen. Dies sollte Gegenstand der Neugestaltung der Rahmenbedingungen für die Verbraucher („New Deal for Consumers“) sein.

6.2.

Der EWSA fordert die Kommission auch dazu auf, die Vorschriften, die sich direkt oder indirekt auf das IoT beziehen, zu bewerten und nötigenfalls die geltenden Rechtsvorschriften zu verbessern. In diesem Zusammenhang sollte bei der Neugestaltung der Rahmenbedingungen für die Verbraucher die Aufmerksamkeit auch auf vernetzte Geräte, Netze, Netzsicherheit und die mit den Geräten verknüpften Daten gerichtet werden.

6.3.

Schließlich weist der EWSA darauf hin, wie wichtig die Schaffung von Mechanismen für die Kooperation und die Koordination zwischen den Mitgliedstaaten ist — sowohl für eine effiziente und einheitliche Umsetzung der geplanten Vorschriften als auch für die über ihre Grenzen hinausreichenden Vereinbarungen, die die Europäische Union aufgrund der Standorte von Unternehmen und Lieferanten schließen muss, wobei der Schwerpunkt auf dem Austausch bewährter Verfahren liegt. Die internationale Politik zu grenzüberschreitenden Datenströmen sollte koordiniert werden, damit die beteiligten Länder gleich hohe Schutzstandards in ihr nationales Recht — sowohl in das materielle als auch das formelle Recht — aufnehmen können.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  COM(2005) 229 final.

(2)  COM(2016) 180 final.

(3)  Künstliche Intelligenz — die Auswirkungen der künstlichen Intelligenz auf den (digitalen) Binnenmarkt sowie Produktion, Verbrauch, Beschäftigung und Gesellschaft (ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 1).

(4)  Siehe Khwaja Shaik, Why blockchain and IoT are best friends, https://www.ibm.com; bzgl. Innovationen im europäischen Finanzsektor siehe ABl. C 246 vom 28.7.2017, S. 8.

(5)  Schätzungen von Digital McKinsey zufolge liegt das wirtschaftliche Potenzial des IoT für das Jahr 2025 bei einem Jahreswert zwischen 3,9 Mrd. und 11,1 Mrd. USD.

(6)  SWD(2018) 137.

(7)  COM(2018) 246 final.

(8)  Am 25. Mai 2018 in Kraft getreten.

(9)  Siehe COM(2017) 477 final.

(10)  Siehe den Bericht der Weltbankgruppe, Internet of Things: The New Government-to-Business Platform (Internet der Dinge: die neue Plattform zwischen Politik und Wirtschaft).

(11)  Siehe https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/news/eu-and-eea-member-states-sign-cross-border-experiments-cooperative-connected-and-automated.

(12)  ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 17.

(13)  ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 36.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/14


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Bessere Indikatoren für die Bewertung der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele — der Beitrag der Zivilgesellschaft“

(Initiativstellungnahme)

(2018/C 440/03)

Berichterstatterin:

Brenda KING

Mitberichterstatter:

Thierry LIBAERT

Beschluss des Präsidiums

15.2.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

194/2/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Seit der Verabschiedung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung durch die EU-Institutionen im Jahr 2015 hat der EWSA die Kommission wiederholt aufgefordert, eine übergreifende europäische Strategie für nachhaltige Entwicklung mit konkreten Zielen, Teilzielen und Maßnahmen zu konzipieren, um die 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG) umzusetzen. Obwohl die EU bei der Verabschiedung der Agenda 2030 eine führende Rolle gespielt hatte und in den Nachhaltigkeitszielen Grundwerte der EU zum Ausdruck kommen, die auf die Förderung eines stärkeren sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Gleichklangs abheben, hat die Europäische Kommission versäumt, eine übergreifende Strategie zu entwickeln. Das Diskussionspapier „Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Europa bis 2030“, das Ende 2018 veröffentlicht werden soll, bietet Gelegenheit, die Bedeutung der Annahme einer übergreifenden europäischen Strategie hervorzuheben.

1.2.

Das bisherige Fehlen einer europäischen Nachhaltigkeitsstrategie gefährdet die kohärente Umsetzung der Agenda 2030 in der EU und auf nationaler Ebene. Unterschiedliche Herangehensweisen an die Nachhaltigkeitsziele sind denkbar, da verschiedene Mitgliedstaaten bereits ihre nationalen Nachhaltigkeitsstrategien aufstellen, während es noch keinen europäischen Strategierahmen und keine gemeinsamen Leitlinien für die Umsetzung gibt.

1.3.

Der EWSA begrüßt den ersten jährlichen Monitoringbericht von Eurostat über die Nachhaltigkeitsziele 2017 (1), der auf einem anhand strenger Datenkriterien erstellten Katalog von 100 Indikatoren beruht. Er hat jedoch bei dem aktuellen Indikatorensatz einige Mängel festgestellt, die in künftigen Veröffentlichungen des jährlichen Monitoringberichts von Eurostat zu den Nachhaltigkeitszielen berücksichtigt werden sollten.

1.4.

Der EWSA spricht sich für Indikatoren aus, die sich als Grundlage für die politische Planungs- und Gestaltungsarbeit eignen. Die aktuellen Indikatoren messen nicht den Zielabstand und bieten auch keinen geeigneten Überblick über die Fortschritte. Die EU sollte spezifische politische Zielvorgaben für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele aufstellen, deren Erfüllung anhand der Indikatoren überwacht werden kann. Solange es keine spezifischen politischen Zielvorgaben der EU gibt, könnte die EU die nationale Leistung im Vergleich zur Bestleistung und zur Durchschnittsleistung bewerten.

1.5.

Der EWSA stellt ferner fest, dass bestimmte technische Einschränkungen beseitigt werden müssen, um die Nutzung der besten Indikatoren zu ermöglichen. Beispielsweise werden horizontale Indikatoren nach wie vor unzureichend genutzt, um Informationen über Synergien und Zielkonflikte zu erhalten. Auch die Ausstrahlungseffekte auf die nachhaltige Entwicklung der Partnerländer und die Überwachung der politischen Kohärenz zwischen wichtigen externen und internen politischen Zielen werden nicht umfassend berücksichtigt.

1.6.

Eurostat und die nationalen statistischen Ämter müssen sicherstellen, dass sie von einem kohärenten Indikatorrahmen ausgehen. Ein umfassendes und integriertes Indikatorensystem ist die Voraussetzung für eine zuverlässige Überwachung der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele auf europäischer und nationaler Ebene.

1.7.

Eurostat und die nationalen statistischen Ämter verfügen nur über begrenzte personelle und finanzielle Ressourcen für die Erhebung neuer Daten, weshalb es nicht immer möglich ist, neue und gezieltere Indikatoren zu erstellen. Der EWSA fordert die Bereitstellung angemessener Ressourcen zur Überwindung dieser wesentlichen Einschränkung.

1.8.

Der EWSA fordert eine stärkere Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Festlegung von Indikatoren und in die Bewertung der Fortschritte der EU bei der Verwirklichung der Ziele. Angesichts des bereichsübergreifenden Charakters der Nachhaltigkeitsziele ist eine integrierte Zusammenarbeit aller Interessenträger erforderlich.

1.9.

Der EWSA empfiehlt daher, die Indikatoren durch einen qualitativen Schattenbericht zu ergänzen, der in enger Zusammenarbeit mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen erarbeitet wird, um das Gefühl der Verantwortung der Interessenträger für die Nachhaltigkeitsziele zu verstärken. Mit qualitativen Informationen lassen sich andere Trends erkennen, die mit quantitativen Indikatoren allein nicht zu erfassen sind. Der EWSA wäre bereit, eine führende koordinierende Rolle bei der Erstellung des ergänzenden qualitativen Berichts zu übernehmen. Er schlägt ferner vor, dass die Europäische Kommission an der Organisation eines europäischen SDG-Gipfels mitwirken sollte, bei dem alle einschlägigen Interessenträger zu einer Bestandsaufnahme zusammenkommen.

1.10.

Ein kohärenter strategischer Rahmen setzt voraus, dass andere EU-Indikatoren (u. a. die Indikatoren des sozialpolitischen Scoreboards oder die europäischen Indikatoren für die biologische Vielfalt) mit der Agenda 2030 in Einklang gebracht werden müssen. Eine übergreifende Strategie sollte den Brückenschlag zwischen den Nachhaltigkeitszielen, den EU-Politiken und den verschiedenen Indikatorensätzen ermöglichen.

1.11.

Der EWSA plädiert dafür, das derzeitige EU-Governancesystem an die Umsetzung der Agenda 2030 anzupassen. Eine umfassend auf die Agenda 2030 abgestimmte, übergreifende EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung würde die durchgehende Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele in allen Politikbereichen der EU sicherstellen und einen Rahmen für die Koordinierung und Überwachung der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele durch die EU und die einzelnen Mitgliedstaaten bieten. Beispielsweise sollte im Rahmen des Europäischen Semesters die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele überwacht und gefördert werden. Zudem sollten die Gestaltung und Bewertung der EU-Politik (z. B. Agenda für bessere Rechtsetzung) angepasst werden, um die Nachhaltigkeitsziele vollständig in den Politikzyklus zu integrieren. Alle Vorschläge für Rechtsvorschriften und Maßnahmen sollten einer Nachhaltigkeitsprüfung unterzogen werden, um die Auswirkungen auf die Nachhaltigkeitsziele und die Angemessenheit des Vorschlags zu bewerten.

1.12.

Der EWSA empfiehlt, innerhalb der Kommission einen Vizepräsidenten zu beauftragen, mit einem spezialisierten Team, einem eigenen Haushalt und einer alle Kommissionsmitglieder und -dienststellen verknüpfenden Arbeitsstruktur für die systematische Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele in der EU-Politik zu sorgen. Darüber hinaus sollte der Kommissionspräsident in seiner jährlichen Rede zur Lage der Europäischen Union die erzielten Fortschritte bewerten und weitere Maßnahmen erläutern, die für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele erforderlich sind.

1.13.

Der EWSA ruft schließlich zur Einigung über einen EU-Haushalt auf, dessen zentrales Anliegen die nachhaltige Entwicklung ist. Er weist darauf hin, dass der endgültige mehrjährige Finanzrahmen (MFR) für den Zeitraum 2021-2027 erkennen lassen wird, ob die EU ihren Verpflichtungen in Bezug auf die Agenda 2030 nachkommen kann. Mit ihrem Vorschlag vom Mai 2018 tut die Europäische Kommission zwar einen Schritt in die richtige Richtung, versäumt aber letztlich die Gelegenheit, die Agenda 2030 zur Priorität der europäischen Agenda zu machen.

2.   Fehlen einer EU-Strategie

2.1.

Die EU sollte sich stärker zu ihrer führenden Rolle in der Gewährleistung und Förderung einer nachhaltigen Entwicklung bekennen, denn die UN-Agenda 2030 steht unmittelbar in Einklang mit dem grundlegenden Ziel der Europäischen Union — der Förderung eines stärkeren sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Gleichklangs in Europa und weltweit. Zwar haben sich die EU und ihre Mitgliedstaaten der globalen Agenda angeschlossen, doch ist Europa im Rückstand. Bislang haben die EU und zahlreiche Mitgliedstaaten keine Strategie für nachhaltige Entwicklung angenommen, um die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele sicherzustellen.

2.2.

Hier sei auf Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union verwiesen, in dem es heißt: „In ihren Beziehungen zur übrigen Welt […] leistet [die Union] einen Beitrag zu […] globaler nachhaltiger Entwicklung“. In verschiedenen Politikbereichen der EU wie etwa Industrie-, Verkehrs- und Energiepolitik werden zwar zunehmend Nachhaltigkeitsbelange berücksichtigt, doch fehlt es nach wie vor an Ehrgeiz und Mitteln. Der EWSA bedauert generell den deutlichen Mangel an Strategie, politischer Kohärenz und Einbeziehung in die allgemeine Koordinierung der EU-Politik.

2.3.

Der EWSA ist die einzige Institution auf europäischer Ebene, die die nachhaltige Entwicklung zu einer der wichtigsten Prioritäten gemacht hat. Das Europäische Parlament verfügt über keine Struktur für die nachhaltige Entwicklung, auch wenn einige Fraktionen die Agenda 2030 mit Blick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 in ihre Prioritäten aufnehmen. Mittlerweile hat die Europäische Kommission eine Multi-Stakeholder-Plattform zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in der EU eingerichtet, die ein Schritt in die richtige Richtung ist, doch ist nicht klar, ob diese Plattform nach Ende der derzeitigen Kommission weitergeführt wird. Zudem hat der EWSA sich in der Vergangenheit für ein ehrgeizigeres und umfassenderes Forum der Zivilgesellschaft ausgesprochen (2) als das, das letztlich eingerichtet wurde.

2.4.

Auf nationaler Ebene ist das Ausmaß der Planung und Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele unterschiedlich (3). Einige Mitgliedstaaten haben bereits umfassende nationale Strategien für nachhaltige Entwicklung verabschiedet, und teilweise führen auch regionale und lokale Gebietskörperschaften sowie betroffene Interessenträger Sensibilisierungsinitiativen für die Nachhaltigkeitsziele durch. Aufgrund des Fehlens eines europäischen Rahmens besteht die Gefahr der Inkohärenz zwischen den nationalen Strategien. Der EWSA fordert die Aufnahme der nachhaltigen Entwicklung in die nationale Politik sowie die umfassende Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die Gestaltung und Umsetzung im Einklang mit einer übergreifenden EU-Strategie.

3.   Die nächsten Schritte

3.1.

Am 13. September 2017 kündigte Präsident Juncker ein Diskussionspapier „Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Europa bis 2030“ über die Folgemaßnahmen zu den UN-Nachhaltigkeitszielen und das Follow-up zum Pariser Klimaschutzübereinkommen an, das im Winter 2018 veröffentlicht werden soll. In der Vorbereitungsphase holt die Kommission die Ansichten der Mitglieder der Multi-Stakeholder-Plattform zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in der EU ein. Die Mitglieder der Plattform unterbreiten Vorschläge zur Verbesserung der EU-Governance in Bezug auf die Nachhaltigkeitsziele (u. a. die Annahme einer übergreifenden Strategie), politische Empfehlungen und Anregungen, wie das Instrumentarium der EU mit Blick auf die politische Koordinierung, Überwachung und Rechenschaftspflicht weiterentwickelt werden sollte.

3.2.

Die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele umfasst die Festlegung wirtschaftlicher, sozialer, politischer und ökologischer Zielsetzungen, die grundlegende Veränderungen in den europäischen Gesellschaften und innerhalb der EU-Institutionen voraussetzen.

3.3.

Vor den Europawahlen im Jahr 2019 müssen Debatten über die Zukunft Europas geführt werden, um die Bürger für die nachhaltige Entwicklung zu sensibilisieren. Die europäischen politischen Parteien müssen in ihrem Wahlprogramm Stellung zur nachhaltigen Entwicklung beziehen.

3.4.

Darüber hinaus ist der EWSA der Ansicht, dass die künftige Europäische Kommission und das neue Europäische Parlament, die aus den Europawahlen 2019 hervorgehen werden, eine bessere durchgängige Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele in der EU-Politik zu einer Priorität machen sollten. Der EWSA drängt das Europäische Parlament, seine Möglichkeiten zur Verfolgung und Überwachung der Fortschritte bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele auszubauen und Verantwortung für die Ziele zu übernehmen. Der Kommission empfiehlt er, dem für die nachhaltige Entwicklung zuständigen Vizepräsidenten einen größeren Führungsanspruch einzuräumen und die Zuständigkeiten der Generaldirektion neu zu organisieren, damit die Verantwortlichkeiten für die einzelnen Nachhaltigkeitsziele klar festgelegt sind.

3.5.

Die endgültige Entscheidung über den mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für den Zeitraum 2021-2027 wird erkennbar machen, ob die EU ihren Verpflichtungen in Bezug auf die Agenda 2030 nachkommen kann. Der MFR ist für die durchgehende Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele entscheidend. Mit ihrem Vorschlag vom Mai 2018 tut die Europäische Kommission zwar einen Schritt in die richtige Richtung, versäumt aber die Gelegenheit, die Agenda 2030 zur Priorität der europäischen Agenda zu machen. Über das begrenzt höher gesteckte Ziel der systematischen Einbeziehung des Klimaschutzaspekts hinaus sollten im Rahmen des neuen MFR entsprechende Mittel für die nachhaltige Entwicklung vorgesehen werden, und es sollte außerdem gewährleistet werden, dass die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele durch anderweitige Finanzierungsentscheidungen nicht untergraben wird. Den für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele Verantwortlichen — darunter die Mitgliedstaaten, die lokalen Gebietskörperschaften, Unternehmen und NRO — müssen die erforderlichen Mittel für innovative, skalierbare Projekte zur Verfügung gestellt werden.

3.6.

Die EU durchläuft derzeit eine tiefgreifende politische und institutionelle Krise und ist mit Herausforderungen wie wachsender sozialer Ungleichheit, Umweltproblemen und dem schwindenden Vertrauen in die Regierungen und die EU konfrontiert (4). Um dieser Situation Herr zu werden, muss die EU ein neues Narrativ schaffen, dass gangbare Lösungen für die gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen bietet. Die laufenden Debatten über die Zukunft Europas, die Agenda 2030 und das „Szenario 6“ (5) für die Zukunft der EU sollten dieses Narrativ prägen und die EU zum Treiber der Nachhaltigkeit machen. Die europäischen Staats- und Regierungschefs müssen verstärkt die Führung übernehmen und die Nachhaltigkeitsziele zu einem zentralen Anliegen ihres politischen Diskurses und des Zukunftsbildes für Europa machen.

3.7.

Die Agenda 2030 beruht auf den europäischen Grundwerten von Demokratie und Partizipation, sozialer Gerechtigkeit, Solidarität und Nachhaltigkeit sowie Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte in Europa und weltweit. Das neue Narrativ der nachhaltigen Entwicklung sollte den Bürgern Aufschluss darüber geben, wie die öffentliche Verwaltung und die organisierte Zivilgesellschaft ihrem Wunsch nach wirtschaftlichem, sozialem und ökologischem Wohlergehen gerecht werden wollen.

4.   Die Indikatoren

4.1.

Nach Meinung des EWSA sollte bei den EU-spezifischen Indikatoren für die Nachhaltigkeitsziele (EU-SDG-Indikatoren) kein bloßer Bewertungsansatz verfolgt werden, d. h., die Indikatoren sollten über ein reines Berichterstattungsinstrument hinaus auch für die Konzipierung und Gestaltung der Politik herangezogen werden. Die Indikatoren sollten den politischen Entscheidungsträgern der EU Hilfestellung bei der Festlegung künftiger Maßnahmen und bei der Planung einer besseren Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele geben. Die Indikatoren müssen es den politischen Entscheidungsträgern auch ermöglichen, Abweichungen bei der Zielerfüllung zu erkennen und rechtzeitig Maßnahmen zur Gegensteuerung zu ergreifen, um die Nachhaltigkeitsziele bis 2030 zu erreichen.

4.2.

Aus Sicht des EWSA ist der Monitoringbericht von Eurostat über die Nachhaltigkeitsziele 2017 (2017 Monitoring Report of the Sustainable Development Goals in an EU context) ein guter Anfang, es gibt aber Spielraum für Verbesserungen. Es gilt nun, darauf aufzubauen, in dem die Indikatoren verbessert werden. Die derzeit angewandte Methode zur Bewertung der Fortschritte (d. h. 1 % positive Veränderungen) ist aufgrund fehlender quantifizierter EU-Ziele potenziell irreführend, da, anders als in anderen Berichten, nicht der Zielabstand zu den SDG gemessen wird. So folgert Eurostat beispielsweise, dass Europa beträchtliche Fortschritte bei der Umsetzung von SDG 12 erzielt hat (6), während andere Quellen, u. a. die OECD, zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen (7). In dem Monitoringbericht müssen die Verflechtungen innerhalb der Agenda besser dargestellt werden, d. h., dass die unternommenen Anstrengungen jedes Ziel verstärken müssen, anstatt irgendeines zu untergraben. Sinnvolle horizontale Indikatoren werden nach wie vor unzureichend genutzt, um Informationen über Synergien und Zielkonflikte zu erhalten. Der Bericht sollte auch dazu dienen, die Ausstrahlungseffekte auf die nachhaltige Entwicklung der Partnerländer zu bewerten und die politische Kohärenz zwischen wichtigen externen und internen politischen Zielen zu überwachen. Schließlich sollten die Indikatoren Vergleiche zwischen europäischen Ländern ermöglichen, Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung aufzeigen und regelmäßig aktualisiert werden, um stets auf den besten verfügbaren wissenschaftlichen Techniken, Erkenntnissen und Informationen zu beruhen.

4.3.

Ein kohärenter Indikatorensatz, der einen klaren Überblick über die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele auf EU-Ebene gibt, setzt die Schaffung eines umfassenden Indikatorensystems voraus, das sich über die europäische und nationale Ebene erstreckt. Zunächst müssen die derzeit für verschiedene Politikbereiche auf EU-Ebene genutzten Indikatoren harmonisiert oder zumindest mit den EU-SDG-Indikatoren verzahnt werden. Beispielsweise muss ein klar definierter Bezug zwischen relevanten Indikatorensätzen wie den Indikatoren des sozialpolitischen Scoreboards oder den europäischen Indikatoren für die biologische Vielfalt und den EU-SDG-Indikatoren hergestellt werden. Zweitens sollten in den nationalen Nachhaltigkeitsstrategien die gleichen Indikatoren verwendet werden oder zumindest Indikatoren, die mit den EU-SDG-Indikatoren vergleichbar sind. Andernfalls besteht eine ernste Gefahr der Inkohärenz zwischen den verschiedenen nationalen Strategien. Drittens muss die EU sichergehen, dass sie über ein differenziertes Verfahren für die Berichterstattung gegenüber dem Hochrangigen Politischen Forum für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen verfügt. Die Europäische Kommission sollte in der Lage sein, einen genauen Überblick über die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele auf EU-Ebene und in allen Mitgliedstaaten zu geben.

4.4.

Der EWSA hält es für erforderlich, dass gewisse Beschränkungen bei der Festlegung der Indikatoren aufgegriffen werden. Eurostat und die nationalen statistischen Ämter verfügen nur über begrenzte personelle und finanzielle Ressourcen für die Erhebung neuer Daten, weshalb es nicht immer möglich ist, neue und gezieltere Indikatoren zu erstellen. Laut dem Jahresbericht 2017 des Europäischen Beratungsgremiums für die Statistische Governance an das Europäische Parlament belaufen sich die Kosten für das Europäische Statistische System auf 0,02 % des BIP, wobei der Personalbestand aufgrund des Abbaus der personellen Ressourcen in Verbindung mit Sparmaßnahmen noch unter Vorkrisenniveau liegt (8). Um den Indikatorensatz zu verbessern, muss der Entwicklung von Nachhaltigkeitsindikatoren mehr Vorrang eingeräumt werden; ferner müssen Eurostat und den nationalen statistischen Ämtern angemessene Finanzmittel für Nachhaltigkeitsindikatoren gewährt werden, im Einklang mit Teilzielen von SDG 17. Dies wird die Hinzufügung neuer Indikatoren ermöglichen, für die sich eine Erhebung zusätzlicher Daten als notwendig erweisen könnte.

4.5.

Bei den aktuell von Eurostat verwendeten Indikatoren stellt der EWSA diverse Mängel fest, die behoben werden müssen, idealerweise im Rahmen der Veröffentlichung des Eurostat-Monitoringberichts 2018 über die Fortschritte bei der Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele. U. a. wären folgende Verbesserungen wünschenswert:

eine objektivere grafische Darstellung der Gesamtergebnisse, um die fälschliche Annahme zu vermeiden, dass Europa bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele im Großen und Ganzen auf gutem Weg ist, was im Widerspruch zu anderen qualitativen oder thematischen Untersuchungen wie auch zur Wahrnehmung der Bürger steht;

eine bessere Berücksichtigung der Ausstrahlungseffekte des aktuellen Entwicklungsmodells Europas, bspw. auf der Grundlage bisheriger Eurostat-Arbeiten zu Fußabdrücken, wie auch des Beitrags der EU zur Unterstützung von Partnerländern bei der Erreichung der Nachhaltigkeitsziele;

ein innovativerer Ansatz, um die Unteilbarkeit der Nachhaltigkeitsagenda anders als nur über Querschnittsindikatoren zu vermitteln, an denen allein sich keine Ungleichgewichte und Widersprüche zwischen den verschiedenen Dimensionen der Nachhaltigkeit ablesen lassen und denen ein geeigneter Rahmen für die Bewertung der politischen Kohärenz fehlt;

mehr Daten über die Leistung von Unternehmen, lokalen Gebietskörperschaften und NRO;

mehr Informationen über die Leistung der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele, da Durchschnittswerte ein unvollständiges Bild vermitteln. Die Bereitstellung nationaler Informationen ist auch deshalb wichtig, weil die Mitgliedstaaten bei einer Reihe Nachhaltigkeitsziele ausschließliche Zuständigkeit haben;

bessere Indikatoren zur Rechenschaftsablegung für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele im Einklang mit SDG 16 (9) und SDG 17 (10), bspw. zivilgesellschaftlicher Freiraum in Europa (11) und innovative Partnerschaften;

eine belastbarere Methode zur Messung von Fortschritten bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in den Fällen, wo es keine spezifischen politischen Zielvorgaben der EU gibt. Beispielsweise könnten Durchschnittsleistungen mit Bestleistungen der EU-Mitgliedstaaten oder mit analogen, aus anderen internationalen Verpflichtungen oder verfügbarer Forschung abgeleiteten Zielvorgaben verglichen werden.

4.6.

Lange Zeitreihen sind zwar sinnvoll, doch sollten die Indikatoren anhand der ermittelten neuen Herausforderungen und entsprechend dem Stand der Wissenschaft, einschließlich neuer Daten, überprüft und verbessert werden. Zwar gehen die Anstrengungen, die Eurostat unternommen hat, um 2018 neue Indikatoren einzubeziehen, in die richtige Richtung, aber es muss unbedingt Klarheit hinsichtlich des Verfahrens und der Fristen für die Aufnahme zurückgestellter Indikatoren geschaffen werden. So sollte ein Aktions- und Zeitplan für den von FEANTSA (Europäischer Dachverband der Wohnungslosenhilfe) empfohlenen und vorgeschlagenen, derzeit aber zurückgestellten Indikator „Ausmaß der Wohnungslosigkeit in der EU“ aufgestellt werden.

4.7.

Die Rolle, die die organisierte Zivilgesellschaft in Verbindung mit dem Eurostat-Jahresbericht spielt, muss gestärkt werden. Eurostat sollte die Zivilgesellschaft stärker bei der Festlegung der Indikatoren und der Bewertung der bei den Indikatoren erzielten Fortschritte konsultieren. Generell muss die Zivilgesellschaft früh genug bei der Formulierung von zu berücksichtigenden Empfehlungen konsultiert werden, und Eurostat muss erklären, warum die Empfehlungen der Zivilgesellschaft Berücksichtigung gefunden haben oder nicht.

4.8.

Entscheidungen darüber, was und was nicht überwacht wird, insbesondere die Gestaltung und Auswahl der Indikatoren, haben weitreichende politische Auswirkungen (12). Deshalb sollte der Zivilgesellschaft im Zuge der Erarbeitung des jährlichen Berichts durch Eurostat die Möglichkeit geboten werden, in Form einer qualitativen Auslegung der Indikatoren einen Beitrag zu leisten. Parallel dazu sollte regelmäßig durch Eurobarometer-Umfragen sondiert werden, wie die Bürger die erreichten Fortschritte wahrnehmen.

4.9.

Dem EWSA ist bewusst, dass die Zivilgesellschaft über zu begrenzte Kenntnisse im Statistikbereich verfügt, um neue Indikatoren vorzuschlagen, die die Kriterien von Eurostat für die statistische Zuverlässigkeit erfüllen. Dennoch kann die Zivilgesellschaft nützliche Indikatoren beisteuern, die nicht auf Eurostat-Daten, sondern auf anderen Quellen beruhen. Ein Beispiel hierfür sind die Indikatoren, die derzeit vom Netz für nachhaltige Entwicklungskonzepte (Sustainable Development Solutions Network — SDSN) entwickelt werden. Nach Meinung des EWSA müssen die Organisationen der Zivilgesellschaft jedoch durch kapazitätsfördernde Maßnahmen unterstützt werden, damit sie sich besser in die Diskussionen mit Eurostat einbringen können.

4.10.

Im Interesse des o. g. soliden neuen Narrativs auf der Grundlage einer nachhaltigen Entwicklung fordert der EWSA eine Verbesserung der Kommunikation der Europäischen Kommission und Eurostats über die Fortschritte bei den Nachhaltigkeitszielen. Der Eurostat-Bericht ist nicht durchweg leserfreundlich und wurde auch nicht weithin propagiert, weshalb nach neuen Wegen gesucht werden sollte, um ihn bei Nicht-Fachleuten und Bürgern bekannt zu machen. Im Rahmen einer ehrgeizigen Sensibilisierungsstrategie sollte auch der Einsatz anderer Forschungs- und Kommunikationsprodukte geprüft werden. So könnte auf der Eurostat-Website zur nachhaltigen Entwicklung ein Bereich „Überwachung durch die Zivilgesellschaft“ vorgesehen werden, der eine interaktive Mitverantwortung für die Überwachung der Ziele ermöglicht.

4.11.

Der EWSA ist sich darüber im Klaren, dass der Eurostat-Jahresbericht keine qualitativen Informationen beinhaltet bzw. beinhalten kann. Um dem abzuhelfen (und gleichzeitig die Zivilgesellschaft stärker einzubeziehen), schlägt der EWSA vor, die Überwachung der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele durch einen eigenen, unabhängigen, in enger Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Interessenträgern erstellten qualitativen Schattenbericht zu ergänzen. Dieser Schattenbericht sollte vor allem Folgendes beinhalten: a) eingehende Überlegungen zum Eurostat-Bericht sowie eine einschlägige Analyse; b) ergänzende qualitative Informationen zum Eurostat-Bericht aus der organisierten Zivilgesellschaft; und c) die Auslegung der Fortschritte bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele aus Sicht der organisierten Zivilgesellschaft. Der EWSA führt derzeit eine Studie über die Einbindung der Zivilgesellschaft in die Überwachung der Nachhaltigkeitsziele durch (geplanter Abschluss: November 2018), in der vor allem auch ein methodischer Ansatz für die Erstellung dieses ergänzenden Berichts zum Eurostat-Jahresbericht ausgelotet und vorgeschlagen werden soll.

4.12.

Das Herzstück der Nachhaltigkeitsagenda bildet die Rechenschaftspflicht. Eine ehrgeizige Nachhaltigkeitsstrategie muss durch einen soliden Rahmen für die Rechenschaftslegung ergänzt werden, bei dem der organisierten Zivilgesellschaft eine Schlüsselfunktion zukommt. Daher müssen die Bürger EU-weit dafür sensibilisiert werden und Meinungsumfragen durchgeführt und sonstige Mechanismen zur Einholung des Feedbacks der Bürger eingesetzt werden. In diesem Zusammenhang sollte die Europäische Kommission (in Zusammenarbeit mit dem EWSA) einen SDG-Gipfel organisieren, um zusammen mit den Mitgliedstaaten, dem Europäischen Parlament, der Zivilgesellschaft, Unternehmen und den regionalen und lokalen Gebietskörperschaften eine jährliche Bestandsaufnahme durchzuführen und einen inklusiven und regelmäßigen Dialog mit den Interessenträgern sicherzustellen. Schließlich sollte der Austausch bewährter Praktiken für die Einbindung der Zivilgesellschaft in die Bewertung der Nachhaltigkeitsziele gefördert werden. Der EWSA könnte eine maßgebende Rolle dabei spielen, den einschlägigen zivilgesellschaftlichen Erfahrungsaustausch zu fördern, Synergien zu schaffen, Wissen und Bewusstsein zu fördern und eine kollaborative Zusammenarbeit zu unterstützen.

5.   Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele bei der Governance auf EU-Ebene

5.1.

Das aktuelle EU-Governancesystem sollte auf die Umsetzung der Agenda 2030 abgestimmt werden. In diesem Sinn sollten alle EU-Institutionen Maßnahmen ergreifen, um eine Koordinierung ihrer Arbeiten zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele sicherzustellen.

5.2.

Trotz des Engagements des Vizepräsidenten der Europäischen Kommission ist offensichtlich, dass es bei einigen Kommissionsdienststellen an Unterstützung mangelt, wodurch Fortschritte gebremst werden. Dasselbe gilt auch für das Parlament, das ein glaubwürdiges Verfahren für die Diskussion über die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in seinen Ausschüssen einrichten muss. Schließlich muss die im Europäischen Rat für die Nachhaltigkeitsziele zuständige Arbeitsgruppe — die zu begrüßen ist — für eine angemessene systematische Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele bei allen Ratsangelegenheiten, z. B. Zukunft der GAP, Kohäsionspolitik, Verkehrspolitik (13), Außenbeziehungen (14) oder MFR (2021-2027), sorgen.

5.3.

Eine künftige übergreifende EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung sollte maßgeblich zur durchgehenden Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele in allen Politikbereichen der EU beitragen und würde einen Rahmen für die Koordinierung und Überwachung der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele durch die EU und die einzelnen Mitgliedstaaten bieten. Wie bereits gesagt, sollten in der Strategie Ziele, die Mittel zu ihrer Erreichung sowie kohärente Indikatoren für die Überwachung der Fortschritte vorgegeben werden. Der EWSA stimmt mit dem Rat hinsichtlich der Notwendigkeit überein, „einen Bezugsindikatorenrahmen zu entwickeln“ (15).

5.4.

Dieser Bezugsindikatorenrahmen sollte bekanntermaßen alle einschlägigen europäischen Indikatoren erfassen, die derzeit in den verschiedenen Politikbereichen verwendet werden, und den Brückenschlag zwischen den bestehenden Indikatoren und den SDG-Indikatoren herstellen. So sollte die Europäische Kommission beispielsweise für vollständige Abstimmung und Kohärenz zwischen dem sozialpolitischen Scoreboard und den EU-SDG-Indikatoren sorgen. Von den zwölf Indikatoren des sozialpolitischen Scoreboards sind derzeit acht ganz oder teilweise in die Indikatoren der EU für die Nachhaltigkeitsziele integriert.

5.5.

Die Koordinierung und Überwachung der Nachhaltigkeitsziele sollte — wie der EWSA wiederholt gefordert hat (z. B. EWSA-Stellungnahmen NAT/693 (16), NAT/700 (17), SC/47 (18) und SC/50 (19)) — in das Europäische Semester eingebettet werden. In diesem Kontext sollte die Angemessenheit der Strategien der Mitgliedstaaten für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele überprüft werden. Den nationalen Behörden sollten gemeinsame Leitlinien an die Hand gegeben werden. Durch Überwachung sollten gleichgerichtete Anstrengungen sichergestellt werden. Ferner sollte der Austausch bewährter Verfahrensweisen zwischen den Mitgliedstaaten gefördert werden. Der Anwendungsbereich des Europäischen Semesters sollte insgesamt über seine traditionelle wirtschaftliche Dimension hinaus ausgedehnt werden und im Rahmen einer künftigen übergreifenden Nachhaltigkeitsstrategie umfassend und gleichwertig der sozialen und der ökologischen Dimension Rechnung tragen. Folglich sollten auch die länderspezifischen Empfehlungen sowie die in den Länderberichten durchgeführten Analysen im Rahmen des Verfahrens des Europäischen Semesters auf die Nachhaltigkeitsziele abgestimmt werden.

5.6.

Mit dem vor Kurzem aufgelegten Programm zur Unterstützung von Strukturreformen (SRSP) sollen die Mitgliedstaaten bei der Durchführung institutioneller, struktureller und administrativer Reformen unterstützt werden. Dieses Programm wird in den kommenden Jahren voraussichtlich eine wesentliche Rolle spielen. Wie bereits vom EWSA (20) und im Falkenberg-Bericht (21) betont wurde, sollte beim SRSP von der Prämisse ausgegangen werden, dass alle geförderten Reformen mit der Agenda 2030 und den Nachhaltigkeitszielen in Einklang stehen müssen.

5.7.

Damit die Nachhaltigkeitsziele in allen Politikbereichen der EU Eingang finden, muss die Agenda für bessere Rechtsetzung entsprechend angepasst werden, um einen umfassenden und ganzheitlichen Ansatz für die Nachhaltigkeitsziele sicherzustellen. Nach Ansicht des EWSA sollten bei den Leitlinien und dem Instrumentarium für eine bessere Rechtsetzung ausdrücklich auf die den Nachhaltigkeitszielen zugrunde liegenden Grundsätze Bezug genommen werden. Zudem sollten die Methoden der besseren Rechtsetzung überarbeitet werden, um die Bewertung langfristiger Ziele und die Messung des Zielabstands bis zur Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele zu ermöglichen. Schließlich muss der Kohärenz der Maßnahmen als Instrument für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, indem beispielsweise der Rahmen der OECD für die Politikkohärenz im Interesse nachhaltiger Entwicklung angewandt wird.

5.8.

Die Europäische Kommission sollte bei Vorschlägen zu neuen Rechtsvorschriften oder Maßnahmen klar angeben, auf welche Nachhaltigkeitsziele sie abstellen, und eine Nachhaltigkeitsprüfung durchführen, um die erwarteten Auswirkungen auf die Nachhaltigkeitsziele zu bewerten (als Teil des Folgenabschätzungsverfahrens, dass die Bewertung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen von Vorschlägen zum Ziel hat). Es sollte ermittelt werden, welche die größten Probleme bei der Umsetzung der Ziele sind, die mit den vorgeschlagenen Maßnahmen angegangen werden sollen. Ebenso müssen die Überwachung und Bewertung laufender EU-Maßnahmen angepasst werden, um die Fortschritte bei der Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele zu messen und Neuausrichtungen im Hinblick auf eine zielorientiertere Förderung zu empfehlen.

5.9.

Auch beim Kommissionsprogramm zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung (REFIT) sollte dem Gesichtspunkt der nachhaltigen Entwicklung Rechnung getragen werden. Im Zuge der Arbeiten für das REFIT-Programm sollte darauf geachtet werden, dass die gewünschte Vereinfachung und Aktualisierung der EU-Rechtsvorschriften kohärent ist und zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele beiträgt.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  „Sustainable development in the European Union: Monitoring report on progress towards the SDGs in an EU context. 2017 edition“.

(2)  Stellungnahme des EWSA „Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft“ (ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 91).

Stellungnahme des EWSA „Ein Nachhaltigkeitsforum der europäischen Zivilgesellschaft“ (NAT/678), (ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 73).

(3)  Der EWSA arbeitet an einer Kartografierung der Initiativen für nachhaltige Entwicklung auf nationaler Ebene. Länderspezifische Zusammenfassungen werden im EWSA-Internetportal veröffentlicht.

(4)  Stellungnahme des EWSA „Übergang zu einer nachhaltigeren Zukunft Europas“ (SC/47) (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 44).

(5)  http://www.foeeurope.org/sites/default/files/other/2017/6th_scenario_future_of_europe.pdf.

(6)  SDG12: Verantwortungsvoll konsumieren und produzieren.

(7)  Siehe u. a. OECD. 2017. Measuring Distance to the SDG Targets: an assessment of where OECD countries stand.

(8)  ESGAB-Jahresbericht 2017, S. 25-26 (nur in englischer Sprache).

(9)  SDG 16: Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen.

(10)  SDG 17: Partnerschaften zur Erreichung der Ziele.

(11)  Aufbauend auf bestehenden Methoden wie dem CIVICUS Monitor, https://civicus.org/index.php/what-we-do/innovate/civicus-monitor.

(12)  Stellungnahme des EWSA „Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft“ (NAT/700), (ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 91).

(13)  Stellungnahme des EWSA „Die Bedeutung des Verkehrs für die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung und die Auswirkungen auf die EU-Politikgestaltung“, (ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 9).

(14)  Stellungnahme des EWSA „Eine erneuerte Partnerschaft mit den Staaten in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean“ (REX/485), (ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 76).

(15)  http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-10370-2017-INIT/de/pdf.

(16)  Stellungnahme des EWSA „Nachhaltige Entwicklung: Bestandsaufnahme der internen und externen politischen Maßnahmen der EU“ (NAT/693) (ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 41).

(17)  Stellungnahme des EWSA „Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft“ (NAT/700), (ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 91).

(18)  Stellungnahme des EWSA „Übergang zu einer nachhaltigeren Zukunft Europas“ (SC/47), (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 44).

(19)  Stellungnahme des EWSA „Jahreswachstumsbericht 2018“ (SC/50), (ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 95).

(20)  Stellungnahme des EWSA „Programm zur Unterstützung von Strukturreformen“ (ECO/398), (ABl. C 177 vom 18.5.2016, S. 47).

(21)  Sustainability Now! Strategiepapier des Europäischen Zentrums für politische Strategie (EPSC). 18. Ausgabe (2016) https://www.eesc.europa.eu/sites/default/files/files/rapport_kff.pdf.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/22


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu „Der Beitrag der ländlichen Gebiete Europas zum Jahr des Kulturerbes 2018 durch die Gewährleistung von Nachhaltigkeit und Zusammenhalt zwischen Stadt und Land“

(Initiativstellungnahme)

(2018/C 440/04)

Berichterstatter:

Tom JONES

Beschluss des Plenums

15.2.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

201/2/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Schlussfolgerungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt vorbehaltlos, dass das Jahr 2018 zum Europäischen Jahr des Kulturerbes ausgerufen wurde, und begrüßt sämtliche Bemühungen von Veranstaltern und Organisatoren auf allen Ebenen, das vielfältige und reiche kulturelle Erbe Europas (1) bekannter zu machen und zu feiern.

1.2.

Der EWSA ruft alle Interessenträger dazu auf, „Kultur“ im weitestmöglichen Sinn zu verstehen und alle Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen.

1.3.

Mit diesem Jahr sollte nicht nur Vergangenes gewürdigt, sondern auch sich entwickelnde, neue und herausfordernde Formen menschlicher Inspiration und Fähigkeiten gefördert werden, die sich oft aus im ländlichen Kulturerbe der einzelnen Länder verankerten Traditionen ergeben.

1.4.

Zwölf Monate sind eine kurze Zeit, aber es steht zu hoffen, dass diese zusätzlichen Anstrengungen und Investitionen den Bürgerinnen und Bürgern ein Anreiz sind, sich auf die Chancen zu konzentrieren, die das kulturelle Erbe in ländlichen Gebieten bietet. Dies sollte sie in die Lage versetzen, im Sinne des Wohlergehens heutiger und künftiger Generationen einen wiederbelebten, ästhetischen, sozialen und wirtschaftlichen Fundus zu schaffen. Zur Halbzeit erhielten über 3 500 Projekte die Kennzeichnung des „Europäischen Jahres des Kulturerbes“, wobei der Anteil der Projekte in ländlichen Gebieten je nach Region variiert.

1.5.

Der EWSA unterstützt die Europäische Allianz für Kunst und Kultur, die im Januar 2018 die Institutionen der EU und die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen hat, innerhalb des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) für die Zeit nach 2020 eine erhebliche Unterstützung sicherzustellen. Er begrüßt außerdem das von der Europäischen Kommission in ihrem Haushaltsentwurf vom Mai 2018 vorgeschlagene Engagement für Kultur sowie ihre Verpflichtungen im Rahmen der neuen Kulturagenda (2).

Empfehlungen

1.6.

Angesichts des ihm innewohnenden künstlerischen Werts und des wirtschaftlichen und sozialen Beitrags zum Wohl aller europäischen Bürgerinnen und Bürger sollte das kulturelle Erbe des ländlichen Raums in all seinem Reichtum und in seiner ganzen Vielfalt offiziell gewürdigt werden (3).

1.7.

Investitionen der öffentlichen Hand sollten für den ländlichen Raum geeignet sein: Bei der Konzipierung neuer Finanzströme sollten diese auch die Unterstützung des laufenden Beitrags der Haushalte und Beschäftigten in der Landwirtschaft sowie für NGO umfassen, die einzelne Künstler sowie Folkloregruppen, lokale Aktionsgemeinschaften oder auch soziale Einrichtungen in der Landwirtschaft (Care Farming) vertreten. Dabei sind die Maßnahmen in vollem Umfang zu berücksichtigen, die zur Verbesserung der Infrastruktur des ländlichen Erbes erforderlich sind.

1.8.

Im Rahmen der bestehenden Finanzierungskanäle, einschließlich des Programms zur Entwicklung des ländlichen Raums, sollte Kultur zunehmend als Querschnittsthema verstanden und sollten kulturelle Projekte gefördert werden, u. a. auch jene, mit denen Landschaften mit einer großen Biodiversität geschützt, gefördert und verbessert werden. Gute Beispiele sind die Wiederbelebung der Weide- und Almwirtschaft und entlegener Landhäuser in den Pyrenäen, die Weinberge in Santorin und der Schutz gemeinsamer Beweidung in Șeica Mare (Rumänien) sowie das LEADER-Kulturprojekt auf Lesbos (Griechenland) zur Unterstützung der Integration von Migrantinnen und Migranten. Die Agrarumweltpläne sollten weiterhin auf die Bildung landwirtschaftlicher Lebensräume abzielen. Bei der Gestaltung dieser Lebensräume sollten höhere Standards angelegt und traditionellen kulturellen Mustern gefolgt, aber gleichzeitig auch eine moderne Nutzung ermöglicht werden.

1.9.

Für nachhaltige Waldflächen, Wälder und Wasserstraßen sollten unterstützende Maßnahmen ergriffen werden, um sie vor Schädigung und Umweltverschmutzung zu schützen. Es müssen Mittel für die Bewahrung von Schutzgürteln aus Bäumen und Sträuchern bereitgestellt werden, die in der Vergangenheit im ländlichen Raum angelegt wurden (so etwa in Polen nach dem Konzept von Dezydery Chłapowski) und die die Bodenerosion und die CO2-Emissionen reduzieren, den Ertrag steigern helfen und die Landschaft bereichern.

1.10.

Landwirtschaftliche Betriebe, die einen Tag der offenen Tür abhalten oder von Schulen besucht werden, Veranstaltungen, Kunsthandwerks- und andere Messen sowie Kulturfestivals helfen Stadtbewohnerinnen und -bewohnern, mehr Verständnis und Wertschätzung für ländliche Gebiete zu entwickeln. Ebenso wie Maßnahmen, mit denen über kulturelle Projekte Brücken zwischen Menschen aus ländlichen und städtischen Gegenden geschlagen werden, verdienen es derartige Veranstaltungen, mit öffentlichen Geldern gefördert zu werden.

1.11.

Maßnahmen, die neuen Generationen die ländliche Kultur und Tradition mittels einer innovativen modernen Sprache näherbringen, sollten gefördert werden. Der wirtschaftliche und soziale Nutzen sollte gemessen werden, wobei bewährte Verfahren untereinander geteilt und gewürdigt werden sollten. Künstler und weitere kulturschaffende — ggf. auch ortsfremde — Akteure sollten als Inspirationsquellen gefördert werden, um Kommunen dabei zu unterstützen, das Potenzial ihrer lokalen Kulturgüter auszuschöpfen.

1.12.

Dem erheblichen Verlust von handwerklichen Fertigkeiten muss mit verstärkten Investitionen in die Ausbildung begegnet werden, sodass Generationenwechsel auf dem Wissen der Vergangenheit aufbauen und Anreize für Innovation bieten. Schulen in ländlichen Gebieten sollten das in der Besonderheit des ländlichen Raumes liegende Beschäftigungspotential und externe Karrieremöglichkeiten vermitteln. Eine besondere Herausforderung nicht nur für Junglandwirtinnen und -wirte, sondern für alle jungen Menschen im ländlichen Raum, besteht darin, in ihrer Funktion als Bewahrer ihres kulturellen Erbes unternehmerisch tätig zu werden.

1.13.

Das ländliche Kulturerbe sollte unter anderem touristisch nachhaltig gefördert werden, damit die Stadtbewohnerinnen und -bewohner die kulturellen Werte des ländlichen Raums schätzen lernen und sich verstärkt für das Leben auf dem Land und die Arbeit in abgelegeneren Gebieten entscheiden.

1.14.

Die Vermarktung ländlicher Kulturprodukte einschließlich des gastronomischen Erbes sollte gefördert und ihr Status unter Angabe der geografischen Herkunft geschützt werden, um den Bürgerinnen und Bürgern Gewissheit in Bezug auf die Qualität und Rückverfolgbarkeit zu bieten.

1.15.

Freiwilligentätigkeit, Bürgerbeteiligung, soziale Unternehmen und Privatunternehmen im ländlichen Raum sollten dazu ermutigt werden, ihre kulturellen Aktivitäten einschließlich der Förderung der Vielfalt der Sprachen und Dialekte zum Nutzen aller Bürgerinnen und Bürger auszubauen und zu verbreiten. Intelligente ländliche Gemeinschaften sollten den Wert und das Potenzial ihrer lokalen Kulturgüter annehmen und nutzen und die Zusammenarbeit mit ähnlichen Gruppierungen an anderen Orten anstreben, um Vernetzungen zu fördern und umfangreichere touristische Möglichkeiten wirtschaftlich zu nutzen.

1.16.

Projekte im Zusammenhang mit dem Europäischen Jahr des Kulturerbes 2018 werden voraussichtlich auch über das Jahr 2018 hinaus fortgeführt werden; dennoch ist es wichtig, unter Berücksichtigung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Faktoren eine klare Bestandsaufnahme und Bewertung quantifizierbarer Investitionen und Ergebnisse durchzuführen. Im Jahr 2017 wurden nach Trilogverhandlungen zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat rund 8 Mio. EUR für das Europäische Jahr bereitgestellt. Es wäre angemessen, wenn ein bezifferbarer Anteil dieser Förderung für ländliche Gebiete bereitgestellt würde.

1.17.

Mehr Forschung ist erforderlich, um die Qualität der Vorteile des Kulturerbes und der laufenden kulturellen Aktivitäten für das Wohl der Bürgerinnen und Bürger zu quantifizieren und zu erfassen und um Lösungen für künftige Maßnahmen zu untermauern. Hartnäckige Hüter des Kulturerbes brauchen Unterstützung, um neuen Migrantinnen und Migranten sowie anderen kulturellen Traditionen gegenüber aufgeschlossen zu sein.

1.18.

Im Bereich der für die Besiedlung des ländlichen Raums und die Entwicklung des ländlichen Kulturtourismus so wichtigen Verkehrsanbindung und digitalen Infrastruktur sind dringend Maßnahmen erforderlich.

2.   Einleitung

2.1.

In der vorliegenden Stellungnahme wird der Schwerpunkt insbesondere auf die große Bandbreite positiver Aspekte und Talente der ländlichen Gebiete und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner gelegt. Sie wird einen Beitrag zum kulturellen Erbe Europas leisten und dabei helfen, darzulegen, wie diese weit gefasste Definition des Begriffes Kultur dazu beiträgt, die Lebensfähigkeit und den Wohlstand auf dem Lande zu verbessern. Wir unterstützen die gesamteuropäische Charta für das ländliche Erbe zur Förderung einer nachhaltigen Raumplanung (4) sowie die Cork-2.0-Erklärung aus dem Jahr 2016, in der es heißt: „Der Landbewirtschaftung kommt an der Schnittstelle Mensch/Umwelt eine Schlüsselrolle zu. Die Politik muss Anreize für die Erbringung umweltbezogener öffentlicher Güter bieten, einschließlich der Erhaltung des europäischen Natur- und Kulturerbes.“

2.2.

Diese Initiative muss einer „Prüfung der Auswirkungen auf den ländlichen Raum“ unterzogen werden. Der EWSA befürchtet, dass die Informationen über das Europäische Jahr die kleinen Bevölkerungsgruppen in den Dörfern und Kleinstädten nicht früh genug erreichen werden, um noch die Vorbereitungen für eine Würdigung der großen Bandbreite der sie umgebenden Kulturgüter treffen zu können. Mit diesem Jahr sollte nicht nur Vergangenes gewürdigt, sondern auch sich entwickelnde, neue und herausfordernde Formen menschlicher Inspiration und Fähigkeiten gefördert werden, die sich oft aus im ländlichen Kulturerbe der einzelnen Länder verankerten Traditionen ergeben.

2.3.

Die Auflistung bestehender kultureller Aktivitäten und die Lehren aus erfolgreichen Projekten haben einen echten Wert, aber die Feierlichkeiten des Jahres 2018 sollten auch neue, innovative Kulturveranstaltungen umfassen, die auf der Vergangenheit aufbauen und mit denen das kulturelle Erbe an neue Generationen weitergegeben wird, was ländlichen Gebieten neue Chancen eröffnet. Das Programm „Kreatives Europa“ umfasst zwei ländliche Projekte: „Roots and Roads“ [Wurzeln und Wege] und „Food is Culture“ [Nahrung ist Kultur], die, wenn sie erfolgreich sind, einen Beitrag zum Lernen und zur Entwicklung leisten könnten.

2.4.

Obwohl eine genaue Quantifizierung des wirtschaftlichen und sozialen Nutzens kultureller Aktivitäten schwierig ist (über 300 000 Arbeitsplätze stehen im direkten Zusammenhang mit der europäischen Kultur), ist die OECD der Auffassung, dass Kultur als Indikator für Wohlergehen verwendet werden sollte. Es ist wichtig, dass die Organisatoren des Europäischen Jahrs des Kulturerbes 2018 Analysen durchführen, mit denen sich künftige Investitionen der öffentlichen Hand rechtfertigen lassen. Es sollte klar aufgezeigt werden, wie erfolgreich das Jahr ländliche und abgelegene Gebiete erreicht hat und wie künftige europäische und regionale Prioritäten auf bewährten Verfahren wie beispielsweise den Projekten AlpFoodway (5) und Terract (6) aufgebaut werden können.

3.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

3.1.

Ländliche Landschaften, das Mosaik natürlicher geologischer Strukturen und die menschlichen Spuren in Form von Land- und Forstwirtschaft, Seen, Flüssen und Siedlungen sind vermutlich das größte kulturelle Erbe, das es gibt. Von Nationalparks und Natura-2000-Gebieten bis hin zu den grünen städtischen Randgebieten gibt es eine vielgestaltige Schönheit, eine Quelle der Inspiration für Generationen von Künstlern, Musikern, Schriftstellern, Tänzern und für all diejenigen von uns, die in keine dieser Kategorien fallen. In der neuen Kulturagenda der Kommission ist eher wenig zu ländlichen Sichtweisen zu finden. Zu finden ist in ihr allerdings die Aussage, dass „die Restaurierung und die Aufwertung von Kultur- und Naturerbe zum Wachstumspotenzial und zur Nachhaltigkeit bei[tragen]. Durch das integrierte Management von Kultur- und Naturschätzen werden die Leute angeregt, beides zu entdecken und zu erkunden.“ Das Volk der Mayangna in Nicaragua verwendet für die Konzepte „Natur“ und „Kultur“ ein und dasselbe Wort. Das ist ökologische Bürgerschaft.

3.2.

Ländliche Gemeinschaften sind sogar ein Gewinn für das Landschaftsbild. Es sind diejenigen, die land- und forstwirtschaftliche Flächen bewirtschaften, ihre Beschäftigten und die Menschen, die Handwerk treiben — Männer und Frauen, die diese Landschaften geschaffen haben. Generationen von Menschen mit entsprechenden Fertigkeiten, die Land und Wasser erschlossen haben, um Nahrung, Unterkunft und Einkommen zu haben. So hat sich zum Beispiel in Polen im 19. Jahrhundert das Konzept der Schutzgürtel aus Grünflächen und Sträuchern zur Bewahrung der Böden entwickelt, die der heutigen Landschaft ihr Gepräge gaben. Mit Steinen und Ästen grenzten sie ihre Felder ab, errichteten Scheunen und Werkstätten. Generation auf Generation kümmerte sich um ihr aus einheimischen Tierrassen gezüchtetes Vieh, das den landschaftlichen und klimatischen Verhältnissen angepasst war, und bearbeitete die Vegetation. Sie entwickelten lokale Traditionen in Gastronomie und Brauchtum. Wir können auch ein reiches architektonisches Erbe unser Eigen nennen: Herrenhäuser, Burgen, Kirchen, aber auch Bauernhöfe, kleine Mühlen und Geschäfte. Zu sehen sind derartige Gebäude — sorgfältig restauriert — beispielsweise im St. Fagans National Museum of History in Wales. Der Erhalt derartiger historischer Architektur wird häufig von privaten Investoren geleistet, bisweilen mit umfangreicher öffentlicher oder gemeinnütziger Unterstützung. Im Rahmen eines innovativen Projekts im Norden von Wales werden erneuerbare Energien vom Meeresgrund zur Wärmeerzeugung genutzt und dienen damit der Kostensenkung in Plas Newydd, einem Landsitz im Besitz des National Trusts (7). Bei feierlichen Begehungen der Vergangenheit und der Gegenwart sollte auf ein Gleichgewicht zwischen idealistischen Vorstellungen und der Realität menschlicher Mühen und Anstrengungen geachtet werden.

3.3.

Wir begrüßen alle Bemühungen, einschließlich der Bemühungen der European Heritage Alliance, dieses Erbe mit Fingerspitzengefühl zu erhalten. Die Wiederherstellung bedarf auch der Unterstützung durch Planungsbehörden, die ansprechende Nutzungsänderungen von Gebäuden sicherstellen. Im Rahmen des auch mit Mitteln des Erasmus-Programms geförderten REVAB-Projekts werden Weiterbildungsmaßnahmen mit dem Ziel durchgeführt, das Potenzial für eine neue Nutzung nicht mehr benötigter landwirtschaftlicher Gebäude zu erhöhen und damit ihr Verschwinden zu verhindern.

3.4.

Die Menschen im ländlichen Raum haben ihre eigene Kultur geschaffen, in der sich ihre Arbeit, ihre Freizeit und ihre sozialen Herausforderungen in allen Formen der Kunst, des Sports und generell der Aktivität in der Gemeinschaft widerspiegelt. Ländliche Gebiete sind häufig wichtige Reservoire an Minderheitensprachen und Dialekte in ihrer Vielfalt. Die den Namen von Dörfern, Bauernhöfen und Feldern innewohnende Bedeutung ist wichtig und verdient es, verstanden und respektiert zu werden. Das Vermächtnis, das sie für die Gesellschaft allgemein beinhalten und immer noch weitergeben, ist von großem Wert.

3.5.

Aber auch ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten entwickeln sich, und manchmal verschwinden sie auch. Nicht alle Landschaften sind unberührt. Manche sind gezeichnet von Industrie, Krieg und Plünderung, von Trockenheit, Überschwemmungen und Bränden oder auch der Überbeanspruchung durch übermäßigen und punktuellen Tourismus. Sie alle haben ihre eigene Geschichte und Lehren, die man daraus ziehen kann. Die Eindämmung der Auswirkungen des Klimawandels erfordert ein positives Eingreifen, um Vielfalt und Erfahrungsmöglichkeiten zu bewahren. Die Pflege der Verbindungen zur Vergangenheit fällt in den Bereich der öffentlichen Dienstleistungen. Ohne nachhaltige biologische Vielfalt, eine vernünftige Planung und eine Steuerung des Zugangs verkommen Landschaften. Auch das künstlerische und kulturelle Potenzial schwindet, wenn der Umfang der ländlichen Bevölkerung unter die Grenze der Nachhaltigkeit absinkt.

3.6.

Eurostat stellte 2017 fest, dass mehr als ein Drittel der Europäerinnen und Europäer nicht an kulturellen Aktivitäten teilnehmen. Daher ist die Entwicklung eines ländlichen Kulturtourismus im Zeichen von Gesundheit und Freizeitaktivitäten eine wichtige Brücke zwischen der städtischen und der ländlichen Bevölkerung und wird es auch bleiben. Die Stadt Galway ist ein gutes Beispiel für Kulturpartnerschaften zwischen Stadt und Land, und im Rahmen der Initiative „Kulturhauptstädte Europas“ (z. B.: Plowdiw (Bulgarien) und Matera (Italien), 2019) sollten stets sowohl ländliche als auch städtische kulturelle Kriterien berücksichtigt werden. In Wales führt die Behörde für die Pflege des Kulturerbes (Heritage Statutory Body, CADW) Tage der offenen Tür durch, die Teil eines Projekts in 50 Ländern sind, das den Bürgerinnen und Bürgern dabei helfen soll, die einzelnen Stufen des Wandels nachzuvollziehen, damit sie die Gegenwart besser verstehen — „Um deine Zukunft zu planen, musst du deine Vergangenheit verstehen“.

3.7.

Auch in Griechenland gibt es ein Beispiel für den Austausch von Kenntnissen, nämlich die „Art Farm“ (8), ein geistiges Kind von Sotiris Marinis, der sich die Devise „eine Erfahrung, die wir hier machen können, hilft uns, unser landwirtschaftliches und kulturelles Erbe zu verstehen“ zu eigen gemacht hat und im Dorf Megali Mandinia in Dytiki Mani Holzhäuser und ein Ausbildungszentrum errichtet hat.

3.8.

Der Kulturtourismus im ländlichen Raum bietet bereits jetzt im zunehmenden Maße wirtschaftliche und soziale Ressourcen und eine Grundlage für gemeinsame Investitionen. Die Verantwortung für den Schutz und die Förderung des kulturellen Erbes Europas ist eine nationale, regionale und lokale Zuständigkeit, und es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Bevölkerung stolz auf ihr Erbe ist. Die europäischen Institutionen können einen Sinn für gemeinsame europäische Werte fördern sowie Anreize geben und sich für bewährte Verfahren und gemeinsame Erfahrungen (9) einsetzen. Traditionelle, regionale Kochrezepte, Biere und Weine, Kleidung und Musik, wie sie bei der Internationalen Grünen Woche (10) in Berlin gezeigt wurden‚ ziehen Jahr für Jahr Tausende von Besucherinnen und Besuchern aus dem Ausland an und tragen dazu bei, Brücken zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu schlagen. Der direkte Kontakt zwischen Produzenten und Verbrauchern von auf dem Land erzeugten Lebensmitteln und handwerklichen Produkten über Bauernmärkte und den Verkauf über das Internet ist wird immer beliebter, beispielsweise in Form der örtlichen REKO-Lebensmittelgemeinschaften in Finnland.

3.9.

Orte, wo man für sich sein kann, Plätze, an denen Vögel zu hören oder zu beobachten sind, Raum, um den Wald zu erfahren — Waldvielfalt und Pflanzen mit medizinischen Anwendungen — all dies fördert die Neugier, den Forschungsdrang und das Wohlbefinden der Bürgerinnen und Bürger. Indem die Palette der Möglichkeiten und Entdeckungen erweitert wird, droht weniger die Gefahr, dass sich das touristische Interesse auf einige wenige gefährdete Gebiete konzentriert, was den auf den zentralen ländlichen Aspekten beruhenden wirtschaftlichen und beschäftigungspolitischen Wert, der bereits von intelligenten Dörfern und Gemeinden geschätzt wird, in entlegeneren Gebieten erhöht. In den Gebirgsregionen der Lombardei stärkt das Projekt AttivAree das Zugehörigkeitsgefühl der Menschen, indem das Naturerbe über Kunst gefestigt wird. Das Projekt trägt auch zur Renovierung von Hostels und zur Förderung der Zugänglichkeit in abgelegenen Dörfern wie Lavenone bei (11). Reiseagenturen sollten zu Partnerschaften mit Unternehmern in abgelegenen Gegenden und sozialwirtschaftlichen Unternehmen, die sich für einen nachhaltigen Kulturtourismus einsetzen, ermutigt werden.

3.10.

Die Verbreitung und Darstellung kultureller Informationen mithilfe der Digitaltechnik dient der kreativen Verringerung einer ehemals wachsenden Kluft zwischen Stadt und Land sowie zwischen jungen und älteren Menschen. Projekte wie beispielsweise YOUrALPS (12), die die Jugend wieder an die Berge heranführen, werden begrüßt. Es gibt viele neue Beispiele für innovative Formen der Darstellung kultureller Traditionen, so z. B. das künstlerische Projekt in Åsted in Dänemark und im Dorf Pfyn in der Schweiz. Dabei handelt es sich um Projekte, die aus lokalen Initiativen hervorgegangen sind, die auf lokale Bedürfnisse ausgerichtet sind und die partizipative Verfahren nutzen, die ihrerseits Teil der kulturellen Tradition Europas sind. Öffentliche und private Mittel sollten auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene zur Verfügung stehen, um Investitionen in ähnliche Initiativen zu beschleunigen.

3.11.

Immer weitere Nutzung finden — z. B. an Orten vergangener oder gegenwärtiger Konflikte — auch neue digitale Instrumente zum Wiederaufbau wichtiger historischer Stätten, die aufgegeben oder durch Kriege zerstört wurden. Technik wird genutzt, um Grabsteine und verbleichende Handschriften besser lesen zu können (13). Wir begrüßen die Kommissionspläne für die Strategie #Digital4Culture und gehen davon aus, dass sämtliche relevanten ländlichen Aspekte berücksichtigt werden. Im Rahmen des MEMOLA-Projekts werden beispielsweise 3D-Scans von alten Bewässerungsanlagen zur Schulung mit Blick auf neue Bewässerungsverfahren genutzt.

3.12.

Es ist mehr Forschung erforderlich, um zu verstehen, was für eine Bedeutung kulturelle Tätigkeit für den Menschen hat und welcher gesundheitliche Nutzen — für alle Altersstufen, aber insbesondere für Menschen mit physischen oder psychischen Erkrankungen (14) — mit ihr einhergeht. Gute Forschungsmöglichkeiten werden gegenwärtig im Rahmen bestehender Erasmus-Plus-Programme, wie z. B. des TEMA-Masterstudiengangs, gefördert. Auf der hochrangigen Konferenz „Innovation and Cultural Heritage“ (15) [Innovation und kulturelles Erbe] im Rahmen von „Horizont 2020“ zum Europäischen Jahr des Kulturerbes 2018 wurden weitere Anstrengungen zur Entwicklung von Forschungsarbeiten gefordert, um Prioritäten und bewährte Verfahren zur Förderung kultureller Aktivitäten zu ermitteln.

3.13.

Initiativen, die von gemeinnützigen und philanthropischen Einrichtungen unterstützt werden, haben — häufig über Sozialunternehmen, die die Entwicklung ländlicher Gebiete nachhaltig fördern — erheblich zum Erhalt von Naturlandschaften und zur Förderung von Aktivitäten beigetragen. Die finnische Kulturstiftung unterstützt die Erforschung von Maßnahmen, mit denen verhindert werden soll, dass landwirtschaftliche Rückstände die Wasserqualität in der Ostsee beeinträchtigen. Sie arbeitet mit Landwirten zusammen, die davon überzeugt sind, dass eine größere biologische Vielfalt gleichbedeutend mit einem größeren landschaftlichen Reichtum ist. Auch andere gemeinnützige Initiativen werden befürwortet, wie z. B. die Kulturerbestiftung der walisischen Schulen (Wales Schools‘ Cultural Heritage Trust), die kulturelle Wettbewerbe zwischen Schulen fördert, an denen sich junge Menschen beteiligen, die sich für eine kulturelle Aktivität entscheiden, um sie dann auszuüben (16). Ein Beispiel, das jungen Menschen die Möglichkeit gibt, ihr kulturelles Erbe näher kennenzulernen, ist eine Schule in Piscu (17) (Rumänien), die sowohl auf die Weitergabe des kulturellen Erbes an ihre Schülerinnen und Schüler als auch auf die Veranstaltung von Workshops und Konferenzen ausgerichtet ist. Selbst lud der EWSA im März 2018 Schülerinnen und Schüler aus Schulen in ganz Europa ein, um ihre kulturellen Prioritäten unter dem Motto „Your Europe, Your Say!“ (18) zu diskutieren. Diese kamen zu dem Schluss: „Ich möchte in einem Europa leben, das alle Formen von Kultur wertschätzt und schützt […] wir sind gegen Elitedenken und möchten Kultur einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen […] aber auch die Gelegenheit haben, Eigenes zu schaffen.“ In dem süditalienischen Dorf Siffoni drehten rund 300 Studentinnen und Studenten Filme und Videos, mit denen sie ihre Region bekannt machen wollen.

3.14.

Investitionen der öffentlichen Hand sollten für den ländlichen Raum geeignet sein: Bei der Konzipierung neuer Finanzströme sollten diese auch die Unterstützung des laufenden Beitrags der Haushalte und Beschäftigten in der Landwirtschaft sowie für NGO umfassen, die einzelne Künstler sowie Folkloregruppen, lokale Aktionsgemeinschaften oder auch soziale Einrichtungen in der Landwirtschaft (Care Farming) vertreten. Dabei sind die Maßnahmen in vollem Umfang zu berücksichtigen, die zur Verbesserung der Infrastruktur des ländlichen Erbes erforderlich sind.

3.15.

Es bestehen die Möglichkeiten größerer thematischer und geografischer Verknüpfungen und seitens der Kulturtouristinnen und -touristen auch die entsprechende Nachfrage. Gemeinschaftliche Projekte mit einer gemeinsamen Vermarktung und Projekte mit gemeinsamem Zugang werden gern gesehen. Landwirtschaftsausstellungen in Dörfern und Kleinstädten sowie nationale Veranstaltungen wie beispielsweise die Royal Welsh Show in Builth Wells (19) mit rund 240 000 Besuchern und das Literaturfestival in Hay-on-Wye, durch das schätzungsweise 21 Mio. GBP in einen kleinen ländlichen Raum gespült werden, sind wirtschaftlich und gesellschaftlich enorm wichtig. Tage der offenen Tür in landwirtschaftlichen Betrieben, Messen, Kulturfestivals, wie das internationale Musikfestival Llangollen Eisteddfod, Konzerte, Prozessionen, wie z. B. in Veurne in Belgien, Schmalspurdampflokomotiven, Nordic Walking und traditionelle Tanzgruppen, sie alle leisten einen enormen Beitrag zur Erhaltung und Förderung des kulturellen Erbes im ländlichen Raum. Der sich über viele Generationen erstreckende Beitrag, den Freiwillige zu diesen Veranstaltungen geleistet haben, ist ein eigener wichtiger Teil unseres kulturellen Erbes. Die Arbeit des Europäischen Freiwilligenzentrums (CEV) und nationaler und regionaler gemeinnütziger Organisationen, die sich für die Förderung hochwertiger kultureller Freiwilligentätigkeit einsetzen, wird begrüßt, und sie alle werden ermutigt, in ihren wertvollen Anstrengungen fortzufahren, zu denen auch die Durchführung von Gesundheitsschutz- und Sicherheitsschulungen gehört, um Freiwilligen und Touristen gleichermaßen ein sicheres und unterhaltsames Erlebnis zu bieten.

3.16.

Es besteht jedoch ein zunehmender Mangel an qualifizierten Handwerkern, die ihr Wissen weitergeben können und die einer neuen Generation zeigen können, wie dieses vielfältige Erbe geschützt und entwickelt werden kann. Im Rahmen der von Frankreich ausgehenden JEMA-Initiative (20) wird regelmäßig die Arbeit von Handwerkern und die Notwendigkeit der Schulung neuer Generationen gefördert. Diesen Bedarf zu decken ist eine gute Gelegenheit, Generationen durch und für kulturelle Zwecke zusammenzubringen. Im Rahmen bestehender europäischer, nationaler und regionaler Programme sind die praktische Ausbildung und die Anerkennung der erworbenen Kompetenzen von zentraler Bedeutung. Der Schwerpunkt sollte nicht nur auf die vorhandenen handwerklichen und ökologischen Fähigkeiten gelegt werden, sondern auch auf die Weitergabe von Wissen, die Entwicklung neuer Techniken und das kulturelle Unternehmertum. Künstlerinnen und Künstler, aber auch andere Menschen benötigen Unterstützung, damit sie mit lokalen Schulen in ländlichen und städtischen Gebieten zusammenarbeiten und integrativ über Generationen und ethnische Gruppen hinweg kulturelle Ideen entwickeln können.

3.17.

Das kulturelle Erbe des ländlichen Raums ist auch eine Frage der partizipativen Demokratie. Es gibt eine starke europäische Tradition der gemeinschaftlichen Solidarität und des Kampfs gegen Isolation und Benachteiligung durch Gemeinschaftsaktionen, die häufig in kultureller Form stattfinden. Der Aufbau einer lokalen nachhaltigen Leitung und die Verwirklichung lokaler Prioritäten durch die LEADER-Methode sowie von der örtlichen Bevölkerung betriebene lokale Entwicklung (CLLD) sind Teil des Vermächtnisses organisierter zivilgesellschaftlicher Gruppen und Bewegungen. Soziale und kulturelle Aktivitäten helfen dabei, Menschen in geografischen Gebieten mit wenigen öffentlichen und privaten Dienstleistungen zusammenzubringen. Die Tradition, dass Freiwillige tätig werden — manchmal die letzte Möglichkeit des Handelns — erhält empfindliche, verletzliche Landschaften, in denen Menschen überleben können. Eine öffentliche Unterstützung dieser Tätigkeit ist lebensnotwendig.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Neue Kulturagenda (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(2)  https://ec.europa.eu/culture/news/new-european-agenda-culture_de

(3)  Konferenz des EWSA vom 20./21. Juni 2016.

(4)  Entschließung Nr. 2 der für Raumordnung und -planung zuständigen Konferenz der europäischen Minister der Mitgliedstaaten des Europarats (CEMAT) zur gesamteuropäischen Charta für das ländliche Erbe: Förderung einer nachhaltigen Raumplanung — „Das ländliche Erbe als ein Faktor des territorialen Zusammenhalts“, angenommen auf der 15. Konferenz der CEMAT, Moskau, Russische Föderation, 9. Juli 2010.

(5)  http://www.alpine-space.eu/projects/alpfoodway/en/home

(6)  http://www.terract.eu/fr/

(7)  https://www.bangor.ac.uk/studentlife/studentnews/gift-s-marine-renewable-visit-to-plas-newydd-18421

(8)  https://www.facebook.com/agroktima.artfarm/

(9)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Neue Kulturagenda (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(10)  https://www.gruenewoche.de/

(11)  Projekt AttivAree in der Lombardei.

(12)  http://www.alpine-space.eu/projects/youralps/en/home

(13)  Projekt von Andrew Skerrett, das in der Anhörung der Studiengruppe am 24. Juli 2018 in Cardiff vorgestellt wurde.

(14)  Innovation Trust — positive Ergebnisse im Bereich Projekttage Gartenbau.

(15)  https://ec.europa.eu/info/events/innovation-and-cultural-heritage-2018-mar-20_de

(16)  Primärschule Darren Park in Ferndale unter https://jamesprotheroe.wordpress.com/

(17)  http://piscu.ro/piscu-school/#

(18)  https://www.eesc.europa.eu/de/node/52237

(19)  http://www.rwas.wales/royal-welsh-show/

(20)  Journées Européennes des Métiers d’Art [europäische Tage des Kunsthandwerks] https://www.journeesdesmetiersdart.fr/


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/28


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu „Auswirkungen von Subsidiarität und Gold Plating auf Wirtschaft und Beschäftigung“

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des österreichischen Ratsvorsitzes)

(2018/C 440/05)

Berichterstatter:

Dimitris DIMITRIADIS

Mitberichterstatter:

Wolfgang GREIF

Befassung

Österreichischer Ratsvorsitz, 12.2.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

192/1/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt das Ersuchen des österreichischen EU-Ratsvorsitzes um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema „Auswirkungen von Subsidiarität und Gold Plating auf Wirtschaft und Beschäftigung“, das die Diskussionen über bessere Rechtsetzung im Interesse der Rechtssicherheit und klarer Regeln bereichert und ergänzt und gewährleisten soll, dass der Verwaltungsaufwand für Unternehmen, Bürger und die öffentlichen Verwaltungen auf ein Mindestmaß beschränkt wird (1). Das derzeit bestehende Schutzniveau für Bürger, Verbraucher, Arbeitnehmer, Investoren sowie die Umwelt darf bei der Umsetzung von EU-Rechtsvorschriften in keinem Mitgliedstaat infrage gestellt werden.

1.2.

Der EWSA bekräftigt, dass Zukunftsfragen, einschließlich der Diskussionen über Zuständigkeiten und über das Ausmaß der Regulierung, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene und unter umfassender Einbeziehung der Sozialpartner und weiterer zivilgesellschaftlicher Organisationen angesprochen werden müssen. Dies ist ein grundlegender Ausdruck einer partizipativen Mehrebenendemokratie und muss daher in der EU und in den Mitgliedstaaten gestärkt werden.

1.3.

Der EWSA hebt hervor, wie wichtig die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit für eine umfassende und vernünftige Rechtsetzung in der EU sind. Er betont, dass sich die EU auf die Bereiche konzentrieren sollte, in denen EU-Vorschriften einen spürbaren Mehrwert bringen. Die Europäische Kommission sollte deshalb die Themen herausarbeiten, bei denen eine Behandlung auf EU-Ebene tatsächlich am wirkungsvollsten ist. Immer dann, wenn bei Entscheidungen nationale, regionale und lokale Besonderheiten beachtet werden müssen, sollten die zuständigen Stellen die Möglichkeit haben, diese zu spezifizieren, und dabei die einschlägigen Interessenträger, einschließlich der Sozialpartner, aktiv einbeziehen.

1.4.

Innerhalb des EWSA gibt es verschiedene Auffassungen zum Begriff Gold Plating, die die unterschiedlichen Standpunkte der einzelnen Akteure widerspiegeln. Zwar existiert bislang noch keine klare Definition, doch bezieht sich Gold Plating allgemein auf eine Situation, in der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung in nationales Recht Anforderungen einführen, die über das in der EU-Rechtsetzung (hauptsächlich in Richtlinien) festgelegte Mindestmaß hinausgehen. Die Kommission sollte Leitlinien festlegen, die den Mitgliedstaaten dabei helfen, die entsprechenden Anforderungen eines Rechtsakts korrekt in einzelstaatliches Recht umzusetzen, und zugleich die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität wahren sowie auf faire Wettbewerbsbedingungen achten.

1.5.

Der EWSA stellt fest, dass insbesondere mit Blick auf Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit sowie gemäß dem EU-Recht allein die Mitgliedstaaten dafür zuständig sind, zusätzlich zu den von der EU vorgesehenen (Mindest-)Anforderungen Maßnahmen zu ergreifen, um ihren konkreten Besonderheiten Rechnung zu tragen. Solche Entscheidungen sollten auf transparente Weise und nach der Konsultation der Sozialpartner und Interessenträger getroffen werden und dem EU-Recht entsprechen. In diesem Zusammenhang stellt der EWSA nicht die Souveränität, Freiheit und Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Festlegung nationaler Vorschriften und Verfahren infrage.

1.6.

Der EWSA fordert die Organe der EU sowie die Mitgliedstaaten auf, ihre Bemühungen um den Abbau von unnötigem Verwaltungsaufwand zu verstärken und so Wachstum und die Schaffung nachhaltiger Beschäftigung zu fördern.

1.6.1.

Der EWSA fordert die Kommission auf, im Zuge der Vorbereitung des mehrjährigen Finanzrahmens für den Zeitraum 2021-2027 rasch Maßnahmen zum Abbau des unnötigen Verwaltungsaufwands zu ergreifen, der ESIF-Investitionen stark behindert, darunter Vorschriften für staatliche Beihilfen und für die Vergabe öffentlicher Aufträge, Prüfverfahren und die verzögerte, manchmal sogar erst rückwirkende Annahme allgemeiner, detaillierter Leitlinien.

1.6.2.

Der EWSA betont, dass ein unnötiger Regelungs- und Verwaltungsaufwand hinderlich ist, wenn es darum geht, für Unternehmen, Bürger und öffentliche Stellen die Vorteile zu maximieren und die Regulierungskosten zu minimieren. Er hebt erneut hervor, dass eine vereinfachte, konsistente und hochwertigere Rechtsetzung notwendig ist, die die Beteiligten gut verstehen und umsetzen müssen. Gleichermaßen ist die Beteiligung aller vier Regierungsebenen — EU-, nationale, lokale und regionale Ebene — unabdingbar.

1.6.3.

Wie in früheren Stellungnahmen (2) empfiehlt der EWSA, die Auswirkungen auf KMU in den Folgenabschätzungen der Kommission eingehend zu bewerten.

1.7.

Der EWSA hebt erneut hervor, dass europäische Mindeststandards, vor allem im Bereich der Sozial-, Verbraucher- und Umweltpolitik, darauf abzielen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der EU einander anzugleichen, um so eine stärkere soziale Konvergenz auf möglichst hohem Niveau zu erreichen. Mindestanforderungen in EU-Richtlinien sollten nicht im Sinnes eines „Höchststandards“ ausgelegt werden, der im Zuge der Umsetzung in einzelstaatliches Recht nicht überschritten werden darf. Nach Auffassung des EWSA darf die Akzeptanz der europäischen Integration in der Öffentlichkeit jedoch nicht durch einen Regelungswettbewerb um möglichst niedrige Standards gefährdet werden. Alle Entscheidungen müssen auf transparente Weise und nach einem offenen Dialog mit den Sozialpartnern und den Organisationen der Zivilgesellschaft getroffen werden.

2.   Einführung

2.1.

Der österreichische EU-Ratsvorsitz hat den EWSA um eine Sondierungsstellungnahme zu den „Auswirkungen von Subsidiarität und Gold Plating auf Wirtschaft und Beschäftigung“ ersucht.

2.2.

Der EWSA stellt fest, dass das Ersuchen sowohl das Subsidiaritätsprinzip als auch das Gold Plating betrifft und somit die aktuellen Diskussionen zur Frage der besseren Rechtsetzung erweitert, zu der sich der EWSA bereits in mehreren kürzlich verabschiedeten Stellungnahmen (3) geäußert hat.

2.3.

Das Thema Subsidiarität hat in jüngster Zeit wieder an Bedeutung gewonnen, nicht zuletzt durch das Weißbuch zur Zukunft Europas. Die im November 2017 von Kommissionspräsident Juncker eingesetzte Taskforce für Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit hat einen Bericht (4) mit Empfehlungen dazu vorlegt, wie das Subsidiaritätsprinzip besser angewandt werden könnte.

Nach Auffassung des EWSA ist der Bericht nicht umfassend genug, was möglicherweise auf die begrenzte Zusammensetzung der Taskforce zurückzuführen ist. Er schlägt deshalb nachdrücklich vor, Vertreter der Zivilgesellschaft aktiv in die Folgeveranstaltungen einzubinden. Der EWSA hält es für dringend notwendig, sich mit der Verhältnismäßigkeit europäischer Maßnahmen und vor allem den Bereichen zu befassen, in denen die EU ihre Tätigkeit in einer Weise verstärken, verringern oder sogar einstellen sollte, die den Interessen der Bürger, der Wirtschaft sowie anderen gesellschaftlichen Interessen gleichermaßen gerecht wird.

2.4.

Aus Sicht des EWSA müssen diese Zukunftsfragen auf nationaler und auf EU-Ebene unter Einbeziehung der Sozialpartner und anderer Organisationen der Zivilgesellschaft behandelt werden. Wenn ihre Standpunkte in die Ausarbeitung und Umsetzung von nationalen und EU-Maßnahmen gleichermaßen einbezogen würden wie die Standpunkte der lokalen und regionalen Ebene, könnte die horizontale Subsidiarität sichtbarer praktiziert werden.

2.5.

Der EWSA begrüßt es, dass der österreichische Ratsvorsitz den Wert der Einbeziehung des umfassenden Fachwissens der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft in die Gestaltung, Umsetzung und Bewertung der Maßnahmen auf nationaler und EU-Ebene erkannt hat. Dies ist ein grundlegender Ausdruck einer partizipativen Mehrebenendemokratie und muss daher in der EU und in den Mitgliedstaaten gestärkt werden.

2.6.

Entsprechend fordert der EWSA die Taskforce auf, seine Stellungnahmen zu Subsidiarität und Proportionalität, die auch die Grundlage für die in dieser Stellungnahme enthaltenen Bemerkungen und Empfehlungen sind, gebührend zu berücksichtigen.

3.   Das Subsidiaritätsprinzip

3.1.

Mit dem Subsidiaritätsprinzip gemäß Artikel 5 EUV soll sichergestellt werden, dass das Tätigwerden der EU nicht über das hinausgeht, was für die Verwirklichung der Vertragsziele notwendig ist, und dass die EU in Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur dann tätig wird, wenn die Ziele einer legislativen Maßnahme auf EU-Ebene wirksamer erreicht werden können als auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene.

3.2.

Der EWSA betont, dass diese Grundsätze in einer supranationalen Gemeinschaft wie der EU besonders wichtig sind, und begrüßt ausdrücklich die Instrumente zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips, die mit dem Vertrag von Lissabon geschaffen wurden: von der Subsidiaritätsprüfung vor der Annahme eines Rechtsakts hin zur Subsidiaritätsbeschwerde nationaler Gesetzgebungsorgane.

3.3.

Der EWSA betont zudem, dass alle im AEUV vorgesehenen Bereiche ein gut funktionierendes Europa erfordern und dass das Subsidiaritätsprinzip nicht missbraucht werden darf, um EU-Maßnahmen mit eindeutigem europäischem Mehrwert entgegenzuwirken, von vornherein nationale Ansätze zu bevorzugen oder die EU gar ganz aus wesentlichen Politikbereichen herauszuhalten. Es sollten nur Regeln mit einem europäischen Mehrwert verabschiedet werden. Der EWSA ist der Auffassung, dass den Herausforderungen, mit denen der Kontinent derzeit konfrontiert ist, nicht durch Renationalisierung im Sinne von „weniger Europa“ begegnet werden sollte, sondern dass mutige Schritte in Richtung eines besseren und bürgerfreundlicheren Europas unternommen werden müssen, durch das auch der Zusammenhalt gefördert wird.

3.4.

Der EWSA stellt fest, dass die Mitgliedstaaten im Gesetzgebungssystem der EU gerade bei der Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht eine wesentliche Rolle spielen, da Richtlinien im Hinblick auf das zu erreichende Ergebnis bindend sind, die Art und Weise der Umsetzung jedoch von den nationalen Regierungen selbst festlegt wird, die auch höhere Standards einführen können, sofern sie dies als sinnvoll erachten und dies im Einklang mit dem EU-Recht steht. Gleichzeitig sollte die Umsetzung die Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen für sämtliche Teilnehmer des Binnenmarkts nicht behindern, da dies wichtig für dessen ordnungsgemäßes Funktionieren ist.

3.5.

Während die Mitgliedstaaten dafür verantwortlich sind, Richtlinien exakt und fristgerecht umzusetzen, wacht die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge über die ordnungsgemäße Umsetzung auf nationaler Ebene. Diese gemeinsame Verantwortung sollte von Beginn des Gesetzgebungsverfahrens an klar erkennbar sein. Die reibungslose Umsetzung hängt von einer klaren, transparenten und umfassenden Folgenabschätzung als Grundlage neuer EU-Vorschriften, einer eindeutigen und einfachen sprachlichen Formulierung des Vorschlags sowie realistischen Umsetzungsfristen ab.

3.6.

Der EWSA warnt jedoch davor, dass die Umsetzung auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene unzureichend bzw. unwirksam sein kann, selbst wenn die oben genannten Anforderungen erfüllt sind. Er fordert die Kommission erneut auf (5), ihre Anstrengungen entsprechend ihren Zuständigkeiten systematisch zu verstärken, um Fälle, in denen Mitgliedstaaten EU-Rechtsvorschriften fehlerhaft oder gar nicht umsetzen, schneller und strenger zu verfolgen, nachdem alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit ausgeschöpft sind.

3.7.

Der EWSA stellt fest, dass es einige rechtliche und politische Initiativen gibt, die als Überziehung der Zuständigkeit der EU-Institutionen und als Einmischung in die Domänen und Entscheidungen der Mitgliedstaaten gewertet werden (z. B. im Bereich der Arbeitgeber-/Arbeitnehmerbeziehungen und Initiativen der Gewerkschaften in den einzelnen Ländern, bei Renten-, Gesundheits- und anderen Systemen der sozialen Sicherheit oder bei berufsständischen Regelungen, etwa in Bezug auf die Kriterien für Qualifikationen im Gesundheitswesen).

Der EWSA spricht sich deshalb nicht nur dagegen aus, dass die EU-Institutionen ihre Zuständigkeiten überziehen, sondern auch dagegen, dass wichtige Regelungsbereiche des AEUV, beispielsweise Verbraucherschutz, Umweltschutznormen und europäische Sozialpolitik, unter dem Vorwand der Subsidiarität auf die nationale Ebene übertragen werden.

4.   Vermeidung unnötigen Regelungs- und Verwaltungsaufwands — Gold Plating

4.1.   Die Debatte über Gold Plating

4.1.1.

Bei der Umsetzung von EU-Vorschriften gehen die Mitgliedstaaten bisweilen über die in der Vorschrift (gewöhnlich in einer Richtlinie) festgelegten Mindestanforderungen hinaus oder schöpfen die in der Richtlinie enthaltenden Möglichkeiten für Vereinfachungen nicht aus. Dies wird vielfach als Gold Plating bezeichnet. Im ersten Fall handelt es sich um aktives Gold Plating, im zweiten um passives Gold Plating.

4.1.2.

Innerhalb des EWSA gibt es verschiedene Auffassungen zum Gold Plating, die die unterschiedlichen Standpunkte der einzelnen Akteure widerspiegeln. Für einige Interessenträger ist es ein Übermaß an Vorschriften, Leitlinien und Verfahren auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene, das unnötigen Verwaltungsaufwand verursacht und die Umsetzung der angestrebten politischen Ziele, die durch einen solchen Rechtsakt verwirklicht werden sollen, behindert. Andere Interessenträger sind jedoch der Ansicht, dass mit der Verwendung des stigmatisierten Begriffs Gold Plating höhere Standards, die in einigen Mitgliedstaaten auf demokratischem Wege beschlossen und ins Rechtssystem aufgenommen wurden, infrage gestellt werden könnten, vor allem im Arbeits-, Verbraucher- und Umweltrecht sowie im Hinblick auf freie Berufe.

4.1.3.

Der EWSA fordert einen pragmatischen und ausgewogenen Ansatz und wird sich für die Zwecke dieser Stellungnahme im Einklang mit der Interinstitutionellen Vereinbarung über bessere Rechtsetzung vom Mai 2016 um eine neutrale und präzisere Terminologie bemühen.

4.2.   Definition von Gold Plating

4.2.1.

Der EWSA schlägt vor, Gold Plating präziser zu definieren. In den Fällen, in denen Mitgliedstaaten den Inhalt von EU-Vorschriften ambitionierter umsetzen (in Bezug auf den Regelungsgegenstand oder Verfahrensfragen) oder bestrebt sind, im Einklang mit dem nationalen Recht vorzugehen, könnte von „weitergehenden“ oder „stringenteren“ Bestimmungen oder „höheren Anforderungen“ gesprochen werden. Er schlägt vor, den Ausdruck Gold Plating nur dann zu verwenden, wenn bei der Umsetzung von EU-Rechtsvorschriften in nationales Recht unangemessene und unnötige Ergänzungen vorgenommen werden, die im Lichte eines oder mehrerer Ziele der vorgeschlagenen Maßnahme nicht gerechtfertigt sind oder die einen unnötigen zusätzlichen Verwaltungsaufwand verursachen. In jedem Fall ist der Ausdruck Gold Plating sehr allgemein, seine Übersetzung in viele Sprachen ist irreführend, und er sollte durch einen konkreteren Ausdruck ersetzt werden.

4.2.2.

Unabhängig von der Terminologie (und selbst wenn der Ausdruck Gold Plating möglicherweise verwendbar wäre) bekräftigt der EWSA, dass sich dieser Begriff insbesondere nicht beziehen sollte auf:

die Einschränkung eingeführter Standards in Bereichen wie dem Arbeits-, Sozial-, Verbraucher- und Umweltrecht im Zusammenhang mit der Umsetzung und Anwendung von EU-Vorschriften;

nationale Maßnahmen, die keinen (sachlichen oder zeitlichen) Zusammenhang zur Umsetzung von EU-Vorschriften aufweisen;

die Konkretisierung allgemeiner Bestimmungen einer EU-Vorschrift im Zuge ihrer Umsetzung (etwa Festlegung konkreter rechtlicher Sanktionen bei Verstößen);

die Anwendung einer von mehreren ausdrücklich genannten Optionen für die Umsetzung von EU-Recht;

vorteilhaftere nationale Bestimmungen, die auf der Grundlage des Regressionsverbots im EU-Recht über die Mindeststandards hinausgehen;

die Anwendung des Inhalts einer Richtlinie auf ähnliche Fälle im Interesse der Kohärenz und Konsistenz nationaler Rechtsvorschriften.

4.2.3.

Der EWSA bekräftigt, dass das Subsidiaritätsprinzip es den Mitgliedstaaten erlaubt, strengere Vorschriften einzuführen, wenn sie ihr Recht auf Verwirklichung verschiedener Ziele wahrnehmen (etwa in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Umwelt), und zu zeigen, dass sie sich einem hohen Schutzniveau, der besonderen Natur eines rechtlichen Instruments wie einer Richtlinie oder bestimmten Zuständigkeitsgrenzen verpflichtet fühlen. Der EWSA betont, dass eine solche strengere Handhabung nur nach einem transparenten und umfassenden Austausch mit den Sozialpartnern und Interessenträgern sowie im Geiste des gegenseitigen Verständnisses und eines ausgewogenen Beschlussfassungsverfahrens erfolgen sollte.

4.3.   Gold Plating und bessere Rechtsetzung

4.3.1.

Im Rahmen der Agenda für bessere Rechtsetzung erkennt die Kommission das Recht der Mitgliedstaaten an, über die in der EU-Rechtsetzung festgelegten Standards hinauszugehen (Gold Plating), ist jedoch besorgt über den diesbezüglichen Mangel an Transparenz. Das Vereinigte Königreich, die Niederlande, Belgien, Deutschland und Österreich haben Verfahren geschaffen, um Fälle von Gold Plating zu ermitteln. Im Vereinigten Königreich und in den Niederlanden wird Gold Plating mittels einer zentralisierten offiziellen Politik reguliert, mit der das Wirtschaftswachstum gefördert werden soll.

4.3.2.

Der EWSA stellt die geltenden Verträge, insbesondere die Zuständigkeiten der EU und der Mitgliedstaaten, in keiner Weise infrage, betont jedoch, dass die allgemeinen „Grundsätze des Unionsrechts zu beachten [sind], wie die Grundsätze der demokratischen Legitimität, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sowie Rechtssicherheit“. Dies bedeutet unter anderem, die demokratische Souveränität, Freiheit und Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Gestaltung nationaler Gesetze und Verfahren zu respektieren, bei denen die diesbezügliche Rolle der Sozialpartner angemessen berücksichtigt worden ist. Der EWSA hat sich seit jeher dafür ausgesprochen, dass die Abfassung der Rechtsvorschriften der EU einfacher, klarer und konsistenter und das Gesetzgebungsverfahren transparenter werden muss.

4.3.3.

Der EWSA hat wiederholt betont, dass die „europäischen Rechtsvorschriften […] ein wesentlicher Integrationsfaktor [sind], der keine Belastung oder zu verringernde Kosten darstellt. Wenn die Rechtsvorschriften [ausgewogen], verhältnismäßig [und nichtdiskriminierend] sind, dann sind sie vielmehr ein Garant des Schutzes, der Förderung und der Rechtssicherheit, die für sämtliche Akteure und europäischen Bürger wichtig sind“ (6). In diesem Sinne betont er erneut seinen Standpunkt, dass Rechtsetzung notwendig ist, um die Ziele des EU-Vertrags zu verwirklichen und geeignete Rahmenbedingungen für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum zum Vorteil der Bürger, Unternehmen und Arbeitnehmer zu schaffen (7). Außerdem trägt Rechtsetzung gemäß Artikel 3 AEUV dazu bei, das Wohlergehen zu verbessern, das öffentliche Interesse und die Grundrechte zu schützen, ein hohes Sozial- und Umweltschutzniveau zu fördern und Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit sicherzustellen. Darüber hinaus sollte sie Wettbewerbsverzerrung und Sozialdumping verhindern (8).

4.3.4.

Bei der Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht fügen die Mitgliedstaaten mitunter Elemente hinzu, die mit den betreffenden EU-Rechtsvorschriften in keinem eindeutigen Zusammenhang stehen. Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Hinzufügungen entweder in den Umsetzungsvorschriften oder durch diesbezügliche Dokumente kenntlich gemacht werden müssen. Es ist grundsätzlich legitim, dass Mitgliedstaaten EU-Rechtsakte, die der Mindestharmonisierung dienen, ergänzen, sofern dies transparent erfolgt und die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Es gibt viele Beispiele für eine nicht-minimale Umsetzung von Richtlinien in den Mitgliedstaaten, die als Gold Plating betrachtet werden können.

4.3.5.

Der EWSA betont, dass die Mitgliedstaaten im Fall einer Mindestharmonisierung durchaus Bestimmungen vorsehen können, die folgenden Zielen dienen: Förderung der Beschäftigung, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, angemessener sozialer Schutz, dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und Bekämpfung von Ausgrenzung (Artikel 151 AEUV), Förderung und Entwicklung von KMU und hohes Niveau beim Schutz von Gesundheit und Verbraucherrechten (Artikel 168 und 169 AEUV) sowie Schutz der Umwelt (Artikel 191 AEUV) — ohne dabei jedoch unnötigen Regelungs- oder Verwaltungsaufwand zu verursachen.

4.4.

Nach Auffassung des EWSA tragen folgende Maßnahmen dazu bei, unnötigen Regelungs- und Verwaltungsaufwand zu vermeiden:

Die Kommission sollte im Rahmen der europäischen Rechtsetzung integrierte Folgenabschätzungen durchführen, bei denen für jeden wesentlichen Rechtsakt unnötiger Aufwand sowie jede andere Auswirkung angemessen berücksichtigt werden.

Die EU-Vorschriften müssen im Hinblick auf ihren eigenen Beitrag im konkreten Fall bewertet werden, um eine gezielte Harmonisierung zu erreichen, die den Umständen entsprechend in einigen Bereichen stärker ausgeprägt ist als in anderen. Es ist an der Kommission, auf Grundlage der Folgenabschätzung das passendste Harmonisierungsniveau vorzuschlagen und dabei ein hohes Schutzniveau sicherzustellen.

Die Mitgliedstaaten sollten bei der Umsetzung von EU-Rechtsakten in einzelstaatliches Recht auf nationaler und regionaler Ebene vollkommen transparent mit allen zusätzlichen Anforderungen umgehen, die den Binnenmarkt, die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstum beeinträchtigen könnten.

Dass ein Mitgliedstaat weniger strenge Vorschriften vorsieht als ein anderer, bedeutet nicht automatisch, dass letzterer unverhältnismäßige und mit EU-Recht unvereinbare Vorschriften erlassen hat. Dies muss der Mitgliedstaat im Einzelfall bewerten und dabei die Standpunkte aller Interessenträger sowie den gesamten ordnungspolitischen Kontext berücksichtigen. Folgenabschätzungen könnten hier ein wichtiges Werkzeug sein.

Die Notwendigkeit zusätzlicher Anforderungen im Rahmen der Umsetzung einer Richtlinie sollte in jedem Falle durch beigefügte Dokumente belegt werden, in denen die speziellen Gründe für diese Hinzufügungen transparent dargelegt werden.

4.5.

Um zu verhindern, dass Unternehmen und andere Interessenträger gegenüber entsprechenden Akteuren in anderen Mitgliedstaaten einen Wettbewerbsnachteil haben, sollte die Kommission Leitlinien festlegen, die den Mitgliedstaaten dabei helfen, die Anforderungen eines Rechtsakts korrekt in einzelstaatliches Recht umzusetzen und gleichzeitig die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität zu wahren sowie faire Wettbewerbsbedingungen sicherzustellen. Der EWSA bekräftigt in dieser Hinsicht seine Forderung nach bestmöglicher Einbeziehung der Sozialpartner und anderer einschlägiger Interessenträger in die Umsetzung sowie einer engen Einbindung der Mitgliedstaaten und der nationalen und regionalen Parlamente in die entsprechenden Ex-post-Bewertungen (9).

4.6.

Empfehlungen des EWSA für eine effiziente Umsetzung:

4.6.1.

Die Mitgliedstaaten sollten die Fristen für die Umsetzung beachten, damit ausreichend Zeit für die Anhörung aller relevanten Interessenträger zur Verfügung steht.

Bei der Vorbereitung der nationalen Rahmenpositionen für die ersten Verhandlungen in den Arbeitsgremien der Mitgliedstaaten muss die Frist für die Umsetzung beachtet werden.

Es sollte geprüft werden, ob in der Richtlinie nicht zwei Fristen vorgesehen sind: eine für die Erstellung des nationalen Umsetzungsrechtsakts und eine für das Inkrafttreten des EU-Rechtsakts.

Die Umsetzungsfrist muss eingehalten und über das gesamte Legislativverfahren hinweg überwacht werden.

Die Pläne der Kommission für die Umsetzung bieten Hilfe und Unterstützung.

4.6.2.

Konsultationen:

Auf EU-Ebene kann sich die Unterstützung, die die Kommission im Umsetzungsverfahren bereitstellt, beispielsweise Empfehlungen und Diskussionen in Expertengruppen, als sinnvoll erweisen und zu einem übereinstimmenden Verständnis unter den Mitgliedstaaten beitragen.

Die Europäische Kommission sollte die bestehenden Verfahren für die Umsetzung (Leitlinien) anpassen, nicht nur um sicherzustellen, dass die Umsetzung von Richtlinien nicht im Widerspruch zum europäischen Recht steht, sondern auch um die Effizienz der Umsetzung zu gewährleisten.

Die Bereitstellung spezieller Online-Plattformen (wie des bereits existierenden elektronischen Notifizierungssystems) oder einer elektronischen Datenbank für konkrete EU-Rechtsakte zum Austausch bewährter Verfahren durch die Kommission könnte weiterentwickelt werden. Das Regieren auf mehreren Ebenen sollte gefördert werden und alle relevanten Akteure umfassen.

4.6.3.

Begrifflichkeiten und delegierte Rechtsakte:

Den Mitgliedstaaten wird empfohlen, während des gesamten Verhandlungsprozesses im Rat auf präzise und vereinbarte Formulierungen zu achten.

Grundlegende Begriffe und Definitionen müssen so schnell wie möglich in der Anfangsphase der Verhandlungen klar definiert werden.

Die Kommission muss unterschiedliche Bedeutungen von Termini und Definitionen in den Mitgliedstaaten berücksichtigen.

Die Begriffsbestimmungen in einem Rechtsakt sollten mit denjenigen in anderen EU-Rechtsakten übereinstimmen.

Delegierte Rechtsakte sollten den in Artikel 290 AEUV festgelegten Anforderungen unterliegen, wonach im zugrunde liegenden Rechtsakt klare und explizite Begriffsbestimmungen vorzunehmen sind.

Delegierte Rechtsakte sollten nur für nicht wesentliche Aspekte des zugrunde liegenden Rechtsakts erlassen werden, und nur diese Teile dürfen ergänzt oder geändert werden (10).

5.   Bestimmte sensible Bereiche

5.1.   Europäische Struktur- und Investitionsfonds (ESIF)

5.1.1.

Die europäische Kohäsionspolitik, insbesondere die Strukturfonds und der Europäische Sozialfonds, wird in einem komplexen administrativen, institutionellen und ordnungspolitischen Umfeld umgesetzt und ist ein spezieller Bereich, in dem eine unnötige und schwerfällige Umsetzung der EU-Politik schaden kann. In diesem Kontext gewährleisten nationale und/oder regionale Vorschriften oft nicht nur die Einhaltung von (europäischen) Mindestanforderungen, sondern „packen noch einen drauf“. Viele dieser Regeln führen zu zusätzlichem Verwaltungsaufwand. Bemerkenswerterweise beruhen zusätzliche Anforderungen oft auf der Annahme, dass sie wichtig, nützlich, notwendig und das Ergebnis eines demokratischen Prozesses seien.

5.1.2.

Der EWSA fordert die Kommission auf, im Zuge der Vorbereitung des mehrjährigen Finanzrahmens für den Zeitraum 2021-2027 den unnötigen Verwaltungsaufwand rasch anzugehen, der ESIF-Investitionen stark behindert, darunter Vorschriften für staatliche Beihilfen und die Vergabe öffentlicher Aufträge, Prüfverfahren und die verzögerte, manchmal sogar erst rückwirkende Annahme allgemeiner, detaillierter Leitlinien. Die Verantwortung für den Abbau bzw. die Vermeidung unnötigen Verwaltungsaufwands liegt bei allen Akteuren.

5.1.3.

Unangemessene Verfahren können im gesamten ESIF-Umsetzungssystem zu mangelndem Vertrauen führen: Risikoscheu auf allen Ebenen, eine inkohärente Auslegung der Antworten der unterschiedlichen Generaldirektionen der Kommission, nach wie vor existierende Lücken in der Harmonisierung der ESIF-Vorschriften auf nationaler, lokaler und regionaler Ebene, Angst vor der Nichteinhaltung des Beihilferechts, unterschiedliche Ansätze auf EU-Ebene (Schwerpunkt auf Transparenz) und nationaler Ebene (Schwerpunkt auf dem Kosten-Nutzen-Verhältnis) bei der Vergabe öffentlicher Aufträge sowie unterschiedliche nationale Verwaltungskulturen.

5.1.4.

Auch unangemessene Verfahren können sich sowohl auf Begünstigte als auch auf programmführende Stellen negativ auswirken, Verwaltungskosten und -aufwand bei der ESIF-Umsetzung erhöhen und die Attraktivität der ESIF mindern. Fehlende alternative Konfliktlösungsmechanismen können Probleme für Unternehmen, insbesondere für KMU, mit sich bringen, beispielsweise Zahlungsverzug, administrative Überlastung, unangemessene Kontrolle, Ablehnung von Projekten, Ausschluss aus Kollektivmaßnahmen usw. Der EWSA plädiert deshalb für die Schaffung spezieller Konfliktlösungssysteme.

5.1.5.

Empfehlungen für künftige Maßnahmen im Zeitraum 2021-2027

5.1.5.1.

Verringerung des Aufwands für Verwaltung und Kontrolle:

Rasche Maßnahmen auf der Ebene der EU und der Mitgliedstaaten, um redundante Verfahren, Prozesse und Vorgehensweisen zu ermitteln und wenn möglich zu beseitigen und auf der Grundlage bewährter Verfahren wirksamere Lösungen vorzuschlagen.

Eine wesentliche Ursache für die Komplexität der ESIF ist die gemeinsame Verwaltung. Es sollte ein „integrierter Ansatz“ angewandt werden, bei dem die Verwaltung und Kontrolle der ESIF auf der Grundlage nationaler Standards erfolgt („dezentrale Verwaltung“).

Die Mitgliedstaaten überprüfen selbst die Leistung ihrer Systeme für Rechnungsprüfung, Verwaltung und Kontrolle, um überflüssige und sich überschneidende Regelungen zu ermitteln und zu beseitigen, wobei zugleich die korrekte Verwendung der EU-Mittel gewährleistet sein muss.

Die Kommission muss bei der Entwicklung einschlägiger Vorschriften und Verfahren verstärkt die Intensität der Finanzhilfen und die Besonderheiten der verschiedenen Umsetzungsmodelle und -verfahren (d. h. Zuschüsse, Finanzinstrumente, vereinfachte Kostenregelungen usw.) berücksichtigen.

5.1.5.2.

Der EWSA fordert, dass die Vorschriften über staatliche Beihilfen vereinfacht und stringent gestaltet und alle Unsicherheiten bezüglich ihrer Anwendung beseitigt werden. Es sollten Änderungen erwogen werden, gegebenenfalls auch der anwendbaren Vorschriften, sodass ähnliche ESIF-Projekte genauso behandelt werden wie Projekte, die aus den EFSI finanziert werden und Programme, die direkt von der Kommission verwaltet werden, beispielsweise Horizont 2020. Gleichzeitig mahnt der EWSA an, Unterlagen zur Auslegung, Leitlinien und Frage-und-Antwort-Dokumente so zu beschränken, dass sie nicht zu einer weiteren Ebene von De-facto-Gesetzgebung werden, und empfiehlt, sie durch eine umfassende Verbreitung empfehlenswerter Verfahren zu ersetzen und sicherzustellen, dass sie in keinem Fall rückwirkend Anwendung finden. Der EWSA fordert die Kommission dazu auf, nicht auf Basis einer Anfrage oder eines Problems in einem oder wenigen Mitgliedstaaten Leitlinien zu erstellen, die für alle Mitgliedstaaten gelten.

5.1.5.3.

Der EWSA schlägt vor, eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Vertretern der einschlägigen Generaldirektionen und Fonds zu bilden, die sich mit den verschiedenen Ansätzen im Umgang mit den Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge befasst, die Bestimmungen gegebenenfalls einheitlich auslegt, konsistente Beratung anbietet und einen einheitlichen Ansatz bei der Anwendung von Finanzkorrekturen verfolgt.

5.1.5.4.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass der Grundsatz der Subsidiarität bei der Umsetzung der ESIF besser berücksichtigt werden und die nationalen Behörden entsprechend prüfen sollten, ob die nationalen Vorschriften eingehalten werden. Er fordert die Mitgliedstaaten auf, die für den neuen Programmplanungszeitraum vorgesehenen Vereinfachungsmöglichkeiten vollständig auszuschöpfen, kein Gold Plating zu betreiben, was sich hier auf alle Normen, Leitlinien und Umsetzungsverfahren bezieht, die im Hinblick auf die von den Verwaltungsbehörden festgelegten politischen Ziele als unnötig erachtet werden, und unnötigen Verwaltungsaufwand zu beseitigen.

5.2.   Hin zu einer besseren Rechtsetzung

5.2.1.

Der EWSA betont, dass ein unnötiger Regelungs- und Verwaltungsaufwand hinderlich für Unternehmen, Bürger und öffentliche Stellen ist. Er hebt erneut hervor, dass eine vereinfachte, konsistente und hochwertigere Rechtsetzung notwendig ist, die für die Beteiligten gut verständlich ist und die sie transparent umsetzen müssen. Gleichermaßen ist die Beteiligung aller vier Regierungsebenen — EU-, nationale, lokale und regionale Ebene — unabdingbar.

5.2.2.

In einigen Mitgliedstaaten gibt es nationale Ausschüsse, vor denen die Regierungen Vorschriften, die über die im EU-Recht festgelegten Mindestanforderungen hinausgehen (Gold Plating), begründen müssen. Mitgliedstaaten, die nicht über solche Gremien verfügen, müssen keine neuen Verwaltungsstrukturen schaffen, doch sollte die Annahme von Anforderungen, die über EU-Standards hinausgehen, in diesen Ländern in transparenter Weise erfolgen.

5.2.3.

Wie in früheren Stellungnahmen (11) empfiehlt der EWSA, die Auswirkungen auf KMU in den Folgenabschätzungen zu Vorschlägen für neue EU-Rechtsakte gründlicher zu bewerten. Er fordert die Mitgliedstaaten auf, die Möglichkeit auszuschöpfen, Kleinstunternehmen im Einklang mit dem EU-Recht Ausnahmen von bestimmten Vorschriften zu gewähren. Der EWSA betont erneut, dass Ziele für die Verringerung des Verwaltungsaufwands auf einer umfassenden Bewertung unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft und des Dialogs mit Interessenträgern festgelegt werden sollten. Das derzeit bestehende Schutzniveau für Bürger, Verbraucher, Arbeitnehmer, Investoren sowie die Umwelt darf bei der Umsetzung von EU-Rechtsvorschriften in keinem Mitgliedstaat infrage gestellt werden (12).

5.2.4.

Der EWSA bekräftigt die Gleichwertigkeit und Homogenität der unterschiedlichen Ziele der EU-Politikbereiche im Einklang mit dem Vertrag und verweist insbesondere auf eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität.

5.2.5.

Der EWSA fordert die Kommission auf, wann immer angebracht und gerechtfertigt auch anreizbasierte Modelle sowie internationale Standards und Leitlinien in Erwägung zu ziehen.

6.   Auswirkungen auf Beschäftigungs-, Verbraucher- und Umweltstandards

6.1.

In den vergangenen Jahrzehnten wurde eine Reihe von EU-weiten Mindeststandards im Verbraucher-, Umwelt- und Arbeitnehmerschutz eingeführt, mit denen die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der EU nach oben angeglichen werden sollen d. h., dass gemäß Artikel 151 AEUV für stärkere soziale Konvergenz gesorgt werden soll.

6.2.

Der EU-Gesetzgeber hat bewusst die Möglichkeit zugelassen, dass in den Mitgliedstaaten Mindeststandards umgesetzt werden, solange die Grundsätze der EU-Verträge und insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfüllt sind. Im Ergebnis dessen ist in Richtlinien vorgesehen, dass Mitgliedstaaten ihre höheren Standards bei der Umsetzung berücksichtigen können. Der EWSA betont, dass in den Mitgliedstaaten, wenn diese denn ambitioniertere Schutzstandards einführen wollen, unter anderem die Grundsätze der besseren Rechtsetzung berücksichtigt werden können.

6.3.

Diese nationalen Standards sind das Ergebnis eines demokratischen Verhandlungsprozesses, an dem die europäischen und nationalen Sozialpartner umfassend beteiligt waren, und sie sind im Interesse von Arbeitnehmern, Verbrauchern und Unternehmen. Gemäß den Zielen des EU-Vertrags sollte die Festlegung solcher Mindeststandards dem besseren Funktionieren des Binnenmarkts dienen und darf sich zugleich nicht negativ auf höhere Schutzniveaus auf nationaler Ebene auswirken. Daher enthalten Mindeststandards im EU-Recht oft ausdrücklich ein sogenanntes Regressionsverbot, wonach die Umsetzung der Richtlinie nicht als Rechtfertigung für die Absenkung möglicherweise höherer nationaler Standards auf den EU-Standard dienen darf. Dies bedeutet allerdings nicht, dass nationale Standards in Stein gemeißelt sind und nicht verändert werden dürfen.

6.4.

Im Verlauf der Umsetzung von EU-Recht in nationales Recht könnten die Mitgliedstaaten Folgenabschätzungen vornehmen, um soziale, wirtschaftliche und sonstige Auswirkungen zu bewerten.

6.5.

In der Sozialpolitik wie auch beim Verbraucher- und Umweltschutz hat die EU-Gesetzgebung dafür gesorgt, dass höhere Standards in den Mitgliedstaaten nicht ausgehöhlt werden dürfen und gewahrt werden müssen. Dabei wurden alle Interessenträger in die Folgenabschätzungen einbezogen. In dieser Hinsicht hat der EWSA wiederholt festgestellt, dass mit der Agenda für bessere Rechtsetzung Rechtsvorschriften der Union von hoher Qualität verabschiedet werden sollten, ohne dabei die wichtigsten politischen Ziele zu unterminieren oder Druck im Sinne einer Deregulierung in Bezug auf sozialen Schutz, Umweltschutz und Grundrechte zu erzeugen (13).

6.6.

Der EWSA hebt erneut hervor, dass europäische Mindeststandards, vor allem im Bereich der EU-Sozialpolitik, darauf abzielen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der EU einander anzugleichen, um so eine stärkere soziale Konvergenz auf möglichst hohem Niveau zu erreichen. Mindestanforderungen in EU-Richtlinien sollten nicht im Sinnes eines „Höchststandards“ ausgelegt werden, der im Zuge der Umsetzung in einzelstaatliches Recht nicht überschritten werden darf.

6.7.

Der EWSA unterstützt die Initiative für bessere Rechtsetzung und erkennt ihren Nutzen an. Zugleich gibt er zu bedenken, dass sie keinesfalls als Vorwand für die Absenkung von Anforderungen herhalten darf, insbesondere in Bereichen wie Verbraucher-, Umwelt- und Arbeitsrecht, Förderung des Wohlstands, des Wachstums und der Schaffung nachhaltiger Arbeitsplätze. Der EWSA warnt davor, dass dies der zunehmenden EU-Skepsis in breiten Teilen der Bevölkerung Vorschub leisten könnte. Nach Auffassung des EWSA darf die Akzeptanz des europäischen Einigungsprozesses in der Öffentlichkeit nicht durch einen Regelungswettbewerb um möglichst niedrige Standards gefährdet werden.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  https://ec.europa.eu/info/law/law-making-process/planning-and-proposing-law/better-regulation-why-and-how_de

(2)  ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 1.

(3)  ABl. C 434 vom 15.12.2017, S.11; ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 192; ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 45; ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 51; ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 22.

(4)  https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/report-task-force-subsidiarity-proportionality-doing-less-more-efficiently_1.pdf

(5)  ABl. C 262 vom 25.7.2018, S 22; ABl. C 18 vom 19.1.2017, S. 10.

(6)  Vgl. unter anderem Ziffer 1.2 der Stellungnahme des EWSA zu REFIT, ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 45.

(7)  COM(2012) 746 final, S. 2.

(8)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 45, Ziffer 2.1.

(9)  ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 22, Ziffer 1.2.

(10)  CES248-2013 (Informationsbericht); ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 145.

(11)  ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 1.

(12)  ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 22, Ziffern 4.7.1 und 4.8.3.

(13)  ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 22 (Ziffern 1.1 und 3.4), ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 45 (Ziffern 2.1-2.2, 2.5), ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 192 (Ziffer 2.4).


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/37


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: „Digitale Kluft zwischen den Geschlechtern“

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des Europäischen Parlaments)

(2018/C 440/06)

Berichterstatterin:

Giulia BARBUCCI

Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des Europäischen Parlaments

Schreiben, 19.4.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

19.7.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

176/2/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Gründe für die digitale Kluft zwischen den Geschlechtern sind sehr vielfältig. Daher sind Maßnahmen in verschiedenen Bereichen notwendig: Bildung vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter, Arbeitsmarkt, Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, öffentliche Dienstleistungen und digitale Kluft im Allgemeinen. Empfohlen wird ein multidisziplinärer Ansatz, der verschiedene Innovationsaspekte in sich vereint (Technologie, Soziales, Kultur usw.).

1.2.

Die digitale Kluft zwischen den Geschlechtern ist jedoch kein rein technologisches Problem: Sie berührt wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fragen, die ganzheitliche politische Maßnahmen auf mehreren Ebenen erfordern, um das Geschlechtergefälle an seinen tiefsten sozialen und kulturellen Wurzeln anzugehen.

1.3.

Der Anteil von Frauen in MINT-Bereichen muss erhöht werden, da sich hierdurch auch die Bedingungen in anderen Bereichen sowie in der gesamten Gesellschaft und Wirtschaft verbessern lassen. Zugleich muss aber auch anerkannt werden, dass im digitalen Zeitalter in allen Bereichen die IKT-bezogene Bildung sowie übergreifende, unternehmerische, digitale und soziale Kompetenzen (wie Einfühlungsvermögen, Kreativität und komplexe Problemlösungen) zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die interdisziplinäre Ausbildung und auf den Menschen ausgerichtete Kompetenzen werden von zentraler Bedeutung sein, und die Bildungssysteme sollten diese Aspekte nicht unberücksichtigt lassen.

1.4.

Es muss sichergestellt werden, dass alle Menschen digitale Kompetenzen und Kenntnisse erwerben können, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf Mädchen gelegt werden sollte, um so die digitale Kluft zwischen den Geschlechtern an der Wurzel anzugehen. Es sind mehr weibliche Vorbilder im digitalen Bereich vonnöten, um Stereotypen zu begegnen.

1.5.

Es ist wichtig, Frauen zu ermutigen, technische Berufe zu ergreifen und Führungspositionen anzustreben, indem Barrieren und Geschlechterstereotypen in der Bildung und im Berufsleben abgebaut werden und für lebenslanges digitales Lernen gesorgt wird, um den Ausschluss von Frauen vom Arbeitsmarkt zu verhindern.

1.6.

Lehrende und Ausbildende sollten mit den richtigen Instrumenten zur Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) im Unterricht auf allen Stufen ausgestattet werden, um so die Demokratie und ein inklusiveres und personalisierteres Ausbildungs- und Bildungssystem zu fördern.

1.7.

Um die Spirale der Feminisierung der Armut zu durchbrechen, müssen gerechte Arbeitsbedingungen und sozialer Schutz (1) gewährleistet sein. Dies gilt besonders für die „Gig-Ökonomie“ (2). Sozialer Dialog und Tarifverhandlungen spielen in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle.

1.8.

Weibliche Entwickler von IKT könnten zur Vermeidung einer einseitigen geschlechtsspezifischen Ausrichtung bei der Gestaltung von Technologien beitragen.

1.9.

Die unternehmerische Tätigkeit von Frauen muss gefördert werden, indem Hindernisse, die sie vom Schritt in die Selbstständigkeit abhalten, abgebaut werden und der Zugang zu Sozialschutzmaßnahmen und deren Qualität verbessert werden (3).

1.10.

„Smart Working“-Modelle und die Telearbeit sollten überwacht werden, um das Risiko einer Aufweichung der Grenzen zwischen Pflege und Betreuung, Arbeit und Privatleben zu verhindern.

1.11.

Es ist wichtig, die Beteiligung von Frauen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt im Sinne des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNCRPD) (4) zu verbessern.

1.12.

Die Digitalisierung des öffentlichen Sektors bietet eine große Chance, Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern und Frauen mit Pflege- und Betreuungspflichten zu unterstützen sowie Hemmnisse in Bezug auf die Bürokratie und den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen abzubauen.

1.13.

Geschlechterstereotypen müssen abgebaut werden: Dieses Problem muss bei allen politischen Maßnahmen und in allen Bereichen berücksichtigt werden und an seinen grundlegenden sozialen und kulturellen Wurzeln angegangen werden.

1.14.

Zu den größten Hindernissen, die Frauen die Beteiligung an Online-Aktivitäten und sozialen Netzen erschweren, gehört das Cybermobbing. Das Übereinkommen von Istanbul zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt muss ratifiziert und umgesetzt werden.

1.15.

Bei sämtlichen politischen Maßnahmen auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene ist der Diskriminierung der Frau im digitalen Bereich Rechnung zu tragen, welche auch negative Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Gesellschaft im Allgemeinen hat.

1.16.

Öffentliche Maßnahmen sollten gleichstellungsorientiert konzipiert werden (Einbeziehung des Gleichstellungsaspekts). Hier können eine gleichstellungsorientierte Haushaltsplanung und die durchgehende Einbeziehung des Gleichstellungsaspekts nützlich sein.

1.17.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die Taskforce „Women in Digital“ und die Initiative „Digital4Her“ zu stärken. Es sollten europäische Frauennetzwerke im digitalen Bereich auf- und ausgebaut werden, die die Beteiligung von Frauen und Mädchen an digitalen Studien und Laufbahnen in der ganzen EU fördern.

1.18.

Die Kommission sollte den EU-Mitgliedstaaten zudem die Festlegung nationaler Ziele und Indikatoren zur Beobachtung der Lage (jährlicher Fortschrittsanzeiger) empfehlen. Fort- oder Rückschritte sollten gemessen werden, u. a. im Rahmen von Untersuchungen des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen (EIGE). Im Rahmen des Europäischen Semesters könnten entsprechende länderspezifische Empfehlungen an die Mitgliedstaaten gerichtet werden.

1.19.

Die Sozialpartner auf den entsprechenden Ebenen haben sich zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt im Sinne eines Abbaus der digitalen Kluft zwischen den Geschlechtern verpflichtet und spielen in dieser Hinsicht eine Schlüsselrolle. Insbesondere die Tarifverhandlungen spielen für das lebenslange Lernen, auf dem Arbeitsmarkt, für die Veränderung der Geschlechterrollen, für die Stärkung der Rolle von Frauen in Führungspositionen und verschiedenen Gremien, für die Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und für den Abbau des geschlechtsspezifischen Lohngefälles eine entscheidende Rolle (5).

1.20.

Der EWSA empfiehlt dem Europäischen Parlament die Berücksichtigung dieser Empfehlungen in der nächsten Legislaturperiode des Europäischen Parlaments, da dieses Thema maßgeblich für die zukünftige Entwicklung Europas ist.

2.   Einleitung

2.1.   Geschlechterungleichheit

2.1.1.

In seiner Rede vor dem Europäischen Parlament über die politischen Prioritäten der Europäischen Kommission sagte Jean-Claude Juncker, dass Diskriminierung in der Europäischen Union keinen Platz hat und der Bereich Justiz und Grundrechte zu den zehn wichtigsten politischen Prioritäten der Kommission gehört. Die Gleichheit von Frauen und Männern ist ein Teil dieses Bereiches, wenngleich die Charta der Grundrechte hier bereits einen wichtigen Beitrag leistet, da sie vorschreibt, dass die Gleichheit von Männern und Frauen „in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen“ (6) ist. Mariya Gabriel, für digitale Wirtschaft und Gesellschaft zuständiges Kommissionsmitglied, hat unlängst Maßnahmen als Teil ihrer Strategie zur Förderung der Erwerbsbeteiligung der Frauen im digitalen Sektor dargelegt. Daher muss sichergestellt werden, dass Folgemaßnahmen zu der von IT-Unternehmen unterzeichneten Erklärung Digital4Her ergriffen werden und für eine inklusive Arbeitskultur mit einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis und ein ebensolches Arbeitsumfeld gesorgt wird.

2.1.2.

Frauen werden noch immer auf dem Arbeitsmarkt und innerhalb der Gesellschaft im Allgemeinen diskriminiert. Der Gleichstellungsindex zur Messung der Diskriminierung in den Bereichen Arbeit, Zeit, Entgelt, Bildung, Befugnisse, Gewalt und Gesundheit zeigt nur langsame Fortschritte in diesen Bereichen: So stieg er von 62 Punkten im Jahr 2005 auf 65 Punkte im Jahr 2012 und auf 66,2 Punkte im Jahr 2017 (7). Die Gründe für diese Diskriminierung sind vielfältig. Mit dem Ziel, die aus dieser Diskriminierung hervorgehenden Ungleichheiten abzubauen, wurden die Chancengleichheit und der gleichberechtigte Zugang zum Arbeitsmarkt in das erste Kapitel der europäischen Säule sozialer Rechte aufgenommen, da sowohl die Gleichstellung der Geschlechter als auch die Chancengleichheit zu den am stärksten von Diskriminierung betroffenen Bereichen zählen.

2.1.3.

Die digitale Kluft zwischen den Geschlechtern stellt eine Form der Ungleichheit dar, die sich aus der Diskriminierung der Frauen ergibt, einem sicherlich untragbaren Hindernis für die Beteiligung der Frau an der europäischen Gesellschaft. Sie bremst zudem das Wachstum der europäischen Wirtschaft der Zukunft, die von der Digitalisierung geprägt sein wird. Aktuell nutzen 68 % der Männer und 62 % der Frauen regelmäßig einen PC und das Internet, 33 % der Männer und 18 % der Frauen installieren Software auf ihren Geräten und 47 % der Männer und 35 % der Frauen verwenden Online-Banking (8). Wenngleich sie mehr als die Hälfte aller Absolventen stellen, sind Frauen zudem weiterhin in wissenschaftlichen und IKT-Studiengängen (Informations- und Kommunikationstechnologien) unterrepräsentiert: Nur ein Drittel aller Beschäftigten dieses Sektors ist weiblich, wobei die Prozentsätze je nach Tätigkeitsfeld unterschiedlich ausfallen (8 % Software, 54 % in niedrigeren Positionen bei IT-Betreibern). In dieser Stellungnahme sollen Empfehlungen und Vorschläge zur Überwindung von Ungleichgewichten im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt unterbreitet werden.

2.1.4.

Frauen können sich außerdem aufgrund von Cybermobbing weniger frei im Internet bewegen: Mädchen werden deutlich häufiger im Internet belästigt (Daten des EIGE zufolge werden 51 % der Frauen Opfer von Cybermobbing gegenüber 42 % der Männer) (9). Das Übereinkommen von Istanbul zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt muss ratifiziert und umgesetzt werden.

2.2.   Digitalisierung und digitale Kluft

2.2.1.

Bei der Digitalisierung handelt es sich nicht um einen rein technischen Prozess, sondern um einen wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Vorgang.

2.2.2.

Gemäß einer Studie der Europäischen Kommission (10) könnte sie dem BIP der EU ein jährliches Plus von 415 Mrd. EUR bringen, und ein höherer Frauenanteil in digitalen Berufen könnte für eine jährliche Steigerung des BIP der EU um 16 Mrd. EUR sorgen. Gleichzeitig haben Unternehmen jedoch Probleme bei der Besetzung ihrer Stellen mit IKT-Fachkräften, was zeigt, dass es im Digitalbereich noch Bedarf an Beschäftigung und besserer Ausbildung gibt.

2.2.3.

Die digitale Kluft bezeichnet nicht nur den eingeschränkten Zugang zum Internet, sondern auch die fehlenden Grundkenntnisse, die zur Nutzung von IKT-Instrumenten nötig sind. Ein Aspekt der digitalen Kluft ist die digitale Kluft zwischen den Geschlechtern. Laut der nach Geschlecht aufgeschlüsselten Daten der Internationalen Fernmeldeunion (ITU) zur Internet-Verbreitung in 91 Volkswirtschaften betrug der Anteil der Frauen im Jahr 2017 44,9 % und jener der Männer 50,9 %. Daten von Eurostat aus dem Jahr 2017 zeigen, dass 71 % der Frauen und 74 % der Männer täglich das Internet nutzen und 49 % der Frauen gegenüber 54 % der Männer Bankschäfte online abwickeln (11). Das Problem muss sowohl aus Sicht des Arbeitsmarktes — von der Digitalisierung sind alle Beschäftigten betroffen — als auch aus Sicht der Nutzer — jeder nutzt Technologie — gesehen werden.

2.2.4.

Die digitale Kluft überschneidet sich häufig mit anderen Formen der Diskriminierung: Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit, Leben in einer ländlichen Region, Migrationshintergrund, Behinderung, Armut usw. Die Technologie kann beim Abbau dieser Hindernisse behilflich sein und für eine inklusivere Welt für alle sorgen; wird dieser Prozess jedoch nicht von sozialen Akteuren gesteuert, dann kann die Technologie auch zu einer weiteren Verstärkung dieser Hindernisse führen.

2.2.5.

Die digitale Kluft zwischen den Geschlechtern ist ein wirtschaftliches, soziales, gesellschaftliches und kulturelles Problem, das eine ganzheitliche Politik auf mehreren Ebenen erfordert, da sie zu noch größerer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern führt. Darüber hinaus muss die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern bei allen politischen Maßnahmen und in allen Bereichen berücksichtigt werden und an ihren grundlegenden sozialen und kulturellen Wurzeln angegangen werden.

2.2.6.

Der qualitative Einfluss der Digitalisierung auf Qualifikationserfordernisse ist auch aus der Geschlechterperspektive interessant, da Frauen bei bestimmten Tätigkeiten häufiger vertreten, bei anderen hingegen unterrepräsentiert sind, u. a. in den MINT-Bereichen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik). Der Anteil von Frauen in MINT-Bereichen muss erhöht werden.

2.2.7.

Zu berücksichtigen ist aber auch, dass im digitalen Zeitalter soziale Kompetenzen in sämtlichen Sektoren zunehmend Bedeutung erlangen: Die künstliche Intelligenz (KI) und das Internet der Dinge zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass sie immer sensiblere und intelligentere Maschinen hervorbringen; das heißt, der Mensch kann sich in der Arbeitswelt nur dann unersetzlich machen, wenn er mit sozialen Fähigkeiten wie Anpassungs- und Kooperationsfähigkeit konkurriert. Einfühlungsvermögen, Kreativität und die Fähigkeit zur Lösung komplexer Probleme werden in der heutigen Gesellschaft eher Mädchen als Jungen vermittelt und von diesen entwickelt (12). Es empfiehlt sich ein multidisziplinärer Ansatz, der verschiedene Innovationsaspekte (technologische, soziale, kulturelle Aspekte usw.) in sich vereint, um nicht nur Risiken entgegenzuwirken, sondern auch die Chancen zu ergreifen, die die Digitalisierung den Frauen bietet.

2.2.8.

Besondere Aufmerksamkeit sollte hierbei Menschen mit Behinderungen geschenkt werden — insbesondere Frauen, deren Situation „nicht nur schlechter als die von Frauen ohne Behinderungen“ (13) ist. Daher ist es wichtig, „Frauen und Mädchen mit Behinderungen […] ein[en] gleichberechtigte[n] Zugang zu den verschiedenen Komponenten der IKT-Infrastruktur und zur Informationsgesellschaft“ (14) zu gewähren.

3.   Die digitale Kluft zwischen den Geschlechtern im Bildungssystem

3.1.

Das Bildungssystem ist der Politikbereich, dem die größte Aufmerksamkeit zu schenken ist. Im Vergleich zu 2011 ist ein Rückgang der Beteiligung von Frauen an der IKT-bezogenen Hochschulbildung festzustellen (15). Daher ist die Förderung digitaler Kompetenzen und Fähigkeiten von Frauen auf allen Ebenen unerlässlich, damit sie sich aktiv an der gesellschaftlichen Entwicklung beteiligen, die von der Digitalisierung gebotenen Chancen nutzen können und nicht außen vor bleiben. Frauen mit Behinderungen steht das Recht auf eine inklusive und qualitativ hochwertige Ausbildung zu. Kulturelle und sprachliche Stereotypen müssen abgebaut werden, und insbesondere die Medien sind aufgerufen, andere Rollenbilder für Mädchen zu vermitteln. Außerdem können IKT-Werkzeuge im Unterricht und bei Aktivitäten in der Klasse eingesetzt werden.

3.2.

In der Grundschule müssen allen Schülerinnen und Schülern digitale Kompetenzen und Kenntnisse vermittelt werden, damit sie als Erwachsene mit der raschen technologischen Entwicklung mithalten können. Laut der internationalen Schulleistungsstudie (PISA), die den Bildungsfortschritt fünfzehnjähriger Schülerinnen und Schüler in den OECD-Ländern misst, streben beinahe viermal mehr Jungen als Mädchen eine Laufbahn in den MINT-Bereichen an (16). Aus einer EIGE-Studie geht hervor, dass in der gesamten EU 3 % bis 15 % der heranwachsenden Jungen eine Stelle als IKT-Fachkraft anstreben, dies jedoch nur 1 % bis 3 % der Mädchen in lediglich vier Mitgliedstaaten beabsichtigten. Hinzu kommt, dass die Jugendlichen beider Geschlechter in der EU zwar dieselben digitalen Kompetenzen aufweisen, die Jungen sich ihrer digitalen Fertigkeiten aber immer noch sicherer sind als die Mädchen, was ebenfalls wieder auf Fehleinschätzungen und Geschlechterstereotypen beruht (17). „Der EWSA erinnert die Mitgliedstaaten an das Erfordernis, in nichtdiskriminierende und inklusive Bildungssysteme zu investieren“ (18).

3.3.

Es ist wichtig, die Lehrkräfte im Einsatz von IKT als Lehrmittel zu schulen. Um die Ursachen der digitalen Kluft zwischen den Geschlechtern zu bekämpfen und inklusivere und personalisiertere Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung zu fördern, kommt es vor allem darauf an, den Schwerpunkt auf die Mädchen zu legen. Digitale Instrumente können auch beim Abbau bürokratischer Hürden für Lehrende und Ausbildende behilflich sein (19).

3.4.

In der interdisziplinären Sekundar- und Hochschulbildung belegen Mädchen immer noch seltener MINT-Fächer als Jungen: Weniger als ein Fünftel aller IKT-Absolventen sind weiblich (20). Auch der interdisziplinären Ausbildung sowie auf den Menschen ausgerichteten sozialen Kompetenzen wird zentrale Bedeutung zukommen.

3.5.

Die duale Ausbildung und Berufsbildung sollte gefördert werden, wobei dem Zugang von Mädchen zu technischen Schulungen und zur Berufspraxis Rechnung getragen werden sollte (21).

4.   Die digitale Kluft zwischen den Geschlechtern auf dem Arbeitsmarkt

4.1.

Es ist wichtig, Frauen zur Aufnahme von technischen Berufen und Führungspositionen zu ermutigen und so Hindernisse und Stereotype in Bildung und Beruf abzubauen. Ein höherer Anteil an Frauen in Berufen der IKT könnte dem Sektor und letztendlich der gesamten Wirtschaft und der Gesellschaft zugutekommen.

4.2.

Bei der Überwindung der digitalen Kluft zwischen den Geschlechtern auf dem Arbeitsmarkt spielen die Sozialpartner auf Unternehmens-, nationaler und europäischer Ebene eine entscheidende Rolle. Im Rahmen des sozialen Dialogs und von Tarifverhandlungen können geeignete Lösungen erzielt werden, die sowohl den Bedürfnissen der Arbeitgeber als auch denen der Arbeitnehmer Rechnung tragen (22). Die Erhöhung des Frauenanteils in MINT-Fächern und Führungspositionen kann auch dazu beitragen, das Lohngefälle zwischen Frauen und Männern zu verringern.

4.3.

Das lebenslange Lernen ist eine wesentliche Voraussetzung, um den Ausschluss vom Arbeitsmarkt zu verhindern, was umso mehr für Frauen gilt. In diesem Zusammenhang kommt den Sozialpartnern eine maßgebliche Rolle zu.

4.4.

Polarisierung des Arbeitsmarkts und „Gig-Ökonomie“: Selbst wenn Maschinen technisch in der Lage wären, gering qualifizierte Arbeitskräfte zu ersetzen (sowohl für manuelle als auch geistige Tätigkeiten dank Internet der Dinge, Sensoren oder KI), so könnte es sich im Falle prekärer Arbeitsplätze und ohne garantierte Rechte für die Unternehmen als einfacher erweisen, Arbeitnehmer zu geringen Kosten einzustellen, anstatt in neue Maschinen zu investieren. In der sogenannten „Gig-Ökonomie“ ist dies bereits Realität. Hier existiert keine soziale Absicherung wie für normale Beschäftigungsverhältnisse (23): Aufgrund der informellen Art der Beschäftigung besteht hier für Frauen das Risiko, dass sie sich von den traditionellen Beschäftigungsverhältnissen mit Sozialleistungen immer weiter entfernen und häufiger Stellen in der „Gig-Ökonomie“ annehmen, die wesentlich schneller verfügbar und fallweise im Hinblick auf die Arbeitszeiten praktikabler sind. Zur Verhinderung der Feminisierung der Armut (24) müssen gerechte Arbeitsbedingungen sichergestellt werden, und es ist von allen Interessenträgern ein Entwicklungsmodell zu fördern, das hohen qualitativen Ansprüchen genügt. Hierbei spielen die Sozialpartner und Tarifverhandlungen eine entscheidende Rolle (25).

4.5.

Technologie ist nicht neutral: Eigentlich sollen Software und Algorithmen der Subjektivität, von der menschliche Prozesse und Entscheidungen geprägt sind, entgegenwirken, wenn Technologie aber durch kulturelle (z. B. geschlechtsbezogene) Vorurteile verzerrt ist, dann führt dies stets zu struktureller (und nicht nur fallweiser) Diskriminierung. Deswegen sollten die Entwickler dieser Systeme einen möglichst vielfältigen Hintergrund haben. Aktuell sind nur 17 % der 8 Mio. IKT-Arbeitsplätze mit Frauen besetzt (26); zudem entscheiden sich EU-weit lediglich 20 % aller IKT-Absolventinnen ab 30 Jahren zum Verbleib in der Technologiebranche (27). Ein höherer Frauenanteil — und somit eine stärkere Diversität — in diesen Berufen würde eine mögliche geschlechtsspezifische Ausrichtung in der Gestaltung von Technologien verhindern.

4.6.

Überwindung der „gläsernen Decke“ für eine digitalere Wirtschaft: Obgleich der Führungsstil in Unternehmen mit Frauen in Spitzenpositionen nachweislich besser ist, d. h. in der Regel „horizontaler“, und Diversität, Kreativität und innovatives Denken begünstigt, sind nur 32 % der Führungspositionen in der Wirtschaft mit Frauen besetzt (28). Die Einführung entsprechender Regelungen, die es Frauen ermöglichen, in Führungspositionen aufzusteigen, würde Unternehmen folglich eine Erhöhung ihrer Innovationskraft ermöglichen. In größerem Umfang angewendet kann dies der gesamten Wirtschaft zugutekommen.

4.7.

Das produzierende Gewerbe Europas besteht vorrangig aus KMU, die bei Investitionen in neue Technologien größere Schwierigkeiten haben. Gleichzeitig begünstigen digitale Technologien jedoch Kleinstunternehmen: Einige digitale Instrumente (z. B. der elektronische Handel) ermöglichen diesen Kleinstunternehmen den Zugang zu globalen Märkten und so im Allgemeinen den Abbau von Hindernissen für die Selbstständigkeit. Laut dem zweiten „European Start-up Monitor“ werden lediglich 14,8 % aller Start-Ups von Frauen gegründet (29). Dieses Problem ist auf schwache geschäftliche Netzwerke, Stereotypen und unzureichende finanzielle Unterstützung zurückzuführen Durch die Digitalisierung können die richtigen Bedingungen für Unternehmerinnen geschaffen werden. Es muss für entsprechende Bildungs- und Förderprogramme gesorgt werden, damit Frauen Unternehmen gründen und dabei die verfügbaren digitalen Technologien nutzen können.

5.   Digitalisierung und Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben

5.1.

Laut einer EIGE-Studie sind die Arbeitszeiten in IKT-Berufen länger als in anderen Sektoren (30). Zunächst müssen somit Lösungen für eine Aufteilung von Pflege- und Betreuungsaufgaben zwischen Mann und Frau gefunden werden: Es müssen Maßnahmen zur Förderung einer gerechteren Aufteilung dieser Aufgaben zwischen den Geschlechtern ergriffen werden, u. a. durch die Verabschiedung des Vorschlags für eine Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige (31).

5.2.

„Smart Working“-Modelle und die Telearbeit werden häufig als wirksame Instrumente für die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben angesehen, wobei sowohl den damit verbundenen Risiken als auch den Chancen Rechnung getragen wird. „Smart Working“-Modelle können zwar Arbeitnehmern bei der Organisation ihres Privatlebens helfen (insbesondere durch den Wegfall ungenutzter Pendelzeiten), doch besteht bei schlechter Organisation auch die Gefahr, dass die Grenzen zwischen Pflege bzw. Betreuung, Arbeit und Freizeit verschwimmen. „Smart Working“-Modelle sollten durch unternehmensspezifische Tarifverträge geregelt und so an den kulturellen Rahmen, die Produktionsmittel und die Arbeitsorganisation angepasst werden. Langfristig besitzen „Smart Working“-Modelle auch das Potenzial, die Lebensweise der Menschen in Städten (und auf dem Land) und in sozialen Räumen zu verändern.

5.3.

Digitale Instrumente bieten auch jenen neue Möglichkeiten, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Diese Instrumente können auch die Erwerbsbeteiligung der Frauen fördern. Frauen mit Behinderungen sind jedoch viel stärker vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen (32). Daher ist die Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNCRPD) sehr wichtig (33).

6.   Digitalisierung des öffentlichen Sektors

6.1.

Aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung und geringen Geburtenraten altert die Bevölkerung Europas und obliegt die Pflege älterer Menschen zunehmend Frauen mittleren Alters. Zwar muss unbedingt eine gerechte Aufteilung der Betreuungs- und Pflegeaufgaben zwischen den Geschlechtern erreicht werden, doch muss ebenfalls anerkannt werden, dass die Digitalisierung — und insbesondere die Robotik — im öffentlichen Sektor die großartige Chance bietet, die Erwerbsbeteiligung der Frauen zu steigern und die Frauen mit Pflege- und Betreuungspflichten zu entlasten.

6.2.

Mit Hilfe der Robotik können einige der schwierigsten Pflegetätigkeiten (beispielsweise der Transport invalider Personen), die Rehabilitierung verletzter Menschen, die Vorbeugung von Krankheiten usw. automatisiert und vor allem erleichtert werden. Diese Technologien könnten die Lebensqualität der gesamten Gesellschaft, insbesondere die der Frauen, und die Teilhabe der Frauen am Arbeitsmarkt auf zweierlei Art und Weise verbessern: Im Bereich der Pflegedienste, in dem Frauen sehr stark vertreten sind, würde die Arbeit erheblich erleichtert werden. Außerdem würden Frauen, die unbezahlte Betreuungs- bzw. Pflegearbeit verrichten, profitieren, sofern diese Technologien für alle, die sie benötigen, verfügbar und garantiert sind.

6.3.

Digitale Technologien können außerdem tiefgreifende Auswirkungen auf die bürokratischen Abläufe im öffentlichen Sektor mit sich bringen. Einige Länder wenden diese Art von Technologie bereits in großem Umfang an und schaffen für sämtliche Verfahren des öffentlichen Sektors eine einzige digitale Identität (Steuern, Gesundheitswesen, Bildung usw.). Eine Ausweitung dieses Prozesses könnte die Lebensqualität erheblich steigern, jedoch sind auch hier die Risiken zu beachten (und zu verhindern), die entstehen, wenn die Datenkontrolle in der Hand eines einzigen Akteurs liegt (selbst wenn es sich um eine Behörde handelt), sowie die Risiken im Zusammenhang mit Privatsphäre, Cybersicherheit, Transparenz und Ethik (34).

6.4.

Die Behörden sollten für alle Dienstleistungen und Tätigkeiten gleichstellungsorientierte Haushalte aufstellen, um die Gleichstellung zu fördern, und den Auswirkungen von Maßnahmen auf die Frauen Rechnung tragen. Bei allen Investitionsentscheidungen sollte in dreierlei Hinsicht der Gleichstellungsaspekt einbezogen werden: Geschlechtergleichstellung am Arbeitsplatz, Zugang der Frauen zu Kapital und Produkte und Dienstleistungen, die den Frauen zugutekommen.

6.5.

Während die Digitalisierung des öffentlichen Sektors in einigen Ländern bereits weit fortgeschritten ist, steht dieser Prozess in anderen wiederum erst am Anfang. Dies könnte im Hinblick auf die Gleichstellung genutzt werden, um mehr Frauen im öffentlichen Sektor auszubilden und zu beschäftigen.

6.6.

Zur Weiterentwicklung der Digitalisierung sollte ohne geografische Diskriminierung die notwendige Infrastruktur, wie etwa Breitbandanschlüsse, 5G-Netze usw., zur Verfügung gestellt werden.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  SOC/581 — Stellungnahme des EWSA „Zugang zum Sozialschutz“ (siehe Seite 135 dieses Amtsblatts).

(2)  Der soziale Schutz der Arbeitnehmer in der Plattformwirtschaft, Europäisches Parlament, 7.12.2017.

(3)  ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 45.

(4)  Stellungnahme des EWSA „Die Situation von Frauen mit Behinderungen“ (ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 20).

(5)  A Toolkit for Gender Equality in Practice (Instrumentarium für die Geschlechtergleichstellung in der Praxis) der europäischen Sozialpartner EGB, BusinessEuropa, CEEP und UEAPME.

(6)  Titel III, Artikel 23.

(7)  Europäisches Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE), Gleichstellungsindex 2017, Bericht.

(8)  Siehe Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. April 2018.

(9)  EIGE, Youth, digitalisation and gender equality: opportunities and risks of digital technologies for girls and boys, 2018 (noch nicht veröffentlicht).

(10)  Vessela Karloukovska, GD CNECT, Taskforce Women in Digital (Frauen im Digitalbereich), Europäische Kommission.

(11)  Eurostat-Daten.

(12)  Martha Ochoa (UNi Global Union), The path to genderless digitalisation (Der Weg zur geschlechtsunspezifischen Digitalisierung).

(13)  Stellungnahme des EWSA „Die Situation von Frauen mit Behinderungen“ (ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 20), Ziffer 2.1.

(14)  Ebda., Ziffer 5.3.6.

(15)  „Women in the digital age“ (Frauen im digitalen Zeitalter), Europäische Kommission, 2018.

(16)  Dr. Konstantina Davaki, Autorin der Studie „The underlying causes of the digital gender gap and possible solutions for enhanced digital inclusion of women and girls“ (Die Ursachen für die digitale Kluft zwischen den Geschlechtern und mögliche Lösungen für eine bessere digitale Inklusion von Frauen und Mädchen).

(17)  Lina Salanauskaite, Europäisches Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE).

(18)  Stellungnahme des EWSA „EU-Aktionsplan 2017-2019 — Bekämpfung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles“ (ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 101), Ziffer 4.4.

(19)  Ekaterina Efimenko, Europäisches Gewerkschaftskomitee für Bildung und Wissenschaft (ETUCE).

(20)  Vessela Karloukovska, GD CNECT, Taskforce Women in Digital (Frauen im Digitalbereich), Europäische Kommission.

(21)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161, ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 36.

(22)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „EU-Konzepte zur Gestaltung von Übergängen in eine digitalisierte Arbeitswelt“ (ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 15).

(23)  EWSA-Stellungnahmen zum Thema „Für eine europäische Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen“ (wird auf der Plenartagung im Dezember verabschiedet) und „Zugang zum Sozialschutz“ (siehe Seite 135 dieses Amtsblatts).

(24)  Mary Collins, Europäische Frauenlobby (EWL) (ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 7).

(25)  Siehe z. B. die Vereinbarungen der europäischen Sozialpartner und den Vorschlag für eine Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und die Europäische Säule sozialer Rechte.

(26)  Vessela Karloukovska, GD CNECT, Taskforce Women in Digital (Frauen im Digitalbereich), Europäische Kommission.

(27)  Mary Collins, Europäische Frauenlobby (EWL).

(28)  Vessela Karloukovska, GD CNECT, Taskforce Women in Digital (Frauen im Digitalbereich), Europäische Kommission.

(29)  Women in the digital age (Frauen im digitalen Zeitalter), Studie im Auftrag des Europäischen Parlaments.

(30)  Lina Salanauskaite, Europäisches Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE).

(31)  COM(2017) 253 final.

(32)  Stellungnahme der EWSA „Die Situation von Frauen mit Behinderungen“ (ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 20), Ziffer 5.4.1.

(33)  Stellungnahme des EWSA „Die Situation von Frauen mit Behinderungen“ (ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 20), Ziffer 1.2, Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

(34)  Digitale öffentliche Dienste (elektronische Behördendienste und elektronische Gesundheitsdienste).


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/45


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Bioökonomie — Beitrag zur Erreichung der EU-Klima- und -Energieziele sowie der UN-Nachhaltigkeitsziele“

(Sondierungsstellungnahme)

(2018/C 440/07)

Berichterstatterin:

Tellervo KYLÄ-HARAKKA-RUONALA

Mitberichterstatter:

Andreas THURNER

Befassung

Österreichischer Ratsvorsitz, 12.2.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 302 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Sondierungsstellungnahme

Beschluss des Plenums

13.3.2018

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

180/1/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Nach Auffassung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) ist Bioökonomie die Schaffung eines gesellschaftlichen Mehrwerts durch die Produktion, Umwandlung und Nutzung biologischer Rohstoffe. Die Umstellung auf CO2-Neutralität und Kreislauffähigkeit wird zusehends die Bioökonomie antreiben, denn eine nachhaltige Bioökonomie kann gleichzeitig wirtschaftlichen, sozialen und Klimanutzen bringen.

1.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Bioökonomie auf verschiedene Weise zur Eindämmung des Klimawandels beiträgt: durch den Entzug von CO2 aus der Atmosphäre und seine Ablagerung in Biomasse, die Speicherung von Kohlenstoff in biobasierten Erzeugnissen und die Ersetzung fossil-basierter durch biobasierte Rohstoffe und Produkte.

1.3.

Der EWSA betont außerdem, dass die Bioökonomie über die Ersetzung fossiler Brennstoffe durch Bioenergie bei der Strom-, Wärme- und Kälteerzeugung sowie im Verkehr zur Verwirklichung der Klima- und Energieziele der EU beiträgt. Ferner ist sie der Energieeffizienz und der Energieversorgungssicherheit förderlich.

1.4.

Der EWSA ist überzeugt, dass der Bioökonomie bei der Verwirklichung der in der UN-Agenda 2030 formulierten globalen wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Ziele (UN-Nachhaltigkeitsziele — Sustainable Development Goals, SDG) eine entscheidende Rolle zukommt. Die Rolle der Bioökonomie ist eng mit Zielen für Industrie und Landwirtschaft sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen in diesen Bereichen verbunden.

1.5.

Der EWSA fordert eine Anpassung der EU-Bioökonomie-Strategie, um im Einklang mit der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit die besten Voraussetzungen für die Entwicklung der europäischen Bioökonomie zu einem Wettbewerbsvorteil für die EU zu schaffen.

1.6.

Der EWSA unterstreicht, dass die politischen Entscheidungsträger vor allem eine nachhaltige Erzeugung und Mobilisierung von Biomasse in der EU fördern und über alle Wertschöpfungsketten hinweg stabile, zuverlässige und kohärente Rahmenbedingungen für Investitionen in die Bioökonomie sicherstellen müssen. Zudem sollten sie die Nachfrage nach biobasierten Produkten im Wege der öffentlichen Beschaffung fördern und zur Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen für biobasierte Produkte einen kohärenten Rahmen für technische Vorschriften, Sicherheitsnormen und Vorschriften für staatliche Beihilfen annehmen.

1.7.

Nach Ansicht des EWSA sind Forschung und Innovation eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung einer zukunftsfähigen Bioökonomie. Daher sollten die Innovationsanstrengungen im Rahmen der Bioökonomie-Strategie fortgesetzt werden, darunter das Gemeinsame Unternehmen „Biobasierte Industriezweige“ (BBI).

1.8.

Der EWSA verweist auf die wesentliche Bedeutung von Bildungsmaßnahmen, Beratungsdiensten, Wissenstransfer und Fortbildung, um sicherzustellen, dass Arbeitnehmer und Unternehmer über die erforderlichen Informationen und Kompetenzen verfügen. Die Bürger müssen gut über die Bioökonomie informiert und stärker für ihre Verantwortung sensibilisiert werden, damit sie als aktive Verbraucher auftreten und nachhaltige Verbrauchsentscheidungen treffen können.

1.9.

Der EWSA betont, dass eine geeignete Infrastruktur eine wichtige Voraussetzung für die Bioökonomie ist und eine angemessene Finanzierung erfordert. Effiziente Verkehrssysteme sind für den Zugang zu Rohstoffen und die Versorgung der Märkte unerlässlich.

1.10.

Der EWSA empfiehlt, dass die EU sich für ein globales Preissystem für CO2-Emissionen einsetzt, um so auf neutrale und wirksame Weise die Bioökonomie zu fördern und alle Marktakteure mit ins Boot zu holen, um den Klimawandel einzudämmen.

1.11.

Aus Sicht des EWSA ist die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Gestaltung der Bioökonomie-Initiativen und die Entscheidungsfindung von größter Bedeutung. Der Übergang zu einer Niedrigemissionswirtschaft muss gerecht gestaltet werden.

1.12.

Der EWSA betont, dass für den Erfolg einer nachhaltigen Bioökonomie ein sektorübergreifender Ansatz ausschlaggebend ist. Daher muss für Kohärenz und Koordinierung zwischen den verschiedenen strategischen Maßnahmen und Zielen der EU gesorgt werden. Außerdem muss die Kohärenz der Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten sichergestellt werden.

2.   Hintergrund

2.1.

Der österreichische Ratsvorsitz hat den EWSA ersucht, in einer Sondierungsstellungnahme den Beitrag der Bioökonomie zur Erreichung der EU-Klima- und -Energieziele sowie der UN-Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG) zu untersuchen. Gleichzeitig erarbeitet der EWSA zurzeit eine Initiativstellungnahme zu den neuen Möglichkeiten, die eine nachhaltige und inklusive Bioökonomie für die europäische Wirtschaft eröffnet (CCMI/160).

2.2.

Die Europäische Kommission überarbeitet derzeit die EU-Bioökonomie-Strategie von 2012. Der EWSA verfolgt diesen Prozess und begrüßt die Anstrengungen der Kommission, die Bioökonomie definiert als „Produktion erneuerbarer biologischer Ressourcen und die Umwandlung dieser Ressourcen und Abfallströme in Produkte mit einem Mehrwert, wie Lebensmittel, Futtermittel, biobasierte Produkte und Bioenergie“.

2.3.

Ganz allgemein geht es bei Bioökonomie um die Ersetzung fossiler durch biobasierte Energie und Rohstoffe. Die Bioökonomie umfasst Wirtschaftstätigkeiten, die auf der Produktion, Gewinnung, Verarbeitung und Nutzung biologischer Rohstoffe beruhen. Abfallströme, Nebenprodukte und Reststoffe können eine weitere wichtige Rohstoffquelle sein.

2.4.

Der Land- und Forstwirtschaft und der Fischerei kommt eine wichtige Rolle für die Produktion von Biomasse für weitere Verwendungszwecke zu. In einer Vielzahl Branchen wie bspw. der Forst-, Nahrungsmittel-, Chemie-, Energie-, Textil- und Bauindustrie wird Biomasse, einschl. Sekundärrohstoffen, zu Verbrauchsgütern oder Zwischenprodukten für andere Unternehmen verarbeitet. Generell liegen der Bioökonomie umfangreiche Wertschöpfungsketten zugrunde, die auch den Verkehrssektor, den Handel sowie andere Dienste in Verbindung mit den o. g. Tätigkeiten umfassen. Auch Ökosystemleistungen sind Teil der Bioökonomie.

2.5.

Die EU hat sich verpflichtet, ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 40 % gegenüber dem Niveau von 1990 zu verringern (1). Dabei gelten für die vom EU-Emissionshandelssystem (EHS) erfassten Sektoren und für die nicht darunter fallenden Sektoren jeweils unterschiedliche Ziele und Bestimmungen. Außerdem wurden Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft (LULUCF) in den EU-Klimaschutzrahmen 2030 aufgenommen, mit der Auflage, dass die LULUCF-Sektoren langfristig keine Nettoemissionen generieren, sondern zur Erhöhung der Senkentätigkeit beitragen. Dies entspricht den Anforderungen von Artikel 4 Absatz 1 des Übereinkommens von Paris, demzufolge bis zur zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein Ausgleich zwischen dem Treibhausgasausstoß anthropogenen Ursprungs und dem Treibhausgasabbau durch Senken erreicht werden soll (2).

2.6.

Gemäß den EU-Energiezielen für 2030 sollen die Energieeffizienz um 32,5 % im Vergleich zu Projektionen und die Nutzung erneuerbarer Energien auf 32 % des gesamten Endenergieverbrauchs gesteigert werden; in beiden Fällen handelt es sich um gemeinsame EU-Ziele und nicht um einzelstaatliche Ziele (3).

2.7.

Die 17 UN-Nachhaltigkeitsziele erstrecken sich über die verschiedenen Aspekte der weltweiten wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Herausforderungen. Die Bioökonomie ist dabei zwar kein spezifisches Schwerpunktthema, aber einige der Nachhaltigkeitsziele stehen im Zusammenhang damit.

3.   Beitrag der Bioökonomie zur Erreichung der EU-Klima- und -Energieziele

3.1.

Die Umstellung auf CO2-Neutralität ist eine enorme Herausforderung und erfordert eine umfangreiche Senkung der Emissionen sowie den Ausbau der CO2-Speicherung. Die nachhaltige Nutzung biobasierter Rohstoffe ist hierfür entscheidend.

3.2.

Die Bioökonomie trägt über verschiedene Mechanismen zur Eindämmung des Klimawandels bei: durch den Entzug von CO2 aus der Atmosphäre und seine Ablagerung in Biomasse über Fotosynthese, durch die Speicherung von Kohlenstoff in biobasierten Erzeugnissen und durch die Ersetzung fossil-basierter durch biobasierte Rohstoffe und Produkte.

3.2.1.

Eine wirksame Absorption von CO2 erfordert ein nachhaltiges Biomassewachstum. Eine aktive und nachhaltige Forstwirtschaft und die Nutzung von Holz sind grundlegende Faktoren für die Verwirklichung der Klimaziele (siehe NAT/655 — „Auswirkungen der Klima- und Energiepolitik auf die Land- und Forstwirtschaft“ (4) und NAT/696 — „Lastenteilung 2030 und Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft (LULUCF)“ (5). 1 m3 Holz bindet ca. 1 000 kg CO2. Da nur im Wachstum begriffene Biomasse CO2 absorbieren kann, ist es wesentlich, die Nutzung der Wälder nicht zu beschränken, vorausgesetzt die Holzernte übersteigt nicht die Aufforstungsrate und den Holzzuwachs und der Wald wird nachhaltig bewirtschaftet.

3.2.2.

Es gibt verschiedene Arten biobasierter Produkte, und neue Produkte werden entwickelt. Diese Produkte können Kohlenstoff speichern, der somit nicht in die Atmosphäre gelangt. Langlebige Holzerzeugnisse wie Gebäude und hochwertige Möbel sind hochwirksame Kohlenstoffspeicher. Sofern sie recycelt werden, setzen auch kurzlebigere biobasierte Erzeugnisse den in ihnen gebundenen Kohlenstoff nicht frei. Ferner können biobasierte Produkte an ihrem Produktlebensende zur Erzeugung von Bioenergie genutzt werden und fossile Energieträger ersetzen.

3.3.

Bioenergie trägt auch zum EU-Energieeffizienzziel bei. Als bewährte Beispiele hierfür wären Fernwärme und nachhaltige industrielle Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen (KWK) zu nennen. Angesichts des hohen Energieverbrauchs von Gebäuden kommt der Gebäudeenergieeffizienz und der jeweils genutzten Energiequelle große Bedeutung zu.

3.4.

Dem Verkehrssektor fällt eine entscheidende Rolle bei der Verwirklichung der Klimaziele zu. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Anforderungen und Eigenschaften der verschiedenen Verkehrsträger wird daher das gesamte Spektrum emissionssenkender Maßnahmen benötigt (wie in mehreren EWSA-Stellungnahmen betont, beispielsweise TEN/609 — „Verringerung der verkehrsbedingten CO2-Emissionen“ (6)).

3.4.1.

Es scheint sich ein Trend hin zur Elektrifizierung des Verkehrs abzuzeichnen. Um zum Klimaschutz beizutragen, muss der Strom aus emissionsarmen Energiequellen erzeugt werden, u. a. aus biobasierten Energiequellen.

3.4.2.

Fossile Kraftstoffe werden teilweise durch nachhaltige Biokraftstoffe ersetzt. Ungeachtet der zunehmenden Elektrifizierung von Personenkraftwagen sind Luftfahrt, Schifffahrt, Schwerlastverkehr und Offroad-Nutzfahrzeuge nach wie vor weitgehend kraftstoffabhängig. Fortgeschrittene Biokraftstoffe sind in diesem Kontext besonders vielversprechend.

3.5.

Die Nutzung von Bioenergie trägt nicht nur zum Klimaschutz bei, sondern auch zur Verfügbarkeit von Energie und zur Energieversorgungssicherheit. Eine korrekt gesteuerte Bioenergie kann daher einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung der grundlegenden energiepolitischen Ziele der EU leisten.

4.   Beitrag der Bioökonomie zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele (SDG)

4.1.

Die SDG stellen uns vor die Notwendigkeit, den Beitrag der Bioökonomie nicht nur aus dem klima- und energiepolitischen Blickwinkel, sondern auch aus umfassender wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Sicht zu bewerten, wobei auch eine langfristige globale Perspektive anzulegen ist. Aufgrund der übergreifenden Perspektive der Bioökonomie lassen sich zu fast allen der 17 SDG Verbindungen herstellen. Ganz besonders aber trägt die Bioökonomie zur Verwirklichung der SDG 1, 2, 6, 7, 8, 9, 11, 12, 13, 14 und 15 bei.

4.2.

Die Bioökonomie kann sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten Wirtschaftswachstum und Beschäftigung fördern und somit maßgebend zur Verwirklichung von SDG 1 (Armut beenden) beitragen.

4.3.

SDG 2 fordert die Beendigung des Hungers ein. Der Rohstoff Biomasse ist begrenzt, und es gibt Überschneidungen zwischen der Nahrungsmittel-, Futtermittel- und Faserproduktion. Es braucht einen verantwortungsvollen und nachhaltigen Bioökonomieansatz, um eine ausreichende Produktion für verschiedene Zwecke (mit Priorität für die Nahrungsmittelverfügbarkeit) zu ermöglichen und gesunde Ökosysteme sicherzustellen. Ressourceneffizienz, Kreislauffähigkeit und die Umstellung auf eine Ernährung mit niedrigerem Fleischanteil sind lauter Möglichkeiten zur Verwirklichung dieser Ziele.

4.4.

Eine nachhaltige Bioökonomie trägt beispielsweise durch die Erhaltung gesunder Waldökosysteme, die die Voraussetzung für sauberes Wasser sind, zu SDG 6 (sauberes Wasser und Sanitärversorgung) bei.

4.5.

SDG 7 (bezahlbare und saubere Energie) zählt zu den zentralen Belangen der Bioökonomie. Aus Seitenströmen und Abfallströmen wird saubere und erschwingliche Energie erzeugt, was die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern verringert.

4.6.

Insgesamt ist die Bioökonomie maßgebend für die Verwirklichung der wirtschaftlichen und sozialen Ziele und leistet einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung von SDG 8 (Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit). Die EU-Bioökonomie kann zudem eine erhebliche Senkung der Abhängigkeit von der Einfuhr fossiler Rohstoffe bewirken, dabei die einheimische Wertschöpfung fördern und lokale Wertschöpfungsketten unterstützen.

4.7.

SDG 9 zufolge sollen der Anteil der Industrie an der Beschäftigung und am BIP erheblich gesteigert sowie die Industrien nachgerüstet werden, um sie nachhaltig zu machen, mit effizienterem Ressourceneinsatz und unter vermehrter Nutzung sauberer und umweltverträglicher Technologien und Industrieprozesse. Die Bioökonomie ist mit all diesen Zielvorgaben verknüpft, und eine nachhaltige Nutzung von Biomasse kann die industrielle Führungskraft der EU stärken. Die Bioökonomie birgt auch ein großes Potenzial zur Förderung des Wachstums der KMU und ihrer Einbindung in Wertschöpfungsketten.

4.8.

Die Bioökonomie kann die Umsetzung von SDG 11 (nachhaltige Städte und Siedlungen) grundlegend unterstützen. Das Konzept klimaintelligenter Städte (7) und die Lebensqualität in städtischen Gebieten sind eng mit bioökonomischen Lösungen verknüpft (beispielsweise Holzbau oder emissionsarme Verkehrslösungen und Fernwärme).

4.9.

Die Bioökonomie bietet gute Voraussetzungen für die Verwirklichung von SDG 12 (nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster). Durch die Steigerung der Ressourceneffizienz, die Anwendung von Ökodesign und die Produktion langlebiger und recyclingfähiger Erzeugnisse kommt ihr eine wesentliche Rolle bei der Umstellung auf die Kreislaufwirtschaft zu. Die Sensibilisierung der Verbraucher gilt als wichtige Voraussetzung für einen sachkundigen und verantwortungsbewussten Verbrauch sowie für die Förderung einer nachhaltigen Produktion.

4.10.

Die Bioökonomie kann, wie bereits in Ziffer 3 erläutert, wesentlich zum globalen Klimaschutz beitragen, wie er in SDG 13 (Bekämpfung des Klimawandels) gefordert wird. Über den Binnenmarkt hinaus kann die EU ihren globalen Einfluss durch den Export von biobasierten Produkten, Klimalösungen und Fachwissen ausbauen.

4.11.

Schließlich wirkt sich die Bioökonomie auf SDG 14 (Meeresökosysteme) und SDG 15 (Landökosysteme) aus. Deshalb muss die verantwortungsvolle und effiziente nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen ein zentrales Anliegen der Bioökonomie sein.

5.   Voraussetzungen für die Entwicklung der Bioökonomie

5.1.

Die Bioökonomie kann zwar in vielfältiger Weise zur Verwirklichung der Klimaschutz- und Energieziele sowie der Nachhaltigkeitsziele beitragen, doch müssen dazu die Rahmenbedingungen stimmen. Zum einen fördern und verbessern die Nachhaltigkeitsziele das Entwicklungsumfeld für die Bioökonomie, zum anderen aber werden durch einige Nachhaltigkeitsziele Anforderungen aufgestellt, die die Bioökonomie erfüllen muss.

5.2.

Eine Anpassung der Bioökonomie-Strategie an neue Märkte ist erforderlich, um im Einklang mit der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit die besten Voraussetzungen für die sich rasch weiterentwickelnde und ausweitende europäische Bioökonomie zu schaffen.

5.3.

Die politischen Entscheidungsträger müssen vor allem eine nachhaltige Erzeugung und Mobilisierung von Biomasse in der EU fördern; über die EU-Regionalentwicklungspolitik sollten auch ausreichende Mittel für die Entwicklung von Unternehmen im ländlichen Raum bereitgestellt werden. Die politischen Entscheidungsträger müssen außerdem über alle Wertschöpfungsketten hinweg stabile, zuverlässige und kohärente Rahmenbedingungen für Investitionen in die Bioökonomie sicherstellen.

5.4.

Zur Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen für biobasierte Produkte sollten die politischen Entscheidungsträger einen kohärenten Rahmen für technische Vorschriften, Sicherheitsnormen und Vorschriften für staatliche Beihilfen annehmen. Der öffentliche Sektor muss auch entschieden die Nachfrage nach biobasierten Produkten im Wege der öffentlichen Beschaffung fördern. Initiativen wie eine „Europäische Woche der Bioökonomie“ könnten die Marktakzeptanz und den konstruktiven Austausch zwischen verschiedenen Projekten fördern.

5.5.

Forschung und Innovation sind eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung einer zukunftsfähigen Bioökonomie, einem potenziellen Wettbewerbsvorteil für die EU. Dabei wäre bei dem enormen Potenzial neuer biobasierter Produkte anzusetzen, von herkömmlichen Nahrungsmittel- und Faserprodukten bis hin zu neuen Bau- und Verpackungsmaterialien, Textilien sowie Biochemikalien und Biokunstoffen. Desgleichen geht es um die Erschließung des Potenzials der Pflanzenzucht und verschiedener Rohstoffe für biobasierte Produkte (u. a. Lignozellulose, Pflanzenöl, Stärke, Zucker, Proteine).

5.6.

Die Innovationsanstrengungen im Rahmen der EU-Bioökonomie-Strategie sollten fortgesetzt werden, darunter das Gemeinsame Unternehmen „Biobasierte Industriezweige“ (8). Auch das Bioökonomie-Wissenszentrum (9) sollte maßgeblich daran mitwirken, die Nutzung von Wissen für die Weiterentwicklung der Bioökonomie zu fördern. Forschungs- und Innovationsinitiativen und -programme sollten auch für Unternehmen attraktiver gestaltet werden.

5.7.

Bildungsmaßnahmen, Beratungsdienste, Wissenstransfer und Fortbildung sind entscheidende Voraussetzungen dafür, dass Arbeitnehmer und Unternehmer über die erforderlichen Informationen und Kompetenzen verfügen, um die Nachhaltigkeit ihrer Unternehmen zu erhöhen und neue Chancen der Bioökonomie zu nutzen.

5.8.

Gleichzeitig müssen die Bürger gut über die Bioökonomie informiert und stärker für ihre Verantwortung sensibilisiert werden, damit sie als aktive Verbraucher auftreten und nachhaltige Verbrauchsentscheidungen treffen können. Dabei ist die unterschiedliche Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit aller Altersgruppen zu berücksichtigen. Es sollten einschlägige Informationskampagnen zur Stärkung des Vertrauens der Verbraucher in die Bioökonomie und in biobasierte Produkte organisiert werden.

5.9.

Eine weitere grundlegende Voraussetzung für die Bioökonomie ist der Zugang zu Rohstoffen. Deshalb ist ein geeignetes Unternehmensumfeld für die Land- und Forstwirtschaft erforderlich, um die Verfügbarkeit und Mobilisierung von Biomasse zu fördern. Die mit den SDG 14 und 15 anvisierte nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder, Landökosysteme und Meeresressourcen trägt wesentlich zu einer sicheren Rohstoffversorgung bei. In diesem Zusammenhang sollte der bestehende legislative und nichtlegislative EU-Rahmen für nachhaltige und erneuerbare Rohstoffe bestätigt und gefördert werden. Die zunehmende Nutzung von Seitenströmen und Reststoffen als Ausgangsstoffe für neue Verwendungszwecke unterstützt ebenfalls die Verfügbarkeit von Biomasse. Bei kleinräumigen Strukturen kann Genossenschaften oder Erzeugerorganisationen eine wichtige Funktion zukommen.

5.10.

Eine geeignete physische Infrastruktur ist ebenfalls eine Voraussetzung für die Bioökonomie. Diesbezüglich müssen angemessene Mittel für die Energie-, die Verkehrs- und die digitale Infrastruktur zur Verfügung stehen. Effiziente Verkehrssysteme sind für den Zugang zu Rohstoffen und die Versorgung der Märkte unerlässlich.

5.11.

In Bezug auf die globalen Märkte ist die Bioökonomie eng mit SDG 17 verknüpft, das den Ausbau der globalen Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung sowie die Förderung eines universalen, regelgestützten, offenen, nichtdiskriminierenden und gerechten multilateralen Handelssystems unter dem Dach der Welthandelsorganisation verfolgt. Dies ist wichtig für den Handel mit landwirtschaftlichen und industriellen Erzeugnissen der Bioökonomie. Zur Förderung der regionalen Entwicklung sollte indes die Zusammenarbeit entlang regionaler Wertschöpfungsketten verbessert werden.

5.12.

Um die Entwicklung der Bioökonomie in neutraler Weise zu fördern, sollte die EU sich für ein globales Preissystem für CO2-Emissionen einsetzen, um so alle Marktakteure mit ins Boot zu holen und gleiche Ausgangsbedingungen sicherzustellen.

5.13.

Die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Gestaltung der Bioökonomie-Initiativen und die Entscheidungsfindung ist von größter Bedeutung, um die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren innerhalb der Gesellschaft zu stärken und die Öffentlichkeit für die nachhaltige Bioökonomie zu sensibilisieren.

5.14.

Der Übergang zu einer Niedrigemissions- und Kreislaufwirtschaft ist eine enorme Herausforderung und wird sich über tiefgreifende strukturelle Veränderungen auf die betroffenen Arbeitsplätze auswirken. Es muss dafür gesorgt werden, dass er gerecht gestaltet wird.

5.15.

Ausschlaggebend für den Erfolg einer nachhaltigen Bioökonomie ist ein sektorübergreifender Ansatz. Daher muss für Kohärenz und Koordinierung zwischen den verschiedenen strategischen Maßnahmen und Zielen der EU gesorgt werden, insbesondere mit Blick auf Klima- und Umweltschutz, Ernährung, Land- und Forstwirtschaft, Industrie, Energie, Kreislaufwirtschaft sowie Forschung und Innovation. Dazu sollte eine hochrangige Multi-Stakeholder-Gruppe für die nachhaltige Bioökonomie eingerichtet und vom Kommissionspräsidenten unterstützt werden.

5.16.

Der Fortschritt bei der Erreichung der SDG wird mithilfe von 232 Indikatoren gemessen und überwacht. Darunter befinden sich klima- und energierelevante Indikatoren, nicht aber spezifische Bioökonomie-Indikatoren. Die Europäische Kommission sollte daher möglichst relevante Indikatoren entwickeln, die ein realistisches und informatives Bild von der Entwicklung der EU-Bioökonomie vermitteln können.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Siehe den Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis 2030: https://ec.europa.eu/clima/policies/strategies/2030_de.

(2)  Siehe Artikel 4 Absatz 1 des Übereinkommens von Paris: https://unfccc.int/sites/default/files/paris_agreement_english_.pdf.

(3)  Siehe Erklärung der Europäischen Kommission, 19. Juni 2018: http://europa.eu/rapid/press-release_STATEMENT-18-3997_en.htm.

(4)  Siehe NAT/655 — Auswirkungen der Klima- und Energiepolitik auf die Land- und Forstwirtschaft, ABl. C 291 vom 4.9.2015, S. 1.

(5)  Siehe NAT/696 — Lastenteilung 2030 und Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft (LULUCF), (ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 103).

(6)  TEN/609 — Verringerung der verkehrsbedingten CO2-Emissionen, (ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 55).

(7)  http://www.climatesmartcities.org/.

(8)  https://www.bbi-europe.eu.

(9)  https://biobs.jrc.ec.europa.eu.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

537. Plenartagung des EWSA, 19.9.2018-20.9.2018

6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/51


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Künstliche Intelligenz für Europa“

(COM(2018) 237 final)

(2018/C 440/08)

Berichterstatter:

Giuseppe GUERINI

Mitberichterstatter:

Gonçalo LOBO XAVIER

Befassung

Europäische Kommission, 12.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

199/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Auffassung, dass künstliche Intelligenz (KI) und Automatisierungsprozesse ein enormes Potenzial bieten, um die europäische Gesellschaft in den Bereichen Innovation und positiver Wandel voranzubringen, dass sie aber auch mit erheblichen Herausforderungen, Risiken und Problemen verbunden sind. Deshalb ist es wichtig, dass die europäischen Institutionen rasch und umfassend eine vollumfängliche Entwicklung und Regulierung der KI in Angriff nehmen.

1.2.

Ein fortschrittliches europäisches KI-Konzept muss mehrere Aspekte umfassen, so u. a. i) öffentliche und private Investitionen in FuE sowie in fortgeschrittene digitale Infrastrukturen, ii) Umsetzung neuer bzw. Anpassung geltender Rechtsvorschriften, iii) Gewährleistung angemessener Kenntnisse und Sensibilisierung von Bürgern und Verbrauchern und iv) gezielte Schulungsprogramme für Arbeitnehmer.

1.3.

Insbesondere die Haftungsfragen in Verbindung mit den neuen digitalen Technologien sollten systematisch ermittelt und auf internationaler, EU- und Mitgliedstaatsebene geklärt werden. Der EWSA wäre bereit, eng mit den EU-Institutionen bei der Analyse und Bewertung sämtlicher EU-Rechtsvorschriften zu Haftung, Produktsicherheit und zivilrechtlicher Verantwortlichkeit zusammenzuarbeiten, die entsprechend zu ändern wären.

1.4.

Der EWSA begrüßt das Ziel der Kommissionsmitteilung, die industrielle und technologische Leistungsfähigkeit der EU zu stärken, um die KI in der europäischen Wirtschaft zu verbreiten. Angesichts der enormen Anstrengungen, die erforderlich sind, um mit den anderen globalen Akteuren Schritt zu halten, ist eine Koordinierung zwischen allen auf europäischer und nationaler Ebene verfügbaren Instrumenten und Finanzierungsmöglichkeiten unerlässlich.

Allerdings dürfen die Werte und Grundsätze der EU nicht auf dem Altar der globalen Wettbewerbsfähigkeit geopfert werden.

1.5.

In Bezug auf das Ziel der Kommission, „KI allen potenziellen Nutzern und insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen zugänglich“ zu machen, ist der EWSA der Auffassung, dass es für die Bewältigung der Herausforderungen der globalen Wettbewerbsfähigkeit unerlässlich ist, die KI möglichst vielen Akteuren zugänglich zu machen. Deshalb müssen auch sämtliche Unternehmensformen, einschließlich KMU, Landwirte, soziale Unternehmen, Genossenschaften, private Unternehmen, wie auch Verbraucherverbände Zugang zu KI haben.

1.6.

Die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten sollten gemeinsam und unter Beteiligung aller relevanten öffentlichen und privaten Interessenträger Leitlinien zur Ethik in der künstlichen Intelligenz entwickeln. In diesen Leitlinien muss der Grundsatz der Transparenz bei der Nutzung von KI-Systemen für die Einstellung von Mitarbeitern und die Bewertung oder Überwachung ihrer Leistung verankert werden. Der EWSA schlägt vor, neben ethischen Leitlinien auch einen klaren, harmonisierten und verpflichtenden EU-Rechtsrahmen aufzustellen, um KI gebührend zu regulieren und durch KI berührte geltende Rechtsvorschriften zu aktualisieren, insbesondere in Verbindung mit Herstellerhaftung und Verbraucherschutz. Der EWSA ist daran interessiert, eng mit den EU-Institutionen bei der Analyse und Bewertung einschlägiger EU-Rechtsvorschriften zusammenzuarbeiten, die künftig infolge der Entwicklung der KI geändert werden müssen.

1.6.1.

Die Europäische Kommission wird ferner eine gründliche Bewertung der Auswirkungen der KI auf den Arbeitsmarkt durchführen müssen. Bei dieser Prüfung muss sowohl berücksichtigt werden, dass manche Arbeitnehmer möglicherweise durch elektronische Geräte oder Roboter ersetzt werden, als auch die Tatsache, dass einige Aufgaben zwar nicht vollkommen automatisiert, aber durch die neuen Technologien grundlegend verändert werden.

1.7.

Aus diesem Grund empfiehlt der EWSA, „die Einbeziehung aller“ über einen frommen Wunsch oder Mahnruf hinaus konkret umzusetzen.

1.8.

Es muss betont werden, wie wichtig Berufsbildungsprogramme sind, wenn es darum geht, europäische Arbeitnehmer zu schützen, die mit einem radikalen Wandel infolge der zunehmenden Verbreitung der KI konfrontiert sind. Die europäischen Bürger sollten Zugang zu einschlägigen Informationen haben, um die infolge des rasanten technologischen Fortschritts verfügbaren Geräte und Anwendungen auf verantwortungsvolle und sachkundige Weise nutzen zu können.

1.9.

Sobald öffentliche Verwaltungen technologiegestützt organisatorische Entscheidungen treffen und raschere Beschlüsse fassen können, muss mithilfe eines klaren Rechtsrahmens, der eine umfassende Rechenschaftspflicht der Verwaltung gegenüber den Bürgern gewährleistet, geklärt werden, wer letztlich für diese Entscheidungen rechtlich haftbar ist.

1.10.

Besondere Aufmerksamkeit sollte der Rolle gelten, die der Zivilgesellschaft und den sozialwirtschaftlichen Organisationen dabei zukommt, für eine größere aktive Beteiligung der Bürger an den wirtschaftlichen und sozialen Prozessen zu sorgen, mit denen dank der künstlichen Intelligenz die Partizipation in unserer Gesellschaft verstärkt werden kann. Die Organisationen der Zivilgesellschaft und soziale Unternehmen können eine wichtige Rolle dabei spielen, Technologieverständnis und -akzeptanz der Bürger zu fördern, insbesondere durch Kooperationsmechanismen, die eine Einbeziehung der Bürger in den derzeitigen digitalen Wandel ermöglichen.

1.11.

Die gegenwärtige technologische Revolution kann und darf nicht ohne eine umfassende und aktive Beteiligung von Arbeitnehmern, Verbrauchern und sozialen Organisationen erfolgen, und die technologische Entwicklung muss auf eine stärkere und verantwortungsbewusste Teilhabe umfassend informierter Bürger ausgerichtet werden. Deshalb empfiehlt der EWSA der Europäischen Kommission, bei der Einrichtung der Europäischen Allianz für KI die Notwendigkeit zu berücksichtigen, eine inklusive, multiprofessionelle und repräsentative Plattform für die unterschiedlichen Interessenträger zu schaffen, die die europäischen Bürger sowie die Arbeitnehmer, die mit intelligenten Maschinen interagieren müssen, vertreten (1).

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Durch digitale Geräte sowie Großlernmaschinen verbessert sich täglich die Fähigkeit der Algorithmen, enorme Datenmengen zu bewältigen. Dank der so genannten „neuronalen Netze“ (die z. B. bereits von Smartphones für die visuelle Erkennung von Gegenständen, Gesichtern und Bildern genutzt werden) werden diese Fähigkeiten in Zukunft voraussichtlich noch weiter ausgebaut.

2.2.

Diese Entwicklungen verändern die bisherige „Lernweise“ von KI-Geräten, die nicht mehr nur aus Daten Regeln ableiten können, sondern eine flexible und adaptive Lernfähigkeit entwickeln. Dadurch wird die Fähigkeit der KI gesteigert, in der realen Welt zu lernen und Handlungen auszuführen.

2.3.

Angesichts des derzeitigen rasanten technologischen Wandels ist es nunmehr von entscheidender Bedeutung, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten gemeinsam und unter Einbeziehung aller einschlägigen öffentlichen und privaten Akteure eine ausführliche Analyse der neuen Herausforderungen vornehmen, die durch die rasche Entwicklung der KI entstehen, ohne dadurch den Fortschritt und die technologische Entwicklung zu hemmen.

2.4.

Die Kommissionsmitteilung COM(2018) 237 final zielt darauf ab, die industrielle und technologische Leistungsfähigkeit der EU zu stärken und die Verbreitung der KI in der europäischen Wirtschaft, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor, zu fördern. Wie bereits in seiner Initiativstellungnahme (2) betont, unterstützt der EWSA die Initiative der Kommission, die zahlreiche der vom EWSA seinerzeit unterbreiteten Vorschläge in ihrer Mitteilung aufgegriffen hat. Gleichzeitig mahnt er die Kommission an, schnell und entschlossen zu handeln.

2.5.

Bei einem wirksamen europäischen Ansatz im Bereich der KI müssen umfangreiche Investitionen in Forschung und Innovation sowie in digitale Infrastrukturen gefördert werden. Sie sind für eine Vorbereitung auf die sozioökonomischen Herausforderungen erforderlich, die in den kommenden Jahren infolge der Entwicklung der neuen Technologien auf die europäische Gesellschaft und die europäischen Märkte zukommen werden.

2.6.

Die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten sollten gemeinsam und unter Einbeziehung aller relevanten öffentlichen und privaten Interessenträger Leitlinien zur Ethik in der künstlichen Intelligenz aufstellen.

2.7.

Gleichzeitig muss auf europäischer Ebene ein harmonisierter Rechtsrahmen angenommen werden, der mit der Grundrechtecharta der EU und den in den EU-Verträgen verankerten Grundsätzen im Einklang steht. Der neue Rechtsrahmen sollte präzise Vorschriften zur Regelung der Probleme enthalten, die in Verbindung mit maschinellen Lernen auftreten, bspw. fehlende Markttransparenz, mangelnder Wettbewerb, Diskriminierung, unlautere Geschäftspraktiken, Bedrohungen der Cybersicherheit und Beeinträchtigung der Produktsicherheit.

Die rechtlichen Schutzbestimmungen sollten insbesondere dann streng sein, wenn datengetriebene KI-Systeme die Daten automatisch bei der Nutzung elektronischer Geräte und Computer abrufen.

2.8.

Der EWSA stellt fest, dass in der der Mitteilung beigefügten Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen SWD(2018) 137 final die Auswirkungen der KI auf die Rechtsvorschriften der EU gebührend analysiert und ein Überblick über die Haftungsfragen in Verbindung mit den neuen digitalen Technologien gegeben werden.

2.9.

Weiter werden umfassende Aktionspläne benötigt, um i) die Modernisierung der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung durch die Förderung der neuen, auf dem künftigen Arbeitsmarkt gefragten Berufe zu unterstützen, und ii) angesichts der erwarteten Herausforderungen einen hohen Schutz für Bürger und Arbeitnehmer zu gewährleisten (3).

2.10.

Der EWSA ruft die Kommission auf, schnell weitere Maßnahmen im Bereich der Regulierung wie auch der Förderung von Investitionen zu ergreifen, da das Tempo des derzeitigen Wandels eine rasche Anpassung erforderlich macht.

3.   Der Kommissionsvorschlag: EU-Förderung und -Investitionen im Bereich künstliche Intelligenz

3.1.

In ihrer Mitteilung kündigt die Kommission an, dass sie die Verbreitung von KI sowohl im Bereich der Grundlagenforschung als auch der industriellen Anwendung unterstützen wird. In diesem Zusammenhang betont der EWSA, wie wichtig es ist, alle Arten Interessenträger an diesem Prozess zu beteiligen, u. a. KMU, Dienstleistungsunternehmen, soziale Unternehmen, Landwirte, Genossenschaften, Verbraucherverbände und Seniorenverbände.

3.2.

In Bezug auf das Ziel der Kommission, „KI allen potenziellen Nutzern und insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen zugänglich“ zu machen, ist der EWSA der Auffassung, dass es für die Bewältigung der Herausforderungen der globalen Wettbewerbsfähigkeit unerlässlich ist, die KI möglichst vielen Akteuren zugänglich zu machen. Neben der von der Kommission bereits vorgesehenen Entwicklung einer „Plattform für KI auf Abruf“ ist es auch wichtig, angemessene Formen der Beteiligung und Konsultation der verschiedenen Interessenträger, einschließlich KMU, Netze der Sozialwirtschaft und Organisationen der Zivilgesellschaft zu gewährleisten (den Letzteren kommt eine ausschlaggebende Rolle dabei zu, die EU-Bürger zu einer sachkundigen und aktiven Mitwirkung zu bewegen).

3.3.

Die Kommission hat angekündigt, dass sie Innovationen im KI-Bereich mithilfe eines Pilotprogramms des Europäischen Innovationsrates fördern wird, für welches für den Zeitraum 2018-2020 Mittel in Höhe von 2,7 Mrd. EUR zur Verfügung stehen.

3.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine solche Initiative für die Entwicklung von KI durchaus zweckmäßig sein könnte, betont jedoch gleichzeitig, dass die Forschungsfinanzierung rasch von der Testphase zur strukturellen Phase übergehen sollte. Darüber hinaus sollte die Kommission die verschiedenen in den einzelnen Mitgliedstaaten befindlichen Forschungszentren dazu bewegen, ein der künstlichen Intelligenz gewidmetes Kooperationsnetz auf europäischer Ebene zu schaffen.

3.5.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission die KI-Investitionen im Zuge des Programms „Horizont 2020“ bis Ende 2020 auf rund 1,5 Mrd. EUR erhöhen will. Bei einer raschen Umsetzung im Rahmen der bestehenden öffentlich-privaten Partnerschaften könnte dieser Ansatz innerhalb von zwei Jahren weitere Investitionen in Höhe von 2,5 Mrd. EUR bringen. Der gleiche Ansatz muss auch im künftigen Rahmenprogramm „Horizont Europa“ verfolgt werden.

3.6.

Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, ist auch zu begrüßen, dass die Europäische Kommission und der Europäische Fonds für strategische Investitionen, der bei der Förderung der Entwicklung von KI in der EU eine zentrale Lenkungsrolle spielen sollte, das Programm VentureEU aufgelegt haben. Es handelt sich dabei um einen Risikokapitalfonds mit Mitteln in Höhe von 2,1 Mrd. EUR zur Förderung von Investitionen in innovative Unternehmen in ganz Europa.

3.7.

Angesichts der enormen Anstrengungen, die erforderlich sind, um mit den anderen globalen Akteuren Schritt zu halten, sind jedoch eine Koordinierung und die Schaffung von Synergien zwischen allen auf europäischer und nationaler Ebene verfügbaren Instrumenten und Finanzierungsmöglichkeiten unerlässlich. Es liegt auf der Hand, dass die auf europäischer Ebene tätigen öffentlichen und privaten Akteure ihre Kräfte bündeln müssen, um mit den Investitionen Chinas und der USA im KI-Sektor konkurrieren und weltweit eine Führungsrolle der Europäischen Union gewährleisten zu können.

3.8.

Um im KI-Bereich profitabel, wettbewerbsfähig und überzeugend zu sein, muss die EU auch angemessen in die entsprechende IT-Software, Hardware und digitale Infrastruktur investieren.

3.9.

Bei Investitionen in KI sollte der besonderen Stärke europäischer Unternehmen in den Bereichen Automatisierung und Robotik Rechnung getragen werden. Diese Bereiche, die im weiteren Sinn auch zur KI zählen, könnten daher wesentlich dazu beitragen, der EU eine globale technologische Führungsrolle zu sichern, weshalb ihnen besondere Aufmerksamkeit zukommen sollte.

4.   Die künstliche Intelligenz und ihre Auswirkungen auf Mensch und Arbeitnehmer

4.1.

Die Entwicklung der KI schreitet unbestreitbar sehr rasch voran. Deshalb müssen die EU-Institutionen bei der Abschätzung der Folgen sämtlicher Regulierungsmaßnahmen im KI-Bereich einen bereichsübergreifenden Ansatz verfolgen, bei dem nicht nur verwaltungstechnischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekten, sondern auch anthropologischen, psychologischen, soziologischen und technologischen Erwägungen Rechnung getragen wird.

4.2.

Um diese Innovationen zu fördern, vor allem aber um sie auf den Menschen zu zentrieren, ist es wichtig, dass die Europäische Union einerseits auf eine hohe technologische Wettbewerbsfähigkeit hinarbeitet, ohne andererseits wesentliche ethische, soziale und menschliche Überlegungen außer Acht zu lassen.

4.3.

Der EWSA hält es daher für wesentlich: i) mittels angemessener Rechtsinstrumente die Privatsphäre zu schützen und für einen verantwortungsvollen Umgang mit personenbezogenen Daten zu sorgen, bspw. durch die wirksame Umsetzung der neuen Datenschutz-Grundverordnung, die ggf. fortwährend an die rasche Weiterentwicklung der KI angepasst werden muss; ii) wichtige Teile der relevanten EU-Rechtsvorschriften zu bewerten und erforderlichenfalls an die neuen KI-bedingten Gegebenheiten anzupassen; und iii) die Kompetenzen und Fähigkeiten auszubauen, die die Bürger, die öffentlichen Verwaltungen und die europäischen Unternehmen benötigen, um die Vorteile der künstlichen Intelligenz wirksam nutzen zu können.

4.4.

Die Analyse sollte bei der Tatsache ansetzen, dass die KI sich auf die Nutzung und Verarbeitung großer Mengen von Daten stützt, die die Grundlage aller auf den neuen Technologien basierenden Anwendungen sind. Die größte Herausforderung für die europäischen Regulierungsbehörden ist deshalb die Sicherstellung eines transparenten und regulierten Zugangs zu den Daten der Endnutzer.

4.5.

Je höher die Qualität der verarbeiteten Daten, desto genauer und leistungsfähiger die KI-Systeme. Allerdings darf hierbei nicht außer Acht gelassen werden, dass die Beschaffung der personenbezogenen Daten auf legale Weise erfolgen und ihre Nutzung den Betroffenen bekannt sein muss, damit die Nutzung personenbezogener Daten zu vorab festgelegten und transparenten Zwecken erfolgt, denen die Nutzer in Kenntnis der Sachlage zuvor ordnungsgemäß zugestimmt haben.

4.6.

Es sei darauf hingewiesen, dass zum Schutz der Endverbraucher einige wichtige Teile des europäischen Rechts (z. B. im Zusammenhang mit Online-Werbung, unlauteren Geschäftspraktiken, Produktsicherheit und -haftung, Verbraucherrechten, missbräuchlichen Vertragsklauseln, Verbrauchsgüterkauf und Garantien für Verbrauchsgüter, Versicherungen und Preisangaben) möglicherweise geändert und an die neuen Szenarien angepasst werden müssen, die mit einer umfassenderen und verbesserten Nutzung der künstlichen Intelligenz einhergehen.

4.7.

Mit der maßgebenden Frage der Produktsicherheit und -haftung hat die Kommission sich in ihrer Arbeitsunterlage SWD(2018) 137 final eingehend befasst, sie hat einschlägige Fallstudien analysiert und eine Liste von EU-Rechtsvorschriften zur weiteren Prüfung und Bewertung aufgestellt. Der EWSA bestärkt die Kommission darin, diese Arbeit fortzusetzen, und ist bereit, dazu beizutragen.

4.8.

Es sollte betont werden, wie wichtig die kulturelle, schulische und akademische Bildung auf der einen Seite und eine angemessene allgemeine Aufklärung der Öffentlichkeit auf der anderen Seite ist, um die Rechte der EU-Bürger angesichts des Fortschritts der KI zu schützen. Insbesondere müssen Transparenz und Sorgfalt bei der Verwaltung der KI-Algorithmen und ihrer Datengrundlagen gewährleistet werden.

4.9.

Deshalb müssen die EU-Bürger unbedingt entsprechend geschult werden und einfache, verständliche Informationen erhalten, sodass sie die infolge des rasanten technologischen Fortschritts verfügbaren und zunehmend allgegenwärtigen Geräte und Anwendungen verantwortungsvoll und sachkundig nutzen können.

4.10.

Die EU und die Mitgliedstaaten müssen für all diese Anliegen klare und wirksame Lösungen bieten, indem sie insbesondere ein zeitgerechtes Bildungssystem und lebenslanges Lernen auf dem Arbeitsmarkt und in der Zivilgesellschaft fördern.

4.11.

Die Europäische Kommission wird eine gründliche Bewertung der Auswirkungen der KI auf den Arbeitsmarkt durchführen müssen. Diese gehören zu den größten Sorgen der langjährigen, aber noch weit vom Rentenalter entfernten Arbeitnehmer in der EU, die die derzeitige Entwicklung mit Argwohn und Angst beobachten. Bei dieser Prüfung muss sowohl berücksichtigt werden, dass manche Arbeitnehmer möglicherweise durch elektronische Geräte oder Roboter ersetzt werden, als auch die Tatsache, dass einige Aufgaben zwar nicht vollkommen automatisiert, aber durch die neuen Technologien grundlegend verändert werden. Folglich dürfen sich die Prüfung und Bewertung nicht nur auf die unvermeidlichen und erwarteten Veränderungen bei den Produktionsketten richten, sondern in Verbindung mit einem angemessenen sozialen Dialog mit den Arbeitnehmern auch auf neue Denkansätze bei den Organisationsabläufen und Geschäftszielen.

4.12.

Wie auch bei vielen anderen Technologien wird es in einigen Fällen ratsam sein, die KI schrittweise nach der Methode der sukzessiven Annäherung zu erproben, bevor sie in großem Maßstab eingesetzt werden, um den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, sich — auch mithilfe entsprechender Schulungen — mit den neuen Technologien vertraut zu machen und etwaige Anpassungsfehler im Laufe des Prozesses zu beheben (4).

4.13.

Die Einführung neuer Technologien in Unternehmen erfordert einen sozialen Dialog zwischen den verschiedenen Betroffenen. Die Arbeitnehmerorganisationen und Gewerkschaften müssen diesbezüglich fortwährend informiert und konsultiert werden.

5.   Künstliche Intelligenz, öffentliche Verwaltung und Zivilgesellschaft

5.1.

Die KI ist eine technologische und soziale Innovation, die tiefgreifende Veränderungen in der gesamten Gesellschaft mit sich bringen und auch den öffentlichen Sektor und die Beziehung zwischen den Bürgern und der öffentlichen Verwaltung auf positive Weise verändern kann. Die künstliche Intelligenz bietet Chancen sowohl im Hinblick auf eine effizientere Organisation der Verwaltung als auch auf die Zufriedenheit der Bürger mit den Dienstleistungen der öffentlichen Verwaltung und mit einem effizienten öffentlichen Dienst.

5.2.

Zur Erreichung dieser Ziele müssen auch die Bediensteten der öffentlichen Verwaltung auf die durch die KI bedingten Veränderungen und Herausforderungen für die europäische Gesellschaft vorbereitet werden. Die Beamten und administrativen Führungskräfte — ebenso wie die bereits erwähnten Lehrkräfte, Ausbilder und Universitätsmitarbeiter — müssen das Phänomen der KI voll und ganz verstehen, um entscheiden zu können, welche neuen Instrumente sie bei den Verwaltungsabläufen nutzen wollen.

5.3.

Die Einführung der KI im öffentlichen und privaten Sektor setzt die Konzipierung von Verfahren voraus, die mittels Kooperationsmechanismen, über die die Bürger — soweit möglich anhand von Systemen für eine partizipative Governance — einen Beitrag zur Entwicklung der auf der KI basierenden Technologien leisten können, Technologieverständnis und -akzeptanz der Nutzer fördern.

5.4.

Um diesbezüglich nennenswerte Ergebnisse zu erzielen, könnte es sich als sinnvoll erweisen, zunehmend tragfähige Formen der Zusammenarbeit und Partnerschaften zwischen öffentlichem und privatem Sektor zur Nutzung der durch die technischen Anwendungen, künstliche Intelligenz und Robotik gebotenen Möglichkeiten zu entwickeln.

5.5.

Die öffentlichen Verwaltungen stehen hinsichtlich Legalität und Legitimität vor einem besonders heiklen Problem, da die öffentlichen Interessen (mit denen die Ausübung staatlicher Befugnisse verbunden ist) und die Einzelinteressen (konkreter Ausdruck der Freiheit des Einzelnen) angemessen gegeneinander abgewogen werden müssen. So setzt die Nutzung der KI durch die öffentliche Verwaltung bspw. voraus, dass in einem klaren und expliziten Rechtsrahmen der Grundsatz der Transparenz und Offenlegung der Verwaltungsakte mit dem Schutz personenbezogener Daten und dem Recht des Einzelnen auf Privatsphäre in Einklang gebracht wird.

5.6.

Sobald öffentliche Verwaltungen technologiegestützt organisatorische Entscheidungen treffen und raschere Beschlüsse fassen können — z. B. bei der Auswahl von Auftragnehmern bei Ausschreibungsverfahren, bei der Führung von Wartelisten für besondere Dienstleistungen oder bei der Einstellung neuer Mitarbeiter im öffentlichen Sektor —, muss mithilfe eines klaren Rechtsrahmens, der eine umfassende Rechenschaftspflicht der Verwaltung gegenüber den Bürgern gewährleistet, geklärt werden, wer letztlich für diese Entscheidungen rechtlich haftbar ist.

5.7.

Den Organisationen der Zivilgesellschaft und sozialen Unternehmen kommt eine wichtige Rolle bei der Förderung von Technologieverständnis und -akzeptanz der Bürger zu, insbesondere durch Kooperationsmechanismen, die eine Einbeziehung in den digitalen Wandel ermöglichen. In diesem Zusammenhang ist die Möglichkeit wichtig, Systeme für eine partizipative Verwaltung dieser Instrumente — beispielsweise in kooperativer Form — zu schaffen, angefangen bei den digitalen Plattformen, über die bereits neue Formen der wirtschaftlichen Beziehungen bei der Arbeitsorganisation entstehen.

5.8.

Für Marktüberwachungsmechanismen zuständige Verwaltungsbehörden sollten über die Sachkenntnis und die Befugnisse verfügen, für einen fairen Wettbewerb zu sorgen und die Verbraucherrechte sowie die Sicherheit und Rechte der Arbeitnehmer zu schützen. Für die Prüfung von Algorithmen sollten öffentliche oder unabhängige Stellen zuständig sein. Gleichzeitig sollten Unternehmen wirksame Mechanismen einführen, um die Datennutzung durch KI zu überprüfen.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Siehe die Stellungnahme des EWSA „Künstliche Intelligenz: Antizipation ihrer Auswirkungen auf die Beschäftigung zur Gewährleistung eines gerechten Übergangs“ (INT/845), Berichterstatterin: Frau Salis-Madinier (siehe Seite 1 dieses Amtsblatts).

(2)  Siehe die Stellungnahme des EWSA vom 31. Mai 2017„Künstliche Intelligenz — die Auswirkungen der künstlichen Intelligenz für den (digitalen) Binnenmarkt und Produktion, Verbrauch, Beschäftigung und Gesellschaft“ (INT/806) (ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 1).

(3)  Siehe die Stellungnahme des EWSA „EU-Konzepte zur Gestaltung von Übergängen in eine digitalisierte Arbeitswelt“ (SOC/578) (ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 15).

(4)  Siehe die Stellungnahme des EWSA „Künstliche Intelligenz: Antizipation ihrer Auswirkungen auf die Beschäftigung zur Gewährleistung eines gerechten Übergangs“ (INT/845), Berichterstatterin: Frau Salis-Madinier (siehe Seite 1 dieses Amtsblatts).


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/57


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Ermöglichung der digitalen Umgestaltung der Gesundheitsversorgung und Pflege im digitalen Binnenmarkt, die aufgeklärte Mitwirkung der Bürger und den Aufbau einer gesünderen Gesellschaft“

(COM(2018) 233 final)

(2018/C 440/09)

Berichterstatter:

Diego DUTTO

Mitberichterstatter:

Thomas KATTNIG

Befassung

Europäische Kommission, 18.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

193/0/3

1.   Schlussfolgerungen

1.1.

Bei den durch den digitalen Wandel entstehenden Veränderungen müssen die Menschen im Mittelpunkt der Pflege stehen.

1.2.

Die Digitalisierung muss dem Gesundheitspersonal mehr Zeit für die Patienten verschaffen. Im Gesundheitsbereich muss für eine angemessene Ausstattung mit qualifiziertem und digital entsprechend kompetentem Personal gesorgt werden.

1.3.

Der digitale Wandel verändert die Art der Arbeit im Gesundheits- und Pflegebereich. Alle Beteiligten sollten diesen Wandel auf professionelle Weise und offen angehen, um hohe Qualitätsstandards zu erreichen.

1.4.

Der soziale Dialog auf europäischer Ebene in Bezug auf Krankenhäuser und die Gesundheitsversorgung sowie soziale Dienstleistungen muss gestärkt werden. Geeignete Schulungs- und Weiterbildungsprogramme sind erforderlich. Daneben müssen die Arbeitsbedingungen und die Qualität der Arbeitsplätze ebenso verbessert werden wie der Schutz von Personaldaten.

1.5.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist sich bewusst, dass die Mitgliedstaaten für die Organisation und Erbringung von Dienstleistungen der Gesundheits- und Sozialfürsorge zuständig sind. Gemäß der Richtlinie über Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (Richtlinie 2011/24/EU) muss ein Online-Netz für Gesundheitsdienste (eHealth-Netz) eingerichtet werden, um die Interoperabilität elektronischer Gesundheitsdienste voranzubringen.

1.6.

Digitale Hilfsmittel müssen als Hebel für die Entwicklung neuer Organisationsformen in den Gesundheits- und Pflegesystemen wirken. Sie fördern das Potenzial des Einzelnen, von lokalen Gemeinschaften und der Sozialwirtschaft. Durch angemessene öffentliche Investitionen müssen das Solidarprinzip und der Universalitätsgrundsatz als Grundlage dieser Systeme bekräftigt werden.

1.7.

Die Digitalisierung darf nicht als Sparpaket für die Gesundheitshaushalte missverstanden werden. Sie darf nicht zu Personalkürzungen oder zur Beschneidung des Dienstleistungsangebots führen. Die Pflege muss als persönliche Dienstleistung betrachtet werden. Angesichts der alternden Bevölkerung müssen neue Konzepte für die Langzeitpflege entwickelt werden.

1.8.

Der EWSA befürwortet die in der Mitteilung skizzierte Zielvorstellung, d. h. Gesundheitsförderung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten, Erfüllung der bislang unbefriedigten Bedürfnisse der Patienten und Erleichterung des gleichberechtigten Zugangs der Bürger zu einer hochwertigen Fürsorge durch eine angemessene Nutzung digitaler Innovationen und der Sozialwirtschaft.

1.9.

Im sozialen und digitalen Kontext betrifft die Gesundheitskompetenz die Fähigkeit einer Person, sich Informationen zu beschaffen, sie zu verstehen und verantwortungsvoll zu nutzen, um ihr Wohlbefinden zu steigern und gesund zu bleiben.

1.10.

Die Bürger sollten das Recht auf Zugang zu ihren Gesundheitsdaten haben. Sie entscheiden, ob und in welchem Fall sie diese Daten weitergeben. Unbedingt ist die Datenschutz-Grundverordnung zu berücksichtigen, die den Bürgern Kontrolle über die Verwendung ihrer personenbezogenen Daten, insbesondere der Gesundheitsdaten, garantiert.

1.11.

Der EWSA hält eine aktive Form des Schutzes durch ein „Recht auf (kostenlose) Kopien“ für denkbar. Dies betrifft sämtliche Daten, die die Nutzer bei ihrer Interaktion mit digitalen Gesundheitsplattformen generieren, damit die Bürger ihre eigenen Daten wiederverwenden können.

1.12.

Die Originaldaten der Nutzer sind ein nützlicher Wert für Algorithmen und Plattformen; sie müssen als von den Nutzern erzeugtes „Originalprodukt“ betrachtet werden, das gemäß den Vorschriften zum geistigen Eigentum geschützt werden muss.

1.13.

Das „Recht auf (kostenlose) Kopien“ hilft auch beim Schutz und der Förderung des Wettbewerbs, die derzeit durch die Systeme, die digitale Plattformen gegenwärtig nutzen, um sich Daten und die Geschichte von Patienten anzueignen, auf eine harte Probe gestellt werden.

1.14.

Der EWSA befürwortet (1) das auf vier Grundpfeiler gestützte Verfahren für die grenzüberschreitenden gemeinsamen Arbeiten beim digitalen Wandel im Gesundheits- und Pflegebereich, einschließlich gemeinsamer klinischer Bewertungen, gemeinsamer wissenschaftlicher Konsultationen, der Ermittlung neu entstehender Gesundheitstechnologien und der freiwilligen Zusammenarbeit unter Mitgliedstaaten.

1.15.

Der EWSA empfiehlt geeignete Maßnahmen zur Erforschung neuer ethischer, rechtlicher und sozialer Rahmen, die den mit dem Data-Mining verbundenen Risiken Rechnung tragen.

1.16.

Der EWSA schlägt vor, Forschung und Innovation in Bezug auf die Einbeziehung der Digitaltechnologien zu fördern, um die Gesundheitsversorgung zu erneuern, z. B. künstliche Intelligenz, Internet der Dinge und Interoperabilität. Der EWSA unterstützt die Öffentlichkeit voll und ganz in Bezug auf ihren sicheren grenzüberschreitenden Zugang zu verlässlichen Gesundheitsdaten, um die Erforschung und die Prävention von Krankheiten zu fördern.

1.17.

Außerdem begrüßt der EWSA die Unterstützung, die die EU KMU und sozialwirtschaftlichen Unternehmen zuteilwerden lässt, die digitale Lösungen für eine individuell ausgerichtete Gesundheitsversorgung und für Rückmeldungen der Patienten entwickeln.

1.18.

Der EWSA spricht sich für einen „Ausgleich“ der sozialen und wirtschaftlichen Unausgewogenheit in der datengesteuerten Wirtschaft aus, durch die Förderung der Entwicklung sicherer Plattformen sowie durch die Unterstützung von nicht gewinnorientierten genossenschaftlichen Organisationen, um digitale Kopien sämtlicher personenbezogener Daten zu speichern, zu verwalten und auszutauschen.

2.   Hintergrund und allgemeine Bemerkungen

2.1.

Am 25. April 2018 veröffentlichte die Europäische Kommission ihre Mitteilung über die digitale Umgestaltung der Gesundheitsversorgung und Pflege im digitalen Binnenmarkt (2), in der es um die Reformen und innovativen Lösungen geht, die erforderlich sind, um die Gesundheits- und Pflegesysteme belastbarer, zugänglicher und wirksamer bei der Erbringung hochwertiger Fürsorgeleistungen für die europäischen Bürger zu machen und für eine gesündere Gesellschaft zu sorgen. Digitale Lösungen für die Gesundheitsfürsorge und Pflege können das Wohlergehen von Millionen von Bürgern steigern und die Wirksamkeit der Gesundheits- und Pflegedienstleistungen, die für die Patienten erbracht werden, radikal verbessern, wenn sie entsprechend konzipiert sind und kosteneffizient umgesetzt werden. Die Digitalisierung kann die Kontinuität der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (Richtlinie 2011/24/EU) fördern — ein wichtiger Aspekt für all jene, die sich für Beruf oder Freizeit im Ausland aufhalten. Überdies kann die Digitalisierung — auch im Rahmen des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz — zur Gesundheitsförderung und zur Krankheitsprävention beitragen. Sie kann die Reformierung der Gesundheitssysteme und deren Übergang zu neuen Pflegemodellen unterstützen, die auf den Bedürfnissen der Menschen beruhen, und den Wechsel von einer überwiegend auf Krankenhäuser konzentrierten Versorgung zu integrierten und mehr von der Gemeinschaft getragenen Fürsorgestrukturen ermöglichen. Im Zuge der Änderungen muss sichergestellt werden, dass die Bürgerinnen und Bürger im Mittelpunkt der Pflege stehen. Die Digitalisierung sollte dem Gesundheitspersonal mehr Zeit für die Patienten verschaffen. Daher muss im Gesundheitsbereich für eine angemessene Ausstattung mit qualifiziertem und digital entsprechend kompetentem Personal gesorgt werden.

2.2.

Infolge des Übergangs zu einer digitalen Gesundheitsversorgung und Pflege wandelt sich in diesen Bereichen die Arbeitswelt. Dabei lässt sich nur dann ein hoher Qualitätsstandard erreichen, wenn alle Beteiligten den Wandel auf professionelle Weise und offen angehen. Daher muss der soziale Dialog auf europäischer Ebene im Bereich des Gesundheitswesens und der sozialen Dienstleistungen weiter gestärkt werden, geeignete Schulungs- und Weiterbildungsprogramme müssen konzipiert und die Arbeitsbedingungen — insbesondere die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, der Schutz von Personaldaten und die Arbeitsplatzqualität — müssen verbessert werden.

2.3.

Die Europäische Kommission weist darauf hin, dass Europas Gesundheits- und Pflegesysteme vor großen Herausforderungen stehen, darunter das Altern, die Multimorbidität, Impfstoffe, der Arbeitskräftemangel im Gesundheitswesen aufgrund der schwierigen Arbeitsbedingungen und das wachsende Problem vermeidbarer nicht übertragbarer Krankheiten, die durch Risikofaktoren wie Tabak, Alkohol und Fettleibigkeit verursacht werden, sowie anderer Erkrankungen einschließlich neurodegenerativer und seltener Krankheiten. Eine zusätzliche und zunehmende Bedrohung sind Infektionskrankheiten infolge einer erhöhten Resistenz gegenüber Antibiotika und neuer oder erneut auftretender Krankheitserreger. Die öffentlichen Kosten für Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege in den EU-Mitgliedstaaten steigen, und dieser Trend dürfte sich auch künftig fortsetzen. Besonders wichtig ist es, dass die damit verbundenen Kosten zur Verbesserung der Arbeitsplatzqualität für die Angehörigen der Gesundheitsberufe genutzt und schlechte Bezahlung und belastende Arbeitsbedingungen vermieden werden. Angesichts der alternden Bevölkerung müssen neue Konzepte für die Langzeitpflege entwickelt werden.

2.4.

Selbst wenn Gesundheitsdaten vorhanden sind, hängt ihre Verwertung häufig von nicht kompatibler Technik ab, was ihre breite Verwendung behindert.

2.5.

Deshalb fehlt es den Gesundheitsfürsorgesystemen an wichtigen Informationen zur Optimierung ihrer Dienste und haben es Dienstleister schwer, Größenvorteile zu erzielen und somit effiziente digitale Gesundheits- und Pflegedienste anzubieten und die grenzüberschreitende Nutzung von Gesundheitsdiensten zu unterstützen. Die anhand der Gesundheitsdaten quantifizierten Ergebnisse müssen Einblick in den Gesundheitszustand der einzelnen Patienten geben und den Allgemeinmedizinern, Fachärzten und Wissenschaftlern zur Verfügung gestellt werden, damit sie genutzt werden können, um Cluster zu schaffen, Prognosemodelle zu erstellen und bewährte Verfahren anzuwenden.

2.6.

Wie die Schlussfolgerungen des Berichts über den Gesundheitszustand in der EU zeigen, ist die Verwendung patientenorientierter Gesundheitsdaten in der EU nach wie vor unzureichend entwickelt.

2.7.

Für die Organisation und Erbringung von Dienstleistungen der Gesundheits- und Sozialfürsorge sind die Mitgliedstaaten zuständig. In einigen Mitgliedstaaten, insbesondere jenen mit föderalen Systemen, sind regionale Behörden für die Gesundheitsfürsorge und deren Finanzierung zuständig.

2.8.

Durch die Richtlinie über Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (Richtlinie 2011/24/EU) wurde ein Online-Netz für Gesundheitsdienste (eHealth-Netz) eingerichtet, um die Interoperabilität elektronischer Gesundheitsdienste voranzubringen.

2.9.

Überdies wurden Kooperationsstrukturen eingerichtet, wie etwa die Europäische Innovationspartnerschaft für Aktivität und Gesundheit im Alter‚ das gemeinsame Programm zur Förderung eines aktiven und eigenständigen Lebens (FuE-Programm „Aktives und unterstütztes Leben“) und öffentlich-private Partnerschaften wie die „Initiative Innovative Arzneimittel“ und die Initiative „Elektronikkomponenten und -systeme für eine Führungsrolle Europas“. Regionale und nationale Strategien für eine intelligente Spezialisierung spielen ebenfalls eine zentrale Rolle beim Aufbau stärkerer regionaler Ökosysteme im Bereich der Gesundheitsversorgung. Seit 2004 bilden zwei Aktionspläne für elektronische Gesundheitsdienste den politischen Rahmen für das Vorgehen der Mitgliedstaaten und der Kommission. Die eHealth-Interessengruppe spielt hierbei ebenfalls eine wichtige Rolle.

2.10.

Der EWSA ist unter Verweis auf seine in früheren Stellungnahmen geäußerten Ansichten (3) der Auffassung, dass die von der Kommission in drei Bereichen vorgeschlagenen Maßnahmen gefördert werden sollten. Dabei handelt es sich um den sicheren grenzüberschreitenden Zugang der Öffentlichkeit zu — und Austausch von — Gesundheitsdaten, verlässliche Daten für die Förderung der Forschung, die Prävention von Krankheiten und eine personalisierte Gesundheitsversorgung und Pflege sowie digitale Hilfsmittel für eine aufgeklärte Mitwirkung der Bürger und eine patientenorientierte Pflege. Wie bereits erwähnt muss dafür gesorgt werden, dass die Digitalisierung nicht als Sparpaket für die Gesundheitsausgaben missverstanden wird und nicht zu Personalkürzungen oder zur Beschneidung des Dienstleistungsangebots führt. Personalmangel führt zu schlechter Versorgung und einem erhöhten Morbiditätsrisiko. Es sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass der digitale Wandel zwei Dimensionen besitzt: Richtung und Prozess. Bei der Dimension „Richtung“ liegt der Schwerpunkt auf den externen Faktoren für die Organisationen, wobei ständig mitverfolgt wird, „worauf“ der digitale Wandel gerichtet ist. Hinsichtlich des „Prozesses“ gilt der Schwerpunkt der Denkweise innerhalb der Organisationen mit besonderem Augenmerk auf der Frage, „wie“ der digitale Wandel vollzogen wird. Dieser Ansatz muss daher bei der Analyse des Gegenstands der Stellungnahme unbedingt berücksichtigt werden, um ein patientenorientiertes Vorgehen zu gewährleisten.

2.11.

Genau aus diesem Grund weist der EWSA wie bereits in einer früheren Stellungnahme (4) darauf hin, dass zur Nutzung der Vorteile des digitalen Wandels bei den Netzen und geplanten Fördermaßnahmen der EU auf digitale Instrumente zurückgriffen werden sollte, um unsere Grundrechte in Bezug auf Gesundheit und Pflege durchzusetzen und nicht zu schwächen, sondern zu stärken. Digitale Hilfsmittel müssen die Entwicklung des Potenzials des Einzelnen und lokaler Gemeinschaften sowie der Sozialwirtschaft unterstützen, ein wirksamer Hebel für die Förderung der Rechte und die Entwicklung neuer Organisations- und Governanceformen in der Gesundheitsversorgung und Pflege sein und dazu beitragen, das Solidarprinzip und den Universalitätsgrundsatz als grundlegende Werte unseres Gesundheitssystems zu bekräftigen. Hierfür sollte, wie in einer früheren Stellungnahme dargelegt (5), mit angemessenen öffentlichen Investitionen gesorgt werden.

2.12.

Im Einklang mit früheren Stellungnahmen vertritt der EWSA die Meinung, dass die Digitalisierung den gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsleistungen — ein wesentliches Ziel der Gesundheitspolitik — begünstigen kann, wenn mehrere Bedingungen erfüllt sind:

kongruente territoriale Abdeckung unter Berücksichtigung digital unterversorgter Gebiete (Zugang, Geschwindigkeit);

Verringerung der digitalen Kluft bei den Anwendungsmöglichkeiten zwischen den Bürgern, den Angehörigen der Gesundheitsberufe und den Akteuren der Krankenversicherungssysteme;

Interoperabilität der gesamten digitalen Architektur (Datenbanken, medizinische Geräte) zur Erleichterung der Pflegekontinuität in und zwischen den einzelnen Strukturen;

Schutz der Gesundheitsdaten, die keinesfalls zum Nachteil der Patienten verwendet werden dürfen;

elektronische Verbreitung von Produktinformationen, die von Arzneimittelzulassungsbehörden genehmigt wurden, zur Verbesserung des Zugangs (wie in einer früheren EWSA-Stellungnahme erwähnt (6)).

2.13.

Die dynamische Entwicklung von Telemedizin, Internet der Dinge sowie Nanotechnologie, Biotechnologie, Informationstechnologie und Neurowissenschaften (NBIC) darf nicht dazu führen, dass Personen als einfache vernetzte Körper begriffen werden, die durch ein hochvermögendes IT-Programm analysiert, kontrolliert und fernüberwacht werden können. Die Technisierung der Gesundheit begünstigt eigentlich das Gegenteil, nämlich die Stärkung der zwischenmenschlichen Beziehungen und der sozialen Bindung als Grundlage der Heilkunde.

3.   Auswirkungen des digitalen Wandels

3.1.   Auswirkungen des digitalen Wandels auf Gesundheitsversorgung und Pflege

3.1.1.

In der Mitteilung der Kommission wird dargelegt, wie die EU dazu beitragen kann, die Ziele der Schlussfolgerungen des Rates zu erreichen, nämlich indem die erforderliche Zusammenarbeit und Infrastruktur in der EU entwickelt und so die Mitgliedstaaten dabei unterstützt werden, ihren politischen Verpflichtungen in diesen Bereichen nachzukommen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen dienen auch der Einhaltung der von der Kommission gemachten Zusage, das Nachhaltigkeitsziel „Gewährleistung einer gesunden Lebensführung und Förderung des Wohlbefindens aller Menschen aller Altersstufen“ der Vereinten Nationen sowie die Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte zu erfüllen.

3.1.2.

Der EWSA befürwortet die in der Mitteilung skizzierte Zielvorstellung, d. h. Gesundheitsförderung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten, Erfüllung der bislang unbefriedigten Bedürfnisse der Patienten und Erleichterung des gleichberechtigten Zugangs der Bürger zu einer hochwertigen Fürsorge durch eine angemessene Nutzung digitaler Innovationen und von Sozialunternehmen.

3.1.3.

Der EWSA hält es für wesentlich, die europäischen Gesundheits- und Pflegesysteme nachhaltiger zu gestalten und einen Beitrag zur bestmöglichen Nutzung des Potenzials des digitalen Binnenmarkts durch eine breitere Verwendung digitaler Produkte und Dienstleistungen im Gesundheitswesen und in der Pflege zu leisten. Ein weiteres Ziel der vorgeschlagenen Maßnahmen muss darin bestehen, das Wachstum zu fördern und die europäische Industrie in diesem Sektor sowie Unternehmen mit und ohne Erwerbszweck, die Gesundheits- und Pflegedienste konzipieren und verwalten, zu unterstützen.

3.1.4.

Der digitale Wandel ermöglicht insbesondere den Zugang zu und die Nutzung von Daten, wodurch sich die im Zuge des Bevölkerungswachstums und der steigenden Lebenserwartung zunehmenden Gesundheitskosten senken lassen und somit die Optimierung von staatlichem Handeln auf nationaler und europäischer Ebene gefördert wird.

3.1.5.

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen wird nicht zur Verkürzung der Krankenhausaufenthalte beitragen, was sich unmittelbar positiv auf die Gesundheitsversorgung in den Krankenhäusern auswirken wird, sondern auch die Genesung der Patienten beschleunigen. Hinsichtlich der internationalen Anerkennung hat die Weltgesundheitsorganisation in Zusammenarbeit mit der Internationalen Fernmeldeunion (ITU) ein „National eHealth Strategy Toolkit“ (Leitfaden zur Aufstellung nationaler Strategien für elektronische Gesundheitsdienste) vorgeschlagen, der im Wesentlichen ein Verfahren zur Aktualisierung und Aufstellung nationaler Strategien für elektronische Gesundheitsdienste, von Aktionsplänen und Überwachungsrahmen bietet.

3.2.   Auswirkungen des digitalen Wandels auf die Bürger

3.2.1.

Der digitale Wandel eröffnet den Bürgern einen breiten Zugang zu Wissen über eine innovative und effizientere personalisierte Gesundheitsversorgung sowie zu der entsprechenden Infrastruktur und Dienstleistungen sowie ferner die Möglichkeit, als Dienstleister, Erzeuger von Informationen und Datenanbieter zur Verbesserung der Gesundheit von anderen beizutragen.

3.2.2.

Es könnte auch in Betracht gezogen werden, den Bürgern das Recht zu geben, auf ihre Gesundheitsdaten zuzugreifen und zu entscheiden, ob und in welchem Fall sie diese Daten weitergeben. Darüber hinaus hält es der EWSA für unbedingt erforderlich, die Datenschutz-Grundverordnung zu berücksichtigen, die am 25. Mai 2018 in Kraft getreten ist und die Kontrolle der Bürger über die Verwendung ihrer personenbezogenen Daten, einschließlich Gesundheitsdaten, gewährleisten wird. Des Weiteren sollte die Deklaration von Taipeh des Weltärztebundes über ethische Erwägungen betreffend Gesundheitsdatenbanken und Biobanken berücksichtigt werden, die im Oktober 2002 von der 53. Vollversammlung des Weltärztebundes in Washington, D. C. (USA) verabschiedet und im Oktober 2016 von der 67. Vollversammlung des Weltärztebundes in Taipeh (Taiwan) geändert wurde.

3.2.3.

In diesem Zusammenhang muss das Risiko einer sich vergrößernden Kluft hinsichtlich des Grads der digitalen Kompetenzen der Menschen angegangen werden. Im sozialen und digitalen Kontext betrifft die Gesundheitskompetenz die Fähigkeit einer Person, sich Informationen zu beschaffen, sie zu verstehen und verantwortungsvoll zu nutzen, um ihr Wohlbefinden zu steigern und gesund zu bleiben. Zu diesem Zweck muss ein gewisses Maß an Kompetenzen und an Vertrautheit mit den neuen Hilfsmitteln gewährleistet werden, die es den Menschen ermöglichen, ihr eigenes Wohlbefinden und das der Gemeinschaft mit Hilfe von Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensweise und Lebensbedingungen zu steigern.

3.2.4.

Da bei der Konzipierung und Erbringung der Dienstleistungen die Nutzer im Mittelpunkt stehen, sollten auch die von ihnen generierten Daten als wesentlich erachtet werden und geeignete Vorschriften in Bezug auf das Eigentum an den Daten sowie das Recht auf ihre Verwendung durch die Nutzer selbst und durch Dritte erlassen werden. Folgende Fragen sollten gestellt werden: „Wem gehören die Daten?“, „Wer darf sie verwenden?“, „Unter welchen Bedingungen dürfen Dienstleistungen erbringende Dritte die Daten verwenden?“, „Dürfen die Nutzer frei über die Daten verfügen?“ usw. In diesem Zusammenhang sollte unbedingt zwischen den verschiedenen Datenarten unterschieden werden: auf der einen Seite Rohdaten und auf der anderen Seite durch Algorithmen und Dienstleistungen der künstlichen Intelligenz generierte Daten. Wie sollte im Falle der Generierung neuer aggregierter Daten durch einen Dritten mit Hilfe privater Algorithmen das Dateneigentum gehandhabt werden? Wie lassen sich die Unternehmensmodelle so konzipieren, dass die Beteiligung mehrerer Interessenträger, die alle einen wesentlichen Teil der Dienstleistung erbringen, berücksichtigt wird? Außerdem sollte zwischen Unternehmensmodellen unterschieden werden, die ausschließlich auf Dienstleistungen beruhen (traditionellere Modelle, z. B. Hilfe bei Aktivitäten des täglichen Lebens), und denjenigen, die auf patientenorientierten Daten basieren, mit der Möglichkeit, neue Dienstleistungen im Bereich elektronische Gesundheitsdienste zu entwickeln (z. B. Dienstleistungen für die Prävention oder die Unterstützung und Anpassung der Behandlung).

3.2.5.

Die authentischen Daten — d. h. Originaldaten — der einzelnen Nutzer sind der einzige nützliche Wert für Algorithmen/Dienste/Plattformen, was bedeutet, dass sie als von den Nutzern (allein von diesen Personen mit ihren biologischen, kognitiven, kulturellen und verhaltenstypischen Merkmalen) erzeugtes „Originalprodukt“ betrachtet werden sollten, das gemäß den — entsprechend angepassten — Vorschriften zum geistigen Eigentum geschützt werden muss. Denkbar wäre eine aktive Form des Schutzes durch ein „Recht auf (kostenlose) Kopien“ sämtlicher Daten, die die Nutzer bei ihrer Interaktion mit digitalen Gesundheitsplattformen generieren, damit sie diese — falls sie das als zweckdienlich erachten — wiederverwenden können, indem sie sie über andere Dienste/Algorithmen wieder aggregieren. Das „Recht auf (kostenlose) Kopien“ hilft auch bei einem anderen Problem, bei dem es um den Schutz und die Förderung des Wettbewerbs geht, die derzeit durch die Systeme, die digitale Plattformen — auf Vertragsbasis oder anderweitig — gegenwärtig nutzen, um sich Daten und die Geschichte von Patienten anzueignen, auf eine harte Probe gestellt werden.

3.2.6.

Die EU selbst hat sich mehrfach mit dem in Ziffer 3.2.5 erwähnten Thema befasst und hat sich in einigen Fällen für das Recht entschieden, Daten zur Verfügung zu stellen (Erstellen von Kopien) (siehe Artikel 9 der Richtlinie 2012/27/EU „falls die Endkunden dies wünschen, ihnen oder einem im Auftrag des Endkunden handelnden Dritten Messdaten über ihre Stromeinspeisung und Stromentnahme in einem leicht verständlichen Format zur Verfügung gestellt werden, das es ermöglicht, Angebote unter gleichen Voraussetzungen zu vergleichen“).

3.2.7.

Der EWSA regt an, eine vernetzte IT-Infrastruktur zu schaffen, damit die Patienten mit seltenen Krankheiten rasch kontaktiert werden und ihre Gesundheitsdaten und medizinischen Daten für die weltweite nicht kommerzielle Forschung zur Verfügung stellen können. Die Europäische Union fördert derzeit die Schaffung eines Systems für elektronische Patientenakten, indem sie den Informationsaustausch und die Normung sowie die Entwicklung von Netzen für den Informationsaustausch zwischen den Gesundheitsdienstleistern unterstützt, um im Falle eines Risikos für die öffentliche Gesundheit koordiniert vorgehen zu können.

3.2.8.

Hiermit würden die Menschen/Bürger/Patienten/Nutzer die volle Kontrolle über ihre digitale Identität wiedererlangen. Das würde ihnen die Möglichkeit geben, an der Gewinnung von Erkenntnissen aus aggregierten Gesundheitsdaten für die personalisierte Medizin und Vorbeugung teilzuhaben und von den erheblichen wirtschaftlichen Vorteilen dieser aggregierten Daten zu profitieren.

3.3.   Auswirkungen des digitalen Wandels auf die Sozial- und Gesundheitssysteme

3.3.1.

Der EWSA befürwortet das in seiner Stellungnahme (7) genannte, auf vier Grundpfeiler gestützte Verfahren für die grenzüberschreitenden gemeinsamen Arbeiten beim digitalen Wandel im Gesundheits- und Pflegebereich.

3.3.1.1.

Laut dem Vorschlag soll eine Koordinierungsgruppe eingesetzt werden, die sich aus Vertretern der für die Bewertung von Gesundheitstechnologien (HTA) zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten zusammensetzt; außerdem werden darin die vier Grundpfeiler der künftigen Zusammenarbeit beschrieben. Die Mitgliedstaaten übernehmen im Rahmen der Koordinierungsgruppe die Federführung bei den gemeinsamen Arbeiten, die Folgendes umfassen:

gemeinsame klinische Bewertungen;

gemeinsame wissenschaftliche Konsultationen;

Ermittlung neu entstehender Gesundheitstechnologien;

freiwillige Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten.

3.3.1.1.1.

Gemeinsame klinische Bewertungen betreffen die innovativsten Technologien. Dazu zählen: i) Arzneimittel, die das zentralisierte Zulassungsverfahren durchlaufen, und ii) bestimmte Klassen von Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika, die es ermöglichen, einen ungedeckten medizinischen Bedarf, mögliche Auswirkungen auf Patienten, öffentliche Gesundheit oder Gesundheitssysteme und eine signifikante grenzüberschreitende Dimension anzugehen. Solche Bewertungen würden von den HTA-Stellen der Mitgliedstaaten, Pharmaunternehmen oder Herstellern von Medizinprodukten (die „Entwickler“), Patienten, klinischen Sachverständigen und anderen Interessenträgern erstellt und festgelegt. Nach erfolgter Prüfung durch die Kommission wird der Bericht veröffentlicht und anschließend von den Mitgliedstaaten verwendet.

3.3.1.1.2.

Die gemeinsamen wissenschaftlichen Konsultationen, die auch als „frühzeitige Dialoge“ bezeichnet werden, gestatten Gesundheitstechnologie entwickelnden Unternehmen, den Rat von HTA-Stellen in Bezug auf die Daten und das Belegmaterial zu suchen, deren Vorlage im Rahmen einer künftigen gemeinsamen klinischen Bewertung vermutlich verlangt werden wird. Die Entwickler haben die Möglichkeit, bei der Koordinierungsgruppe eine gemeinsame wissenschaftliche Konsultation zu beantragen. Die von der Koordinierungsgruppe gebilligten Berichte über eine gemeinsame wissenschaftliche Konsultation werden an das Gesundheitstechnologie entwickelnde Unternehmen gerichtet, jedoch nicht veröffentlicht.

3.3.1.1.3.

Das „Horizon Scanning“ oder die Ermittlung neu entstehender Gesundheitstechnologien (noch nicht im Gesundheitssystem angewandte Gesundheitstechnologien) hilft zu gewährleisten, dass diejenigen Gesundheitstechnologien, die sich in erheblicher Weise auf Patienten, öffentliche Gesundheit oder Gesundheitssysteme auswirken dürften, bereits in einem frühen Entwicklungsstadium erkannt und in den gemeinsamen Arbeiten Berücksichtigung finden.

3.3.1.1.4.

Die Mitgliedstaaten verfügen über die Möglichkeit, in den nicht unter die obligatorische Zusammenarbeit fallenden Bereichen ihre Mitarbeit auf Unionsebene auf freiwilliger Basis fortzuführen. Dies eröffnet u. a. die Möglichkeit, HTA zu anderen Gesundheitstechnologien als Arzneimitteln oder Medizinprodukten (wie chirurgische Verfahren) durchzuführen, ebenso wie die Bewertung nichtklinischer Aspekte (z. B. die Auswirkungen von Medizinprodukten auf die Organisation der Pflege).

3.3.2.

Die Einführung neuartiger, durch den digitalen Wandel ermöglichter Lösungen in der Gesundheitsversorgung wirft eine Reihe wichtiger multidisziplinärer Fragen auf, darunter auch ethische, rechtliche und gesellschaftliche Fragen. Zwar gibt es bereits einen rechtlichen Rahmen für den Datenschutz und die Patientensicherheit, doch müssen auch andere Fragen gelöst werden, wie etwa der Zugang zu Breitbandnetzen, die mit dem Data-Mining und automatisierten Entscheidungen verbundenen Risiken, die Gewährleistung angemessener Standards und Rechtsvorschriften, um für eine zulängliche Qualität elektronischer und mobiler Gesundheitsdienste zu sorgen, sowie die Zugänglichkeit und Qualität von Dienstleistungen. Gleichermaßen sollten auf Dienstleistungsebene — wo es zwar nationale und EU-Vorschriften über die öffentliche Beschaffung, den Wettbewerb und den Binnenmarkt gibt — neuartige Ansätze erörtert und angenommen werden, die dem digitalen Wandel Rechnung tragen.

3.3.3.

Der digitale Wandel wird eine Umstrukturierung des Gesundheitssystems nach sich ziehen, mit neuen Formen und Standards bei der Dienstleistungserbringung (z. B. Nutzung von Robotern in Verbindung mit Pflegekräften). Zusätzlich sollten Pflegekräfte geeignete und spezielle Schulungsprogramme durchlaufen (z. B. mit sozialem, medizinischem oder technischem Hintergrund) und für neue Berufsprofile und Veränderungen in Arbeitsumgebungen gerüstet sein. Dies wird neue Dienstleistungsmodelle, Fördermaßnahmen, Zertifizierungen und Normen hervorbringen, die für die Einführung digitaler Dienstleistungen und Technologien in der konkreten Pflege und auf dem Pflegedienstmarkt geeignet sind. Bei ihrer Konzipierung und Entwicklung sollten die Grundsätze nutzerorientiertes Design, auf die Nutzbarkeit ausgerichtetes Engineering durch Design, universelles Design usw. befolgt werden, wobei die Nutzer und ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen und die Entstehung einer digitalen Kluft sowie die Verwehrung des Zugangs zu Dienstleistungen vermieden werden.

3.3.4.

Der EWSA unterstützt die Bemühungen der Kommission, die Ausarbeitung und Annahme eines europäischen Austauschformats für elektronische Patientenakten zu unterstützen und gemäß Artikel 14 Absatz 2 der Richtlinie 2011/24/EU gemeinsame Identifizierungs- und Authentifizierungsmaßnahmen zu entwickeln.

3.4.   Auswirkungen des digitalen Wandels auf den digitalen Markt

3.4.1.

Die Herausforderung besteht darin, mit folgenden Mitteln die soziale und wirtschaftliche Unausgewogenheit in der datengesteuerten Wirtschaft auszugleichen (8):

einem Rechtsanspruch auf eine digitale Kopie sämtlicher personenbezogener (medizinischer und nicht medizinischer) Daten; Datenportabilität (Artikel 20 der EU-Datenschutzrichtlinie);

einer sicheren und geschützten Plattform, über die Nutzer eigenverantwortlich Daten speichern, verwalten und aktiv austauschen können;

einer nicht gewinnorientierten genossenschaftlichen Organisationsstruktur von Plattformen für personenbezogene Daten, damit diese Daten den Bürgern gehören;

Einkommen aus der von den Bürgern kontrollierten sekundären Datennutzung, das in Projekte und Dienstleistungen zugunsten der Mitglieder und der Gesellschaft als Ganzes investiert wird.

3.4.2.

Durch die gemeinsamen klinischen Bewertungen würde ein schnellerer Zugang ermöglicht, Doppelarbeit auf nationaler Ebene vermieden und für eine größere Kohärenz, Klarheit und Planungssicherheit unter allen am Prozess Beteiligten gesorgt werden. Die Hersteller von Medizinprodukten stehen dem Vorschlag im Großen und Ganzen skeptisch gegenüber. Eine obligatorische Zusammenarbeit bei den klinischen HTA-Bewertungen könnte den Marktzugang der Produkte eher bremsen als vereinfachen.

3.4.3.

Im Zuge der zunehmenden Verbreitung mobiler Geräte werden elektronische und mobile Gesundheitsdienste neuartige Dienstleistungen mit optimierten Prozessen bieten. Zu diesen Prozessen wird auch die Mobilität des Gesundheits- und Pflegepersonals gehören.

3.4.4.

Der digitale Wandel wird die Entwicklung neuer flexibler Unternehmensmodelle sowie die Geschäftstätigkeit verschiedener Interessenträger fördern und dank der zahlenmäßigen Auswertung der Nutzererfahrungen Vorteile mit sich bringen. Sein Erfolg hängt davon ab, ob er auf die Kunden (bzw. Nutzer) ausgerichtet wird, um sicherzustellen, dass schon zu Beginn der Konzipierung der Nutzerperspektive Rechnung getragen wird („Design Thinking“).

3.4.5.

Dank des digitalen Wandels werden sich Gesundheits- und Sozialdaten weithin nutzen lassen, wodurch die Integration von Systemen und Geräten mit Diensten für maschinelles Lernen gefördert und das Erfordernis von Interoperabilität und der Fähigkeit zu Interaktion (M2M) umso dringender wird. Hierbei ist den vielfältigen Nutzeranforderungen und -präferenzen, der Entwicklung zukunftsfähiger Systeme, der Möglichkeit einer Verknüpfung mit vorhandenen Infrastrukturen und mit lokalen Dienstleistern sowie bahnbrechenden und ungeplanten Technologien und Dienstleistungen mit neuen Normungsanforderungen Rechnung zu tragen.

3.4.6.

Dank neuartiger Schlüsseltechnologien wie 5G werden Möglichkeiten für verbesserte mobile Breitbandprodukte und -dienste eröffnet, wodurch eine großflächige Bereitstellung von Millionen von Anschlüssen für Geräte des Internets der Dinge gefördert wird. Angesichts der Verbreitung von 5G-Diensten und des Internets der Dinge sind Strategien für den digitalen Wandel für viele Interessenträger des Gesundheitswesens von größter Bedeutung, insbesondere da neue Verhaltensweisen und Bedürfnisse der Verbraucher neue digitale Angebote erfordern werden.

3.4.7.

Der EWSA unterstützt Dienstleistungen in Bezug auf: Gesundheitsinformationen, Prävention von Krankheiten, Entwicklung von Fernberatungssystemen sowie Online-Verschreibungen, -Überweisungen und -Krankheitskostenerstattungen. Existierende Plattformen wie Alfred, Big White Wall, Medicine Patient Portal, Empower usw. können als Faktoren angesehen werden, die den digitalen Wandel im digitalen Binnenmarkt ermöglichen. Interessanterweise wurde am 29. Mai 2018 angekündigt, dass die Europäische Cloud für offene Wissenschaft die weltweit führende EU-Wissenschaft unterstützen wird, indem ein vertrauenswürdiges Umfeld für das Hosting und die Verarbeitung von Forschungsdaten geschaffen wird. Die Cloud sollte ein umfassender, europaweiter Verbund vorhandener und neu entstehender gut ausgebauter Infrastrukturen sein, der die Verwaltungs- und Finanzierungsmechanismen seiner Bestandteile anwendet; die Mitgliedschaft in diesem Verbund wäre freiwillig und die Verwaltungsstruktur würde Ministerien, Interessenträger und Wissenschaftler der einzelnen Mitgliedstaaten umfassen.

3.5.   Auswirkungen des digitalen Wandels auf die Dienstleister

3.5.1.

In diesem Zusammenhang befürwortet der EWSA folgende Ziele:

Schwerpunkt auf den Erbringern von Gesundheitsdienstleistungen;

Schwerpunkt auf Patienten zum Zeitpunkt des Eintritts in das Gesundheitssystem;

effiziente Datenübertragung in der medizinischen Grundversorgung (elektronische Gesundheitsdienste, elektronische Patientenakte);

Einwilligung der Patienten in die Nutzung ihrer Daten für die Forschung; Anreize für die Bereitstellung zusätzlicher Daten (mobile Gesundheitsdienste);

Verringerung der Schwierigkeiten bei der Einbeziehung der Patienten in die Forschung.

3.5.2.

Neueren technischen, sozialen und wirtschaftlichen Studien zufolge werden die künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge und die Robotik die Konzipierung und Entwicklung neuer Ansätze bei der personalisierten Medizin und der Präzisionsmedizin, kognitiven Schwächen und der kooperativen Robotik ermöglichen. Ihre Einführung im Gesundheitswesen wird eine Anpassung und Weiterentwicklung sämtlicher Prozesse voraussetzen, die mit der Konzipierung, Erbringung und Bewertung von Dienstleistungen zusammenhängen. In diesem Zusammenhang ist der digitale Wandel eine grundlegende Voraussetzung für die Einbeziehung innovativer Technologien in das Gesundheitswesen, ermöglicht (bzw. beschleunigt) sie aber auch.

3.5.3.

Dank des digitalen Wandels lassen sich große Datenmengen bereitstellen, was die Erforschung und Entwicklung neuartiger und ehrgeiziger Dienstleistungslösungen auf der Grundlage der künstlichen Intelligenz ermöglicht. Dies könnte als Grundlage für die Schaffung eines Rahmens für die objektive Quantifizierung chronischer Krankheiten und die Ermittlung von Möglichkeiten der Früherkennung und der Therapieüberwachung dienen. Darüber hinaus könnte im Rahmen der in jüngster Zeit bei der künstlichen Intelligenz erzielten Fortschritte die Verfügbarkeit von Daten genutzt werden, um lernfähige Systeme zu entwickeln, die sich an die Krankheitsentwicklung anpassen können.

3.5.4.

Die massive Nutzung von Daten und die Fähigkeit der Akteure, sie entsprechend der Nutzerbedürfnisse zu verwenden und zu verändern, eröffnen neue Szenarien für den Austausch von Daten, Wissen und Know-how, wie er bereits von den europäischen Referenznetzen unterstützt wird, die eine Verwaltungsstruktur dafür bieten, EU-weit Wissen über seltene Krankheiten auszutauschen und die Pflege in diesem Bereich zu koordinieren. Ist an einem bestimmten Ort (Gebiet oder Land) kein Know-how über eine spezielle Krankheit vorhanden, kann das Netzwerk Ärzten dabei helfen, sich über andere, anderswo niedergelassene Kompetenzzentren entsprechendes Wissen zu beschaffen. Ebenso können Krankenhäuser EU-weit die Systeme zur digitalen Vernetzung nutzen, um Wissen auszutauschen und einander zu unterstützen.

3.5.5.

Die obigen Ausführungen machen klar, dass die Cybersicherheit eine Schlüsselpriorität ist. Wie aus einem ENISA-Bericht (ENISA Threat Landscape Report 2017: 15 Top Cyber-Threats and Trends, Agentur der Europäischen Union für Netz- und Informationssicherheit) hervorgeht, werden die Cyberangriffe immer komplexer und die böswilligen Aktivitäten im Internet immer raffinierter. Im Gesundheitswesen, in dem zahlreiche allgegenwärtige Systeme miteinander verbunden sind und es um wichtige Dinge wie zum Beispiel das Leben der Patienten, vertrauliche personenbezogene Daten, finanzielle Ressourcen usw. geht, ist die Datensicherheit ein Kernthema. Im Zusammenhang mit dem digitalen Wandel sind neue Methoden und Leitlinien für die Entwicklung von Rahmenbedingungen zur Bewertung der Cybersicherheit, organisatorische Gegenmaßnahmen und die Interoperabilitätskonformität auf der Grundlage der Cybersicherheit erforderlich.

3.5.6.

Außerdem begrüßt der EWSA die Unterstützung, die die EU KMU zuteilwerden lässt, die digitale Lösungen für eine individuell ausgerichtete Gesundheitsversorgung und für Rückmeldungen der Patienten entwickeln. Die Zusammenarbeit betrifft natürlich Behörden und weitere Interessenträger, die sich zur Förderung gemeinsamer oder gegenseitig anerkannter Grundsätze für die Validierung und Zertifizierung digitaler Lösungen zur Einführung in Gesundheitssystemen (z. B. mHealth und unabhängige Lebensführung) verpflichten.

3.5.7.

Darüber hinaus ist der EWSA der Ansicht, dass frühere Initiativen zur Ausstellung von Gesundheitsausweisen durch die EU-Mitgliedstaaten im Lichte des digitalen Wandels der Gesundheitsversorgung und Pflege auf dem digitalen Markt fortgesetzt werden müssen. Angesichts der Sensibilität der medizinischen Daten, die auf diesen elektronischen Gesundheitsausweisen gespeichert werden können, müssen sie einen zuverlässigen Schutz der Privatsphäre bieten.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 28.

(2)  COM(2018) 233 final.

(3)  ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 1, ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 14 und ABl. C 458 vom 19.12.2014, S. 54.

(4)  ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 1.

(5)  ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 33.

(6)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 14.

(7)  ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 28.

(8)  World Economic Forum — The Global Information Technology Report 2014.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/66


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu a) „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG“

(COM(2018) 184 final — 2018/0089 (COD))

und zu b) „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993, der Richtlinie 98/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zur besseren Durchsetzung und Modernisierung der EU-Verbraucherschutzvorschriften“

(COM(2018) 185 final — 2018/0090 (COD))

(2018/C 440/10)

Berichterstatter:

Jarosław MULEWICZ

Mitberichterstatter:

Antonio LONGO

Befassung

a)

Europäisches Parlament, 2.5.2018

a)

Rat, 22.5.2018

b)

Europäisches Parlament, 2.5.2018

b)

Rat, 22.5.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

155/1/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt den Vorschlag der Europäischen Kommission zur besseren Durchsetzung und Modernisierung der EU-Verbraucherschutzvorschriften sowie das Ziel zur Kenntnis, die vorhandenen Vorschriften unter Berücksichtigung neuer Konsumgewohnheiten zu aktualisieren und an die Entwicklung des digitalen Binnenmarkts anzupassen. Wie jedoch bereits in der EWSA-Stellungnahme zur Schutzbedürftigkeit der Verbraucher gegenüber Geschäftspraktiken (1) empfohlen wurde, muss in erster Linie das Problem der mangelnden Durchsetzung der vorhandenen Vorschriften angegangen werden.

1.2.

Der EWSA teilt die Einschätzung der Europäischen Kommission, dass die EU-Verbraucherpolitik modernisiert und vereinfacht werden muss. Das neue Legislativpaket kann seiner Auffassung nach dazu beitragen, die aufgrund des rapiden Wachstums des elektronischen Handels entstandene Lücke zu schließen, welche das Vertrauen der Verbraucher untergräbt und zu Verzerrungen auf dem Binnenmarkt geführt hat.

1.3.

Generell ist der EWSA der Ansicht, dass die Harmonisierung der Verbraucherschutzvorschriften nicht zu einer Absenkung der Verbraucherschutzstandards in den Mitgliedstaaten führen darf und auch für Rechtssicherheit für die Händler gesorgt werden muss. Der EWSA nimmt die REFIT-Schlussfolgerungen zur Kenntnis, wonach die Verbraucherschutzvorschriften zweckmäßig sind, weist jedoch auch darauf hin, dass immer mehr Verbraucher mit aggressiven Vermarktungstechniken und irreführenden Geschäftspraktiken konfrontiert sind.

1.4.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, die Verbraucherrechte auf alle scheinbar „kostenfreien“ digitalen Dienstleistungen auszuweiten, für die die Nutzer ihre personenbezogenen sowie nicht personenbezogene Daten zur Verfügung stellen. Zudem spricht er sich für mehr Transparenz und Verantwortlichkeit bei den Online-Plattformen aus.

1.5.

In Bezug auf die Überprüfung der Verbraucherschutzrichtlinie 2011/83/EU haben sich im EWSA zweierlei Bedenken herauskristallisiert. Die Händler befürworten eine Aktualisierung, Vereinfachung und Anpassung der vorvertraglichen Information, wohingegen die Verbraucher die Auffassung vertreten, dass dies den Verbraucherschutz schwächen würde.

1.6.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Bestimmungen zu digitalen Inhalten, digitalen Diensten und zu Online-Verkäufen auf die Rechtsvorschriften zum digitalen Binnenmarkt abgestimmt werden sollten.

1.7.

Nach Auffassung des EWSA ist das Widerrufsrecht ein effizientes Instrument zum Schutz der Verbraucher, das nicht geschwächt werden sollte. Die EWSA-Mitglieder vertreten zum Kommissionsvorschlag unterschiedliche Standpunkte. Die Unternehmen, insbesondere KMU, brauchen zusätzliche Rechtssicherheit in Bezug auf in unzulässigem Maße getestete Waren und vorzeitige Erstattung. Die Verbraucher lehnen die Änderung ab und fordern, den Status quo beizubehalten. Der EWSA fordert die Kommission auf, diese zentrale Bestimmung noch einmal zu prüfen, um einen Kompromiss zwischen diesen beiden gegensätzlichen Interessenlagen zu schaffen.

1.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass Maßnahmen zum Schutz der Verbraucher vor „Produkten von zweierlei Qualität“ gerechtfertigt sind, und befürwortet den Vorschlag der Kommission, mehr Transparenz zu gewährleisten.

1.9.

Der EWSA befürwortet die Nutzung alternativer Streitbeilegungsverfahren und der Online-Streitbeilegung wie Mediation und Schlichtung, die auf europäischer und nationaler Ebene gefördert werden sollten.

1.10.

Der EWSA fordert die Kommission auf, dafür zu sorgen, dass die Mitgliedstaaten die bestehenden Verbraucherschutzvorschriften wirksam um- und durchsetzen, sowie die Harmonisierung der Verbraucherschutzvorschriften zu unterstützen, die grenzübergreifende Zusammenarbeit der nationalen Behörden im Rahmen der Zusammenarbeit im Verbraucherschutz zu fördern und eine Kommunikationskampagne zu initiieren, um KMU die Einhaltung der Rechtsvorschriften zum Verbraucherschutz zu erleichtern.

1.11.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, strengere Bestimmungen zur Durchsetzung der bestehenden Verbraucherschutzvorschriften zu erlassen, Verstöße auf nationaler und grenzüberschreitender Ebene zu ahnden und die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Verbraucherschutzniveaus sicherzustellen.

1.12.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag zu speziellen Kriterien für die Einführung von Geldbußen als effektives Verbraucherschutzinstrument. Wirklich abschreckende Strafen für Unternehmen, die gegen die Vorschriften verstoßen, sind unbedingt erforderlich — diese Strafen sollten einen nicht unerheblichen Prozentsatz des Jahresumsatzes dieser Unternehmen ausmachen und auch EU-weite Verstöße berücksichtigen.

1.13.

Der EWSA nimmt den Vorschlag für eine Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG zur Kenntnis. Er bedauert jedoch, dass die Empfehlungen aus seiner Stellungnahme zu einem allgemeinen europäischen Rahmen für den kollektiven Rechtsschutz (2) beim Entwurf des Legislativvorschlags nicht berücksichtigt wurden.

1.14.

Es sollte sichergestellt werden, dass alle Unionsbürgerinnen und -bürger einfach und schnell Zugang zur Justiz haben. Verbraucher sollten für Schäden infolge eines Vertragsbruchs eine Entschädigung einfordern können. Ein maßgeschneidertes Rechtsschutzsystem für Kollektivschäden ist daher zu begrüßen. Es sollte pragmatisch und kostengünstig sein, die entsprechenden Schutzmaßnahmen umfassen und die vorhandenen nationalen Justizsysteme berücksichtigen.

1.15.

Der EWSA würdigt die Bemühungen der Kommission, im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip und den nationalen Rechtsvorschriften qualifizierte Einrichtungen zu bestimmen, die kollektive Rechtsschutzverfahren anstrengen können.

1.16.

Darüber hinaus sollten die Mitgliedstaaten die Prozesskostenfinanzierung für qualifizierte Einrichtungen unterstützen. Der EWSA befürwortet den Vorschlag der Kommission, die Schadensersatzzahlungen bei Schäden von geringfügigem Wert und im Falle, dass nicht alle Geschädigten ermittelt werden können, für öffentliche Zwecke bereitzustellen, fordert jedoch, dass geklärt werden muss, was genau darunter zu verstehen ist (z. B. Programme zur Unterstützung, Information und Aufklärung von Verbrauchern, Prozesskostenfinanzierung).

1.17.

Eine wichtige Schutzmaßnahme, die in die Richtlinie aufgenommen werden sollte, ist schließlich die Möglichkeit, sich für oder gegen die Beteiligung an einer Verbandsklage (Opt-in bzw. Opt-out) auszusprechen. Im Einklang mit der Empfehlung aus der EWSA-Stellungnahme zu einem allgemeinen europäischen Rahmen für den kollektiven Rechtsschutz (3) sollten Verbraucher frei entscheiden können, ob sie einer Verbandsklage beitreten oder nicht.

2.   Hintergrund der Stellungnahme und Einleitung

2.1.

Am 11. April 2018 legte die Europäische Kommission das Legislativpaket zur Neugestaltung der Rahmenbedingungen für die Verbraucher vor. Dieses Paket enthält einen Vorschlag für eine Richtlinie (Sammelrichtlinie) zur Änderung der Richtlinie 93/13/EWG (4), der Richtlinie 98/6/EG (5), der Richtlinie 2005/29/EG (6) und der Richtlinie 2011/83/EU (7) zur besseren Durchsetzung und Modernisierung der EU-Verbraucherschutzvorschriften sowie einen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG.

Sammelrichtlinie

2.2.

Mit ihrem Vorschlag für eine Richtlinie zur besseren Durchsetzung und Modernisierung der EU-Verbraucherschutzvorschriften (COM(2018) 185 final) zielt die Kommission auf eine Ergänzung der bestehenden Mechanismen für den Schutz der Verbraucher, auf grenzüberschreitende Verstöße und den elektronischen Handel sowie auf eine Verringerung des Aufwands für Händler ab. Sie folgt in ihrem Vorschlag den Schlussfolgerungen der REFIT-Eignungsprüfung der Verbraucher- und Marketingvorschriften der EU (8) sowie der Bewertung der Richtlinie 2011/83/EU über die Rechte der Verbraucher.

2.3.

Der Vorschlag für die Sammelrichtlinie enthält insbesondere folgende Punkte:

2.3.1.

Koordinierte Einführung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen bei Verstößen auf nationaler und grenzüberschreitender Ebene;

2.3.2.

mehr Transparenz auf dem digitalen Binnenmarkt mit Transparenzverpflichtungen für Online-Plattformen;

2.3.3.

Ausweitung des Verbraucherschutzes im Bereich digitaler Dienstleistungen, insbesondere jene, für die Verbraucher nicht bezahlen, sondern im Gegenzug personenbezogene und nicht personenbezogene Daten angeben, die einen wirtschaftlichen Wert haben, weshalb diese Dienstleistungen nicht als „kostenlos“ angesehen werden können;

2.3.4.

Verringerung des Aufwands für Unternehmen, wobei diesen die Möglichkeit eingeräumt werden soll, alternativ zur E-Mail neue Online-Kommunikationsinstrumente wie Web-Formulare und Chats zu nutzen;

2.3.5.

Überarbeitung bestimmter Aspekte in Bezug auf das Widerrufsrecht. Insbesondere sollen Händler das Recht erhalten, Verbrauchern den Kaufpreis erst dann zu erstatten, wenn sie die Waren geprüft und festgestellt haben, dass diese tatsächlich nur getestet und nicht „verwendet“ wurden;

2.3.6.

Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, unerwünschte aggressive und irreführende Verkaufspraktiken im Rahmen von Haustürgeschäften und Verkaufsfahrten einzuschränken;

2.3.7.

explizite Nennung von „Produkten von zweierlei Qualität“ und aller damit verbundenen Marketingmaßnahmen einschließlich irreführender Geschäftspraktiken, die insbesondere im Agrar- und Nahrungsmittelsektor weit verbreitet sind.

Richtlinie über Verbandsklagen

2.4.

Mit ihrem Vorschlag COM(2018) 184 final über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher schafft die Kommission die Basis für einen europäischen kollektiven Rechtsschutzmechanismus gegen die weit verbreiteten Verstöße gegen das Verbraucherschutzrecht. Dieses bereits in einigen EU-Mitgliedstaaten existierende Instrument sollte auch in den übrigen eingeführt werden. Dabei ist jedoch dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung zu tragen, weshalb die Mitgliedstaaten das Recht haben sollten, den Mechanismus auf nationaler Ebene auszugestalten und bestehende Mechanismen beizubehalten.

2.5.

Nur qualifizierte Einrichtungen auf der nationalen Ebene sollten im Namen von Verbrauchern tätig werden können. Ferner sollten diese Einrichtungen einige der von der Kommission vorgeschlagenen Mindestkriterien erfüllen.

2.6.

Das Entschädigungsverfahren ist an eine richterliche Anordnung geknüpft. Qualifizierte Einrichtungen sollten erst dann Verbandsklagen anstrengen können, wenn das Vorliegen eines Verstoßes gegen Verbraucherrechte von einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde bestätigt wurde. Die Richtlinie gilt für Verstöße, die auf der nationalen und der EU-Ebene begangen werden, sodass grenzüberschreitende kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren von Verbrauchern möglich sind.

2.7.

In Bezug auf die Schadensersatzansprüche von Verbrauchern wird in dem Vorschlag zwischen geringfügigen Beträgen unterschieden, bei denen die Entschädigung für einen öffentlichen Zweck bestimmt wird, und erheblichen Beträgen, bei denen der Schadensersatz den Verbrauchern direkt zufließt.

3.   Allgemeine Bemerkungen zur Sammelrichtlinie

3.1.

Der EWSA nimmt den Vorschlag der Europäischen Kommission zur besseren Durchsetzung und Modernisierung der EU-Verbraucherschutzvorschriften sowie das Ziel zur Kenntnis, die vorhandenen Vorschriften unter Berücksichtigung neuer Konsumgewohnheiten zu aktualisieren und an die Entwicklung des digitalen Binnenmarkts anzupassen. Wie jedoch bereits in der EWSA-Stellungnahme zur Schutzbedürftigkeit der Verbraucher gegenüber Geschäftspraktiken (9) empfohlen wurde, muss in erster Linie das Problem der mangelnden Durchsetzung der vorhandenen Vorschriften gelöst werden.

3.2.

Der EWSA weist auf seinen Informationsbericht zum Verbraucher- und Marketingrecht (10) hin, in dem die Wahrnehmung der Umsetzung des Verbraucher- und Marketingrechts durch Organisationen der Zivilgesellschaft aus ganz Europa bewertet wurde, sowie auf seinen Informationsbericht zur Richtlinie über die Rechte der Verbraucher (11), in der die Umsetzung der Richtlinie bewertet wurde. Die beiden Informationsberichte stützen sich auf Daten aus drei unterschiedlichen Quellen: einem Fragebogen, einer Anhörung von Sachverständigen sowie neun Informationsreisen nach Riga, Rom, Warschau, Madrid, Paris, Athen, Vilnius, Lissabon und Brüssel.

3.3.

Der EWSA verweist darauf, dass sich die Kommission in ihrem Vorschlag auf seine Informationsberichte stützt und mehr Aufklärungsarbeit, Schulungen und Koordinierung im Bereich der Verbraucherpolitik, der Regulierung von Online-Plattformen und der digitalen Wirtschaft fordert. Nichtsdestoweniger hegt der EWSA Bedenken in Bezug auf die Harmonisierung der Verbraucherpolitik, die Fragmentierung der Durchsetzung auf nationaler Ebene, das Erfordernis der Finanzierung von Aufklärungskampagnen, die Förderung des lebenslangen Lernens, die Unterstützung von KMU, die Vereinfachung der rechtlichen Informationen für Verbraucher und die Förderung alternativer Streitbeilegungsmechanismen, wobei Selbstregulierung und Verhaltenskodizes im Vorschlag nicht angemessen thematisiert werden.

3.4.

Der EWSA stellt fest, dass Verbraucher mit Situationen konfrontiert sein können, in denen sie irregeführt oder aggressiv zum Vertragsabschluss gedrängt werden. Besondere Probleme wurden im Hinblick auf Callcenter signalisiert, die Verbraucher irreführende Strom-, Telekommunikations- oder Wasserverträge verkaufen. Ähnlich aggressive Verkaufsmethoden wurden in Bezug auf „Verkaufsfahrten“ gemeldet, die mit dem Ziel organisiert werden, Produkte an bestimmte Kategorien besonders schutzbedürftiger Verbraucher zu verkaufen. Verbraucher sollten in diesen Situationen berechtigt sein, von Kaufverträgen zurückzutreten und/oder eine Entschädigung für den erlittenen Schaden zu erhalten.

3.5.

Wie schon in der Stellungnahme des EWSA zur Schutzbedürftigkeit der Verbraucher gegenüber Geschäftspraktiken empfohlen, sollten Verbrauchern geeignete individuelle Rechtsbehelfe wie Erstattung, Ersatz oder Auflösung des Kaufvertrags zur Verfügung stehen. Zudem sollten die Rechtsbehelfe an die Situation der einzelnen Verbraucher angepasst werden, damit diese auf sie zugeschnittene Lösungen in Anspruch nehmen können.

3.6.

Der EWSA ist außerdem der Auffassung, dass die bei den EU-Verbraucherschutzvorschriften erreichte Harmonisierung nicht wieder zurückgenommen werden sollte. Hier einen Schritt zurückzugehen, schafft keine gleichen Ausgangsbedingungen. Weder Verbrauchern noch Unternehmern wäre damit geholfen.

3.7.

Der EWSA betont, dass aggressive und irreführende Verkaufstaktiken durch die Vollharmonisierungsrichtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken bereits verboten sind. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, für eine konsequentere Durchsetzung der bestehenden Vorschriften durch die Mitgliedstaaten zu sorgen.

3.8.

Der EWSA ist bezüglich des Kommissionsvorschlags für eine Beschränkung bestimmter Vertriebsmethoden geteilter Meinung. Die Händler sind der Auffassung, dass diese Maßnahmen nicht auf Haustürgeschäfte beschränkt werden dürfen, weil so eine ganze Branche stigmatisiert würde, sondern für alle aggressiven Praktiken gelten sollten. Die Verbraucher hingegen befürworten, dass den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gegeben werden sollte, bestimmte Verkaufsmethoden für einzelne Warengruppen (wie z. B. Arzneimittel, Waffen und Pharmazeutika) zum Schutz von Gesundheit und Sicherheit einzuschränken.

3.9.

In dieser Hinsicht ist die Zusammenarbeit zwischen den Verbraucherschutzbehörden der Mitgliedstaaten im Rahmen der Verbraucherschutzverordnung von entscheidender Bedeutung, damit unlautere Praktiken wirksam bekämpft werden können, ohne Unternehmer zu bestrafen, die sich an die Vorschriften halten. Verbraucher sollten Zugang zu Informationen über Händler haben, und Sensibilisierungskampagnen auf nationaler und europäischer Ebene sollten gefördert werden.

3.10.

In Bezug auf die Überprüfung der Verbraucherschutzrichtlinie 2011/83/EU vertritt der EWSA divergierende Standpunkte und hegt verschiedene Bedenken. Die Händler befürworten eine Aktualisierung, Vereinfachung und Anpassung der vorvertraglichen Information, wohingegen die Verbraucher die Auffassung vertreten, dass dies den Verbraucherschutz schwächen würde. Der EWSA befürwortet einen ausgewogenen Ansatz, der sowohl den Schutz der Verbraucher als auch Rechtssicherheit für die Unternehmer gewährleistet. Der EWSA ist der Ansicht, dass die Bestimmungen zu digitalen Inhalten, digitalen Diensten und zu Online-Verkäufen auf die Rechtsvorschriften zum digitalen Binnenmarkt abgestimmt werden sollten.

3.11.

Bei Online-Plattformen ist vor allem für Transparenz hinsichtlich ihrer Identifizierung und Verantwortung zu sorgen. Der EWSA ist der Auffassung, dass es für Verbraucher eminent wichtig ist, zum Zeitpunkt der Unterzeichnung eines Vertrags alle relevanten Informationen über den jeweiligen Vertragspartner zu erhalten. Des Weiteren ist die Transparenz von Online-Plattformen sowohl für Verbraucher als auch für Unternehmen (B2B) ein entscheidender Faktor für die Entwicklung des digitalen Binnenmarkts (12).

3.12.

Der EWSA unterstützt darüber hinaus auch den Vorschlag, die Verbraucherrechte auf alle „kostenfreien“ digitalen Dienstleistungen auszuweiten, für die die Nutzer personenbezogene und nicht personenbezogene Daten angeben. Da diese Daten einen wirtschaftlichen Wert haben, wäre es den Verbrauchern gegenüber unfair, diese Dienstleistungen als „kostenlos“ anzusehen und den Verbrauchern nicht den entsprechenden Schutz zu gewähren. Das von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Maßnahmenpaket ermöglicht es, die Beziehung zwischen den größten globalen Anbietern von Online-Plattformen und individuellen Nutzern zumindest teilweise in ein Gleichgewicht zu bringen.

3.13.

Der EWSA befürwortet die Einführung moderner Verfahren zum Informationsaustausch zwischen Händlern und Verbrauchern (d. h. Chatbots, Online-Formulare). Diese Instrumente dürften den Dialog zwischen beiden Seiten vereinfachen, wenn entsprechende Schutzmechanismen für die Verbraucher vorgesehen sind, wie z. B. die Möglichkeit, den Informationsaustausch nachzuvollziehen, zusätzliche Informationen zu erhalten und Beschwerden einzureichen. Es sollte jedoch insbesondere stets möglich sein, auf althergebrachte Formen der Kontaktaufnahme zurückzugreifen (z. B. Callcenter).

3.14.

Der EWSA unterstützt das Konzept des Widerrufsrechts und würdigt seine Funktion als effizientes Verbraucherschutzinstrument, das nicht geschwächt werden sollte. Der Kommissionsvorschlag birgt das Risiko einer Einschränkung der Verbraucherrechte, ohne dass angemessene Nachweise für den systematischen und weit verbreiteten Missbrauch dieser Rechte erbracht worden wären. Andererseits benötigen Händler und insbesondere KMU zusätzliche Rechtssicherheit in Bezug auf in unzulässigem Maße getestete Waren und vorzeitige Erstattung. Der EWSA fordert die Kommission auf, diese zentrale Bestimmung noch einmal zu prüfen, um hier einen ausgewogenen Kompromiss zu erzielen.

3.15.

Der EWSA begrüßt die Klarstellungen zu Produkten von zweierlei Qualität, da einige Produkte, insbesondere Lebensmittel, anscheinend identisch gekennzeichnet wurden, obwohl sich ihre Zusammensetzung unterschied und dadurch das Risiko entstand, dass Verbraucher irregeführt werden. Die irreführende Beschreibung und Kennzeichnung von Produkten sollte verboten werden, um für Transparenz zu sorgen.

3.16.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag zu speziellen Kriterien für die Einführung von Geldbußen als effektives Verbraucherschutzinstrument. Große Bedeutung haben — wie von der Europäischen beratenden Verbrauchergruppe betont — abschreckende Geldstrafen, die einen erheblichen prozentualen Anteil des Jahresumsatzes der Unternehmen ausmachen müssen, die gegen die Vorschriften verstoßen, wobei auch die EU-weite Dimension des einzelnen Verstoßes zu berücksichtigen ist. Die Kommission sollte prüfen, ob der Vorschlag nicht auf die Bestimmungen der Datenschutz-Grundverordnung abgestimmt werden kann.

3.17.

Der EWSA unterstützt auch die Nutzung alternativer Streitbeilegungsverfahren und der Online-Streitbeilegung (13) wie Mediation und Schlichtung, die auf nationaler Ebene gefördert werden sollten. Auch außergerichtliche Vergleiche sind zu erwägen, bevor Klage vor einem Gericht erhoben wird, und sollten gegebenenfalls unterstützt werden. Die Anrufung der Gerichte sollte das letzte Mittel bleiben. Im Vorschlag der Europäischen Kommission sollten diese Möglichkeiten zur Lösung von Verbraucherschutzproblemen noch stärker unterstützt werden.

3.18.

Der EWSA ist generell der Auffassung, dass Nachhaltigkeit und Qualität im Zentrum der Lieferkette stehen sollten, um den Verbraucherschutz während des gesamten Produktionslebenszyklus sicherzustellen.

4.   Besondere Bemerkungen zu Verbandsklagen in der EU

4.1.

Der EWSA nimmt den Vorschlag für eine Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG (14) zur Kenntnis. Er bedauert jedoch, dass keine der Empfehlungen aus seinen verschiedenen Stellungnahmen zu einem allgemeinen europäischen Rahmen für den kollektiven Rechtsschutz (15) beim Entwurf des Legislativvorschlags berücksichtigt wurde.

4.2.

Die REFIT-Eignungsprüfung hat gezeigt, dass im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung und Digitalisierung das Risiko von Verstößen gegen das EU-Recht, die sich auf die Kollektivinteressen von Verbrauchern auswirken, zunimmt. Außerdem bietet eine Reihe von Mitgliedstaaten keine wirksamen kollektiven Schadensersatzverfahren an, die auf Massenschadensereignisse zugeschnitten sind, und hat die Schutzmechanismen, die in der Empfehlung der Europäischen Kommission über kollektiven Rechtsschutz (16) vorgesehen sind, nicht umgesetzt.

4.3.

Es sollte sichergestellt werden, dass alle Unionsbürgerinnen und -bürger einfach und schnell Zugang zur Justiz haben. Verbraucher sollten für Schäden infolge eines Vertragsbruchs eine Entschädigung einfordern können. Dasselbe gilt jedoch auch für Unternehmer, die nicht das Ziel von Klagemissbrauch werden sollten. Verbandsklagen sind ein juristisches Instrument, ein Verfahrensrecht, ein Grundrecht zum juristischen Schutz weit verbreiteter kollektiver und individueller homogener Interessen nach Artikel 81 EUV, das neutral und nicht auf Verbraucher beschränkt sein sollte (Umwelt, Arbeitnehmer, Rechte von KMU, Energie, Sharing-Ökonomie, Kreislaufwirtschaft, Plattformen, alle digitalen Rechte usw.).

4.4.

Ein maßgeschneidertes Rechtsschutzsystem für Kollektivschäden ist daher zu begrüßen. Es sollte pragmatisch und kostengünstig sein, die entsprechenden Schutzmaßnahmen umfassen und die vorhandenen nationalen Justizsysteme (z. B. Norwegen oder Dänemark) berücksichtigen. In der EU-Richtlinie sollten die wichtigsten Leitlinien für harmonisierte EU-Verbandsklagen festgelegt werden, wobei anzugeben wäre, was durch ein EU-Rechtsinstrument geregelt und was nach Maßgabe der Subsidiarität den Mitgliedstaaten überlassen wird. Außerdem sollte sie sicherstellen, dass das System zu einer effizienteren, raschen, bezahlbaren und fairen Rechtsprechung beiträgt, eine Entschädigung für den gesamten Schaden geleistet wird und die Nachhaltigkeit des Systems durch eine angemessene Finanzierung gewährleistet ist. Der Kommissionsvorschlag wird diesen Anforderungen in seiner derzeitigen Form nicht gerecht.

4.5.

Der EWSA würdigt die Bemühungen der Kommission, im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip qualifizierte Einrichtungen zu bestimmen, die kollektive Rechtschutzverfahren anstrengen können. Außerdem sollte klargestellt werden, dass der Ort der Niederlassung der qualifizierten Einrichtung der Gerichtsstand und bestimmend für das anzuwendende Recht ist. Darüber hinaus ist der EWSA der Auffassung, dass die Kommission stärker auf die Rolle des Richters bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Forderung, die Frage der Beweislast und der Vorlage von Beweismitteln sowie die Art des Urteils (inter partes vs. erga omnes) und der Rechtsmittel eingehen sollte.

4.6.

Sämtliche Verfahrenskosten für Kollektivklagen sollten gemäß den nationalen Prozesskostenhilferegeln unterstützt werden.

4.7.

Verbraucher- bzw. zivilgesellschaftliche Organisationen sollten ausreichende Finanzmittel und Rechtsberatung zur Verfügung haben, um Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Eigens für diesen Zweck bereitgestellte Mittel sollten qualifizierten Einrichtungen helfen, Rechtsberater zu bezahlen. Die Mitgliedstaaten sollten eine Prozesskostenfinanzierung für qualifizierte Einrichtungen unterstützen.

4.8.

Im Hinblick auf Entschädigungen wird in dem Legislativvorschlag nicht ausreichend der Notwendigkeit Rechnung getragen, dass Verbraucher für den erlittenen Schaden wirklich entschädigt werden müssen. Der Vorschlag sollte sich eindeutig auf die Entschädigung der Gesamtverluste von Verbrauchern beziehen, unabhängig vom erlittenen Schaden.

4.9.

Der EWSA ist besorgt um den Schutz der Rechte von Unternehmern, einschließlich des Schutzes von Geschäftsgeheimnissen. Ohne den Schutz geschädigter Verbraucher auszuhöhlen, würde der EWSA die Einführung von Verfahren zur Sicherstellung der Vertraulichkeit von bereitgestellten Informationen begrüßen, und zwar nicht nur während der Dauer des Verfahrens, sondern auch bei rechtskräftigen Entscheidungen.

4.10.

Ebenso würden Händler die Möglichkeit begrüßen, Rechtssachen in kurzer Zeit beizulegen, auch mittels der oben genannten alternativen Streitbeilegungsverfahren.

4.11.

Der EWSA fordert die Kommission auf, den Mitgliedstaaten in ihrem Vorschlag zu kollektivem Rechtsschutz zu empfehlen, technische Innovationen zu nutzen — insbesondere, um die Teilnehmer für eine Verbandsklage zusammenzubringen —, wie es auch die diesbezüglich fortschrittlichsten Einrichtungen für die alternative Streitbeilegung und Online-Streitbeilegung bereits tun. Auf diese Weise sollten sich für die Organisatoren der Verbandsklage und die Verbraucherorganisationen, die sich dazu entscheiden, ihr beizutreten, erhebliche Kosteneinsparungen erzielen lassen. Zudem sollte die Kommission den Austausch bewährter Verfahren fördern, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf die Erhebung von Daten zu sämtlichen Fällen gelegt werden sollte, zu denen Verbandsklagen angestrengt werden.

4.12.

Im Einklang mit der Empfehlung aus seiner Stellungnahme zu einem allgemeinen europäischen Rahmen für den kollektiven Rechtsschutz (17) ist der EWSA der Auffassung, dass Verbraucher frei entscheiden können sollten, ob sie einer Verbandsklage beitreten oder nicht (Opt-in vs. Opt-out). Insbesondere ist der EWSA der Ansicht, dass ein Opt-in für jene Fälle angemessen wäre, in denen die Zahl der Verbraucher, die erheblichen Schaden erlitten haben, beschränkt ist. Das Opt-out hingegen würde sich eher für Fälle mit einer Vielzahl von Verbrauchern eignen, die geringfügigeren Schaden erlitten haben.

Brüssel, den 20. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 12 vom 15.1.2015, S. 1.

(2)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 68.

(3)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 68.

(4)  Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95 vom 21.4.1993, S. 29).

(5)  Richtlinie 98/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 über den Schutz der Verbraucher bei der Angabe der Preise der ihnen angebotenen Erzeugnisse (ABl. L 80 vom 18.3.1998, S. 27).

(6)  Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 149 vom 11.6.2005, S. 22).

(7)  Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 304 vom 22.11.2011, S. 64).

(8)  SWD(2017) 208 final und SWD(2017) 209 final vom 23.5.2017.

(9)  ABl. C 12 vom 15.1.2015, S. 1.

(10)  EWSA-Informationsbericht, vorgelegt auf der Plenartagung am 14.12.2016 (INT/796).

(11)  EWSA-Informationsbericht, vorgelegt auf der Plenartagung am 14.12.2016 (INT/795).

(12)  Stellungnahme TEN/662 zum Thema „Förderung von Fairness und Transparenz für gewerbliche Nutzer von Online-Vermittlungsdiensten“ (siehe Seite 177 dieses Amtsblatts).

(13)  Richtlinie 2013/11/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG (Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten) (ABl. L 165 vom 18.6.2013, S. 63).

(14)  Richtlinie 2009/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen (ABl. L 110 vom 1.5.2009, S. 30).

(15)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 68.

(16)  Empfehlung 2013/396/EU der Europäischen Kommission vom 11. Juni 2013 über gemeinsame Grundsätze für kollektive Unterlassungs- und Schadensersatzverfahren in den Mitgliedstaaten (ABl. L 201 vom 26.7.2013, S. 60).

(17)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 68.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/73


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine erneuerte europäische Agenda für Forschung und Innovation — Europas Chance, seine Zukunft zu gestalten“

(Beitrag der Europäischen Kommission zur informellen Tagung der Staats- und Regierungschefs am 16. Mai 2018 in Sofia)

(COM(2018) 306 final)

(2018/C 440/11)

Berichterstatter:

Ulrich SAMM

Mitberichterstatter:

Stefano PALMIERI

Befassung

Europäische Kommission, 18.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

196/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt, dass die Kommission im Zusammenhang mit dem mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 erneut klargestellt hat, dass Forschung und Innovation auch in Zukunft eine wichtige Priorität der EU bleiben müssen.

1.2.

Der EWSA begrüßt, dass Innovation einen höheren Stellenwert erhalten soll, und erinnert an seine Forderung, dass eine künftige Förderpolitik in Bezug auf die gesamte Forschungs- und Innovationskette, von der Grundlagenforschung bis zur produktbezogenen Forschung, gut ausgewogen sein muss. Innovationen treiben das Wirtschaftswachstum an, und die neuen Instrumente werden vor allem den KMU zugutekommen. Der EWSA hebt erneut die Bedeutung öffentlicher Investitionen in Forschung und Entwicklung hervor, denn sie sind wichtige Triebkräfte für die Erzeugung und Aufrechterhaltung eines Ausstrahlungseffekts auf die Wirtschaft der Mitgliedstaaten.

1.3.

Der EWSA begrüßt außerdem das Ziel, die Regeln für staatliche Beihilfen dahingehend weiter zu vereinfachen, dass Kombinationen verschiedener Fonds möglich werden, wodurch die großen Unterschiede zwischen Mitgliedstaaten und Regionen bei der Zahl erfolgreicher Forschungs- und Innovationsprojekte abgebaut werden können.

1.4.

Aufgabe von Horizont Europa sollte es sein, Investitionen in solche Bereiche zu lenken, in denen ein besonderer europäischer Mehrwert erzielt werden kann. Weil kooperative Forschungsprojekte diesem Erfordernis mehr als andere Vorhaben gerecht werden, sollten sie priorisiert werden.

1.5.

Der EWSA ist überzeugt, dass viele große gesellschaftliche Herausforderungen nur auf europäischer Ebene gelöst werden können und konzertierte Anstrengungen verschiedener Akteure erforderlich sind, die über einzelne kooperative Forschungsprojekte hinausweisen. Aus diesem Grund wird die Idee EU-weiter Forschungs- und Innovationsaufträge unterstützt.

1.6.

Die Förderung der Mobilität der Forscher mithilfe der Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen (MSCA) ist ein weiterer zentraler Ansatz zum weiteren Ausbau des europäischen Forschungsraums, während die EU und die Mitgliedstaaten bestrebt sein müssen, durch ihre Politik geeignete attraktive Arbeitsbedingungen für diesen Berufsstand zu schaffen, um das Phänomen des Braindrain zu vermeiden, der der Kohärenz in der EU schadet.

1.7.

Aus Sicht des EWSA ist es erforderlich, den Umfang der EU-Investitionen zu erhöhen, um europäischen Arbeitnehmern zu helfen, in den Berufen der digitalen Wirtschaft auf dem Stand der Entwicklung zu bleiben und die entsprechenden Qualifikationen zu erwerben.

1.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass Initiativen zur Unterstützung von KMU in ihren Bemühungen, die Ergebnisse von Forschung und Innovation für sich nutzbar zu machen und zu verwerten, wirkungsvoller gefördert werden sollten.

2.   Einführung

2.1.

Auf der informellen Tagung der EU-Staats- und Regierungschefs am 16. Mai 2018 in Sofia zum Thema Innovation ersuchte die Europäische Kommission die Teilnehmer um eine Erörterung und um strategische Richtungsvorgaben im Hinblick auf den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen im Allgemeinen und die Prioritätensetzung für Forschung und Innovation im Besonderen. Zu diesem Zweck hatte die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung Prioritäten und neue Initiativen vorgeschlagen (1).

2.2.

Dieser Vorschlag ist auch ein erster Schritt auf dem Weg zur Ausgestaltung des nächsten Forschungsrahmenprogramms (FP9 oder auch „Horizont Europa“), mit dem das erfolgreiche Programm Horizont 2020 fortgeführt und verbessert werden soll (2).

2.3.

Außerdem werden Tätigkeiten vorgeschlagen, um die Innovation zu unterstützen und die industrielle Führerschaft im Zuge der neuen industriepolitischen Strategie der EU zu fördern (3).

3.   Wesentlicher Inhalt des Vorschlags

3.1.

Mit diesem Vorschlag will die Europäische Kommission gewährleisten, dass Forschung und Innovation als Querschnittsbereich verschiedener Haushaltsinstrumente auch weiterhin zu den wichtigsten EU-Politikbereichen und Förderschwerpunkten zählen. Es wird stärker darauf abgestellt, Europa zu einem Vorreiter bei marktschaffenden Innovationen zu machen.

3.2.

Die Kommission schlägt vor, die Investitionen in Forschung und Innovation durch die Bereitstellung von 100 Mrd. EUR im Rahmen des künftigen Programms Horizont Europa und des Euratom-Programms für Forschung und Ausbildung zu erhöhen (4).

3.3.

Zudem schlägt die Kommission vor, im Rahmen des Fonds „InvestEU“ rund 11 Mrd. EUR für marktbasierte Instrumente, einschließlich Finanzierungsinstrumente und Haushaltsgarantien durch ein spezielles Finanzierungsfenster zu mobilisieren, was wiederum private Investitionen in Höhe von 200 Mrd. EUR für die Unterstützung von Forschung und Innovation anstoßen sollte.

3.4.

Die Mitgliedstaaten werden zu den erforderlichen Schritten zur Erhöhung ihrer Ausgaben für Forschung und Innovation angehalten, damit das Ziel von 3 % des Bruttoinlandsprodukts erreicht wird.

3.5.

Es soll eine Reihe europäischer Forschungs- und Innovations aufträge mit anspruchsvollen, ehrgeizigen Zielen vergeben werden, die einen großen europäischen Mehrwert bieten. Die Aufträge werden Investitionen und eine branchenübergreifende Mitwirkung fördern, und zwar über die gesamten Wertschöpfungsketten, Politikbereiche (z. B. Energie und Klima, Verkehr, fortschrittliche Fertigung, Gesundheit und Ernährung, Digitales) und wissenschaftlichen Disziplinen (auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften) hinweg.

3.6.

Es wird vorgeschlagen, bei allen Überarbeitungen von Politikfeldern und gesetzlichen Bestimmungen der EU und der nationalen Ebene das Innovationsprinzip anzuwenden, um sicherzugehen, dass die innovative Wirkung in ihrem vollen Umfang bewertet wird.

3.7.

Ein Europäischer Innovationsrat (EIR) zur Ermittlung bahnbrechender und disruptiver Innovationen und zu deren Realisierung in größerem Maßstab wird eingerichtet. Sein Schwerpunkt wird auf schnell veränderlichen, hochriskanten Innovationen liegen, die ein großes Potenzial haben, gänzlich neue Märkte zu schaffen.

3.8.

Um private Investitionen in Forschung und Innovationen und Scale-up-Initiativen zu fördern, sind folgende Maßnahmen vorgesehen:

Einrichtung eines europaweiten Risikokapital-Dachfonds (VentureEU);

Umsetzung der Richtlinie (5) für präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren.

3.9.

Die Regeln für staatliche Beihilfen sollten noch weiter vereinfacht werden, um die nahtlose Kombination verschiedener Fonds und die Nutzung gemeinsamer Bewertungsnormen für Forschungs- und Innovationsprojekte zu verbessern.

3.10.

Die Kommission spricht sich für ein innovationsfreundliches Steuerwesen aus (6), in dem Kosten für Investitionen in Forschung und Innovation steuerlich geltend gemacht werden können und zusätzliche Steuervergünstigungen für junge Unternehmen vorgesehen sind.

3.11.

Es soll ein Open-Science-Label (Auszeichnung für offene Wissenschaft) für Hochschulen und öffentliche Forschungseinrichtungen eingeführt werden. Damit soll diesen Einrichtungen geholfen werden, wirtschaftsorientierter und interdisziplinärer zu werden.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt, dass die Kommission auch im Zusammenhang mit dem mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 klargestellt hat, dass Forschung und Innovation auch in Zukunft eine wichtige Priorität der EU bleiben müssen. Ein starkes und erfolgreiches Programm, das Spitzenleistungen, eine gemeinsame Forschungsinfrastruktur, grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Synergien zwischen Wissenschaft, Industrie, KMU und Forschungseinrichtungen vereint, ist ein ganz wesentliches politisches Instrument, um in Europa für nachhaltiges Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu sorgen und die großen Zukunftsaufgaben der europäischen Gesellschaft anzugehen.

4.2.

Der EWSA begrüßt, dass Innovation einen höheren Stellenwert erhält, und erinnert an seine Forderung, dass eine künftige Förderpolitik für die gesamte Forschungs- und Innovationskette, von der Grundlagenforschung bis zur produktbezogenen Forschung, gut ausgewogen sein muss (7). Innovationen treiben das Wirtschaftswachstum maßgeblich an, und die neuen Programme werden vor allem den KMU zugutekommen. Der EWSA hebt erneut die Bedeutung öffentlicher Investitionen in Forschung und Entwicklung hervor, denn sie sind wichtige Triebkräfte für die Erzeugung und Aufrechterhaltung eines Ausstrahlungseffekts auf die Wirtschaft der Mitgliedstaaten.

4.3.

Mit Blick auf die hohen Erwartungen an Horizont Europa und seine Impulse zur Sicherung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit befürwortet der EWSA in Anlehnung an den Vorschlag des Europäischen Parlaments, Fördermittel im Umfang von 120 Mrd. EUR bereitzustellen. Die Organe der EU müssen zeigen, dass ihnen die überragende Bedeutung von Forschung und Innovation für die künftige Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union bewusst ist.

4.4.

Aus Sicht des EWSA ist es erforderlich, den Umfang der EU-Investitionen zu erhöhen, um europäischen Arbeitnehmern zu helfen, in den Berufen der digitalen Wirtschaft auf dem Stand der Entwicklung zu bleiben und die entsprechenden Qualifikationen zu erwerben. Der EWSA ist der Auffassung, dass Initiativen zur Unterstützung von KMU in ihren Bemühungen, die Ergebnisse von Forschung und Innovation für sich nutzbar zu machen und zu verwerten, wirkungsvoller gefördert werden sollten.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.   Forschung über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg

5.1.1.

Die europäischen Struktur- und Investitionsfonds sollten dazu eingesetzt werden, die Regionen in die Innovationswirtschaft zu begleiten. Mit dem Programm Horizont Europa, dem InvestEU-Fond, dem Europäischen Sozialfonds, dem Erasmus+-Programm, dem Programm „Digitales Europa“, der Gemeinsamen Agrarpolitik und anderen Programmen sollten Synergien geschaffen werden.

5.1.2.

Die Offenheit des europäischen Forschungs- und Innovationsraums ist weltweit einzigartig. So werden nicht nur Forschungsorganisationen aus aller Welt in europäische Projekte einbezogen, sondern es besteht auch eine umfangreiche Zusammenarbeit mit internationalen Partnern an gemeinsamen Programmen. Über Horizont Europa muss in Bereiche investiert werden, in denen ein besonderer europäischer Mehrwert erzielt werden kann. Kooperative Forschungsprojekte (8) sollten priorisiert werden, da sie dieses Erfordernis wie kaum ein anderes Programm erfüllen können. Um gesellschaftliche Herausforderungen in Angriff zu nehmen, die auf der nationalen Ebene nicht zu bewältigen sind, werden im Rahmen dieser Projekte führende Wissenschaftler, die innovativsten KMU und industrielle Akteure aus ganz Europa zusammengebracht. Dadurch, dass kooperative Forschungsprojekte Fähigkeiten und Kompetenzen interdisziplinär zusammenführen, bringen sie für die europäischen Bürger einen wertvollen Nutzen.

5.1.3.

Der EWSA ist überzeugt, dass viele große gesellschaftliche Herausforderungen nur auf europäischer Ebene gelöst werden können und konzertierte Anstrengungen verschiedener Akteure erforderlich sind, die über einzelne kooperative Forschungsprojekte hinausweisen. Aus diesem Grund wird die Idee EU-weiter Forschungs- und Innovationsaufträge unterstützt. Der EWSA ist überzeugt, dass gemeinsame ehrgeizige Ziele das Potenzial haben, die Initialzündung für eine dynamische Entwicklung zu liefern, d. h. für die Bereitschaft verschiedener Interessenträger einschließlich der Öffentlichkeit, aktiv zu werden. EU-weite Aufträge sollten mit einer langfristigen Finanzierungsperspektive — für den gesamten Förderzeitraum von Horizont Europa — versehen werden. Es ist wichtig, dass diese Aufträge in erster Linie als umfassende Forschungsaufträge konzipiert werden, auch wenn diverse Interessenträger an ihren Unterprojekten mitwirken. Um die ehrgeizigen Ziele dieser Aufträge zu erfüllen, müssen sie die gesamte Innovationskette abdecken und Forschungsaktivitäten zu allen Technologiereifegraden umfassen. Der EWSA mahnt, das Konzept der Aufträge nicht über Gebühr zu strapazieren. Vielmehr geht es darum, diese mit den nötigen Fördermitteln auszustatten, damit sie ihre Ziele erreichen. Diese Ziele sollten erreichbar und greifbar sein.

5.1.4.

Eine Stärke der europäischen Forschungsrahmenprogramme ist ihr konkretes, EU-weites Wirken im Dienste eines europäischen Forschungsraums, der allen Mitgliedstaaten offensteht. Starke Synergien zwischen dem nächsten Rahmenprogramm und den Strukturfonds könnten diese Offenheit untermauern. Die Kluft zwischen den Regionen noch wirkungsvoller abzubauen, ist eine der großen politischen Aufgaben in den kommenden Jahren. Hier bieten wirkungsvolle Partnerschaften zwischen Forschungseinrichtungen einen wichtigen Ansatzpunkt.

5.1.5.

Ein wichtiges Instrument in diesem Zusammenhang sind die FET-Leitinitiativen für künftige und neu entstehende Technologien (Future and Emerging Technologies). Ihr Kennzeichen ist der nachdrückliche Schwerpunkt auf der Entwicklung innovativer Technologien. Dies ist eine einzigartige Stärke. Europa muss für groß und langfristig angelegte Projekte offen sein, die ihrem Wesen gemäß zwar mit Unsicherheiten verbunden sind, dafür aber aufgrund ihrer innovativen Natur Zukunftschancen eröffnen. FET-Leitinitiativen sollten daher deutlich von den Aufträgen unterschieden werden. Die künftigen FET-Leitinitiativen müssen wie geplant beginnen und auch nachfolgend ein Förderschwerpunkt bleiben.

5.1.6.

Eine der großen Erfolge der Rahmenprogramme ist, dass die Forschungsinfrastruktur europaweit zugänglich gemacht wurde. Es steht außer Zweifel, dass eine erstklassige Forschungsinfrastruktur auch erstklassige Forscher anzieht, und sehr oft ist es so, dass durch die Forschungsinfrastruktur Durchbrüche überhaupt erst möglich werden. Daher benötigt die Forschungsinfrastruktur dringend eine bessere Finanzierung auf europäischer Ebene, keineswegs jedoch einen kleineren Anteil am Haushalt, wie die Europäische Kommission in ihrem Vorschlag vorsieht. Dass Nutzer aus den EU13-Staaten Zugang haben, muss ein vorrangiges Anliegen sein.

5.1.7.

Die Förderung der Mobilität von Forschern mithilfe der Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen (MSCA) ist ebenfalls eine zentrale Maßnahme zur Stärkung des europäischen Forschungsraums und zur Erzeugung einer Wirkung, die auf der nationalen Ebene alleine nicht erreicht werden kann. Der EWSA begrüßt Initiativen zur Förderung der Mobilität von Forschern, die in KMU tätig sind. Mit Sorge blickt der EWSA allerdings auf das Phänomen des Braindrain, der durch eine finanzielle Unterstützung der Mobilität sogar noch verstärkt werden könnte, weswegen er die EU und die Mitgliedstaaten aufruft, durch ihre Politik geeignete attraktive Arbeitsbedingungen für diesen Berufsstand zu schaffen, um diesem für die Kohärenz in der EU schädlichen Trend entgegenzuwirken.

5.1.8.

Mit öffentlichen Mitteln finanzierte universitäre Einrichtungen sind in vielen Mitgliedstaaten nicht darlehensberechtigt. Horizont Europa sollte demnach vordringlich auf Kofinanzierung und nicht auf Darlehen ausgerichtet sein.

5.1.9.

Der EWSA schließt sich dem Appell an die Mitgliedstaaten an, die erforderlichen Schritte zur Erhöhung ihrer Ausgaben für Forschung und Innovation zu ergreifen, damit das Ziel von 3 % des Bruttoinlandsprodukts erreicht wird.

5.2.   Forschung und Innovation für neue Märkte und Zusammenhalt in Europa

5.2.1.

Im siebten Bericht über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt wurde darauf hingewiesen, dass Forschung und Innovation in der EU nach wie vor stark in einigen wenigen Regionen konzentriert sind. In den nordwestlichen Mitgliedstaaten haben gute interregionale Verbindungen, eine hochqualifizierte Arbeitnehmerschaft und ein attraktives Unternehmensumfeld dafür gesorgt, dass Forschung und Innovation als Motoren der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit und des sozialen Zusammenhalts wirken können. In den südlichen und östlichen Mitgliedstaaten ist die Innovationsleistung schwächer und Regionen in der Nachbarschaft der Innovationszentren — das sind in der Regel die Hauptstädte — profitieren nicht von dieser Nähe. Demnach muss politisch dafür gesorgt werden, dass Unternehmen, Forschungszentren und spezialisierte Unternehmensdienste regional miteinander verknüpft werden. Der EWSA ist der Auffassung, dass die weitere Vereinfachung der Regeln für staatliche Beihilfen im Sinne einer nahtlosen Kombination verschiedener Fonds ein wichtiger Schritt hin zu diesem Ziel sein kann.

5.2.2.

In den Forschungs- und Innovationsprogrammen für die Zeit nach 2020 müssen die für die Regionen der EU charakteristischen wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Aspekte berücksichtigt werden, weshalb von einer Einheitsstrategie abzuraten ist. Dieser Ansatz kann durch die Umsetzung von Strategien unterstützt werden, die auf dem Konzept der „Open Innovation“ beruhen. Was die territoriale Dimension von Maßnahmen zugunsten von Forschung und Innovation angeht, so sind neue Programme und Prioritäten wichtig, bei denen die charakteristischen wirtschaftlichen und sozialen Aspekte der jeweiligen Gebiete, in denen die Maßnahmen umgesetzt werden sollen, berücksichtigt werden.

5.2.3.

Die Forschungs- und Innovationsmaßnahmen und -programme für die Zeit nach 2020 sollten den Zielen der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) — einem nachhaltigen Wirtschaftsmodell mit Schwerpunkt auf sozialem Zusammenhalt — verpflichtet sein. Die Gemeinwohl-Ökonomie fördert und unterstützt durch „soziale Innovation“ und einen positiven unternehmerischen Ansatz neue Ideen, die zugleich auf gesellschaftliche Bedürfnisse eingehen, neue soziale Beziehungen schaffen und die wirtschaftliche Wertschöpfung stärken.

5.2.4.

Trotz eines breiten Engagements bei der Umsetzung der Programme im Zeitraum 2014-2020 hat der Zugang der KMU zu innovationsbasierten Wachstumschancen nur wenig zur Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplatzschaffung beigetragen. Das System der Förderung von Forschung und Innovation in einigen Regionen ist nach wie vor zu komplex und hält Kleinst- und Kleinunternehmen davon ab, sich insbesondere an EU-Projekten zu beteiligen. Deshalb begrüßt der EWSA die Bildung eines Europäischen Innovationsrats. Er dürfte hilfreich bei der zügigeren Vermarktung und Maßstabsvergrößerung der Innovationen von Start-up-Unternehmen sein, die aus Horizont-Europa-Projekten hervorgehen. Der Europäische Innovationsrat ist als Möglichkeit zu sehen, die abschließenden Schritte bei der Schließung der Innovationslücke rascher zu vollziehen.

5.2.5.

Damit Forschen und Innovieren zu Wettbewerbsfaktoren werden und die wirtschaftliche Entwicklung begünstigen, muss die Zusammenarbeit zwischen KMU, Einrichtungen der Bereiche F+E+I und Start-up-Unternehmen auf der Grundlage eines Forschungs- und Innovationstransfers sowie durch Coaching und Mittelbeschaffung gefördert werden. Der EWSA hält es für wichtig, den Transfer und die Kapitalisierung des Modells der „Fünffachhelix“ (9) zu unterstützen, um Impulse für öffentlich-private Partnerschaften zu geben.

5.2.6.

Die KMU könnten bei „sozial offenen Innovationen“ führend werden, bei denen menschliches Know-how in Sachen Networking und die Fähigkeit zur Ko-Kreation, zum Ko-Design und zur Ko-Innovation von entscheidender Bedeutung sind, um soziale Innovationen europaweit auf den Weg zu bringen. Eine angemessene Innovationspolitik für KMU muss gefördert werden, so wie es die EUREKA-Initiative bereits vormacht. Diese Aufgabe könnte speziell von Institutionen wie etwa den Handelskammern wahrgenommen werden, die den KMU direkt bei der Erschließung neuer Geschäftsfelder und innovativem Handeln helfen können.

5.2.7.

Damit das Subsidiaritätsprinzip eingehalten und die beträchtlichen Kapazitäten der Regionen und der Mitgliedstaaten im Bereich der KMU-Förderung beachtet werden, wird jedoch dazu geraten, dabei hauptsächlich auf den europäischen Mehrwert abzuheben. Ein solcher könnte sich beispielsweise aus der Unterstützung der Kooperation von mehr als zwei europäischen Innovationsakteuren oder aus der Bereitstellung von Kapital für Innovatoren ergeben, deren Konzepte für eine Förderung auf nationaler Ebene zu risikoreich sind. Darüber hinaus dürfte die Straffung der oben genannten Instrumente zu einer effizienteren Gestaltung der Finanzierungslandschaft führen. Es ist daher zu erwarten, dass der Europäische Innovationsrat einen kleineren Anteil am Haushalt von Horizont Europa benötigt als die Finanzierungsinstrumente von Horizont 2020 und nicht den bedeutenden Zuwachs, der im Vorschlag der Europäischen Kommission vorgesehen ist. In den Forschungs- und Innovationsprogrammen für die Zeit nach 2020 sollten die qualitativen Aspekte der Ziele stärker im Vordergrund stehen.

5.2.8.

Die „Intelligenz“ eines sozioökonomischen Systems kann nicht ausschließlich anhand quantitativer Indikatoren, wie zum Beispiel Ausgaben für Forschung und Innovation, gemessen werden. Es sollten vielmehr auch qualitative Indikatoren herangezogen werden, darunter die Art der eingebrachten Innovationen, der Nutzen für die Zivilgesellschaft und die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze. Der EWSA begrüßt dies.

5.2.9.

Der EWSA begrüßt es, dass die Kommission die Barrierefreiheit im neuen MFR als eine „grundlegende Voraussetzung“ aufgenommen hat. Alle FuI-Finanzierungen auf europäischer und nationaler Ebene müssen Zugänglichkeitskriterien erfüllen, sodass ihre Ergebnisse allen gesellschaftlichen Gruppen von Nutzen sind, auch den Menschen mit Behinderungen, die 15 % der EU-Bevölkerung ausmachen.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  COM(2018) 306 final.

(2)  Siehe ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 66, „Halbzeitbewertung von Horizont 2020“ (Informationsbericht).

(3)  ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 10.

(4)  Die für den Zeitraum 2021-2027 vorgeschlagene Mittelausstattung in Höhe von 100 Mrd. EUR umfasst 97,6 Mrd. EUR für Horizont Europa (davon 3,5 Mrd. EUR für den Fonds „InvestEU“) und 2,4 Mrd. EUR für das Euratom-Programm für Forschung und Ausbildung.

(5)  COM(2016) 723 final.

(6)  Im Zuge der gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB).

(7)  ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 66.

(8)  Die kooperative Forschung mit mindestens drei Partnern aus verschiedenen Mitgliedstaaten macht es möglich, mit vereinten Kräften Herausforderungen anzugehen, die ein Land allein nicht bewältigen kann, und Synergien in der EU-Forschungslandschaft zu schaffen, was zu einem erheblichen europäischen Mehrwert führt, wie bei den von EUREKA konzipierten und durchgeführten Projekten.

(9)  Quintuple Helix and how do knowledge, innovation and the environment relate to each other? A proposed framework for a trans-disciplinary analysis of sustainable development and social ecology, International Journal of Social Ecology and Sustainable Development, Bd.1, Nr. 1, S. 41-69.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/79


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 596/2014 und (EU) 2017/1129 zur Förderung der Nutzung von KMU-Wachstumsmärkten“

(COM(2018) 331 final — 2018/0165 (COD))

(2018/C 440/12)

Berichterstatter:

Mihai IVAŞCU

Befassung

Europäisches Parlament, 11.6.2018

Rat, 21.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

196/1/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt den Vorschlag der Kommission, Kapitalmärkte zu einer glaubwürdigen Finanzierungsalternative zu machen, und ist der Ansicht, dass ein Gleichgewicht zwischen den drei Hauptzielen des Vorschlags gefunden werden sollte: das Wachstum der KMU-Märkte anzukurbeln, Hindernisse zu beseitigen und das Liquiditätsniveau zu erhöhen. Die Europäische Kommission darf nicht überregulieren, sondern sollte Barrieren in einer Höhe beibehalten, die unvorbereitete Unternehmen entmutigen wird.

1.2.

Der EWSA ist der Überzeugung, dass der derzeitige Vorschlag zwar ein Schritt in die richtige Richtung ist, aber nicht ausreicht, um die bestehenden Barrieren auf den KMU-Wachstumsmärkten abzubauen. Ein ganzheitlicher Ansatz ist zwar notwendig, aber jeder einzelne Schritt muss in sich stimmig sein.

1.3.

Im Vergleich zu den USA setzen in der EU nach wie vor viel mehr Unternehmen auf Bankkredite als Finanzierungsmöglichkeit und nehmen dabei oft erhebliche Mehrkosten in Kauf. Bessere Finanzkenntnisse sind erforderlich, da die öffentlichen Märkte der EU Schwierigkeiten haben, neue Emittenten zu finden, und die Anzahl der Börsengänge nicht wesentlich gestiegen ist.

1.4.

Der EWSA hält an seinem früheren Standpunkt fest, wonach die mangelnde Kommunikation (1) und das bürokratische Vorgehen (2) erhebliche Barrieren darstellen und viel mehr unternommen werden muss, um diese Hindernisse zu überwinden. Die Kommunikation aus Brüssel sollte stets an das Ende der Kette — die KMU selbst — gerichtet sein, indem KMU-Verbände, Sozialpartner, Handelskammern usw. einbezogen werden.

1.5.

Der Vorschlag, dass KMU nur Listen ständiger Insider zu führen haben, sowie die vorgeschlagene Verlängerung der Frist zur Offenlegung von Managertransaktionen um zwei Tage werden sehr begrüßt. Diesbezüglich kann der EWSA nur empfehlen, dass die Kommission weitere Methoden prüft, um den Aufwand von den KMU auf andere Akteure wie die zuständigen nationalen Behörden zu verlagern.

1.6.

Der vereinfachte Prospekt stellt in der Tat eine erhebliche Verringerung des Aufwands dar. Der EWSA vertritt jedoch die Ansicht, dass weitere Möglichkeiten geprüft werden sollten, um den Transferprospekt bei Unternehmen, die ihre Reife bewiesen haben, indem sie eine signifikante Anzahl von Jahren an KMU-Wachstumsmärkten notiert sind, nach und nach zu vereinfachen.

1.7.

Der EWSA befürwortet die vorgeschlagenen Änderungen des Marktsondierungssystems und möchte vor übermäßig detaillierten und/oder präskriptiven Begründungsanforderungen seitens der zuständigen nationalen Behörden warnen.

1.8.

Der EWSA rät der Kommission, die Möglichkeit zu prüfen, institutionelle Anleger wie private Pensionsfonds dafür zu gewinnen, auf diesen KMU-Wachstumsmärkten zu investieren, indem sie Anreize insbesondere in Bezug auf die steuerliche Behandlung schafft. Die Mitgliedstaaten sollten weitere Möglichkeiten wie attraktive Systeme zur Investitionsförderung auf nationaler Ebene sondieren.

1.9.

Die Liquiditätsverträge werden besonders begrüßt, vor allem für die unterentwickelten Märkte. Der EWSA ist der Auffassung, dass die von der Europäischen Kommission zusätzlich zu den nationalen Rechtsvorschriften geschaffene 29. Regelung über Liquiditätsverträge Emittenten eine weitere Option bieten wird.

1.10.

Der EWSA möchte darauf hinweisen, dass eine gründliche und regelmäßige Folgenabschätzung erforderlich ist. Jährliche Folgenabschätzungen könnten bei künftigen Änderungen des regulatorischen Rahmens wertvolle Informationen bieten.

2.   Der Vorschlag der Europäischen Kommission

2.1.

Dieser Vorschlag für eine Verordnung ist Teil der Agenda zur Kapitalmarktunion und konzentriert sich auf spezifische Änderungen an der Funktionsweise der KMU-Wachstumsmärkte, die seit Januar 2018 geregelt werden. Die EU hat erhebliche Fortschritte hinsichtlich der Ausweitung der Finanzierungsquellen für wachsende Unternehmen sowie bei der EU-weiten Bereitstellung marktgestützter Finanzmittel erzielt. Neue Regeln gelten bereits und fördern Investitionen der Risikokapitalfonds der EU (EuVECA) in Startups und mittelständische Unternehmen. Zusammen mit dem Europäischen Investitionsfonds hat die Kommission auch ein gesamteuropäisches Risikokapitaldachfonds-Programm (VentureEU) gestartet.

2.2.

Das Hauptziel des Vorschlags besteht darin, kleinen und mittleren Unternehmen die Notierung sowie die Nutzung von Kapitalmärkten zur Finanzierung ihres Wachstums zu erleichtern. Mit dem Vorschlag wird der ursprüngliche Rahmen einer Feinabstimmung unterzogen, die einen Schritt in Richtung einer verbesserten und wirksameren Verordnung darstellt.

2.3.

Der Vorschlag soll für alle an den KMU-Wachstumsmärkten notierten Unternehmen gelten, unabhängig davon, ob es sich um KMU handelt. Damit wird erstens sichergestellt, dass schnell wachsende Unternehmen nicht für ihre gute Wirtschaftsleistung bestraft werden, und zweitens, dass diese Märkte in der Lage sein werden, auch große Unternehmen anzuziehen. Die Kommission geht mit der Einführung dieser neuen Regeln davon aus, dass sich mehr multilaterale Handelssysteme (MTF) als KMU-Wachstumsmärkte registrieren (bislang haben dies nur 3 von 40 getan).

2.4.

Der Vorschlag beinhaltet Erleichterungen, mit denen:

der Aufwand für KMU in Bezug auf Aufzeichnungs- und Offenlegungspflichten verringert würde, wobei die Marktintegrität und ein umfassender Informationsfluss an Anleger gewahrt bleibt;

gemeinsame Regeln für Liquiditätsverträge auf den KMU-Wachstumsmärkten geschaffen würden und eine Steigerung der Liquidität von Aktien ermöglicht würde;

Anlegern beim Versuch, an einen geregelten Markt zu wechseln, die Erstellung eines vereinfachten Prospekts ermöglicht würde (eine neue Kategorie von Transferprospekt wird Anlegern, die mindestens drei Jahre notiert sind, einen einfacheren Wechsel und Zugang zu den Hauptbörsen ermöglichen, und so auf eine bessere Liquidität und größere Zahl von Anlegern abzielen).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

KMU machen 99,8 % aller nichtfinanziellen Unternehmen in der EU aus, sind mit 58 % an der gesamten Wertschöpfung beteiligt und beschäftigen mehr als 90 Mio. Menschen. Dennoch gehen jedes Jahr etwa 200 000 KMU in Konkurs, wovon mehr als 1,7 Mio. Arbeitnehmer betroffen sind (3).

3.2.

Laut EIB-Investitionsbericht 2016/2017 hängen KMU bei Investitionen in der Regel von internen Mitteln ab (über 60 %) (4). Der Rest besteht größtenteils aus Bankinstrumenten. Das Potenzial marktgestützter Finanzmittel wird nicht ausgeschöpft. Der EWSA ist überzeugt, dass eine diesbezügliche Steigerung von wesentlicher Bedeutung für innovative Unternehmen oder Unternehmen mit einem hohen Risiko- und Ertragsprofil ist.

Tabelle 1

Quelle der Investitionsfinanzierung im letzten Geschäftsjahr, EU der 28  (5)

(in %)

 

Kleinst

Klein

Mittel

Groß

Eigenfinanzierung und Gewinnrücklagen

71

64

59

57

Außenfinanzierung

28

35

38

38

Bankkredite

60

60

57

54

Sonstige Bankfinanzierung

11

8

10

11

Leasing

18

23

24

23

Factoring

2

3

3

4

Darlehen von Familie und Freunden

4

2

1

1

Zuschüsse

4

3

4

3

Schuldverschreibungen

0

0

1

4

Beteiligungskapital

0

0

0

1

Sonstiges

1

1

1

1

Gruppeninterne Finanzierung

0

1

3

5

Anm.: Alle Unternehmen, die im letzten Geschäftsjahr investierten (außer „Weiß nicht“ oder keine Antwort).

3.3.

Der EWSA möchte darauf hinweisen, dass KMU zögern, Mittel auf den Kapitalmärkten aufzunehmen und dafür bereit sind, die erhöhten Kosten einer Finanzierung über Bankkredite zu tragen. Diese kulturelle Besonderheit ist einer der wichtigsten Unterscheidungsfaktoren im Vergleich zu den erfolgreicheren Kapitalmärkten der USA und zur geringeren Abhängigkeit amerikanischer Unternehmen von Bankkrediten. Erweiterte Finanzkenntnisse sind von zentraler Bedeutung.

3.4.

In anderen Stellungnahmen hat der EWSA bereits erwähnt, „dass ein bürokratisches Vorgehen und komplexe Verwaltungsvorschriften bei der KMU-Politik der EU und bei den derzeitigen Fördermaßnahmen nach wie vor vorherrschend sind, obwohl auf EU-Ebene kontinuierliche Anstrengungen zur Minimierung des Verwaltungsaufwands unternommen werden“ (6).

3.5.

Der EWSA hat schon früher seine Unterstützung für andere Vorschläge bekundet, die darauf abzielen, den Verwaltungsaufwand bei der Prospekterstellung für alle Emittenten zu verringern, insbesondere für KMU, Daueremittenten von Wertpapieren und Sekundäremissionen (7). Des Weiteren hat der EWSA erklärt: „Während Bankkredite die Realität prägen, ist der Zugang zu Beteiligungskapital als Finanzinstrument ebenso notwendig, in Europa indes aufgrund benachteiligender Steuerregelungen, mangelnder Beteiligungskapitalkultur, geringen Finanzwissens und fragmentierter Insolvenzregelungen nicht ausreichend entwickelt“ (8).

3.6.

Der EWSA befürwortet die Initiative der Europäischen Kommission, den Verwaltungsaufwand für KMU zu verringern und ihnen einen einfacheren Zugang zu Kapitalmärkten und die Diversifizierung ihrer Finanzierungsquellen zu ermöglichen. Außerdem unterstützt der EWSA das erklärte Ziel dieses Vorschlags, die Liquidität der von KMU-Wachstumsmarkt-Emittenten ausgegebenen Aktien zu erhöhen.

3.7.

Obwohl die Vorteile, die für KMU mit einer Notierung an den KMU-Wachstumsmärkten einhergehen, auf der Hand liegen und obgleich ihre Finanzierungsmöglichkeiten dadurch verbessert und diversifiziert werden, haben die öffentlichen Märkte in der EU derzeit Schwierigkeiten, neue Emittenten zu finden, und die Anzahl der Börsengänge steigt nur unwesentlich. Nur 3 000 von über 20 Mio. bestehenden KMU sind notiert, und es gibt nur halb so viele Börsengänge wie vor der Finanzkrise. Eine ungenügende Liquidität auf diesen Märkten schlägt sich in höheren Kosten für Emittenten bei der Kapitalaufnahme und in einer Investitionszurückhaltung seitens der Kapitalgeber nieder. Dies bedeutet, dass Marktintermediäre weniger geneigt sind, kleine börsennotierte Unternehmen zu unterstützen.

3.8.

Eigenkapitalfinanzierung ist wichtig für innovative Unternehmen, die Wert und Wachstum schaffen, insbesondere für Unternehmen mit hohem Risiko- und Ertragsprofil. Eigenkapitalfinanzierung in der Gründungs- und Frühphase kann die Firmengründung und -entwicklung fördern, während über andere Eigenkapitalinstrumente, wie spezialisierte Plattformen für die Börsennotierung von KMU, öffentliche Finanzmittel für wachstumsorientierte und innovative KMU bereitgestellt werden können. Darüber hinaus kann für KMU, denen es an Sicherheiten mangelt, die negative oder unregelmäßige Cashflows haben oder längere Laufzeiten benötigen, damit sich ihre Investitionen auszahlen, Eigenkapitalfinanzierung besser geeignet als Fremdkapitalfinanzierung sein (9).

3.9.

Die EU-Märkte sind nach wie vor fragmentiert und scheinen sich nicht in der Lage zu sein, eine große Anzahl an Börsengängen zu tragen. Europa hat, was das Wachstum innovativer High-Tech-Unternehmen anbelangt, scheinbar eine starke Position inne, aber wenn diese Unternehmen solide Kapitalinvestitionen benötigen, gehen sie in der Regel in Konkurs. Außerdem wechseln schnell wachsende Unternehmen auf der Suche nach zugänglicheren Aktienoptionsplänen oft vom EU-Markt in die Vereinigten Staaten.

3.10.

Notierte Unternehmen sind weniger abhängig von der Finanzierung durch Banken, können auf eine breitere Investitionsbasis zugreifen und werden von der Öffentlichkeit besser wahrgenommen. Es muss jedoch mehr getan werden, um ein förderlicheres Regelwerk zu schaffen, das kleinen und mittleren Unternehmen den Zugang zu öffentlichen Finanzierungsmitteln erleichtert, insbesondere durch Förderung des KMU-Wachstumsmarkt-Labels. Außerdem sollte mittels geeigneter Regulierung der richtige Ausgleich zwischen Anlegerschutz und Marktintegrität geschaffen werden.

3.11.

KMU mit diversifizierten Finanzierungsquellen sind solider und wettbewerbsfähiger und profitieren von geringeren Kosten und besseren Entwicklungsaussichten. Dies ermöglicht einen kraftvolleren Arbeitsmarkt und bessere Möglichkeiten für arbeitssuchende Bürger unabhängig von ihrem Ausbildungsniveau.

3.12.

Der EWSA empfiehlt, dass die Europäische Kommission weitere Erleichterungen an den Regeln und Anforderungen der KMU-Wachstumsmärkte prüft, um sie besser von geregelten Märkten zu unterscheiden und als Einstiegsmärkte attraktiver zu machen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA unterstützt uneingeschränkt die im Rahmen der Agenda zur Kapitalmarktunion laufenden Bemühungen, Kapitalmärkte zu einer glaubwürdigen Finanzierungsalternative zu machen. Allerdings bleibt zu bezweifeln, ob die laufenden Bemühungen ausreichen, um die erheblichen, derzeit auf dem Markt bestehenden Barrieren abzubauen. KMU scheinen ihr Finanzverhalten nicht zu ändern, daher muss mehr getan werden. Die Europäische Kommission sieht ein, dass es sich hier um einen Schritt nach vorne und keine umfassende Lösung für alle Probleme der Kapitalmärkte handelt.

Tabelle 2

Finanzierungsarten, von denen sich KMU im Finanzierungsmix der nächsten drei Jahre mehr wünschen, EU28 (10)

Image

4.2.

Zwar muss sich erst noch weisen, ob mit den vorgeschlagenen Maßnahmen tatsächlich Compliance-Kosten gesenkt, der Aufwand verringert und die Marktliquidität gefördert werden — denn all diese Ziele sind recht ehrgeizig. Der EWSA hält sie jedoch für einen Schritt in die richtige Richtung.

4.3.

Der EWSA ist zudem überzeugt, dass die geringe Zahl von KMU, die Zugang zu marktbasierter Finanzierung erhalten, auch Folge einer mangelnden Kommunikation auf unterster Ebene ist. Die Nachrichten und Instrumente auf EU-Ebene erreichen nicht das Ende der Kette, d. h. die KMU, auf die sie abzielen. Hierfür gibt es mehrere Gründe, der wichtigste aber ist die unzureichend proaktive Kommunikation/Interaktion zwischen Brüssel und den Mitgliedstaaten, KMU-Verbänden, Sozialpartnern oder Handelskammern. Der EWSA hat in einer früheren Stellungnahme (11) warnend darauf hingewiesen, seither aber kaum Verbesserungen festgestellt.

4.4.

Andererseits ist die geringe Zahl institutioneller Anleger am KMU-Aktien- und -Anleihemarkt mit dem Mangel an Anreizen zu erklären, die diesen Anlegern insbesondere in Bezug auf die steuerliche Behandlung geboten werden. Der EWSA rät der Kommission, diese Möglichkeit zu prüfen.

4.5.

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagene Verlängerung der Frist zur Offenlegung von Managertransaktionen um zwei Tage. Dies ist ein wichtiges Instrument zur Erhaltung der Transparenz und Symmetrie der Wachstumsmärkte, die Frist von drei Tagen aber war ein kritisches Hemmnis für KMU. Der EWSA ist überzeugt, dass die vorgeschlagene Änderung in schwierigeren Zeiten oder Spitzenzeiten zu einem strafferen Verfahren für Unternehmen führen wird. Der EWSA empfiehlt, dass die Kommission Möglichkeiten prüft, um den Verwaltungsaufwand von den Unternehmen auf andere Akteure wie die zuständigen nationalen Behörden zu verlagern.

4.6.

Der EWSA hat bereits seine uneingeschränkte Unterstützung dafür zugesagt, die Anforderungen an Prospekte, die beim Angebot von Wertpapieren auf geregelten Märkten zu veröffentlichen sind, zu vereinfachen und zu vereinheitlichen (12). Jeder neue diesbezügliche Vorschlag ist hochwillkommen. Was die Vielzahl von Informationen anbelangt, die an den KMU-Wachstumsmärkten notierte Unternehmen gemäß Marktmissbrauchsverordnung und Richtlinie 2014/65/EU offenlegen müssen, ist der EWSA der Ansicht, dass ein einfacherer Transferprospekt für Unternehmen, die an einen geregelten Markt wechseln, ausreichend ist.

4.7.

Darüber hinaus würde der EWSA die schrittweise Vereinfachung des Prospekts zum Transferieren an den geregelten Markt für Unternehmen begrüßen, die eine angemessene Anzahl von Jahren an KMU-Wachstumsmärkten notiert sind.

4.8.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, dass an den KMU-Wachstumsmärkten notierte Unternehmen nur Listen ständiger Insider zu führen haben, da die Zahl der Arbeitnehmer mit Zugang zu Insiderinformationen begrenzt und weitgehend unverändert ist. Dies stellt eine erhebliche Aufwandsverringerung dar.

4.9.

Der EWSA unterstützt die vorgeschlagenen Änderungen des Marktsondierungssystems, da sie die Begebung von Unternehmensanleihen durch Emittenten an KMU-Wachstumsmärkten erleichtern werden. In Bezug auf die von den Emittenten an KMU-Wachstumsmärkten vorzulegenden Begründungen, wenn sich die Offenlegung von Insiderinformationen verzögert, ist der EWSA der Ansicht, dass die im Anschluss an die Benachrichtigung durch den Emittenten von den zuständigen nationalen Behörden angeforderten Erklärungen auf Ad-hoc-Basis erfolgen und nicht zu detailliert oder übermäßig präskriptiv sein sollten.

4.10.

Die Marktmissbrauchsverordnung verursacht Verwaltungs- und Rechtskosten und kann von Nicht-EU-Emittenten als Hindernis für eine Notierung an EU-Märkten betrachtet werden. Der EWSA empfiehlt, weitere Änderungen vorzunehmen, um die Anforderungen für KMU-Wachstumsmärkte anzupassen.

4.11.

Liquiditätsverträge sind zwar insbesondere für schwach entwickelte Märkte zu begrüßen. Mit einem Vorschlag auf europäischer Ebene würden indes einheitliche Wettbewerbsbedingungen geschaffen, auf die lokale Bedingungen aufbauen können. Der EWSA ist der Auffassung, dass die derzeit von der Europäischen Kommission erarbeitete 29. Regelung über Liquiditätsverträge den Emittenten an den Märkten die Möglichkeit eröffnen würde, einen Liquiditätskontrakt entweder auf der Grundlage der nationalen Rechtsvorschriften, falls vorhanden, oder auf der Grundlage einer unionsweiten Regelung abzuschließen.

4.12.

Der Vorschlag der Europäischen Kommission ist definitiv ein Schritt nach vorn. Der EWSA empfiehlt dennoch, regelmäßige Folgenabschätzungen mit umfassendem Zugang zu nicht vertraulichen Daten und auf quantitativen Indikatoren basierenden Analysen durchzuführen.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 15.

(2)  ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 15.

(3)  Marcin Szczepanski, „Das Wachstum europäischer KMU fördern: Start-up- und Scale-up-Initiativen für Unternehmensprojekte in der EU“.

(4)  „EIBIS 2016/2017: Surveying Corporate Investment Activities, Needs and Financing in the EU“, Europäische Investitionsbank, 2017.

(5)  Apostolos Thomadakis, „Developing EU Capital Markets for SMEs: Mission impossible?“, ECMI Commentary Nr. 46, 4. September 2017.

(6)  ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 15.

(7)  ABl. C 177 vom 18.5.2016, S. 9.

(8)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 20.

(9)  Iota Kaousar Nassr und Gert Wehinger, „Opportunities and limitations of public equity markets for SMEs“, OECD Journal: Financial Market Trends 2015/1, 49-84.

(10)  Apostolos Thomadakis, „Developing EU Capital Markets for SMEs: Mission impossible?“, ECMI Commentary Nr. 46, 4. September 2017.

(11)  ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 15.

(12)  ABl. C 177 vom 18.5.2016, S. 9.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/85


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht“

(COM(2018) 336 final — 2018/0168 (COD))

(2018/C 440/13)

Berichterstatter:

Christophe LEFÈVRE

Befassung

Rat, 6.6.2018

Europäisches Parlament, 11.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 114 Absatz 1 des Vertrags über die Funktionsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

191/0/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Vorschläge der Kommission zur Änderung der Richtlinie über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht. Er bedauert jedoch, dass die Kommission — ungeachtet der Bemerkungen aus der Folgenabschätzung im Zusammenhang mit dem Vorschlag (1) — nicht die Gelegenheit genutzt hat, den Entwicklungen im Bereich der autonomen Fahrzeuge vorzugreifen.

1.2.

Was die Verbesserung des Schutzes von Opfern von Verkehrsunfällen bei Insolvenz des Versicherers betrifft, ist der EWSA der Auffassung, dass der Vorschlag der Entschädigung von Geschädigten durch die einschlägige Stelle des Wohnsitzmitgliedstaats einen richtigen Schritt darstellt. Dabei schließt die Kommission jedoch eine Intervention besagter Stelle aus, wenn Geschädigte sich direkt an den Versicherer gewandt oder gerichtliche Schritte eingeleitet haben. Der EWSA empfiehlt indes, dass dieser Ausschluss nicht gelten sollte, wenn sich der Versicherer in der Zwischenzeit im Konkurs oder in einem Liquidationsverfahren befindet oder der Geschädigte seine Schadensersatzansprüche an die Stelle abtritt, um schneller entschädigt zu werden. Der EWSA empfiehlt, bei unterschiedlich hohen Entschädigungen (Schadenspositionen) in dem Land, in dem der Unfall geschehen ist, und im Wohnsitzland des Geschädigten, stets die vorteilhaftere Entschädigung zu gewähren.

1.3.

Um die Anerkennung von Schadensverlaufsbescheinigungen zu verbessern, empfiehlt der EWSA, auch den Namen des betreffenden Unfallfahrers sowie den Grad des Verschuldens (Alleinverschulden, Teilverschulden, kein Verschulden) anzugeben. Der EWSA hinterfragt den Inhalt dieser Bescheinigung nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts, bei dem das Fahrzeug unabhängig vom Fahrer versichert ist, im Gegensatz zu einer Regelung, bei der das Fahrzeug mit einem konkreten Fahrer versichert und die Prämie in Abhängigkeit vom individuellen Risikoprofil und Schadensverlauf berechnet wird, oder aber wenn sie für einen bestimmten Führerscheinbesitzer unabhängig vom genutzten Fahrzeug ausgestellt wird. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Ausstellung von Versicherungs- und Schadensverlaufsbescheinigungen auf gesicherten Datenträgern vorzuschreiben. Die Ordnungskräfte müssen die Möglichkeit haben, die Gültigkeit dieser Bescheinigungen mithilfe einer vernetzten Datenbank zu überprüfen.

1.4.

In Bezug auf die Kontrolle der Haftpflichtversicherung zur Bekämpfung des Fahrens ohne Versicherung begrüßt der EWSA den Vorschlag, die automatische Nummernschilderkennung zu nutzen, um Fahrzeuge im Rahmen eines nationalen Systems zu kontrollieren, ohne diese anzuhalten. Sollte für ein Fahrzeug kein Versicherungsvertrag abgeschlossen worden sein, empfiehlt der EWSA, das Fahrzeug bis zur Vorlage einer gültigen Versicherungsbescheinigung stillzulegen.

1.5.

Was die Angleichung der Mindestdeckungssummen anbelangt, empfiehlt der EWSA der Kommission, eine Frist für die vollständige Umsetzung der Mindestdeckungssummen festzulegen.

1.6.

Hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Richtlinie begrüßt der EWSA die Klärung, die in Bezug auf nicht ausschließlich zu landwirtschaftlichen Zwecken genutzte Beförderungsmittel vorgenommen wird, die sich auf öffentlichem bzw. privaten Gelände, in Bewegung oder im Stillstand befinden. Indes muss dafür gesorgt werden, dass landwirtschaftliche Fahrzeuge, die öffentliche Straßen benutzen, sehr wohl der Richtlinie unterliegen.

1.7.

In Bezug auf die Kohärenz mit den bestehenden Bestimmungen in diesem Bereich nimmt der EWSA schließlich auch zur Kenntnis, dass die Vorschläge der Kommission den freien Personen- und Warenverkehr sowie die Grundfreiheiten des Binnenmarkts stärken, die die freie Erbringung von Dienstleistungen und die Niederlassungsfreiheit von Versicherern gewährleisten.

2.   Hintergrund und Einführung

2.1.

Die Europäische Kommission schlägt eine Änderung der Richtlinie über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht vor, mit der die Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (2) geändert wird.

2.2.

Die Kommission möchte den bislang unzureichenden Schutz von Opfern von Autounfällen verbessern, die Unterschiede verringern, die in den einzelnen Mitgliedstaaten beim Bonus-Malus-System für Versicherungsnehmer bestehen, sowie den Urteilen Rechnung tragen, die der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) seit der Umsetzung der 1972 verabschiedeten ersten EU-Richtlinie über Kfz-Versicherungen gefällt hat.

2.3.

Die Richtlinie ist ein wichtiges Rechtsinstrument für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts in Bezug auf die Freizügigkeit. Sie sorgt dafür, dass Autofahrer auf der Grundlage einer einzigen Prämie und ohne Zusatzversicherung in einem anderen Mitgliedstaat fahren können. Außerdem zielt sie darauf ab, einen hohen Grad an Konvergenz in Bezug auf den Schutz von Opfern von Verkehrsunfällen zu erreichen.

2.4.

Die Rechtsvorschriften basieren auf dem internationalen System der grünen Versicherungskarte (International Green Card System), einem Nicht-EU-Abkommen zwischen 48 Ländern. Zu den wichtigsten Elementen der Richtlinie 2009/103/EG gehören:

eine obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, die auf der Grundlage einer einzigen Prämie für alle Teile der EU gültig ist;

gesetzliche Mindestdeckungssummen dieser Versicherungspolicen, wobei die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene eine höhere Deckung fordern können;

das Verbot systematischer Kontrollen der Fahrzeugversicherung an der Grenze durch die Mitgliedstaaten;

eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Garantiefonds für die Entschädigung der Opfer von Unfällen, die durch nicht versicherte oder nicht ermittelte Fahrzeuge verursacht wurden;

der Schutz der Opfer von Kraftfahrzeugunfällen in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnsitzstaat („gebietsfremde Geschädigte“);

das Recht der Versicherungsnehmer auf Erhalt einer Bescheinigung des Schadensverlaufs von ihrem Versicherer für die letzten fünf Jahre.

2.5.

Im Rahmen des Arbeitsprogramms der Kommission für 2016 und des Aktionsplans für Finanzdienstleistungen vom März 2017 wurde 2017 eine Bewertung (3) der Richtlinie 2009/103/EG vorgenommen, und im selben Jahr ergingen zudem zwei Urteile des EuGH. Diese liegen dem Standpunkt der Kommission zugrunde.

2.5.1.   Verbesserung des Schutzes der Opfer von Verkehrsunfällen bei Insolvenz eines Versicherungsunternehmens

2.5.1.1.

Die Kommission schlägt vor, dass jeder Mitgliedstaat eine Stelle damit beauftragt, Geschädigte, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet haben, mindestens bis zu den Mindestbeträgen zu entschädigen für Sachschäden oder Personenschäden, die von einem Fahrzeug verursacht wurden, dessen Versicherer innerhalb von drei Monaten ab dem Datum, zu dem der Geschädigte einen Antrag auf Entschädigung gestellt hat, keine mit Gründen versehene Antwort übermittelt hat, oder sich im Konkurs bzw. in einem Liquidationsverfahren befindet. Dieser Anspruch besteht nicht, wenn Geschädigte einen Antrag direkt bei dem Versicherungsunternehmen gestellt oder gerichtliche Schritte eingeleitet haben, die noch anhängig sind.

2.5.1.2.

Die Kommission sieht vor, dass diese Stelle Anspruch auf Erstattung gegenüber der Stelle des zuständigen Mitgliedstaats hat.

2.5.2.   Verbesserung der Anerkennung von Bescheinigungen des Schadensverlaufs, insbesondere im grenzüberschreitenden Rahmen

2.5.2.1.

Die Richtlinie sieht vor, dass Versicherer eine Bescheinigung des Schadensverlaufs für die letzten fünf Jahre ausstellen müssen. Sie sind jedoch nicht gezwungen, diese Bescheinigungen bei der Berechnung der Prämien zu berücksichtigen.

2.5.2.2.

Die Kommission empfiehlt, Inhalt und Format dieser Bescheinigungen anzugleichen. Insbesondere sollten sie die erforderlichen Angaben enthalten, um die Prämien an den Schadensverlauf anzupassen und sie zuverlässiger zu machen.

2.5.3.   Kontrollen der Versicherung zur Bekämpfung des Fahrens ohne Versicherungsschutz

2.5.3.1.

Die Kommission empfiehlt den Einsatz der automatischen Nummernschilderkennung, um im Rahmen eines allgemeinen nationalen Kontrollsystems Kontrollen ohne Anhalten der Fahrzeuge durchzuführen, da diese Vorgehensweise den freien Verkehr von Personen und Fahrzeugen nicht beeinträchtigt.

2.5.3.2.

Laut Kommission erfordert eine solche Überprüfung der Haftpflichtversicherung von Fahrzeugen, die in nationales Hoheitsgebiet einreisen, auch einen Datenaustausch zwischen Mitgliedstaaten.

2.5.4.   Angleichung der Mindestdeckungssummen

2.5.4.1.

Die Kommission stellt zudem fest, dass sich die Mindestdeckungssummen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterscheiden, vor allem weil sie in der Übergangsphase nicht angeglichen wurden. Sie empfiehlt die Harmonisierung der Mindestdeckungssummen, wobei jedoch jeder Mitgliedstaat Obergrenzen festlegen kann.

2.5.5.   Anwendungsbereich der Richtlinie

2.5.5.1.

Unter Berücksichtigung dreier Urteile des EuGH (4) präzisiert die Kommission den Anwendungsbereich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung. Unfälle mit ausschließlich zu landwirtschaftlichen Zwecken genutzten Fahrzeugen sind davon ausgenommen. Die Versicherungspflicht gilt für jede „Verwendung eines Fahrzeugs […], die seiner normalen Funktion als Beförderungsmittel entspricht, unabhängig davon, auf welchem Gelände das Kraftfahrzeug verwendet wird und ob es sich in Bewegung befindet oder nicht“.

2.6.   Kohärenz mit der Politik der Union in anderen Bereichen

2.6.1.

Die Kommission weist darauf hin, dass ihre Vorschläge mit dem freien Personen- und Warenverkehr sowie den Grundfreiheiten des Binnenmarkts im Einklang stehen. Die freie Erbringung von Dienstleistungen und die Niederlassungsfreiheit von Versicherern werden gewährleistet.

3.   Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt die Vorschläge der Kommission zur Änderung der Richtlinie über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht. Diese Änderung beruht auf den im Rechtsrahmen vorgesehenen Rückmeldungen aus der Praxis, aber auch auf Wirkungsanalysen und Konsultationen der Öffentlichkeit sowie auf der Berücksichtigung der einschlägigen EuGH-Urteile.

3.2.   Verbesserung des Schutzes der Opfer von Verkehrsunfällen bei Insolvenz eines Versicherungsunternehmens

3.2.1.

Der EWSA erachtet den Vorschlag zur Entschädigung der Opfer durch die Stelle in ihrem Wohnsitzland, wenn der Versicherer untätig bleibt oder nicht innerhalb einer angemessenen Frist reagiert, für angebracht. Zudem begrüßt er, dass die Stelle des Wohnsitzlandes des Geschädigten anschließend eine Erstattung von der für den Versicherten zuständigen Stelle des Drittlandes fordern kann.

3.2.2.

Wenn sich ein Opfer direkt an den Versicherer gewandt hat oder in diesem Zusammenhang ein Gerichtsverfahren anhängig ist, sieht die Kommission jedoch keine Entschädigung durch die zuständige Stelle vor. Der EWSA empfiehlt daher, diese Ausschlussregelung nicht anzuwenden, wenn

der Versicherer sich in der Zwischenzeit im Konkurs oder in einem Liquidationsverfahren befindet;

die Aufsichtsbehörden die Zulassung entzogen haben;

das Opfer seine Ansprüche aus Schadensersatzklagen an die Stelle abtritt, um sehr schnell eine Entschädigung zu erhalten.

Der EWSA empfiehlt, bei unterschiedlich hohen Entschädigungen (Schadenspositionen) in dem Land, in dem der Unfall geschehen ist, und im Wohnsitzland des Geschädigten, stets die vorteilhaftere Entschädigung zu gewähren.

3.3.   Verbesserung der Anerkennung von Bescheinigungen des Schadensverlaufs, insbesondere im grenzüberschreitenden Rahmen

3.3.1.

Der EWSA begrüßt, dass künftig systematisch eine standardisierte Bescheinigung über den Schadensverlauf in den letzten fünf Jahren ausgestellt werden soll.

3.3.2.

Der EWSA empfiehlt, zusätzlich auch den Namen des betreffenden Unfallfahrers sowie den Grad des Verschuldens (Alleinverschulden, Teilverschulden, kein Verschulden) anzugeben.

3.3.3.

Der EWSA hinterfragt den Inhalt dieser Bescheinigung nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts, bei dem das Fahrzeug unabhängig vom Fahrer versichert ist, im Gegensatz zu einer Regelung, bei der das Fahrzeug mit einem konkreten Fahrer versichert und die Prämie in Abhängigkeit vom individuellen Risikoprofil und Schadensverlauf berechnet wird, oder aber wenn sie für einen bestimmten Führerscheinbesitzer unabhängig vom genutzten Fahrzeug ausgestellt wird.

3.3.4.

Der EWSA fragt sich gleichwohl, welche Situationen durch fahrerlose Fahrzeuge entstehen werden, bzw. wie der Begriff verantwortlicher „Fahrer“ zu definieren ist, wenn ein Kraftfahrzeug ferngesteuert wird.

3.3.5.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission nicht beabsichtigt, Vorschriften zu Urkundenfälschung im Zusammenhang mit Schadensverlaufs- bzw. Versicherungsbescheinigungen zu erlassen.

3.3.6.

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Ausstellung von Versicherungs- und Schadensverlaufsbescheinigungen auf gesicherten Datenträgern vorzuschreiben. Die Ordnungskräfte müssen die Möglichkeit haben, die Gültigkeit dieser Bescheinigungen mithilfe einer vernetzten Datenbank zu überprüfen.

3.3.7.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission nicht auf die Finanzierung der Einrichtung dieser grenzübergreifend vernetzten Systeme eingeht.

3.4.   Kontrollen der Versicherung zur Bekämpfung des Fahrens ohne Versicherungsschutz

3.4.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, die automatische Nummernschilderkennung zu nutzen, um Kontrollen ohne Anhalten der Fahrzeuge durchzuführen, da diese Kontrollen im Rahmen eines allgemeinen nationalen Kontrollsystems vorgenommen werden, nicht diskriminierend sind und kein Anhalten der Fahrzeuge bedingen.

3.4.2.

Die Kommission schweigt sich jedoch darüber aus, was mit den Fahrzeugen geschehen soll, bei denen im Rahmen dieser Kontrollen festgestellt wird, dass sie nicht versichert sind. Der EWSA empfiehlt, diese Fahrzeuge bis zur Vorlage einer gültigen Versicherungsbescheinigung bzw. mit einer mindestens einmonatigen Gültigkeitsdauer stillzulegen.

3.4.3.

Die Kommission weist darauf hin, dass diese Überprüfung der Versicherung von Fahrzeugen bei der Einreise in ein Hoheitsgebiet einen Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten voraussetzt, wobei die Rechte, Freiheiten und legitimen Interessen der betroffenen Personen gemäß der Datenschutz-Grundverordnung geschützt werden müssen.

3.4.4.

Die Kommission äußert sich jedoch weder zur zuständigen Stelle noch zur Finanzierung der Kosten für die Schaffung und Verwaltung einer vernetzten Datenbank über gültige bzw. ungültige Versicherungsbescheinigungen.

3.5.   Angleichung der Mindestdeckungssummen

3.5.1.

Der EWSA schließt sich der Analyse der Kommission in Bezug auf die unterschiedlichen und insbesondere die nicht konformen Mindestdeckungssummen an, die in mehr als der Hälfte der EU-Mitgliedstaaten unter dem in der Richtlinie vorgesehenen Grenzwert liegen.

3.5.2.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, über die bloße Empfehlung einer Angleichung der Grenzwerte (5) hinauszugehen und eine Nachfrist (z. B. Ende 2019) für die vollständige Umsetzung der Mindestdeckungssummen zu setzen, für die die Frist eigentlich schon abgelaufen ist.

3.5.3.

Der EWSA empfiehlt, bei unterschiedlich hohen Entschädigungen (Schadenspositionen) in dem Land, in dem der Unfall geschehen ist, und im Wohnsitzland des Geschädigten, stets die vorteilhaftere Entschädigung zu gewähren.

3.6.   Anwendungsbereich der Richtlinie

3.6.1.

Der EWSA begrüßt die Klärung, die in Bezug auf Beförderungsmittel vorgenommen wird, die sich auf öffentlichem bzw. privaten Gelände, in Bewegung oder im Stillstand befinden, wobei eine ausschließlich landwirtschaftliche Nutzung ausgeschlossen ist. Indes muss dafür gesorgt werden, dass landwirtschaftliche Fahrzeuge, die öffentliche Straßen benutzen, sehr wohl der Richtlinie unterliegen.

3.7.   Kohärenz mit den bestehenden Vorschriften in diesem Bereich

3.7.1.

Der EWSA nimmt zudem zur Kenntnis, dass die Vorschläge der Kommission den freien Personen- und Warenverkehr stärken sowie mit den Grundfreiheiten des Binnenmarkts im Einklang stehen, die die freie Erbringung von Dienstleistungen und die Niederlassungsfreiheit von Versicherern gewährleisten.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/10102/2018/EN/SWD-2018-247-F1-EN-MAIN-PART-1.PDF

(2)  ABl. L 263 vom 7.10.2009, S. 11.

(3)  https://ec.europa.eu/info/law/better-regulation/initiatives/ares-2017-3714481_de

(4)  Urteile in den Rechtssachen Vnuk (2014 C-162/13), Rodrigues de Andrade, (2017 C-514/16) und Torreiro (2017 C-334/16).

(5)  Richtlinie 84/5/EWG, geändert durch die Richtlinie 2005/14/EG.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/90


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge im Hinblick auf ihre allgemeine Sicherheit und den Schutz der Fahrzeuginsassen und von ungeschützten Verkehrsteilnehmern, zur Änderung der Verordnung (EU) 2018/… und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 78/2009, (EG) Nr. 79/2009 und (EG) Nr. 661/2009“

(COM(2018) 286 final — 2018/0145 (COD))

(2018/C 440/14)

Berichterstatter:

Raymond HENCKS

Befassung

Europäisches Parlament, 28.5.2018

Rat, 4.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 114 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

193/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Straßenverkehrssicherheit in der Europäischen Union dank der Verschärfung der Straßenverkehrsordnung, der Vorschriften für das Fahrerverhalten und die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen für Berufskraftfahrer, der Verbesserung der Straßeninfrastruktur und der Leistung der Rettungsdienste sowie der Verschärfung der Anforderungen der EU an die Fahrzeugsicherheit, auf die die Automobilindustrie stets mit innovativen technischen Lösungen reagiert hat, erheblich verbessert.

1.2.

Dennoch liegt die Zahl der Unfalltoten im Straßenverkehr der EU weiterhin deutlich über dem Ziel, das die EU im Weißbuch Verkehr 2011 festgelegt hat, insbesondere hinsichtlich der Senkung der Zahl der Unfalltoten im Straßenverkehr auf nahe null bis 2050 und der Halbierung der Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle bis 2020.

1.3.

Die meisten Verkehrsunfälle sind ausschließlich auf menschliches Versagen zurückzuführen, meist verursacht durch zu hohe Geschwindigkeit, Ablenkung oder Trunkenheit am Steuer. Daher müssen die EU-Bürger stärker angeregt bzw. sogar verpflichtet werden, die Hauptverantwortung für ihre eigene Sicherheit und die anderer Verkehrsteilnehmer innerhalb der Union zu übernehmen, indem sie sich angemessen verhalten.

1.4.

Folglich ist im Bereich der Straßenverkehrssicherheit ein integrierter Ansatz erforderlich, der das Fahrerverhalten, die Arbeitsbedingungen sowie die Qualifikation von Berufskraftfahrern und die Infrastruktur umfasst. Ein weiterer entscheidender Sicherheitsfaktor sind die in Fahrzeugen eingebauten Sicherheitssysteme, die in der Lage sind, menschliche Fehler zu verhindern oder zu korrigieren.

1.5.

Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, eine neue Reihe fortschrittlicher Sicherheitsmaßnahmen für alle Fahrzeuge in Form von Standardausrüstungen für Straßenfahrzeuge verbindlich vorzuschreiben, darunter Reifendruckkontrollsysteme, intelligente Geschwindigkeitsanpassung, Fahrer-Müdigkeitserkennung und -Aufmerksamkeitsüberwachung, Ablenkungserkennung, Erkennung beim Rückwärtsfahren sowie Notbremslicht und Notbremssysteme.

1.6.

Der EWSA teilt ferner die Auffassung, dass Lkw und Busse mit einem System ausgestattet sein müssen, das ungeschützte Verkehrsteilnehmer entdeckt, die sich in unmittelbarer Nähe der Frontseite und der Beifahrerseite des Fahrzeugs befinden, und eine Warnung abgibt, dass durch die Art und Weise ihrer Gestaltung und Konstruktion die Sicht auf ungeschützte Verkehrsteilnehmer vom Fahrersitz aus verbessert wird und dass sie mit einem Spurhaltewarnsystem ausgestattet sein müssen. Ferner begrüßt er die zusätzliche Verpflichtung, Busse zu konstruieren und zu bauen, die auch für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, darunter Rollstuhlfahrer, zugänglich sind.

1.7.

Allerdings wundert er sich, warum die Kommission keine alkoholempfindliche Wegfahrsperre vorschreibt und sich darauf beschränkt, den Einbau einer solchen Vorrichtung zu erleichtern. Der EWSA ist der Ansicht, dass die Einführung eines Alkoholtests eine Verpflichtung und keine Option sein sollte.

1.8.

Darüber hinaus empfiehlt der EWSA, auch für Lkw, schwere Nutzfahrzeuge und Busse ein Gerät zur ereignisbezogenen (Unfall-)Datenerfassung vorzusehen, da die Fahrtenschreiber zwar bereits einen Teil der Fahrdaten liefern, aber keine wichtigen Daten während und nach einem Unfall speichern.

1.9.

Schließlich bedauert der EWSA, dass Sicherheitssysteme, die strenger sind als in den europäischen Rechtsvorschriften vorgesehen und die von den Herstellern auf freiwilliger Basis eingebaut werden, häufig auf die Modelle des oberen Marktsegments beschränkt sind und preisgünstigere Modelle, die nicht mit modernen, nicht obligatorischen Sicherheitsvorrichtungen ausgestattet sind, dadurch im Nachteil sind. Aus diesem Grund haben nicht alle EU-Bürger Zugang zu Fahrzeugen mit einem gleichwertigen Sicherheitsniveau. Um hier Abhilfe zu schaffen, empfiehlt der EWSA der Europäischen Kommission im Fall der hier behandelten Verordnung sowie grundsätzlich, die raschere Anpassung der europäischen Normen an den technologischen Wandel vorzuschreiben.

1.10.

Dies gilt auch für Lkw und Busse, insbesondere im Hinblick auf ein System, das ungeschützte Verkehrsteilnehmer entdeckt, die sich in unmittelbarer Nähe der Frontseite und der Beifahrerseite des Fahrzeugs befinden, und eine Warnung abgibt, dessen Einbau im vorliegenden Vorschlag für eine Verordnung vorgesehen ist, aber auch innerhalb kürzerer Fristen vorgeschrieben werden sollte.

2.   Einführung

2.1.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Verkehrssicherheit erheblich verbessert, vor allem dank fortschrittlicher Sicherheitssysteme im Fahrzeug, einer verbesserten Straßeninfrastruktur, strengeren Straßenverkehrsregeln, an die Fahrer gerichteten Sensibilisierungskampagnen sowie der Schnelligkeit und Kompetenz der Rettungsdienste.

2.2.

Trotz der Bemühungen der Europäischen Kommission, mit ihren verschiedenen Programmen und Leitlinien die Sicherheitsvorschriften in der gesamten Europäischen Union zu harmonisieren, bestehen jedoch nach wie vor erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten.

2.3.

Im Folgenden sind ein paar Beispiele aufgeführt:

Die Verkehrsbeschilderung und das Mindestalter für die Fahrerlaubnis sind nicht überall gleich.

Die Benutzung eines Mobiltelefons während der Fahrt mit einer Freisprecheinrichtung ist in einigen Ländern erlaubt.

Der zulässige Blutalkoholgehalt variiert je nach Mitgliedstaat zwischen Nulltoleranz und einem bestimmten zulässigen Gehalt.

Es gelten unterschiedliche Geschwindigkeitsbegrenzungen.

Die vorgeschriebene Sicherheitsausrüstung für Radfahrer (Helme) und Autofahrer (fluoreszierende Sicherheitswesten, Warndreieck, Verbandskasten, Feuerlöscher) ist nicht überall gleich.

2.4.

Im Jahr 2017 kamen in der EU 25 300 Menschen bei Straßenverkehrsunfällen ums Leben, was einem Rückgang um 2 % im Vergleich zum Vorjahr (1) entspricht. Dies reicht jedoch bei Weitem nicht aus, um die Zahl der Verkehrstoten erheblich zu reduzieren (2) und damit dem Ziel der „null Unfalltoten“ im Straßenverkehr bis 2050 näherzukommen.

2.5.

Etwa 135 000 Menschen wurden im letzten Jahr schwer verletzt (3), darunter viele Fußgänger, Radfahrer und Motorradfahrer, die von der Kommission als besonders „gefährdete“ Verkehrsteilnehmer eingestuft werden.

2.6.

Die Europäische Kommission schätzt die sozioökonomischen Kosten, die durch Straßenverkehrsunfälle entstehen, auf 120 Mrd. EUR pro Jahr (ärztliche Behandlungen, Arbeitsunfähigkeit usw.).

3.   Vorschlag der Kommission

3.1.

Die hier behandelte Initiative ist Teil des dritten Mobilitätspakets „Europa in Bewegung“, das darauf abzielt, die europäische Mobilität sicherer und zugänglicher, die europäische Industrie wettbewerbsfähiger und die europäischen Arbeitsplätze sicherer zu machen und dem Gebot des Kampfes gegen den Klimawandel besser gerecht zu werden, insbesondere durch die Verschärfung der Anforderungen an Sicherheitsmerkmale von Straßenfahrzeugen.

3.2.

Da die derzeitigen Bestimmungen in Bezug auf das EU-Typgenehmigungsverfahren im Bereich des Fußgängerschutzes und der Wasserstoffsicherheit aufgrund der technischen Entwicklung weitgehend überholt sind, werden die Verordnungen (EG) Nr. 78/2009 (Schutz von Fußgängern), (EG) Nr. 79/2009 (wasserstoffbetriebene Kraftfahrzeuge) und (EG) Nr. 661/2009 (Anforderungen für die Typgenehmigung im Hinblick auf die allgemeine Sicherheit von Kraftfahrzeugen) aufgehoben und durch die entsprechenden Bestimmungen der Regelungen der Vereinten Nationen und ihrer Änderungen, für die die Union gemäß dem Beschluss 97/836/EG gestimmt hat oder die sie anwendet, ersetzt.

3.3.

Insgesamt wird der Geltungsbereich der Verordnung über die allgemeine Fahrzeugsicherheit beibehalten, aber bei den derzeit vorgeschriebenen Sicherheitsvorrichtungen für Fahrzeuge, für die entsprechende Ausnahmeregelungen gelten, wird der Geltungsbereich auf alle Fahrzeugkategorien ausgedehnt und die derzeitigen Ausnahmeregelungen für SUV (sportliche Geländefahrzeuge) und Lieferwagen werden aufgehoben.

3.4.

Im Verordnungsentwurf sind die allgemeinen technischen Anforderungen für die Typgenehmigung von Fahrzeugen, Systemen, Bauteilen und selbständigen technischen Einheiten festgelegt; außerdem enthält er eine Liste von Sicherheitsbereichen, für die detaillierte Vorschriften im Sekundärrecht entwickelt werden (oder noch zu entwickeln sind). Alle in der EU verbindlich geltenden Verkehrssicherheitsregeln der Vereinten Nationen sind in einem Anhang zum Verordnungsentwurf aufgeführt.

3.5.

In diesem Vorschlag ist außerdem vorgesehen, dass die Kommission ermächtigt wird, durch delegierte Rechtsakte detaillierte Vorschriften und technische Anforderungen festzulegen.

3.6.

Der derzeitige Geltungsbereich der Verpflichtung zur Ausrüstung von Pkw mit einem Reifendruckkontrollsystem wird auf alle Fahrzeugklassen ausgedehnt.

3.7.

Eine Reihe moderner Sicherheitsvorrichtungen, wie intelligente Geschwindigkeitsanpassung, Fahrer-Müdigkeitserkennung- und -Aufmerksamkeitsüberwachung oder Ablenkungserkennung, Erkennung beim Rückwärtsfahren, Notbremslicht, Erleichterung des Einbaus einer alkoholempfindlichen Wegfahrsperre und ein modernes Notbremssystem, sind für alle Fahrzeuge vorgeschrieben.

3.8.

Außerdem müssen Pkw und leichte Nutzfahrzeuge ausgerüstet sein mit:

einem System zur ereignisbezogenen (Unfall-)Datenerfassung,

einem Spurhaltesystem und

einem Frontschutzsystem, das so gestaltet und konstruiert ist, dass es ungeschützten Verkehrsteilnehmern einen vergrößerten Kopfaufprall-Schutzbereich bietet.

Lkw und schwere Nutzfahrzeuge (Kategorien N2 und N3) sowie Busse (Kategorien M2 und M3) müssen ausgerüstet sein mit:

einem System zur Erkennung und Warnung vor ungeschützten Verkehrsteilnehmern in unmittelbarer Nähe der Frontseite und der Beifahrerseite des Fahrzeugs, das so gestaltet und konstruiert ist, dass die Sicht auf ungeschützte Verkehrsteilnehmer vom Fahrersitz aus verbessert ist, und

einem Spurhaltewarnsystem.

Darüber hinaus müssen Busse so gestaltet und konstruiert sein, dass sie für Personen mit eingeschränkter Mobilität, einschließlich Personen im Rollstuhl, zugänglich sind.

Wasserstoffbetriebene Fahrzeuge müssen den Anforderungen des Anhangs V dieser Verordnung entsprechen.

Für Fahrzeuge mit Fahrautomatik müssen detaillierte technische Sicherheitsvorschriften und -anforderungen als Grundlage für den Einsatz automatisierter Fahrzeuge weiterentwickelt werden.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA begrüßt das Vorhaben der Kommission, eine neue Reihe moderner Sicherheitsvorrichtungen als Standardausrüstung für Straßenfahrzeuge vorzuschreiben. Er weist jedoch darauf hin, dass neben der Überarbeitung der verbindlichen Mindestnormen für Neuwagen, die auf dem europäischen Markt verkauft werden, die EU-Bürger verstärkt angeregt und sogar verpflichtet werden müssen, durch angemessenes Verhalten die Hauptverantwortung für ihre eigene Sicherheit und die anderer Verkehrsteilnehmer in der EU zu übernehmen.

4.2.

Ohne zusätzliche Maßnahmen in Bezug auf das Fahrerverhalten, die Arbeitsbedingungen und die Qualifikation von Berufskraftfahrern und die Straßeninfrastruktur dürften die neuen Maßnahmen im Bereich der Sicherheitsmerkmale von Fahrzeugen allein, so nützlich und unverzichtbar sie auch sein mögen, nur begrenzte Auswirkungen auf die angestrebte Reduzierung schwerer Verkehrsunfälle haben. Die anhaltend hohe Zahl an Verkehrsunfällen mit einer hohen Zahl an Toten und Schwerverletzten erfordert eine weitere dynamische Anpassung der Politik im Bereich der Straßenverkehrssicherheit, in deren Rahmen neben der Verschärfung der Anforderungen an die Sicherheitsmerkmale von Straßenfahrzeugen und Präventivmaßnahmen auch abschreckende Maßnahmen gegen all jene ergriffen werden, die sich nicht an die Vorschriften halten und ihr Leben und das anderer gefährden.

4.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass trotz der Förderung von Technologien für die Interaktion zwischen Fahrern und intelligenten Verkehrssystemen (ITS) nicht zu erwarten ist, dass die Mobilität der Zukunft, insbesondere intelligente Verkehrssysteme und vollautomatische Fahrsysteme, kurz- und mittelfristig eine Bewältigung der aktuellen Herausforderungen gewährleisten wird.

4.4.

Nach Ansicht der Kommission wird der überarbeitete Rahmen dem Schutz ungeschützter Verkehrsteilnehmer besser gerecht. Laut Artikel 3 Absatz 1 dieser Verordnung bezeichnet der Begriff ungeschützter Verkehrsteilnehmer einen „Verkehrsteilnehmer, der ein zweirädriges Kraftfahrzeug fährt, oder einen nicht motorisierten Verkehrsteilnehmer wie einen Fahrradfahrer oder Fußgänger“. Der EWSA ist der Ansicht, dass diese Definition nicht unbedingt alle „Hochrisiko“-Kategorien abdeckt, u. a. Personen, die aufgrund ihres Alters (Kinder, ältere Menschen) oder einer Behinderung von Natur aus gefährdet sind.

4.5.

Es ist bekannt, dass die Risiken für die Verkehrsteilnehmer hauptsächlich auf das Verhalten der Fahrer (Geschwindigkeitsübertretung, Alkohol- oder Drogenmissbrauch, Nutzung mobiler elektronischer Geräte während der Fahrt, kurzzeitige Ablenkung, körperliche Verfassung der Fahrer, zu lange Fahrzeiten, Nichteinhaltung der Ruhezeiten) und eine unangemessene Infrastruktur (Mangel an für Fußgänger reservierten Zonen, Mangel an situationsangepasster Beleuchtung) zurückzuführen sind.

4.6.

Der EWSA begrüßt daher, dass die Kommission zur Vermeidung einiger dieser Gefahren systematisch den Einbau folgender Vorrichtungen in neue Fahrzeuge vorschreibt:

ein adaptives Regelungssystem und eine intelligente Geschwindigkeitsanpassung, die neben der Sicherheit auch kraftstoffsparendes Fahren fördern und damit zu einer Reduzierung der Umweltbelastung führen,

ein Reifendruckkontrollsystem,

hochentwickelte Fahrer-Müdigkeitserkennung und -Aufmerksamkeitsüberwachung.

4.7.

Allerdings wundert er sich, warum der Verordnungsentwurf keine alkoholempfindliche Wegfahrsperre vorschreibt und sich darauf beschränkt, den Einbau einer solchen Vorrichtung zu erleichtern. Einer Studie des Verbandes der TÜV e.V. (4) zufolge wurden im Jahr 2016 11 % der Unfälle durch Trunkenheit am Steuer verursacht. In Anbetracht der Tatsache, dass die Zahl der unentdeckten Fälle von Trunkenheit am Steuer einem Verhältnis von 1 zu 600 entspricht, wird die Zahl der durch Alkoholmissbrauch verursachten Unfälle auf über 25 % geschätzt. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Einführung eines Alkoholtests nicht auf Wiederholungstäter, deren Fahrerlaubnis wegen Fahrens unter Alkohol- oder Drogeneinfluss per Gerichtsbeschluss ausgesetzt ist, beschränkt werden, sondern generell obligatorisch sein sollte.

4.8.

Der EWSA empfiehlt, auch für Lkw und Busse ein Gerät zur ereignisbezogenen (Unfall-)Datenerfassung vorzusehen, da die Fahrtenschreiber dieser Fahrzeuge zwar bereits einen Teil der Fahrdaten liefern, aber keine wichtigen Daten während und nach einem Unfall speichern.

4.9.

Laut der Folgenabschätzung der Kommission, die dem zu prüfenden Verordnungsvorschlag im Anhang beigefügt ist, dürfte die Einführung der neuen Sicherheitsmerkmale über einen Zeitraum von 16 Jahren dazu beitragen, die Zahl der Toten und Schwerverletzten um 24 794 bzw. 140 740 zu senken. Der EWSA fragt sich, ob bei derartigen, bis auf die letzte Stelle bezifferten Schätzungen nicht die Gefahr besteht, dass sie als wenig glaubwürdig wahrgenommen werden und den Nutzen der Folgenabschätzung insgesamt beeinträchtigen.

4.10.

Schließlich weist der EWSA darauf hin, dass die Hersteller auf freiwilliger Basis Fahrzeuge entwickeln, die höheren Sicherheitsnormen als den in den europäischen Rechtsvorschriften vorgeschriebenen entsprechen. Leider beschränken sich diese Verbesserungen oft auf die Modelle des oberen Marktsegments, die sich auf den Hauptmärkten der Mitgliedstaaten verkaufen, wodurch preisgünstigere Modelle, die nicht mit modernen, nicht obligatorischen Sicherheitsvorrichtungen ausgestattet sind, im Nachteil sind. Aus diesem Grund haben nicht alle EU-Bürger Zugang zu Fahrzeugen mit einem gleichwertigen Sicherheitsniveau. Um hier Abhilfe zu schaffen, empfiehlt der EWSA der Europäischen Kommission, die raschere Anpassung der europäischen Normen an den technologischen Wandel vorzuschreiben.

Dies gilt auch für Lkw und Busse, insbesondere im Hinblick auf das System zur Erkennung und Warnung von Verkehrsteilnehmern in unmittelbarer Nähe der Frontseite und der Beifahrerseite des Fahrzeugs (toter Winkel), dessen Einbau zudem innerhalb kürzerer Fristen vorgeschrieben werden sollte.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Pressemitteilung der Kommission vom 10. April 2018, IP/18/2761.

(2)  Pressemitteilung der Kommission vom 10. April 2018, IP/18/2761.

(3)  Pressemitteilung der Kommission vom 10. April 2018, IP/18/2761.

(4)  https://etsc.eu/wp-content/uploads/5_VdTÜV_DeVol_Brussels.PPT_17.06.18.pdf.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/95


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Ergänzung der Rechtsvorschriften der EU über die Typgenehmigung im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union“

(COM(2018) 397 final — 2018/0220 (COD))

(2018/C 440/15)

Berichterstatter:

Séamus BOLAND

Befassung

Europäisches Parlament, 2.7.2018

Rat, 3.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

198/0/7

1.   Schlussfolgerungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Ergänzung der Rechtsvorschriften der EU über die Typgenehmigung im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union.

1.2.

Nach Ansicht des EWSA ist dieser Vorschlag auf die praktischen Maßnahmen ausgerichtet, um den realen Auswirkungen auf die Fahrzeughersteller und -vertreiber sowie die Verbraucher gerecht zu werden, die sich aus den unweigerlichen rechtlichen Änderungen in Bezug auf die Typgenehmigungen ergeben werden, die von den Behörden des Vereinigten Königreichs auf der Grundlage von EU-Rechtsvorschriften ausgestellt werden.

1.3.

Dieser Vorschlag sollte nach Meinung des EWSA deshalb als Vorlage für eine Reihe vergleichbarer Vereinbarungen dienen, die infolge des Brexit notwendig sein werden.

1.4.

Der EWSA empfiehlt, dass bei der Einigung über diesen Vorschlag der Notwendigkeit einer angemessenen Vorlaufzeit für die vollständige Umsetzung des neuen Systems Rechnung getragen wird. Der Stichtag 29. März ist viel zu restriktiv und sollte zu gemeinsam vereinbarten Bedingungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.

1.5.

Der EWSA akzeptiert, dass die im Vereinigten Königreich ansässigen Typgenehmigungsbehörden ab dem Austrittsdatum des Vereinigten Königreichs keine Genehmigungen für Fahrzeuge gemäß EU-Rechtsvorschriften mehr erteilen können und die im Vereinigten Königreich ansässigen Hersteller eine Genehmigung bei einer der 27 in der EU ansässigen Behörden einholen müssen. Vor dem Hintergrund, dass die britische Regierung der Meinung ist, dass ihre Behörde als Typgenehmigungsbehörde nach internationalem Recht anerkannt werden sollte, empfiehlt der EWSA, jedwede Unklarheit in diesem Punkt auszuräumen.

1.6.

Der EWSA hält fest, dass dieser Vorschlag gemäß dem in dem Austrittsabkommen festgesteckten Rahmen umgesetzt wird. Er ist daher der Auffassung, dass dieser Vorschlag keinesfalls verwässert werden darf.

1.7.

Der EWSA weist darauf hin, dass in der EU aufgrund neuer Technologien, Informationen usw. Änderungen und Überarbeitungen von Rechtsvorschriften erforderlich sein könnten. Er empfiehlt daher, bei den Vereinbarungen genügend Spielraum zu lassen, damit echte Verhandlungen stattfinden können.

1.8.

Der EWSA empfiehlt, dass in allen übergeordneten Handelsabkommen wie auch in dem Austrittsabkommen dem enormen Markt in der EU und im Vereinigten Königreich Rechnung getragen und bei sämtlichen Vereinbarungen sichergestellt wird, dass dieser Markt keinesfalls beeinträchtigt wird.

1.9.

Der EWSA empfiehlt ausdrücklich, dass ausreichende Ressourcen für die notwendigen Informationssysteme, Schulungen und Beratungsdienste bereitgestellt und allen Industriezweigen sowie den Verbrauchern und Interessenträgern im Bereich Umweltschutz transparent zur Verfügung gestellt werden.

1.10.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass „Grundrechte“ durch diesen Vorschlag nicht beeinträchtigt werden, weist jedoch darauf hin, dass Verbraucherrechte stets von Bedeutung sind, und empfiehlt daher, diesem Aspekt bei der Umsetzung Rechnung zu tragen.

2.   Allgemeines

2.1.

Nach einem Referendum über die EU-Mitgliedschaft beschloss das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland am 23. Juni 2016, aus der Europäischen Union auszutreten. Diese Entscheidung gilt auch für Gibraltar.

2.2.

Am 29. März 2017 teilte das Vereinigte Königreich der EU seine Absicht mit, gemäß Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union aus der Union auszutreten. Im Anschluss an die Auslösung von Artikel 50 wurde ein Verfahren für die Verhandlungen über den Austritt eingeleitet, um neue komplexe rechtliche Vereinbarungen erfolgreich auf den Weg zu bringen.

2.3.

Nach einer entsprechenden Einigung soll das Vereinigte Königreich zum 30. März 2019 aus der EU austreten und zu einem Drittstaat werden, sofern in dem Abkommen kein neues Datum für das Inkrafttreten festlegt wird.

2.4.

Durch den EU-Austritt müssen zahlreiche praktische Fragen in Verbindung mit EU-weit geltenden Bestimmungen für Waren und Dienstleistungen gelöst werden. So werden insbesondere die im Vereinigten Königreich ansässigen Typgenehmigungsbehörden ab dem Austrittsdatum keine EU-Regulierungsbehörden mehr sein. Dies hat wiederum Auswirkungen auf geltende und künftige Vorschriften für Produkte, auch bereits genehmigte Produkte.

2.5.

Der genaue Standpunkt des Vereinigten Königreichs in Bezug auf seine Typgenehmigungsbehörde wird indes Gegenstand des Gesamtabkommens sein, das derzeit ausgehandelt wird.

2.6.

Zu den vielen Auswirkungen zählt u. a. die Unterbrechung einer breiten Palette an Lieferketten, die genau abgestimmt sind, um Produkte kosteneffizient und rechtzeitig in alle Mitgliedstaaten, auch ins Vereinigte Königreich, zu liefern.

2.7.

In dem Vorschlag wird auch zur Kenntnis genommen, dass die Qualitätsnormen gewahrt werden müssen und die Umwelt- und Verbrauchernormen nicht verwässert werden dürfen.

2.8.

Dieser Vorschlag könnte sehr gut als Vorbild für vergleichbare Vereinbarungen dienen; es ist deshalb wichtig, dass er von allen Interessenträgern und der breiteren Öffentlichkeit unterstützt wird.

2.9.

In dem Vorschlag wird betont, dass er keine Auswirkungen auf den Schutz der Grundrechte hat. Der EWSA möchte jedoch darauf hinweisen, dass Änderungen in den Regulierungsstrukturen für Waren stets auch Auswirkungen auf die Verbraucher haben.

2.10.

Im Mittelpunkt dieser Stellungnahme steht die Typgenehmigung für Kraftfahrzeuge, Kraftfahrzeuge, die für die Güterbeförderung verwendet werden, und Motoren für nicht bewegliche Maschinen und Geräte.

3.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags

3.1.

Mit dem Kommissionsvorschlag soll der EU-Rechtsrahmen für die Typgenehmigung geregelt werden, der eine Reihe von Produkten umfasst und für das Vereinigte Königreich nach dem EU-Austritt nicht mehr gelten wird.

3.2.

Vorbehaltlich etwaiger Übergangsregelungen, die im Austrittsabkommen enthalten sein könnten, nennt die Kommission in ihrem Vorschlag ausdrücklich folgende Rechtsvorschriften, die betroffen sind:

die Richtlinie 2007/46/EG über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern (wird durch eine Verordnung gesetzt, die ab dem 1. September 2020 gilt),

die Verordnung (EU) Nr. 168/2013 über die Typgenehmigung von zwei- oder dreirädrigen und vierrädrigen Fahrzeugen,

die Verordnung (EU) Nr. 167/2013 über die Typgenehmigung von land- und forstwirtschaftlichen Fahrzeugen und

die Verordnung (EU) 2016/1628 über die Typgenehmigung von Motoren für nicht für den Straßenverkehr bestimmte mobile Maschinen und Geräte.

3.3.

In dem Vorschlag wird ganz klar betont, dass die Typgenehmigungsbehörde des Vereinigten Königreichs keine EU-Typgenehmigungsbehörde mehr sein kann. Um die Einhaltung der EU-Rechtsvorschriften auch künftig zu gewährleisten und den Zugang zum Unionsmarkt zu behalten, müssen Hersteller, die Genehmigungen im Vereinigten Königreich erhalten haben, daher neue Genehmigungen der Typgenehmigungsbehörden der EU-27 einholen, auch für bereits in der Produktion befindliche Produkte.

3.4.

Dies hat zum einen beträchtliche Auswirkungen auf die künftige Rolle der Typgenehmigungsbehörde des Vereinigten Königreichs und ruft zum anderen schwerwiegende Bedenken betreffend die Zukunft der Automobilherstellung im Vereinigten Königreich wie auch in der EU hervor, vor allem betreffend die Rechtsunsicherheit in Bezug auf Typgenehmigungen des Vereinigten Königreichs und die Verwässerung eines der wichtigsten Regulierungsgrundsätze, namentlich die Gewährleistung der rechtlichen Kohärenz in der gesamten Europäischen Union.

3.5.

Mit dem Vorschlag sollen diese Aspekte durch eine vorübergehende Änderung der geltenden Vorschriften gelöst werden, damit die betroffenen Hersteller sich mit möglichst wenigen Unannehmlichkeiten an eine der EU-27-Typgenehmigungsbehörden wenden können. Der Vorschlag:

gestattet es betroffenen Herstellern ausdrücklich, bei einer EU-27-Typgenehmigungsbehörde neue Genehmigungen für vorhandene Typen zu beantragen;

sieht vor, dass ist es nicht notwendig ist, die Prüfungen, die den Typgenehmigungen des Vereinigten Königreichs zugrunde liegen, mit der Begründung zu wiederholen, dass der technische Dienst von der EU-27-Typgenehmigungsbehörde nicht zuvor benannt und notifiziert wurde;

gestattet die Erteilung solcher Genehmigungen, wenn statt der Anforderungen für neue Typen die Anforderungen für neue Fahrzeuge, Systeme, Bauteile und selbstständige technische Einheiten erfüllt werden;

sieht vor, für bereits auf dem Markt befindliche Produkte vor dem Austritt neue Typgenehmigungsbehörden zu ermitteln, um zu vermeiden, dass keine Behörde für die Durchführung von Übereinstimmungsprüfungen für in Betrieb befindliche Produkte oder mögliche künftige Rückrufe zuständig ist.

3.6.

In dem Kommissionsvorschlag wird ausdrücklich festgestellt, dass die Verbraucher in puncto Fahrzeugsicherheit und Wahrung von Umweltnormen geschützt werden müssen.

3.7.

Zudem wird präzisiert, dass die den Typgenehmigungsbehörden zugewiesene Rolle nicht mit der Herstellung oder dem Inverkehrbringen eines Fahrzeugs, Systems, Bauteils oder einer selbstständigen technischen Einheit endet, sondern sich über mehrere Jahre nach dem Inverkehrbringen dieser Produkte erstreckt.

4.   Bemerkungen

4.1.

Automobilhersteller benötigen neue Genehmigungen für neue Modelle, die ungefähr alle sieben Jahre auf den Markt gebracht werden, aber auch für grundlegende Änderungen am Design oder Motor, die öfter vorgenommen werden. Angesichts dessen ist es noch wichtiger, dass nach dem Brexit eine reibungslose Anpassung der Regulierungsmechanismen für die Automobilherstellung erfolgt.

4.2.

Ca. 56 % der Automobilexporte des Vereinigten Königreichs gehen nach Europa, wohingegen nur ca. 7 % der europäischen Fahrzeuge ins Vereinigte Königreich exportiert werden. Vorliegende Daten zur Funktionsweise des Marktes für die Lieferung von Ersatzteilen lassen indes darauf schließen, dass die Situation wesentlich komplexer ist, was einen störungsfreien Regulierungsrahmen notwendig macht.

4.3.

Der EWSA hält fest, dass angesichts der enormen Unsicherheiten in den laufenden Verhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich die Auswirkungen dieses Vorschlags auch nach seiner Veröffentlichung nicht bewertet werden können.

4.4.

Der EWSA ist der Ansicht, dass dieser Vorschlag besser anwendbar ist nach erfolgreicher Aushandlung eines Abkommens zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU, in dem eine ausreichende Einigung zur Umsetzung von Maßnahmen erzielt wird, die den Handel in der einen oder anderen Art von Zollunion und/oder Binnenmarkt ermöglicht.

4.5.

Der EWSA stimmt der vom Unterhaus des Vereinigten Königreichs veröffentlichten Aussage zu (siehe 5. Sitzungsbericht 2017-2019 „The impact of Brexit on the automotive sector“), dass es für multinationale Serienhersteller, d. h. das Gros der britischen Automobilindustrie, wirtschaftlich wohl kaum sinnvoll wäre, im Falle eines „No Deal“-Szenarios oder der Anwendung der WTO-Regeln ihre Produktion im Vereinigten Königreich durchzuführen. Sollte das „No Deal“-Szenario Wirklichkeit werden, muss der Vorschlag daher dahingehend überarbeitet werden, dass er robust genug ist, um den dann herrschenden Bedingungen zu entsprechen.

4.6.

Das Vereinigte Königreich und die Europäische Union haben sich bisher noch nicht im Detail über die künftige Rolle der Typgenehmigungsbehörde des Vereinigten Königreichs geeinigt. Nach Auffassung des EWSA muss diese Frage gelöst werden, damit ein neuer Rechtsrahmen Erfolg haben kann.

5.   Herausforderungen

5.1.

Der EWSA begrüßt die Ziele des Vorschlags, insbesondere die Absicht, die Kosten für die Industrie im Sinne von Verzögerungen an den Grenzen und unnötiger Bürokratie zu senken und gleichzeitig die Anwendung der höchsten Standards sicherzustellen. Er erachtet die Verwirklichung dieser Ziele jedoch als enorme Herausforderungen, da bereits jetzt ein gänzlich neuer Regulierungsrahmen konzipiert werden muss.

5.2.

Der EWSA weist auch darauf hin, dass eine derartige Regelung unweigerlich höhere Kosten bewirken wird, in erster Linie weil das Vereinigte Königreich dann kein EU-Mitglied ist und wie für alle anderen Drittländer auch notwendigerweise andere Modalitäten gelten.

5.3.

In Rechtsvorschriften geregelte Aspekte wie Umwelt, Verbraucherrechte, Produktqualität usw. sind oftmals Gegenstand neuer, überarbeiteter oder geltender EU-Bestimmungen. Nach Meinung des EWSA müssten die EU und das Vereinigte Königreich sicherstellen, dass die Vereinbarungen über den Rechtsrahmen flexibel genug sind, um dies zu bewerkstelligen und die Beeinträchtigungen so gering wie möglich zu halten.

5.4.

Fahrzeugherstellung und -vertrieb in der EU sind äußerst stark integriert. Es gibt eine Vielzahl von komplexen und effizienten Lieferketten; dies wird sich nach dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs nach Meinung sämtlicher Experten und auch des EWSA erheblich ändern. Der EWSA merkt zudem an, dass derartige Störungen die Wirksamkeit dieser Systeme beeinträchtigen werden.

5.5.

Aufgrund der hohen Zahl im Vereinigten Königreich hergestellter und in die EU exportierter Fahrzeuge zeigt sich der EWSA besonders besorgt darüber, dass jedweder Ausschluss des Vereinigten Königreichs von diesem Markt die Wettbewerbsfähigkeit insgesamt beeinträchtigen wird, was wiederum zu einer Kostensteigerung für alle Wirtschaftssektoren und die Verbraucher führen wird. Mit dem Kommissionsvorschlag, in dem festgehalten ist, dass all diese Interessen geschützt werden müssen, muss somit sichergestellt werden, dass es eine allgemeine Verpflichtung auf dieses Ziel gibt und dieses Ziel auch in künftigen Vereinbarungen festgeschrieben wird.

5.6.

Angesichts der Komplexität der vorgeschlagenen Änderungen bedarf es eines deutlichen Bekenntnisses beider Seiten zur Auflage umfassender Informations- und Schulungsprogramme für die Industrie wie auch die Typgenehmigungsbehörden. Dies erfordert beträchtliche Ressourcen und Zeit. Der Zeitrahmen wird angesichts des aktuellen Zeitplans für den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs gemäß Artikel 50 ein besonderes Problem.

5.7.

Aufgrund zum einen der Zeit, die für die Aushandlung des Austrittsabkommens notwendig ist, und zum anderen der Zeit, die für die Verwirklichung der Konformität der verschiedenen Systeme erforderlich ist, wird aus Sicht des EWSA ein Übergangszeitraum nach dem Austrittsdatum März 2019 vonnöten sein.

5.8.

Ein vorteilhaftes Ergebnis wäre die Beibehaltung des geltenden Systems für die Beförderung von Fahrzeugen und damit verbundener Produkte zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU; der EWSA betont daher, dass im Vereinigten Königreich hergestellte Fahrzeuge den EU-Rechtsvorschriften entsprechen müssten. Daher wird es äußerst schwierig, diesen Vorschlag umzusetzen, sollte das Vereinigte Königreich in keiner Weise Teil der Zollunion oder des Binnenmarkts oder beider sein.

5.9.

Nach Meinung des EWSA wird der neue Status des Vereinigten Königreichs als Nicht-Mitglied auf Dauer Probleme in Bezug auf die Rechtsvorschriften für mobile und nichtmobile Fahrzeuge nach sich ziehen. Werden diese Probleme nicht zügig gelöst, werden Hersteller sich letztendlich dazu gezwungen sehen, ihre aktuellen Lieferketten zu überdenken, was die dauerhafte Verfügbarkeit von Produkten und die Verbraucherkosten beeinträchtigen wird.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/100


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel“

(COM(2018) 317 final — 2018/0161 (COD))

(2018/C 440/16)

Alleinberichterstatter:

János WELTNER

Befassung

Rat, 21.6.2018

Europäisches Parlament, 2.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

167/2/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission in ihrer Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen (SWD) vier Optionen für die Bewältigung der derzeitigen Probleme geprüft hat, die sich aus dem gegenwärtigen Status des ergänzenden Schutzzertifikats (SPC — Supplementary Protection Certificate) ergeben.

1.2.

Der EWSA stimmt der Schlussfolgerung der Europäischen Kommission zu, die Änderungen im Sinne von Option 4 vorschlägt (1), d. h. Rechtsvorschriften für Ausnahmeregelungen sowohl für den Export als auch für die Bevorratung, indem die Verordnung (EG) Nr. 469/2009 geändert wird.

1.3.

Der EWSA begrüßt, dass der Vorschlag den SPC-Schutz in Bezug auf das Inverkehrbringen von Erzeugnissen auf dem EU-Markt unberührt lässt.

1.4.

Ferner begrüßt der EWSA, dass die Inhaber von SPC ihre Marktexklusivität in den Mitgliedstaaten während der gesamten Dauer des SPC-Schutzes behalten.

1.5.

Der EWSA hält es für äußerst wichtig, dass auf Drittlandsmärkten, auf denen kein Schutz besteht oder ein solcher bereits abgelaufen ist, ein fairer Wettbewerb für Hersteller mit Sitz in der EU gewährleistet wird, die dort Generika und Biosimilars auf den Markt bringen.

1.6.

Der EWSA unterstützt nachdrücklich die Schutzmaßnahmen zur Gewährleistung der Transparenz und zur Vermeidung einer etwaigen Umlenkung auf den Unionsmarkt von Generika und Biosimilars von Originalprodukten, die durch ein SPC geschützt sind.

1.7.

Der EWSA unterstützt die Kommission in ihrem Ansatz gegenüber KMU, da sie eine wichtige Rolle bei der Herstellung von Generika und der Entwicklung von Biosimilars spielen. Die KMU werden ihre Markttätigkeiten besser planen können, wenn das neue SPC in Kraft tritt.

1.8.

Der EWSA unterstützt die Kommission in ihrer Absicht, eine Bewertung der Rechtsvorschriften über Arzneimittel für seltene Leiden und Kinderarzneimittel mit weiteren Analysen in den Jahren 2018/2019 durchzuführen.

1.9.

Der EWSA kann den Standpunkt der Kommission nachvollziehen, dass sie, auch wenn es von Vorteil wäre, zum jetzigen Zeitpunkt keinen Vorschlag für ein einheitliches SPC vorlegen wird, da das Paket zum Einheits-Patent noch nicht in Kraft getreten ist.

1.10.

Der EWSA unterstützt die Änderung der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 in der im Dokument COM(2018) 317 dargelegten Fassung. Gleichzeitig empfiehlt der EWSA, dass die Kommission vorschlagen könnte, die Verordnung (EG) Nr. 469/2009 in der im Dokument COM(2018) 317 dargelegten Fassung dahingehend zu ändern, dass eine sofortige Anwendung der SPC-Ausnahmeregelung ermöglicht wird.

2.   Hintergrund

2.1.

Ein ergänzendes Schutzzertifikat (SPC) wird die Dauer des tatsächlichen Patentschutzes auf Patente für neue Arzneimittel verlängern, bei denen eine Genehmigung für das Inverkehrbringen erforderlich ist.

2.2.

Der Inhaber eines Patents und eines ergänzenden Schutzzertifikats genießt einen Schutz von maximal 15 Jahren ab dem Zeitpunkt, zu dem das betreffende Produkt erstmalig die Zulassung für das Inverkehrbringen in der EU erhält.

2.3.

Ein SPC ist für seinen Inhaber mit erheblichen Vorteilen verbunden. Da ein SPC dieselben Rechte wie das Grundpatent gewährt, wird das Monopol, das sich aus dem (Referenz-)Grundpatent ergibt, ausgeweitet und ermöglicht es seinem Inhaber, Konkurrenten daran zu hindern, die Erfindung (Herstellung des Arzneimittels, Angebot zum Verkauf, Bevorratung usw.) in den Mitgliedstaaten zu nutzen, in denen das SPC gewährt wurde.

2.4.

Ein SPC dient als Ausgleich für die Investitionen, die in die Forschung geflossen sind. Es sollte auch einen Ausgleich für die weitere Forschung, Überwachung und die Wartezeit während des Zeitraums bieten, der zwischen der Anmeldung des Patents und der Erteilung der Genehmigung für das Inverkehrbringen eines solchen Produkts liegt.

2.5.

In der EU kann ein ergänzendes Schutzzertifikat unter folgenden Voraussetzungen erteilt werden:

2.5.1.

Zum Zeitpunkt der Beantragung eines zusätzlichen Schutzes ist das Erzeugnis durch ein Grundpatent geschützt;

2.5.2.

für das Erzeugnis wurde nicht bereits ein Zertifikat erteilt;

2.5.3.

eine gültige und erste behördliche Zulassung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses als Arzneimittel auf dem Markt wurde erteilt.

2.6.

Aus den Stellungnahmen der Interessenträger (2) geht hervor, dass die heutigen SPC die in der EU ansässigen Hersteller von Generika und Biosimilars gegenüber den Herstellern benachteiligen, die Generika und Biosimilars außerhalb der EU herstellen können.

2.7.

In seiner derzeitigen Form erhöht das SPC der EU die Abhängigkeit von Einfuhren von Arzneimitteln und Medikamenten aus Drittländern.

2.8.

Der globale Arzneimittelmarkt hat sich verändert. Schnell wachsende Volkswirtschaften („pharmerging markets“) in Verbindung mit einer alternden Bevölkerung in den traditionellen Industrieregionen haben zu einem massiven Anstieg der Nachfrage nach Arzneimitteln geführt. Die weltweiten Gesamtausgaben für Arzneimittel stiegen von 950 Mrd. EUR im Jahr 2012 auf 1,1 Bio. EUR im Jahr 2017 (USA 40 %, China 20 % und weniger als 15 % in der EU). Biologika werden bis 2022 wertmäßig voraussichtlich ein Viertel des pharmazeutischen Marktes ausmachen. Parallel dazu gibt es eine zunehmende Verschiebung bei den Marktanteilen zugunsten von Generika und Biosimilars, die 2020 mengenmäßig 80 % und wertmäßig rund 28 % aller Arzneimittel ausmachen könnten.

2.9.

Die Organisation „Medicines for Europe“ geht davon aus, dass Generika und Biosimilars mengenmäßig 56 % der Arzneimittel ausmachen, die derzeit in der EU auf dem Markt sind.

2.10.

Mit der patentrechtlichen Ausnahmeregelung gemäß der Bolar-Klausel (3) wurde eine unbeabsichtigte Nebenwirkung des starken Patentschutzes beseitigt, mit der Begründung, dass der freie Wettbewerb zugelassen werden sollte, sobald der Schutz abgelaufen ist. Es handelt sich um eine Ausnahmeregelung für die Herstellung zum Zwecke von Tests und klinischen Prüfungen, die den unmittelbaren Markteintritt von Generika gleich nach Ablauf des Patentschutzes bzw. des SPC-Schutzes sicherstellen soll.

2.11.

In Bezug auf die SPC-Ausnahmeregelung für die Herstellung sehen sich EU-Unternehmen einer mit dem Zustand vor der Bolar-Klausel vergleichbaren Situation gegenüber. Zwar besteht der Zweck eines SPC zu Recht darin, die Herstellung konkurrierender Erzeugnisse zum Zwecke der Vermarktung auf dem EU-Markt während der Geltungsdauer des SPC zu verhindern, es hat jedoch zwei unbeabsichtigte und unvorhergesehene Nebenwirkungen:

2.11.1.

Es verhindert, dass Generika und Biosimilars während der SPC-Laufzeit in der EU hergestellt und in Drittländer (in denen kein Rechtsschutz besteht) exportiert werden können,

2.11.2.

und es verhindert, dass sie früh genug in der EU hergestellt (und anschließend bevorratet) werden, um unmittelbar ab dem ersten Tag („Tag-1“) nach Ablauf des SPC auf dem EU-Markt in Verkehr gebracht werden können.

2.12.

Hersteller von Generika und Biosimilars (mit Sitz in einem Mitgliedstaat, in dem ein SPC für das Referenzarzneimittel beantragt wurde) stehen vor folgenden Problemen:

2.12.1.

Während der Dauer des Schutzes, die das Zertifikat des Referenzarzneimittels in der EU abdeckt, dürfen Hersteller dieses Arzneimittel zu keinem Zweck herstellen, auch nicht zum Zwecke der Ausfuhr aus der EU in Länder, in denen der Schutz des ergänzenden Schutzzertifikats für das Referenzarzneimittel abgelaufen ist bzw. nie gegeben war, während dies Herstellern mit Sitz in diesen Drittländern erlaubt ist.

2.12.2.

Unmittelbar nach Ablauf des Zertifikats stellt sich das Problem, dass die Hersteller nicht auf einen Markteintritt auf den EU-Markt am „Tag-1“ vorbereitet sind, da ihnen das SPC-System der EU bis dahin die Herstellung in der EU nicht erlaubt. Dagegen können sich Hersteller mit Sitz in Drittländern, in denen der SPC-Schutz für das Referenzarzneimittel bereits abgelaufen ist oder nie gegeben war, durch Exporte auf einen Markteintritt am „Tag-1“ vorbereiten, was ihnen somit einen erheblichen Wettbewerbsvorteil verschafft.

2.13.

In der Branche der Generika und Biosimilars sind in der EU mittlerweile 160 000 Menschen beschäftigt (Medicines for Europe). Dem Verlust von insbesondere hochqualifizierten Arbeitsplätzen, der Abwanderung von Know-how und von Fachkräften in Drittländer, vor allem nach Asien, muss durch eine dringende Änderung der Verordnung über das SPC vorgebeugt werden.

2.14.

Die EU war ein Vorreiter bei der Entwicklung von Regelungsverfahren für die Zulassung von Biosimilars: Die Europäische Arzneimittel-Agentur hat das erste Biosimilar 2006 zugelassen, die US-Arzneimittelbehörde FDA erst 2015. Allerdings gibt es klare Anzeichen dafür, dass Europa dabei ist, seinen Wettbewerbsvorsprung einzubüßen, da seine Handelspartner aufholen. Daher muss die EU die Wettbewerbsfähigkeit der in der EU ansässigen Hersteller von Generika und Biosimilars dringend wiederherstellen. Durch einfaches Abwarten oder Herauszögern einer Initiative würde die EU-Industrie weiter geschwächt, insbesondere gingen die Vorreiterrolle und der Wettbewerbsvorteil bei den Biosimilars verloren.

2.15.

Im Einklang mit der Binnenmarktstrategie ist eine gezielte Neuausrichtung einzelner Aspekte des SPC-Schutzes erforderlich, um folgende Probleme anzugehen:

2.15.1.

Verlust von Exportmärkten in Drittländern ohne Schutz;

2.15.2.

rechtzeitige („Tag-1“)- Markteintritte auf den Märkten der Mitgliedstaaten für Hersteller von Generika und Biosimilars mit Sitz in der EU durch die Einführung einer SPC-Ausnahmeregelung für die Herstellung in die EU-Rechtsvorschriften zum SPC, die während der SPC-Laufzeit die Herstellung von Generika und Biosimilars in der EU ermöglicht;

2.15.3.

die Uneinheitlichkeit, die sich aus der uneinheitlichen Umsetzung der SPC-Regelung in den Mitgliedstaaten ergibt, die im Zusammenhang mit dem künftigen Einheits-Patent und der möglichen Schaffung eines einheitlichen SPC-Titels gelöst werden könnte;

2.15.4.

die Uneinheitlichkeit in der Anwendung der Ausnahmeregelung zu Forschungszwecken gemäß der Bolar-Klausel.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Was ist von der neuen Verordnung zu erwarten?

3.1.1.

Stärkung und Erhalt von Produktionskapazitäten und Know-how in der EU, wodurch unnötige Betriebsverlagerungen/Auslagerungen verringert werden.

3.1.2.

Besserer Zugang zu Arzneimitteln für Patientinnen und Patienten in der EU durch eine Diversifizierung des geografischen Ursprungs der Versorgungsquellen und somit Stärkung der heimischen Erzeugung.

3.1.3.

Beseitigung von Hindernissen für die Gründung von Generika- und Biosimilarunternehmen in der EU, insbesondere für KMU, die größere Schwierigkeiten bei der Überwindung von Hindernissen haben und denen Konkurrenz aus Drittländern Schwierigkeiten bereiten könnte.

3.1.4.

Da die für die Ausfuhr eingerichtete Produktionskapazität vor Ablauf der Geltungsdauer des Schutzzertifikats für die Versorgung des EU-Marktes ab dem „Tag-1“ genutzt werden kann‚ dürfte durch den Vorschlag bis zu einem gewissen Grad auch der Zugang zu Arzneimitteln in der Union verbessert werden, zumal Generika und Biosimilars nach Auslaufen der Zertifikate schneller auf den Markt gelangen können, wodurch wiederum dafür gesorgt wird, dass nach Ablauf des Patent- und SPC-Schutzes eine größere Auswahl an erschwinglichen Arzneimitteln zur Verfügung steht. Dies sollte positive Auswirkungen auf die nationalen Gesundheitsetats haben.

3.1.5.

Durch den Vorschlag werden für die Patientinnen und Patienten in der EU Arzneimittel in gewissem Umfang leichter erhältlich, und zwar insbesondere in den Mitgliedstaaten, in denen sich der Zugang zu bestimmten Referenzarzneimitteln (z. B. bestimmte Biologika) schwierig gestaltet, indem die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die entsprechenden Generika und Biosimilars rasch auf den Unionsmarkt kommen, sobald die entsprechenden Zertifikate ausgelaufen sind. Außerdem wird durch den Vorschlag der geografische Ursprung der in der EU verfügbaren Arzneimittel diversifiziert, was sich positiv auf die Lieferkette und die Versorgungssicherheit auswirkt.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Die Kommission könnte nach Wegen suchen, wie der Aufbau von Produktionskapazitäten in den Mitgliedstaaten zu Exportzwecken während der SPC-Laufzeit durch EU-Mittel unterstützt werden kann. Dies könnte bei bestimmten Erzeugnissen eine schnellere Erweiterung der Produktion für einen EU-Markteintritt am „Tag-1“ ermöglichen.

4.2.

Die Kommission könnte interessierte Nichtregierungsorganisationen bei ihrer Arbeit an der Entwicklung von Indikatoren zur Überwachung und Bewertung des neuen SPC unterstützen, um so den EU-Marktanteil von in der EU hergestellten Generika und Biosimilars künftig weiter auszubauen.

Brüssel, den 20. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  SWD(2018) 240 final, S. 29.

(2)  SWD(2018) 242 final.

(3)  Richtlinie 2001/83/EG und Richtlinie 2001/82/EG.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/104


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung und Berichtigung der Verordnung (EU) Nr. 167/2013 über die Genehmigung und Marktüberwachung von land- und forstwirtschaftlichen Fahrzeugen“

(COM(2018) 289 final — 2018/0142 (COD))

(2018/C 440/17)

Berichterstatter:

Mindaugas MACIULEVIČIUS

Befassung

Europäisches Parlament, 28.5.2018

Rat, 1.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

190/2/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung und Berichtigung der Verordnung (EU) Nr. 167/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (1). In diesem Vorschlag werden die im ersten Durchführungszeitraum eingegangenen Rückmeldungen von Interessenträgern und Mitgliedstaaten berücksichtigt; er sollte daher befürwortet werden.

1.2.

Der EWSA unterstützt die Verlängerung der der Kommission übertragenen Befugnis zur Annahme delegierter Rechtsakte um weitere fünf Jahre, da verschiedene Elemente des Typgenehmigungsverfahrens fortlaufend aktualisiert werden müssen.

1.3.

Der EWSA begrüßt das ausdrückliche Engagement der Kommission für die Anhörung einer breiten Palette an Interessenträgern und Sozialpartnern für sämtliche Initiativen in diesem Bereich.

1.4.

Der EWSA begrüßt ebenfalls die Arbeit der Kommission auf internationaler Ebene. Die neuen, auf dem Wege delegierter Rechtsakte festgelegten Normen werden in enger Zusammenarbeit mit internationalen Arbeitsgruppen wie den einschlägigen Arbeitsgruppen der UN-Wirtschaftskommission für Europa (UNECE) und der OECD erarbeitet.

2.   Der Kommissionsvorschlag

2.1.

Mit dem Kommissionsvorschlag soll die Verordnung (EU) Nr. 167/2013 an den technischen Fortschritt angepasst werden, indem anknüpfend an die im ersten Durchführungszeitraum eingegangenen Rückmeldungen von Interessenträgern und Mitgliedstaaten einige Anforderungen aktualisiert und einige redaktionelle Fehler berichtigt werden.

2.2.

Im Einzelnen werden mit diesem Rechtsakt zwei Begriffsbestimmungen zu Klassen von Zugmaschinen klarer gefasst; außerdem werden bestimmte Begriffe, die für die einheitliche Anwendung der Verordnung ohne Auslegungsspielraum wichtig sind, sowie die Bezugnahmen auf einen aufgehobenen Rechtsakt berichtigt.

2.3.

In der Verordnung (EU) Nr. 167/2013 wird der Kommission die Befugnis übertragen, gegebenenfalls die entsprechenden detaillierten technischen Anforderungen, die Prüfverfahren und die Grenzwerte in vier delegierten Rechtsakten zu i) Sicherheit am Arbeitsplatz (Anforderungen für die Bauweise von Fahrzeugen), ii) funktionaler Sicherheit, iii) Bremsen und iv) Umweltverträglichkeit und Leistung der Antriebseinheit festzulegen. Diese Befugnisübertragung ist bereits am 21. März 2018 ausgelaufen.

2.4.

Mit diesem Vorschlag wird die der Kommission übertragene Befugnis zur Annahme delegierter Rechtsakte um weitere fünf Jahre verlängert und die stillschweigende Verlängerung festgelegt, sofern weder der Rat noch das Europäische Parlament dem ausdrücklich widersprechen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung und Berichtigung der Verordnung (EU) Nr. 167/2013, der den Bedenken von Interessenträgern und Mitgliedstaaten Rechnung trägt; durch die Aktualisierung bestimmter Anforderungen und die Berichtigung einiger redaktioneller Fehler werden die Anwendbarkeit und die Klarheit dieses Rechtstextes verbessert. Dies ist selbstredend für alle Beteiligten von Vorteil.

3.2.

In Bezug auf die Verlängerung der der Kommission übertragenen Befugnis zur Annahme delegierter Rechtsakte um weitere fünf Jahre bekundet der EWSA seine grundsätzliche Zustimmung zu diesem Vorschlag und begrüßt, dass die Kommission — so wie vom EWSA seit jeher gefordert — eine (ggf. mehrmalige) Verlängerung der Befugnisübertragung um einen bestimmten Zeitraum, soweit keine Einwände seitens des Rates und des Parlaments vorliegen, als angemessen betrachtet (2).

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. L 60 vom 2.3.2013, S. 1; ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 42.

(2)  ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 67.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/106


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein moderner Haushalt für eine Union, die schützt, stärkt und verteidigt — Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-2027“

(COM(2018) 321 final)

„Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung des Mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2021 bis 2027“

(COM(2018) 322 final/2-2018/0166 (APP))

„Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union“

(COM(2018) 325 final — 2018/0135 (CNS))

„Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der Eigenmittel, die auf der gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, dem Emissionshandelssystem der Europäischen Union und nicht wiederverwerteten Verpackungsabfällen aus Kunststoff basieren, sowie der Maßnahmen zur Bereitstellung der erforderlichen Kassenmittel“

(COM(2018) 326 final — 2018/0131 (NLE))

„Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung von Durchführungsmaßnahmen für das Eigenmittelsystem der Europäischen Union“

(COM(2018) 327 final — 2018/0132 (APP))

und zum „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 1553/89 über die endgültige einheitliche Regelung für die Erhebung der Mehrwertsteuereigenmittel“

(COM(2018) 328 final — 2018/0133 (NLE))

(2018/C 440/18)

Berichterstatter:

Javier DOZ ORRIT

Befassung

Europäische Kommission, 18.6.2018

Rat der Europäischen Union, 25.7.2018 und 5.9.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

140/3/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) stellt fest, dass die Programme, für die die Kommission in ihrem Vorschlag für den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021-2027 die größten Ausgabensteigerungen vorsieht, einen hohen europäischen Mehrwert haben. Der Ausschuss ist jedoch beunruhigt darüber, dass diese Steigerungen im Zuge der Bemühungen um eine Reduzierung des EU-Haushalts von aktuell 1,16 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) der EU-27 auf lediglich 1,11 % im MFR nach 2020 durch umfangreiche Kürzungen bei der Kohäsionspolitik (- 10 %) und der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) (– 15 %) finanziert werden sollen.

1.2.

Die EU steht vor großen Herausforderungen, zu denen die Überwindung der negativen sozialen und politischen Folgen der Krise und die externen Risiken durch geopolitische Instabilität und Wirtschaftspatriotismus gehören. Sie sollte ihr erhebliches wirtschaftliches und politisches Potenzial dazu einsetzen, eine fortschrittliche und wachstumsorientierte Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik zur Sicherstellung einer gerechten Verteilung der Wachstumsgewinne zu fördern, die dringende Aufgabe des Klimaschutzes anzugehen, den Übergang zu einem nachhaltigen Europa (vor dem Hintergrund von Artikel 3 EUV) zu finanzieren und die sich aus der Entwicklung der künstlichen Intelligenz, der Digitalisierung und im Rahmen von Industrie 4.0 ergebenden Chancen zu nutzen. All das verlangt größere haushaltspolitische Anstrengungen. Der EWSA schlägt in Übereinstimmung mit dem Standpunkt des Europäischen Parlaments (1) für die Ausgaben und Einnahmen einen Wert von 1,3 % des BNE vor. Die vorgeschlagene Höhe der Mittelbindungen von 1,11 % des BNE der EU reicht nicht aus, um die politische Agenda der EU glaubwürdig umsetzen zu können.

1.3.

In Übereinstimmung mit der Stellungnahme des EWSA zum Reflexionspapier über die Zukunft der EU-Finanzen (2) weist der EWSA erneut darauf hin, dass die europäischen Bürger zur Bewältigung der politischen Krise in der EU mehr (und ein besseres) Europa benötigen. Die Befugnisse und Finanzmittel, mit denen die EU derzeit ausgestattet ist, stehen zunehmend in einem Missverhältnis zu den Anliegen und Erwartungen der Europäer.

1.4.

Der EWSA erkennt an, dass durch den Vorschlag der Kommission die Gliederung, Flexibilität und Fähigkeit, Synergien zu fördern, verbessert werden und der prozentuale Anteil der Einnahmen aus den Eigenmitteln der EU steigt. Dieser Anstieg reicht jedoch nicht aus. Der Vorschlag der Kommission für den MFR nach 2020 greift lediglich einen Teil der Vorschläge der Hochrangigen Gruppe „Eigenmittel“ und des Europäischen Parlaments (EP) auf, die ein breiteres Spektrum von Eigenmittelquellen befürworten.

1.5.

Der EWSA kann zwar die Gründe des Kommissionsvorschlags nachvollziehen, ist aber nicht damit einverstanden, dass im Vorschlag für den MFR 2021-2027 im Vergleich zum aktuellen Haushalt die Mittel für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) um 12 % und für den Kohäsionsfonds um 46 % (zu konstanten Preisen) gekürzt werden.

1.6.

Der EWSA spricht sich dagegen aus, dass die Mittel für den Europäischen Sozialfonds (ESF+) im Vorschlag um 6 % real gekürzt werden, insbesondere angesichts der jüngsten interinstitutionellen Proklamation zur europäischen Säule sozialer Rechte und des Ziels der Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze vom November 2017. In Übereinstimmung mit seiner jüngsten Stellungnahme zur Finanzierung der europäischen Säule sozialer Rechte (3) hätte der EWSA erwartet, dass sich die Vorschläge für die geplante Mittelzuweisung im nächsten MFR an den Grundsätzen dieser Säule und der Notwendigkeit ihrer Umsetzung, insbesondere im Bereich Beschäftigung, orientieren. Es sollte ein spezielles Programm für die Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Erklärung von Göteborg zur europäischen Säule sozialer Rechte eingerichtet werden, um die Mitgliedstaaten in ihren Bemühungen zu unterstützen, Reformen durchzuführen und damit Anreize für die Schaffung von hochwertigen Arbeitsplätzen im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung zu setzen.

1.7.

Der ESWA vertritt die Auffassung, dass die Kohäsionspolitik (die Summe aus EFRE, Kohäsionsfonds und ESF) im MFR 2021-2027 mindestens mit denselben Mitteln (zu konstanten Preisen) wie im aktuellen Finanzrahmen ausgestattet werden sollte.

1.8.

Der EWSA begrüßt die Aussage der Kommission, dass diese strategischen Investitionen der Schlüssel zum künftigen Wohlstand Europas und dessen Vorreiterrolle bei den globalen Nachhaltigkeitszielen sind. Er ist jedoch der festen Überzeugung, dass die Nachhaltigkeitsziele und konkret die Agenda 2030 stärker herausgestellt werden müssen, da diese Agenda für die EU zweifellos die übergeordnete Strategie für die kommenden Jahre ist.

1.9.

Der Ausschuss würdigt die wesentliche Erhöhung der Mittelbindungen für Umwelt- und Klimapolitik (+ 46 %). Der EWSA befürwortet das Programm der Vereinten Nationen für die nachhaltige Entwicklung bis 2030 und unterstützt die Ziele der EU im Hinblick auf den Übergang zu einer emissionsarmen Wirtschaft bis 2050. Er weist daher auch darauf hin, dass es in Bezug auf den Anteil der Haushaltsmittel, die für den Übergang zu einer nachhaltigen Entwicklung und für den Klimaschutz bereitgestellt werden sollen, an Ehrgeiz mangelt.

1.10.

Die Einrichtung eines Stabilisierungsmechanismus im EU-Haushalt für Investitionen der Mitglieder des Euro-Währungsgebiets, die von länderspezifischen Schocks betroffen sind, ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung. Der EWSA ist jedoch der Ansicht, dass die dafür geplanten Mittelbindungen sowohl im Hinblick auf Darlehensbürgschaften als auch im Hinblick auf Zuschüsse für Zinszahlungen für diese Darlehen viel zu gering sind, um im Fall einer Krise Wirkung zu zeigen. Dieses einzigartige und begrenzte Programm des möglichen Haushalts für das Euro-Währungsgebiet ist kein Bestandteil einer WWU-Reformstrategie, die im MFR für die Jahre nach 2020 erwähnt wird.

1.11.

Der EWSA betrachtet die vorgeschlagenen Kürzungen der geplanten Mittelbindungen für die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) mit Skepsis (– 15 % real, wenn man die Mittel für die EU-27, einschließlich EEF, im Zeitraum 2014-2020 und im Zeitraum 2021-2027 miteinander vergleicht). Durch diese Kürzungen wird es unmöglich, ein Modell nachhaltiger ländlicher Entwicklung, ein globales Ziel in der neuen Reform der GAP, sowie auch andere Ziele umzusetzen, die in der vor Kurzem veröffentlichten Mitteilung der Kommission zur Ernährung und Landwirtschaft der Zukunft enthalten sind.

1.12.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission für einen Korb neuer Eigenmittel. Er hält es allerdings für unwahrscheinlich, dass die aktuellen Vorschläge zu ausreichenden, unabhängigen, transparenten und gerechten Eigenmitteln führen werden. Der EWSA befürwortet jedoch das Ziel der schnellen Umsetzung einer kohärenten Reform des Systems, durch die der Anteil der Einnahmen aus Eigenmitteln erhöht und dafür Sorge getragen wird, dass die Erzielung von Einnahmen durch verschiedene Methoden die politischen Ziele der EU ergänzt und unterstützt. Diese Reform sollte sich an den Empfehlungen der Hochrangigen Gruppe „Eigenmittel“ und des Europäischen Parlaments orientieren. Der Ausschuss weist die Organe der EU darauf hin, dass es ein komplexes Unterfangen ist, all diese Eigenmittel im Zeitraum 2021-2027 parat zu haben.

1.13.

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagene Abschaffung von Rabatten (oder Schecks) für die Länder, die den größten Beitrag zur Finanzierung des EU-Haushalts geleistet haben.

1.14.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, die Vergabe von EU-Mitteln an die Mitgliedstaaten an die Achtung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit, eines der Grundpfeiler der in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) festgeschriebenen Werte der Union, zu knüpfen, und meint, dass diese Konditionalität auch auf andere, in den EU-Verträgen verankerte Grundsätze im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit ausgedehnt werden könnte. Er fordert daher die Kommission und das Europäische Parlament auf, diese Möglichkeit zu prüfen.

1.15.

Der Ausschuss begrüßt die Unterstützung von Investitionen durch die InvestEU-Bürgschaftsfazilität und die geplante Einbeziehung anderer Partner wie nationaler Förderbanken und -institute sowie internationaler Finanzinstitutionen (z. B. die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, EBWE). Er bedauert jedoch, dass die diesbezügliche Mittelausstattung vom Umfang her lediglich den vorherigen EIB-Darlehen (4) entspricht und nicht dem großen Investitionsdefizit der EU Rechnung trägt. Ferner fordert der Ausschuss die Umsetzung von Änderungen in der Funktionsweise der InvestEU-Fazilität, damit den Ländern mit den geringsten Einkommen verhältnismäßig mehr Mittel zufließen. Die EU-Programme sollten klar die Förderung von Konvergenz, nicht von Divergenz, zum Ziel haben.

1.16.

Der Ausschuss erklärt sich besorgt, dass durch eine starre Auslegung der Bestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts und anderer makroökonomischer Auflagen sowie der Kofinanzierungsanforderungen für die Kohäsionsfonds der Zugang zu diesen notwendigen Mitteln für die bedürftigsten EU-Mitgliedstaaten erschwert wird.

1.17.

Der Ausschuss begrüßt die vorgeschlagene umfangreiche Ausdehnung von Programmen für die Erforschung und Entwicklung der digitalen Wirtschaft und Gesellschaft. Er betont, dass eine sorgfältig ausgearbeitete Strategie erforderlich ist, um mit einer nachhaltigen europäischen Industriepolitik Innovationen auf der Grundlage hochwertiger Beschäftigung zu fördern, indem unter anderem die Zusammenarbeit zwischen der akademischen Forschung und der Wirtschaft sowie den Sozialpartnern und zivilgesellschaftlichen Organisationen erleichtert wird.

1.18.

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagenen Änderungen in Bezug auf die deutliche reale Aufstockung der Mittel für Programme in den Rubriken Migration und Grenzmanagement sowie Nachbarschaft und die Welt. Es muss unbedingt eine gemeinsame Asylpolitik auf der Grundlage der Einhaltung des Völkerrechts und der Solidarität mit den Flüchtlingen und zwischen den Staaten beschlossen werden. Ebenfalls ist die Festlegung einer europäischen Migrationspolitik dringend geboten. Der EWSA weist nachdrücklich darauf hin, dass diesen Themen bei der Umsetzung des MFR besonderes Augenmerk gelten muss.

1.19.

Der Ausschuss erklärt erneut, dass dem Europäischen Semester bei der Umsetzung des EU-Haushalts eine zentrale Rolle zukommen und dabei die Flexibilität des neuen MFR möglichst umfangreich genutzt werden sollte. Für eine wirksamere und demokratischere Umsetzung der Leitlinien des Semesters und für die Verknüpfung der nationalen und europäischen Sphären ist eine verstärkte Teilnahme der Sozialpartner und Zivilgesellschaft am Europäischen Semester erforderlich.

1.20.

Der EWSA fordert die EU-Organe und die Regierungen der Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, die Arbeiten am MFR für den Zeitraum nach 2020 zu intensivieren, damit dieser innerhalb des vorgesehenen Zeitplans, d. h. noch vor den nächsten Europawahlen, unter Dach und Fach gebracht werden kann.

2.   Der Vorschlag der Kommission für den mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027

2.1.

In dieser Stellungnahme setzt sich der EWSA mit dem am 2. Mai 2018 von der Europäischen Kommission vorgelegten Paket auseinander. Dazu gehören eine Mitteilung zum MFR (5), vier Vorschläge für vier Verordnungen des Rates (6) und ein Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das Eigenmittelsystem (7).

2.2.

Im Vorschlag wurde die Obergrenze der Mittel für Verpflichtungen für 2021-2027 auf 1,135 Mrd. EUR (in Preisen von 2018 und einschließlich des Europäischen Entwicklungsfonds (EEF)) bzw. 1,11 % des BNE festgelegt. Dies ist ein Anstieg gegenüber der Obergrenze von 1,082 Mrd. EUR (ohne den Beitrag des Vereinigten Königreichs) bzw. 1,16 % des BNE (ohne das Vereinigte Königreich) für den Zeitraum 2014-2020. Für denselben Zeitraum wurde die Obergrenze der Mittel für Zahlungen im Vorschlag auf 1,105 Mrd. EUR festgelegt (in Preisen von 2018 und einschließlich EEF) bzw. 1,08 % des BNE, ein Anstieg gegenüber den 1,045 Mrd. EUR bzw. 0,98 % des BNE.

2.3.

Zu den vorgeschlagenen Änderungen zählen bedeutende reale Steigerungen im Vergleich zum MFR 2014-2020 (EU-27 plus EEF) für Programme in den Rubriken Binnenmarkt, Innovation und Digitales (+ 43 % auf 166,3 Mrd. EUR und 14,7 % des Gesamthaushalts, von denen 13,1 Mrd. EUR für das Programm InvestEU vorgesehen sind), Migration und Grenzmanagement (+ 210 % auf 30,8 Mrd. EUR und 2,72 % des Gesamthaushalts) sowie Nachbarschaft und die Welt (+ 14 % 108,9 Mrd. EUR und 9,6 % des Gesamthaushalts). Andererseits soll es beträchtliche reale Kürzungen bei den Rubriken Zusammenhalt und Werte (– 12 % auf 242,2 Mrd. EUR für den Politik-Cluster Regionale Entwicklung und Kohäsion und – 10 % auf 330,6 Mrd. EUR für Kohäsionspolitik) sowie Natürliche Ressourcen und Umwelt (– 16 % auf 336,6 Mrd. EUR und 29,7 % des Gesamthaushalts) geben. Am stärksten betroffen sind die Kohäsionspolitik (– 10 %) und die GAP (– 15 %).

2.4.

Auf der Einnahmenseite enthält das Paket Vorschläge für zusätzliche Möglichkeiten, die für das Eigenmittelsystem der Union in Erwägung gezogen werden sollen, während im Vorschlag für einen Beschluss des Rates empfohlen wird, dass die Obergrenze für den jährlichen Abrufsatz bei den Eigenmitteln für Zahlungen auf 1,29 % des BNE und für Verpflichtungen auf 1,35 % des BNE angehoben wird, um dem höheren Finanzierungsbedarf durch die Integration des Europäischen Entwicklungsfonds und der Finanzierung neuer Prioritäten nachzukommen. Gleichzeitig soll eine ausreichende Sicherheitsmarge für die Erfüllung finanzieller Verpflichtungen eingeplant werden.

2.5.

Neben der vorgeschlagenen Anhebung spricht sich die Kommission für Änderungen der Struktur der EU-Finanzen aus. Der vorgeschlagene Anteil traditioneller Eigenmittel soll leicht von 15,8 % auf 15 % und der Anteil der derzeitigen Beiträge der Mitgliedstaaten von 83 % auf 72 % sinken, was durch eine geplante Reduzierung der vom Bruttonationaleinkommen abhängigen Beiträge von 71 % auf 58 % realisiert werden soll. Eine Reform der Erhebung der auf der Mehrwertsteuer basierenden Eigenmittel soll zu einer Erhöhung ihres Anteils von 11,9 % auf 14 % führen. Es sollen neue Eigenmittel eingeführt werden, einschließlich Beiträgen aus dem Emissionshandelssystem, aus der vorgeschlagenen gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage — sobald diese schrittweise eingeführt werden kann — und nationaler Beiträge für nicht wiederverwertete Verpackungsabfälle aus Kunststoff. Diese neuen Mittel könnten sich auf 12 % des Gesamthaushalts der EU belaufen.

2.6.

Die Europäische Kommission schlägt vor, dass Mitgliedstaaten bestimmte makroökonomische Bedingungen erfüllen, Strukturreformen durchführen und die Anforderungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts einhalten müssen, um Mittel aus der Kohäsionspolitik zu erhalten. Um Beihilfen aus der neuen Investitionsstabilisierungsfunktion erhalten zu können, müssen die genannten Forderungen in den vorausgehenden Jahren erfüllt worden sein. Darüber hinaus schlägt die Kommission vor, dass der prozentuale Anteil der Kofinanzierung von Projekten durch die Mitgliedstaaten erhöht wird, um die angestrebten erheblichen Kürzungen der Mittel für die Kohäsionspolitik und die GAP abzumildern.

2.7.

Mit dem Vorschlag für eine Verordnung zum Schutz des Haushaltsplans im Fall von weitreichenden Mängeln der Rechtsstaatlichkeit ist beabsichtigt, Maßnahmen in Mitgliedstaaten zu ahnden, die sich auf die Grundsätze der guten Haushaltsführung oder den Schutz der finanziellen Interessen der Union auswirken oder auszuwirken drohen, insbesondere wenn es um Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz geht. Im Rahmen von Sanktionen könnten Zahlungen und finanzielle Verpflichtungen der EU für den betroffenen Mitgliedstaat gekürzt oder ausgesetzt werden. Die Sanktionen werden auf Vorschlag der Kommission beschlossen, der Rat kann sie mit qualifizierter Mehrheit ablehnen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

Politischer Kontext und allgemeine Ziele

3.1.

Angesichts der internen wie externen Herausforderungen und Risiken, die sich der EU im nächsten Jahrzehnt stellen, braucht die EU eine klare politische Strategie und einen soliden Haushalt. In Einklang mit seiner früheren Stellungnahme zum Reflexionspapier über die Zukunft der Finanzen der EU (8) und der einschlägigen Entschließung des EP (9) schlägt der EWSA daher vor, dass die Verpflichtungen für 2021-2027 eine Höhe von 1,3 % des BNE erreichen.

3.1.1.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise und der Umgang damit vonseiten politischer Entscheidungsträger in Europa haben in zahlreichen europäischen Staaten Spuren hinterlassen. Diese zeigen sich in einem Rückgang der Wettbewerbsfähigkeit, wirtschaftlicher Abschwächung, Armut, Ungleichheit, einem Bruch des sozialen Zusammenhalts und auch in Divergenzen zwischen den Ländern.

3.1.2.

Durch das Misstrauen der Bürger gegenüber den demokratischen Institutionen der Staaten und Europas werden politische Bewegungen gestärkt, die demokratische Werte und Grundsätze sowie die EU selbst infrage stellen. Einige dieser politischen Bewegungen sind jetzt in bestimmten EU-Mitgliedstaaten an der Regierung beteiligt (oder werden es wahrscheinlich in naher Zukunft sein) bzw. haben den Ausgang des Brexit-Referendums herbeigeführt.

3.1.3.

In der Nachbarschaft der Europäischen Union gibt es schwerwiegende Probleme wie die zunehmende Ausbreitung demokratiefeindlicher und/oder autoritärer Regierungen, den Krieg in Syrien mit seinen regionalen und weltweiten Folgen, die große politische Instabilität und die bewaffneten Konflikte im Nahen Osten, in Nordafrika und in der Sahelzone sowie den demografischen Druck in Afrika und die daraus folgenden Migrationsbewegungen in Richtung Europa.

3.1.4.

Eine Folge dieser Faktoren sind die Ströme von Flüchtlingen und Migranten, die über das Mittelmeer nach Europa kommen. Es muss unbedingt eine gemeinsame Asylpolitik auf der Grundlage der Einhaltung des Völkerrechts und der Solidarität mit den Flüchtlingen und zwischen den Mitgliedstaaten beschlossen werden. Auch eine EU-Migrationspolitik muss dringend festgelegt werden. Diesen Fragen und der Stärkung der Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere mit den afrikanischen Ländern, muss im MFR 2021-2027 besonderes Augenmerk geschenkt werden. Dem trägt der Vorschlag der Kommission weitgehend Rechnung, wobei allerdings der Schwerpunkt auf Sicherheitsaspekten liegt.

3.1.5.

Die Beschlüsse und die einseitige Aufkündigung sehr wichtiger internationaler Übereinkommen durch die gegenwärtige US-Regierung tragen zur globalen geopolitischen Instabilität bei und kollidieren mit der EU-Politik in zahlreichen Bereichen, u. a. mit der Handelspolitik, der Umweltpolitik und dem Klimaschutz, der Nachbarschaftspolitik, der Förderung des Friedens und dem Kernwaffenverbot, dem Multilateralismus in den Außenbeziehungen und der Unterstützung des Systems der Vereinten Nationen.

3.1.6.

Europa muss diesen Risiken begegnen, indem es seine Fähigkeiten optimal einsetzt und sein Potenzial weiterentwickelt, z. B. auf Feldern wie Forschung, Innovation und technische Entwicklung, Fähigkeiten und Fertigkeiten seiner Menschen, Wettbewerbsfähigkeit seiner Unternehmen und Wirtschaft sowie seiner Exportfähigkeit. Außerdem sollte Europa innerhalb der EU und gegenüber der Welt seine demokratischen Werte und die uneingeschränkte Achtung des Rechtsstaatsprinzips, die Werte also, die gerechte, gleiche und solidarische Gesellschaften kennzeichnen, sowie die Verteidigung von Frieden und Multilateralismus in internationalen Beziehungen deutlich hervorheben und konkretisieren. Auch dafür ist ein solider EU-Haushalt erforderlich.

3.1.7.

Die Kommission und das Parlament haben Vorschläge für eine Reform der EU und der WWU vorgelegt, die in größerem oder geringerem Maße eine stärkere Integration fördern. Der Ausgang dieses Prozesses ist ungewiss. Der Binnenmarkt ist nach wie vor nicht vollendet, und da gleichzeitig die Innovationen nachlassen und ein Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage besteht, ist die Wettbewerbsfähigkeit Europas gefährdet. Der Europäische Rat hat in Göteborg eine Erklärung zur europäischen Säule sozialer Rechte angenommen. Damit alle diese Ziele erreicht werden können, sind erhebliche finanzielle Verpflichtungen vonseiten der EU und ihrer Mitgliedstaaten sowie ein politisches Engagement im Hinblick auf einen wirksamen und effizienten Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel erforderlich. Der Erfolg hängt davon ab, dass sich die Sozialpartner und die organisierte Zivilgesellschaft aktiv am Beschlussfassungsprozess beteiligen.

3.1.8.

Das Hauptrisiko für die Zukunft der europäischen Wirtschaft besteht in einem Investitionsdefizit und im Rückstand zur Weltspitze in Sachen Innovationen und deren Markteinführungen. Bezogen auf das BIP hat die Investitionsquote noch lange nicht das Vorkrisenniveau erreicht.

3.1.9.

Bei der Umsetzung eines europäischen Modells der nachhaltigen Entwicklung sollte folgenden Zielen besonderes Augenmerk gewidmet werden: Förderung von Investitionen zur Schaffung nachhaltiger und hochwertiger Arbeitsplätze, Erhöhung der Produktivität und Modernisierung von Wirtschaft und Unternehmen, Ankurbelung von Industrie und Innovationen, Förderung der Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten; ökologischer und digitaler Wandel; Entwicklung der sozialen Säule, Stärkung des sozialen Zusammenhalts und Bekämpfung der Armut; Erreichen der Ziele und Verpflichtungen gemäß dem Übereinkommen von Paris und der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Zu diesem Zweck wird für den Zeitraum von 2021 bis 2027 ein solider Haushalt mit maßgeschneiderten Programmen benötigt, die einen optimalen Beitrag zum europäischen Mehrwert leisten.

3.1.10.

Unter Berücksichtigung dieser und anderer Aspekte ist der EWSA der Auffassung, dass die EU einen ambitionierten Haushalt benötigt, der als politisches Instrument dient, mit dem sich eine klare Strategie für die Stärkung der Union entwickeln lässt, einer Union, die besser integriert und demokratischer ist, die Sozialpartner und zivilgesellschaftlichen Organisationen sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU stärker unterstützt, Unternehmen bei der Bewältigung ihrer ökologischen und digitalen Herausforderungen besser hilft, eine stärkere soziale Dimension hat und den ländlichen Raum stärker fördert. Nur auf diese Weise kann es der EU gelingen, die Zentrifugalkräfte im Innern einzudämmen und zu beherrschen und die externen geopolitischen Risiken zu bewältigen.

Die Ausgabenseite des neuen MFR

3.2.

Der Kommissionsvorschlag scheint jedoch zu stark auf eine Beibehaltung des Status quo ausgerichtet zu sein. Die vorgesehenen Mittel entsprechen nicht dem Umfang und der Qualität der neuen Herausforderungen für die EU und den ehrgeizigen Zielen der Union.

3.3.

Nach Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) muss die EU ein nachhaltiges und umweltgerechtes Wachstum fördern. Dem dringenden Problem des Klimawandels wird jetzt oberste Priorität eingeräumt, auch seitens des EWSA, wobei es sich um einen globalen Handlungsrahmen für Maßnahmen nicht nur der Behörden, sondern auch der Wirtschaftsakteure, Arbeitnehmer und Bürger handelt. Folglich muss ein umfassender wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und ökologischer Wandel eingeleitet und vor allem finanziert werden (10).

3.4.

Der EWSA begrüßt die Änderungen an der Gliederung des Haushalts mit der Neuausrichtung der Rubriken und der Konsolidierung von Programmen sowie auch die verbesserten flexiblen Mechanismen, die einen agileren und gleichzeitig unverändert stabilen MFR ermöglichen werden.

3.5.

Der EWSA kann zwar die Gründe des Kommissionsvorschlags nachvollziehen, ist aber nicht damit einverstanden, dass im Vorschlag für den MFR 2021-2027 im Vergleich zum aktuellen Haushalt die Mittel für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) um 12 % und für den Kohäsionsfonds um 46 % (zu konstanten Preisen) gekürzt werden.

3.5.1.

Die Krise hat nachweislich dazu geführt, dass die Unterschiede beim Pro-Kopf-Einkommen wieder zugenommen haben, insbesondere zwischen dem Norden und dem Süden (11). Während der Anteil der Bevölkerung der EU-27, der in „weniger entwickelten Regionen“ lebt (mit einem BIP pro Kopf von unter 75 % des EU-Durchschnitts), seit 2010 abgenommen hat, ist der Anteil in „Übergangsregionen“ (mit einem BIP pro Kopf zwischen 75 % und 90 % des EU-Durchschnitts) gestiegen. Dies liegt allerdings auch daran, dass der Anteil der Bevölkerung der EU-27, der in „entwickelten Regionen“ lebt, durch die Auswirkungen der Krise zurückgegangen ist (12). Es hat also eine Angleichung stattgefunden, die jedoch nur zum Teil auf eine Aufwärtskonvergenz bei den Einkommen zurückzuführen ist. Es sind weitere Investitionen in Gesundheit, Bildung und soziale Inklusion erforderlich, insbesondere auf lokaler und regionaler Ebene, was durch die Anwendung der „goldenen Regel“ realisiert werden sollte, wie der Ausschuss in mehreren seiner Stellungnahmen jüngeren Datums empfiehlt: Ausgaben für Investitionen, insbesondere solche, die ein langfristig nachhaltiges Wachstum stützen, sollten bei der Berechnung in Bezug auf die Einhaltung der Defizitziele des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht mitberücksichtigt werden, denn so wäre die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen immer noch gesichert.

3.5.2.

In diesem Zusammenhang weist der EWSA darauf hin, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen von Region zu Region erheblich unterscheiden und dass diese regionalen Unterschiede in den letzten Jahren z. T. noch größer geworden sind, selbst in relativ reichen Ländern. Diesem Umstand sollte in der Kohäsionspolitik Rechnung getragen werden, indem zusätzlich zum relativen Pro-Kopf-BIP neue alternative Sozialindikatoren eingeführt werden, z. B. Beschäftigung und Erwerbsquoten nach Zielgruppen sowie Messgrößen für Armut und soziale Inklusion.

3.6.

Der EWSA stimmt den vorgeschlagenen realen Kürzungen bei den Verpflichtungen für den Europäischen Sozialfonds Plus (– 6 % real für den Zeitraum 2021-2027 gegenüber 2014-2020) nicht zu. Die reale Kürzung wird umfangreicher sein, da die Jugendgarantie im ESF+ enthalten sein wird. Dieser Fonds sollte in Bezug auf das Niveau von 2020 zumindest real konstant bleiben, da er ein wichtiges Finanzinstrument ist, mit dem die EU die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte unterstützen kann. Diese Säule ist von entscheidender Bedeutung, um die soziale Dimension der EU zu stärken und bei den sozialen Standards eine Aufwärtskonvergenz zu fördern. Die nationalen Mindest-Kofinanzierungssätze sollten nicht angehoben werden, da einige Mitgliedstaaten andernfalls von Investitionen in bestimmten Regionen abgehalten würden und damit Chancen des europäischen Mehrwerts vertan würden. Mit der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte könnte auch die Widerstandsfähigkeit der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets und somit die Funktionstüchtigkeit der WWU gefördert werden. Ein unverzichtbares Instrument für diesen Zweck sind gemeinsame Maßnahmen der Sozialpartner auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene. Daher bedauert der EWSA, dass diese Maßnahmen, anders als im derzeitigen Programmplanungszeitraum, in dem Entwurf einer Verordnung nicht ausdrücklich erwähnt werden, und ersucht die Kommission, diese Bestimmung wieder aufzunehmen.

3.7.

Der ESWA vertritt die Auffassung, dass die Kohäsionspolitik (die Summe aus EFRE, Kohäsionsfonds und ESF) im MFR 2021-2027 mindestens mit denselben Mitteln (zu konstanten Preisen) wie im aktuellen Finanzrahmen ausgestattet werden sollte.

3.8.

Der EWSA ist in Übereinstimmung mit seiner Stellungnahme zum Thema „Ernährung und Landwirtschaft der Zukunft“ (13) der Ansicht, dass eine neue Reform der GAP notwendig ist, um sie unter Beibehaltung ihrer beiden Säulen neu auszurichten und Direktbeihilfen in viel größerem Maß an die Landwirte, an kleine und mittlere Unternehmen sowie an Familienbetriebe zu leiten. Die Mittel für die ländliche Entwicklung sollten dafür eingesetzt werden, ein nachhaltiges Modell zu fördern, bei dem die Verpflichtungen des Übereinkommens von Paris und die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen berücksichtigt werden. Die Finanzierung der sozialen Infrastruktur auf dem Land durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums hat sich als sehr wichtiger Bestandteil der aktiven Strategie der EU gegen die Entvölkerung des ländlichen Raums erwiesen und den Bewohnern von ländlichen Gebieten, Landwirten sowie Kleinunternehmen und Gemeinden genützt. Durch die erheblichen, von der Kommission vorgeschlagenen Kürzungen bei der GAP (– 15 %) wird es schwierig, die in der Mitteilung der Kommission zur Ernährung und Landwirtschaft der Zukunft formulierten Ziele weiter zu verfolgen bzw. zu erreichen.

3.9.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, innerhalb des EU-Haushalts einen Stabilisierungsmechanismus für das Euro-Währungsgebiet zu schaffen. Durch diesen Mechanismus sollen die Investitionsausgaben in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets im Fall länderspezifischer Schocks, durch die ihre öffentlichen Haushalte unter Druck geraten, geschützt werden. Diese Reform ist notwendig, um die WWU widerstandsfähiger zu machen und zu vermeiden, dass unter den Mitgliedstaaten eine Dynamik der Auseinanderentwicklung einsetzt.

3.9.1.

Der Ausschuss ist allerdings ebenfalls der Ansicht, dass der Mechanismus in der vorgeschlagenen Form im Fall einer Krise keine ausreichende Stabilisierung gewährleisten kann. Damit würden nur begrenzte Back-to-Back-Darlehen an die betroffenen Mitgliedstaaten ermöglicht. Der Betrag von 30 Mrd. EUR reicht nicht aus, um gleichzeitig Darlehen an mehrere Länder zu vergeben (14). Ebenso würden Zuschüsse zu Zinszahlungen bis zu einem Betrag von 600 Mio. EUR für diese niedrigen Darlehen nur für eine geringfügige Erleichterung der Mitgliedstaaten und damit unzureichende Stabilisierung des Euro-Währungsgebiets sorgen. Eine größere Marge im Rahmen der Zahlungsverpflichtungen, die eine höhere Deckelung der Beiträge erfordert, wäre ein erster Schritt in Richtung stärkere Stabilisierung.

3.9.2.

Der EWSA ist darüber besorgt, dass die Vorschläge der Kommission zum nächsten MFR keine Bestimmungen zur Reform der WWU sowie zu ihrer Steuerung und der sich daraus ergebenden Auswirkungen auf den Haushalt enthalten, insbesondere im Hinblick auf die Einrichtung des Europäischen Währungsfonds oder auf Leistungen wie eine Arbeitslosenversicherung, die die Bürger in Krisenzeiten ergänzend zu den staatlichen Leistungen beziehen könnten.

3.10.

Der Fonds „InvestEU“ basiert auf dem früheren Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI), die jährlichen Beiträge und die Schätzungen seiner Auswirkungen auf die Gesamtinvestitionen sind dieselben. Die vier Investitionsschwerpunkte dieses Fonds (nachhaltige Infrastruktur; Forschung, Innovation und Digitalisierung; kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sowie soziale Investitionen und Kompetenzen) zeigen alle in die richtige Richtung. Der EWSA begrüßt insbesondere den vierten Schwerpunkt, da damit die Finanzierung von Projekten in wichtigen Bereichen wie Kompetenzen, allgemeinen und beruflichen Bildung, sozialer Wohnungsbau, soziale Innovation, Integration von Migranten, Flüchtlingen und schutzbedürftigen Personen erleichtert wird. Die Garantieverpflichtung für Kredite der EIB und möglicherweise auch anderer öffentlicher Finanzinstitute ist zu begrüßen, versetzt jedoch die EIB lediglich in die Lage, ihren früheren Kreditumfang beizubehalten, wobei einige Mitgliedstaaten mit relativ geringem Pro-Kopf-Einkommen u. U. immer noch nicht davon profitieren würden. Es sind größere Anstrengungen erforderlich, um die Investitionslücke der EU zu schließen.

3.11.

Das Hauptziel der Kohäsionspolitik besteht darin, zwischen den Mitgliedstaaten eine wirtschaftliche und soziale Aufwärtskonvergenz zu fördern. Starre Auflagen könnten den Zugang zu Mitteln der Kohäsionspolitik gerade für die Mitgliedstaaten und Regionen erschweren, die sie am meisten benötigen, also diejenigen mit dem geringsten Einkommen oder hoher Verschuldung. Die Bemerkungen des EWSA in seiner Stellungnahme zum MFF 2014-2020 (15) sind nach wie vor stichhaltig: „Der EWSA lehnt es jedoch ab, die Auszahlung von Kohäsionsfondsmitteln an die Einhaltung makroökonomischer Bedingungen zu knüpfen […]“. Der EWSA befürwortet eine Umsetzung der Kohäsionspolitik nach den Leitlinien des Europäischen Semesters, mit einer stärkeren Teilnahme der Sozialpartner und zivilgesellschaftlicher Organisationen sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene.

3.12.

Durch die strikte Anwendung der Kofinanzierungsanforderungen des EFRE, des Kohäsionsfonds und des ESF wurde in der Hochphase der Austeritätspolitik verhindert, dass einige der bedürftigsten Staaten Mittel daraus in Anspruch nehmen konnten, was zum Auseinanderdriften beitrug. Auch heute noch wird dadurch in einigen Ländern der Zugang zu diesen Fonds eingeschränkt, und künftig könnte das noch stärker der Fall sein, wenn im MFR für den Zeitraum nach 2020 der Kofinanzierungsanteil der Mitgliedstaaten erhöht wird. Der EWSA fordert mehr Flexibilität bei den Kriterien für die Kofinanzierung, sodass die wirtschaftliche und finanzielle Situation der einzelnen Mitgliedstaaten berücksichtigt werden kann, und dringt auch auf die Berücksichtigung dessen, was weiter oben in diesem Abschnitt über Investitionsausgaben in Relation zu den Zielen des Stabilitäts- und Wachstumspakts ausgeführt wurde.

3.13.

Angesichts der Erfahrungen mit einigen in der Hochphase der Austeritätspolitik auferlegten oder geförderten Strukturreformen scheint Skepsis angebracht, wenn der Zugang zu Mitteln der Kohäsionspolitik ganz allgemein von der Umsetzung der erwähnten Reformen abhängig gemacht wird. Der EWSA ist nicht gegen Reformen, hält es jedoch für äußerst wichtig, ihre Art genau zu bestimmen. In mehreren Stellungnahmen, zuletzt zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets 2018 (16), verteidigt der EWSA Strukturreformen, mit denen die Steigerung der Produktivität, die Sicherheit von Arbeitsplätzen und der Sozialschutz verbessert und gleichzeitig Investitionen gefördert und die auf der Autonomie der Sozialpartner beruhenden Tarifverhandlungen sowie der soziale Dialog gestärkt werden.

3.14.

Der Ausschuss begrüßt die Vorschläge für eine umfangreiche Ausdehnung von Programmen für Forschung und Innovationen sowie die Entwicklung der digitalen Wirtschaft und Gesellschaft, da sie die Grundlage für nachhaltige Steigerungen der Produktivität, Löhne und Lebensstandards bilden können. Eine wohldurchdachte Strategie für die Verbindung von Innovationen mit der europäischen Industriepolitik wäre wichtig. Davon würden alle Mitgliedstaaten profitieren, insbesondere diejenigen mit einem geringeren Entwicklungsstand. Die Teilnahme der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft ist für die Gestaltung und Anwendung einer effizienten Industriepolitik, die eng mit dem Innovationssystem verknüpft ist, von zentraler Bedeutung. Ferner ist es aufgrund der aktuellen Gegebenheiten erforderlich, dass ein Schwerpunkt auf die Forschung in den Gebieten Gesellschaft, Demokratie, Kultur und sozialer Wandel gelegt wird.

3.15.

Außerdem ist die Aufstockung der Finanzausstattung von Erasmus+ um 92 % (auf 26,368 Mrd. EUR für den Zeitraum 2021-2027) hervorzuheben, einem der Programme, die am meisten zu einer europäischen Identität beigetragen haben.

3.16.

Der EWSA begrüßt die Anhebung der Mittel für die internationale Zusammenarbeit und die humanitäre Hilfe. Er ist jedoch besorgt über die Neuausrichtung des auswärtigen Handelns auf Fragen der Sicherheit und der Migration — weg von einem längerfristigen Ansatz und einer bedarfsorientierten Festlegung von Prioritäten von unten nach oben, die vom jeweiligen Land selbst verantwortet werden. Dabei besteht die Gefahr, dass die am stärksten betroffenen Regionen ausgeschlossen werden. Der EWSA fordert die Zusage, dass die Bemühungen von Partnerländern bei der Umsetzung eigener Pläne zur Erfüllung der Nachhaltigkeitsziele unterstützt werden.

Finanzierung und Eigenmittel im neuen MFR

3.17.

Mit dem neuen MFR schlägt die Kommission einige Änderungen bei der Finanzierung des EU-Haushalts vor. Diese nehmen sich jedoch gegenüber den Vorschlägen der Hochrangigen Gruppe „Eigenmittel“ und des Europäischen Parlaments sowie im Vergleich zum Finanzierungsbedarf für die notwendigen Ausgaben bescheiden aus. In dem neuen Vorschlag ist ein schrittweiser Übergang vorgesehen: Die Abhängigkeit der Union von den Beiträgen der Mitgliedstaaten wird sehr behutsam und schrittweise von einer finanziellen Selbstständigkeit abgelöst. Zu diesem Zweck wird eine geringe Anzahl an neuen Einnahmequellen vorgeschlagen.

3.18.

Angesichts der Tatsache, dass entschlossene Anstrengungen mit einer stringenten Agenda erforderlich sind, fällt der MFR-Vorschlag bescheiden und wenig ambitioniert aus. Ausgehend von den Vorschlägen der Hochrangigen Gruppe „Eigenmittel“ und des Europäischen Parlaments sollte ein breites Spektrum von zusätzlichen Eigenmittelquellen erschlossen werden, das im kommenden MFR-Zeitraum zu einer deutlichen Verlagerung hin zu einer Finanzierung durch Eigenmittel führt.

3.19.

Der EWSA bekräftigt die Standpunkte aus seiner Stellungnahme zum „Reflexionspapier über die Zukunft der EU-Finanzen“ (17), in der er der Bewertung im Bericht „Künftige Finanzierung der EU“ (18) der Hochrangigen Gruppe „Eigenmittel“ unter Vorsitz von Mario Monti zustimmte. Es ist besonders wichtig, dass die neuen Einnahmen im MFR für die Zeit nach 2020 vorwiegend aus unabhängigen, transparenten und gerechten Eigenmitteln bestehen. Diese würden direkt dem EU-Haushalt ohne den Umweg über die Mitgliedstaaten zufließen, ohne indes die Gesamtsteuerlast zu erhöhen und die am stärksten benachteiligten Bürger und die KMU mehr zu belasten als derzeit.

3.20.

Wie in seiner Stellungnahme zum „Reflexionspapier über die Zukunft der EU-Finanzen“ ausgeführt, hätten einige der in dem Bericht der HLGOR vorgeschlagenen neuen Einnahmequellen einen europäischen Mehrwert auf der Einnahmeseite, da sie auf der am besten geeigneten Ebene erhoben würden, um sowohl grenzübergreifende Steuerbemessungsgrundlagen abzufangen, als auch um globale Umweltauswirkungen zu bekämpfen: Körperschaftsteuer (GKKB) (19), insbesondere Besteuerung multinationaler Konzerne, sowie Steuern auf Finanztransaktionen, Brennstoffe und Kohlendioxidemissionen.

3.21.

Wie die Hochrangige Gruppe „Eigenmittel“ erklärt hat, haben auf der Körperschaftsteuer basierende Eigenmittel „den Vorteil, dass sie das Funktionieren des Binnenmarkts verbessern“. Gleichzeitig vereinfacht und harmonisiert die gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage EU-weit die Vorschriften und begrenzt die Möglichkeiten für einen schädlichen Steuerwettbewerb.

3.22.

Eine Steuer auf digitale Dienstleistungen würde bei richtiger Gestaltung ebenfalls den europäischen Mehrwert zum Ausdruck bringen, denn der Ort, an dem die Steuer abgeführt wird, kann weit von dem Ort der Leistungserbringung entfernt sein; es wäre jedoch eine Übergangslösung.

3.23.

Der Ausschuss weist die Organe der EU darauf hin, dass es ein komplexes Unterfangen ist, all diese Eigenmittel im Zeitraum 2021-2027 parat zu haben.

3.24.

Beiträge, die an bessere Umweltstandards und die Bekämpfung des Klimawandels geknüpft sind, versprechen ebenfalls einen europäischen Mehrwert und sind mit den strategischen Zielen der EU im Hinblick auf ein Modell für nachhaltige Entwicklung eng verknüpft. Ferner kann nur durch gemeinsame Steuern auf Energie und Umweltschäden für einen fairen Wettbewerb im Binnenmarkt gesorgt werden. In diesem Zusammenhang schlägt die Kommission Beiträge vor, die an nicht wiederverwertete Kunststoffabfälle und das Emissionshandelssystem (EU-EHS) geknüpft sind. Als Einnahmequellen kommen auch Gebühren für andere Arten von Umweltverschmutzung infrage, durch die in mehr als einem Mitgliedstaat Kosten verursacht werden. Beispiele dafür sind Steuern auf Kraftstoffe und Flugtickets, wie vom Europäischen Parlament und der Hochrangigen Gruppe „Eigenmittel“ vorgeschlagen, sowie die Einführung einer CO2-Steuer. Das Verfahren für den Beschluss und die Umsetzung solcher neuen Einnahmequellen, die alle mit der allgemeinen politischen Strategie der EU in Einklang stehen, sollte schnell auf den Weg gebracht werden.

3.25.

Die Kommission schlägt außerdem eine Vereinfachung der derzeitigen auf der Mehrwertsteuer basierenden Eigenmittel vor, die aufgrund der unterschiedlichen Mehrwertsteuersätze der Mitgliedstaaten kompliziert sind. Die Vereinfachung durch einen einheitlichen Steuersatz in allen Mitgliedstaaten wäre begrüßenswert. Der aktuelle Vorschlag führt zu einer geringen Einnahmensteigerung. Der Mehrwertsteuerbeitrag ähnelt jedoch im Wesentlichen dem an das BNE geknüpften Beitrag, denn er ergibt sich aus der allgemeinen wirtschaftlichen Tätigkeit in einem Mitgliedstaat und nicht aus den spezifischen Zielen der EU-Politik.

3.26.

Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU bietet die Möglichkeit, das Rabattsystem allmählich (und schließlich gänzlich) abzuschaffen. Dieses wurde ausgeweitet, um die Zahlungen des Vereinigten Königreichs und einiger anderer Mitgliedstaaten zu verringern. Dies ist ebenso zu begrüßen wie die Tatsache, dass dem EU-Haushalt in Übereinstimmung mit den gesunkenen Kosten für die Zollerhebung in den Mitgliedstaaten wieder 90 % aus den Zolleinnahmen zugutekommen. Eine weitere kleine Zusatzeinnahme könnten die Überschüsse der EZB („Seigniorage“) sein. Insgesamt sind diese neuen Arten von Eigenmitteln jedoch zu gering und zu ungewiss, um die Hoffnung zu rechtfertigen, dass sie eine wesentliche Reduzierung der mit dem BNE verbundenen Beiträge erlauben werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, die Vergabe von EU-Mitteln an die Mitgliedstaaten an die Achtung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit, eines der Grundpfeiler der in Artikel 2 des Vertrags festgeschriebenen Werte der Union, zu knüpfen, wobei dies allerdings nicht auf Kosten der Bürger und einzelner Unternehmen gehen darf, die derzeit Empfänger von EU-Mitteln sind. Angesichts dessen, dass der Haushalt das Hauptinstrument für die Umsetzung aller politischen Strategien der Union ist, vertritt der Ausschuss die Auffassung, dass diese Konditionalität auch auf andere, in den EU-Verträgen verankerte Grundsätze ausgedehnt werden könnte, die mit der Rechtsstaatlichkeit zusammenhängen, und ersucht die Kommission und das Europäische Parlament, diese Möglichkeit zu prüfen.

4.2.

Ausgabenprogramme sollten zum gegenseitigen Nutzen von politischen Strategien und Geldmitteln auf möglichst flexible Weise miteinander verbunden werden. Zum Beispiel: GAP und Horizont für die technologische Modernisierung der Landwirtschaft in vitalen ländlichen Räumen und für nachhaltige Landwirtschaft; Forschung, Entwicklung und Innovation (FEI), Universitäten, Erasmus+ und andere Programme für junge Menschen; Investitions- und Kohäsionspolitik; der Europäische Sozialfonds und ein neues Entwicklungsprogramm für die europäische Säule sozialer Rechte, das der EWSA in dieser Stellungnahme vorschlägt, um die Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern usw. Der EWSA bedauert daher den Vorschlag der Regelung, n+3 in n+2 (20) abzuändern, und ersucht die Kommission, dies noch einmal zu überdenken.

4.3.

Aufgrund der aktuellen Bewertungen der Umsetzung der Investitionsoffensive für Europa (Juncker-Plan) ist zu bezweifeln, dass die Investitionen dadurch tatsächlich auf das anfangs prognostizierte Niveau ansteigen, ganz zu schweigen von dem Niveau, das erforderlich ist, um den Rückgang der Investitionen gegenüber dem Zeitraum vor 2008 auszugleichen. Mehreren der Mitgliedstaaten mit dem geringsten Einkommen kommt dieses Investitionsprogramm noch nicht in ausreichendem Maße zugute. Es müssen geeignete Vorkehrungen getroffen werden, um diesen Trend zu korrigieren, durch den das Auseinanderdriften der Mitgliedstaaten noch verstärkt wird. Die Möglichkeit, Finanzmittel aus verschiedenen Fonds (z. B. Kohäsionsfonds und InvestEU) miteinander zu kombinieren, sollte gefördert werden.

4.4.

Die Stärkung des sozialen Zusammenhalts und die Wiederherstellung des Vertrauens der europäischen Bürger gehen Hand in Hand. Die Entwicklung der europäischen Säule sozialer Rechte könnte zu beiden Zwecken einen maßgeblichen Beitrag leisten, u. a. durch Unterstützung und Beratung der Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Reformen zur Schaffung nachhaltiger Beschäftigung in Form hochwertiger Arbeitsplätze mit hoher Wertschöpfung. Der EWSA schlägt vor, ein spezielles Programm zur Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte innerhalb des MFR 2021-2027 einzurichten, das sich auf die Zusagen der Mitgliedstaaten stützt, die die Erklärung von Göteborg entwickelt haben. Der Europäische Sozialfonds+ würde zur Finanzierung der Säule beitragen, ausgehend von einem System von Indikatoren (u. a. Arbeitslosen- und Erwerbsquoten, Schulbesuch und Schulversagen, Pro-Kopf-BIP, Indikatoren für Armut und soziale Inklusion, sowohl allgemeinere, z. B. regionale Indikatoren als auch spezifische Indikatoren für bestimmte benachteiligte Bevölkerungsgruppen).

4.5.

Dem Europäischen Semester sollte bei der Umsetzung des EU-Haushalts eine entscheidende Rolle zukommen, damit die Flexibilität des neuen MFR in größtmöglichem Maß genutzt werden kann — z. B. um eine starke Verbindung zwischen der Kohäsionspolitik und anderen Politikbereichen, wie Innovation, Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen, herzustellen. Zu diesem Zweck müssen die Mechanismen für die Teilnahme der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft am Europäischen Semester angemessen umgesetzt werden, damit sie wissen, wie ihre nationalen Sphären mit der europäischen verbunden werden können. Wenn die Kommission und der Rat die Umsetzung des Europäischen Semesters unterstützen, würden sie unmittelbar an nationalen politischen Angelegenheiten beteiligt. Es muss dafür Sorge getragen werden, dass weder soziale Rechte noch die Rechte von Arbeitnehmern oder von Verbrauchern durch Maßnahmen, die durch EU-Mittel gefördert werden, eingeschränkt werden.

4.6.

Die EU-Institutionen und die Regierungen der Mitgliedstaaten müssen sich in Zusammenarbeit mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen vorrangig darum bemühen, dass der MFR nach 2020 über mehr Mittel verfügt und dass seine Prioritäten wie in dieser Stellungnahme vorgeschlagen neu gewichtet werden. Der EWSA fordert die Organe der EU und die nationalen Regierungen dringend auf, ihre Anstrengungen zu intensivieren, damit der Finanzrahmen wie geplant noch vor den nächsten Europawahlen angenommen werden kann.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. März 2018 zu dem nächsten MFR: Vorbereitung des Standpunkts des Parlaments zum MFR nach 2020 (2017/2052(INI)), Mitberichterstatter: Jan Olbrycht, Isabelle Thomas, Ziffer 14.

(2)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 131.

(3)  ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 1.

(4)  Europäische Investitionsbank.

(5)  COM(2018) 321 final.

(6)  COM(2018) 322 final/2, COM(2018) 326 final, COM(2018) 327 final, COM(2018) 328 final.

(7)  COM(2018) 325 final.

(8)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 131.

(9)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. März 2018 zu dem nächsten MFR: Vorbereitung des Standpunkts des Parlaments zum MFR nach 2020 (2017/2052(INI)), Mitberichterstatter: Jan Olbrycht, Isabelle Thomas, Ziffer 14.

(10)  Siehe u. a. die EWSA-Stellungnahmen NAT/735 „Europäischer Finanz-Klima-Pakt“, Berichterstatter: Rudy de Leeuw, und ECO/456 „Aktionsplan für nachhaltige Finanzierung“, Berichterstatter: Carlos Trias Pinto. Noch nicht veröffentlicht.

(11)  ETUI/ETUC (2018), Benchmarking Working Europe, Brussels: ETUI (Vergleich der Arbeitswelt in Europa).

(12)  Darvas, Z. und Moes, N. (2018), How large is the proposed decline in EU agricultural and cohesion spending? (Wie hoch sind die vorgeschlagenen Ausgabenkürzungen in der Landwirtschaft und Kohäsion der EU). Bruegel Blogpost, 4. Mai 2018.

(13)  ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 69.

(14)  Siehe Claeys, G. (2018), New EMU stabilisation tool within the MFF will have minimal impact without deeper EU budget reform (Neues WWU-Stabilisierungsinstrument im MFR wird ohne tief greifende Reform des EU-Haushalts wenig Wirkung zeigen), Bruegel Blog, 9. Mai 2018. Dieser Analyse zufolge entsprachen 30 Mrd. EUR etwa einem Drittel des Betrags, der Irland während der Krise geliehen wurde.

(15)  ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 32.

(16)  ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 33.

(17)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 131.

(18)  Die Zukunft der Finanzierung der EU. Schlussbericht und Empfehlungen der Hochrangigen Gruppe „Eigenmittel“, Dezember 2016.

(19)  Diese waren vom EWSA bereits 2011 in seiner Stellungnahme zur „Gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB)“ (ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 63) und 2017 in seiner Stellungnahme zur „Gemeinsamen (konsolidierten) Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage“, (ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 58) begrüßt worden.

(20)  Der Teil eines gebundenen Betrags, der am Ende des zweiten Jahres nach dem Jahr der Mittelbindung nicht verwendet wurde oder für den kein Auszahlungsantrag eingereicht wurde, wird von der Kommission automatisch freigegeben (n+2). Quelle: Europäische Kommission.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/116


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über besondere Bestimmungen für das aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung sowie aus Finanzierungsinstrumenten für das auswärtige Handeln unterstützte Ziel ‚Europäische territoriale Zusammenarbeit‘ (Interreg)“

(COM(2018) 374 final — 2018/0199 (COD))

(2018/C 440/19)

Berichterstatter:

Henri MALOSSE

Befassung

Europäisches Parlament, 11.6.2018

Rat der Europäischen Union, 19.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 178 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

196/2/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die europäische territoriale Zusammenarbeit (ETZ) ist ein einzigartiges Instrument der Kohäsionspolitik und bildet einen der wenigen Rahmen, in denen nationale, regionale und lokale Akteure aus verschiedenen Mitgliedstaaten systematisch zusammenarbeiten, um gemeinsame Maßnahmen durchzuführen und sich über Verfahren und Interventionsstrategien auszutauschen. Hier wird der Kern des europäischen Geistes spürbar. Bei vielen der bisher durchgeführten Projekte wurde ein Mehrwert erzielt, und die Investitionen haben sich wachstumsfördernd ausgewirkt; allerdings haben die Ex-post-Bewertungen auch eine Reihe von Unzulänglichkeiten aufgezeigt. In dem neuen Vorschlag für eine Verordnung müssen diese Unzulänglichkeiten in mehreren Interventionsbereichen berücksichtigt werden:

1.1.1.

Vereinfachung der Verfahren — Der EWSA spricht sich angesichts des Umfangs der Projekte für eine „schockartige“ Vereinfachung aus. Die Zusammenarbeit betrifft vor allem lokale Maßnahmen. Deshalb sind Vereinfachungen bei den Formblättern und bei den Verfahren zur Bewertung der Projekte sowie — als zentrales Element der neuen Programmplanung — die Anwendung von Pauschalverfahren erforderlich.

1.1.2.

Finanzrahmen — Die Kohäsionspolitik ist ein entscheidendes Element für die Umsetzung der Strategie Europa 2021-2027 und sollte technisch und haushaltsmäßig vorrangig unterstützt werden. Der EWSA warnt vor einer geringeren Zuweisung von Haushaltsmitteln, da auf diese Weise die Wirksamkeit, Sichtbarkeit und Bekanntheit dieses Aktionsprogramms erneut in Frage gestellt würden. Daher fordert er das Europäische Parlament auf, eine Erhöhung der für die Kohäsionspolitik zugeteilten Mittel vorzuschlagen, insbesondere zugunsten der europäischen territorialen Zusammenarbeit.

1.1.3.

Zusätzlichkeit — Der EWSA äußert sich besorgt angesichts der neuen Regeln, die dazu führen könnten, dass der maximale EU-Finanzierungsanteil von 85 % auf 70 % gesenkt wird. Er dringt darauf, für Kleinprojekte, besonders schwache Regionen und Maßnahmen der Zivilgesellschaft den Satz von 85 % beizubehalten. Der EWSA unterstützt auch eine verstärkte Einbindung der Privatwirtschaft und eine verstärkte Nutzung des EU-Finanzierungsinstruments InvestEU, um Maßnahmen zur Förderung des produktiven Sektors zu finanzieren.

1.1.4.

Integration der Finanzierungsinstrumente — Der EWSA fordert die Kommission auf, eine wirksame Strategie auszuarbeiten, um die verschiedenen Finanzierungsinstrumente, die im MFR 2021-2027 verfügbar sind, zu koordinieren und zu integrieren. Er ersucht die Kommission, diesbezüglich möglichst bald eine Mitteilung vorzulegen. Die europäische territoriale Zusammenarbeit muss dabei einen bevorzugten Rahmen für diese unerlässliche Koordinierung bilden.

1.1.5.

Für eine echte Partnerschaft mit der Zivilgesellschaft — Die Kommission muss die Einbindung der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft in den Konsultationsprozess sowie in die Durchführung der Maßnahmen verbindlich vorschreiben, da sich gezeigt hat, dass sich bei Projekten die besten Ergebnisse erzielen lassen, wenn die Zivilgesellschaft eingebunden wird. Der EWSA empfiehlt, jede für die Durchführung zuständige Stelle dazu zu verpflichten, einen Partnerschaftsplan zur Einbindung der Zivilgesellschaft — samt einem Warnmechanismus — vorzulegen.

1.1.6.

Fortsetzung und Ausbau der thematischen Konzentration — Dass es eine Entwicklung hin zu einer thematischen Konzentration der Interventions- und Investitionsprioritäten gibt, wird vom EWSA begrüßt, allerdings ist hinsichtlich folgender Aspekte eine weitere Präzisierung erforderlich:

Wie können die Besonderheiten der in Artikel 174 AEUV genannten Gebiete (Inseln, Berggebiete, ländliche Gebiete, Ballungsräume usw.) berücksichtigt werden, ohne die Notwendigkeit der thematischen Konzentration — die Sichtbarkeit und Effizienz garantiert — aus den Augen zu verlieren, um Gießkanneneffekte zu vermeiden?

Wie können bei allen Problemstellungen die nachhaltige Entwicklung und der Klimaschutz in den Mittelpunkt gerückt werden?

Wie kann Europa durch ein verstärktes lokales Handeln den Bürgerinnen und Bürgern greifbar nähergebracht werden?

1.1.7.

Maritimer Bereich und Inselgebiete — Da der maritime Bereich naturgemäß die einzige Umgebung der Inselgebiete bildet, spricht sich der EWSA dafür aus, den Inselgebieten weiterhin die Möglichkeit zu geben, sowohl Projekte im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit als auch im Rahmen der territorialen Zusammenarbeit vorzulegen. Gegebenenfalls sollte eine neue Priorität „Inselgebiete“ samt eigenen Haushaltsmitteln eingeführt werden.

1.1.8.

Makroregionale Strategien (MRS) — Nach Auffassung des EWSA ist es unbedingt erforderlich, die Ausarbeitung von MRS auf neue Gebiete (Mittelmeerraum, Balkan, Karpaten usw.) auszudehnen und für eine stärkere Integration der neuen europäischen Finanzierungsinstrumente zugunsten dieser Gebiete zu sorgen.

1.1.9.

Zusammenarbeit mit Nachbarländern — Der EWSA zeigt sich erfreut über die Einrichtung eines einheitlichen Rahmens für die Umsetzung von Maßnahmen mit Nachbarländern/Drittländern. Er begrüßt auch den Ansatz, bei dem für die ETZ vorgesehene Mittel und Mittel aus externen EU-Fonds gleichzeitig zum Einsatz kommen. Der EWSA fordert die Kommission auf, in diesem Zusammenhang darauf zu achten, dass die Programme der territorialen Zusammenarbeit den Gebieten der benachbarten Länder offenstehen, auch wenn es sich nicht um Grenzgebiete zur EU handelt, um die Entstehung von Verwerfungen in den betreffenden Ländern zu vermeiden.

1.1.10.

Innovation — Der EWSA unterstützt die vorgeschlagene Einführung eines Schwerpunkts „Innovation“ mit eigenen Haushaltsmitteln und Verfahrensweisen, die nichtstaatlichen Akteuren einen direkten Zugang ermöglichen. Der EWSA betont jedoch, dass sich Innovation auch auf den gesellschaftlichen und sozialen Bereich erstrecken muss.

1.1.11.

Der digitale Aspekt der europäischen territorialen Zusammenarbeit — Eine der größten Herausforderungen für die Akteure der europäischen territorialen Zusammenarbeit ist heutzutage die Vernetzung. Es müssen Mittel und Initiativen vorgesehen werden, um den Erfahrungsaustausch zu fördern und die digitale Kluft zu verringern — sowohl zwischen den verschiedenen Gebieten als auch zwischen den städtischen und ländlichen Gebieten der einzelnen Regionen.

1.1.11.1.

Zu diesem Zweck empfiehlt der EWSA für den Zeitraum 2021-2027, die Digitalisierung und die erforderliche Verbesserung der Kompetenzen im Aufbau sämtlicher Programme der ETZ zu berücksichtigen.

1.1.12.

Berücksichtigung der Jugend — Die Berücksichtigung der Jugend in Europa ist ein wesentlicher Faktor. Der EWSA regt an, den Jugendaustausch im Rahmen von Erasmus+ für Studierende, Auszubildende, Arbeitsuchende und Personen in Schwierigkeiten zu nutzen, um die Jugend mit speziellen Mobilitätsprogrammen, Berufsbildung und Spracherwerb in die territoriale Zusammenarbeit einzubinden. Der EWSA schlägt vor, in die Programme zur grenzüberschreitenden und transnationalen Zusammenarbeit Schwerpunkte mit spezifischen Vorschlägen und Interventionen zugunsten junger Menschen aufzunehmen, bei denen junge Menschen als Projektträger fungieren.

1.1.13.

Maßnahmen zugunsten schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen und Berücksichtigung horizontaler Kriterien — Der EWSA betont, dass es wichtig ist, präzise Regeln hinsichtlich der verbindlichen Einhaltung der gemeinschaftlichen horizontalen Grundsätze festzuschreiben sowie einen diesbezüglichen Mindestwert (10 % der für die jeweilige Maßnahme gewährten Beihilfe) festzulegen.

1.1.14.

Zivilschutz und Eindämmung von Großrisiken — Der EWSA ersucht die Kommission, in Erwägung zu ziehen, diese Komponente als Schwerpunkt in die territoriale Zusammenarbeit aufzunehmen und mit dem neuen Fonds für Verteidigung und Zivilschutz zu verbinden, den die Kommission für den MFR 2021-2027 vorgeschlagen hat.

1.1.15.

Öffentlichkeitsarbeit — Angesichts der Bedeutung der im Rahmen der ETZ geförderten Programme wird der EWSA jede Initiative unterstützen, mit der sich mehr Sichtbarkeit erzielen lässt, um den europäischen Bürgersinn zu stärken und dafür zu sorgen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger der konkreten Maßnahmen stärker bewusst werden, die mit Unterstützung der EU durchgeführt werden. Der EWSA schlägt insbesondere vor, in den Gebieten, die von den Kooperationsprogrammen profitieren, Informationsstellen einzurichten, und zwar vorzugsweise bei den Organisationen der Zivilgesellschaft.

2.   Einführung

2.1.   Die territoriale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit — der Kern des Europagedankens

2.1.1.

Die europäische territoriale Zusammenarbeit (ETZ) (Interreg) ist für den Aufbau eines gemeinsamen europäischen Raums von entscheidender Bedeutung. Mit ihrer grenzüberschreitenden, transnationalen und interregionalen Dimension und der Öffnung zu den Nachbarländern bildet sie das Fundament der europäischen Integration. Sie trägt dazu bei, dass Grenzen nicht als Schranken wirken, bringt die Bürgerinnen und Bürger Europas näher zusammen, trägt zur Lösung gemeinsamer Probleme bei, erleichtert den Austausch von Ideen und die gemeinsame Nutzung von Stärken und fördert strategische Initiativen, die gemeinsamen Zielen dienen.

2.1.2.

Artikel 174 und 24 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bilden den Rechtsrahmen, der die Umsetzung der Politik des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts (Kohäsionspolitik) ermöglicht, die darauf abzielt, die regionalen Unterschiede im Entwicklungsniveau zu verringern und folglich die europäische territoriale Zusammenarbeit zu stärken.

2.1.2.1.

In Artikel 174 heißt es insbesondere: „Unter den betreffenden Gebieten gilt besondere Aufmerksamkeit den ländlichen Gebieten, den vom industriellen Wandel betroffenen Gebieten und den Gebieten mit schweren und dauerhaften natürlichen oder demografischen Nachteilen, wie den nördlichsten Regionen mit sehr geringer Bevölkerungsdichte sowie den Insel-, Grenz- und Bergregionen.“ Nach Auffassung des EWSA ist es angesichts dieses Artikels mehr als gerechtfertigt, dass die ETZ in besonderem Maße auf diese Gebiete abzielt, und somit fordert er die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, darauf zu achten, dass dies auch geschieht.

2.1.3.

Als vorrangiges Ziel der Kohäsionspolitik bildet die ETZ (Interreg) den Rahmen, in dem die öffentlichen und privaten, nationalen, regionalen und lokalen Akteure in den Mitgliedstaaten gemeinsame Initiativen durchführen, bewährte Verfahren austauschen und Entwicklungsstrategien sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas strukturieren. Bei vielen der bisher durchgeführten Projekte wurde ein Mehrwert erzielt, und die Investitionen haben sich wachstumsfördernd ausgewirkt; allerdings haben gewisse Mängel bei der Abstimmung der verschiedenen Programme zu Beeinträchtigungen geführt und sollten im Hinblick auf die neuen Perspektiven 2021-2027 einer sorgfältigen Analyse unterzogen werden.

2.1.4.

Die Ex-post-Bewertungen haben eine Reihe von Unzulänglichkeiten aufgezeigt:

eine unzulängliche funktionale Definition der Gebiete im Hinblick auf Artikel 174 AEUV;

erhebliche Schwierigkeiten bei der Festlegung und Umsetzung einer kohärenten Interventionsstrategie, was darauf zurückzuführen ist, dass für die Auswahl der zu fördernden Projekte ein von unten nach oben gerichteter Ansatz („Bottom-up-Ansatz“) gewählt wurde;

ein beinahe völliges Fehlen von Synergien zwischen den Interreg-Programmen und anderen EU-Programmen, die geeignet wären, die Förderwirkung für die Entwicklung zu verstärken, insbesondere Erasmus+, Horizont 2020, Europäischer Fonds für strategische Investitionen (EFSI), Fazilität „Connecting Europe“ (CEF) und COSME; ferner allgemein zu schwache Auswirkungen dieser Maßnahmen und eine zu geringe Sichtbarkeit für die Zivilgesellschaft und für die Bürger insgesamt, insbesondere für Frauen, junge Menschen, Familien, Menschen mit Behinderung und ältere Menschen.

2.1.5.

Einige dieser Aspekte werden im neuen Vorschlag für eine Verordnung berücksichtigt, in dem vorgesehen ist, die Verfahren zur Verringerung der Unterschiede im Entwicklungsniveau zwischen den verschiedenen Regionen Europas einschließlich der besonders entlegenen Gebiete zu stärken, neue makroregionale Strategien und thematische Schwerpunkte herauszuarbeiten, die Initiativen zur Förderung der Innovation sowie eine Reihe weiterer Initiativen zu stärken (die deshalb Gegenstand besonderer Analysen und Bemerkungen sind). Allerdings sollte der Vorschlag der Kommission in einigen wichtigen Punkten verbessert und präzisiert werden.

3.   Vorrangige Themen der Empfehlungen des EWSA an die Kommission

3.1.

Vereinfachung der Verfahren — einen „Vereinfachungsschock“ wagen — Die Kommission schlägt einen umfassenden Katalog von speziellen Bestimmungen vor, mit denen darauf abgezielt wird, die Regeln zur Ausrichtung und Verwaltung der Programme auf allen Ebenen — Begünstigte, Mitgliedstaaten, Verwaltungsbehörden, teilnehmende Drittländer und Kommission — zu vereinfachen. Der EWSA befürwortet diesen Ansatz nachdrücklich. Allerdings geht jede neue Programmplanung mit einer derartigen Initiative einher. Die Kommission sollte diesen Ansatz deshalb deutlich entschiedener verfolgen.

3.1.1.

Was Vereinfachungen und Pauschalregelungen anbelangt, ist in der Verordnung als zentrales Element für den nächsten Programmplanungszeitraum vorgesehen, bestimmte Ausgaben über Pauschalen abzurechnen, was bei bestimmten Variablen — wie Personalkosten (bei allen Projekten unter 200 000 EUR: Pauschale, und es müssen keine Rechnungen vorgelegt werden) — recht weit geht. Damit erkennt die Kommission an, dass eine Vereinfachung im Verwaltungsbereich erforderlich ist und dass eine umfassende Vereinbarung dringend notwendig ist.

3.1.2.

Die Zusammenarbeit betrifft vor allem lokale Maßnahmen. Daher ist ein Programm erforderlich, das offener gegenüber der Zivilgesellschaft ist, mit einer radikalen Vereinfachung der Verfahren und der Einrichtung von kleinen Informations- und Unterstützungsstellen.

3.1.3.

Nach Auffassung des EWSA sollten die Vereinfachungen bei den Formblättern und bei den Verfahren zur Projektbewertung in Relation zur Größe der Projekte stehen, und es sollten — zumindest bei den Verwaltungs- und Projektmanagementtätigkeiten — Pauschalverfahren genutzt werden. Der „Vereinfachungsschock“ ist unerlässlich, damit sich die Projektträger auf die Ergebnisse der Maßnahmen konzentrieren können, statt auf zeitraubende Verwaltungstätigkeiten.

3.1.4.

Tatsächlich sollte man — wie von der Kommission gewünscht — das Konzept der Projektbewertung anhand der Ergebnisse konsequent umsetzen und die Projektträger von der Pflicht, fortlaufend (derzeit alle sechs Monate) Tätigkeitsberichte vorzulegen, entbinden.

3.2.

Finanzrahmen — Nach Auffassung der Kommission müssen die Kohäsionspolitik und ihre Umsetzung in der ETZ ein wesentliches Element des Finanzpakets bleiben. Der EWSA unterstützt diesen Standpunkt. Durch eine geringere Zuweisung von Haushaltsmitteln würden die Wirksamkeit, die Sichtbarkeit und auch die derzeitige Bekanntheit dieses Aktionsprogramms erneut in Frage gestellt. Die derzeit bevorzugte Option sieht gegenüber dem letzten Programmplanungszeitraum stabile Haushaltsmittel vor dem Hintergrund einer Verringerung des Gesamthaushalts der Europäischen Union um 10 % vor. Auf diese Weise sollte es möglich sein, die Unterstützung für die Interreg-Programme auf identischem Niveau zu halten. Der EWSA betrachtet das als Minimum, fordert das Europäische Parlament jedoch auf, eine deutliche Erhöhung vorzuschlagen, da die politischen Auswirkungen dieser Maßnahmen sowie die Auswirkungen auf die jeweilige Bevölkerung sehr groß sein können, sofern erhebliche Mittel eingesetzt werden.

3.2.1.

In der neuen Verordnung über die europäische territoriale Zusammenarbeit wird der Kofinanzierungssatz auf 70 % (gegenüber derzeit 85 %) gesenkt. Nach Auffassung der Kommission sollte diese Änderung zu einer stärkeren finanziellen Beteiligung der jeweiligen Staaten führen und eine stärkere Identifizierung mit den Projekten bewirken. Der EWSA befürchtet, dass diese Maßnahme — die unter dem Stichwort „Zusätzlichkeit“ erfolgt — private Akteure sowie besonders benachteiligte Gebiete von der Teilnahme abhalten könnte. Daher spricht er sich dafür aus, für besonders schwache Regionen im Sinne von Artikel 174 AEUV den Satz von 85 % beizubehalten. Im Übrigen lässt sich durch eine Konzentration der Interventionen der Europäischen Union stets eine höhere Sichtbarkeit erzielen.

3.2.2.

Neue Regeln für „Kleinprojekte“ — Die neue Verordnung enthält eine klare Definition, flankiert von neuen Maßnahmen und vereinfachten Regeln: Neudefinition der technischen Hilfe, Abschaffung der jährlichen Berichtspflicht, Pauschalansatz für zahlreiche Ausgabenposten sowie Bedingungen für einen rascheren Start im neuen Programmplanungszeitraum. Nach Einschätzung des EWSA gehen diese Initiativen in die richtige Richtung.

3.2.3.

Was den Verwaltungsaufwand bei „Kleinprojekten“ anbelangt, begrüßt der EWSA auch sehr nachdrücklich, dass — zusätzlich zum Pauschalansatz — eine grenzübergreifende Einrichtung geschaffen werden soll, die für sämtliche Verwaltungstätigkeiten einer ganzen Gruppe von „Kleinprojekten“ zuständig ist.

3.2.4.

Der EWSA würdigt die Zusage der Kommission, für eine möglichst hohe private Beteiligung an den Programmen der territorialen Zusammenarbeit zu sorgen. Zur Bekräftigung dieses Standpunkts schlägt der EWSA vor, eine Mindestschwelle für die Beteiligung nichtstaatlicher Akteure (neben regionalen Behörden) festzulegen, wie private Unternehmen, Sozialpartner, Freiwilligenorganisationen, Strukturen der Sozial- und Solidarwirtschaft und Berufsverbände.

3.3.

Partnerschaften mit der Zivilgesellschaft — Der EWSA ruft in Erinnerung, dass Partnerschaften das wesentliche Mittel zur Umsetzung der horizontalen Grundsätze sind. Es sollten überall Partnerschaften mit der Zivilgesellschaft, den Sozialpartnern, den örtlichen Behörden und den für die soziale Inklusion zuständigen Einrichtungen geschaffen werden. In diesem Zusammenhang ist in der Verordnung die Einbindung der Zivilgesellschaft in die Monitoringausschüsse vorgesehen. Ferner ist vorgesehen, auf den Websites, die Informationen über die Durchführung und die Ergebnisse der Programme liefern, auch über Fehlschläge und über Projekte zu informieren, bei denen die entsprechenden Ziele nicht erreicht werden konnten.

3.3.1.

Es ist festzustellen, dass die örtlichen Behörden — sobald sie benannt sind — dazu neigen, alles andere zu ignorieren.

3.3.2.

Die Mitwirkung der Akteure der Zivilgesellschaft darf sich nicht auf den Konsultationsprozess beschränken. Es ist von entscheidender Bedeutung, sie in die Durchführung der Maßnahmen einzubinden und ihnen diesbezügliche Zuständigkeiten zu übertragen, auch indem Organisationen der Zivilgesellschaft mit Verwaltungsaufgaben betraut werden.

3.3.3.

Der EWSA schlägt vor, dass die Verwaltungsbehörde für jedes Programm der ETZ einen Partnerschaftsplan vorlegt, aus dem die Einbindung der Zivilgesellschaft in jede Phase der Ausarbeitung, Durchführung und Bewertung der Maßnahmen hervorgeht. Dieser Plan sollte auch einen Warnmechanismus umfassen, der es den Akteuren der Zivilgesellschaft ermöglicht, sich an die betreffende Behörde zu wenden, falls der Grundsatz der Partnerschaft nicht eingehalten wird.

3.4.

Neue Aufteilung der Fördermittel für die territoriale Zusammenarbeit — In der neuen ETZ/Interreg-Verordnung gliedert sich das zukünftige Aktionsprogramm für die Zusammenarbeit in fünf Bereiche: grenzübergreifende Zusammenarbeit, transnationale und maritime Zusammenarbeit, Zusammenarbeit der Regionen in äußerster Randlage, interregionale Zusammenarbeit sowie interregionale Innovationsinvestitionen. Dieser Ansatz ist schlüssig, auch wenn die Herausnahme der maritimen Zusammenarbeit aus der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit fraglich erscheint und die Akteure in den betroffenen Regionen sehr beunruhigt. Die Kommission führt zur Rechtfertigung an, dass sich insbesondere im Rahmen der maritimen Zusammenarbeit Überschneidungen zwischen verschiedenen grenzüberschreitenden Programmen ergeben können, und verspricht, einen umfassenden Ansatz für die Programme in den maritimen Gebieten — einschließlich für die bilaterale Zusammenarbeit — vorzulegen, mit dem eine stärkere Wirkung erzielt wird.

3.5.

Maritimer Bereich und Sonderfall Inselgebiete — Nach Auffassung des EWSA ist diese Ausrichtung im maritimen Bereich nachvollziehbar, wenn es sich um Festlandgebiete handelt, jedoch nicht gerechtfertigt, wenn es um Inselgebiete geht, die naturgemäß nur Seegrenzen aufweisen. Der EWSA hat die Kommission im Übrigen des Öfteren aufgefordert, den Inseln besondere Aufmerksamkeit zu widmen, da sie, wie in Artikel 174 AEUV anerkannt, unter offenkundigen strukturellen Nachteilen leiden. Der EWSA schlägt daher vor, die Maßnahmen der europäischen Zusammenarbeit zwischen Inseln wieder in die Kategorie „grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ einzugliedern und/oder dafür eine sechste Kategorie mit eigenen Haushaltsmitteln zu schaffen, insbesondere zugunsten einer Gruppe von Inseln, die zum gleichen Meeresraum gehören, um den Erfahrungsaustausch zu begünstigen.

3.6.

Spezifische Öffnung in Richtung Innovation — Die Kommission schlägt eine neue eigene Haushaltslinie basierend auf dem Prinzip der Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen zur Entwicklung von Projekten im gesamten Gebiet der Europäischen Union vor, mit denen über den bloßen Austausch von bewährten Verfahren hinausgegangen und umfassende Instrumente der Aktionsforschung entwickelt werden sollen (11 % der Interreg-Haushaltsmittel). Der EWSA begrüßt diesen Ansatz, sofern auch gesellschaftliche und soziale Innovationen berücksichtigt werden, mit denen sich durch die territoriale Zusammenarbeit eine sehr starke Wirkung bei der jeweiligen Bevölkerung erzielen lässt und eine direkte Beteiligung nichtstaatlicher Akteure (Wissenschaftler, Unternehmen, Zivilgesellschaft) ermöglicht wird.

3.7.

Öffnung für Gebiete in äußerster Randlage — Die Kommission schlägt vor, neue Maßnahmen einzuführen, um diesen Gebieten angesichts ihrer besonderen Lage eine Zusammenarbeit im Sinne der Mitteilung der Kommission „Eine verstärkte und erneuerte Partnerschaft mit den Gebieten in äußerster Randlage der EU“ (1) zu ermöglichen. Es handelt sich dabei um einen eigenen Bereich für die Zusammenarbeit der Gebiete in äußerster Randlage untereinander und mit ihren Nachbarn (Punkt 3,2 des Interreg-Haushaltsplans). Diese klare Bestimmung ist interessant; es sollte jedoch auch möglich sein, die EU-Finanzmittel für Drittländer, die Nachbarländer von Gebieten in äußerster Randlage sind, (im Wesentlichen den Europäischen Entwicklungsfonds EEF) leicht zur Ergänzung derartiger Maßnahmen zu mobilisieren, was derzeit nicht der Fall ist. Der EWSA weist auf die Notwendigkeit einer koordinierten Interaktion zwischen Interreg und EEF hin, die beschlossen und geplant werden muss.

3.8.

Zusammenarbeit mit Drittländern — Der EWSA begrüßt, dass es in einem unruhigen internationalen Kontext von nun an einen einheitlichen Rahmen für Maßnahmen unter Einbeziehung von Nachbarländern außerhalb der Europäischen Union geben soll. Was die benachbarten Länder anbelangt, sollte die bereits bestehende Möglichkeit, dass Gebiete dieser Länder, bei denen es sich nicht um Grenzgebiete zur EU handelt, an den Maßnahmen der transnationalen Zusammenarbeit mitwirken, stärker genutzt werden, da andernfalls die Gefahr besteht, dass innerhalb dieser Länder bestehende Ungleichheiten zugunsten der Grenzgebiete zur EU verschärft werden.

4.   Neue Überlegungen

4.1.

Ausbau der thematischen Konzentration — Der EWSA schlägt vor, die Programme gezielt auf Maßnahmen rund um die Prioritäten der Europäischen Union auszurichten, wie sie im Entwurf für den MFR 2021-2027 niedergelegt sind (Innovation, Forschung, grüneres Europa — Energie, Kreislaufwirtschaft usw. —, vernetztes Europa — Verkehr, Landwirtschaft usw. —, sozialeres Europa — ESF, EFRE, Bildung, Gesundheit usw. —, lokaleres Europa durch Strategien für die lokale Entwicklung), ohne die in der Verordnung genannten spezifischen Ziele in den Bereichen Soziales, Bildung und Gesundheitsversorgung zu vergessen. Somit sollte den Strategien zur lokalen Entwicklung unter Einbindung aller Akteure der Zivilgesellschaft besonderes Augenmerk geschenkt werden.

4.1.1.

Im Rahmen der thematischen Konzentration ist es grundlegend, dass Fragen der nachhaltigen Entwicklung und des Klimaschutzes, der Kreislaufwirtschaft und der erneuerbaren Energien bei allen Problemstellungen in den Vordergrund gerückt und explizit berücksichtigt werden.

4.2.

Makroregionale Strategien (MRS) — Die makroregionalen Strategien (Ostseeraum, Donauraum, Alpenraum, Region Adria-Ionisches Meer) werden praktisch einhellig als erfolgreich eingeschätzt. Die ETZ ist hier besonders von Nutzen, da sie in der Lage ist, günstige Voraussetzungen für die Anwendung der makroregionalen Entwicklungsstrategien zu schaffen, denn die ETZ beruht auf

einem hohen Grad an grenzüberschreitender Interaktion und

der Kongruenz der Finanzierungen und strategischen Interventionsprioritäten.

4.2.1.

Diese Instrumente werden eine Stärkung der Kooperationsprogramme, insbesondere in den Bereichen transnationale und maritime Zusammenarbeit, ermöglichen. Es könnte hilfreich sein, Versuchsprojekte unter Einbeziehung von Drittländern durchzuführen, und zwar zum einen im Rahmen einer makroregionalen Strategie für den Mittelmeerraum (östlicher und westlicher Mittelmeerraum) im Zusammenhang mit den Strategien für die Meeresbecken, die im Rahmen der maritimen Maßnahmen der EU ausgearbeitet werden, und zum anderen im Rahmen einer makroregionalen Strategie für die Bergregionen Südosteuropas (Karpaten und Balkan).

4.3.

Der digitale Aspekt der europäischen territorialen Zusammenarbeit — Eine der größten Herausforderungen bei der europäischen territorialen Zusammenarbeit ist heutzutage die Vernetzung. Es müssen Mittel und Initiativen vorgesehen werden, um die digitale Kluft zwischen den verschiedenen Gebieten sowie zwischen den städtischen und ländlichen Gebieten der einzelnen Regionen zu verringern. Die digitale Entwicklung ist mit verschiedenen Herausforderungen verbunden:

4.3.1.

Einer technischen und wirtschaftlichen Herausforderung hinsichtlich der Entwicklung der verschiedenen Gebiete: Mit den digitalen Technologien geht im Rahmen neuer industrieller Entwicklungen, einer kooperativen Gesellschaft, der Entstehung neuer Formen der Kooperation in der Arbeitswelt und neuer Instrumente zur Nutzung lokaler Ressourcen ein erhebliches Potenzial zur Entwicklung der verschiedenen Gebiete einher.

4.3.2.

Einer erheblichen sozialen Herausforderung hinsichtlich der Entwicklung der Kompetenzen der jeweiligen Bevölkerung in den verschiedenen Gebieten: Mehr Investitionen in Kompetenzen und in die Nutzermitbestimmung und Verhinderung eines weiteren Auseinanderklaffens der sozialen digitalen Kluft. Angesichts der Digitalisierung bilden sich derzeit neue Formen der Diskriminierung heraus, insbesondere begründet durch den Zugang ärmerer Bevölkerungsgruppen zu den erforderlichen Geräten, durch den Lebensstandard und durch kulturelle Aspekte im Zusammenhang mit dem Bildungsniveau und dem Alter.

4.3.3.

Es gilt zu berücksichtigen, dass die Digitalisierung einerseits den Zugang zu Rechten erleichtern und andererseits die Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen verschärfen kann. Vor diesem Hintergrund fordert der EWSA die Kommission auf, bei den Maßnahmen der ETZ einen mit den Akteuren vor Ort abgestimmten pädagogischen Ansatz zu verfolgen.

4.3.4.

Im Übrigen schlägt der EWSA vor, dass ein erheblicher Anteil der innovativen Maßnahmen der Digitalisierung gewidmet sein sollte, flankiert von spezifischen Aufforderungen zur Einreichung von Vorschlägen, die den Erfahrungsaustausch und die Zusammenarbeit in den Gebieten in diesen Bereichen umfassen, wobei vorrangig auf die Einbindung besonders armer und schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen abgezielt werden sollte. Dies ist für die Gebiete im Rahmen der neuen industriellen Entwicklungen, einer kooperativen Gesellschaft, der Entstehung neuer Formen der Kooperation in der Arbeitswelt und neuer Instrumente zur Nutzung lokaler Ressourcen von zentraler Bedeutung. Die Kommission hat einen Haushaltsentwurf für den Zeitraum 2021-2027 vorgelegt. Werden die genannten Aspekte der Digitalisierung darin ausreichend berücksichtigt? Wenn das nicht der Fall ist, ist dieser Haushaltsentwurf nicht angemessen.

4.3.5.

Digitalisierung und künstliche Intelligenz — Die Kommission muss sich für die Einrichtung und Bewertung zukünftiger Programme mit digitalen und auf künstlicher Intelligenz beruhenden Werkzeugen ausrüsten (Big Data, neue Technologien, Investitionen).

4.3.6.

Wie die Kommission selbst sagt, ist die Bewertung der Wirkung von Maßnahmen und Programmen der EU eine Frage der Geisteshaltung. Zuweilen sind die Ergebnisse eines Projekts wohl weniger wichtig als die Art und Weise, wie die Ergebnisse erzielt werden, und es ist schwierig, geeignete Indikatoren (nicht nur quantitativer, sondern auch qualitativer Art) zu finden, um dies zu bewerten.

4.3.7.

Der EWSA bestärkt die Kommission nachdrücklich darin, bessere Indikatoren zur Bewertung der unmittelbaren Ergebnisse sowie der Wirkung der Programme und Projekte zu suchen.

4.4.

Berücksichtigung der Jugend — Die Berücksichtigung der Jugend in Europa ist ein grundlegender Faktor. Der EWSA regt an, den Jugendaustausch im Rahmen von Erasmus+ für Oberschüler, Studierende, Auszubildende, Arbeitsuchende und Personen in Schwierigkeiten zu nutzen, um die Jugend durch spezielle Mobilitätsprogramme insbesondere für die berufliche Bildung und den Erwerb von Sprachkenntnissen in die territoriale Zusammenarbeit einzubinden. Der EWSA hat verschiedene, einander nicht ausschließende Überlegungen angestellt, wie sich die territoriale Zusammenarbeit für die Jugend greifbar und sinnvoll gestalten lässt.

4.4.1.

Der EWSA schlägt vor, einen Teil der Mittelzuweisungen der ETZ für Maßnahmen vorzubehalten, die von jungen Menschen und für junge Menschen durchgeführt werden. Parallel dazu könnte die Kommission beschließen, im Rahmen des zukünftigen Programms Erasmus+ (nach 2021) einen Teil der Programme von Erasmus+ für Initiativen vorzusehen, die auf bestimmte territoriale Räume abzielen.

4.4.2.

Ferner sollten 10 % der Mittel einer oder mehrerer Interreg-Ausrichtungen für die Erasmus-Mobilität vorgesehen werden, sowie ein ebenso hoher Anteil für die Finanzierung von Projekten im Rahmen von Erasmus+, die in den europäischen Räumen durchgeführt werden. Priorität könnte unter anderem neuen Regionen eingeräumt werden, die allmählich Gestalt annehmen, wie die Makroregion Mittelmeerraum, und/oder versuchsweise Regionen, die sich noch in der Entwicklungs- und Aufbauphase befinden, wie beispielsweise eine Makroregion Östlicher Mittelmeerraum.

4.4.3.

Es ist somit erforderlich, in die Programme zur grenzüberschreitenden und transnationalen Zusammenarbeit einen oder mehrere Schwerpunkte mit spezifischen Vorschlägen und Interventionen zugunsten junger Menschen aufzunehmen, bei denen junge Menschen als Projektträger fungieren. Diese Schwerpunkte sollten den Übergang vom einfachen kulturellen Austausch zur Aufwertung von Maßnahmen ermöglichen und unterstützen, die andere Bevölkerungsgruppen als die traditionellen Nutzer von Erasmus+ betreffen: Jugendbewegungen und Aufbau von Vereinigungen für den Kampf gegen Ausgrenzung und soziale Ungleichheit, für die Eingliederung von besonders schutzbedürftigen Menschen (Menschen mit Behinderung), Maßnahmen zum Klimaschutz, Initiativen zur Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten sowie sonstige Themen der Bereiche Bildung und Solidarität.

4.5.

Maßnahmen zugunsten schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen und Berücksichtigung horizontaler Kriterien — Was die Berücksichtigung schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen in allen Phasen der Konzeption und Durchführung der Kooperationsprogramme und insbesondere bei der Projektauswahl anbelangt, hat die Kommission ihren Standpunkt klar zum Ausdruck gebracht: Die gemeinschaftlichen horizontalen Grundsätze sind verbindlich einzuhalten.

4.5.1.

Offen ist allerdings die Frage der diesbezüglichen Regelungen in der ETZ, denn es sind keine Quoten festgelegt. Der EWSA schlägt vor, für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit einen Mindestwert von 10 % festzulegen.

4.6.

Zivilschutz und Eindämmung von Großrisiken — Diese Komponente, die zum neuen, von der Kommission für den MFR 2021-2027 vorgeschlagenen Europäischen Fonds für Verteidigung und Zivilschutz gehört, ist ein zentraler Schwerpunkt mit Auswirkungen auf die territoriale Zusammenarbeit. Hier sind beispielsweise die Waldbrandprävention und -bekämpfung im Mittelmeerraum oder Überschwemmungen in den nördlicheren Regionen zu nennen. In diesem Bereich ist die Zusammenarbeit über Staatsgrenzen hinweg eine selbstverständliche Notwendigkeit, die sich unmittelbar auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger auswirkt.

4.6.1.

Der EWSA empfiehlt daher, im Rahmen der ETZ besonderes Augenmerk auf diesen Bereich zu legen, verbunden mit der Möglichkeit einer Koordinierung verschiedener Fonds, und präzise Empfehlungen an die für die Programme zuständigen Behörden zu richten, um sie hinsichtlich der diesbezüglichen Herausforderungen und Chancen für ihr jeweiliges Gebiet zu sensibilisieren. Es könnten Aufforderungen zur Einreichung von Vorschlägen für Demonstrationsprojekte ergehen, um verschiedene Gebiete zum Nacheifern anzuregen.

4.7.

Integration der verschiedenen europäischen Instrumente — Nach Auffassung des EWSA werden im vorliegenden Vorschlag die Möglichkeiten zur Entfaltung von Synergien zwischen der ETZ und den anderen derzeitigen oder zukünftigen Finanzierungsinstrumenten der EU nicht ausreichend genutzt, insbesondere im Hinblick auf Jugendaustausch, Vernetzung, Digitalisierung, Forschung und Entwicklung, Investitionen sowie Zivilschutz und Bekämpfung von Großrisiken. Er fordert die Kommission auf, hier nachzubessern.

4.7.1.

Die ETZ bietet einen geeigneten Rahmen, um entsprechend dem Bedarf vor Ort für Komplementarität zwischen den verschiedenen europäischen Instrumenten zu sorgen:

Investitionen von kleinen und mittleren Unternehmen, wenn es gelingt, Interreg-Interventionen wirkungsvoll mit Interventionen aus dem neuen InvestEU-Programm zu kombinieren, das die Kommission für den MFR 2021-2027 vorgeschlagen hat;

Netze (Infrastruktur, digitale Netze, Energie) mit der Fazilität „Connecting Europe“ (CEF);

externe Maßnahmen (EEF, Nachbarschaftspolitik);

Fonds für den Zivilschutz;

Erasmus+;

Horizont Europa (derzeit Horizont 2020);

LIFE (Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen);

Europäischer Sozialfonds

und andere.

4.7.2.

Die diesbezüglichen Vorschläge der Kommission sind vage. Der EWSA fordert die Kommission auf, im Rahmen der Vorschläge zum MFR 2021-2027 eine Mitteilung zur Integration ihrer Finanzierungsinstrumente vorzulegen.

4.8.

Öffentlichkeitsarbeit — Interreg gehört zu den wichtigsten Instrumenten zur Festigung des europäischen Bürgersinns. Deshalb sollte nun für mehr Sichtbarkeit gesorgt werden, um die Maßnahmen der EU bekannter zu machen. Die Kommission sollte die Nutzung und die Erfolge des Interreg-Programms mit einer leicht verständlichen Veröffentlichung und einer eingängigen Werbekampagne bekannt machen. Auf diese Weise werden sich die Bürgerinnen und Bürger der konkreten Maßnahmen bewusst, die mit Unterstützung der EU durchgeführt werden. Angesichts der Bedeutung der Öffentlichkeitsarbeit schlägt der EWSA vor, Stellen für die Information und die grenzüberschreitende bzw. territoriale Zusammenarbeit einzurichten — vorzugsweise bei Organisationen der Zivilgesellschaft — und diese mit der Öffentlichkeitsarbeit zu betrauen.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  COM(2017) 623 final.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/124


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Mechanismus zur Überwindung rechtlicher und administrativer Hindernisse in einem grenzübergreifenden Kontext“

(COM(2018) 373 final — 2018/0198 (COD))

(2018/C 440/20)

Berichterstatter:

Etele BARÁTH

Befassung

Europäisches Parlament, 11.6.2018

Rat der Europäischen Union, 19.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 175 und 304 AEUV

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2018

Verabschiedung im Plenum

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

195/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission über einen Mechanismus zur Überwindung rechtlicher und administrativer Hindernisse in einem grenzübergreifenden Kontext (nachfolgend: „Mechanismus“). Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Bestimmungen des Vorschlags einen neuen Ansatz widerspiegeln, die Kooperationsmöglichkeiten einzelner Mitgliedstaaten auf der Grundlage der Subsidiarität stärken und zu einer ausgewogeneren, nachhaltigen sozioökonomischen Entwicklung der Grenzregionen sowie zur Steigerung des BIP der Union beitragen können.

1.2.

Der EWSA hält den Vorschlag für begründet, denn obwohl diese Gebiete derzeit durch mehrere institutionelle Instrumente unterstützt werden (insbesondere Interreg und EVTZ), verfügen sie nicht über die entsprechenden Kompetenzen zur Ergreifung solcher rechtlichen Maßnahmen.

1.3.

Nach Ansicht des EWSA kann der Verordnungsentwurf einen Beitrag zum Abbau historischer Schranken, zur Verbreitung des europäischen Geistes im Alltag und zur Stärkung eines europäischen Gemeinsinns leisten.

1.4.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, alle zu Rechtsunsicherheit führenden Fragen zu klären, sodass die komplizierten und allzu abgesichert wirkenden Prozesse nicht abschreckend auf die möglichen Anwender des Rechtsakts wirken. Es ist unverzichtbar, deutlich zu machen, auf welche Weise zwei benachbarte Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit angeregt werden können, wenn deren Vorstellungen von der Konzeption eines Projekts oder allgemein von der Herangehensweise voneinander abweichen.

1.5.

Der EWSA meint, dass ständig im Auge behalten werden muss, wie die Verordnung funktioniert, da sie nicht die Lösungen, sondern den Prozess selbst regelt und den Rahmen für unzählige Kooperationsmöglichkeiten festlegt.

1.6.

Ein Vorteil des Verordnungsvorschlags ist, dass er eine Angleichung und keine Vereinheitlichung beinhaltet, daher ist auch die Festlegung seines räumlichen Anwendungsbereichs ein wichtiges Element seiner Durchführbarkeit (siehe Ziffer 2.7.4).

1.7.

Darüber hinaus beruht der Verordnungsentwurf auf dem Prinzip, dass eine Möglichkeit, ein bestimmtes Problem zu lösen, darin bestehen könnte, die jenseits der Grenze geltenden Rechtsvorschriften anzuwenden. Jedoch ist dies in zahlreichen Fällen nicht möglich: Es kann vorkommen, dass es weder auf der einen noch auf der anderen Seite der Grenze eine Rechtsvorschrift zur Behebung des betreffenden Problems gibt; eine Lösung könnte sich dann am Modell eines Drittlandes orientieren. Ein Mechanismus sollte auch für solche Fälle vorgeschlagen werden.

1.8.

Der EWSA begrüßt die Koordinierung der Europäischen Kommission bzw. zählt auf die grenzübergreifenden Koordinierungsstellen bei der Verbreitung der bisherigen „erfolgreichen Verfahren“ (grenzübergreifende Programme usw.) bzw. der Einbettung der Initiativen in den territorialen Zusammenhang (z. B. Übereinstimmung mit makroregionalen Strategien, integrierten Stadtentwicklungsstrategien). Der Ausschuss empfiehlt, zu diesem Zweck auf das Fachwissen und das Koordinierungsvermögen der Organisationen der Zivilgesellschaft zuzugreifen (siehe Ziffer 2.14.2).

1.9.

Die vorgeschlagene Verordnung kann ein Beitrag zur weiteren Stärkung einer innovativen und verantwortlichen europäischen Verwaltung sein, jedoch erachtet es der EWSA als notwendig, dass zur Erschließung der Möglichkeiten der grenzübergreifenden Zusammenarbeit eine Informationspflicht gegenüber den Betroffenen eingeführt wird, und er empfiehlt die Nutzung der Möglichkeiten des eGovernment, um die Mitwirkung an den Prozessen zu fördern und attraktiv zu machen.

1.10.

Der EWSA empfiehlt, zu berücksichtigen, dass zwischen den möglichen teilnehmenden Initiatoren ein erhebliches Kräfteungleichgewicht bestehen kann, zu dessen Ausgleich Hilfen vorzusehen sind, durch die Partnern mit einer schlechteren Ausgangslage die Teilnahme erleichtert wird.

1.11.

Bei den grenzübergreifenden Initiativen und in der grenzübergreifenden Rechtspraxis ist darauf zu achten, dass es nicht zu einem Rückschritt kommt. Es ist insbesondere dafür Sorge zu tragen, dass keine der beteiligten Parteien eine Benachteiligung oder einen Schaden aus der Zusammenarbeit erleidet.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der EWSA begrüßt die Initiativen, die den Abbau der Hemmnisse des Gemeinsamen Marktes bzw. die Verwirklichung der vier Freiheiten fördern (1). Der EWSA ist der Auffassung, dass der Vorschlag über die Schaffung eines grenzübergreifenden Mechanismus — ein Ausdruck der erfolgreichen Arbeit des luxemburgischen Vorsitzes — ein weiterer Schritt in diese Richtung ist.

2.2.

In der Europäischen Union gibt es 40 Grenzregionen an Binnengrenzen, die 40 % des Territoriums der Union und knapp 30 % der EU-Bevölkerung ausmachen. Täglich pendeln 1,3 Mio. EU-Arbeitnehmer über die Grenzen (2).

2.3.

Die Grenze zu überqueren, um Beschäftigung zu finden, eine bessere Gesundheitsversorgung zu erhalten, staatliche Einrichtungen zu nutzen oder Nothilfe in Anspruch zu nehmen, kann jedoch immer noch Schwierigkeiten bereiten. Die Nichtanerkennung von Steuer- bzw. Rentenansprüchen, Gesetzen und Normen und das Fehlen eines gemeinsamen Notfalldienstes können erhebliche Probleme bedeuten. Die meisten bestehenden Hindernisse ergeben sich aus den unterschiedlichen nationalen Rechtsvorschriften, den miteinander unvereinbaren administrativen Prozessen oder einfach dem Fehlen einer gemeinsamen territorialen Planung beiderseits der Grenze (3).

2.4.

Daher schneiden Grenzregionen im Allgemeinen wirtschaftlich weniger gut ab als andere Regionen eines Mitgliedstaats. Außerdem ist dort der Zugang zu öffentlichen Diensten wie Krankenhäusern und Universitäten im Großen und Ganzen schlechter. Menschen, Unternehmen und Behörden in Grenzregionen sind beim Lavieren zwischen verschiedenen Verwaltungs- und Rechtssystemen mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert. Forscher der Technischen Universität Mailand haben festgestellt, dass der Abbau der derzeit vorhandenen administrativen Hindernisse zu einer Steigerung des BIP der Union um rund 8 % führen würde (4).

2.5.

In Bezug auf die sozialen Aspekte dieser Herausforderung erachtet der EWSA die Entwicklung von Mechanismen, die durch den Abbau administrativer Hindernisse die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sowie den Ausbau von Infrastruktur und Dienstleistungen von allgemeinem Interesse fördern, als besonders wichtig.

2.6.

Auch aus wirtschaftlicher Sicht ist zu begrüßen, dass der Vorschlag sowohl im Interesse der Unternehmen als auch der Arbeitnehmer in Richtung einer weiteren Verringerung des Verwaltungsaufwands weist.

2.7.

Aus der Randlage ergibt sich für die Grenzgebiete oft ein wirtschaftlicher und sozialer Nachteil (5). Eine derartige Initiative kann positiv zur Stärkung des territorialen Zusammenhalts beitragen, dessen Ziel die Gewährleistung der harmonischen Entwicklung sämtlicher Regionen ist, und kann ermöglichen, dass die dort lebenden Bürger die Vorzüge der Region optimal ausnutzen können. Im Einklang mit dem Vertrag von Lissabon (6) ist der EWSA der Auffassung, dass die Vielfalt zu einem Vorteil werden kann, der zur nachhaltigen Entwicklung der gesamten Europäischen Union beiträgt.

2.7.1.

Der EWSA bedauert, dass die Kommission es versäumt hat, einen partizipativen Prozess einzuleiten, der in eine übergreifende und integrierte Strategie für ein nachhaltiges Europa bis 2030 und darüber hinaus mündet (7). Besonders wichtig ist daher die Einbettung des neuen Mechanismus in einen Kontext: Der EWSA geht davon aus, dass die Aufgabe der neuen grenzübergreifenden Koordinierungsstellen neben der Harmonisierung der Rechtsvorschriften auch in der Integration der Initiativen in die verschiedenen territorialen Prozesse besteht.

2.7.2.

Zu diesen territorialen Prozessen gehören insbesondere die auf unterschiedlicher Ebene bestehenden territorialen Strategien (z. B. makroregionale Strategien, Strategien der integrierten Stadtentwicklung) und die Mitberücksichtigung der Erfahrungen aus den Programmen für europäische territoriale Zusammenarbeit, insbesondere unter Beachtung der Erfahrungen und Ergebnisse grenzübergreifender Programme.

2.7.3.

Die besondere Stärke des jetzigen Vorschlags gegenüber früher vorgebrachten Ideen liegt darin, dass die Möglichkeit der Zusammenarbeit an Seegrenzen nicht ausgeschlossen ist (dies macht die Anwendbarkeit des Instruments auf die rege Zusammenarbeit an Seegrenzen wie in der Region Groß-Kopenhagen, zwischen Helsinki und Tallinn oder bei den sich derzeit intensivierenden italienisch-kroatischen Verbindungen möglich).

2.7.4.

Auch wenn im Vorschlag der territoriale Anwendungsbereich auf der NUTS-3-Ebene liegt, ist darin dennoch vorgesehen, die Anwendung des Mechanismus auf das kleinstmöglich zu rechtfertigende Gebiet zu konzentrieren, was zu begrüßen ist. Dessen ungeachtet ist es wichtig, dass die Verordnung auch auf die Fälle angewendet werden kann, in denen der territoriale Anwendungsbereich über die empfohlenen administrativen Grenzen ausgedehnt werden muss (z. B. wenn die Funkfrequenz von Rettungswagen in einem entsprechend größeren Gebiet funktionieren muss).

2.8.

Wie auch der neue Vorschlag für den EU-Haushalt zeigt, ist heutzutage der Umweltschutz zu einer wichtigen Priorität geworden: Dementsprechend schlägt die Kommission die Aufstockung der Fördermittel für Umwelt- und Klimaschutz vor (8). Alle Bemühungen im Interesse einer einheitlichen Herangehensweise an das europäische Ökosystem und somit an den Umweltschutz sind selbstverständlich zu begrüßen.

2.9.

Der EWSA geht im Einklang mit der Mitteilung der Europäischen Kommission „Stärkung von Wachstum und Zusammenhalt in den EU-Grenzregionen“ (9) (in der anhand von zehn Empfehlungen dargelegt wird, wie die EU und ihre Mitgliedstaaten dafür sorgen können, dass die grenzübergreifende Interaktion weniger komplex, langwierig und teuer ist, und wie sie die Zusammenlegung von Diensten an den Binnengrenzen fördern können) davon aus, dass die Zusammenarbeit über die Harmonisierung der Rechtsvorschriften hinausgehen muss (Förderung von Mehrsprachigkeit usw.).

2.10.

Dessen ungeachtet steht zu befürchten, dass eine Einführung des Mechanismus auf freiwilliger Basis zu einer weiteren Fragmentierung in der europäischen Rechtspraxis und administrativen Struktur führt und dass sich darüber hinaus in der Praxis erhebliche Unterschiede zwischen hochentwickelten und weniger entwickelten Mitgliedstaaten ergeben können. Letztere würden somit nicht nur vor anderen rechtlichen Hindernissen stehen, sondern auch vor größeren Herausforderungen, beispielsweise wirtschaftlicher Art.

2.11.

Der EWSA ist sich darüber im Klaren, dass die Angleichung der Rechtsvorschriften zeitraubend ist, dennoch ermuntert er die Mitgliedstaaten zur Schaffung möglichst homogener Strukturen. Insgesamt ist im Verordnungsvorschlag das Bemühen um eine möglichst kurze Verfahrensdauer zum Schutz der lokalen Akteure festzustellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Komplexität und der bürokratische Zeitbedarf des Mechanismus eine wirkliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit erfordern, damit die vorgegebenen Fristen eingehalten werden können.

2.12.

Auch die Bildung eines neuen institutionellen Systems auf mehreren Ebenen wirft Fragen auf. Es ist wichtig, den operativen Rahmen der Einrichtungen so zu bestimmen, dass auftretende Hindernisse sich nicht auf die Behörden niederschlagen (fehlende Kapazitäten usw.).

2.13.

In diesem Sinne begrüßt der EWSA die koordinierende Rolle der Europäischen Kommission, die durch die im September 2017 geschaffene „Anlaufstelle Grenze“ ermöglicht wird (10).

2.13.1.

Der Ausschuss zeigt sich jedoch besorgt über das Fehlen einer europäischen Finanzierung, was insbesondere für die weniger entwickelten Mitgliedstaaten problematisch sein kann. Daher erachtet er es als wichtig, die Möglichkeit zu schaffen, dass unterschiedliche Fonds mit dem Mechanismus verbunden werden können.

2.14.

Als besonders positiv beurteilt der EWSA den „Bottom-up“-Ansatz der Initiative, bei dem die lokalen Akteure, die tatsächlich die genannten Hindernisse erfahren und bewältigen müssen, die Harmonisierungsverfahren initiieren können.

2.14.1.

Durch ihre Fähigkeit zur Mobilisierung der vor Ort betroffenen Akteure sind die Organisationen der Zivilgesellschaft besonders gut in der Lage, die örtlichen Probleme aufzuzeigen und Vorschläge zu formulieren. Der EWSA ist daher der Auffassung, dass ihre Teilnahme von besonderer Bedeutung ist, und empfiehlt, ihr Fachwissen und ihre Fähigkeit zur Koordinierung zu nutzen (und sich dabei z. B. auf die interregionalen Indikatoren der Handelskammern oder auf Kooperationen zwischen Gewerkschaften oder Interessenvertretungen zu stützen). Ebenfalls für wichtig hält der Ausschuss die Berücksichtigung der Arbeiten der nationalen und regionalen Wirtschafts- und Sozialräte.

2.14.2.

Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Mitgliedstaaten die Zivilgesellschaft in großem Maße unterstützen, sodass auch wirtschaftlich schwächere Akteure die Möglichkeiten kennen und wahrnehmen können.

2.14.3.

Diesbezüglich empfiehlt der EWSA die Förderung der Tätigkeit der von Grenzregionen geschaffenen Organisationen (z. B. die Arbeitsgemeinschaft europäischer Grenzregionen (AGEG), die Mission Opérationnelle Transfrontalière (MOT) oder der Central European Service for Cross-border Initiatives (CESCI)), um die Interessen der Grenzregionen, die Vernetzung der verschiedenen Akteure und den Erfahrungsaustausch unter ihnen sowie die Kooperationsmöglichkeiten zu fördern.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 1.

(2)  http://ec.europa.eu/regional_policy/de/information/publications/communications/2017/boosting-growth-and-cohesion-in-eu-border-regions.

(3)  http://ec.europa.eu/regional_policy/de/policy/cooperation/european-territorial/cross-border/review/.

(4)  Camagni et al., „Quantification of the effects of legal and administrative border obstacles in land border regions“, Europäische Kommission, Brüssel, 2017.

(5)  http://ec.europa.eu/regional_policy/sources/docoffic/official/reports/cohesion7/7cr_de.pdf.

(6)  ABl. C 306 vom 17.12.2007.

(7)  ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 91.

(8)  http://europa.eu/rapid/press-release_IP-18-4002_de.htm.

(9)  http://ec.europa.eu/regional_policy/de/information/publications/communications/2017/boosting-growth-and-cohesion-in-eu-border-regions.

(10)  http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-3270_de.htm.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/128


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung einer Europäischen Arbeitsbehörde“

(COM(2018) 131 final — 2018/0064 (COD))

(2018/C 440/21)

Berichterstatter:

Carlos Manuel TRINDADE

Befassung

Rat, 6.4.2018

Europäisches Parlament, 16.4.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 46, Artikel 91 Absatz 1und Artikel 304 AEUV

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

19.7.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

189/16/29

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die derzeitige Situation des grenzüberschreitenden Arbeitsmarkts bringt erhebliche Probleme für Unternehmen, Arbeitnehmer und Mitgliedstaaten mit sich, insbesondere unlauteren Wettbewerb, Sozialdumping sowie verschiedenartige Rechtsverstöße und Betrugsfälle im Bereich Steuern und soziale Sicherheit. Darüber hinaus haben die unzureichenden Informationen für Unternehmen und Arbeitnehmer, die geringe Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und die begrenzten Kapazitäten der meisten Arbeitsaufsichtsbehörden die bestehenden Schwierigkeiten und Konflikte noch verschärft. Zwar wurden bereits einige Schritte unternommen, doch sind — wie die EU-Organe, der Kommissionspräsident, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), die Sozialpartner und Organisationen der Zivilgesellschaft festgestellt haben — weitere und bessere Maßnahmen notwendig, um diese Situation zu überwinden.

1.2.

Der Vorschlag der Kommission für eine Verordnung zur Errichtung einer Europäischen Arbeitsbehörde ist ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Mobilität, zur Durchsetzung der europäischen und nationalen Rechtsvorschriften, zur Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Arbeitsmarktbehörden und zur Verbesserung des Zugangs zu angemessenen und aktuellen Informationen, zur Bekämpfung von Rechtsverstößen und zur Stärkung des Binnenmarkts, sofern er angemessen umgesetzt wird und die Europäische Arbeitsbehörde die nationalen und europäischen Zuständigkeiten achtet und die Zusammenarbeit und Unterstützung der Mitgliedstaaten gewährleistet sind.

1.3.

Der EWSA unterstützt diese Initiative der Kommission als Beitrag zur Lösung von Problemen im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Mobilität. Er nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission eine Verordnung zur Errichtung einer Europäischen Arbeitsbehörde vorschlägt und betont, dass eine ausgewogene Form der strukturierten Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten verankert wird, um innovative Lösungen zu finden, die im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip einen Mehrwert für Unternehmen, Arbeitnehmer und nationale Arbeitsverwaltungen und Arbeitsaufsichtsbehörden erbringen.

1.4.

Grundsätzlich stimmt der EWSA dem Bemühen der Kommission um eine Verbesserung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit und die Verhinderung illegaler Praktiken zu. Im Einzelnen unterstreicht er die Aspekte, in denen Einigkeit besteht (Ziffer 4.1), formuliert Anmerkungen (Ziffer 4.2) und unterbreitet eine Reihe von Vorschlägen (Ziffer 4.3), von denen er hofft, dass sie Berücksichtigung finden, um so die Wirksamkeit der Tätigkeit der Europäischen Arbeitsbehörde zu verbessern.

1.5.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, bei der Eingliederung der verschiedenen Einrichtungen in die Europäische Arbeitsbehörde mit großer Sorgfalt vorzugehen, sodass deren gesammelte Erfahrungen und Know-how sinnvoll genutzt werden können und Überschneidungen mit anderen Instrumenten und Strukturen vermieden werden. Als Ziel soll letztlich sichergestellt werden, dass die Europäische Arbeitsbehörde effizienter arbeitet. Die Autonomie der Europäischen Arbeitsbehörde muss durch die Zuteilung angemessener Eigenmittel für die Verwirklichung ihrer Aufgaben unbedingt gewährleistet werden. Der EWSA warnt, dass eine mögliche knappe Mittelausstattung die Wirksamkeit der Europäischen Arbeitsbehörde gefährden könnte. Daher muss unter Berücksichtigung dieser Bedenken und der Fragen hinsichtlich der Kostenwirksamkeit der Agentur für eine sachgerechte Verwaltung der Mittel gesorgt werden.

1.6.

Unter den Vorschlägen hebt der EWSA denjenigen hervor, der sich auf die Beteiligung der Sozialpartner bezieht (Ziffer 4.3.3). Lösungen für die Probleme im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Mobilität können am leichtesten gefunden werden, wenn die Sozialpartner auf europäischer, nationaler und sektorspezifischer Ebene aktiver einbezogen werden, was das Ziel des vorliegenden Vorschlags des EWSA ist. Er schlägt vor, die Gruppe der Interessenträger der Europäischen Arbeitsbehörde in einen Beirat umzuwandeln und die Vertretung der Sozialpartner in diesem Gremium zu stärken.

2.   Hintergrund

2.1.

In den letzten Jahren hat die Mobilität der Arbeitskräfte stark zugenommen: Zwischen 2010 und 2017 ist die Zahl der Bürgerinnen und Bürger, die in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Geburtsland arbeiten, von 8 auf 17 Millionen gestiegen, während die Zahl der entsandten Arbeitnehmer von 2010 bis 2016 um 68 % auf 2,3 Millionen angewachsen ist. Daneben sind mehr als 2 Millionen Arbeitnehmer im Straßenverkehrssektor tätig, die Tag für Tag bei der Beförderung von Fahrgästen oder dem Transport von Waren Grenzen zwischen EU-Staaten überqueren (1).

2.2.

Ein wichtiger Aspekt der sozialen Realität in Europa besteht in den Folgen der Armut, die nicht signifikant abgenommen hat und 23,5 % der EU-Bevölkerung betrifft (2). Darunter befinden sich Erwerbslose ohne Perspektive, Menschen mit Behinderung, Einwanderer aus Drittstaaten, Roma und Obdachlose, die zum Teil in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Herkunftsland leben. Für diese Personen könnten leichter Lösungen gefunden werden, wenn die grenzüberschreitenden Arbeitsmärkte effizienter funktionieren würden, da sich dann mehr Beschäftigungsmöglichkeiten bieten würden.

2.3.

Zur Frage der Arbeitsmobilität haben sich die europäischen Institutionen bereits mehrfach geäußert. Der Kommission zufolge „bestehen gewisse Bedenken im Hinblick auf die Einhaltung und wirksame und effiziente Durchsetzung von EU-Bestimmungen fort, die das Vertrauen und die Fairness im Binnenmarkt zu gefährden drohen. Bedenken wurden insbesondere im Hinblick auf mobile Arbeitnehmer geäußert, die oftmals Missbrauch zum Opfer fallen oder denen Rechte verweigert werden, sowie auf Unternehmen, die in einem ungewissen oder unklaren geschäftlichen Umfeld und unter ungleichen Ausgangsbedingungen operieren“ (3). Das Europäische Parlament unterstrich „bei mehreren Gelegenheiten den Bedarf sowohl an vermehrten Kontrollen und einer verstärkten Koordination zwischen den und durch die Mitgliedstaaten, unter anderem auf dem Wege eines vermehrten Informationsaustauschs zwischen den Gewerbeaufsichtsbehörden, als auch an einer aktiven Unterstützung der Ausübung der Freizügigkeitsrechte“ (4). Der Rat betonte das „Erfordernis einer verbesserten Zusammenarbeit auf Verwaltungsebene und des Ausbaus der Unterstützung und des Informationsaustauschs im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Betrug bei der Entsendung von Arbeitnehmern“ und hob „dabei zugleich die Bedeutung präziser und transparenter Informationen gegenüber Diensteanbietern und Arbeitnehmern“ (5) hervor.

2.4.

In seiner Rede zur Lage der Union vom 13. September 2017 fasste Präsident Jean-Claude Juncker die Position der EU-Institutionen so zusammen: „Wir sollten sicherstellen, dass alle EU-Vorschriften zur Mobilität von Arbeitskräften auf gerechte, einfache und wirksame Art und Weise durchgesetzt werden — und zwar mit Hilfe einer neuen europäischen Aufsichts- und Umsetzungsbehörde. Es ist absurd, dass eine Bankenaufsichtsbehörde darüber wacht, ob Bankenstandards eingehalten werden, dass es aber keine gemeinsame Arbeitsbehörde gibt, die für Fairness innerhalb des Binnenmarkts sorgt“ (6).

2.5.

Auch der EWSA hat bereits eine Reihe von Stellungnahmen (7) zu diesem Thema verabschiedet.

2.6.

Zwar wurde in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Initiativen und Vorschlägen zur Förderung einer gerechten Arbeitskräftemobilität auf den Weg gebracht, doch bestehen noch Mängel bei ihrer Umsetzung und Überwachung.

2.7.

Die gegenwärtige Situation, die in einigen Ländern von Missbrauch und illegalen Praktiken geprägt ist, steht im Zusammenhang mit Populismus und hat zu einer antieuropäischen Stimmung und einem zunehmenden Protektionismus geführt, die in den letzten Jahren in vielen Mitgliedstaaten zutage getreten sind.

2.8.

Diese Feststellungen zeigen, dass die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Rechte nicht geachtet werden; dies gilt insbesondere für Artikel 15, 16, 21, 29, 31, 34, 35 und 45.

2.9.

Im Übrigen war die Anerkennung dieser Realität einer der Hauptgründe für die Proklamation der europäischen Säule sozialer Rechte mit dem Ziel, „für Chancengleichheit und gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, faire Arbeitsbedingungen sowie Sozialschutz und Inklusion“ (8) zu sorgen.

2.10.

Diese Bemerkungen der EU-Organe folgen auf Warnungen und Kritiken, die von europäischen Sozialpartnern, Gewerkschaften und Unternehmen sowie verschiedenen nationalen Behörden im Laufe der Jahre vorgebracht wurden, und zwar zusammen mit der Forderung nach politischen Maßnahmen zur Lösung dieses Problems.

2.11.

Anerkanntermaßen gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Aufgaben und Mittel der Arbeitsaufsichtsbehörde. So liegt die Zahl der Aufsichtsbeamten in vielen Fällen unter der von der IAO empfohlenen (9). Andererseits haben der Rückgang der für die Arbeitsaufsicht bereitgestellten Mittel, sprachliche Schwierigkeiten und die unterschiedlichen Digitalisierungsgrade zutage gefördert, dass wenig darüber bekannt ist, wie die grenzüberschreitende Arbeitskräftemobilität in der Praxis funktioniert, was eine Unterstützung der Mitgliedstaaten auf EU-Ebene im Hinblick auf eine wirksamere und proaktivere Zusammenarbeit und Beteiligung an gemeinsamen Initiativen zur Behebung dieser Mängel erforderlich gemacht hat.

2.12.

Die Ergebnisse der öffentlichen Online-Konsultationen (10) und der internen Konsultationen lassen Lücken erkennen, insbesondere eine unzureichende Unterstützung und Beratung der Arbeitnehmer und Unternehmen in grenzüberschreitenden Situationen: So gibt es nur unvollständige und vereinzelte Informationen für die Bürgerinnen und Bürger über ihre Rechte und Pflichten, mangelt es an Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen nationalen Behörden und werden die Vorschriften nicht richtig angewandt und eingehalten. Die einzelnen Konsultationen lieferten ganz unterschiedliche Ergebnisse. Die meisten Teilnehmer befürworteten die Schaffung einer neuen Behörde, die auf eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten durch die Förderung des Austauschs von Informationen und bewährten Verfahren ausgerichtet ist. Gleichzeitig betonten sie, dass die neue Behörde die vertraglich verankerten nationalen Zuständigkeiten achten und keine zusätzlichen Berichterstattungspflichten auferlegen sollte. Es gab auch Bedenken gegen mögliche Überschneidungen mit bereits bestehenden Verwaltungsstrukturen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA unterstützt die Anstrengungen der Kommission zur Bekämpfung von Rechtsverstößen und Betrugsfällen im Bereich der grenzüberschreitenden Mobilität. Die Errichtung einer Europäischen Arbeitsbehörde zu diesem Zweck knüpft an die politischen Leitlinien von Juli 2014 zur Schaffung eines sozialeren Europas an.

3.2.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass eine wirksame Zusammenarbeit zwischen den einzelstaatlichen Behörden und konzertierte Verwaltungsmaßnahmen zur Steuerung des zunehmend europäischen Arbeitsmarkts und gegebenenfalls im Rahmen der Europäischen Arbeitsbehörde — mit einem klaren Mandat, das den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit Rechnung trägt — zur fairen, einfachen und wirksamen Bewältigung der anstehenden großen Herausforderungen im Bereich der grenzüberschreitenden Mobilität notwendig sind (11).

3.3.

Der EWSA teil die Ansicht der Kommission, dass „die grenzüberschreitende Arbeitskräftemobilität in der EU […] Einzelpersonen, Volkswirtschaften und der Gesellschaft als Ganzes zugute [kommt]“ und dass die Vorteile von „klare[n], faire[n] und wirksam umgesetzte[n] Rechtsvorschriften zur grenzüberschreitenden Arbeitskräftemobilität und zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit [abhängen]“ (12).

3.4.

Der EWSA hat die Übereinstimmung des Kommissionsvorschlags mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, dem Übereinkommen des Europäischen Parlaments und des Rates über die Rationalisierung der dezentralen europäischen Agenturen und dem Grundsatz der besseren Rechtsetzung sowie das Verhältnis zwischen der vorgeschlagenen Initiative und der Plattform zur Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit geprüft und ist zu dem Schluss gelangt, dass diese Kriterien erfüllt sind.

3.5.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Entscheidung der Kommission für eine operative Lösung zur Errichtung einer neuen Agentur auf der Grundlage der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und unter Nutzung der bestehenden Strukturen unter den unterschiedlichen erwogenen Möglichkeiten (13) diejenige ist, die am besten geeignet ist und den derzeit bestehenden Erfordernissen gerecht wird. Er teilt auch die Auffassung der Kommission, dass eine Verordnung zur Errichtung der Europäischen Arbeitsbehörde — sofern sie gebilligt wird — die größte Rechtssicherheit schaffen könnte und am damit am probatesten erscheint.

3.6.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Errichtung der Europäischen Arbeitsbehörde die vorgenannten erheblichen Lücken schließen könnte, sofern die Zusammenarbeit und Unterstützung aller Mitgliedstaaten gewährleistet sind. Der EWSA betont, dass sich die Europäische Arbeitsbehörde auf die Verbesserung der Arbeitsmobilität, die Anwendung der Vorschriften, die Bekämpfung der Rechtsverstöße und die Stärkung des Binnenmarkts durch eine intensivere grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten konzentrieren sollte. Je genauer die Europäische Arbeitsbehörde ihr Mandat definiert und je weniger sie von ihren Zielsetzungen abweicht, desto besser wird verhindert, dass ihre Bedeutung falsch dargestellt oder negativ interpretiert wird.

3.7.

Der EWSA befürwortet generell den Verordnungsvorschlag der Kommission, insbesondere die Ziele (Artikel 2), die Aufgaben (Artikel 5), die Informationen zur grenzüberschreitenden Arbeitskräftemobilität (Artikel 6), den Zugang zu Diensten im Bereich der grenzüberschreitenden Arbeitskräftemobilität (Artikel 7), die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwischen Mitgliedstaaten (Artikel 8) und die Zusammenarbeit in Fällen grenzüberschreitender Arbeitsmarktstörungen (Artikel 14), weil darin Aufgaben der Europäischen Arbeitsbehörde festgelegt sind, die entscheidend dazu beitragen können, die Einhaltung der Arbeits- und Sozialrechte unter gleichen Bedingungen im Aufnahmeland, die Bekämpfung von Sozialdumping, einen gesunden Wettbewerb zwischen Unternehmen und die Betrugsbekämpfung im Bereich der grenzüberschreitenden Mobilität sicherzustellen. Diese Probleme können von den Mitgliedstaaten allein nicht gelöst werden.

3.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass durch diese Ziele und Aufgaben die berechtigten Zweifel hinsichtlich der tatsächlichen Funktion und der Rolle des Europäischen Aufsichtsbehörde ausgeräumt werden.

3.9.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass alle Voraussetzungen dafür erfüllt sind, dass die Tätigkeit der Europäischen Arbeitsbehörde eine positive Wirkung erzielt, da sie dazu beiträgt, dass die Mitgliedstaaten und Sozialpartner eine wirksame operative und technische Unterstützung zur Bekämpfung von Rechtsverstößen, Missbräuchen und Betrugsfällen im Bereich der Arbeitskräftemobilität erhalten. Die Anwendung der Rechte von Arbeitnehmern und Bürgern auf Gleichbehandlung und auf gleichen Zugang zu Beschäftigungsgelegenheiten und sozialer Sicherung wird gewährleistet durch die Bereitstellung relevanter Informationen und Dienstleistungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwischen nationalen Behörden, die Durchführung gemeinsamer und konzertierter Kontrollen und die Kooperation bei Streitigkeiten oder Störungen des Arbeitsmarkts mit grenzüberschreitenden Auswirkungen, z. B. Unternehmensumstrukturierungen, die mehrere Mitgliedstaaten betreffen.

3.10.

Nach Ansicht des EWSA sollte die Europäische Arbeitsbehörde Anregung und Anreiz für den Ausbau der Kapazitäten der nationalen Behörden sein, vor allem hinsichtlich der Arbeitsinspektionen und ihrer Mitarbeiter wie auch der Information und Beratung von Unternehmen und Arbeitnehmern, damit diese die in grenzüberschreitenden Situationen geltenden Vorschriften kennen.

3.11.

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der neuen Arbeitsformen, die aus technischen und digitalen Innovationen in Unternehmen und auf dem Arbeitsmarkt resultieren und die sich natürlich in Situationen der grenzüberschreitenden Mobilität widerspiegeln, weshalb die Europäische Arbeitsbehörde dieser neuen Realität Rechnung tragen muss.

3.12.

Der EWSA hofft, dass die aus der Konzentration von Erfahrungen, Kapazitäten und Aufgaben sowie der für die Europäische Arbeitsbehörde vorgesehenen Zusammenarbeit resultierenden potenziellen Synergieeffekte tatsächlich erreicht und dabei Doppelgleisigkeiten sowie mangelnde Klarheit vermieden werden, sofern sie

3.12.1.

verschiedene bereits existierende Strukturen einbindet, namentlich das Europäische Netz der Arbeitsvermittlungen (EURES), der Fachausschuss für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, der Expertenausschuss für die Entsendung von Arbeitnehmern, der Fachausschuss, der Rechnungsausschuss und der Vermittlungsausschuss der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und die Europäische Plattform zur Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit;

3.12.2.

mit den für Arbeitsfragen zuständigen europäischen Agenturen zusammenarbeitet, d. h. mit dem Cedefop (14), der ETF (15), der EU-OSHA (16), der Eurofound (17), der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, dem Beratenden Ausschuss für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und dem Beratenden Ausschuss für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer.

3.12.3.

Allerdings wünscht und hofft der EWSA, dass diese Integration und verstärkte Zusammenarbeit einen echten Fortschritt in puncto Effektivität bringen und dass die bewährten Methoden und die bisherigen Arbeiten in den betreffenden Bereichen nicht beeinträchtigt werden. Der EWSA stellt fest, dass es in den Benelux-Ländern mit der Plattform zur Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit und der Schaffung eines europäischen Personalausweises in der Baubranche vorbildliche Verfahren gibt, die beibehalten und so weit wie möglich verbreitet werden sollten. Darauf aufbauend sollten weitere innovative Initiativen dieser Art auf den Weg gebracht werden. Ein Beispiel für solche innovative Initiativen ist die Schaffung einer europäischen Sozialversicherungsnummer im Anschluss an die derzeitige Aktualisierung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (18) und nach Abschluss der Arbeiten für den elektronischen Austausch von Sozialversicherungsdaten (EESSI).

3.13.

Der EWSA betont, dass bei der Arbeitsweise und Verwaltung der Europäischen Arbeitsbehörde (Artikel 24) die Beteiligung der Sozialpartner und anderer sozialer Interessengruppen vorgesehen werden sollte. Er unterstreicht jedoch, dass die vorgesehene Beteiligung eindeutig unzureichend ist. Er hofft, dass die Beteiligung so gestaltet werden kann, dass sie einen echten Mehrwert zur Lösung der konkreten Probleme der Arbeitskräftemobilität bringt.

3.14.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Europäische Arbeitsbehörde das Subsidiaritätsprinzip beachten muss und in das Funktionieren der Arbeitsmärkte der Mitgliedstaaten nicht eingreifen darf, insbesondere was die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern, die Tarifverhandlungen auf allen Ebenen, die Autonomie der Sozialpartner und die Arbeitsaufsichtsbehörden angeht.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der EWSA betont und befürwortet folgende Aspekte:

4.1.1.

Konzertierte und gemeinsame Kontrollen mit den nationalen Behörden in Fällen von Nichteinhaltung, Betrug oder Missbrauch sollten gefördert werden, allerdings im Einklang mit den Rechtsvorschriften der betreffenden Mitgliedstaaten. Diese Kontrollen sollten auf freiwilliger Grundlage erfolgen, um den Befugnissen der Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass durch die Nichtteilnahme eines Mitgliedstaates (die stets zu begründen ist) die Wirksamkeit der Maßnahmen der Europäischen Arbeitsbehörde gefährdet sein kann.

4.1.2.

Die Europäische Arbeitsbehörde hat nicht das Initiativrecht für die Durchführung konzertierter und gemeinsamer Kontrollen; dies fällt in die Zuständigkeit der einzelstaatlichen Behörden. Sie kann aber den Mitgliedstaaten die Durchführung solcher Kontrollen vorschlagen, wenn sie grenzüberschreitende Rechtsverstöße, Missbräuche oder Betrugsfälle feststellt.

4.1.3.

Die Europäische Arbeitsbehörde übernimmt im Zusammenwirken mit dem zentralen digitalen Zugangstor und im Rahmen von IMI und EESSI die Zuständigkeit für das Europäische Portal zur beruflichen Mobilität.

4.1.4.

Die Europäische Arbeitsbehörde anerkennt und würdigt die Autonomie der Sozialpartner und der Tarifverhandlungen, insbesondere der Bedeutung ihrer aktiven Beteiligung an der Verwirklichung der jeweiligen Ziele.

4.1.5.

Es ist wichtig, dass die Europäische Arbeitsbehörde Gewerkschaften und Unternehmen — insbesondere im Informatik- und Technikbereich wie auch in Fällen grenzüberschreitender Arbeitskämpfe — unterstützt und damit die grundlegende Rolle anerkennt, die sie bei der Einhaltung der Rechtsvorschriften spielen.

4.1.6.

Die Europäische Arbeitsbehörde übernimmt die Mediation bei Streitigkeiten zwischen nationalen Behörden, insbesondere im Bereich der Sozialversicherung, wobei dieser Prozess präzisiert werden muss.

4.1.7.

Die nationalen Verbindungsbeamten werden als wichtige Bindeglieder zu den Mitgliedstaaten die Effizienz der Europäischen Arbeitsbehörde sicherlich erhöhen. Es sollten jedoch ihre funktionellen Beziehungen zu den Herkunftsmitgliedstaaten geklärt werden, und zwar nicht nur zur Verwaltung, sondern auch zu den nationalen Sozialpartnern.

4.1.8.

Die Autonomie der Europäischen Arbeitsbehörde muss durch die Zuteilung angemessener Eigenmittel für die Verwirklichung ihrer Aufgaben unbedingt gewährleistet werden. Der EWSA warnt, dass eine mögliche knappe Mittelausstattung die Wirksamkeit der Europäischen Arbeitsbehörde gefährden könnte. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Bedenken hinsichtlich der Kostenwirksamkeit der Agentur, weshalb für eine sachgerechte Verwaltung der Mittel gesorgt werden muss.

4.2.

Angesichts der Aufgaben, die der Europäischen Arbeitsbehörde übertragen werden, ist der EWSA der Ansicht, dass

4.2.1.

die Streitigkeiten zwischen nationalen Verwaltungen in den Bereichen Arbeitskräftemobilität und Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Ersuchen und in Abstimmung mit den nationalen Behörden der Mitgliedstaaten durch die Mediation der Europäischen Arbeitsbehörde beigelegt werden können;

4.2.2.

die Existenz einer solchen Mediation nicht die etwaige Einschaltung der zuständigen Gerichte durch die beteiligten Parteien, Sozialpartner oder nationalen Behörden infrage stellen darf;

4.2.3.

es notwendig ist, das Zusammenwirken und die Zusammenarbeit der Europäischen Arbeitsbehörde mit den mit Arbeitsfragen und der Erfüllung und Anwendung von Rechtsvorschriften befassten Agenturen und anderen Gremien der EU zu klären;

4.2.4.

die Errichtung der Europäischen Arbeitsbehörde nicht zu höheren zusätzlichen Verwaltungskosten für Unternehmen und Arbeitnehmer führen darf.

4.3.

Angesichts der notwendigen Konkretisierung der Ziele, die der Errichtung der Europäischen Arbeitsbehörde zugrunde liegen, regt der EWSA an, im Kommissionsvorschlag

4.3.1.

die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, mit der Europäischen Arbeitsbehörde zusammenzuarbeiten, indem sie in den Bereichen Rechtsvorschriften, soziale Sicherheit und Steuerwesen Informationen und Unterstützung bereitstellen und den Zugang zu den nationalen Datenbanken ermöglichen, stärker zu verdeutlichen und außerdem klarzustellen, wie die Kosten zwischen mehreren Mitgliedstaaten aufgeteilt werden, insbesondere im Falle gemeinsamer Kontrollen.

4.3.2.

Die Europäische Arbeitsbehörde muss mit ihrer Tätigkeit und gegebenenfalls durch enge Beziehungen zu Europol und Eurojust zur Betrugsbekämpfung beitragen;

4.3.3.

Artikel 24 der Verordnung bezüglich der Beteiligung der Sozialpartner aufgrund eindeutiger Mängel wie folgt abzuändern:

Es sollte ein Beirat der Europäischen Arbeitsbehörde als Ersatz der „Gruppe der Interessenträger“ eingesetzt werden.

Über die Zuständigkeiten gemäß Artikel 24 hinaus sollte der Beirat befugt sein, zu dem jährlichen Geschäftsplan für die Mandatsperiode, dem Tätigkeitsbericht und dem Vorschlag des Verwaltungsrates zur Ernennung des Exekutivdirektors Stellung zu nehmen.

Dem Beirat sollten 17 Mitglieder angehören: 12 Vertreter der europäischen Sozialpartner (einschließlich der relevanten Branchen Bauwirtschaft, Landwirtschaft und Verkehr), drei Vertreter der Kommission, der Vorsitzende des Verwaltungsrates, der dem Beirat vorsteht, und der Exekutivdirektor.

Der Beirat sollte mindestens dreimal jährlich zusammenkommen;

4.3.4.

die Schaffung einer Datenbank durch die Europäische Arbeitsbehörde vorzusehen, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellte aktuelle Informationen über von Unternehmen begangene Rechtsverstöße im Bereich der grenzüberschreitenden Mobilität enthält;

4.3.5.

anzuregen, dass sich die Europäischen Arbeitsbehörde mit der Einführung der europäischen Sozialversicherungsnummer beschäftigen wird, auch wenn das Initiativrecht in diesem Bereich bei der Kommission liegt;

4.3.6.

festzulegen, dass die Europäische Arbeitsbehörde einen Jahresbericht über die grenzüberschreitende Mobilität anfertigt, einschließlich einer Bewertung der Risiken und Möglichkeiten, insbesondere in den schutzbedürftigsten geografischen Gebieten und/oder Branchen.

Brüssel, den 20. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  SWD(2018) 68 final, S. 7.

(2)  Von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohte Personen, 2016 (Eurostat, 2018).

(3)  COM(2018) 131 final, S. 1.

(4)  COM(2018) 131 final, S. 1 und 2, 2015/2255(INI), 2013/2112(INI), 2016/2095(INI).

(5)  COM(2018) 131 final, S. 2.

(6)  Die Rede zur Lage der Union 2017 ist verfügbar unter: https://ec.europa.eu/commission/state-union-2017_de.

(7)  ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 81; ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 11; ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 85; ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 45.

(8)  COM(2017) 250, S. 4.

(9)  Gemäß dem IAO-Übereinkommen Nr. 81 wird empfohlen, dass in den Industrieländern ein Aufsichtsbeamter auf 10 000 Arbeitnehmer kommen sollte (297. Tagung der IAO, November 2006).

(10)  COM(2018) 131 final.

(11)  Die Kommission nennt in diesem Zusammenhang folgende Kernherausforderungen: die Existenz von Sozialdumping-Fällen, die Nichtanwendung der geltenden Rechtsvorschriften und betrügerische Praktiken in grenzüberschreitenden Situationen; die unzulängliche Unterrichtung, Unterstützung und Beratung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber in grenzüberschreitenden Situationen in Bezug auf Rechte und Pflichten; der unzureichende Zugang zu und Austausch von Informationen zwischen einzelstaatlichen Behörden, die für unterschiedliche Bereiche der Arbeitskräftemobilität und die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zuständig sind; die unzureichende Kapazität nationaler Behörden zur Organisation der Zusammenarbeit mit den Behörden anderer Mitgliedstaaten; die unzulänglichen oder fehlenden Mechanismen für gemeinsame grenzüberschreitende Vollzugsmaßnahmen; der Mangel an grenzüberschreitenden Verfahren zur Vermittlung zwischen Mitgliedstaaten auf allen Gebieten der Arbeitskräftemobilität und der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit.

(12)  COM(2018) 131 final.

(13)  SWD(2018) 68 final und SWD (2018) 69 final, Kapitel B.

(14)  Europäisches Zentrum für die Förderung der Berufsbildung.

(15)  Europäische Stiftung für Berufsbildung.

(16)  Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.

(17)  Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen.

(18)  ABl. L 166 vom 30.4.2004, S. 1, Berichtigung im ABl. L 200 vom 7.6.2004, S.1.


ANHANG

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen (Art. 39 Abs. 2 der Geschäftsordnung):

Ziffer 1.1.

Ändern:

1.1

Die derzeitige Situation des grenzüberschreitenden Arbeitsmarkts bringt erhebliche Probleme für Unternehmen, Arbeitnehmer und Mitgliedstaaten mit sich, insbesondere unlauteren Wettbewerb, Sozialdumping sowie verschiedenartige Rechtsverstöße und Betrugsfälle im Bereich Steuern und soziale Sicherheit. Darüber hinaus haben die unzureichenden Informationen für Unternehmen und Arbeitnehmer, die geringe Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und die begrenzten Kapazitäten der meisten Arbeitsaufsichtsbehörden die bestehenden Schwierigkeiten und Konflikte noch verschärft. Zwar wurden bereits einige Schritte unternommen, doch sind — wie die EU-Organe, der Kommissionspräsident, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), die Sozialpartner und Organisationen der Zivilgesellschaft festgestellt haben — weitere und bessere Maßnahmen notwendig, um diese Situation zu überwinden.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

93

Nein-Stimmen:

124

Enthaltungen:

13

Ziffer 3.7.

Ändern:

3.7

Der EWSA befürwortet generell den Verordnungsvorschlag der Kommission, insbesondere die Ziele (Artikel 2), die Aufgaben (Artikel 5), die Informationen zur grenzüberschreitenden Arbeitskräftemobilität (Artikel 6), den Zugang zu Diensten im Bereich der grenzüberschreitenden Arbeitskräftemobilität (Artikel 7), die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwischen Mitgliedstaaten (Artikel 8) und die Zusammenarbeit in Fällen grenzüberschreitender Arbeitsmarktstörungen (Artikel 14), weil darin Aufgaben der Europäischen Arbeitsbehörde festgelegt sind, die entscheidend dazu beitragen können, die Einhaltung der Arbeits- und Sozialrechte unter gleichen Bedingungen im Aufnahmeland, die Bekämpfung illegaler Praktiken von Sozialdumping, einen gesunden Wettbewerb zwischen Unternehmen und die Betrugsbekämpfung im Bereich der grenzüberschreitenden Mobilität sicherzustellen. Diese Probleme können von den Mitgliedstaaten allein nicht gelöst werden.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

96

Nein-Stimmen:

121

Enthaltungen:

11


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/135


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zum Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbstständige“

(COM(2018) 132 final)

(2018/C 440/22)

Berichterstatterin:

Giulia BARBUCCI

Befassung

Europäische Kommission, 14.5.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 292 in Verbindung mit Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe c, Artikel 153 Absatz 2 Unterabsatz 3 und Artikel 352 AEUV

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

19.7.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

148/39/32

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist im Einklang mit grundlegenden internationalen Verträgen der Ansicht, dass jede Person in allen Lebensphasen das Recht auf ein würdevolles Leben, sozialen Schutz sowie Schutz vor allen großen Gefährdungen am Arbeitsplatz genießen sollte, einschließlich Gesundheitsversorgung und des Rechts auf einen angemessenen Ruhestand im Alter. Eine adäquate Absicherung für Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen und Selbstständige würde zu diesem Ziel beitragen und den Grundsätzen der europäischen Säule sozialer Rechte entsprechen, die jetzt verwirklicht werden müssen. Es muss gewährleistet werden, dass diese Personengruppen Zugang zu Krankheits- und Gesundheits-, Mutter- und Elternschafts-, Invaliditäts- und Altersversorgungsleistungen haben und Beiträge ins System leisten.

1.2.

Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass der Zugang zu Sozialschutzsystemen ein entscheidendes Element für gerechtere Gesellschaften und eine grundlegende Komponente für produktive, gesunde und aktive Arbeitskräfte ist. Die Wiederherstellung sozialer Nachhaltigkeit (1) als Grundsatz bei der Gestaltung und Umsetzung von EU-Maßnahmen, mit dem übergeordneten Ziel, gleiche Ausgangsbedingungen im Sozialbereich zu schaffen, sodass alle nach gleichen Regeln und unter vergleichbaren Bedingungen Zugang zum Sozialschutz erhalten, sollte ein gemeinsames Ziel von Institutionen aller Ebenen, der organisierten Zivilgesellschaft und der Sozialpartner sein.

1.3.

Der EWSA empfiehlt, dass die Mitgliedstaaten die Empfehlung erforderlichenfalls mittels spezieller Aktionspläne umsetzen, die u. a. auf jene Schwachstellen abzielen, die in der Folgenabschätzung der Europäischen Kommission zu der Empfehlung umrissen werden, und auch darüber Bericht erstatten, wobei die Sozialpartner und die organisierte Zivilgesellschaft umfassend beteiligt werden sollten.

1.4.

Der EWSA begrüßt die wichtigsten Auswirkungen, die von der Umsetzung der Empfehlung erwartet werden, da sie Bürgern, Arbeitnehmern und Unternehmen zugutekommen werden: u. a. eine stärkere Risikoteilung, ein höheres Maß an Einkommenssicherheit, eine Steigerung der Arbeitsmarktdynamik, eine höhere Produktivität, eine bessere Ressourcenzuweisung sowie eine Verringerung von Unsicherheit und Armut für den Einzelnen.

1.5.

„Der EWSA plädiert für eine umfassende Lösung der Problematik der Anerkennung von Sozialversicherungsansprüchen für Arbeitnehmer in den neuen Formen der Beschäftigung; sie könnte im Rahmen einer allgemeinen Reform der Finanzierung des Systems gefunden werden. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, nach Lösungen für die Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherheit zu suchen und dabei die Ressourcen so einzusetzen, dass die langfristige Tragfähigkeit gewährleistet ist und zugleich Personen Zugang verschafft wird, die in den neuen Formen der Arbeit tätig sind“ (2).

1.6.

Der EWSA empfiehlt, dass Initiativen, die im Rahmen der Empfehlung ergriffen werden, angemessene Leistungen und Vorschriften enthalten sollten, einschließlich der Absicherung von Menschen, die die unteren Schwellenwerte für Ansprüche nicht erreichen können, insbesondere arbeitsunfähige Menschen und deren Familien. Der EWSA bedauert, dass das Grundeinkommen in der Empfehlung verworfen wurde, wie in der Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen — Folgenabschätzung (3) dargelegt wird. Der EWSA hatte bereits 2013 eine europäische Richtlinie zur Einführung eines europäischen Mindesteinkommens gefordert, da dies „zum wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt, zum Schutz der grundlegenden Menschenrechte, zu einem Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen und zu einer gerechten Verteilung von Ressourcen und Einkommen beitragen“ würde (4).

1.7.

Alter und Geschlecht spielen eine wichtige Rolle beim Ausschluss von Menschen aus Sozialversicherungssystemen: Diese Faktoren sollten bei der Festlegung von Maßnahmen im Rahmen der Empfehlung besonders berücksichtigt werden.

1.8.

Der EWSA weist darauf hin, dass vor allem dann, wenn Maßnahmen auf der nationalen Ebene festgelegt und umgesetzt werden, die Wirksamkeit der Absicherung und des Zugangs zu den Systemen gewährleistet und aufrechterhalten werden sollte; die Übertragbarkeit sozialer Rechte sollte berücksichtigt werden, wenn eine Person zwischen unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen auf dem Arbeitsmarkt und zwischen verschiedenen Systemen und Kumulierungen von Ansprüchen wechselt.

1.9.

Der EWSA hält es für erforderlich, die Komplexität der Rechtsvorschriften und andere Verwaltungsaspekte anzugehen, um vollständige Transparenz zu gewährleisten, damit sich die Menschen ihrer Pflichten und Rechte stärker bewusst sind und diese besser kennen; dies könnte auch durch eine höhere Qualität der statistischen Daten erfolgen (aufgeschlüsselt nach Art des Beschäftigungsverhältnisses, Alter, Geschlecht, Behindertenstatus, Staatsangehörigkeit usw.).

2.   Einleitung

2.1.

Die Empfehlung zum Sozialschutz ist eine der Initiativen, die von der Kommission im Rahmen der europäischen Säule sozialer Rechte ergriffen wurden. Die Empfehlung und ihre Grundprinzipien stehen im Einklang und sind kohärent mit mehreren der zwanzig zentralen Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte und der Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen. Grundsatz 12 besagt insbesondere Folgendes: „Unabhängig von Art und Dauer ihres Beschäftigungsverhältnisses haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und unter vergleichbaren Bedingungen Selbstständige das Recht auf angemessenen Sozialschutz“ (5).

2.2.

Hauptziel der Initiative ist es, allen Arbeitnehmern, insbesondere den Arbeitnehmern in atypischen Beschäftigungsverhältnissen, sowie Selbstständigen konkreten und wirksamen Zugang zu Sozialschutzmaßnahmen zu garantieren. Außerdem soll sie die Mitgliedstaaten dabei unterstützen bzw. deren Bemühungen ergänzen, Lücken zu schließen und allen Erwerbstätigen unabhängig von ihrem Beschäftigungsstatus fairen und angemessenen Zugang zum Sozialschutz zu gewähren (6).

2.3.

Die Empfehlung zielt in erster Linie auf „die Beseitigung oder den Abbau der Hindernisse ab, die Sozialschutzsysteme in ihrer Fähigkeit beeinträchtigen, einen angemessenen Sozialschutz von Personen unabhängig von der Art ihres Beschäftigungsverhältnisses oder des Arbeitsmarktstatus zu gewährleisten, und achtet gleichzeitig die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit“ (7).

2.4.

Außerdem soll mit dieser Empfehlung sichergestellt werden, dass alle Zugang zu einem angemessenen Sozialschutzniveau haben: „[D]ie Schwellenwerte hinsichtlich Einkommen und Dauer (Beitragszeiten, Wartezeiten, Mindestarbeitszeiten, Dauer der Leistungsgewährung) können einigen Gruppen atypischer Arbeitnehmer und den Selbstständigen den Zugang zum Sozialschutz ungebührlich erschweren.“ (8)

2.5.

Der EWSA bedauert, dass das Grundeinkommen in der Empfehlung des Rates verworfen wurde. Die OECD zog in einer jüngeren Untersuchung (9) folgendes Fazit: „Angesichts des raschen Wandels des Arbeitsmarkts liefern die laufenden Diskussionen rund um das Grundeinkommen jedoch wertvolle Impulse hinsichtlich der von den Gesellschaften gewünschten Art von Sozialschutz.“ Der EWSA äußerte in einer früheren Stellungnahme (10) die Ansicht, dass ein „europäisches Mindesteinkommen zum wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt, zum Schutz der grundlegenden Menschenrechte, zu einem Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen und zu einer gerechten Umverteilung von Ressourcen und Einkommen beitragen wird“; ferner sprach er sich für die Annahme einer Rahmenrichtlinie aus sowie für die „Prüfung von Finanzierungsmöglichkeiten für ein europäisches Mindesteinkommen“.

2.6.

Die in der Empfehlung umrissenen Maßnahmen und Grundsätze zielen einerseits darauf ab, den Zugang aller Erwerbstätigen (insbesondere von Arbeitnehmern in atypischen Beschäftigungsverhältnissen und von Selbstständigen) zum Sozialschutz zu gewährleisten, und, andererseits, sollen sie sicherstellen, dass unter allen Umständen ein angemessener Sozialschutz garantiert ist.

2.7.

Europäische und nationale Sozialpartner haben sich in früheren Vereinbarungen, gemeinsamen Erklärungen und nationalen Tarifverhandlungen intensiv mit der Sicherstellung des Zugangs aller Erwerbstätigen zu angemessenem Sozialschutz beschäftigt. So wird zum Beispiel in den Präambeln zu Vereinbarungen der europäischen Sozialpartner über befristete Arbeitsverträge und Teilzeitarbeit darauf hingewiesen, dass dafür Sorge zu tragen ist, dass die Regelungen bezüglich des Sozialschutzes so angepasst werden, dass sie den entstehenden flexiblen Beschäftigungsformen Rechnung tragen. In ihrem Arbeitsprogramm 2015/2016 (11) haben die europäischen Sozialpartner darauf hingewiesen, dass die Nachhaltigkeit und Zugänglichkeit der Sozialschutzsysteme für alle Bürgerinnen und Bürger sichergestellt werden müssen.

2.8.

Die europäischen Sozialpartner haben in ihrer 2015 ausgehandelten eingehenden Beschäftigungsanalyse („In-depth employment analysis“) (12) ihre Sorge zum Ausdruck gebracht und empfohlen, dass die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission besser zusammenarbeiten sollten, um Korruption, Steuerbetrug und Steuerhinterziehung zu bekämpfen, die negative Auswirkungen auf die Sozialsysteme sowie verantwortungsvolle Unternehmen und Einzelpersonen haben. Außerdem empfahlen sie den Mitgliedstaaten, in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern zu überprüfen, wo es bei der Nachhaltigkeit und Angemessenheit ihrer Sozialschutzsysteme Defizite gibt, und Anstrengungen zu unternehmen, um sicherzustellen, dass diese Systeme den Bedürfnissen der Menschen, insbesondere der sozial schwächsten und am stärksten von sozialer Ausgrenzung bedrohten, auch in Zukunft noch gerecht werden (13).

3.   Allgemeine Bemerkungen: Kontext

3.1.

Der Wandel der Arbeitswelt: Die Digitalisierung, der demografische Wandel, die Energiewende, die Globalisierung und die neuen Beschäftigungsformen stellen die Regierungen, die organisierte Zivilgesellschaft und die Sozialpartner vor Herausforderungen, können aber auch Chancen bedeuten.

3.2.

Der Wandel der Arbeitsmärkte: Aufgrund von Strukturreformen kam es zu einer Diversifizierung der Arbeitsmärkte, weswegen derzeit manche Beschäftigungsverhältnisse in einigen Mitgliedstaaten von sozialen Basisschutzmaßnahmen ausgeschlossen sind. Es gibt eine zunehmende Vielfalt von Verträgen und erhebliche nationale Unterschiede in Bezug auf Kontext und Systeme: Im Jahr 2016 waren 14 % der Erwerbstätigen in der EU selbstständig, 8 % hatten befristete Vollzeitverträge, 4 % befristete Teilzeitverträge und 13 % waren Festangestellte in Teilzeit (14).

3.3.

Zwar unterscheiden sich die Sozialschutzsysteme der einzelnen Länder, doch stehen sie alle vor ähnlichen Herausforderungen: Wandel des Arbeitsmarktes und Änderungen bei der Gesetzgebung, Alterung der Erwerbsbevölkerung und Tendenz zur Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters, qualitativ und quantitativ geringe Erwerbsbeteiligung von jungen Menschen und Frauen, Eingliederung der arbeitsmarktfernsten bzw. am wahrscheinlichsten dauerhaft ausgegrenzten Menschen in den Arbeitsmarkt, Digitalisierung und neue Beschäftigungsformen. In einigen Sozialschutzsystemen sind die Sozialversicherungsbeiträge Bestandteil des Entgelts der Arbeitnehmer. Dies muss bei der Bewältigung dieser neuen Herausforderungen berücksichtigt werden.

3.4.

Die Rolle des Geschlechts in Bezug auf den Eintritt in bzw. den Verbleib im Arbeitsmarkt sowie auf Integration/Ausschluss beim Zugang zum Sozialschutz muss bewertet werden. Neben jungen Menschen und Migranten sind Frauen in neuen Beschäftigungsformen häufig überdurchschnittlich vertreten (15), was Folgen für ihre Sozialschutzansprüche hat.

3.5.

Auch das Alter spielt eine wichtige Rolle beim Zugang zum Sozialschutz: Jüngere Menschen sind häufiger atypisch beschäftigt („Der Anteil jüngerer Arbeitnehmer im Alter von 20 bis 30 Jahren mit befristeten Verträgen oder ‚sonstigen Verträgen oder ohne Vertrag‘ ist doppelt so hoch wie der anderer Altersgruppen.“ (16)). Die Übergänge zwischen Ausbildung und herkömmlichen Beschäftigungsformen sind länger geworden und können einen Stigmatisierungseffekt sowohl in Bezug auf den Zugang zum Sozialschutz als auch auf künftige Rentenansprüche zur Folge haben, auch aufgrund der extrem zerstückelten beruflichen Laufbahn (17).

3.6.

Lücken beim Zugang zum Sozialschutz, die auf den Arbeitsmarktstatus und die Art des Beschäftigungsverhältnisses zurückzuführen sind, können Menschen davon abhalten, von einem Arbeitsmarktstatus in einen anderen zu wechseln, wenn ein solcher Wechsel den Verlust von Ansprüchen bedeutet, und somit letztlich zu einem geringeren Wachstum der Arbeitsproduktivität führen. Daher sind derartige Lücken wohl auch kaum geeignet, unternehmerisches Handeln zu fördern, und können dem Wettbewerb und nachhaltigen Wachstum entgegenstehen.

3.7.

Darüber hinaus können diese Lücken auch zum Missbrauch der unterschiedlichen Beschäftigungsstatus und zu unfairen Wettbewerbsbedingungen zwischen Unternehmen führen, die weiterhin Beiträge zum Sozialschutz leisten, und jenen, die nicht dazu beitragen.

3.8.

Auf längere Sicht steht hier die soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit der nationalen Sozialschutzsysteme auf dem Spiel, vor allem angesichts der derzeitigen demografischen Entwicklung und der Arbeitslosenraten.

4.   Besondere Bemerkungen: Wesentlicher Inhalt der Empfehlung

4.1.

Der EWSA weist darauf hin, dass zwar mit früheren Rechtsvorschriften auf europäischer Ebene (unter anderem mit den Richtlinien 2010/41/EU, 2014/50/EU und (EU) 2016/2341 versucht wurde, die Lücken in Sozialschutzsystemen zu schließen, erste Erkenntnisse — zum Beispiel zu der Richtlinie 2010/41/EU — aber zeigen, dass es in einigen Fällen nicht gelungen ist, einen wirksamen Zugang Selbstständiger zum Sozialschutz sicherzustellen (18).

4.2.

Der EWSA weist ferner darauf hin, dass die Europäische Kommission im Jahreswachstumsbericht 2018 betont, dass Einkommensersatz mittels Sozialschutz von entscheidender Bedeutung ist, um Ungleichheiten zu verringern und sozialen Zusammenhalt sowie inklusives Wachstum zu fördern (19).

4.3.

Die Zahl der Selbstständigen in Europa ist in den vergangenen Jahren insgesamt leicht gesunken (20). Neben dem ungenügenden bzw. fehlenden Schutz dieser Erwerbstätigen im Fall von Krankheit sind hierfür auch Gründe ausschlaggebend, die mit den persönlichen Lebensumständen zusammenhängen (Mutterschaft, Vaterschaft, familiäre Betreuungs- und Pflegepflichten usw.). Daher könnte ein angemessener Schutz zu mehr und besserer Selbstständigkeit führen. Allerdings ist es unerlässlich, dass Institutionen auf allen Ebenen sämtliche Formen von Scheinselbstständigkeit auch grenzüberschreitend bekämpfen.

4.4.

Der EWSA begrüßt und unterstützt diesbezüglich die in die Empfehlung aufgenommene Entscheidung, weiter zu gehen als in der Folgenabschätzung ursprünglich vorgeschlagen, d. h. zu empfehlen, die formelle Absicherung für alle Arbeitnehmer verpflichtend zu machen und dafür Sorge zu tragen, dass die Selbstständigen Zugang zum Sozialschutz haben, indem die formelle Absicherung für Selbstständige verpflichtend gemacht wird für Leistungen bei Krankheit und Gesundheitsleistungen, Leistungen bei Mutterschaft/Vaterschaft, Leistungen bei Alter und Invalidität sowie Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten und nur für Leistungen bei Arbeitslosigkeit auf freiwillige Basis gestellt wird. Der EWSA ist der Ansicht, dass die niedrigen Beitrittsquoten Selbstständiger zu freiwilligen Systemen (von weniger als 1 % bis 20 %), dort wo es solche Systeme gibt, verstärkte Maßnahmen rechtfertigen, um die Absicherung und den Schutz auszuweiten.

4.5.

Maßnahmen, die in Richtung einer vollständigen Absicherung von Selbstständigen gehen, werden daher begrüßt. Dies erstreckt sich, falls erforderlich, auch auf mithelfende Ehegatten, wenn bei Ehegatten oder Partnern, die selbstständig erwerbstätig sind, die mithelfenden Ehegatten regelmäßig und aktiv zur Erwerbstätigkeit der Selbstständigen beitragen, und zwar auf eine Weise, die als Haupterwerbstätigkeit der mithelfenden Ehegatten betrachtet werden kann.

4.6.

Alle Bürgerinnen und Bürger sollten Zugang zu Sozialschutzsystemen haben, die angemessene Leistungen bieten können. Die Systeme, zu denen alle Menschen ihren Möglichkeiten entsprechend beitragen (bzw. von solchen Beiträgen befreit sind) und aus denen sie Leistungen beziehen, die ihren Bedürfnissen entsprechen, zumindest in Bezug auf eine angemessene Mindestversorgung und ein Netz der sozialen Absicherung im Notfall, können steuerfinanziert und/oder als Versicherung angelegt sein.

4.7.

Die Tragfähigkeit und die Finanzierung eines angemessenen Zugangs zum Sozialschutz zur Begleitung des Wandels der Arbeitsmärkte (21) müssen sichergestellt werden, um Inklusivität, Angemessenheit, Gerechtigkeit und Gleichheit in einer weiter gefassten Perspektive gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wachstums gerecht zu werden.

4.8.

Die Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene sollten von vornherein auf Gleichbehandlung und Chancengleichheit ausgerichtet sein, denn die öffentlichen Sozialausgaben in Europa sind fester Bestandteil des europäischen Sozialmodells und Europas Attraktivität im weltweiten Vergleich ist seinem hohen Niveau an sozialer Sicherheit zu verdanken.

4.9.

Die Sozialschutzsysteme müssen auf Solidarität und Gleichheit basieren, und es darf keine Diskriminierung aufgrund unterschiedlicher persönlicher Umstände/Hintergründe und/oder Beschäftigungsstatus möglich sein.

4.10.

Bei der Festlegung von Sozialschutzmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen sollte ein menschenrechtsbasierter Ansatz im Sinne des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verfolgt werden. Nicht erwerbsfähige Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen sollten vor dem Risiko von Armut geschützt werden und einen angemessenen Lebensstandard garantiert bekommen (22).

4.11.

Der EWSA fordert die vollständige Umsetzung der Empfehlung durch die Mitgliedstaaten, damit Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen und Selbstständige einen besseren Schutz genießen. Die Sozialschutzsysteme sollten so (um)gestaltet werden, dass sie zunehmend inklusiv werden, was auch den Empfehlungen im Jahreswachstumsbericht 2018 entspricht, die Folgendes besagen: „Wenn der Arbeitsmarkt und das System zur sozialen Integration besser aufeinander abgestimmt werden, profitieren davon alle benachteiligten Gruppen, was wiederum zu mehr Wohlstand für alle führt und den sozialen Zusammenhalt stärkt.“

4.12.

Die Bekämpfung von unlauterem Wettbewerb in der Europäischen Union und Maßnahmen gegen nicht angemeldete Erwerbstätigkeit (im Einklang mit den Maßnahmen der Europäischen Plattform zur Stärkung der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit) werden den Unternehmen zugutekommen, da sich mehr Sozialschutz und weniger unlauterer Wettbewerb positiv auf die Produktivität auswirken könnten.

4.13.

Der Zugang zu Gesundheitsversorgung für alle ist ein weiteres wichtiges Element der Empfehlung und stimmt mit Grundsatz 16 der europäischen Säule sozialer Rechte überein (23). Wie die Folgenabschätzung der Kommission deutlich gemacht hat, kann der Zugang zu Gesundheitsversorgung von Arbeitnehmern in atypischen Beschäftigungsverhältnissen und von Selbstständigen in einigen Ländern aufgrund vertraglicher Vereinbarungen oder der Arbeitsmarktbestimmungen eingeschränkt sein. Der Zugang aller Beschäftigten und Selbstständigen zu Gesundheitsversorgung sollte zwingend vorgeschrieben sein.

4.14.

Der EWSA begrüßt außerdem die angekündigte verstärkte Zusammenarbeit mit Eurostat, um geeignete Indikatoren für die Verzeichnung von Fortschritten bei der formellen Absicherung, der tatsächlichen Absicherung, der Transparenz usw. zu schaffen, sowie die geplanten Arbeiten der Kommission im Ausschuss für Sozialschutz im Hinblick auf die Schaffung eines Benchmarking-Rahmens für Sozialschutz. So kann das Fehlen einer soliden Datengrundlage ausgeglichen und eine genauere Abschätzung der Folgen der im Zusammenhang mit der Empfehlung umgesetzten politischen Maßnahmen vorgenommen werden.

Brüssel, den 20. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 1.

(2)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 7.

(3)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen — Folgenabschätzung — Begleitdokument zu dem Vorschlag für eine Empfehlung (nur auf EN verfügbar).

(4)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 23.

(5)  ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 10.

(6)  Siehe auch die Empfehlung der ILO Nr. 202, die Orientierungshilfen für die Einführung und Aufrechterhaltung eines Basisniveaus für Sozialschutz als Kernelement der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit bietet.

(7)  Siehe Empfehlung zum Sozialschutz, Seiten 8, 14, § 10, 15 § 4, 23 § 8, 10.

(8)  Siehe Empfehlung zum Sozialschutz, Seite 21 Erwägungsgrund 18.

(9)  Basic Income as a Policy Option: Technical Background Note Illustrating Costs and Distributional Implications for Selected countries, OECD, 2017.

(10)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 23.

(11)  http://resourcecentre.etuc.org/EU-social-dialogue-5.html.

(12)  2015 In-depth employment analysis (eingehende Beschäftigungsanalyse 2015) — EGB, BUSINESSEUROPE, CEEP, UEAPME.

(13)  Siehe Fußnote 12.

(14)  Eurostat, 2016.

(15)  ILO: INWORK Issue Brief No. 9, Mai 2017.

(16)  Siehe Empfehlung zum Zugang zum Sozialschutz, S. 2-3.

(17)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 15.

(18)  Siehe Barnard, C. und Blackham, A. (2015): The implementation of Directive 2010/41 on the application of the principle of equal treatment between men and women engaged in an activity in a self-employed capacity, Bericht des Europäischen Netzwerks von Rechtsexperten auf dem Gebiet der Geschlechtergleichstellung, in Auftrag gegeben von der Generaldirektion Justiz der Europäischen Kommission; siehe Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zum Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbstständige, Seite 9.

(19)  Europäisches Semester 2018: Jahreswachstumsbericht.

(20)  Siehe Eurofound: „The many faces of self-employment in Europe“.

(21)  Siehe Positionspapier von BUSINESSEUROPE zu der Empfehlung des Rates zum Zugang zum Sozialschutz, Seite 1, 1 (19. April 2018).

(22)  Siehe die Entschließung des Europäischen Behindertenforums (EDF): Resolution to promote employment & social inclusion of persons with disabilities, 6. November 2017 http://www.edf-feph.org/newsroom/news/social-pillar-edf-adopts-resolution-promote-employment-social-inclusion-persons.

(23)  Europäische Säule sozialer Rechte, Grundsatz 16: „Jede Person hat das Recht auf rechtzeitige, hochwertige und bezahlbare Gesundheitsvorsorge und Heilbehandlung.“


ANHANG

Folgende abgelehnte Änderungsanträge zu den Ziffern 1.6 und 2.5 erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 1.6

Ändern:

1.6.

Der EWSA empfiehlt, dass Initiativen, die im Rahmen der Empfehlung ergriffen werden, angemessene Leistungen und Vorschriften enthalten sollten, einschließlich der Absicherung von Menschen, die die unteren Schwellenwerte für Ansprüche nicht erreichen können, insbesondere arbeitsunfähige Menschen und deren Familien. Der EWSA bedauert weist darauf hin, dass das Grundeinkommen in der Empfehlung verworfen wurde, wie in der Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen — Folgenabschätzung  (1) festgestellt wird, und das aus verschiedenen Gründen, wie etwa Kriterien für die Absicherung oder weil vorgezogen wurde, die Probleme im Rahmen bestehender Systeme der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten anzugehen. Der EWSA begrüßt jedoch die in den Mitgliedstaaten laufende Debatte über das Grundeinkommen und andere Sicherheitsnetze mit dem Ziel der aktiven Eingliederung in den Arbeitsmarkt sowie generell in die Gesellschaft. Der EWSA hatte bereits 2013 eine europäische Richtlinie zur Einführung eines europäischen Mindesteinkommens gefordert, da dies „zum wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt, zum Schutz der grundlegenden Menschenrechte, zu einem Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen und zu einer gerechten Verteilung von Ressourcen und Einkommen beitragen“ würde (2).

Begründung

Erfolgt mündlich.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

91

Nein-Stimmen

112

Enthaltungen

10

Ziffer 2.5

Ändern:

2.5.

Der EWSA weist darauf hin, dass das Grundeinkommen in der Empfehlung verworfen wurde, wie in der Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen — Folgenabschätzung festgestellt wird, und das aus verschiedenen Gründen, wie etwa Kriterien für die Absicherung oder weil vorgezogen wurde, die Probleme im Rahmen bestehender Systeme der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten anzugehen. Der EWSA bedauert, dass das Grundeinkommen in der Empfehlung des Rates verworfen wurde. Die OECD zog in einer jüngeren Untersuchung folgendes Fazit: „Angesichts des raschen Wandels des Arbeitsmarkts liefern die laufenden Diskussionen rund um das Grundeinkommen jedoch wertvolle Impulse hinsichtlich der von den Gesellschaften gewünschten Art von Sozialschutz.“ Der EWSA äußerte in einer früheren Stellungnahme die Ansicht, dass ein „europäisches Mindesteinkommen zum wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt, zum Schutz der grundlegenden Menschenrechte, zu einem Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen und zu einer gerechten Umverteilung von Ressourcen und Einkommen beitragen wird“; ferner sprach er sich für die Annahme einer Rahmenrichtlinie aus sowie für die „Prüfung von Finanzierungsmöglichkeiten für ein europäisches Mindesteinkommen“.

Begründung

Der Geltungsbereich der Empfehlung umfasst keine Leistungen für das Existenzminimum. Der Schwerpunkt liegt auf der Erleichterung des Zugangs zum Sozialschutz für die Gruppen von Arbeitnehmern, die wahrscheinlich nicht durch die Systeme der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten geschützt sind. Daher gibt es keinen Grund, zu bedauern, dass das Konzept des Grundeinkommens in dem Vorschlag der Kommission verworfen wurde. Der EWSA könnte jedoch auf die laufende Debatte in den Mitgliedstaaten sowie in anderen Foren, wie z. B. der OECD, hinweisen. In Bezug auf die frühere Stellungnahme des EWSA zum Mindesteinkommen sollte auch ein Verweis auf die Erklärung der Gruppe Arbeitgeber aufgenommen werden, um deutlich darauf aufmerksam zu machen, dass in dieser Frage Uneinigkeit besteht. Der Verweis auf die Erklärung der Gruppe Arbeitgeber wurde zuvor bereits z. B. in den EWSA-Stellungnahmen SOC/542 (Europäische Säule sozialer Rechte) und SOC/564 (Auswirkungen der sozialen Dimension und der europäischen Säule sozialer Rechte auf die Zukunft der EU) verwendet.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

92

Nein-Stimmen

113

Enthaltungen

13


(1)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen — Folgenabschätzung — Begleitdokument zu dem Vorschlag für eine Empfehlung (nur auf EN verfügbar).

(2)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 23.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/142


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Anpassung der gemeinsamen Visumpolitik an neue Herausforderungen“

(COM(2018) 251 final)

und zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex)“

(COM(2018) 252 final — 2018/0061 (COD))

(2018/C 440/23)

Berichterstatter:

Ionuț SIBIAN

Befassung

Europäisches Parlament, 16.4.2018

Rat, 2.5.2018

Europäische Kommission, 18.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

19.7.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

168/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) erkennt an, dass der Visakodex durch die Festlegung eines gemeinsamen Bündels von Rechtsvorschriften und praktischen Anweisungen ein Kernbestandteil der gemeinsamen Visumpolitik ist.

1.2.

Der EWSA unterstützt die im Rahmen des Visakodexes vorgeschlagenen einheitlichen Verfahren und Voraussetzungen, dank derer sich Situationen vermeiden lassen, in denen die Mitgliedstaaten der EU ähnliche Fälle unterschiedlich behandeln. Gleichzeitig ermöglichen sie ein differenziertes Vorgehen auf der Grundlage von „Visum-Vorgeschichten“. Der EWSA ist darüber hinaus der Ansicht, dass Anstrengungen unternommen werden sollten, um harmonisierte Rechtsbehelfsverfahren im Falle der Ablehnung eines Visumantrags einzuführen.

1.3.

Der EWSA begrüßt die einheitliche Lösung für Mehrfachvisa, die die Inhaber berechtigen, während der Gültigkeitsdauer wiederholt in die EU einzureisen, da dies zum Wirtschaftswachstum, zur kulturellen und sozialen Entwicklung und Interaktion sowie zur Verbesserung der Unterstützung und des Verständnisses der Menschen untereinander beitragen kann.

1.4.

Die mit dem Visakodex eingeführten Visa für die einmalige Einreise, die an den Außengrenzen erteilt werden, um so den Kurzzeittourismus zu fördern, sind Ausdruck der Flexibilität und des pragmatischen Ansatzes der Mitgliedstaaten. Der EWSA regt an, diesem Ansatz auch für verschiedene weitere Aspekte im Zusammenhang mit der Erteilung von Visa zu folgen, um sicherzustellen, dass zentrale Anlaufstellen angeboten werden.

1.5.

Da die Europäische Union in ihren Beziehungen zu Drittländern die vollständige Gegenseitigkeit bei der Visumpflicht proaktiv verfolgen sollte, fordert der EWSA die Kommission dringend dazu auf, zügig eine Konsultation durchzuführen und klare, praktikable Vorschläge sowohl zum Thema Visumerleichterung als auch zum Thema Sicherheit vorzulegen.

1.6.

Der EWSA befürwortet jedoch uneingeschränkt den Vorschlag, dass die Kommission vor der Entscheidung über eine vorübergehende Aussetzung der Befreiung von der Visumpflicht für die Staatsangehörigen eines Drittlands die Menschenrechtslage in diesem Drittland sowie die Folgen, die eine Aussetzung der Befreiung von der Visumpflicht auf diese Lage haben könnte, berücksichtigen sollte.

1.7.

Gleichzeitig empfiehlt der EWSA, dass jegliche Anstrengungen unternommen werden sollten, um verlässliche, relevante und (so weit wie möglich) einheitliche/vergleichbare Daten in Bezug auf Drittländer und die Situationen zu sammeln, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, eine vorübergehende Aussetzung der Befreiung von der Visumpflicht für Staatsangehörige eines Drittlands gemäß Anhang II der Verordnung zu beschließen. (Dieser Anhang enthält eine Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, und eine Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind.)

1.8.

Der EWSA empfiehlt, bei der Entscheidung über die regelmäßige (zweijährliche) Überprüfung der Anhebung der vorgeschlagenen Visumgebühren mit Umsicht vorzugehen. Angesichts der Tatsache, dass die vorgeschlagenen Kosten im Vergleich zum Wachstums-/Entwicklungsstand einiger der betroffenen Drittländer bereits recht hoch sind, sollte diese Überprüfung nicht automatisch erfolgen.

1.9.

Um den technologischen Entwicklungen Rechnung zu tragen, unterstützt der EWSA Änderungen des Visakodexes, die darauf abzielen, den Visumantrag auch auf elektronischem Weg ausfüllen und unterzeichnen zu können. Gleichzeitig fordert der EWSA, dass alle Mitgliedstaaten die Online-Einreichung von Visumanträgen befürworten und die erforderlichen Entwicklungen/Änderungen zur Unterstützung eines derartigen Online-Verfahrens durchführen, und ersucht die Kommission, eine realistische Frist aufzunehmen/vorzuschlagen, innerhalb derer die Mitgliedstaaten die Online-Einreichung von Visumanträgen allgemein eingeführt haben sollen.

1.10.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission zur Abschaffung des Grundsatzes des „persönlichen Erscheinens“ und unterstützt und fordert auch Regeln und Vorschriften, die die elektronische Einreichung von Visumanträgen ermöglichen. Der EWSA ist der Auffassung, dass es das Ziel sein sollte, Visumanträge möglichst einfach und schnell im Wohnsitzstaat des Antragstellers zu stellen. Dazu gehören gegebenenfalls auch der verstärkte Einsatz externer Dienstleister sowie bessere Vertretungsdienste und eine intensivere Zusammenarbeit zwischen den diplomatischen Vertretungen der EU-Mitgliedstaaten.

1.11.

Der EWSA empfiehlt der Kommission eine Überprüfung und eine eindeutigere Definition der Gruppen von Antragstellern, die gegenwärtig von der Visumpflicht befreit sind. Darüber hinaus empfiehlt der EWSA, in Betracht zu ziehen, Senioren und Vertreter von gemeinnützigen Organisationen, die an von gemeinnützigen Organisationen ausgerichteten Seminaren, Konferenzen, Sport-, Kultur- oder Bildungsveranstaltungen teilnehmen, von den Visumgebühren zu befreien. Dabei sollte keine Bezugnahme auf ihr Alter erfolgen oder zumindest sollte eine Anhebung der Altersgrenze erwogen werden.

1.12.

Da die „Bestimmungen dieser Verordnung für Drittstaatsangehörige [gelten], die […] beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, unbeschadet des Rechts auf Freizügigkeit, das Drittstaatsangehörige genießen, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind“, unterstreicht der EWSA, wie wichtig es angesichts aktueller Entwicklungen der Auslegung des Familienbegriffs in den Mitgliedstaaten ist, eine gemeinsame Methode festzulegen, um Diskriminierung im Rahmen der Bestimmung des Begriffs „familiäre Bindungen“ zu vermeiden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der EWSA nimmt die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat zur Notwendigkeit der Anpassung der gemeinsamen Visumpolitik an neue Herausforderungen zur Kenntnis und unterstützt in diesem Zusammenhang die beiden Vorschläge für eine Verordnung über einen Visakodex der Gemeinschaft und zur Aufstellung einer Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie einer Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von einer solchen Visumpflicht befreit sind.

2.2.

Aus diesem Grund erkennt der EWSA an, dass der Visakodex Auswirkungen hat, die über das Ziel der Festlegung gemeinsamer Rechtsvorschriften und Antragsverfahren hinausreichen. Neben der Erleichterung des legalen Reisens und der Eindämmung der irregulären Einwanderung hat er beispielsweise Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen, selbst wenn dies ursprünglich nicht zu den Zielen des Visakodexes zählte. 2017 wurden in den Konsulaten der Schengen-Staaten 16,1 Mio. Anträge auf einheitliche Visa gestellt (mit steigender Tendenz). Im Ergebnis wurden in über 50 % der Fälle Mehrfachvisa ausgestellt, während 8 % der Visumanträge (1,3 Mio.) abgelehnt wurden (1).

2.3.

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagenen Änderungen zur Vereinfachung der Bearbeitung von Visumanträgen sowohl für die Antragsteller als auch für die Konsulate. Dazu zählen die Möglichkeit, einen Antrag sechs Monate (neun Monate für Seeleute) vor der geplanten Reise einzureichen, die Präzisierungen und erweiterten Personengruppen, die einen Antrag im Namen des Antragstellers einreichen dürfen, sowie die Harmonisierung der nötigen Unterlagen. Zudem begrüßt er nachdrücklich die Beachtung des Grundsatzes, dass Antragsteller zur Einreichung ihres Antrags nur bei einer Stelle persönlich erscheinen müssen.

2.4.

Allerdings stellt der EWSA auch fest, dass sich der Zugang zu Konsulaten — insbesondere in Drittländern, in denen die meisten Mitgliedstaaten nur in der Hauptstadt vertreten sind — weiterhin schwierig gestaltet, da die Antragsteller den (zeitlichen und monetären) Aufwand tragen müssen, der sich aus einer weiten Anreise zu den Konsulaten ergibt. Daher begrüßt der EWSA den Vorschlag zur Abschaffung des Grundsatzes des „persönlichen Erscheinens“ und fordert die Mitgliedstaaten auf, die erforderlichen Anpassungen für eine elektronische Einreichung von Visumanträgen vorzunehmen. Gleichzeitig begrüßt der EWSA auch alle Maßnahmen, die ergriffen werden, damit Visumanträge möglichst einfach und schnell im Wohnsitzstaat des Antragstellers gestellt werden können. Dazu gehören gegebenenfalls auch der verstärkte Einsatz externer Dienstleister sowie bessere Vertretungsdienste und eine intensivere Zusammenarbeit zwischen den diplomatischen Vertretungen der EU-Mitgliedstaaten.

2.5.

Vor dem Hintergrund der kürzlich in Kraft getretenen neuen Vorschriften zum Datenschutz und zum Schutz der Privatsphäre (Datenschutz-Grundverordnung) bekräftigt der EWSA, dass externe Dienstleister in der Lage sein müssen, die Sicherheit der erhobenen personenbezogenen Daten zu achten bzw. zu gewährleisten. Die Mitgliedstaaten sollten alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die Unternehmen, die Visadienstleistungen (für europäische Staatsbürger oder nicht-europäische Staatsbürger im Zusammenhang mit europäischen Visa) erbringen, entsprechende Änderungen an ihren Datenschutzregelungen vornehmen, um den Anforderungen der Verordnung zu genügen.

2.6.

Der EWSA begrüßt sowohl die neuen verkürzten Fristen für die Beantragung von Visa und die Entscheidung über Visumanträge sowie die Harmonisierung der Möglichkeit, einheitliche Visa zu erteilen (insbesondere im Falle von Mehrfachvisa), als auch den neu vorgeschlagenen Artikel 25 Buchstabe a über die Kooperation bei der Rückübernahme, der die Zusammenarbeit der Drittstaaten bei der Rückübernahme irregulärer Migranten verbessern soll, indem die Möglichkeit einer restriktiven und zeitlich befristeten Anwendung klar definierter Maßnahmen eingeführt wird. Es muss ein harmonisierter Ansatz zur Vereinfachung des Visumantragsverfahrens für die Antragsteller, die bereits zuvor in die EU gereist sind, ausgearbeitet werden.

2.7.

Der EWSA hält es für notwendig, die Kohärenz zwischen der Visumpolitik und den Verpflichtungen in anderen Politikbereichen (z. B. Handelsabkommen) sicherzustellen und realistisch zu gestalten. In Bezug auf Abkommen über die Befreiung von der Visumpflicht, die Mitgliedstaaten mit bestimmten Drittländern geschlossen haben, sollte eine allgemein akzeptierte Lösung gewählt werden. Die Europäische Union sollte in ihren Beziehungen zu Drittländern die vollständige Gegenseitigkeit bei der Visumpflicht proaktiv verfolgen.

2.8.

Auch wenn der EWSA die Begründung der vorgeschlagenen Überarbeitung von Artikel 16 des Visakodexes, nämlich die Erhöhung der Visumgebühren um ein Drittel, nachvollziehen kann, ist er doch besorgt über Schwierigkeiten, die sich aus den erhöhten Gebühren für Staatsangehörige verschiedener Drittländer ergeben können, deren Entwicklungs-/Wohlstandsniveau erheblich unter dem der EU-Mitgliedstaaten liegt. Im Vergleich zu den Reise- und anderen Kosten, die Visumantragsteller zu tragen haben, sind die Visumgebühren recht hoch, da das heutzutage bestehende große Angebot an kostengünstigen Reise- und Unterkunftslösungen dazu führen kann, dass die Kosten für die gesamte Reise weniger oder genauso stark ins Gewicht fallen wie die Visumgebühren.

2.9.

Der EWSA ist der Ansicht, dass im Vorschlag für eine Änderung der Höhe der Visumgebühren alle zwei Jahre auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden sollte, die Gebühren zu senken, und zwar auf der Grundlage einer möglichen Einführung elektronischer Visumantragsverfahren (die mit geringeren Personal- und Verwaltungskosten für die Mitgliedstaaten verbunden sein könnten). Gemäß der Mitteilung der Kommission über die Anpassung der gemeinsamen Visumpolitik an neue Herausforderungen ziehen die meisten Mitgliedstaaten die Vorteile der Nutzung digitaler Visa in Erwägung (darunter geringere Kosten für die Konsulate sowie ein effizienteres und kundenfreundlicheres Antragsverfahren im Vergleich zum papiergestützten System).

2.10.

Angesichts der derzeitigen Höhe der Visumgebühren im Vergleich zur vorgeschlagenen Höhe ist der EWSA der Ansicht, dass die Möglichkeit einer Gebührenbefreiung für Vertreter gemeinnütziger Organisationen, die an von gemeinnützigen Organisationen ausgerichteten Seminaren, Konferenzen, Sport-, Kultur- oder Bildungsveranstaltungen teilnehmen, erwogen werden sollte. Dabei sollte keine Bezugnahme auf das Alter erfolgen oder zumindest sollte eine Anhebung der Altersgrenze erwogen werden (in den derzeitige Rechtsvorschriften wird als konkretes Alter 25 Jahre oder weniger genannt). Im Sinne einer aktiven Integration in die Gesellschaft und einer besseren Lebensqualität sollten auch Senioren eine solche Befreiung erhalten.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Visastatistiken für Konsulate, 2017 (https://ec.europa.eu/home-affairs/what-we-do/policies/borders-and-visas/visa-policy#stats).


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/145


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2004/37/EG über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch Karzinogene oder Mutagene bei der Arbeit“

(COM(2018) 171 final — 2018/0081 (COD))

(2018/C 440/24)

Berichterstatter:

János WELTNER

Befassung

Europäisches Parlament, 16.4.2018

Rat, 23.4.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 153 Absätze 1 und 2 sowie 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Präsidiums

17.4.2018

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

19.7.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

191/4/11

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag zur Änderung der Richtlinie über Karzinogene und Mutagene (KM-Richtlinie), da sie objektive Daten bietet mit dem Ziel, die Sicherheit am Arbeitsplatz zu erhöhen.

1.2.

Wie in seiner früheren Stellungnahme (1) fordert der EWSA die Kommission auf, eine Folgenabschätzung zu einer möglichen Ausweitung der KM-Richtlinie durchzuführen, um Stoffe aufzunehmen, die schädliche Auswirkungen auf die Fortpflanzung haben.

1.3.

Der EWSA hält es angesichts der fortpflanzungsgefährdenden (reproduktionstoxischen) Wirkung vieler Karzinogene und Mutagene für wichtig, dass bei Überarbeitungen und Änderungen der KM-Richtlinie in naher Zukunft der arbeitsbedingten Exposition von Frauen und Männern im fortpflanzungsfähigen Alter — insbesondere von Frauen im ersten Drittel der Schwangerschaft — gegenüber derartigen Stoffen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.

1.4.

Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass in dieser Änderung auf der Grundlage wissenschaftlicher und statistischer Erkenntnisse verbindliche Arbeitsplatzgrenzwerte festgelegt wurden. Ein risikobasiertes Konzept ist, wie aus den Hintergrunddokumenten hervorgeht, für die Interessenträger leicht verständlich und bietet somit eine gute Grundlage für einen sozialen Kompromiss.

1.5.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission ein faktengestütztes Verfahren gewählt und den Wissenschaftlichen Ausschuss für die Grenzwerte berufsbedingter Exposition gegenüber chemischen Arbeitsstoffen (SCOEL) (2) und den Ausschuss für Risikobeurteilung (RAC) (3) der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) (4) konsultiert hat.

1.6.

Der EWSA hält es für erforderlich, Pilot-Forschungsprogramme und in einer zweiten Phase EU-weite Programme aufzustellen mit dem Ziel, im Rahmen der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit oder der nationalen Gesundheitssysteme allen Personen, die am Arbeitsplatz Karzinogenen, Mutagenen oder reproduktionstoxischen Stoffen ausgesetzt sind bzw. waren, eine lebenslange Gesundheitsüberwachung zu bieten. Im Einklang mit der Datenschutz-Grundverordnung (GDPR) (5) sollte diese Überwachung anonym durchgeführt werden.

1.7.

Der EWSA betont, dass die Mitgliedstaaten einen besseren Schutz der Arbeitnehmer vor krebserregenden, erbgutverändernden und fortpflanzungsgefährdenden Stoffen am Arbeitsplatz sicherstellen und dafür sorgen sollten, dass die Arbeitsaufsichtsbehörden über die für die Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen finanziellen und personellen Ressourcen verfügen.

1.8.

Der EWSA empfiehlt, alle Verbindungen, die im Verdacht stehen, krebserregend, erbgutverändernd und/oder fortpflanzungsgefährdend zu sein, einer wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen und gegebenenfalls in die KM-Richtlinie aufzunehmen.

2.   Hintergrund

2.1.

Diese Stellungnahme steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Stellungnahme des EWSA zum Thema „Der Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch Karzinogene oder Mutagene bei der Arbeit“ (6), die im Zuge der Änderung der KM-Richtlinie im Jahr 2017 (7) erarbeitet wurde. Alle Empfehlungen des EWSA mit Ausnahme derjenigen, die in die vorliegende Änderung aufgenommen wurden, sind nach wie vor aktuell (8).

2.2.

Die Ziele des Vorschlags stehen im Einklang mit Artikel 2 (Recht auf Leben) und Artikel 31 (Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

2.3.

Die Gewährleistung eines sicheren und gesunden Arbeitsumfeldes ist ein strategisches Ziel der Europäischen Kommission, wie sie es in ihrem Strategischen Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2014-2020 (9) formuliert hat.

2.4.

Krebs schädigt als das häufigste arbeitsbedingte Gesundheitsproblem in der EU der 28 Leben und Gesundheit von Arbeitnehmern beinahe so stark wie die beiden Erkrankungen mit der nächsthöchsten Häufigkeit (Muskel-Skelett-Erkrankungen und Kreislauferkrankungen) zusammengenommen. Er wirkt sich auch in viel stärkerem Maße negativ aus als Arbeitsunfälle (10). Er verursacht Leid für die Arbeitnehmer und ihre Familien und Freunde, schlechte Lebensqualität sowie Beeinträchtigungen des Wohlbefindens, und im schlimmsten Falle führt er zum Tod (11).

2.5.

Die Kommission hat einen fortlaufenden Prozess der Aktualisierung der KM-Richtlinie (12) initiiert, um mit den neuen wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen Schritt zu halten. Dieses Vorgehen steht im Einklang mit der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung, die unter anderem darauf abzielt, dass Chemikalien bis 2020 auf eine Weise produziert, gehandhabt und verwendet werden, die keine größere Bedrohung für die menschliche Gesundheit und die Umwelt darstellt. Ziel ist es letztendlich, besonders besorgniserregende Stoffe durch geeignete Alternativstoffe oder -technologien zu ersetzen (13).

3.   Vorschlag der Kommission

3.1.

Im Einklang mit diesem Verfahren und auf Grundlage von SWD(2018) 87 und 88 hat die Europäische Kommission in ihrem Dokument COM(2018) 171 final (14) die nächste „Änderung der Richtlinie 2004/37/EG über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch Karzinogene oder Mutagene bei der Arbeit“ vorgeschlagen. Anfang 2017 unterstützte der EWSA die Änderung dieser Richtlinie; in die aktuelle Änderung (15) wurden fünf Stoffe aufgenommen:

3.1.1.

Cadmium und seine anorganischen Verbindungen im Geltungsbereich der KM-Richtlinie: Tätigkeiten, in denen die Arbeitnehmer mit diesen Stoffen in Kontakt kommen können, sind Cadmium-Produktion und -Raffination, Herstellung von Nickel-Cadmium-Akkumulatoren, Cadmiumpigmentherstellung und -formulierung, Herstellung von Cadmiumlegierungen, mechanisches Plattieren, Zink- und Kupferverhüttung, NE-Metallerzbergbau, Löten mit einem Lot aus einer Silber-Cadmium-Silber-Legierung, Polyvinylchlorid-Mischungsherstellung sowie Recyceln von Metallschrott und Ni-Cd-Batterien. Die Kommission schätzt, dass etwa 10 000 Arbeitnehmer gefährdet sind.

3.1.2.

Beryllium und anorganische Berylliumverbindungen im Geltungsbereich der KM-Richtlinie: Zehn Branchen wie beispielsweise Gießereien, Glasherstellung und Labore wurden ermittelt, in denen die Gefahr besteht, dass Arbeitnehmer mit Beryllium in Kontakt kommen. Kupfer, Aluminium, Magnesium und Nickel werden häufig mit Beryllium legiert. Etwa 80 % des gesamten Berylliums wird für Kupferlegierungen verwendet. Die Exposition gegenüber Beryllium verursacht Lungenkrebs und die unheilbare chronische Berylliose. Die Kommission schätzt, dass etwa 54 000 Arbeitnehmer gefährdet sind.

3.1.3.

Arsensäure und ihre Salze sowie anorganische Arsenverbindungen im Geltungsbereich der KM-Richtlinie: Arbeitnehmer kommen beispielsweise in der Kupfer- und Zinkherstellung, der Glasherstellung sowie in der Elektronik- und Chemikalienbranche mit Arsenverbindungen in Kontakt. Die Kommission schätzt, dass etwa 7 900 bis 15 300 Arbeitnehmer gefährdet sind.

3.1.4.

Formaldehyd: Tritt auf bei der Herstellung von Formaldehyd und in einer breiten Palette von Produkten (Klebstoffen und Dichtmassen, Beschichtungen, Polymere, Biozide und Laborchemikalien); eine Exposition ist auch möglich bei Bau- und Montagearbeiten und bei der Herstellung und Verarbeitung von Leder und Pelzen, Zellstoff, Papier und Papiererzeugnissen, Textilien, Holz und Holzerzeugnissen. Formaldehyd wird auch für die Konservierung von Gewebe und als Desinfektionsmittel in der Pathologie und in Autopsieräumen verwendet. Die Kommission schätzt, dass etwa eine Million Arbeitnehmer gefährdet sind.

3.1.5.

4,4′-Methylenbis(2-chloranilin) („MOCA“): Die exponierten Arbeitnehmer sind in einem der 89 kunststoffverarbeitenden Betriebe der EU beschäftigt, in denen MOCA verwendet wird, um Kunststoffteile aus Polyurethan-Elastomer zu formen. Die Kommission schätzt, dass etwa 350 Arbeitnehmer gefährdet sind.

3.2.

Die Mitgliedstaaten haben unterschiedliche Ansätze. Einige von ihnen haben verbindliche Arbeitsplatzgrenzwerte für eine große Zahl von karzinogenen, mutagenen und reproduktionstoxischen Chemikalien festgelegt, andere dagegen nur für einige wenige. Fünf dieser Stoffe, für die es keine EU-Grenzwerte für die Exposition am Arbeitsplatz gibt, werden in diesem Vorschlag genannt. Zwölf Mitgliedstaaten (BE, BG, CY, CZ, DE, EE, ES, HU, LT, LV, NL, SE) haben keine Arbeitsplatzgrenzwerte für einen der fünf Stoffe, und drei Mitgliedstaaten (IT, LU, MT) haben für keinen der fünf Stoffe Arbeitsplatzgrenzwerte. Die Höhe dieser Grenzwerte kann von Land zu Land unterschiedlich sein. Daher begrüßt der EWSA den Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2004/37/EG, in dem verbindliche europäische Mindestgrenzwerte für die Exposition am Arbeitsplatz festgelegt werden. Mit ihrem Inkrafttreten wird die Richtlinie in allen Mitgliedstaaten gleiche Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmer gewährleisten, die diesen Schadstoffen ausgesetzt sind.

3.3.

Schätzungen auf Grundlage einer von Risk & Policy Analysts Limited (RPA 2018) durchgeführten Studie (16) besagen, dass dieser Vorschlag, sofern er angenommen wird, langfristig zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen für über eine Million Arbeitnehmer in der EU und zur Vermeidung berufsbedingter Gesundheitsprobleme in mehr als 22 000 Fällen führen würde. Die heutige Krankheitsbelastung wird aufgrund von Angaben aus den letzten 40 Jahren geschätzt und umfasst 24 770 Fälle berufsbedingter Erkrankungen. Wenn nichts dagegen unternommen wird, werden in den nächsten 60 Jahren 24 689 neue Krankheitsfälle dazukommen.

3.4.

Gemäß der Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen ist es daher angemessen, eine Aktualisierung der KM-Richtlinie auf Grundlage der vorstehenden Informationen in Erwägung zu ziehen. Die Grundsätze sind die gleichen wie in der KM-Richtlinie und in der vorigen Änderung. Mit der aktuellen Änderung wird die Liste im Anhang der KM-Richtlinie um die fünf oben genannten Verbindungen erweitert.

3.5.

Die wissenschaftliche Beratung erfolgte für Cadmium, Beryllium und Formaldehyd durch den Wissenschaftlichen Ausschuss für die Grenzwerte berufsbedingter Exposition gegenüber chemischen Arbeitsstoffen (SCOEL) und für Arsensäure und MOCA durch den Ausschuss für Risikobeurteilung (RAC). Der dreigliedrige Beratende Ausschuss für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz (ACSH) hat zu allen fünf Stoffen Stellungnahmen abgegeben.

3.6.

Die Arbeitsplatzgrenzwerte für diese fünf Karzinogene und Mutagene wurden auf Grundlage wissenschaftlicher Daten und mit Blick auf die späteren gesundheitlichen Folgen festgelegt. Auch unterschiedliche wirtschaftliche Auswirkungen wurden berücksichtigt.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Das wichtigste Ziel und der Anwendungsbereich dieser Änderung bestehen darin, die in der KM-Richtlinie enthaltene Liste, die sich derzeit auf Karzinogene und Mutagene beschränkt, zu erweitern. Eine mögliche Ausweitung auf Stoffe, die sich schädlich auf die Fortpflanzungsfähigkeit und andere Körperfunktionen auswirken, sollten, wie in der Stellungnahme des EWSA (17) erwähnt, zu einem späteren Zeitpunkt ins Auge gefasst werden.

4.2.

Diese Stellungnahme wird durch den „Monitoringbericht 2017 über die Fortschritte bei den Nachhaltigkeitszielen in einem europäischen Kontext“ (18) von Eurostat gestützt: „2015 wurden in der EU 350 Mio. Tonnen Chemikalien verbraucht. Davon wurden 127 Mio. Tonnen als umweltgefährdend und 221 Mio. Tonnen als potenziell gesundheitsschädlich für Menschen eingestuft. Obwohl der Verbrauch toxischer Chemikalien lang- und kurzfristig gesehen zurückgegangen ist, blieb der Anteil der meisten toxischen Chemikalien an der Gesamtmenge der verbrauchten Chemikalien nahezu unverändert.“ (Der Anteil karzinogener, mutagener und reproduktionstoxischer Stoffe am Gesamtverbrauch chemischer Stoffe in der EU: 2004: 10,7 %, 2015: 10,3 %.)

4.3.

Frauen sollten in der Strategie der EU gegen arbeitsbedingte Krebserkrankungen stärker berücksichtigt werden.

4.3.1.

Die Expositionsmuster und die Lage der Tumore können bei Männern und Frauen unterschiedlich sein. Brustkrebs kommt beispielsweise bei Männern sehr selten vor, ist aber die häufigste Krebsart bei Frauen. Eine Reihe arbeitsbedingter Expositionen kann zur Entstehung von Brustkrebs beitragen. Um die für die Entscheidungsfindung notwendigen Daten einzuholen, sollte eine Analyse der Häufigkeit der in erster Linie geschlechtsspezifischen Krebserkrankungen nicht für alle Arbeitnehmer gemeinsam, sondern separat für Frauen und Männer durchgeführt werden.

4.3.2.

Der EWSA fordert die Kommission auf, bei künftigen Überarbeitungen der Richtlinie die arbeitsbedingte Exposition von Frauen gegenüber karzinogenen Substanzen systematischer zu berücksichtigen. In zahlreichen Tätigkeiten, die vorwiegend von Frauen ausgeübt werden (Gesundheits- und Reinigungsberufe, Friseur usw.), besteht eine Gefährdung durch Karzinogene. In diesem Zusammenhang sollten verbindliche Präventionsmaßnahmen getroffen werden (z. B. Unterdruckkammern für das Personal in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen zur Vorbereitung von Zytostatika zur Injektion).

4.4.

Mit Blick auf den Binnenmarkt hält der EWSA es für wichtig, dass die Kommission in der KM-Richtlinie ein Verfahren für die Festlegung verbindlicher Arbeitsplatzgrenzwerte definiert. Dabei sollten die Sozialpartner, die Mitgliedstaaten und andere Interessenträger, darunter auch NRO, umfassend konsultiert werden. Nach Ansicht des EWSA erfordern zwei Elemente besondere Aufmerksamkeit: Erstens muss auf die Kohärenz der verbindlichen Arbeitsplatzgrenzwerte im Hinblick auf das von den einzelnen Verbindungen ausgehende Risiko gewährleistet werden, und zweitens müssen diese Grenzwerte auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse einschließlich der Folgemaßnahmen zu den Veränderungen in der Häufigkeit der arbeitsbedingten Erkrankungen festgelegt werden. Sie müssen unterschiedlichen Faktoren Rechnung tragen, wie etwa der Machbarkeit und der Möglichkeit zur Messung der Expositionshöhen. Um Arbeitgeber bei der Festlegung von Prioritäten für ihre Präventionsmaßnahmen zu unterstützen, sollten sie sich ausdrücklich auf das mit der Expositionshöhe verbundene Risiko beziehen.

4.5.

Für die meisten Verbindungen besteht eine lange Latenzzeit zwischen dem ersten Kontakt und dem Ausbruch der Krebserkrankung. Der EWSA hält es für erforderlich, allen gefährdeten Arbeitnehmern im Rahmen der Systeme der sozialen Sicherheit oder der nationalen Gesundheitssysteme eine lebenslange Gesundheitsüberwachung anzubieten und sie dadurch besser zu schützen. Diese Daten können von Eurostat bereitgestellt werden, um dazu beizutragen, die Strategie für eine nachhaltige Entwicklung zu verbessern.

4.6.

Governance im Bereich der öffentlichen Gesundheit muss ausschließlich auf faktengestützten Vorschriften basieren. Wissenschaftliche Untersuchungen auf der Grundlage hochwertiger und statistisch verwertbarer Daten können dabei die nötigen Nachweise liefern. Diese Forderung wird durch Artikel 9 der Datenschutz-Grundverordnung (19) gestützt, in dem es um die Verarbeitung besonderer Kategorien von personenbezogenen Daten (20) geht. Gemäß der Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (21) müssen weitere rechtliche Aspekte ebenfalls berücksichtigt werden.

4.7.

Der EWSA empfiehlt erneut, die Bemühungen stärker auf wissenschaftliche und statistische Untersuchungen auszurichten. Arbeitsbedingte Krebserkrankungen können vielfältige Gründe haben. Der Erforschung der Folgen und der möglichen Wechselwirkungen einer kombinierten Exposition gegenüber verschiedenen Stoffen sollte eine größere Aufmerksamkeit gewidmet werden, wozu auch mehr Finanzmittel erforderlich sind.

4.8.

Der EWSA betont, dass eine wesentliche Aufgabe im Bereich des Schutzes von Arbeitnehmern vor krebserregenden, erbgutverändernden und fortpflanzungsgefährdenden Stoffen am Arbeitsplatz in einer stärkeren Kontrolle der Umsetzung und Anwendung der KM-Richtlinie besteht. Die Mitgliedstaaten sollten dafür sorgen, dass die Arbeitsaufsichtsbehörden finanziell und personell ausreichend ausgestattet sind, um ihren Aufgaben nachzukommen, und dass sie den Unternehmen, insbesondere KMU, bei der Einhaltung dieser Bestimmungen behilflich sind. Ferner sollten sie eng mit der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zusammenarbeiten. Die weit verbreitete Nutzung der Internet-Plattform für die webbasierte interaktive Gefährdungsbeurteilung (OiRA) kann zur Risikobewertung in diesem Bereich beitragen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Zusätzlich zur Erfordernis der Vorbeugung und des Schutzes der Gesundheit am Arbeitsplatz sowie der notwendigen Anpassung der Arbeit an den Menschen gemäß den europäischen Rechtsvorschriften weist der EWSA auf die Gefahr hin, dass eine unwirksame Vermeidung der Exposition gegenüber krebserregenden, erbgutverändernden und fortpflanzungsgefährdenden Stoffen negative Auswirkungen auf die Unternehmen (z. B. höhere Kosten und eine geringere Produktivität aufgrund von Fehlzeiten, Kosten für die Entschädigung von Klägern, Verlust an Fachwissen und Wettbewerbsverzerrung) und die Mitgliedstaaten (steigende Kosten für die Sozialversicherungssysteme und Verlust von Steuereinnahmen) nach sich ziehen kann.

5.2.

Die Behörden in den Mitgliedstaaten sowie die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen im Rahmen des dreigliedrigen Beratenden Ausschusses für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz (ACSH) würden es sehr begrüßen, wenn es durch geringere Arbeitsplatzgrenzwerte für diese Stoffe zu mehr Rechtssicherheit und einem erhöhten Schutz kommen würde.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 56.

(2)  Wissenschaftlicher Ausschuss für Grenzwerte berufsbedingter Exposition — SCOEL, 30. Juni 2018.

(3)  Ausschuss für Risikobeurteilung (RAC), 30. Juni 2018.

(4)  Europäische Chemikalienagentur (ECHA).

(5)  ABl. L 119 vom 4.5.2016, S. 33, Artikel 4; siehe auch die Absätze 35, 45, 52, 53 und 155.

(6)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 56.

(7)  COM(2017) 11 final.

(8)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 56.

(9)  COM(2014) 332 final.

(10)  Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) 2017.

(11)  SWD(2018) 88, COM(2017) 11 final.

(12)  Richtlinie 2004/37/EG.

(13)  Eurostat „Stand der nachhaltigen Entwicklung in der EU“, S. 189.

(14)  Verfahren 2018/0081 (COD).

(15)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 56.

(16)  Dritte Änderung der Richtlinie über Karzinogene und Mutagene (KM-Richtlinie).

(17)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 56.

(18)  Eurostat 2017 „Sustainable Development in the European Union — Monitoring report on progress towards the SDGs in an EU context“ (Nachhaltige Entwicklung in der Europäischen Union — Monitoringbericht über die Fortschritte bei den Nachhaltigkeitszielen in einem europäischen Kontext), S. 246.

(19)  ABl. L 119 vom 4.5.2016, S. 1.

(20)  ABl. L 119 vom 4.5.2016, Artikel 9 (h) „die Verarbeitung ist für Zwecke der Gesundheitsvorsorge oder der Arbeitsmedizin, für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Beschäftigten […] auf der Grundlage des Unionsrechts oder des einzelstaatlichen Rechts […].“

(21)  ABl. L 88 vom 4.4.2011, S. 45. Siehe auch ABl. L 354 vom 31.12.2008, S. 70, Artikel 2.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/150


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Empfehlung des Rates zur verstärkten Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von durch Impfung vermeidbaren Krankheiten“

(COM(2018) 244 final — SWD(2018) 149 final)

(2018/C 440/25)

Berichterstatterin:

Renate HEINISCH

Befassung

Europäische Kommission, 17.4.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Plenums

17.4.2018

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

19.7.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

136/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Auf europäischer Ebene

1.1.1.

Eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei Impfungen sollte mit Überlegungen über die Bedeutung von Impfungen in allen Lebensabschnitten eines Menschen einhergehen und grenzüberschreitende Impfungen von Kindern, Heranwachsenden, Erwachsenen und älteren Menschen ausdrücklich berücksichtigen. Daten des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) zeigen, dass von Krankheiten wie den Masern, die früher zu den Kinderkrankheiten zählten, nun infolge der schwindenden Immunität Jugendliche und junge Erwachsene betroffen sind. Dies macht in Verbindung mit grenzüberschreitenden Migrationsströmen und der Verfügbarkeit neuer Impfstoffe, die den Ansprüchen verschiedener Altersgruppen gerecht werden (z. B. HPV, Meningokokken-Erkrankung, Herpes zoster), einen Lebenszyklus-Ansatz für Impfungen erforderlich.

1.1.2.

Für die Kinder von heute stellt die Impfskepsis ihrer Eltern eine der größten Gefahren für ihr Wohlergehen dar — sie ist das Ergebnis der Untergrabung langjähriger wissenschaftlicher Erkenntnisse zugunsten einer Anti-Impf-Bewegung. Diesem zunehmenden Misstrauen gegenüber Fachleuten und wissenschaftlichem Konsens muss durch faktengestützte Information, mehr Transparenz und Sensibilisierung Einhalt geboten werden, wenn wir eine Masernepidemie in der EU und Todesfälle durch Diphtherie, wie sie unlängst aufgetreten sind, vermeiden wollen. Die Kommission sollte die Einbindung der Öffentlichkeit in Forschungs- und Innovationsprogramme wie das Programm „Wissenschaft mit der Gesellschaft und für die Gesellschaft“ nutzen, um über die Vorteile von Impfungen aufzuklären.

1.1.3.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) fordert die Kommission auf, durch die Ausrufung eines Europäischen Tages des Impfschutzes das Bewusstsein der Menschen für die Bedeutung von Impfungen für den Schutz vor Krankheiten zu steigern. Ein solches Forum sollte auf eine gezielte Kommunikation zur Aufklärung der europäischen Bürger — insbesondere Eltern, Kinder, Beschäftigte des Gesundheitswesens, Migranten, Minderheiten- und andere Bevölkerungsgruppen mit einem erhöhten Risiko, an schweren, durch Impfung vermeidbaren Krankheiten zu erkranken — setzen. Alle Kommunikationskanäle, auch die Massenmedien und die sozialen Medien, sollten genutzt werden, um Bürger und Organisationen mit wissenschaftlich fundierten und zugänglichen Informationen zu versorgen. Auch das generationenübergreifende Lernen würde bei der Kommunikation über Impfungen dazu beitragen, den Impfschutz über Generationen hinweg zu fördern und Misstrauen auszuräumen.

1.1.4.

Angesichts der zunehmenden Digitalisierung der Information und Kommunikation und der zahlreichen Möglichkeiten, die neue Technologien für einen besseren Zugang zu Impfungen und eine bessere Durchimpfung bieten, muss sich die EU darum bemühen, die Impfkompetenz der Europäer zu verbessern, um gegen Impfskepsis vorzugehen. Außerdem müssen die digitalen Gesundheitskompetenzen verbessert werden, um den Zugang zu digitalen Informationen über Impfstoffe und die Verarbeitung dieser Informationen zu verbessern.

1.1.5.

Wir dürfen nie vergessen, dass die Gesundheit von Mensch und Tier untrennbar miteinander verbunden ist. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) geht davon aus, dass 75 % (1) der ansteckenden Krankheiten, die auf den Menschen übertragbar sind, von Tieren ausgehen. Auch die stetig steigende Gefahr der Resistenz gegen antimikrobielle Wirkstoffe (AMR) wirkt sich auf den Zusammenhang zwischen der Gesundheit von Mensch und Tier aus. Diesbezüglich verhindern Impfungen nicht nur Krankheiten, sondern sie tragen zur Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen bei, indem sie den unnötigen Einsatz von antimikrobiellen Wirkstoffen verringern. Dieser gesellschaftliche Wert findet jedoch keinen Widerhall in den EU-Fördermechanismen, und es fehlen Marktanreize für die Landwirte, anstelle von kostengünstigeren Erzeugnissen, die antimikrobielle Resistenzen verschärfen, Impfstoffe einzusetzen. Der EWSA empfiehlt der Kommission, im Rahmen der anstehenden Reform der GAP Beihilfen für landwirtschaftliche Betriebe vorzusehen, die eine zur Abschwächung der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Gefahren durch antimikrobielle Resistenzen erforderliche hohe Durchimpfungsrate nachweisen können.

1.2.   Auf nationaler Ebene

1.2.1.

Wir müssen dafür sorgen, dass vermeidbare Krankheiten aus unserer fernen Vergangenheit bzw. durch neue Generationen von Impfstoffen vermeidbare Krankheiten nie wieder auftauchen. Den Beschäftigten des Gesundheitswesens, darunter auch den Apothekern, dem Krankenpflegepersonal, den Ärzten sowie den medizinischen Diensten in Schulen und Betrieben, kommt eine Schlüsselrolle beim Umgang mit Impfskepsis zu, da sie häufig als erste Ansprechpartner die Patienten beraten und informieren. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, in die Weiterbildung zu investieren, um Beschäftigte des Gesundheitswesens und insbesondere Apotheker zu Botschaftern für die Impfung zu machen und etwas gegen die furchtbaren Auswirkungen auf die Gesundheit zu unternehmen, die durch die Impfgegner-Bewegung entstehen können. Impfungen könnten auch von Ärzten durchgeführt werden, um zu gewährleisten, dass bei möglichen akuten Reaktionen oder anaphylaktischen Schocks die richtigen Maßnahmen getroffen werden.

1.2.2.

Beschäftigte des Gesundheitswesens sind ferner dem Risiko eines breiten Spektrums an Krankheiten ausgesetzt. Als beratende Einrichtung, die Arbeitnehmer, Arbeitgeber und andere Interessengruppen vertritt, fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, die uneingeschränkte und wirksame Umsetzung der Richtlinie 2000/54/EG sicherzustellen, die vorsieht, dass die Arbeitgeber bei Vorliegen eines Risikos für die Sicherheit und Gesundheit von Arbeitnehmern durch eine Gefährdung durch biologische Arbeitsstoffe bei der Arbeit, gegen die es wirksame Impfstoffe gibt, den betreffenden Arbeitnehmern eine Impfung anbieten sollten.

1.2.3.

Neben Beschäftigten des Gesundheitswesens sollten die Bemühungen der Mitgliedstaaten, auch die Bevölkerungsgruppen zu erreichen, bei denen ein erhöhtes Risiko für schwerwiegende Folgen von durch Impfung vermeidbaren Krankheiten besteht — wie bei Kindern, Schwangeren, älteren Menschen, Minderheitengruppen und Menschen mit bestimmten Gesundheitsproblemen oder Menschen, die sexuell übertragbaren Krankheiten ausgesetzt sind, wie etwa dem humanen Papillomavirus (HPV), Hepatitis A und B — verstärkt werden. Die Kombination von Routineuntersuchungen wie z. B. Kindervorsorgeuntersuchungen oder arbeitsmedizinische Untersuchungen mit Impfprogrammen könnte zur Beseitigung von Impflücken beitragen.

1.2.4.

Europa ist derzeit mit einer historischen Herausforderung konfrontiert, da sich die Altersstruktur der Bevölkerung in Europa umzukehren beginnt. Vorbeugende Maßnahmen wie Erwachsenenimpfungen sollten als ein Instrument zur Bewältigung dieser Herausforderung und zugleich als Beitrag zur Verwirklichung des europäischen Ziels eines aktiven und gesunden Alterns gesehen werden.

1.2.5.

Der EWSA stellt jedoch mit Besorgnis fest, dass das vom Rat 2009 aufgestellte Ziel einer Durchimpfungsrate von 75 % in der älteren Bevölkerungsgruppe gegen saisonale Grippe bislang nur von einem einzigen Mitgliedstaat erreicht wurde. Da ältere Menschen durch eine saisonale Grippe bestenfalls sehr geschwächt werden und diese schlimmstenfalls tödlich sein kann, sollten sich die Mitgliedstaaten bemühen, ihre Anstrengungen zum Erreichen dieses Ziels zu verdoppeln.

1.2.6.

Die Herausforderungen, mit denen die Mitgliedstaaten derzeit konfrontiert sind, reichen von Impfskepsis bis zum demografischen Wandel aufgrund der Bevölkerungsalterung und der zunehmenden Mobilität von Personen, und sie wirken sich EU-weit auf die Gefahr aus, mit Erregern in Kontakt zu kommen. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, bewährte Verfahren und Know-how für die Bewältigung dieser Herausforderungen untereinander auszutauschen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der EWSA unterstützt den auf drei Säulen beruhenden Ansatz der Kommission für eine verstärkte Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von durch Impfung vermeidbaren Krankheiten als zeitgerechte Reaktion auf die dringenden Gesundheitsgefahren, denen die EU derzeit gegenübersteht, d. h. Impfskepsis, sinkende Durchimpfungsraten bei bestimmten Krankheiten, beispiellose Ausbrüche von durch Impfung vermeidbaren Krankheiten, Unterschiede zwischen den nationalen Impfprogrammen und Impfstoffengpässe.

2.2.

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Stärkung der Synergie zwischen der Impfpolitik und verwandten Politikbereichen, einschließlich Krisenvorsorge, elektronische Gesundheitsdienste, Bewertung von Gesundheitstechnologien, FuE und Pharmaindustrie auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Ein abgestimmtes Vorgehen ist von entscheidender Bedeutung, um die Herausforderungen anzugehen, die derzeit die Wirksamkeit von Impfprogrammen EU-weit beeinträchtigen.

2.3.

Impfungen sind das wichtigste Instrument für die Primärprävention und haben dafür gesorgt, dass Europa poliofrei ist und andere Krankheiten wie Pocken ausgerottet wurden, indem die Menschen gegen die Krankheit geimpft wurden und die Ausbreitung von Viren unterbrochen wurde. Außerhalb Europas hat die Globalisierung zu verstärkten grenzüberschreitenden Strömen von Viren, Krankheitserregern, Krankheiten und auch von Menschen geführt. Die Migrationsströme der jüngsten Zeit haben diese Entwicklung beschleunigt. Impfungen tragen erheblich zur weltweiten Gesundheit bei, da Krankheiten nicht an nationalen oder regionalen Grenzen Halt machen.

2.4.

In der Europäischen Union fallen Impfprogramme in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten. Aus diesem Grund gibt es in der EU parallel verschiedene Immunisierungsstrategien, wobei einige Mitgliedstaaten fortgeschrittene Programme eingeführt haben, die auf bestimmte Krankheiten während des Lebenszyklus ausgerichtet sind bzw. geografischen Besonderheiten Rechnung tragen. Da die Ausbreitung von Krankheiten keine Grenzen kennt, unterstützt der EWSA den Vorschlag der Kommission, Leitlinien zu einem einheitlichen EU-Impfkalender zu entwickeln, um die Kompatibilität nationaler Impfkalender zu verbessern.

2.5.

Die mangelnde Abstimmung der Impfkalender innerhalb der EU schränkt auch die Freizügigkeit und die Aufenthaltsfreiheit ein, die zu den Grundrechten der EU-Bürger und ihrer Familienangehörigen zählen. Tatsächlich kann es, wie in der Mitteilung der Kommission dargelegt wird, für EU-Bürger (insbesondere für Kinder), die ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegen, zu einem Problem werden, die Kontinuität der Immunisierung aufrechtzuerhalten. Eine solche Harmonisierung sollte jedoch nicht das Spektrum der zur Verfügung stehenden Impfstoffe einschränken.

2.6.

In seinen Schlussfolgerungen vom Dezember 2014 (2) stellte der Rat fest, dass Impfungen zwar ein wirksames Instrument für die öffentliche Gesundheit sind, erneut auftretende Ansteckungskrankheiten wie Tuberkulose, Masern, Keuchhusten und Röteln aber noch immer eine Herausforderung für die öffentliche Gesundheit darstellen und eine hohe Zahl an Erkrankungen und Todesfällen verursachen können. Diese jüngsten Entwicklungen machen die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung von durch Impfungen vermeidbaren Krankheiten noch dringlicher.

2.7.

Vor diesem Hintergrund ist die Empfehlung des Rates für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, der Wirtschaft und den Interessenträgern auf EU-Ebene ein Schritt in die richtige Richtung. Der EWSA befürwortet verstärktes Handeln im Bereich der Impfungen uneingeschränkt.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Der EWSA stimmt mit der Ansicht der Europäischen Kommission überein, dass digitale Instrumente wie ein einheitlicher elektronischer Impfpass für alle Bürgerinnen und Bürger, bereitgestellt über elektronische Impfinformationssysteme, und ein Webportal zur Sensibilisierung für Nutzen und Sicherheit von Impfungen dazu beitragen könnten, die in der Mitteilung dargelegten Ziele zu erreichen. Diesbezüglich sollte die Kommission gemeinsam mit den Mitgliedstaaten daran arbeiten, die digitalen Gesundheitskompetenzen der Europäer zu verbessern, um mit diesen digitalen Instrumenten den größtmöglichen Nutzen zu erzielen.

3.2.

Da sich die Belastung durch frühere Kinderkrankheiten auf spätere Lebensphasen verschiebt und aufgrund der Verfügbarkeit neuer Impfstoffe, die Krankheiten bei Erwachsenen und den älteren Altersgruppen vorbeugen können, sind die Mitgliedstaaten aufgerufen, Impfprogramme für den gesamten Lebenszyklus in Betracht zu ziehen und dabei die kostenwirksamsten Impfstrategien zur Vorbeugung von Krankheiten je nach dem Bedarf der verschiedenen Altersgruppen (beispielsweise Jugendliche, Schwangere, Menschen mit chronischen Krankheiten sowie Minderheiten- und ältere Altersgruppen) zu berücksichtigen.

3.3.

Wie Kommissionspräsident Juncker in seiner Rede zur Lage der Union 2017 betonte, sterben auch heute noch Kinder an Krankheiten wie Masern, die durch Impfungen leicht verhütet werden können. Die Gefahr, die für Kinder von ungeimpften Mitschülern ausgeht, stellt eine erhebliche Bedrohung dar. Es kann u. U. erforderlich werden, die Aufnahme in eine Schule von einem Impfnachweis abhängig zu machen, um eine hohe Durchimpfungsquote sicherzustellen. Diesbezüglich sollten Schulen und Lehrkräfte besser über die Rolle von Impfstoffen aufgeklärt werden, damit sie mit Eltern und Kindern über Impfungen sprechen können. Dieser pädagogische Aspekt hat ausschlaggebende Bedeutung, da die Schulen Entscheidungen von Eltern maßgeblich beeinflussen können.

3.4.

Die Jugendlichen von heute könnten in höherem Alter mit tödlichen Krebsarten konfrontiert werden, die durch Impfung vermeidbar wären. Angesichts einer steigenden Krebsbelastung haben die EU-Mitgliedstaaten die Krebsbekämpfung auf ihrer politischen Agenda nach ganz oben gesetzt. Die Erfahrung zeigt, dass sich Krankheiten durch gut umgesetzte Impfstrategien fast vollständig ausrotten lassen, so beispielsweise Infektionen mit humanen Papillomaviren (HPV). Die Bereitstellung von HPV-Impfstoffen für Jugendliche sollte als wichtiger Aspekt von Krebsbekämpfungsprogrammen betrachtet werden, da HPV-Infektionen eine einzigartige Kategorie von durch Impfung vermeidbaren Krebserkrankungen darstellen.

3.5.

Die Erwachsenenimpfung ist in manchen Fällen die einzige verfügbare Präventionsmaßnahme für den Umgang mit einer bestimmten Krankheit wie z. B. Grippe oder Herpes zoster, sei es zur völligen Vermeidung oder zur Abschwächung dieser Krankheit. In der Europäischen Union wird jeder Vierte irgendwann im Leben an Gürtelrose (Herpes zoster) erkranken, annähernd 40 000 Menschen sterben jedes Jahr vorzeitig aufgrund von Ursachen im Zusammenhang mit einer Virusgrippe. Diese Zahlen lassen sich nur durch Impfungen senken.

3.6.

Angesichts der Impfskepsis — selbst unter den Beschäftigten des Gesundheitswesens — sowie aufgrund der Fälle und Ausbrüche von durch Impfung vermeidbaren Krankheiten durch die Übertragung durch Gesundheitspersonal sollten die Umsetzung und Einhaltung von Impfprogrammen für Beschäftigte des Gesundheitswesens sorgfältig überwacht werden und mit einer angemessenen Schulung im Interesse der Sicherheit der Patienten sowie des Schutzes der Beschäftigten des Gesundheitswesens im Sinne der Richtlinie 2000/54/EG einhergehen.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, „How do animal diseases affect humans?“.

(2)  Schlussfolgerungen des Rates zu Impfungen als wirksames Instrument für die öffentliche Gesundheit, 1. Dezember 2014.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/154


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 767/2008, der Verordnung (EG) Nr. 810/2009, der Verordnung (EU) 2017/2226, der Verordnung (EU) 2016/399, der Verordnung (EU) 2018/… (Interoperabilitäts-Verordnung) und der Entscheidung 2004/512/EG sowie zur Aufhebung des Beschlusses 2008/633/JI des Rates“

(COM(2018) 302 final)

(2018/C 440/26)

Hauptberichterstatter:

Ionuţ SIBIAN

Befassung

Europäisches Parlament, 2.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Beschluss des Präsidiums

10.7.2018

Verabschiedung im Plenum

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

97/3/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt eine Visumpolitik, die ein Instrument ist und auch bleiben sollte, um Tourismus und Geschäftsbeziehungen zu erleichtern und gleichzeitig Sicherheitsrisiken zu verhindern und das Risiko der irregulären Migration in die EU zu minimieren.

1.2.

Der EWSA befürwortet die Weiterentwicklung des Visa-Informationssystems (VIS) als beste technische Lösung, um das Verfahren für Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt zu erleichtern und es den Visum-, Grenz-, Asyl- und Einwanderungsbehörden zu ermöglichen, schnell und wirksam die notwendigen Informationen über Drittstaatsangehörige, die ein Visum für die Einreise in die EU benötigen, zu prüfen.

1.3.

Ein wichtiges Ziel der Maßnahmen in diesem Bereich sollte nach Ansicht des EWSA die Harmonisierung der Verfahren, Praktiken und Ergebnisse der EU-Mitgliedstaaten in Bezug auf die Visumpolitik sein.

1.4.

Die Festlegung spezifischer Risikoindikatoren für die Visumbearbeitung kann der Auffassung des EWSA zufolge die Rechte der Antragsteller beschränken. Der EWSA fordert die EU-Organe und die Behörden der Mitgliedstaaten auf, das Personal vor Ort und die Führungskräfte angemessen zu informieren und zu schulen, um mögliches Profiling auf der Grundlage der Rasse, des Geschlechts, der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion, der sexuellen Ausrichtung und sonstiger persönlicher Merkmale zu vermeiden.

1.5.

Der EWSA unterstützt das Ziel, Vermisste leichter zu identifizieren. Die Herabsetzung des Alters für die Abnahme von Fingerabdrücken bei Kindern von 12 auf 6 Jahre kann jedoch problematisch sein. Da der Vorschlag keine Beiträge und Stellungnahmen von Kinderschutzeinrichtungen und -organisationen enthält, kann der EWSA keine umfassende Bewertung der Auswirkungen des Vorschlags auf Kinder und ihren Schutz vornehmen.

1.6.

Im Zusammenhang mit diesem Ziel ist zwar die Speicherung einer Kopie der Personaldatenseite des Reisedokuments der Antragsteller im VIS akzeptabel und erforderlich, doch ist es fragwürdig, ob der Aufbau dieses neuen Instruments für die Datenerhebung Rückführungsverfahren erleichtert, wie im Vorschlag angegeben. Der EWSA geht nicht davon aus, dass die vorgeschlagenen Änderungen zwangsläufig zur Rückführung von Drittstaatsangehörigen führen werden. Stattdessen sollte es ein Instrument sein, das die Mitgliedstaaten dazu anregt, bei ihrem Handeln sowohl die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts als auch das Interesse und Wohlergehen der betroffenen Personen gebührend zu berücksichtigen. Die Drittstaatsangehörigen sollten von den Behörden ermutigt und dabei unterstützt werden, ihren Aufenthalt zu legalisieren und die Rückkehr in ihr Heimatland in Erwägung zu ziehen.

1.7.

In Bezug auf das zusätzliche Ziel des Vorschlags, nationalen Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden sowie Europol unter strengen Auflagen den Zugang zu VIS-Daten zum Zwecke der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung zu gestatten, verweist der EWSA darauf, wie wichtig strenge Auflagen sind. Der Zugang sollte im Idealfall gerichtliche Entscheidungen erfordern, die sicherstellen würden, dass ein solcher Zugang eine notwendige Beschränkung des Grundsatzes des Schutzes personenbezogener Daten darstellt.

1.8.

Der EWSA begrüßt, dass im Zusammenhang mit diesem Vorschlag umfangreiche Konsultationen durchgeführt werden. Gleichwohl hätten der Ausschuss, andere Institutionen und die Öffentlichkeit erheblich davon profitiert, wenn mehr Beiträge und Erkenntnisse der konsultierten Parteien in den Vorschlag aufgenommen worden wären. Es ist nicht klar ersichtlich, welche Art von Beiträgen vorgelegt wurde und inwiefern diese Beiträge die endgültige Form des Vorschlags beeinflusst haben.

1.9.

Der EWSA begrüßt, dass die Europäische Kommission einen Schwerpunkt auf den Schutz der Grundrechte legt. Der Ausschuss empfiehlt, die Art und Weise, wie die Mitgliedstaaten die personenbezogenen Daten von Visumantragstellern verwenden, weiter zu beobachten. Wie bereits erwähnt, sind weitere Garantien gegen Praktiken erforderlich, die zur Diskriminierung von Drittstaatsangehörigen führen, die einen Antrag auf einen kurz- oder langfristigen Aufenthalt stellen.

1.10.

Der Vorschlag hätte von detaillierteren und spezifischeren Angaben zu nach Ländern aufgeschlüsselten Visa für einen Kurzaufenthalt wie auch zu einem längerfristigen Aufenthalt und zu Aufenthaltstiteln sowohl für EU-Mitgliedstaaten als auch für Drittstaaten profitiert. Weitere Informationen zu Überschreitungen der zulässigen Aufenthaltsdauer wären auch mit Blick auf den Kinderhandel sehr nützlich gewesen. Diese Informationen sind unverzichtbar, um die Art und Struktur der Mobilität zu bewerten und die Eignung der verwendeten Instrumente festzustellen.

1.11.

Daneben empfiehlt der EWSA ein nachdrücklicheres Bekenntnis zur Zusammenarbeit mit den Regierungen und der Zivilgesellschaft der Drittstaaten, um ihre Staatsangehörigen während des gesamten Verfahrens für die Beantragung von Visa zu informieren, vorzubereiten und zu unterstützen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der EWSA unterstützt eine Visumpolitik, die ein Instrument ist und auch bleiben sollte, um Tourismus und Geschäftsbeziehungen zu erleichtern und gleichzeitig Sicherheitsrisiken zu verhindern und das Risiko der irregulären Migration in die EU zu minimieren.

2.2.

Der EWSA ist sich der migrations- und sicherheitspolitischen Herausforderungen der vergangenen Jahre bewusst, fordert die Mitgliedstaaten und die EU-Organe aber auf, einen konsensorientierten, ausgewogenen und verhältnismäßigen Ansatz zu verfolgen, um die EU so offen, verantwortungsbewusst, entgegenkommend und innovativ wie möglich zu halten.

2.3.

Der EWSA befürwortet die Weiterentwicklung des Visa-Informationssystems (VIS) als beste technische Lösung, um das Verfahren für Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt zu erleichtern und es den Visum-, Grenz-, Asyl- und Einwanderungsbehörden zu ermöglichen, schnell und wirksam die notwendigen Informationen über Drittstaatsangehörige, die ein Visum für die Einreise in die EU benötigen, zu prüfen.

2.4.

Der EWSA unterstützt die allgemeinen Ziele dieser Initiative: die Sicherheit innerhalb der EU und an ihren Grenzen zu verbessern, legalen Reisenden das Überschreiten der Außengrenze, das freie Reisen und den Aufenthalt im Raum ohne Binnengrenzkontrollen zu erleichtern und das Management der Außengrenzen des Schengen-Raums zu vereinfachen.

2.5.

Der EWSA unterstützt die spezifischen Ziele dieser Initiative: das Visumantragsverfahren zu erleichtern, Kontrollen an den Außengrenzübergangsstellen und im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu erleichtern und zu verschärfen und durch einen einfacheren Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Drittstaatsangehörige, die Inhaber von Visa für einen längerfristigen Aufenthalt bzw. von Aufenthaltstiteln sind, die innere Sicherheit des Schengen-Raums zu erhöhen.

2.6.

Ferner befürwortet der EWSA das Schließen bestehender Informationslücken im Bereich Grenzen und Sicherheit, d. h. die Aufnahme von Langzeitvisa und Aufenthaltsdokumenten in das VIS.

2.7.

In Bezug auf erweiterte Kontrollmöglichkeiten bei der Visumbearbeitung durch die Nutzung der Interoperabilität hält der EWSA die Prüfung und Bewertung der von den Antragstellern vorgelegten Informationen und die automatische Abfrage jedes der verfügbaren Systeme durch das VIS bei jedem Antrag für eine mit Blick auf das Verfahren und die Technik willkommene Entwicklung.

2.8.

Die Festlegung spezifischer Risikoindikatoren für die Visumbearbeitung kann der Auffassung des EWSA zufolge die Rechte der Antragsteller beschränken. Die Risikoindikatoren würden zwar keine personenbezogenen Daten enthalten, aber auf statistischen Daten und Informationen der Mitgliedstaaten über Bedrohungen, ungewöhnliche Ablehnungsquoten oder die Überschreitung der zulässigen Aufenthaltsdauer bestimmter Kategorien von Drittstaatsangehörigen sowie Informationen zu Risiken für die öffentliche Gesundheit basieren. Es besteht die erhebliche Gefahr, dass diese Daten und Indikatoren von den Visabehörden dazu genutzt werden, Visumanträge aufgrund der in das System eingebauten Profile und nicht aufgrund der persönlichen Umstände des Antragstellers abzulehnen. Der EWSA fordert die EU-Organe und die Behörden der Mitgliedstaaten auf, das Personal vor Ort und die Führungskräfte angemessen zu informieren und zu schulen, um mögliches Profiling auf der Grundlage der Rasse, des Geschlechts, der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion, der sexuellen Ausrichtung und sonstiger persönlicher Eigenschaften zu vermeiden.

2.9.

Der EWSA unterstützt das Ziel, Vermisste leichter zu identifizieren. Die Herabsetzung des Alters für die Abnahme von Fingerabdrücken bei Kindern von 12 auf 6 Jahre kann jedoch problematisch sein. Da der Vorschlag keine Beiträge und Stellungnahmen von Kinderschutzeinrichtungen und -organisationen enthält, kann der EWSA keine umfassende Bewertung der Auswirkungen des Vorschlags auf Kinder und ihren Schutz vornehmen.

2.10.

Im Zusammenhang mit diesem Ziel ist zwar die Speicherung einer Kopie der Personaldatenseite des Reisedokuments der Antragsteller im VIS akzeptabel und erforderlich, doch ist es fragwürdig, ob der Aufbau dieses neuen Instruments für die Datenerhebung Rückführungsverfahren erleichtert, wie im Vorschlag angegeben. Der EWSA geht nicht davon aus, dass die vorgeschlagenen Änderungen zwangsläufig zur Rückführung von Drittstaatsangehörigen führen werden. Stattdessen sollte es ein Instrument sein, das die Mitgliedstaaten dazu anregt, bei ihrem Handeln sowohl die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts als auch das Interesse und Wohlergehen der betroffenen Personen gebührend zu berücksichtigen. Die Drittstaatsangehörigen sollten von den Behörden ermutigt und dabei unterstützt werden, ihren Aufenthalt zu legalisieren und die Rückkehr in ihr Heimatland in Erwägung zu ziehen.

2.11.

In Bezug auf das zusätzliche Ziel des Vorschlags, nationalen Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden sowie Europol unter strengen Auflagen den Zugang zu VIS-Daten zum Zwecke der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung zu gestatten, verweist der EWSA darauf, wie wichtig strenge Auflagen sind. Der Zugang sollte im Idealfall gerichtliche Entscheidungen erfordern, die sicherstellen würden, dass ein solcher Zugang eine notwendige Beschränkung des Grundsatzes des Schutzes personenbezogener Daten darstellt.

2.12.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission drei unabhängige Studien in Auftrag gegeben hat: eine Studie zur Durchführbarkeit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Herabsetzung des Alters für die Abnahme von Fingerabdrücken bei Kindern im Visumverfahren und zur Speicherung einer Kopie der Reisedokumente von Visumantragstellern im VIS sowie zwei Studien zur Durchführbarkeit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Aufnahme von Daten über Visa für den längerfristigen Aufenthalt und über Aufenthaltsdokumente in das VIS.

2.13.

Der EWSA ist erfreut über den Umfang dieser Konsultationen, an denen alle betroffenen Interessenträger beteiligt wurden, u. a. nationale Behörden, die berechtigt sind, Daten in das VIS einzugeben, diese zu ändern, zu löschen oder abzufragen, für Migration und Rückkehr/Rückführung zuständige nationale Behörden, Kinderschutzbehörden, die Polizei sowie die für die Bekämpfung von Menschenhandel zuständigen Behörden, Konsularstellen und für Kontrollen an den Außengrenzübergangsstellen zuständige nationale Behörden. Ebenfalls konsultiert wurden verschiedene Behörden außerhalb der EU und Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Rechte von Kindern einsetzen. Gleichwohl hätten der Ausschuss, andere Institutionen und die Öffentlichkeit erheblich davon profitiert, wenn mehr Beiträge und Erkenntnisse der konsultierten Parteien in den Vorschlag aufgenommen worden wären. Es ist nicht klar ersichtlich, welche Art von Beiträgen vorgelegt wurde und inwiefern diese Beiträge die endgültige Form des Vorschlags beeinflusst haben.

2.14.

Der EWSA begrüßt, dass die Europäische Kommission einen Schwerpunkt auf den Schutz der Grundrechte legt. Der Ausschuss begrüßt die zusätzlichen Garantien, die mit diesem Vorschlag eingeführt werden, um im Rahmen der umfassenderen Bemühungen um den Schutz des Rechts von Einzelpersonen auf Auskunft, Berichtigung, Löschung und Regress den spezifischen Bedürfnissen hinsichtlich der neuen Datenkategorien, der Datenverarbeitung und der Datensubjekte, auf die das VIS Anwendung findet, Rechnung zu tragen. Der Ausschuss empfiehlt, die Art und Weise, wie die Mitgliedstaaten die personenbezogenen Daten von Visumantragstellern verwenden, weiter zu beobachten. Wie bereits erwähnt, sind weitere Garantien gegen Praktiken erforderlich, die zur Diskriminierung von Drittstaatsangehörigen führen, die einen Antrag auf einen kurz- oder langfristigen Aufenthalt stellen.

2.15.

Der Vorschlag hätte von detaillierteren und spezifischeren Angaben zu nach Ländern aufgeschlüsselten Visa für einen Kurzaufenthalt wie auch zu einem längerfristigen Aufenthalt und zu Aufenthaltstiteln sowohl für EU-Mitgliedstaaten als auch für Drittstaaten profitiert. Weitere Informationen zu Überschreitungen der zulässigen Aufenthaltsdauer wären auch mit Blick auf den Kinderhandel sehr nützlich gewesen. Diese Informationen sind unverzichtbar, um die Art und Struktur der Mobilität zu bewerten und die Eignung der verwendeten Instrumente festzustellen.

2.16.

Daneben empfiehlt der EWSA ein nachdrücklicheres Bekenntnis zur Zusammenarbeit mit den Regierungen und der Zivilgesellschaft der Drittstaaten, um ihre Staatsangehörigen im Verfahren für die Beantragung von Visa zu informieren, vorzubereiten und zu unterstützen.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/158


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Transparenz und Nachhaltigkeit der EU-Risikobewertung im Bereich der Lebensmittelkette und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 (allgemeines Lebensmittelrecht), der Richtlinie 2001/18/EG (absichtliche Freisetzung von GVO in die Umwelt), der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 (genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel), der Verordnung (EG) Nr. 1831/2003 (Futtermittelzusatzstoffe), der Verordnung (EG) Nr. 2065/2003 (Raucharomen), der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 (Lebensmittelkontaktmaterialien), der Verordnung (EG) Nr. 1331/2008 (einheitliches Zulassungsverfahren für Lebensmittelzusatzstoffe, -enzyme und –aromen), der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 (Pflanzenschutzmittel) und der Verordnung (EU) 2015/2283 (neuartige Lebensmittel)

(COM(2018) 179 final — 2018/0088 (COD))

(2018/C 440/27)

Berichterstatter:

Antonello PEZZINI

Mitberichterstatterin:

Ester VITALE

Befassung

Rat, 22.5.2018

Europäisches Parlament, 28.5.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 43, 114, 168 Absatz 4 Buchstabe b und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Plenums

13.2.2018

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

176/2/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) befürwortet seit jeher die Politik der Union, die den Schutz der Gesundheit in der gesamten Lebensmittelversorgungskette und in jeder Phase des Erzeugungsprozesses in den Mittelpunkt stellt: Vom Landwirt bis zum Verbraucher ist es das Ziel, Kontaminationen und Risiken im Lebensmittelbereich zu vermeiden und die Sicherheit, Hygiene und klare, transparente und verlässliche Informationen zu den Produkten zu fördern.

1.2.

Der EWSA unterstützt die Initiativen der Kommission zur Durchsetzung der Transparenz, Nachhaltigkeit und Wirksamkeit des gesamten Kontrollsystems der Lebensmittelkette, um Zuverlässigkeit und Sicherheit in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit, der Medien und der gesamten Zivilgesellschaft zu fördern.

1.3.

Der EWSA fordert mit Nachdruck, die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) auszubauen, um den zuständigen Risikomanagern eine bestmögliche wissenschaftliche Beratung bereitzustellen. Hierzu sind eine klare und transparente Kommunikation und eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten und anderen im sozialen Bereich tätigen Einrichtungen erforderlich, um ein einheitliches, sicheres und zuverlässiges System der Lebensmittelsicherheit zu garantieren.

1.4.

Der EWSA betonte bereits, dass „die EFSA ihre Kompetenz in den Jahren ihres Bestehens bewiesen hat“ und dass sie „eine sehr wichtige Rolle bei der Verhütung von Gesundheitsrisiken in Europa“ spielt (1).

1.5.

Der Ausschuss hält es für unverzichtbar, ein hohes Maß an Unabhängigkeit von externen Einflüssen zu gewährleisten und durch eine Maximierung der Kapazitäten im Bereich der Risikoanalyse die bestmögliche wissenschaftliche Kompetenz der EFSA sicherzustellen, um die Nachhaltigkeit des Risikobewertungssystems der EU, das als eines der besten weltweit gilt, zu garantieren.

1.6.

Nach Ansicht des EWSA müssen EFSA und Mitgliedstaaten im Verbund in die Lage versetzt werden, in bestmöglicher Weise eine angemessene — unabhängige, aber in sich stimmige und zwischen Risikobewertern und Risikomanagern koordinierte — Risikokommunikation zu entwickeln. Ziel ist es, den Nutzern die Ergebnisse und Schlussfolgerungen in klarer, verständlicher und interaktiver Weise zugänglich zu machen und gleichzeitig ein angemessenes Maß an Vertraulichkeit und Schutz der Rechte des geistigen Eigentums zu gewährleisten.

1.7.

Der EWSA spricht sich nachdrücklich für die Einführung eines leicht zugänglichen Online-Studienregisters aus, das die Namen der Wissenschaftler und der zertifizierten Laboratorien, die eidesstattlichen Erklärungen zur Abwesenheit von Interessenkonflikten, die Beschreibung der Ziele sowie die zur Verfügung stehenden technischen und finanziellen Mittel und ihre Quellen enthält.

1.8.

Nach Ansicht des Ausschusses muss die Wahrnehmung der Verbraucher hinsichtlich des Risikos, dem sie im Umgang mit Lebensmitteln ausgesetzt sind, durch eine gezielte Lebensmittel- und Ernährungskultur sowie eine selektive Analysefähigkeit des Risikos deutlich verbessert werden.

1.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der künftige allgemeine europäische Strategieplan für die Risikokommunikation, sofern dieser in vollkommener Übereinstimmung mit und unter Wahrung der Unabhängigkeit der EFSA formuliert wird, die entscheidenden Grundlagen enthält, auf die sich die zuständigen Akteure zu konzentrieren haben. Ihre Antworten müssen effizient, eindeutig und umgehend gegeben werden, interaktiv sein und den Bedürfnissen der Bürger hinsichtlich Sicherheit, Transparenz und Zuverlässigkeit der Lebensmittelkette gerecht werden.

1.10.

Der EWSA schlägt vor, den strukturierten und systematischen Dialog mit der Zivilgesellschaft zu verstärken. Hierbei könnte der EWSA mit seinen Strukturen für Nachhaltige Lebensmittelsysteme einen nützlichen und konkreten Beitrag leisten.

1.11.

Was die Verwaltung der EFSA betrifft, unterstützt der EWSA nachdrücklich den Vorschlag einer stärkeren Einbindung der Mitgliedstaaten und der Zivilgesellschaft in die Verwaltungsstruktur und in die wissenschaftlichen Gremien, wobei die Zusammensetzung des Verwaltungsrats an die Normen des Gemeinsamen Konzeptes für dezentrale Agenturen angeglichen werden sollte.

1.12.

Nach Dafürhalten des EWSA muss das Abkommen zwischen der EFSA und der Gemeinsamen Forschungsstelle zum Tragen gebracht werden, insbesondere bezüglich gemeinsamer Aktivitäten im Bereich Lebens- und Futtermittel. Es soll eine hochwertige und harmonisierte wissenschaftliche Analysemethode entwickelt werden, die Transparenz, Vergleichbarkeit, Inklusion und Gleichheit in Bezug auf alle beteiligten Parteien entwickelt werden.

2.   Einleitung

2.1.

Das allgemeine Lebensmittelrecht (die Rechtsvorschriften der Union zur Lebensmittelsicherheit und zur Sicherheit der Futtermittel in der Herstellungskette) ist das Fundament des Rechtsrahmens der Union für die gesamte Lebensmittelkette, „vom Erzeuger zum Verbraucher“.

2.2.

Das Gesetz sieht vor, dass die rechtlichen Bestimmungen zu Futtermitteln und Lebensmitteln auf einer wissenschaftlichen Grundlage basieren. Dies ist ebenso bekannt wie der Grundsatz der Risikoanalyse, der aus drei unterschiedlichen, aber miteinander verbundenen Komponenten besteht: Risikobewertung, Risikomanagement und Risikokommunikation.

2.3.

Mit der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 wurde die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) eingerichtet, eine unabhängige wissenschaftliche Agentur mit dem Auftrag, wissenschaftliche Gutachten zu erstellen, die die Grundlage für die von der EU in Bezug auf die Lebensmittelkette durchgeführten Maßnahmen bilden.

2.4.

Am 6. Oktober 2017 wurde der Kommission offiziell eine Europäische Bürgerinitiative von insgesamt 1 070 865 Unterstützungserklärungen aus 22 Mitgliedstaaten übergeben. Im Rahmen der Initiative „Verbot von Glyphosat und Schutz von Menschen und Umwelt vor giftigen Pestiziden“ (2) wurde die Kommission aufgefordert, den EU-Mitgliedstaaten mehrere Maßnahmen vorzuschlagen. Dazu gehörte unter anderem, „sicherzustellen, dass die wissenschaftliche Bewertung von Pestiziden für die Genehmigung durch die Regulierungsbehörden der EU allein auf der Grundlage veröffentlichter Studien erfolgt, die von den zuständigen Behörden und nicht von der Pestizidindustrie in Auftrag gegeben wurden“. Die Kommission hat sich verpflichtet, den vorliegenden Legislativvorschlag bis Ende Mai 2018 vorzulegen, um die Transparenz der wissenschaftlichen Bewertungen und die Qualität und Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Studien zu verbessern.

2.5.

Die Überprüfung der Eignung der Verordnung über das allgemeine Lebensmittelrecht (Basisverordnung) (EG) Nr. 178/2002 (3) wurde am 15. Januar 2018 abgeschlossen.

2.6.

Aus der Evaluierung geht hervor, dass die Basisverordnung nach wie vor entscheidend und geeignet ist, den Großteil der aktuellen Entwicklungen zu berücksichtigen.

2.6.1.

Insgesamt wurden die Hauptziele der Basisverordnung erreicht, d. h. ein erhöhter Schutz der menschlichen Gesundheit, die Wahrung der Verbraucherinteressen mit Bezug auf Lebensmittel und das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts.

2.6.2.

Die Einrichtung der EFSA hat die wissenschaftlichen Grundlagen der EU-Maßnahmen verbessert. Es wurden bedeutende Verbesserungen bei der Erhöhung der wissenschaftlichen Kapazitäten der EFSA, bei der Steigerung der Qualität der wissenschaftlichen Ergebnisse, der Erhebung wissenschaftlicher Daten und der Entwicklung und Harmonisierung von Risikobewertungsmethoden erzielt.

2.6.3.

Die EFSA hat die Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen wissenschaftlichen Einrichtungen sowie den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten verstärkt.

2.6.4.

Es wurden keine systematischen Inkonsistenzen bei der Anwendung des Grundsatzes der Risikoanalyse als solchem auf Unionsebene festgestellt.

2.6.5.

Die strengen Maßnahmen der EFSA in Bezug auf Unabhängigkeit und Transparenz wurden regelmäßig verbessert und ausgebaut. Da jedoch nicht alle Mitgliedstaaten im Verwaltungsrat der EFSA vertreten sind, scheint die Verwaltung der EFSA nicht mit dem gemeinsamen Konzept der dezentralen Agenturen der EU übereinzustimmen.

2.6.6.

Der mit der Basisverordnung geschaffene Rahmen für die Lebensmittelsicherheit war in einigen Fällen auch Inspirationsquelle für Drittländer beim Aufbau ihrer eigenen nationalen Gesetzgebung.

2.6.7.

Was die Risikobewertung im Zusammenhang mit den Zulassungsunterlagen betrifft, so ist die EFSA an Vertraulichkeitsvorschriften und an Analyseverfahren gebunden, die die Berücksichtigung aller verfügbaren Studien oder Erkenntnisse empfehlen. Daher berücksichtigt die EFSA in ihren Gutachten nicht nur die Studien der Industrie, sondern stützt sich bei ihren wissenschaftlichen Ergebnissen auf möglichst umfassende Studien der Fachliteratur. Die Industrie ist ihrerseits verpflichtet, bei Beantragung einer Zulassung als Teil des Dossiers die eigenen Studien einzureichen.

2.6.8.

Jüngsten Untersuchungen zufolge (4) seien einige Grenzen des gegenwärtigen EFSA-Systems zutage getreten:

es gibt Schwierigkeiten, neue Teilnehmer für das Panel zu gewinnen;

die wissenschaftliche Kompetenz stammt nur aus wenigen Mitgliedstaaten;

der aktuelle Trend, die Haushaltsmittel der öffentlichen Verwaltungen zu senken;

die geringe Finanzierung, die für die Externalisierung von Aufgaben der EFSA bereitgestellt wird.

2.6.9.

Außerdem verlangsamen langwierige Zulassungsverfahren in einigen Sektoren die Vermarktung neuer Produkte. Dennoch ist das zentralisierte Zulassungssystem im Vergleich zum Einsatz mehrerer nationaler Systeme bei der Lebensmittelzulassung immer noch effizienter.

2.7.

Der EWSA hat bereits betont, dass „die EFSA ihre Kompetenz in den Jahren ihres Bestehens bewiesen hat“ und dass sie „eine sehr wichtige Rolle bei der Verhütung von Gesundheitsrisiken in Europa“ spielt (5).

2.8.

Der EWSA hat angesichts des Einflusses der nicht immer übereinstimmenden oder eindeutigen wissenschaftlichen Gutachten in einer früheren Stellungnahme der EFSA empfohlen, „diesem Phänomen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, da die wissenschaftliche Fachliteratur eine wichtige Referenz für das Bewertungsverfahren ist“ (6), und die Kommission gebeten, auf der Internetseite der Agentur die den angenommenen Schlussfolgerungen zugrunde liegenden Pflichtstudien und die zugehörigen Rohdaten zu veröffentlichen.

2.9.

Der EWSA hat auch darauf hingewiesen (7), dass die Bewertung durch die EFSA auf einer wissenschaftlichen Studie beruht, die die Sicherheit eines bestimmten Produkts nachweist. Nach den derzeitigen Rechtsvorschriften muss diese Studie von dem Unternehmen vorgelegt werden, das das Produkt auf den Markt bringen will. Hierbei handelt es sich um den kritischsten Aspekt, da die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien je nach Finanzierungsquelle und methodischem Ansatz unterschiedlich sein können.

2.10.

Generell forderte der EWSA unlängst eine Lebensmittelpolitik für das 21. Jahrhundert, die eine ganze Reihe von Kriterien erfüllt in puncto Lebensmittelqualität, Gesundheit, Umwelt, soziale und kulturelle Werte, solide wirtschaftliche Grundsätze, menschenwürdige Arbeitsplätze, vollständig internalisierte Kosten, gute Regierungsführung“ (8).

2.11.

Der Europäische Bürgerbeauftragte hat Untersuchungen und Maßnahmen zum Risikobewertungsmodell der EU für die Lebensmittelkette durchgeführt. In einem Schreiben an die Kommission vom 15. März 2018 hat er auf einige Leitprinzipien zur Verbesserung dieses Modells hingewiesen, und zwar:

Unabhängigkeit und Transparenz;

Veröffentlichungspflicht für „Orientierungsstudien“ im Falle der wissenschaftlichen Bewertung;

eine stärkere öffentliche Kontrolle der eigenen Risikobewertungsfunktionen in einer frühen Prozessphase;

die Möglichkeit, die Öffentlichkeit und die Interessengruppen am Risikobewertungsprozess zu beteiligen (9);

Interessengruppen die Teilnahme an den regulären Sitzungen ermöglichen, und nicht nur wie derzeit üblich an „offenen Plenarsitzungen“, wobei selbstverständlich die Vertraulichkeit gewährleistet sein muss.

2.12.

Der Europäische Bürgerbeauftragte hat außerdem darauf hingewiesen, dass die Instrumente zur öffentlichen Information, die die EFSA verwendet, um die Öffentlichkeit für die Risiken, die mit bestimmten Stoffen oder Produkten verbunden sind, zu sensibilisieren, in allen 24 Amtssprachen der Union verfügbar sein sollten. Ferner müssen die Rechte der Menschen mit Behinderungen gewahrt und ihre Bedürfnisse in der Risikokommunikation berücksichtigt werden (10).

3.   Die Vorschläge der Kommission

3.1.

Die Kommission schlägt die Überarbeitung der Verordnung über das allgemeine Lebensmittelrecht und die Überarbeitung von acht sektorbezogenen Rechtsvorschriften vor, um sie mit den allgemeinen Rechtsvorschriften in Einklang zu bringen, die Transparenz zu erhöhen und die Zuverlässigkeit, Objektivität und Unabhängigkeit der Studien zu gewährleisten.

3.2.

Zwecks Verbesserung der Verwaltung wird eine stärkere Einbindung der Mitgliedstaaten in die Verwaltungsstruktur und in die wissenschaftlichen Forschungsgremien der EFSA sowie ein größeres Engagement der einzelstaatlichen wissenschaftlichen Einrichtungen bei der Bereitstellung von Daten und wissenschaftlichen Studien empfohlen.

3.3.

Schließlich soll durch die Einführung eines allgemeinen Kommunikationsplans die Risikokommunikation mit den Bürgern verbessert und verstärkt werden, und zwar mittels gemeinsamer Maßnahmen zur Stärkung des Vertrauens der Verbraucher und zur Förderung des öffentlichen Bewusstseins und Verständnisses.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA befürwortet seit jeher die Politik der Union, die den Schutz der Gesundheit in der gesamten Lebensmittelversorgungskette in allen Phasen des Erzeugungsprozesses in den Mittelpunkt stellt. Diese Politik sollte Kontaminationen und Risiken im Lebensmittelbereich vermeiden, die Lebensmittelsicherheit und -hygiene unterstützen, eine verständliche, transparente und wahrheitsgemäße Information zu den Produkten zur Verfügung stellen und die Gesundheit der Pflanzen und das Wohlbefinden der Tiere sicherstellen.

4.1.1.

Der EWSA fordert mit Nachdruck, dass die EU dafür sorgt, dass die europäische Lebensmittelkette so sicher wie möglich ist, indem sie den zuständigen Risikomanagern über die EFSA eine bestmögliche wissenschaftliche Beratung bereitstellt, der Öffentlichkeit die Risiken verständlich und transparent kommuniziert und mit den Mitgliedstaaten und anderen Beteiligten zusammenarbeitet, um ein sicheres und einheitliches System der Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten. Es wäre nützlich,

die Modalitäten der Genehmigungsverfahren zu überprüfen, um Einheitlichkeit und Effizienz zu verbessern und den Markteintritt zu beschleunigen;

die für Kleinstunternehmen geltenden Befreiungen und vereinfachten Vorschriften in Hinblick auf ein hohes Maß an Schutz der öffentlichen Gesundheit zu überprüfen;

die Auswirkungen bestehender Zulassungen neu zu bewerten, die die Arbeitslast der EFSA vergrößern;

die Prozesse zu vereinfachen, um mehr Transparenz zu schaffen.

4.2.

Der EWSA hält es für unverzichtbar, ein hohes Maß an Unabhängigkeit von externen Einflüssen und eine maximale wissenschaftliche Kompetenz innerhalb der EFSA zu garantieren, indem ihre Kapazitäten im Bereich der Risikoanalyse maximiert werden, um die Nachhaltigkeit des Risikobewertungssystems der EU zu gewährleisten.

4.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass die europäischen Bürger dank der EU-Rechtsvorschriften einen der weltweit höchsten Standards bei der Lebensmittelsicherheit genießen. Deshalb ist es nach Auffassung des EWSA absolut unverzichtbar, nicht nur unabhängige wissenschaftliche Analysen, vollständige Transparenz und eine interaktive Kommunikation während des gesamten Risikobewertungsprozesses unter voller Einbindung und Aufteilung der Zuständigkeiten aller Mitgliedstaaten zu garantieren, sondern auch und vor allem entschlossene Maßnahmen in Bezug auf die Mechanismen zur Risikowahrnehmung durch die Zivilgesellschaft zu ergreifen.

4.4.

Aus Sicht des EWSA ist es von grundlegender Bedeutung, sichere Lebensmittel für die Verbraucher bereitzustellen und das Vertrauen aufrechtzuerhalten, damit das Verhältnis zu den Bürgern positiv und vertrauenswürdig bleibt und sich positive Auswirkungen auf dem Lebensmittelmarkt zeigen.

4.5.

Die wissenschaftliche Gemeinschaft muss Vertrauen in die Rolle der EFSA in Sachen Lebensmittelsicherheit haben und die Gutachten müssen zentrale Anhaltspunkte dafür sein, dass die in Verkehr gebrachten Lebensmittel sicher sind.

4.6.

Nach Ansicht des EWSA befindet sich die EFSA in der optimalen Position, um eine geeignete Risikokommunikation zu entwickeln. Die Mitteilungen müssen dabei einfach zu verstehen sein, damit die Nutzer die Ergebnisse und Schlussfolgerungen auf klare und transparente Weise erfassen können. Gleichzeitig müssen Vertraulichkeit und die Rechte geistigen Eigentums gewahrt bleiben, um Innovation und Wettbewerbsfähigkeit nicht zu beeinträchtigen.

4.7.

Eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dafür, dass die Risikokommunikation über bestimmte Lebensmittel für die verschiedenen Ansprechpartner verständlich, angemessen, rasch und einheitlich ist, besteht in einer stärkeren Koordinierung zwischen dem Risikobewerter, dem Risikomanager, den Mitgliedstaaten und den Beteiligten auf der Grundlage einer koordinierten Kommunikation.

4.7.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Verbraucher für das Risiko, dem sie beim Verzehr von Lebensmitteln ausgesetzt sind, bezüglich Schädlichkeit, Lebensmittelkultur und Konsummuster stärker sensibilisiert werden müssen.

4.7.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der künftige allgemeine europäische Strategieplan für die Risikokommunikation — sofern dieser von einer Reihe operativer Maßnahmen begleitet wird, die auf den jeweiligen Bereich zugeschnitten sind — ein Schlüsselelement darstellt, auf dessen Grundlage die Fähigkeit aller verantwortlichen Akteure der unterschiedlichen Ebenen beurteilt werden kann, effiziente, eindeutige und umgehende Antworten zu geben, die den Bedürfnissen der Bürger hinsichtlich Sicherheit, Transparenz und Zuverlässigkeit der Lebensmittelkette gerecht werden.

4.7.3.

Unsicherheiten sollten erkannt und beschrieben und eventuelle Lücken in den Daten oder bei Fragen im Zusammenhang mit nicht harmonisierten Analysemethoden aufgezeigt werden. In diesem Zusammenhang ist es von grundlegender Bedeutung, dass sich die Kommunikationsteilnehmer gut verständigen, die Kommunikationskanäle interaktiv und überprüfbar sind und ihre Effizienz kontinuierlich überwacht wird.

4.7.4.

Der EWSA hält es weiterhin für unabdingbar, dass die Kommunikationsmaßnahmen von Kampagnen zur Bekämpfung von Desinformation und falschen Überzeugungen begleitet werden, um zu vermeiden, dass die korrekten Risikoanalysen in verzerrender Weise verwendet werden, um Innovation, insbesondere bei den KMU, zu blockieren.

4.7.5.

Es ist wichtig, die Koordination mit den nationalen Behörden und Agenturen zu verstärken, um ein wirksames Warnsystem und Einheitlichkeit bei der Kommunikation zu gewährleisten und um in einen strukturierten und systematischen Dialog mit der Zivilgesellschaft zu treten. Hier könnte der EWSA mit seinen Strukturen für Nachhaltige Lebensmittelsysteme einen nützlichen und konkreten Beitrag leisten.

4.7.6.

Schließlich muss die Koordination und Zusammenarbeit mit den größten EU-Handelspartnern auf internationaler Ebene, insbesondere im Bereich der Freihandelsabkommen, verstärkt werden, um gemeinsame Leitlinien für die Risikobewertung zu gewährleisten und harmonisierte methodische Kriterien für die Bewertung im Einklang mit der globalen Risikobewertung laut Codex Alimentarius zu entwickeln.

4.8.

Gleichermaßen ist es notwendig, dass die EFSA sich verpflichtet, klare Leitlinien und Informationen zu liefern, die den Unternehmen, die Anfragen einreichen, Sicherheit und Vorhersehbarkeit bieten.

4.9.

Um alle Schlüsselelemente eines einzigen Dossiers zu erhalten, müsste sich die EFSA dem Dialog mit den Unternehmen bei der Analyse eines bestimmten Dossiers noch weiter öffnen, die ihr verfügbaren Ausgangsdaten zur Verfügung stellen und mit den Angaben der betroffenen Unternehmen ergänzen.

4.10.

Nach Auffassung des EWSA muss die Unabhängigkeit der der EFSA zur Seite stehenden Regulierungsbehörden verstärkt werden, um den Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit in Erinnerung zu rufen, wie wichtig hochwertige Daten sind, und zwar unabhängig von ihrer Herkunft. Eine stärkere öffentliche Kontrolle der Risikobewertungsfunktionen der EFSA in einer früheren Prozessphase, wie das bereits im Rahmen des Stakeholder-Engagement-Ansatzes geschieht, gewährleistet derzeit bessere Beziehungen zu allen Interessenträgern.

4.11.

Der EWSA fordert zunehmend gestraffte und transparente Verfahren, die Hand in Hand gehen mit den zu bewältigenden Herausforderungen bezüglich der Rechte geistigen Eigentums der Dateneigentümer.

4.12.

Der EWSA unterstützt die vom EFSA-Beirat kürzlich vorgebrachte Forderung nach höheren öffentlichen Investitionen in die Forschung zur Lebensmittelsicherheit, um zu vermeiden, dass eine von der Industrie finanzierte Forschung anderen als den öffentlichen Interessen dient, und um das volle Vertrauen der Verbraucher in die Lebensmittelrisikobewertung der EU sicherzustellen.

4.13.

Was die Verwaltung der EFSA betrifft, unterstützt der EWSA den Vorschlag einer stärkeren Einbindung der Mitgliedstaaten in die Verwaltungsstrukturen und die wissenschaftlichen Gremien. Die Zusammensetzung des Verwaltungsrats der EFSA sollte an die Standards des gemeinsamen Konzepts für dezentralisierte Agenturen angepasst und gleichzeitig ein strukturierter Dialog mit der Zivilgesellschaft aufgenommen werden.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag eines Studienregisters, sofern auf dieses problemlos online zugegriffen werden kann und es die Namen der Wissenschaftler und der zertifizierten Laboratorien, die eidesstattlichen Erklärungen zur Abwesenheit von Interessenkonflikten, eine Beschreibung der Ziele, die zur Verfügung stehenden technischen und finanziellen Mittel und ihre Quellen, den Zeitrahmen und die Modalitäten der gewählten interaktiven Kommunikationsmethoden sowie alle erforderlichen Folgestudien umfasst.

5.2.

Die rechtliche Bezugsnorm für Laborstandards (Grundsätze der Guten Laborpraxis, GLP) (11), die von der OECD erarbeitet wurden, ist 2004/10/EG. Die Rechtsvorschriften und der Betrieb der Laboratorien für Lebensmittelsicherheit (12) sollten durch Audit-Systeme für die Datenverarbeitung ergänzt werden, um sicherzustellen, dass die Studien der Realität entsprechen.

5.3.

Nach Dafürhalten des EWSA muss das Abkommen zwischen der EFSA und der Gemeinsamen Forschungsstelle zum Tragen gebracht werden, insbesondere bezüglich gemeinsamer Aktivitäten im Bereich Lebens- und Futtermittel, alternativer Methoden des Tierschutzes, kombinierter Exposition gegenüber chemischen Stoffen und Gemischen und der Grunddatenerhebung für die Risikobewertung. Insbesondere sollten die EFSA und die Gemeinsame Forschungsstelle eine hochwertige und harmonisierte wissenschaftliche Analysemethode entwickeln, die Transparenz, Vergleichbarkeit, Inklusion und Gleichheit in Bezug auf alle beteiligten Parteien gewährleistet.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 268 vom 14.8.2015, S. 1.

(2)  Siehe http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/initiatives/successful/details/2017/000002.

(3)  Siehe Zusammenfassung der REFIT-Evaluierung zum allgemeinen Lebensmittelrecht (Verordnung (EG) Nr. 178/2002) {SWD(2018) 38 final}.

(4)  Siehe SWD(2018) 37 final vom 15.1.2018.

(5)  ABl. C 268 vom 14.8.2015, S. 1.

(6)  ABl. C 268 vom 14.8.2015, S. 1.

(7)  Ebda.

(8)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 18.

(9)  Schreiben der Europäischen Bürgerbeauftragten.

(10)  Ebda.

(11)  OECD-Grundsätze der Guten Laborpraxis.

(12)  Siehe Verordnung (EG) Nr. 882/2004.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/165


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über unlautere Handelspraktiken in den Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen in der Lebensmittelversorgungskette“

(COM(2018) 173 final)

(2018/C 440/28)

Berichterstatter:

Peter SCHMIDT

Befassung

Rat der Europäischen Union, 30.4.2018

Europäisches Parlament, 2.5.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Präsidiums

22.5.2018

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

172/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Unlautere Handelspraktiken in der Lebensmittelversorgungskette haben ihren Ursprung in ungleichen Verhandlungspositionen der verschiedenen Marktteilnehmer in der Lebensmittelkette und wirken sich in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht negativ aus. Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission zur Eindämmung unlauterer Handelspraktiken als notwendigen ersten Schritt zum Schutz der schwächeren Marktteilnehmer, insbesondere der Landwirte, der Arbeitnehmer und bestimmter Marktteilnehmer, sowie zur Verbesserung der Verwaltung in der Lebensmittelversorgungskette. Ein Regulierungsansatz und ein Rechtsrahmen mit wirksamen und verlässlichen Durchsetzungsmechanismen sind der Weg, um auf EU-Ebene wirksam gegen unlautere Handelspraktiken vorzugehen.

1.2

Der EWSA bedauert jedoch, dass die Kommission durch das Verbot lediglich einer bestimmten Anzahl unlauterer Handelspraktiken für die EU nicht mehr als einen minimalen einheitlichen Schutzstandard einführt. Es müssen alle missbräuchlichen Praktiken verboten werden.

1.3

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Beschränkung des Schutzes gegen unlautere Handelspraktiken auf Verkäufe kleinerer und mittlerer Lieferanten an Käufer, bei denen es sich nicht um KMU handelt, unzureichend ist, um dem Problem der ungleichen Marktmacht wirksam zu begegnen, und dass dieser Ansatz zu kurz greift. Der Schutz sollte unabhängig von der Größe auf alle Marktteilnehmer innerhalb und außerhalb der EU ausgeweitet werden. Selbst wenn große Marktteilnehmer Opfer unlauterer Handelspraktiken werden, werden die wirtschaftlichen Auswirkungen regelmäßig an die schwächsten Teilnehmer der Versorgungskette weitergegeben.

1.4

Im Bereich der Durchsetzung begrüßt der EWSA den Kommissionsvorschlag, einen harmonisierten EU-Rahmen für Durchsetzungsbehörden zu schaffen. Allerdings sollten auch die Durchsetzungsmechanismen gestärkt werden, z. B. mit einem eigenen Verfahren vor einem Ombudsmann, Sammelklagen und einer behördlichen Durchsetzung der Bestimmungen zur Wahrung der Anonymität von Beschwerdeführern. Derartige Mechanismen sollten die Möglichkeit von Sanktionen beinhalten. Zur Vereinfachung der Beschwerdeverfahren sollte die Schriftform für Verträge obligatorisch sein, was auch die Verhandlungen gerechter gestalten würde.

1.5

Neben dem Kampf gegen unlautere Handelspraktiken empfiehlt der EWSA der Kommission, Anreize und Unterstützung für Geschäftsmodelle bereitzustellen, die in der Lebensmittelversorgungskette zu mehr Nachhaltigkeit (Verkürzung, mehr Transparenz usw.) sowie zu Ausgewogenheit und mehr Effizienz beitragen, damit die Marktmacht ausgewogener verteilt wird.

1.6

Mit Blick auf die Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung bekräftigt der EWSA abschließend, dass die Förderung gerechterer Handelspraktiken Teil einer umfassenden EU-Lebensmittelpolitik sein sollte, mit der sichergestellt wird, dass die Lebensmittelversorgungskette wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltiger gestaltet wird.

2.   Einführung

2.1

Unlautere Handelspraktiken werden definiert als „Handelspraktiken zwischen Unternehmen, die von der guten Handelspraxis abweichen sowie gegen das Gebot von Treu und Glauben und des redlichen Geschäftsverkehrs verstoßen und einem Handelspartner einseitig von einem anderen aufgezwungen werden“ (1). Aufgrund der starken Ungleichgewichte zwischen kleinen und großen Marktteilnehmern ist die Lebensmittelversorgungskette besonders anfällig für unlautere Handelspraktiken. Unlautere Handelspraktiken können in allen Bereichen der Lebensmittelversorgungskette auftreten, und unlautere Handelspraktiken in einem bestimmten Teil der Kette können sich je nach Marktmacht der beteiligten Akteure auf andere Bereiche auswirken (2).

2.2

Wie in der im Oktober 2016 verabschiedeten EWSA-Stellungnahme „Faire Versorgungsketten in der Agrar- und Ernährungswirtschaft“ (3) dargelegt wird‚ hat eine Konzentration der Verhandlungsmacht zum Missbrauch marktbeherrschender Stellungen geführt, sodass die schwächeren Akteure zunehmend unlauteren Handelspraktiken ausgesetzt sind. Dadurch wird das wirtschaftliche Risiko vom Markt auf die Versorgungskette übertragen, was besonders negative Auswirkungen für die Verbraucher und einige Akteure wie Landwirte, Arbeitnehmer und KMU hat. Das Problem unlauterer Handelspraktiken wird von allen Beteiligten in der Lebensmittelversorgungskette als solches gesehen, und Berichten zufolge sind die meisten Marktteilnehmer auch schon mit unlauteren Handelspraktiken konfrontiert gewesen (4).

2.3

Insbesondere sollten die Auswirkungen auf die Verbraucher hervorgehoben werden. Aufgrund des Preisdrucks sind die Lebensmittelverarbeitungsbetriebe gezwungen, so kostengünstig wie möglich zu produzieren — worunter möglicherweise die Qualität der Lebensmittel für die Verbraucher sowie die Lebensmittelsicherheit leiden. Zur Kostensenkung verwenden die Unternehmen zuweilen billigere Rohstoffe, wodurch Qualität und Wert der Lebensmittel beeinträchtigt werden. So werden beispielsweise für viele Produkte Transfettsäuren anstatt gesünderer Öle und Fette aus Europa verwendet (5).

2.4

Der Druck auf die schwächsten Marktteilnehmer in der Lebensmittelversorgungskette nimmt zu. Den jüngsten Eurostat-Daten zufolge nimmt der Anteil der Bruttowertschöpfung der Einzelhändler weiter zu. Dies ist auf eine größere Konzentration des Einzelhandels und des Verarbeitungssektors in der Lebensmittelversorgungskette zurückzuführen, die auf einer fehlerhaften Auslegung des Kartellrechts basiert. Daher muss die Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette verbessert werden, um sicherzustellen, dass die Einnahmen über die Lebensmittelversorgungskette fair verteilt werden. Der Einfluss der Einzelhändler darf jedoch angesichts ihrer Rolle bei der Bereitstellung von Artikeln des täglichen Bedarfs nicht unterschätzt werden.

2.5

Die Bekämpfung unlauterer Handelspraktiken ist neben der Verringerung der Preisvolatilität der Märkte und der Stärkung der Rolle der Erzeugerorganisationen einer der zentralen Punkte für ein besseres Funktionieren der Lebensmittelversorgungskette. Im Juni 2016 forderte das Europäische Parlament die Kommission in einer Entschließung (6) auf, einen Rechtsrahmen zur Bekämpfung unlauterer Handelspraktiken vorzuschlagen. Diese Forderung wurde im Oktober 2016 vom EWSA und im November 2016 von der Task Force „Agrarmärkte“ aufgegriffen.

2.6

In 20 Mitgliedstaaten gibt es bereits verschiedene Rechtsetzungsinitiativen zur Bekämpfung unlauterer Handelspraktiken, was — zusammen mit der bestehenden Initiative zur Verbesserung der Lebensmittelversorgungskette („Supply Chain Initiative“ — SCI) — das Bewusstsein für die ungleiche Machtverteilung in der Lebensmittelversorgungskette geschärft hat. Allerdings konnte das Problem unlauterer Handelspraktiken bisher durch sehr wenige nationale oder freiwillige Ansätze gelöst werden. Im April 2018 beschloss die Kommission, einen eigenen Legislativvorschlag vorzulegen, in dem erklärt wird, dass die völlig unterschiedlichen Vorschriften zur Eindämmung unlauterer Handelspraktiken in den Mitgliedstaaten bzw. das Fehlen solcher Vorschriften dem Ziel, der landwirtschaftlichen Bevölkerung eine angemessene Lebenshaltung zu gewährleisten, abträglich sein könnte (7).

3.   Vorschlag der Europäischen Kommission

3.1

Mit dem vorliegenden Vorschlag für eine Richtlinie sollen unlautere Handelspraktiken in der Lebensmittelversorgungskette eingedämmt werden, und zwar durch Einführung eines EU-weit einheitlichen Mindestschutzstandards, der eine Liste spezifischer verbotener Praktiken umfasst, nämlich: verspätete Zahlungen für verderbliche Lebensmittel, kurzfristige Stornierungen, einseitige und rückwirkende Änderungen von Vertragsbedingungen sowie der Zwang, Lieferanten die Kosten für Abfallprodukte tragen zu lassen. Andere Praktiken sind nur zulässig, wenn zwischen den Parteien im Vorfeld klare und eindeutige Vereinbarungen getroffen werden: ein Käufer schickt nicht verkaufte Lebensmittelerzeugnisse an einen Lieferanten zurück; ein Käufer verlangt von einem Lieferanten eine Zahlung zur Absicherung oder Aufrechterhaltung eines Vertrages über die Lieferung von Lebensmittelerzeugnissen; ein Lieferant zahlt für Werbung für Lebensmittelerzeugnisse, die der Käufer verkauft, bzw. für deren Vermarktung.

3.2

Dieser Schutz gegen unlautere Handelspraktiken besteht lediglich, wenn Lebensmittelerzeugnisse von Lieferanten, die kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sind, an Käufer verkauft werden, bei denen es sich nicht um KMU handelt (8).

3.3

Weiterhin ist im Kommissionsvorschlag vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten für die Durchsetzung der neuen Vorschriften eine Behörde benennen. Bei nachgewiesenen Verstößen verhängt die zuständige Stelle verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen. Die Durchsetzungsbehörde kann aus eigener Initiative oder aufgrund einer Beschwerde Untersuchungen einleiten. In diesem Fall kann die eine Beschwerde einreichende Partei zum Schutz ihrer Position gegenüber ihrem Handelspartner eine vertrauliche und anonyme Behandlung beantragen. Außerdem wird von der Kommission ein Mechanismus zur Koordinierung der Durchsetzungsbehörden und zur Förderung des Austauschs bewährter Verfahren eingerichtet und unterstützt.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission als einen entscheidenden ersten Schritt zur Einleitung eines Rechtsetzungsverfahrens zur Regulierung unlauterer Handelspraktiken in der gesamten EU, die er in seiner Stellungnahme von 2016 nachdrücklich empfohlen hat. Dies ist eine notwendige Entwicklung, um die schwächeren Marktteilnehmer in der Lebensmittelversorgungskette, nämlich Landwirte und Arbeitnehmer, zu schützen und dafür zu sorgen, dass ihre Einkünfte nicht mehr so stark schwanken und verlässlicher sind. Der Vorschlag trägt insbesondere dazu bei, ihre schwache Verhandlungsposition zu stärken und so die Verwaltung der Lebensmittelversorgungskette zu verbessern.

4.2

In ihrem Vorschlag räumt die Kommission ein, dass es unwahrscheinlich ist, dass sich die EU-weite SCI zu einem umfassenden Regelungsrahmen entwickelt, der legislative Maßnahmen, einschließlich der Durchsetzung, überflüssig machen würde (9). In diesem Zusammenhang weist der EWSA erneut darauf hin, dass die SCI und andere freiwillige Systeme auf nationaler Ebene tatsächlich sinnvolle Maßnahmen darstellen können, jedoch lediglich als Ergänzung wirksamer und solider Mechanismen zur Rechtsdurchsetzung auf Ebene der Mitgliedstaaten, nicht aber als deren Ersatz (10).

4.3

Der EWSA begrüßt des Weiteren, dass entsprechend der in seiner letzten Stellungnahme zu diesem Thema enthaltenen Empfehlung ein EU-weit harmonisiertes Netz von Durchsetzungsbehörden geschaffen werden soll. Die Sicherstellung einer wirksamen Zusammenarbeit zwischen den Durchsetzungsbehörden ist von entscheidender Bedeutung für die Bekämpfung länderübergreifender unlauterer Handelspraktiken, gegen die anders nicht vorgegangen werden könnte.

4.4

Der EWSA bedauert jedoch, dass die Kommission einen Mindestharmonisierungsansatz verfolgt, der nicht ausreicht, um alle missbräuchlichen Praktiken in der Lebensmittelversorgungskette zu beseitigen. Insbesondere bedauert der Ausschuss zutiefst, dass Käufer die einzigen sind, die missbräuchliche Praktiken anwenden können, und dass in diesem Rahmen nur eine begrenzte Anzahl unlauterer Handelspraktiken verboten wird. Darauf wird unter Ziffer 5 noch näher eingegangen.

4.5

Der EWSA bezweifelt auch den Sinn des Vorschlags der Kommission, den Schutz gegen unlautere Handelspraktiken auf KMU-Lieferanten zu beschränken, wenn sie Verkäufe an Käufer tätigen, bei denen es sich nicht um KMU handelt. Im Sinne der Effektivität und des Nutzens sollte der Schutz vor unlauteren Handelspraktiken unabhängig von der Größe der jeweiligen Akteure der Lebensmittelversorgungskette für alle gelten, um in allen Handelsbeziehungen Wirkung entfalten zu können. Dessen ungeachtet stellt der EWSA fest, dass KMU besonders gefährdet sind. In dem Vorschlag wird außerdem nicht auf das Problem der ungleichen Verhandlungsposition und der wirtschaftlichen Abhängigkeit eingegangen, die nicht notwendigerweise mit der Wirtschaftskraft der Marktteilnehmer zusammenhängen müssen.

4.6

Der Anwendungsbereich des Vorschlags ist nicht weit genug gefasst und sollte auch landwirtschaftliche Erzeugnisse, bei denen es sich nicht um Lebensmittel handelt, beispielsweise Gartenbauerzeugnisse, sowie Futtermittel umfassen.

4.7

Die Bekämpfung unlauterer Handelspraktiken ist (neben der Senkung der Marktvolatilität und der Stärkung der Rolle der Erzeugerorganisationen) ein wesentlicher Punkt, um die Nahrungsmittelkette wirtschaftlicher, sozialer und ökologisch nachhaltiger zu gestalten. Der EWSA bekräftigt, dass die Förderung gerechterer Handelspraktiken Teil einer umfassenden EU-Lebensmittelpolitik im Hinblick auf die Umsetzung der Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung sein sollte. Insbesondere sollten durch eine derartige umfassende Politik faire Preise für die Erzeuger gewährleistet werden, damit die Landwirtschaft rentabel bleibt (11).

4.8

Auch wenn dies über den Rahmen des Kommissionsvorschlags hinausgeht, verweist der EWSA erneut darauf, dass darauf hingewirkt werden muss, dass die Gesellschaft als Ganzes Lebensmitteln eine stärkere Wertschätzung entgegenbringt. Der EWSA würde in Zusammenarbeit mit entsprechenden Organisationen eine europaweite Informations- und Sensibilisierungskampagne zum „Wert von Lebensmitteln“ und zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung unterstützen (12).

5.   Besondere Bemerkungen

Liste verbotener unlauterer Handelspraktiken

5.1

Unlautere Handelspraktiken können allgemein als Vorgehensweisen definiert werden, die gröblich von der guten Handelspraxis abweichen und gegen das Gebot von Treu und Glauben und des redlichen Geschäftsverkehrs verstoßen (13). Dazu gehören auch sämtliche Praktiken, bei denen eine ungerechtfertigte oder unverhältnismäßige Übertragung von Risiken auf eine Vertragspartei erfolgt.

5.2

Die Kommission hat lediglich eine Reihe unlauterer Handelspraktiken untersagt. Der EWSA bekräftigt die in seiner letzten Stellungnahme zu diesem Thema erhobene Forderung, dass ein Verbot aller unlauteren Praktiken erforderlich ist, beispielsweise (aber nicht ausschließlich), der folgenden Praktiken:

unbillige Übertragung des wirtschaftlichen Risikos;

unklare oder vage Vertragsbedingungen;

einseitige, rückwirkende Änderungen der Verträge einschließlich der Preise;

geringere Produktqualität oder weniger Verbraucherinformationen, ohne dass dies den Käufern mitgeteilt, mit ihnen abgestimmt oder vereinbart wird;

Beiträge zu Werbe- oder Vermarktungskosten;

Zahlungsverzögerungen;

Listungs- oder Treuegelder;

Gebühren für die Regalpositionierung;

Forderungen für Abfallprodukte oder unverkaufte Ware;

Nutzung produktkosmetischer Spezifikationen zur Zurückweisung von Lebensmittelsendungen oder zur Minderung des gezahlten Preises;

Druckausübung zur Preisminderung;

Berechnung fiktiver Dienstleistungen;

Auftragsannullierung und Verringerung der veranschlagten Mengen in letzter Minute;

Androhung der Auslistung;

Pauschalgebühren, die Unternehmen von den Lieferanten als Bedingung für die Aufnahme in eine Lieferantenliste verlangen („pay to stay“).

Die Mitgliedstaaten sollten die Möglichkeit haben, die Liste entsprechend der jeweiligen Situation in ihrem Land zu erweitern.

5.3

Der EWSA fordert, den Verkauf von Waren unter dem Einstandspreis durch Lebensmitteleinzelhändler zu verbieten (14). Insbesondere empfiehlt der EWSA, dass Lieferanten wie beispielsweise Landwirte einen fairen und gerechten Preis erhalten, der den Lieferanten ein mit Blick auf Investitionen, Innovation und nachhaltige Erzeugung angemessenes Einkommen ermöglicht.

5.4

Alle im Kommissionsvorschlag ausdrücklich untersagten unlauteren Handelspraktiken betreffen Situationen, in denen ein Vertrag bereits besteht. Weitaus häufiger finden unlautere Handelspraktiken, etwa die Ausübung von Druck auf Marktteilnehmer, jedoch bereits im Vorfeld eines Vertragsabschlusses statt. Die Beispiele sollten daher soweit ausgedehnt werden, dass Fälle eingeschlossen werden, in denen ein Unternehmen (mit Marktmacht) von einem anderen Unternehmen verlangt, ihm ohne sachlich gerechtfertigten Grund Vorteile zu gewähren (vgl. Paragraph 19 Absatz 2, Ziffer 5 des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)). Diese Bestimmung des deutschen Kartellrechts erweist sich durchaus als geeignetes Mittel zur Bekämpfung des Missbrauchs von Nachfragemacht. Mit Blick auf das Verhältnis eines marktmächtigen deutschen Lebensmitteleinzelhändlers zu seinen Lieferanten ist die Entscheidung des BGH in der Sache „Hochzeitsrabatte“ dafür ein aktueller eindrucksvoller Beleg (15).

Definition von „KMU“

5.5

Die Beschränkung des Schutzes gegen unlautere Handelspraktiken ausschließlich auf Lieferanten, bei denen es sich um KMU handelt, reicht nicht aus, um das Problem der ungleichen Marktmacht in der Lebensmittelversorgungskette wirksam anzugehen. Der EWSA hebt den „Dominoeffekt“ hervor, der entstehen kann, wenn große Marktteilnehmer unlauteren Handelspraktiken ausgesetzt sind. Unlautere Handelspraktiken haben klare negative Auswirkungen, unabhängig davon, wer dafür verantwortlich ist. Die wirtschaftlichen Auswirkungen werden unweigerlich an die schwächsten Akteure in der Lebensmittelversorgungskette weitergegeben, d. h. an Landwirte, Arbeitnehmer, bestimmte Marktteilnehmer und auch an die Verbraucher.

5.6

Ein weiteres Argument für die Ausweitung des Schutzes ist, dass vor allem große Marktteilnehmer KMU diskriminieren und sie aufgrund des Risikos von Beschwerden aus der Lieferkette ausschließen. In diesem Zusammenhang verweist der EWSA erneut auf die Gefährdung kleinerer und mittlerer Unternehmen.

Durchsetzung

5.7

Für eine wirksame Rechtsdurchsetzung muss zwischen privatrechtlicher Durchsetzung (bisher im Kommissionsvorschlag nicht vorgesehen) und behördlicher Rechtsdurchsetzung unterschieden werden. Dabei ist — das sei bereits an dieser Stelle hervorgehoben — dem Recht des Betroffenen auf Anonymität ausreichend Rechnung zu tragen, weil viele Unternehmen aus Furcht vor Repressalien wie Auslistung häufig davor zurückschrecken, missbräuchliche Handlungen zu melden („Angst-Faktor“).

5.7.1

Privatrechtliche Rechtsdurchsetzung

Für die privatrechtliche Durchsetzung sollten Betroffene Zugang zu Unterlassungs-, Beseitigungs- und Schadensersatzansprüchen haben. Wegen des „Angst-Faktors“ kommt solchen Ansprüchen allerdings eher eine untergeordnete Bedeutung zu. Außerdem sollten auch alle entsprechenden Verbände Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche geltend machen können. Dies gewährleistet dann besonderen Schutz der betroffenen Unternehmen durch Anonymität, wenn sich die unlautere Handelspraxis gegen mehrere Unternehmen richtet (z. B. ein Lebensmittelunternehmen, das von allen seinen Lieferanten/Käufern verlangt, sich finanziell an zusätzlichen Kosten zu beteiligen).

Die Geltendmachung dieser Ansprüche sollte nach Wahl der betreffenden Partei bzw. des betreffenden Verbandes vor einem Gericht oder einem Ombudsmann möglich sein. Das Verfahren vor einem Ombudsmann hätte den Vorteil, dass die Streitigkeit nicht öffentlich ausgetragen werden muss. Es sollte festgelegt werden, wie Verfahren vor einem Ombudsmann abzulaufen haben. Außerdem sollte der Ombudsmann bestimmte Entscheidungsbefugnisse erhalten. Denn ein freiwilliges Verfahren würde in vielen Fällen nicht weiterführen und tatsächlich Abhilfe schaffen können.

Darüber hinaus ruft der EWSA die Marktteilnehmer dazu auf, Initiativen zu entwickeln, um einen kulturellen Wandel zu begünstigen und die Fairness in der Lieferkette zu verbessern.

5.7.2

Behördliche Rechtsdurchsetzung

Aufgrund des „Angst-Faktors“ kommt der behördlichen Rechtsdurchsetzung besondere Bedeutung zu, daher muss sie reguliert werden. Deshalb sollten Behörden wie der Kommission und den nationalen Kartellbehörden umfangreiche Ermittlungs- und Rechtsdurchsetzungsbefugnisse eingeräumt werden. Als Vorbild können hierfür die Bestimmungen der Verordnung (EG) 1/2003 des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 (jetzt 101) und 82 (jetzt 102) des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln dienen. (Artikel 6 des Richtlinienvorschlags ist demgegenüber viel schwächer.) Die Verordnung sieht insbesondere in Artikel 17 die Ermächtigung zur Untersuchung einzelner Wirtschaftszweige und einzelner Arten von Vereinbarungen vor. Die abschreckende Wirkung könnte durch die Befugnis der Behörden zur Abschöpfung der erzielten Gewinne weiter erhöht werden.

Alternative Lebensmittelversorgungsketten

5.8

Der EWSA weist erneut darauf hin, dass alternative Geschäftsmodelle, die zur Verkürzung der Versorgungskette zwischen den Lebensmittelerzeugern und -endverbrauchern beitragen, einschließlich digitaler Plattformen, gefördert und unterstützt werden sollten und dass die Rolle und Position von Genossenschaften und Erzeugerorganisationen gestärkt werden sollten, um die Machtbalance wiederherzustellen (16). Dies sollte der Gegenstand einer künftigen Stellungnahme des EWSA sein.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Europäische Kommission, 2014.

(2)  Bericht der Task Force „Agrarmärkte“, November 2016: https://ec.europa.eu/agriculture/sites/agriculture/files/agri-markets-task-force/improving-markets-outcomes_en.pdf.

(3)  ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 130.

(4)  Mitteilung der Europäischen Kommission vom 15. Juli 2014: Gegen unlautere Handelspraktiken zwischen Unternehmen in der Lebensmittelversorgungskette.

(5)  ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 130.

(6)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2016 zu unlauteren Handelspraktiken in der Lebensmittelversorgungskette (2015/2065(INI)).

(7)  COM(2018) 173 final.

(8)  Definition des Begriffs „kleine und mittlere Unternehmen“ gemäß der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013.

(9)  COM(2018) 173 final.

(10)  ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 130.

(11)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 18.

(12)  ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 130.

(13)  COM(2014) 472 final.

(14)  ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 130.

(15)  Siehe: BGH, 23.1.2018, KVR 3/17, Wirtschaft und Wettbewerb (WuW) 2018, Heft 4, S. 209 — Hochzeitsrabatte.

(16)  ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 130.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/171


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresplans für die Fischbestände in den westlichen Gewässern und angrenzenden Gewässern und für Fischereien, die diese Bestände befischen, zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/1139 zur Festlegung eines Mehrjahresplans für die Ostsee und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 811/2004, (EG) Nr. 2166/2005, (EG) Nr. 388/2006, (EG) Nr. 509/2007 und (EG) Nr. 1300/2008“

(COM(2018) 149 final — 2018/0074 (COD))

(2018/C 440/29)

Alleinberichterstatter:

Gabriel SARRÓ IPARRAGUIRRE

Befassung durch den Rat

12.4.2018

Befassung durch das EP

16.4.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Präsidiums

17.4.2018

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

182/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält den Mehrjahresplan für eine geeignete Maßnahme zur Bewirtschaftung der westlichen Gewässer, wobei allerdings die Besonderheiten der einzelnen Fischereien in den nordwestlichen und in den südwestlichen Gewässern zu berücksichtigen sind.

1.2.

Nach Ansicht des EWSA muss diese Verordnung mit den Zielen der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) im Einklang stehen und daher auf die Bedeutung der sozioökonomischen Dimension bei der Zuteilung der Fangmöglichkeiten verweisen.

1.3.

Der EWSA fordert, dass die Listen der von dieser Verordnung betroffenen Arten im Wege der Regionalisierung aktualisiert werden können, da einige dieser Arten die Bewirtschaftung gemischter Fischereien erschweren, da sie nur geringe Fangmengen aufweisen, als Beifänge gelten oder in einigen Mitgliedstaaten gar keine Quote zugewiesen bekommen haben. Dies gilt insbesondere mit Blick auf das bevorstehende Inkrafttreten der Pflicht zur Anlandung und das Auftreten des Phänomens der „choke species“ (limitierende Arten), das in einigen Fällen zur Einstellung der Fischereien führen könnte.

1.4.

Der Ausschuss unterstreicht die Notwendigkeit, durch den Europäischen Meeres- und Fischereifonds (EMFF) die wissenschaftliche Forschung zu intensivieren, um mehr über den tatsächlichen Zustand der Fischbestände zu erfahren und im Ergebnis die Anwendung des Vorsorgeansatzes möglichst zu vermeiden und langfristig eine nachhaltige Nutzung der Ressourcen zu erreichen.

2.   Wesentlicher Inhalt des Vorschlags der Kommission

2.1.

Mit dem in dieser Stellungnahme analysierten Vorschlag für eine Verordnung soll ein einheitlicher Bewirtschaftungsplan für die Grundfischbestände, einschließlich der Tiefseebestände, und deren Befischung in den westlichen Gewässern aufgestellt werden.

2.2.

Durch den Plan soll sichergestellt werden, dass diese Bestände gemäß den Grundsätzen des höchstmöglichen Dauerertrags (MSY) und des Ökosystemansatzes und im Einklang mit dem Vorsorgeprinzip bewirtschaftet werden. Der Plan soll für konstante Fangmöglichkeiten auf der Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse sorgen und die Einführung der Pflicht zur Anlandung erleichtern.

2.3.

Die Bestände sollen entsprechend den FMSY-Wertebereichen (F = fischereiliche Sterblichkeit) verwaltet werden, die der Internationale Rat für Meeresforschung (ICES) empfiehlt. Dabei werden die Fangmöglichkeiten für einen Bestand innerhalb des unteren FMSY-Wertebereichs festgelegt, der zu diesem Zeitpunkt für den Bestand verfügbar ist. Die Fangmöglichkeiten können aber auch so festgesetzt werden, dass sie unterhalb der FMSY-Wertebereiche liegen. Sie können auch in Übereinstimmung mit dem zu diesem Zeitpunkt verfügbaren oberen FMSY-Wertebereich für diesen Bestand festgesetzt werden, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind und der betreffende Bestand über dem MSY Btrigger liegt (Referenzpunkt für die Biomasse des Laicherbestands).

2.4.

Die Fangmöglichkeiten werden in jedem Fall so festgelegt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Biomasse des Laicherbestands unter den entsprechenden Grenzwert (Blim) sinkt, unter 5 % liegt.

2.5.

Bei der Zuteilung von Fangmöglichkeiten berücksichtigen die Mitgliedstaaten die voraussichtliche Fangzusammensetzung der Schiffe, die sich an den Fischereien beteiligen.

2.6.

Der Kommission wird die Befugnis übertragen, mittels delegierter Rechtsakte technische Maßnahmen in Bezug auf die Merkmale oder Beschränkungen des Einsatzes von Fanggeräten zu erlassen, um deren Selektivität zu verbessern, unerwünschte Beifänge zu verringern oder die negativen Auswirkungen auf das Ökosystem zu minimieren. Dazu gehören die Festlegung von Mindestgrößen für die Bestandserhaltung und Maßnahmen in Bezug auf die Pflicht zur Anlandung.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält den Mehrjahresplan für eine geeignete Maßnahme, um die Bewirtschaftung der Fischereiressourcen in den westlichen Gewässern auf mittlere bis lange Sicht zu gewährleisten.

3.2.

Seiner Ansicht nach sollten bei der Aufstellung des Plans jedoch die Besonderheiten und Unterschiede zwischen den Fischereien in den nordwestlichen und in den südwestlichen Gewässern berücksichtigt werden, d. h. die verschiedenen Merkmale der einzelnen Flotten und Fischereitätigkeiten (Modalitäten) und die Dauer der Fangreisen.

3.3.

Der EWSA vertritt entschieden die Ansicht, dass der Plan zu allen Zielen der GFP beitragen muss, weshalb bei der Festsetzung der Fangmöglichkeiten auch sozioökonomische Folgenabschätzungen und die Wirtschaftlichkeitsschwellen für die einzelnen geregelten Modalitäten berücksichtigt werden sollten, was in den Bestimmungen des Verordnungsvorschlags derzeit fehlt.

3.4.

Der Ausschuss zeigt sich besorgt über die Folgen der Anwendung des Vorsorgeansatzes in den Fällen, in denen über bestimmte Fischereien keine ausreichenden wissenschaftlichen Informationen vorliegen, und darüber, dass sich dies in einer direkten Verminderung der Fangmöglichkeiten auswirken könnte. Der EWSA fordert daher die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission auf, ihre Forschungsarbeiten zu verstärken, um mehr Erkenntnisse über diese Bestände zu erhalten. Darüber hinaus ist er der Ansicht, dass bei Fehlen analytischer wissenschaftlicher Bewertungen der Fischbestände die zulässigen Gesamtfangmengen (TAC) solange nicht erheblich gekürzt werden sollten, bis bessere Bewertungen vorliegen.

3.5.

Im Fall gemischter Fischereien, in denen Probleme mit von dem Plan betroffenen limitierenden Arten auftreten, die die Einstellung der Befischung der Hauptzielarten bewirken können, sollte nach Ansicht des EWSA die Möglichkeit geprüft werden, diese Fischereien aus dem System der zulässigen Gesamtfangmengen (TAC) auszunehmen und im Rahmen der Regionalisierung alternative Bewirtschaftungsmaßnahmen vorzuschlagen, die einen guten Zustand der Bestände gewährleisten.

3.6.

Die Besonderheiten bestimmter Arten und Gebiete erfordern im Hinblick auf ein wirksames Fischereimanagement die Einrichtung von Untergebieten für die Bewirtschaftung innerhalb einer ICES-Division. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, diese Möglichkeit in die Verordnung aufzunehmen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Die in Artikel 1 enthaltene Liste von Arten erschwert die Bewirtschaftung der gemischten Fischereien und umfasst auch Tiefseearten, für die es eine eigene separate Verordnung über die Gesamtmengen und Quoten gibt, die zudem für zwei Jahre gilt. Der Ausschuss ist daher der Auffassung, dass die in der Verordnung enthaltene Artenliste Verwirrung stiftet. Diese Arten werden in einigen Mitgliedstaaten kaum oder gar nicht gefangen und gelten als Beifänge, so z. B. der Kaiserbarsch (Beryx spp.). Darüber hinaus gibt es in Bezug auf die Rote Fleckbrasse (Pagellus bogaraveo) in der Zone IXa eine Reihe von Besonderheiten, die mit den Fanggebieten (Atlantik- und Mittelmeerbereiche ohne Gesamtfangmengen und Quoten) und der Teilnahme von Drittlandsflotten an der Fischerei zusammenhängen. Der EWSA hält die Aufnahme dieser Art in die Liste nicht für sinnvoll, da nicht bekannt ist, inwieweit diese Länder bereit sind, ihr Fischereimanagement auf die Grundsätze und Interessen der EU abzustimmen.

4.2.

Außerdem stehen auf der Liste auch Arten wie Wolfsbarsch (Dicentrarchus labrax) und Wittling (Merlangus merlangus) in der Zone IXa, die keinen Gesamtfangmengen und Quoten unterworfen sind, weshalb sie nach Ansicht des EWSA gestrichen werden sollten. Für weitere Arten wie Kabeljau (Gadus morhua), Wittling (Merlangus merlangus) in der Zone VII oder Schellfisch (Melanogrammus aeglefinus) verfügen einige Mitgliedstaaten nur über sehr geringe Quoten. Sie gelten als „Choke Species“ und sind damit für bestimmte Flotten eindeutig limitierende Arten. Der EWSA ist der Ansicht, dass auch diese Arten von der Liste genommen werden sollten.

4.3.

Er weist zudem auf eine Reihe von Fehlern bei der Festlegung und Reichweite der Funktionseinheiten für Kaisergranat (Nephrops norvegicus) hin, die seiner Ansicht nach überarbeitet werden sollten.

4.4.

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die in den Artikeln 3, 4 und 5 enthaltene Veranschlagung der Fangmöglichkeiten entsprechend dem MSY bedeutet, dass lediglich Größen im Zusammenhang mit der Erhaltung der Bestände berücksichtigt werden. Der Plan muss aber zu allen Zielen der GFP im Sinne von Artikel 2 der Verordnung (EU) Nr. 1380/2013 beitragen, weshalb nicht nur ökologische, sondern auch soziale und wirtschaftliche Faktoren zu berücksichtigen sind, damit es zu keinen sprunghaften Änderungen der Fangmöglichkeiten von einem Jahr zum anderen kommt.

4.5.

Damit die jährliche Verwaltung der Fangmöglichkeiten nicht die Einführung eines mehrjährigen Bewirtschaftungssystems behindert und um die Beteiligung der Interessenträger an den Entscheidungsprozessen zu fördern, sollten die beiden Gesetzgeber in Artikel 4 des vorgeschlagenen Bewirtschaftungsplans eine Rechtsgrundlage aufnehmen, die den Erlass von Bewirtschaftungsvorschriften gemäß den Grundsätzen der GFP per Regionalisierung zulässt.

4.6.

In Artikel 5 Absatz 2 ist festgelegt, dass der Vorsorgeansatz im Fischereimanagement angewandt wird, wenn keine ausreichenden wissenschaftlichen Informationen vorliegen. Der EWSA schlägt vor, im Rahmen des Plans durch den EMFF wirksame Mechanismen festzulegen, mit denen sich in den vorgesehenen Fristen und Zeitabständen mehr wissenschaftliche Daten erheben lassen, um so die Schließung von Fischereien zu verhindern.

4.7.

Nach Artikel 9 berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Zuteilung von Fangmöglichkeiten die voraussichtliche Fangzusammensetzung der Schiffe, die sich an gemischten Fischereien beteiligen. Dieser Grundsatz geht nach Ansicht des EWSA weit darüber hinaus, was in Artikel 17 der Verordnung (EU) Nr. 1380/2013 über die Kriterien für die Zuteilung von Fangmöglichkeiten an die Mitgliedstaaten vorgesehen ist.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/174


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über einen mehrjährigen Wiederauffüllungsplan für Schwertfisch im Mittelmeer und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1967/2006 und (EU) 2017/2107“

(COM(2018) 229 final — 2018/0109 (COD))

(2018/C 440/30)

Alleinberichterstatter:

Gabriel SARRÓ IPARRAGUIRRE

Befassung durch das EP

2.5.2018

Befassung durch den Rat

14.5.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Plenums

22.5.2018

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

181/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt im Großen und Ganzen den Vorschlag der Europäischen Kommission, mit dem die Empfehlung 16-05 der Internationalen Kommission für die Erhaltung der Thunfischbestände im Atlantik (ICCAT) in EU-Recht umgesetzt werden soll. Die Empfehlung enthält einen mehrjährigen Wiederauffüllungsplan für Schwertfisch im Mittelmeer mit dem Ziel, bis spätestens 2031 eine Biomasse des Schwertfischbestands, die dem höchstmöglichen Dauerertrag (MSY) entspricht, mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 60 % zu erreichen.

1.2.

Der Ausschuss stellt fest, dass die Europäische Kommission sich nicht darauf beschränkt hat, die genannte ICCAT-Empfehlung umzusetzen. Vielmehr hat sie in ihrem Vorschlag eine Reihe von in der Empfehlung nicht enthaltenen Bestimmungen aufgenommen, die einen Wettbewerbsnachteil für die europäische Flotte gegenüber ebenfalls diesen Bestand befischenden Flotten aus Drittstaaten des Mittelmeerraums wie Marokko, Algerien, Tunesien und der Türkei bedeuten kann. Aus diesem Grund, und um zu vermeiden, dass sich für die Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der EU größere sozioökonomische Beeinträchtigungen ergeben als in den anderen Ländern, fordert der EWSA die Mitgesetzgeber nachdrücklich auf, die nachfolgenden besonderen Bemerkungen zu berücksichtigen.

1.3.

Der EWSA legt der Kommission, den Mitgliedstaaten und den Anrainerstaaten des Mittelmeers nahe, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um den Einsatz von Treibnetzen, die seit 1998 verboten sind, vollständig zu unterbinden. Damit soll der illegale Fang und Verkauf von Mittelmeer-Schwertfisch, die entsprechenden Auswirkungen auf den Markt sowie der dadurch entstehende unlautere Wettbewerb gegenüber den regelkonformen Flotten vermieden werden.

2.   Wesentlicher Inhalt des Vorschlags der Kommission

2.1.

Die ICCAT hat angesichts der alarmierenden Bestandslage von Schwertfisch im Mittelmeer (Xiphias gladius) auf ihrer Jahrestagung 2016 die Empfehlung 16-05 angenommen, mit der ein 15-Jahres-Wiederauffüllungsplan für diese Art aufgestellt wird. Die Empfehlung enthält Vorschriften für die Erhaltung, die Bewirtschaftung und die Kontrolle des Schwertfischbestands im Mittelmeer, damit bis spätestens 2031 eine Biomasse, die dem höchstmöglichen Dauerertrag entspricht, mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 % erreicht werden kann.

2.2.

Mit dem Verordnungsvorschlag, der Gegenstand dieser Stellungnahme ist, wird diese seit 2017 direkt anwendbare Empfehlung in EU-Recht umgesetzt. Damit soll die EU in die Lage versetzt werden, ihren internationalen Verpflichtungen nachzukommen und Rechtsicherheit für die Akteure in Bezug auf die für sie geltenden Normen und Verpflichtungen zu schaffen.

2.3.

Zu den wichtigsten Elementen des Wiederauffüllungsplans gehören folgende Festlegungen: eine zulässige Gesamtfangmenge (TAC) von 10 500 Tonnen, die schrittweise gesenkt wird; eine Mindestgröße für die Bestandserhaltung von 100 cm Länge vom Unterkiefer bis zur Schwanzflossengabelung oder einem Lebendgewicht von 11,4 kg oder einem ausgenommenen Gewicht von 10,2 kg ohne Kiemen; eine Höchstzahl von 2 500 Haken, die ausgesetzt oder an Bord genommen werden dürfen; eine dreimonatige Schonzeit vom 1. Januar bis zum 31. März eines jeden Jahres; die Beschränkung der zulässigen Zahl der Fischereifahrzeuge und Kontrollmaßnahmen analog zu den für Roten Thun vorgesehenen Maßnahmen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA stimmt zu, dass die ICCAT-Empfehlung 16-05 in Unionsrecht umgesetzt werden muss und unterstützt daher die Kommissionsinitiative.

3.2.

Gleichwohl stellt der EWSA fest, dass der Kommissionsvorschlag über die ICCAT-Empfehlung hinausgeht und neue, nicht in der Empfehlung enthaltende Anforderungen eingeführt werden. Was den betreffenden Bestand betrifft, so wird dieser nicht nur von der EU-Flotte, sondern auch von allen anderen Anrainerstaaten des Mittelmeers befischt, sowohl im Rahmen der direkten Fischerei (Marokko, Algerien, Tunesien und die Türkei), als auch mit unbeabsichtigten Fängen. Der Ausschuss hält es daher nicht für sinnvoll, besagte Zusatzmaßnahmen unilateral einzuführen. Diese könnten zu einer Diskriminierung der EU-Flotte führen und für die Betreiber in der Union sozioökonomische Folgen haben, die sich von denen der anderen, an der Fischerei teilnehmenden Länder unterscheiden.

3.2.1.

Der Ausschuss fordert die Kommission im Hinblick auf künftige Verhandlungen auf, stärker auf die Drittstaaten im Rahmen der ICCAT einzuwirken und Vereinbarungen zu treffen, die ohne Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Fischern die Wiederauffüllung der Biomasse und ein Erreichen des Niveaus des MSY beschleunigen.

3.3.

Der Ausschuss weist die Kommission darauf hin, dass der Einsatz von Treibnetzen für den Fang von Schwertfisch im Mittelmeer seit 1998 verboten ist. Angesichts der Auswirkungen der illegalen Verwendung dieser Fanggeräte durch einige Betreiber auf den Zustand des Schwertfischbestands im Mittelmeer sowie des unlauteren Wettbewerbs gegenüber den regelkonformen Betreibern fordert der EWSA die Kommission, die Mitgliedstaaten und die Anrainerstaaten auf, alle erforderlichen Maßnahmen zur vollständigen Unterbindung des Treibnetzfangs zu ergreifen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Artikel 8, der eine Kapazitätsbeschränkungen je Fanggerättyp festlegt, beschränkt sich nicht auf die Umsetzung des Inhalts von Ziffer 6 der ICCAT-Empfehlung, in der eine Kapazitätsbeschränkung für die Dauer des Wiederauffüllplans verfügt wird. Demzufolge beschränken die CPCs (1) im Jahr 2017 ihre Fischereifahrzeuge, die für den Fang von Schwertfisch im Mittelmeer zugelassen sind, auf die durchschnittliche Anzahl der Schiffe, die Schwertfisch im Zeitraum 2013-2016 im Mittelmeer gefangen, an Bord gehalten, umgeladen, transportiert oder angelandet haben. Die CPCs können jedoch beschließen, die Anzahl der Schiffe einzusetzen, die Schwertfisch im Jahr 2016 im Mittelmeer gefangen, an Bord gehalten, umgeladen, transportiert oder angelandet haben, wenn diese Zahl unter der durchschnittlichen jährlichen Anzahl der Schiffe im Zeitraum 2013-2016 liegt. Diese Beschränkung soll je Fanggerättyp der Fischereifahrzeuge gelten. Sie wird jedoch auf die Option mit der geringeren Anzahl von Fischereifahrzeugen weiter eingeengt. Daher empfiehlt der Ausschuss, den genauen Wortlaut von Ziffer 6 der ICCAT-Empfehlung 16-05 zu verwenden.

4.2.

Nach Ansicht des EWSA ist der Wortlaut von Artikel 10 Absatz 2 verwirrend, da er als vollständiges Verbot von Langleinenfänger ausgelegt werden kann. In Wirklichkeit zielt die ICCAT-Empfehlung jedoch darauf ab, den Fang von jungem Schwertfisch mit kleinen Haken zu vermeiden, wie sie von den Schiffen, die Weißen Thun im Mittelmeer befischen, verwendet werden. Daher empfiehlt der Ausschuss folgenden Wortlaut: „Zum Schutz von Schwertfisch im Mittelmeer gilt für die auf Weißen Thun (Thunnus alalunga) abzielende Fischerei eine Schonzeit vom 1. Oktober bis 30. November jeden Jahres“.

4.3.

Artikel 14 Absatz 2 ist eine der Stellen, wo die Kommission restriktiver als die ICCAT-Empfehlung ist: „an Bord von Fischereifahrzeugen für Fangreisen mit einer Dauer von mehr als 2 Tagen [dürfen] zusätzlich 2 500 unbefestigte Ersatzhaken mitgeführt werden“. Laut Ziffer 18 der Empfehlung hingegen ist es erlaubt, dass die Haken montiert sind. Der Kommissionsvorschlag bedeutet ein operatives Problem für die Schiffsbesatzungen, die immer mehr Anforderungen erfüllen müssen. Daher empfiehlt der EWSA, das Adjektiv „unbefestigt“ im genannten Absatz zu streichen und den Wortlaut der Empfehlung zu verwenden: „Bei Fangreisen von mehr als zwei Tagen ist ein zweites Set vorbereiteter Haken zulässig, vorausgesetzt diese sind ordnungsgemäß unter Deck festgezurrt und verstaut, sodass sie nicht ohne Weiteres eingesetzt werden können“.

4.4.

In Artikel 18 Absatz 2 heißt es: „Aus Kontrollgründen darf die Übermittlung von VMS-Daten (2) von Fangschiffen, die Schwertfisch im Mittelmeer fischen dürfen, beim Aufenthalt im Hafen nicht unterbrochen werden“. Nach Ansicht des Ausschusses kann dieser Vorschlag den Fischern unnötige Zusatzkosten verursachen. Er schlägt deshalb vor, das Abschalten des VMS im Hafen nach Maßgabe von Artikel 18 Absatz 2 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 404/2011 der Kommission vom 8. April 2011 mit Durchführungsbestimmungen zu der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 des Rates zur Einführung einer gemeinschaftlichen Kontrollregelung zur Sicherstellung der Einhaltung der Vorschriften der Gemeinsamen Fischereipolitik zu gestatten, sofern garantiert ist, dass sich das Fischereifahrzeug beim Abschalten und Einschalten in derselben Position befindet.

4.5.

In Artikel 20 Absatz 2 geht die Kommission erneut über die Bestimmungen der ICCAT-Empfehlung 16-05 hinaus. Die Kommission schlägt vor, dass auf mindestens 20 % der pelagischen Langleinenfänger, die gezielt Schwertfisch im Mittelmeer befischen, nationale wissenschaftliche Beobachter entsandt werden. In Ziffer 44 der ICCAT-Empfehlung hingegen wird verfügt: Jede CPC stellt sicher, dass auf mindestens 5 % ihrer Langleinenfänger mit einer Länge über alles von mehr als 15 Metern, die gezielt Schwerfisch im Mittelmeer befischen, nationale wissenschaftliche Beobachter entsandt werden. Der EWSA erachtet die Anhebung der Kontrollen auf 20 % im Falle kleiner Fischereifahrzeuge für nicht gerechtfertigt und unverhältnismäßig, zumal sie aus Platz- und Kostengründen ernsthafte Schwierigkeiten hätten, die Anforderungen zu erfüllen. Zudem könnten sich die Drittstaatenflotten weiterhin auf lediglich 5 % beschränken. Daher schlägt der Ausschuss vor, die von der ICCAT vorgeschriebenen 5 % beizubehalten.

4.6.

In Artikel 24 Absatz 2 wird verfügt, dass die Kapitäne von Fischereifahrzeugen der Union mit einer Länge über alles von weniger als 12 Metern mindestens vier Stunden vor der voraussichtlichen Ankunftszeit im Hafen der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats eine Reihe von Informationen übermitteln müssen. Der EWSA empfiehlt angesichts der Schwierigkeiten, die diese Anforderung für die handwerkliche Flotte mitunter bedeuten kann, einen Satz hinzuzufügen, um dem Mitgliedstaat in besonderen Fällen eine Änderung der Voranmeldungsfrist von vier Stunden zu gestatten. So könnte z. B. eine ähnliche Formulierung wie in Artikel 31 Absatz 3 der Verordnung (EU) 2016/1627 über den Wiederauffüllungsplan für Roten Thun verwendet werden: „Sind die Mitgliedstaaten nach dem geltenden Unionsrecht ermächtigt, eine kürzere Anmeldefrist als in Absatz 1 und 2 genannt anzuwenden, so können die geschätzten an Bord befindlichen Mengen an Rotem Thun zu dem dementsprechend geltenden Anmeldungszeitpunkt vor der Ankunft gemeldet werden. Beträgt die Entfernung der Fanggründe vom Hafen weniger als vier Stunden, so können die geschätzten an Bord befindlichen Mengen an Rotem Thun zu jeder Zeit vor der Ankunft geändert werden.“

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Vertragsparteien der ICCAT-Konvention.

(2)  Vertragsparteien der ICCAT-Konvention. Schiffsüberwachungssystem.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/177


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Förderung von Fairness und Transparenz für gewerbliche Nutzer von Online-Vermittlungsdiensten“

(COM(2018) 238 final — 2018/0112 (COD))

(2018/C 440/31)

Berichterstatter:

Marco VEZZANI

Befassung

Europäisches Parlament, 28.5.2018

Rat der Europäischen Union, 22.5.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 114 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

6.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

190/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Kommission für eine Verordnung und hält ihn für einen wichtigen ersten Schritt zur Förderung von Fairness und Transparenz für gewerbliche Nutzer von Online-Vermittlungsdiensten. Der EWSA hält diesen Vorschlag vor allem deshalb für sehr wichtig, weil damit zum ersten Mal die B2B-Beziehungen im elektronischen Geschäftsverkehr geregelt werden. Er empfiehlt eine zügige Verabschiedung, damit eine offensichtliche Regulierungslücke geschlossen werden kann.

1.2.

Der Ausschuss ist jedoch der Ansicht, dass mit dieser Verordnung allein nicht alle Probleme des digitalen Binnenmarkts gelöst werden können und „der Kreis nicht geschlossen wird“. Den Schwerpunkt der Verordnung bildet die „Transparenz“, aber diese allein reicht nicht aus, um einen extrem dynamischen und komplexen Markt wie den digitalen Markt zu regulieren, auf dem der ungleichen Machtverteilung zwischen globalen Akteuren und gewerblichen Nutzern (vor allem KMU) nur durch die Festlegung von Grenzen und eindeutigeren Beziehungen zwischen den Parteien sowie durch die Bekämpfung des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen beizukommen ist. Darüber hinaus empfiehlt der EWSA, im Wege des sozialen Dialogs schnellstmöglich das Thema der sozialen Dimension der Digitalisierung anzugehen. Ebenso viel Aufmerksamkeit sollte Fragen im Zusammenhang mit Steuerdumping, Datenwirtschaft und Dateneigentum geschenkt und dabei ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt werden, wie es die Kommission im Übrigen bereits bei anderen Themen tut.

1.3.

Der EWSA empfiehlt, in die Verordnung ein Verbot von Preisparitätsklauseln aufzunehmen, die derzeit den Wettbewerb behindern, Unternehmen und Verbrauchern schaden und die Gefahr bergen, dass Oligopole oder Monopole der großen Online-Plattformen entstehen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Verbraucher in die Lage versetzt werden, Waren und Dienstleistungen zu niedrigeren Preisen zu erwerben, dass die Unternehmen ihre Geschäftstätigkeit über die eigene Website effizient ausbauen können und dass neue Online-Plattformen wachsen und im fairen Wettbewerb mit den bereits vorhandenen Plattformen konkurrieren können.

1.4.

Der EWSA hält es für notwendig, dass eventuelle Sonderbehandlungen bestimmter Unternehmen (insbesondere solcher, die hierfür bezahlen, z. B. beim Ranking) nicht nur in den Verträgen mit gewerblichen Nutzern deutlich zum Ausdruck gebracht, sondern auch bei der Online-Suche nach Waren oder Dienstleistungen durch Vermerke wie „gesponserte Anzeige“, „kostenpflichtige Anzeige“ oder ähnliche Hinweise für die Verbraucher eindeutig kenntlich gemacht werden. Genauso wichtig ist es, gewerbliche Nutzer und Verbraucher über die wichtigsten Kriterien bei der Aufstellung der Rangfolge zu informieren, die dem Ranking der gewerblichen Nutzer zugrunde liegen.

1.5.

Der Ausschuss unterstützt die Einführung von Mechanismen zur außergerichtlichen Beilegung von Streitigkeiten und empfiehlt die Festlegung harmonisierter Kriterien zur Gewährleistung der Unabhängigkeit der Mediatoren. Der EWSA ist der Ansicht, dass die Handelskammern, die diese Aufgabe auf nationaler Ebene bereits effektiv erfüllen, eine praktikable Option darstellen. Ebenso ist es wichtig, dass die Mechanismen für das Anstrengen von Unterlassungsklagen zur Verhinderung von Verlusten zulasten der gewerblichen Nutzer einfach, eindeutig und kostengünstig sind.

1.6.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die EU-Beobachtungsstelle für die Online-Plattformwirtschaft bei der Umsetzung der oben genannten Verordnung und aller anderen mit ihr verbundenen Legislativvorschläge eine entscheidende Rolle spielen wird. Dadurch erhält die genannte Beobachtungsstelle neben ihrer fachlichen eine besondere politische Bedeutung. Der EWSA kann sich auf fundierte Überlegungen und zahlreiche Stellungnahmen zu dieser Thematik stützen und ist bereit, die Arbeit der Expertengruppe durch die Entsendung eines Delegierten in der Rolle eines Beobachters zu unterstützen und auf diese Weise dazu beizutragen, dass der Standpunkt der organisierten Zivilgesellschaft berücksichtigt wird.

2.   Einleitung

2.1.

Online-Plattformen und Suchmaschinen sind ein wesentliches Element des digitalen Ökosystems und haben erheblichen Einfluss auf dessen Organisation und Funktionsweise. In den letzten Jahren haben diese Plattformen bei der Entwicklung des Netzes eine zentrale Rolle gespielt und neue „soziale und wirtschaftliche Modelle“ nahegelegt, die die Entscheidungen und Handlungen der Bürger und Unternehmen beeinflussen.

2.2.

Der elektronische Geschäftsverkehr wächst in Europa exponentiell. 2017 wurde im Einzelhandel ein Umsatz von geschätzt 602 Mrd. EUR generiert (+ 14 % im Vergleich zu 2016). In diesen Zahlen spiegelt sich der Wachstumstrend des vorangegangenen Jahres wider, in dem sich der Absatz auf 530 Mrd. EUR belief (+ 15 % im Vergleich zu 2015) (1).

2.3.

Laut Eurostat (2) waren 2016 20 % der Unternehmen in der EU-28 im elektronischen Geschäftsverkehr aktiv. Aus dieser Zahl gehen jedoch nicht die großen Unterschiede in Abhängigkeit von der Größe der Unternehmen hervor. So waren 44 % der großen Unternehmen, 29 % der mittleren Unternehmen und nur 18 % der kleineren Unternehmen im Online-Handel tätig.

2.4.

85 % der Unternehmen, die elektronische Verkäufe tätigen, verfügen über eine eigene Website. Online-Plattformen werden derzeit von 39 % der Unternehmen (gewerbliche Nutzer) genutzt, ihre Nutzung steigt jedoch konstant an (3). Dies ist auf zwei Faktoren zurückzuführen: das steigende Interesse am elektronischen Geschäftsverkehr aufseiten der KMU, die in Online-Plattformen ein strategisches Instrument für den Eintritt in den digitalen Markt sehen, und das exponentielle Wachstum kollaborativer Plattformen (sozialer Netzwerke), die die wirkliche Welt und die virtuelle Welt der Nutzer miteinander verbinden.

2.5.

Mehr als eine Million europäischer KMU nehmen Online-Vermittlungsdienste in Anspruch, aber es gibt noch relativ wenige Plattformen, die solche Dienste anbieten. Dadurch sind die KMU von diesen Online-Plattformen und Suchmaschinen komplett abhängig. Letztere erhalten dadurch die Macht, einseitige Maßnahmen zu ergreifen, die die legitimen Interessen von Unternehmen und Verbrauchern beeinträchtigen.

2.6.

Laut einer anderen Studie der Kommission stoßen beinahe 50 % der europäischen Unternehmen, die auf Plattformen tätig sind, auf Probleme. Darüber hinaus bleiben 38 % der Probleme im Zusammenhang mit Vertragsverhältnissen ungelöst, und 26 % der Probleme können nur unter Schwierigkeiten behoben werden (4).

2.7.

Insbesondere die Verbraucher leiden indirekt unter den Auswirkungen der Einschränkung des umfassenden und fairen Wettbewerbs. Das äußert sich in vielen Situationen: angefangen beim nicht transparenten Ranking von Waren und Dienstleistungen bis hin zu einer fehlenden Auswahl beim Angebot, da die Unternehmen nur wenig Vertrauen in den digitalen Markt haben.

2.8.

Den Unternehmen stehen nur begrenzt Rechtsbehelfe zur Verfügung, die schwer zugänglich und oft ineffizient sind. Es ist kein Zufall, dass die überwiegende Mehrheit der Unternehmen sich beim Online-Verkauf ihrer Produkte auf das Inland konzentriert (93 %), hauptsächlich aufgrund der fragmentierten Gesetzgebung, wodurch die Beilegung von grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten langwierig und schwierig wird (5).

2.9.

Bis heute konzentriert sich die europäische Gesetzgebung darauf, die Beziehung zwischen Unternehmen und Verbrauchern im Online-Handel (B2C) zu regeln, während die Beziehung zwischen Unternehmen und Online-Plattformen (B2B) noch nie entschlossen angegangen wurde.

2.10.

Aus diesem Grund hat die Kommission in ihren Vorschlag für die Überprüfung der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt (6) die Initiative einfließen lassen, diesen Aspekt der europäischen Gesetzgebung zu vervollständigen, um Fairness und Transparenz zu garantieren und Fälle von Missbrauch zu verhindern, die Regulierungslücken oder der Fragmentierung durch die unterschiedlichen nationalen Rechtsvorschriften geschuldet sind.

3.   Zusammenfassung des Vorschlags

3.1.

Ziel dieses Vorschlags ist die Regulierung der von Online-Plattformen und Suchmaschinen für Unternehmen angebotenen Vermittlungsdienste. Dazu gehören auch Vertriebsdienste für Software-Anwendungen (app store) und Online-Dienste von kollaborativen Marktplätzen (social network).

3.2.

Die Verordnung gilt für alle Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten (mit Sitz in oder außerhalb der EU), sofern die gewerblichen Nutzer oder die Nutzer mit eigener Unternehmens-Website ihren Sitz in der EU haben und diese ihre Waren oder Dienstleistungen zumindest für einen Teil der Transaktion europäischen Verbrauchern anbieten. Insbesondere die Verbraucher müssen sich in der EU aufhalten, aber es sind kein europäischer Wohnsitz und keine europäische Staatsbürgerschaft erforderlich.

3.3.

Um Fairness und Transparenz sicherzustellen, müssen die Plattformen die Unternehmen auf einfache und klare Weise über die allgemeinen Geschäftsbedingungen informieren. Eventuelle Änderungen müssen mindestens 15 Tage im Voraus mitgeteilt werden. Insbesondere die Modalitäten für die Veröffentlichung von Anzeigen und die für die Aussetzung und Beendigung des Dienstes vorgesehenen Kriterien sind mitzuteilen.

3.4.

Der Vorschlag sieht des Weiteren vor, dass die Kriterien für das Ranking von Inhalten oder Websites den Unternehmen mitgeteilt werden, auch wenn diese kostenpflichtig sind. Eventuelle Sonderbehandlungen, die zu einer Bevorzugung von Waren oder Dienstleistungen führen, die den Verbrauchern vom Dienstleister selbst oder durch von ihm kontrollierte gewerbliche Nutzer angeboten werden, müssen in den allgemeinen Geschäftsbedingungen deutlich zum Ausdruck gebracht werden.

3.5.

Zum besseren Schutz der Rechte kleinerer Unternehmen sieht die Kommission die Schaffung eines internen Systems für die Bearbeitung von Beschwerden durch die Anbieter von Online-Diensten vor. Die Beschwerden müssen zügig bearbeitet und den Nutzern klar und unmissverständlich mitgeteilt werden. Darüber hinaus sind die Anbieter verpflichtet, regelmäßige Berichte über die Anzahl der eingereichten Beschwerden, den Beschwerdegegenstand, die Dauer der Bearbeitung der Beschwerden und die getroffenen Entscheidungen zu veröffentlichen.

3.6.

Des Weiteren ist ein System zur außergerichtlichen Beilegung von Streitigkeiten vorgesehen. So kann ein Unternehmen sich an einen zuvor vom Anbieter in den allgemeinen Geschäftsbedingungen angegebenen Mediator wenden.

3.7.

Die Mediatoren müssen unparteiisch und unabhängig sein. Die Anbieter werden angehalten, die Bildung von Mediatoren-Organisationen zu unterstützen, um insbesondere Streitigkeiten von grenzüberschreitendem Charakter beizulegen.

3.8.

Die Befolgungskosten entfallen hauptsächlich auf die Anbieter von Diensten, während KMU ausgenommen sind (7). Die vorstehend genannten Maßnahmen schließen den Rechtsweg nicht aus, sondern dienen vielmehr dazu, Streitigkeiten auf effiziente Weise und innerhalb einer bestimmten Zeit beizulegen.

3.9.

Der neue Rechtsrahmen wird einer Überwachung unterworfen. Zu diesem Zweck ist die Schaffung einer EU-Beobachtungsstelle für die Online-Plattformwirtschaft (8) vorgesehen, die die Kommission durch die Analyse der Entwicklung des digitalen Marktes als auch durch die Bewertung des Stands der Umsetzung und der Auswirkungen der Verordnung unterstützt. Die gesammelten Ergebnisse werden dazu beitragen, den Vorschlag für eine Verordnung alle drei Jahre zu überprüfen.

3.10.

In dem Vorschlag wird das Recht von repräsentativen Organisationen, Verbänden oder öffentlichen Stellen verankert, Unterlassungsklagen zu erheben, um Verstöße gegen die Verordnung durch Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten zu unterbinden oder zu verbieten.

3.11.

Die Kommission fordert die Anbieter von Online-Diensten sowie Organisationen und Verbände, die diese vertreten, auf, Verhaltenskodizes auszuarbeiten, die die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung unterstützen, wobei den besonderen Merkmalen von KMU Rechnung zu tragen ist.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA gehört von Anfang an zu den Fürsprechern der digitalen Entwicklung und der damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Prozesse. Insbesondere hat der Ausschuss im Wissen um die Risiken und Möglichkeiten der Digitalisierung immer wieder die Festlegung eines sicheren, eindeutigen, transparenten und fairen Rahmens für den digitalen Binnenmarkt durch die Kommission angeregt.

4.2.

Der EWSA begrüßt im Einklang mit früheren Stellungnahmen (9) den Vorschlag der Kommission zur Förderung der Fairness und Transparenz von Online-Vermittlungsdiensten. Der Ausschuss bewertet insbesondere den flexiblen Ansatz des Vorschlags als positiv, der dazu dienen soll, einen allgemeinen klaren Rahmen für einen sich ständig wandelnden Sektor zu schaffen und gleichzeitig einen fairen Wettbewerb sicherzustellen.

4.3.

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass diese Initiative von fundamentaler Bedeutung ist, um die KMU, die ja die Hauptnutzer solcher Dienste sind (10), zu schützen und einen Rechtsrahmen zu schaffen, der einen fairen und effektiven Wettbewerb garantiert. Des Weiteren ist es wichtig, dass KMU in die Lage versetzt werden, die eigenen Wachstumsmöglichkeiten auf dem digitalen Binnenmarkt entweder durch die eigene Website oder über Online-Plattformen maximal zu nutzen.

4.4.

In dieser Hinsicht muss beachtet werden, dass der Zugang zum digitalen Markt für KMU eine extrem komplexe Herausforderung darstellt. KMU müssen ihr Produktions- und Vertriebssystem anpassen, neue Qualifikationen und spezielle Kompetenzen erwerben und entsprechende Investitionen tätigen, ohne die sie automatisch aus diesem Markt verdrängt würden, was sich auch auf ihren Ruf negativ auswirken würde. Daher ist es erforderlich, weitere Instrumente, auch finanzieller Art, zur Begleitung dieses Übergangs bereitzustellen.

4.5.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die „Preisparitätsklauseln“ (auch „Meistbegünstigungsklauseln“ genannt) bis heute ein ernsthaftes Hindernis für die Entwicklung eines fairen und offenen Wettbewerbs auf dem digitalen Binnenmarkt darstellen. Diese Klauseln verpflichten einen gewerblichen Nutzer, auf einer bestimmten Online-Plattform seine Preise niedriger zu gestalten als auf anderen Online-Plattformen und auf der eigenen Website. Das führt zu einer ernsthaften Marktverzerrung, da es die Stärkung der wenigen bestehenden Online-Plattformen begünstigt (und die Entwicklung neuer Plattformen verhindert), den Zugang der Verbraucher zu niedrigeren Preisen einschränkt und den gewerblichen Nutzer an die Plattform bindet, sodass dieser kein eigenes Netz des Direktvertriebs mit den Verbrauchern entwickeln kann. Diese Praxis wurde bereits in vielen EU-Ländern (11) auf Initiative der entsprechenden Wettbewerbsbehörden verboten, was sich positiv auf das Funktionieren des Marktes auswirkte und sowohl Unternehmen als auch Verbrauchern Vorteile brachte. Aus diesen Gründen spricht sich der EWSA für das Verbot solcher Klauseln in der ganzen EU — möglichst im Rahmen dieser Verordnung — aus.

4.6.

Der EWSA weist darauf hin, dass sich bis heute ein großer Teil des Marktes für Online-Vermittlungsdienste in den Händen weniger großer Akteure befindet, von denen sich viele außerhalb der EU befinden. Es ist daher wichtig, dass in der Phase der Umsetzung der Rechtsvorschriften auch der faire Wettbewerb zwischen Online-Plattformen überwacht und sichergestellt wird und dass für neue, insbesondere europäische Plattformen die Möglichkeit geschaffen wird, sich einen Platz auf dem Markt zu erobern.

4.7.

Der EWSA begrüßt, dass in die Verordnung zahlreiche Anfragen und Empfehlungen aufgenommen wurden, die er in früheren Stellungnahmen vorgebracht hat. Der Ausschuss stellt insbesondere starke Übereinstimmungen und Kontinuität in Bezug auf die Transparenz und Eindeutigkeit der Vertragsklauseln und allgemeinen Geschäftsbedingungen, die ausdrückliche Darlegung der Kriterien für das Ranking und eventueller Sonderbehandlungen, die Festlegung bestimmter Verfahren für Beschwerden und die außergerichtliche Beilegung von Streitigkeiten, die Eigenverantwortung der Online-Plattformen (Verhaltenskodex) sowie die Überwachung der Prozesse fest (12). Er hebt insbesondere hervor, dass eventuelle Sonderbehandlungen, bei denen angebotene Waren oder Dienstleistungen (oft gegen Bezahlung) bevorzugt behandelt werden, den Verbrauchern klar und eindeutig mitzuteilen sind.

4.8.

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass sich der Vorschlag in den breiter gefassten Rechtsrahmen des digitalen Binnenmarkts korrekt einfügt, der jedoch noch lange nicht vollständig ist. Die Europäische Union bleibt in Bezug auf die Zahl der Nutzer, der Unternehmen und der Online-Transaktionen hinter den größten globalen Wettbewerbern zurück. Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten daher auf, ihre Anstrengungen fortzusetzen, um die Regulierung des gesamten Bereichs des elektronischen Geschäftsverkehrs und im weiteren Sinne der E-Demokratie zu vervollständigen und das Internet und den digitalen Markt zu einem sicheren Ort und Chancengenerator für alle zu machen.

4.9.

Die Datenwirtschaft ist ein entscheidendes Element des digitalen Marktes. Der EWSA ist insbesondere der Ansicht, dass die Frage des Dateneigentums nicht allein einer vertraglichen Vereinbarung zwischen zwei Parteien überlassen werden darf. Die in dem hier behandelten Verordnungsvorschlag vorgesehene Transparenz bezüglich der Informationen löst des Weiteren nicht die entscheidende Frage, wie diese Daten genutzt werden können, nachdem sie in den Besitz einer privaten Person gelangt sind. Aus diesen Gründen empfiehlt der EWSA der Kommission, dieses Thema dringend anzugehen und es im grundlegenden Interesse der Nutzer und im Sinne des Konzepts der Datenwirtschaft zu regeln (13).

4.10.

Der EWSA ist der Ansicht, dass der digitale Binnenmarkt allen beteiligten wirtschaftlichen Akteuren, europäischen wie außereuropäischen, die gleichen Bedingungen garantieren sollte. Der Ausschuss empfiehlt der Kommission daher, alle unlauteren Handelspraktiken, wie zum Beispiel Steuerdumping, auf dem digitalen Markt zu bekämpfen und festzulegen, dass die Gewinnsteuer dort entrichtet werden muss, wo die betreffende Wirtschaftstätigkeit ausgeübt wird (14), und dass sie in einem angemessenen Verhältnis zum tatsächlichen Umfang der Tätigkeit stehen muss (15). Es sei hier auf das Beispiel verwiesen, dass die Plattform „Airbnb“ in Frankreich im Jahr 2015 nur 69 000 Euro an Steuern bezahlt hat, im Vergleich zu Steuern in Höhe von etwa 5 Mrd. EUR im gesamten Hotelgewerbe (16).

4.11.

Der Ausschuss hält es für unabdingbar, zunächst den Rechtsrahmen für die gesamte Lieferkette des elektronischen Geschäftsverkehrs zu vervollständigen, um angemessene Garantien und Sicherheiten für alle am digitalen Binnenmarkt beteiligten Akteure zu schaffen (17). Der EWSA hält es insbesondere für grundlegend, die strittigsten Aspekte der sozialen Dimension der Digitalisierung anzugehen, unter anderem Löhne und Gehälter, Verträge, Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten von Personen, die bei digitalen Plattformen angestellt sind (18) oder mit diesen verbundene Dienstleistungen erbringen (19). Zu diesem Zweck empfiehlt der Ausschuss, den Prozess des europäischen sozialen Dialogs zügig in Gang zu setzen (20). Angesichts des steigenden Umfangs an Rechtsakten zur Regulierung des Sektors empfiehlt er des Weiteren die Erarbeitung eines „Kodex der Online-Rechte der Bürger“ (21).

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Der EWSA spricht sich für eine umfassende Definition des Begriffs Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten aus, da das Internet und der elektronische Geschäftsverkehr einer raschen und unvorhersehbaren Entwicklung unterworfen sind. Der EWSA hält es aus diesem Grund für entscheidend, die Modalitäten und die Zeiträume für die Verwaltung dieser Dienste zu regulieren, anstatt dies den Akteuren zu überlassen, die diese Dienste auf dem digitalen Markt bereitstellen, da letztere sich infolge der raschen und unvorhersehbaren Entwicklung des Netzes sehr schnell in ihrer Art bzw. ihren Funktionen ändern könnten (22).

5.2.

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass der hier geprüfte Vorschlag eine erhebliche Gesetzeslücke schließt und entscheidend dazu beiträgt, die durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften verursachte Fragmentierung zu überwinden, die eine der Hauptquellen für grenzüberschreitende Streitigkeiten darstellt. Darüber hinaus ist der Ausschuss der Ansicht, dass der Vorschlag sich in den bereits vorhandenen Rechtsrahmen für den digitalen Binnenmarkt und die wenigen Vorschriften, die bereits heute mehr oder weniger direkt die B2B-Beziehung regeln, korrekt einfügt. Der umfassende, auf den Grundwerten der EU basierende Rechtsrahmen gewährleistet nach Ansicht des Ausschusses einen weitreichenden Spielraum und wirksame Interventionsmöglichkeiten für die Institutionen, die mit der Überwachung der Einhaltung der Rechtsvorschriften betraut sind.

5.3.

Der EWSA spricht sich dafür aus, dass die Anbieter von Online-Diensten die wichtigsten Kriterien für das Ranking von Anzeigen und Websites veröffentlichen. Der Ausschuss verweist jedoch darauf, dass diese Initiative mit Vorsicht zu handhaben ist, da sie Betrügereien durch gewerbliche Nutzer zum Schaden von anderen Unternehmen oder Verbrauchern begünstigen und so zu Marktverzerrungen führen könnte.

5.4.

Die Mediatoren werden bei der außergerichtlichen Lösung von Streitigkeiten eine Schlüsselrolle spielen. Nach Meinung des EWSA ist noch nicht völlig klar, über welche Merkmale die Mediatoren verfügen und wie sie berufen werden. Er verweist auf die Unterschiede zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten und empfiehlt die Festlegung harmonisierter Kriterien zur Gewährleistung der Unabhängigkeit der Mediatoren. Der Ausschuss schlägt vor, die Möglichkeit der Schaffung eines europäischen Berufsregisters in Betracht zu ziehen, um das Vertrauen der gewerblichen Nutzer zu stärken. In diesem Zusammenhang wird vorgeschlagen, die Erfahrung der Handelskammern und die von ihnen bereits mit Erfolg auf nationaler Ebene durchgeführten Aktivitäten zu nutzen.

5.5.

Der EWSA begrüßt die Einführung von Unterlassungsklagen zum Schutz der gewerblichen Nutzer. Dieses Instrument ist von entscheidender Bedeutung, um den „Faktor Angst“ zu überwinden, der kleinere Unternehmen gegenüber großen multinationalen Unternehmen oft hemmt. Der Ausschuss ist insbesondere der Ansicht, dass die Verfahren, um solche Klagen anzustrengen, klar, einfach und kostengünstig sein müssen.

5.6.

Die Beobachtungsstelle wird bei der Überwachung der Entwicklungen auf dem digitalen Markt und der richtigen und vollständigen Umsetzung der Verordnung eine entscheidende Rolle spielen. Der EWSA ist insbesondere der Ansicht, dass die Experten mit größter Sorgfalt ausgewählt werden müssen, damit ihre Unabhängigkeit und Neutralität sichergestellt sind. Des Weiteren bietet der EWSA an, die Arbeit der Expertengruppe durch die Entsendung eines Delegierten in der Rolle eines Beobachters zu unterstützen und auf diese Weise dazu beizutragen, dass der Standpunkt der organisierten Zivilgesellschaft berücksichtigt wird (23).

5.7.

Der EWSA begrüßt die Aufforderung an die Anbieter von Online-Diensten, einen Verhaltenskodex auszuarbeiten, um die vollständige und ordnungsgemäße Umsetzung der Rechtsvorschriften sicherzustellen, hält dafür allerdings das Instrument einer Verordnung in Verbindung mit einer harmonisierten Sanktionsregelung für geeigneter.

5.8.

Der Ausschuss stellt fest, dass derzeit hauptsächlich in den Vereinigten Staaten Handelspraktiken seitens der großen Plattformen bestehen, die darauf abzielen, andere Akteure aus dem Markt zu drängen, zum Beispiel der kostenlose Versand zum Nachteil von Paketdiensten. Solche Aspekte können mittelfristig zu Oligopolen zulasten von Unternehmen und Verbrauchern führen. Der EWSA fordert die Kommission daher auf, diese Vorgänge aufmerksam zu verfolgen.

5.9.

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Vorschlag bedeutende indirekte Auswirkungen haben wird, sowohl auf die Verbraucher, da eine größere Palette an Produkten angeboten und der Wettbewerb zwischen den Unternehmen zunehmen würde, als auch auf die Beschäftigung, die durch eine steigende Zahl an aktiven Unternehmen auf dem digitalen Markt wachsen würde. In dieser Hinsicht ist es wichtig, dass auch kleine Online-Plattformen (z. B. Plattformen von Genossenschaften) eine eigene Nische auf dem digitalen Markt finden können.

5.10.

Der EWSA bekräftigt seine Forderung an die Kommission und die Mitgliedstaaten, den Prozess der digitalen Innovation mit geeigneten Strategien zur Entwicklung digitaler Kompetenz und entsprechenden Bildungsmaßnahmen unter besonderer Berücksichtigung von Minderjährigen und besonders gefährdeten Gruppen zu unterstützen (24). Um das Bewusstsein der gewerblichen Nutzer in diesem Zusammenhang zu schärfen, hält es der Ausschuss außerdem für wichtig, die Berufsverbände einzubeziehen und so insbesondere im Hinblick auf KMU auf spezielle Weiterbildungsmaßnahmen aufmerksam zu machen und diese zu fördern, damit die Chancen, die der digitale Binnenmarkt bietet, voll und ganz ausgeschöpft werden können.

Brüssel, 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  European E-commerce Report 2017.

(2)  Eurostat, Digital economy and society statistics — enterprises, 2018 (Statistiken zur digitalen Wirtschaft und Gesellschaft — Unternehmen).

(3)  Eurostat, Web sales of EU enterprises, 2018 (Internetumsatz von EU-Unternehmen).

(4)  europa.eu/rapid/press-release_IP-18-3372_de.pdf.

(5)  Eurostat, E-commerce statistics, 2017 (Statistiken zum elektronischen Geschäftsverkehr).

(6)  COM(2017) 228 final.

(7)  Empfehlung 2003/361/EG.

(8)  Die Beobachtungsstelle wird gemäß Beschluss C(2018)2393 der Kommission eingesetzt. Sie besteht aus mindestens 10 und maximal 15 unabhängigen Experten, die nach einem allgemeinen Auswahlverfahren ausgewählt werden. Die Experten bleiben zwei Jahre im Amt und nehmen ihre Aufgaben unentgeltlich wahr.

(9)  ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 119. ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 102. ABl. C 12 vom 15.1.2015, S. 1. ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 61.

(10)  ABl. C 389 vom 21.10.2016, S. 50.

(11)  Deutschland, Frankreich, Italien, Schweden, Belgien, Österreich.

(12)  ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 119, ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 102.

(13)  ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 130; ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 138.

(14)  ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 119.

(15)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 73.

(16)  http://www.lastampa.it/2016/08/11/esteri/airbnb-in-francia-riscoppia-il-caso-tasse-KfgawDjefZxFdSNydZs8XP/pagina.html.

(17)  INT/845, Künstliche Intelligenz/Auswirkungen auf die Beschäftigung, Berichterstatter: Salis Madinier und Samm, 2018 (siehe Seite 1 dieses Amtsblatts).

(18)  ABl. C 125 vom 21.4 2017, S. 10.

(19)  ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 119.

(20)  ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 30.

(21)  ABl. C 271 vom 19.9 2013, S. 127.

(22)  ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 119.

(23)  Beschluss C(2018) 2393 der Kommission, Artikel 10.

(24)  ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 45; ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 1.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/183


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bekämpfung von Desinformation im Internet: ein europäisches Konzept“

(COM(2018) 236 final)

(2018/C 440/32)

Berichterstatter:

Martin SIECKER

Befassung

Europäische Kommission, 18.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

6.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

121/16/34

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Informations- und Meinungsfreiheit sind in der EU unantastbar, doch wird diese Freiheit für die Umkehrung der Grundsätze der Union genutzt, um Diskussionen und kritisches Denken unmöglich zu machen. In diesem Sinne wird sie nicht als Instrument zur Information oder Meinungsbildung, sondern als Waffe eingesetzt. Desinformation ist eine extreme Form des Medienmissbrauchs zur Einflussnahme auf gesellschaftliche und politische Prozesse, und sie ist besonders wirksam, wenn sie von Regierungen finanziert und in internationalen Beziehungen eingesetzt wird. Aktuelle Beispiele hierfür sind (unter vielen anderen) die von Russland finanzierte Desinformation, die Brexit-Kampagne, die nur als Direktangriff auf die EU gewertet werden kann, und die Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahl. All diese subversiven Tätigkeiten geben der europäischen Zivilgesellschaft ernsthaft Grund zur Sorge.

1.2.

Derzeit sind verschiedene Instrumente und Verfahren im Einsatz, um die europäischen Werte zu untergraben und auswärtige Maßnahmen der EU zu beeinflussen, oder auch um separatistische und nationalistische Gesinnungen zu schüren, die Öffentlichkeit zu manipulieren und unmittelbar in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten und der EU als Ganzes einzugreifen. Auch sind vermehrt der Ausbau von Cyberangriffsfähigkeiten und die Nutzung von Technologien als Waffe zur Erreichung politischer Ziele zu beobachten. Die Folgen derartiger Tätigkeiten werden häufig unterschätzt (1).

1.3.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Appell der Kommission für mehr Verantwortung aufseiten der Plattformen sozialer Medien. Doch trotz der diversen Studien und Strategiepapiere, die europäische Experten in den letzten Jahren verfasst haben, enthält die Mitteilung keinerlei verpflichtende praktische Maßnahmen, um diese Verantwortung sicherzustellen.

1.4.

Auf der Grundlage der verfügbaren Forschungsdaten sollte die EU sicherstellen, dass die Auswirkungen der Desinformation in Europa weiter erforscht werden, indem u. a. im Rahmen der künftigen Eurobarometer-Umfragen auch die Widerstandsfähigkeit der europäischen Bürger gegenüber Desinformation überwacht wird. Dabei sollten nicht nur generische Daten über Falschmeldungen erhoben, sondern auch die tatsächliche Resistenz der europäischen Bürger gegenüber Desinformation ermittelt werden. Infolge des fehlenden Dringlichkeitsbewusstseins und Ehrgeizes der Kommission werden grundlegende Anliegen außer Acht gelassen, so z. B. die Möglichkeiten zur Unterstützung der traditionellen Medien zur Gewährleistung des Grundrechts der Bürger auf hochwertige und verlässliche Informationen, die Prüfung der Möglichkeit einer Einrichtung öffentlich-privater Partnerschaften zur Errichtung kostenpflichtiger Online-Plattformen, die sichere und erschwingliche Online-Dienste bereitstellen, die Ausleuchtung von Möglichkeiten, die diesen Online-Systemen zu Grunde liegenden Algorithmen transparenter zu machen und besser zu überwachen, und die Untersuchung der Möglichkeit, Monopole zu zerschlagen, um wieder faire Wettbewerbsbedingungen herzustellen und die fortschreitende Korrumpierung der Gesellschaft zu verhindern.

1.5.

Der EWSA bedauert, dass weder in der Mitteilung der Kommission noch im Bericht der hochrangigen Expertengruppe Russland als Hauptquelle für gegen die EU gerichtete, feindselige Desinformation genannt wird. Doch der erste Schritt zur Lösung eines Problems ist, einzuräumen, dass ein Problem besteht.

1.6.

Auf der Grundlage der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Juni 2017 zu Online-Plattformen im digitalen Binnenmarkt (2) greift die Kommission die Forderung des EWSA auf, dass die bestehenden, für Online-Plattformen geltenden Rechtsvorschriften ordnungsgemäß umgesetzt werden müssen. Der EWSA fordert die Kommission des Weiteren auf, die Diskussion über ein Haftungssystem für Online-Plattformen zum Abschluss zu bringen und die Online-Plattformen in Abhängigkeit von ihrer Definition und ihren Merkmalen zu regulieren. Online-Plattformen und soziale Netzwerke sollten sich auf Maßnahmen zur Gewährleistung von Transparenz verpflichten und dazu erklären, wie Algorithmen die verbreiteten Nachrichten auswählen. Sie sollten angehalten werden, über geeignete Maßnahmen die Auffindbarkeit verlässlicher, vertrauenswürdiger Nachrichten zu verbessern und den Zugang der Nutzer dazu zu erleichtern.

1.7.

Eine der Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Desinformation besteht darin, dass nicht kontrolliert werden kann, wer hinter im Internet verbreiteten Falschmeldungen steht. Nichts ist leichter, als im Cyberspace unter einer falschen Identität zu agieren — und im Allgemeinen tun das diejenigen, die mit böswilligen Absichten online unterwegs sind, auch. Die Kommission legt verschiedene Vorschläge vor, die in der gemeinsamen Mitteilung zur Cybersicherheit vom September 2017 erläutert werden. Das Problem ist nur, dass diese Vorschläge nicht verpflichtend sind. Wenn wir im Kampf gegen die Desinformation wirklich etwas bewirken wollen, brauchen wir möglicherweise strengere Identifizierungsmaßnahmen für diejenigen, die proaktiv im Internet agieren. Genau so arbeiten ja im Übrigen Qualitätsmedien, im Einklang mit dem 1954 von der Internationalen Journalisten-Föderation verkündeten Code de Bordeaux, in dem sehr klare und strenge Prinzipien für die journalistische Arbeit mit Quellen festlegt werden. Namen und Adressen von Quellen müssen stets der Redaktion bekannt sein.

1.8.

Der EWSA stimmt der Kommission zu, dass die Faktenprüfer eng zusammenarbeiten sollten. Einschlägige Netzwerke bestehen bereits, etwa im Rahmen der East StratCom Task Force. Das Problem ist allerdings, dass sie mit ausreichenden Mitteln ausgestattet werden müssen, was bisher nicht der Fall ist. Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die Arbeit der East StratCom Task Force umfassend zu unterstützen. Dazu gehört nicht nur ein angemessenes Budget, sondern auch die aktive Mitarbeit aller Mitgliedstaaten, die Experten in die East StratCom Task Force entsenden und Kontaktstellen einrichten sollten. Die Website mit den Arbeitsergebnissen dieser Task Force (3) sollte wirksamer beworben werden, um die Öffentlichkeit in der EU stärker für die vorhandenen Bedrohungen zu sensibilisieren.

2.   Wesentlicher Inhalt der Mitteilung der Kommission

2.1.

Ein gut funktionierendes, freies und pluralistisches Informationsökosystem mit hohen professionellen Standards ist für eine gesunde, demokratische Debatte unverzichtbar. Die Kommission ist sich der Gefahren bewusst, die von Desinformation für unsere offenen und demokratischen Gesellschaften ausgehen.

2.2.

Die Kommission stellt ein umfassendes Konzept vor, mit dem auf diese Bedrohungen reagiert werden soll, indem digitale, auf Transparenz basierende Ökosysteme (4) gefördert, qualitativ hochwertige Informationen bevorzugt, Bürger gegen Desinformation gewappnet und unsere Demokratien und politischen Entscheidungsprozesse geschützt werden.

2.3.

Die Kommission ruft alle betroffenen Akteure auf, sich deutlich stärker für eine angemessene Bekämpfung des Problems der Desinformation einzusetzen. Sie geht davon aus, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen, sofern sie wirksam umgesetzt werden, wesentlich dazu beitragen werden, Desinformation im Internet zu bekämpfen.

2.4.

Die Kommission nennt drei Hauptursachen für das Problem (Generierung der Desinformation, Verstärkung über soziale Medien und andere Online-Dienste, Verbreitung durch die Nutzer von Online-Plattformen) und schlägt eine Reihe von Gegenmaßnahmen in fünf Politikbereichen vor:

Schaffung eines transparenteren, vertrauenswürdigeren und verantwortungsvolleren Internet-Ökosystems;

sichere und stabile Wahlverfahren;

Förderung von Bildung und Medienkompetenz;

Unterstützung von Qualitätsjournalismus als wesentlichem Element einer demokratischen Gesellschaft;

Abwehr interner und externer Bedrohungen durch Desinformation mittels strategischer Kommunikation.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die Zunahme der organisierten Desinformation durch unterschiedliche staatliche und nichtstaatliche Akteure stellt eine reale Bedrohung für die Demokratie dar. Zu den destabilisierenden Kräften gehören auch Regierungen von Ländern, die größer sind als irgendein Mitgliedstaat der EU. Die EU ist der richtige Partner im Kampf gegen diese Bedrohung, da die Union im Gegensatz zu einem einzelnen Mitgliedstaat über die kritische Masse und die Ressourcen verfügt, die sie in besonderer Weise dazu befähigt, Strategien und Maßnahmen zur Bewältigung dieses komplexen Problems zu entwickeln und durchzuführen.

3.2.

Um gut funktionieren zu können, ist eine Demokratie auf gut informierte Bürgerinnen und Bürger angewiesen, die auf der Grundlage zuverlässiger Fakten und vertrauenswürdiger Standpunkte wohlüberlegte Entscheidungen treffen können. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist ein System unabhängiger, glaubwürdiger und transparenter Medienunternehmen, in dem öffentliche Rundfunkanstalten eine Sonderstellung einnehmen und in dem mit großem Personalaufwand Nachrichtenquellen erfasst, geprüft, beurteilt, analysiert und interpretiert werden, um bei der Berichterstattung ein bestimmtes Qualitäts- und Soliditätsniveau zu wahren.

3.3.

Es gibt einen Unterschied zwischen Fake News und Desinformation. Fake News, also Falschmeldungen, hat es zu allen Zeiten gegeben; es handelt sich dabei um einen Sammelbegriff, der sowohl Gerüchte als auch Kriegspropaganda, Volksverhetzung, Sensationsmeldungen, Lügen, aus dem Zusammenhang gerissene Nachrichten usw. umfasst. Die Erfindung der Druckerpresse im 15. Jahrhundert ermöglichte die großräumige Verbreitung von Nachrichten und auch von Falschmeldungen, deren geografische Reichweite sich noch weiter ausdehnte, als im Jahr 1840 die Briefmarke eingeführt wurde. Die digitalen Technologien und das Internet haben die letzten Hürden für die unbegrenzte Verbreitung zu Fall gebracht.

3.4.

Desinformation wird definiert als nachweislich falsche oder irreführende Information, die mit dem Ziel des wirtschaftlichen Gewinns oder der vorsätzlichen Täuschung der Öffentlichkeit konzipiert, vorgelegt und verbreitet wird, demokratischen Prozessen Schaden zufügen und Wahlen beeinflussen kann und eine ernsthafte Bedrohung für die Gesellschaft darstellt (5).

3.5.

An der Desinformationskette sind mehrere Akteure beteiligt: die Urheber, die Konsumenten sowie die Online-Plattformen, die kettenübergreifend die Verbreitung ermöglichen.

Die Urheber (u. a. Regierungen, religiöse Institutionen, Wirtschaftskonzerne, Parteien, ideologische Organisationen) handeln aus unterschiedlichen Beweggründen (Beeinflussung und Manipulation der öffentlichen Meinung, Bestätigung ihrer angeblichen Überlegenheit, Profitstreben, Machtgewinn, Schüren von Hass, Rechtfertigung von Ausgrenzung usw.).

Die Verteiler (vor allem Online-Plattformen, aber auch traditionelle Medien) werden u. a. durch die Aussicht auf finanzielle Vorteile oder gezielte Manipulationsabsichten motiviert.

Die Konsumenten (Internetnutzer) sind als Verbraucher häufig nicht kritisch genug und werden folglich von den Online-Plattformen gezielt manipuliert. Intermediäre wie Twitter, Google und Facebook (um nur einige zu nennen) ermöglichen einen unbegrenzten und unkontrollierten Austausch von Inhalten auf Online-Plattformen und sammeln dafür private Daten, mit denen die Plattformen über personalisierte Werbung, bei der genau definierten Zielgruppen maßgeschneiderte kommerzielle Botschaften zugestellt werden, enorme Gewinne einstreichen können. Die Unwissenheit der Verbraucher über digitalen Selbstschutz verschärft das Problem.

3.6.

Den beteiligten Technologieunternehmen kommt infolge ihrer übergreifenden Rolle ebenso Verantwortung zu. Sie sehen sich nicht als Verleger, sondern „nur“ als Online-Plattformen, die von etablierten Medien generierte Nachrichten und andere Inhalte verbreiten, ohne dass sie die Kosten für die Konzeption dieser Inhalte — nämlich für das Redaktionspersonal — aufbringen müssten. Inhalte aus anderen Quellen werden verbreitet, ohne dass sie vor der Veröffentlichung geprüft, bewertet, analysiert oder interpretiert würden. Google ist nicht „nur“ eine Plattform. Google gestaltet, formt und verzerrt unser Weltbild — so lautet eine der Schlussfolgerungen des im Guardian veröffentlichten Artikels mit dem Titel „The great British Brexit robbery: how our democracy was hijacked“ (Der große Brexit-Raubzug: Wie unsere Demokratie gekapert wurde), in dem analysiert wird, wie dunkle, globale Machenschaften der unterschiedlichen Akteure der Leave-Kampagne den Ausgang des EU-Referendums beeinflussten. Da falsche und vertrauenswürdige Nachrichten undifferenziert präsentiert werden, ist es für Nutzer schwer, beides voneinander zu unterscheiden. Die Technologieunternehmen sollten daher transparenten Regeln und Daten hohe Priorität beimessen. Besonders wichtig ist die Transparenz der Verbindungen zwischen den Werbeeinnahmen-Strategien von Plattformen und der Verbreitung von Desinformation. (In diesem Kontext sollten die laufenden Verhandlungen über den Verhaltenskodex für den Bereich der Desinformation, der eigentlich bis Ende Juli 2018 vorliegen sollte, aufmerksam überwacht werden.)

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Unbeschadet der Vielfalt an Nachrichten, Kanälen, Instrumenten, Ebenen, Ambitionen und taktischen Zielsetzungen und trotz ihrer hohen Anpassungsfähigkeit besteht das strategische Ziel von Desinformationskampagnen darin, die liberale Demokratie zu unterwandern und Misstrauen gegenüber glaubwürdigen Informationsquellen, der geopolitischen Ausrichtung eines Landes und der Arbeit zwischenstaatlicher Organisationen zu säen und zu verstärken. Desinformation treibt Keile zwischen unterschiedliche sozioökonomische Gruppen auf der Grundlage ihrer Zugehörigkeit zu einer Nation oder Rasse, ihres Einkommens, Alters, Bildungsabschlusses und Berufs. Neben bekannten Quellen wie Nachrichtenorganen, Online-Plattformen, Massen-E-Mails usw. werden auch verschiedene andere Kanäle genutzt, wie z. B. PR-Agenturen, Lobbyisten, Think Tanks, Nichtregierungsorganisationen, Influencer-Marketing, Parteipolitik, Sachverständige, Kulturveranstaltungen sowie europäische rechts- und linksextreme Strömungen, die als Gegenleistung über verschiedene „unabhängige“ öffentliche Stiftungen, Auslandskonten usw. bezahlt werden.

4.2.

Wie das Europäische Parlament (6), die Kommission (7) und der Europäische Rat (8) bereits festgestellt haben, setzt die russische Regierung bei ihren Desinformationskampagnen eine große Bandbreite an Werkzeugen und Instrumenten ein. Diese Desinformationskampagnen sollten außerordentlich ernst genommen werden. Desinformation ist Teil der russischen Militärdoktrin und wird von der Hierarchiespitze der einflussreichsten russischen Staatsmedien akzeptiert. Die Kampagnen sind unmittelbar darauf ausgerichtet, die liberale Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu untergraben und diejenigen Institutionen, zwischenstaatlichen Einrichtungen, Politiker und Bürger, die sich für sie engagieren, zum Schweigen zu bringen (9).

4.3.

Wir leben in einer Zeit, die durch eine starke Polarisierung der politischen und demokratischen Beziehungen geprägt ist. Nach Aussagen von Think Tanks wie Freedom House, dem Economist Intelligence Unit u. a. ist die Demokratie seit der Weltwirtschaftskrise 2008 zunehmend unter Druck geraten. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist ein neuer politischer Führungsstil, der von seinem Wesen her einen Bruch mit der demokratischen Tradition bedeutet, die wir in Europa in den vergangenen 70 Jahren aufgebaut haben. Anstelle einer demokratisch gewählten liberalen Führung treten immer häufiger „starke Männer“ auf, die aus Wahlen hervorgehen, die Anlass zu bohrenden Fragen hinsichtlich der Integrität der Wahlprozesse geben. Diese Art der politischen Führung kannten wir bisher nur aus Drittländern wie Russland und China. Durch Vertreter wie Trump, Erdogan und gewählte „illiberale Demokraten“ in EU-Mitgliedstaaten, die sich allesamt mit ihrer Vorliebe für Desinformation, ihrer Verachtung für Demokratie und ihrer fragwürdigen Einstellung zur Rechtsstaatlichkeit einen Namen gemacht haben, werden die Einschläge immer lauter und kommen immer näher.

4.4.

Eine richtig funktionierende Demokratie ist auf gut informierte Bürgerinnen und Bürger angewiesen, die auf der Grundlage zuverlässiger Fakten und vertrauenswürdiger Standpunkte wohlüberlegte Entscheidungen treffen, doch Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit sind in unserer heutigen Gesellschaft längst keine Selbstverständlichkeit mehr. In einem solchen stark polarisierten gesellschaftlichen Klima mit einem Überangebot an Informationen sind die Menschen sehr anfällig für Desinformation, sodass ihr Verhalten relativ leicht zu manipulieren ist. Entsprechende destabilisierende Operationen wurden bei allgemeinen Wahlen in verschiedenen Mitgliedstaaten und auch bei anderen Anlässen bereits mit großem Erfolg durchgeführt, etwa bei der Brexit-Kampagne, bei Desinformationskampagnen zu den Angriffen auf die Krim und die Ukraine und zum Abschuss des Passagierflugs Malaysian Airlines MH17 mit einer Buk-Rakete der russischen Armee im Jahr 2014, bei dem alle 298 an Bord befindlichen Menschen umgebracht wurden. Die Kommission sollte proaktivere Ansätze ausloten, um die Öffentlichkeit über die Bedrohungen aufzuklären, die von Desinformationskampagnen, Cyberangriffen und allgemein von ausländischer Einflussnahme auf die Gesellschaft ausgehen. In Anlehnung an aktuelle Entwicklungen in anderen Ländern könnte sie die Bürger beispielsweise auf leicht zugängliche und ansprechende Weise über dringliche Cybersicherheitsfragen informieren und in Verbindung damit auf Tipps und bewährte Schutzmaßnahmen im digitalen Alltag hinweisen.

4.5.

Der EWSA stimmt mit der Kommission darin überein, dass in Anbetracht der Komplexität der Materie und der raschen Entwicklung des digitalen Umfelds die politische Reaktion umfassend sein sollte und das Phänomen der Desinformation kontinuierlich bewertet und die politischen Ziele an die Entwicklung der Lage angepasst werden sollten. Es gibt keine Pauschallösung für alle Herausforderungen, jedoch ist Nichtstun keine Option. Die Vorschläge der Kommission sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber wir müssen noch mehr noch besser machen. Bei der Bekämpfung der Desinformation sollten Transparenz, Vielfalt, Glaubwürdigkeit und Inklusion im Vordergrund stehen und gleichzeitig die Meinungsfreiheit und andere Grundrechte geschützt werden.

4.6.

Russland ist besonders aktiv im Bereich antiwestlicher Desinformation und hybrider Kriegsführung, mit Schwerpunkt auf der EU. Um dem etwas entgegenzusetzen, brauchen wir dringend ein transparenteres, vertrauenswürdigeres und verantwortungsvolleres Internet-Ökosystem. Der EWSA empfiehlt die Nutzung des Prague Manual, einer vom Außenministerium der Niederlande und dem Internationalen Visegrád-Fonds finanzierten Studie, die einen klaren Überblick über die feindseligen subversiven Machenschaften Russlands in der EU und die Bedrohung gibt, die diese für die Demokratie bedeuten. Auch wenn es immer noch Mitgliedstaaten gibt, die die Existenz einer solchen Gefahr bezweifeln oder zu deren Ausbreitung sogar noch beitragen, kommt die Studie zu der klaren und deutlichen Aussage, dass die EU unbedingt handeln muss. Sie enthält konkrete Vorschläge dazu, wie Strategien gegen feindliche und zersetzende Einflüsse geplant und umgesetzt werden sollten.

4.7.

Online-Plattformen spielen beim Thema Desinformation eine moralisch inakzeptable Rolle. In relativ kurzer Zeit haben diese Plattformen sich zu einer Art öffentlicher Versorgungsbetriebe entwickelt, deren Funktion mit der traditioneller Telefongesellschaften, Rundfunkanstalten und Zeitungsverlage vergleichbar ist. Für die „kostenlose“ Nutzung der Dienstleistungen zahlen die Nutzer von Online-Plattformen mit ihren personenbezogenen Daten, dank derer diese Plattformen in der Lage sind, Massen von personalisierten Werbeanzeigen zu platzieren, wie durch den Fall Cambridge Analytica veranschaulicht wird. Dieses unter dem Aspekt des Datenschutzes abnorme Einnahmemodell ist für die Plattformen viel zu lukrativ, als dass sie es freiwillig abschaffen würden. In der Vergangenheit gab es verschiedentlich Vorschläge, wonach Plattformen wie Facebook auch einen glaubwürdigen und gut funktionierenden Facebook-ähnlichen Dienst anbieten sollten, bei dem Nutzern gegen eine geringe Gebühr der Schutz ihrer Daten garantiert würde. Indes stellt sich die Frage, ob potenzielle Nutzer noch genug Vertrauen in die Glaubwürdigkeit und Integrität von Portalen wie Facebook haben, nachdem zu erleben war, wie sich das Unternehmen gegenüber dem US-Senat für sein Verhalten gerechtfertigt hat. Um das öffentliche Vertrauen in Online-Plattformen zu stärken und die Bürger vor dieser Art Missbrauch wie der Zweckentfremdung und Weitergabe personenbezogener Daten zu schützen, müssen diese Plattformen in Anlehnung an den Verhaltenskodex für die Bekämpfung illegaler Hassreden im Internet (2016), die Datenschutz-Grundverordnung oder die NIS-Richtlinie reguliert werden. Die von der Kommission vorgeschlagene Selbstregulierung kann jedoch nur ein erster Schritt in diese Richtung sein und sollte durch weitere Maßnahmen der Kommission ergänzt werden.

4.8.

Andrew Keen, ein britischer Unternehmer und Schriftsteller, der auch der Antichrist des Internet genannt wird, hat vier sehr kritische Bücher über die Entwicklung des Internet veröffentlicht. Er ist kein Gegner des Internet oder der sozialen Medien, aber er hält die Tätigkeiten der großen Technologieunternehmen, die sensible personenbezogene Informationen sammeln, für das eigentliche Problem. Die Privatsphäre ist ein sehr wertvolles Gut, das definiert, wer wir sind. Das sog. kostenlose Geschäftsmodell, bei dem wir nicht mit Geld, sondern mit der Aufgabe unserer Privatsphäre bezahlen, wird unsere Privatsphäre zerstören. Keen zieht Parallelen mit dem 19. Jahrhundert, als die industrielle Revolution zu einem Umbruch führte, dessen Ausmaß den derzeit durch die digitale Revolution ausgelösten Veränderungen vergleichbar ist. Wenn ein Wandel als Revolution definiert wird, geht er gewöhnlich mit massiven Problemen einher. Im 19. Jahrhundert konnten diese Probleme durch Innovation, Regulierung, Verbraucherentscheidungen, zivilrechtliche Maßnahmen und Bildungsmaßnahmen gelöst werden. Keens Botschaft lautet, dass die menschliche — nicht die künstliche — Intelligenz dazu erneut in der Lage ist und wir in diesem Sinn sämtliche Ressourcen nutzen müssen, mit denen wir die industrielle Revolution bewältigt haben, um sicherzustellen, dass wir die digitale Revolution steuern und nicht umgekehrt.

4.9.

Auf der Grundlage der verfügbaren Forschungsdaten sollte die EU sicherstellen, dass die Auswirkungen der Desinformation in Europa weiter erforscht werden, indem u. a. im Rahmen der künftigen Eurobarometer-Umfragen auch die Widerstandsfähigkeit der europäischen Bürger gegenüber Desinformation überwacht wird. Dabei sollten nicht nur generische Daten über Falschmeldungen erhoben, sondern auch die tatsächliche Resistenz der europäischen Bürger gegenüber Desinformation ermittelt werden. Infolge des fehlenden Dringlichkeitsbewusstseins und Ehrgeizes der Kommission werden grundlegende Anliegen außer Acht gelassen, so z. B. die Möglichkeiten zur Unterstützung der traditionellen Medien zur Gewährleistung des Grundrechts der Bürger auf hochwertige und verlässliche Informationen, die Prüfung der Möglichkeit einer Einrichtung öffentlich-privater Partnerschaften zur Errichtung kostenpflichtiger Online-Plattformen, die sichere und erschwingliche Online-Dienste bereitstellen, die Ausleuchtung von Möglichkeiten, die diesen Online-Systemen zu Grunde liegenden Algorithmen transparenter zu machen und besser zu überwachen, und die Untersuchung der Möglichkeit, Monopole zu zerschlagen, um wieder faire Wettbewerbsbedingungen herzustellen und die fortschreitende Korrumpierung der Gesellschaft zu verhindern.

4.10.

Möglicherweise wäre die Einrichtung einer Online-Plattform auf der Basis einer öffentlich-privaten Partnerschaft, die den Datenschutz der Nutzer gewährleistet, eine lohnende Option. Eine entsprechende europäische Plattform mit der Kommission als öffentlichem Kofinanzierungs-Partner könnte eine sehr attraktive und vielversprechende Alternative zu Mark Zuckerbergs Manipulationsmaschine und anderen großen privaten und kommerziellen Monopolen aus den USA und China sein. Eine solche Plattform sollte die Wahrung der Privatsphäre ihrer Nutzer gewährleisten.

4.11.

In einer Marktwirtschaft hat alles seinen Preis, bei dieser alternativen Lösung jedoch würde mit Geld und nicht mit privaten Informationen bezahlt. Diese halböffentliche Dienstleistung könnte größtenteils über Steuergelder finanziert werden, wie alle anderen öffentlichen Dienstleistungen auch. Der restliche Mittelbedarf würde über einen relativ kleinen finanziellen Beitrag der Nutzer für die Sicherung ihrer Privatsphäre vor dem unstillbaren Datenhunger der aktuellen sozialen Plattformen gedeckt. Wenn eine solche Plattform von der EU und den Mitgliedstaatsregierungen offiziell zum bevorzugten Partner erklärt und als Alternative zu den aktuellen Datenfressern genutzt würde, könnte sie ausreichende Größenvorteile erzielen, um sich gegen die derzeitigen Marktakteure zu behaupten. Die EU könnte auch bestehende Suchmaschinen, die absoluten Datenschutz gewährleisten, als bevorzugte Partner auswählen und auf allen von EU-Institutionen genutzten Computern als Standardanwendungen installieren und sie den Behörden in den Mitgliedstaaten als solche empfehlen. Die Kommission könnte auch proaktiv Regulierungsmöglichkeiten in Verbindung mit Algorithmen und der Auflösung von Monopolen prüfen.

4.12.

Auch wenn Faktenprüfung das Problem nicht lösen kann, ist sie doch von großer Bedeutung. Sie ist der erste Schritt, um Desinformation zu verstehen, aufzudecken und zu analysieren, was Voraussetzung für die Konzipierung von weiteren Gegenmaßnahmen ist. Auch sind erhebliche Anstrengungen erforderlich, um die Aufmerksamkeit großer Teile der Bevölkerung zu wecken, da nicht jeder soziale Medien oder das Internet überhaupt nutzt. Bewohner abgelegener Regionen sind möglicherweise besonders schwer erreichbar. Die Sichtbarkeit in den Medien ist ganz entscheidend. Nach wie vor ist das Fernsehen die Hauptinformationsquelle für die Menschen, und die Berichterstattung im Rahmen regelmäßiger Programme in den jeweiligen Landessprachen über Fälle von Desinformation kann signifikant zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit beitragen. Um die Fehler des kürzlich unternommenen ersten Versuchs der Kommission zu vermeiden, muss die Faktenprüfung unbedingt von Fachleuten vorgenommen werden. Die Zusammenarbeit mit Verlagen und Medienunternehmen, deren Journalisten Fakten prüfen, kann solchen Problemen vorbeugen.

4.13.

Eine der Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Desinformation besteht darin, dass nicht kontrolliert werden kann, wer hinter über das Internet verbreiteten Falschmeldungen steht. Nichts ist leichter, als im Cyberspace unter einer falschen Identität zu agieren — und im Allgemeinen tun das diejenigen, die mit böswilligen Absichten online unterwegs sind, auch. Die Kommission legt verschiedene Vorschläge vor, die in der gemeinsamen Mitteilung zur Cybersicherheit vom September 2017 erläutert werden. Das Problem ist allerdings, dass diese Vorschläge nicht verpflichtend sind. Beispielsweise könnten sich Nutzer dafür entscheiden, auf Online-Plattformen nur dann mit anderen in Kontakt zu treten, wenn diese ihre Identität preisgegeben haben; auch will die Kommission die Nutzung freiwilliger Online-Systeme fördern, die es ermöglichen, Anbieter von Informationen zu identifizieren, usw. Natürlich gibt es einen potenziellen Interessenkonflikt zwischen Datenschutz und totaler Überwachung, und es sollte möglich sein, beim passiven Surfen im Internet anonym zu bleiben. Wenn wir im Kampf gegen die Desinformation indes wirklich etwas bewirken wollen, brauchen wir möglicherweise strengere Identifizierungsmaßnahmen für diejenigen, die proaktiv im Internet agieren. Genau so arbeiten ja im Übrigen Qualitätsmedien, im Einklang mit dem 1954 von der Internationalen Journalisten-Föderation verkündeten Code de Bordeaux, in dem sehr klare und strenge Prinzipien für die journalistische Arbeit mit Quellen festlegt werden. Es kann gute Gründe dafür geben, dass traditionelle Qualitätsnachrichtenagenturen Berichte mit anonymen Quellen veröffentlichen, doch erfolgt dies immer mit einem Hinweis darauf, dass Name und Adresse der Quelle der Redaktion bekannt sind.

4.14.

Technologien sind weder „gut“ noch „schlecht“, sondern neutral. Ob sie aber für gute oder schlechte Zwecke eingesetzt werden, hängt von den Menschen ab, die sie nutzen. Die heute in der Kunst der Desinformation genutzten neuen Technologien können auch bei der Bekämpfung von Desinformation eine zentrale Rolle spielen. Daher begrüßt der EWSA die Absicht der Kommission, das Arbeitsprogramm von Horizont 2020 und sein Nachfolgeprogramm Horizont Europa umfassend dafür zu nutzen, Forschung und Technologien wie künstliche Intelligenz, Blockchain und Algorithmen zu mobilisieren, damit es in Zukunft besser gelingt, Quellen zu identifizieren, die Zuverlässigkeit von Informationen zu überprüfen und die Qualität und Genauigkeit von Datenquellen zu bewerten. Es ist jedoch unerlässlich, eingehend andere Finanzierungsmöglichkeiten zur Bekämpfung von Desinformation zu prüfen, da die meisten Initiativen nicht über die Horizont-Programme gefördert werden.

4.15.

Sichere und stabile Wahlverfahren sind die Grundlage der Demokratie in der EU, doch die Sicherheit und die Stabilität dieser Verfahren sind nicht mehr garantiert. In den letzten Jahren wurden bei Wahlen in mindestens 18 Ländern Online-Manipulation und Desinformationstaktiken festgestellt, die dazu beitrugen, dass im siebten Jahr in Folge die Freiheit des Internets insgesamt abgenommen hat. Der EWSA begrüßt die Initiativen der Kommission, im Hinblick auf die 2019 bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament bewährte Verfahren zur Feststellung, Minderung und Handhabung von Risiken für das Wahlverfahren durch Cyberattacken und Desinformation zu ermitteln.

4.16.

Medienkompetenz, digitale Kompetenz und politische Bildung sind ausschlaggebend dafür, die Gesellschaft widerstandsfähiger zu machen, vor allem weil junge Menschen mit ihrer starken Präsenz auf Online-Plattformen sehr empfänglich für Desinformation sind. Für die Bildungspolitik ist der Staat zuständig, und somit ist es Aufgabe der nationalen Regierungen, auf allen Ebenen der nationalen Bildungssysteme für Medienkompetenz und politische Bildung zu sorgen und Lehrkräfte zu diesem Thema zu schulen. Leider hat jedoch die Erziehung zur Medien- und Informationskompetenz innerhalb der nationalen Bildungssysteme häufig keinen sehr hohen Stellenwert auf der politischen Agenda der Regierungen. Dies sollte natürlich zuallererst verbessert werden, doch Medien- und Informationskompetenz müssen auch über die Bildungssysteme hinaus ein Anliegen sein. Sie muss — unabhängig vom Alter — in allen gesellschaftlichen Gruppen propagiert und verbessert werden. In diesen Bereichen sollten nichtstaatliche Organisationen aktiv werden. Es gibt schon heute in ganz Europa zahlreiche solcher Organisationen, die zumeist jedoch in kleinem Maßstab arbeiten und nicht die erforderliche Reichweite haben. Nationale Initiativen der Zusammenarbeit zwischen nichtstaatlichen Organisationen und nationalen Regierungen könnten diese Lücke ausfüllen.

4.17.

Qualitätsnachrichtenmedien und verlässlicher Journalismus sind von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, die Öffentlichkeit mit soliden und vielfältigen Informationen zu versorgen. Solche traditionellen Medien sind jedoch heute finanziell angeschlagen, weil die Online-Plattformen zwar die von traditionellen Medien generierten Inhalte verbreiten, ohne sie jedoch für die entstandenen Kosten zu entschädigen, und sie schließlich auch noch durch den Verkauf von Werbung um ihre Einnahmen bringen. Um die Position der Verleger zu stärken und eine Entschädigung der Rechteinhaber sicherzustellen, wenn die Früchte ihrer Arbeit von Dritten für kommerzielle Zwecke genutzt werden, wäre eine rasche Einigung über die EU-Urheberrechtsreform begrüßenswert. Es wird überdies empfohlen, nach Möglichkeit die vom Europäischen Parlament im September 2018 angekündigte Initiative im Hinblick auf die Unterstützung des investigativen Journalismus in der EU durch EU-Fördermittel auszuweiten. Eine starke und zuverlässige Presse begünstigt eine widerstandsfähige und belastbare Demokratie, in der die Werte Wahrheit und Rechenschaftspflicht Bestand haben. Eine finanzielle Unterstützung ist besonders wichtig für kleinere Medienunternehmen, die häufig durch Rechtsstreite und schikanöse Klagen unter Druck gesetzt werden, die darauf abzielen, sie auszuschalten.

4.18.

Zur Abwehr interner und externer Bedrohungen durch Desinformation setzte die Kommission 2015 die East StratCom Task Force ein, deren Schwerpunkt in einer proaktiven strategischen Kommunikation zu EU-Strategien besteht, um den Destabilisierungsversuchen Russlands zu begegnen. Der EWSA würde es begrüßen, wenn die Kommission die Öffentlichkeit aktiver über die Arbeit der East StratCom informieren und auf die Informationen auf der Website der Task Force aufmerksam machen würde, um die Bevölkerung stärker für die Bedrohungen unserer Demokratie zu sensibilisieren und widerstandsfähiger dagegen zu machen. Auch muss die Mittelausstattung der Task Force aufgestockt werden. Das Europäische Parlament stimmte im Oktober 2017 einem Haushalt in Höhe von 1 000 000 EUR zu, der weit hinter den von anderen Akteuren wie der Russischen Föderation aufgewendeten Mitteln abfällt. (Das US-Außenministerium geht davon aus, dass der Kreml für seine gezielten Beeinflussungskampagnen jährlich Mittel in Höhe von 1,4 Mrd. USD in einen internen und externen Propagandaapparat investiert, mit dem er 600 Millionen Menschen in 130 Ländern in 30 Sprachen erreicht).

4.19.

Die Kommission sollte sich unter anderem damit befassen, dass die nationalen Institutionen und Vorschriften im Bereich Informationssicherheit in den Mitgliedstaaten häufig nicht ausgereift sind. Das Regelungsumfeld ist veraltet, so dass die zuständigen Regulierungsbehörden nicht in der Lage sind, Desinformationskanäle ordnungsgemäß auf Rechtskonformität zu überprüfen. Die Zusammenarbeit innerhalb der Institutionen ist mangelhaft, und es fehlt klar an nationalen langfristigen Strategien zur Bekämpfung ausländischer Desinformationskampagnen und zur Schaffung eines kohärenten Narrativs für gefährdete Bevölkerungsgruppen. Ferner ist eine gründliche Überprüfung der EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste angesagt, die es derzeit ermöglicht, dass sich ein Mediendiensteanbieter in jedem EU-Mitgliedstaat niederlassen kann, sofern ein Vorstandsmitglied des Medienunternehmens seinen Wohnsitz in dem betreffenden Mitgliedstaat hat, wodurch das Publikum in europäischen Ländern unter Ausnutzung von Schlupflöchern im EU-Recht erreicht werden kann.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Informationsbericht „Nutzung der Medien zur Einflussnahme auf gesellschaftliche und politische Prozesse in der EU und ihren östlichen Nachbarländern“ (REX/432).

(2)  2016/2276 (INI).

(3)  https://euvsdisinfo.eu.

(4)  Die Kommission verwendet in ihrem Dokument den Begriff „Ökosystem“. In diesem Kontext wäre der Begriff „Infrastruktur“ besser geeignet.

(5)  Mitteilung der Kommission COM(2018) 236 final.

(6)  http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2017-0272+0+DOC+PDF+V0//DE.

(7)  http://ec.europa.eu/newsroom/dae/document.cfm?doc_id=50271.

(8)  http://www.consilium.europa.eu/de/meetings/european-council/2015/03/19-20/; http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-1-2018-INIT/de/pdf; https://www.consilium.europa.eu/media/35938/28-euco-final-conclusions-de.pdf.

(9)  „The Strategy and Tactics of the Pro-Kremlin Disinformation Campaign“, EEAS.


ANHANG

Folgender abgelehnter Änderungsantrag erhielt mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 4.3

4.3.

Wir leben in einer Zeit, die durch eine starke Polarisierung der politischen und demokratischen Beziehungen geprägt ist. Nach Aussagen von Think Tanks wie Freedom House, dem Economist Intelligence Unit u. a. ist die Demokratie seit der Weltwirtschaftskrise 2008 zunehmend unter Druck geraten. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist ein neuer politischer Führungsstil, der von seinem Wesen her einen Bruch mit der demokratischen Tradition bedeutet, die wir in Europa in den vergangenen 70 Jahren aufgebaut haben. Anstelle einer demokratisch gewählten liberalen Führung treten immer häufiger „starke Männer“ auf, die aus Wahlen hervorgehen, die Anlass zu bohrenden Fragen hinsichtlich der Integrität der Wahlprozesse geben. Diese Art der politischen Führung kannten wir bisher nur aus Drittländern wie Russland und China. Durch Vertreter wie Trump, Erdogan und gewählte „illiberale Demokraten“ in EU-Mitgliedstaaten, die sich allesamt mit ihrer Vorliebe für Desinformation, ihrer Verachtung für Demokratie und ihrer fragwürdigen Einstellung zur Rechtsstaatlichkeit einen Namen gemacht haben, werden die Einschläge immer lauter und kommen immer näher.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen:

68

Nein-Stimmen:

82

Enthaltungen:

24


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/191


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung der Fazilität ‚Connecting Europe‘ und zur Aufhebung der Verordnungen (EU) Nr. 1316/2013 und (EU) 283/2014“

(COM(2018) 438 final — 2018/0228 (COD))

(2018/C 440/33)

Berichterstatter:

Aurel Laurențiu PLOSCEANU

Mitberichterstatter:

Graham WATSON

Befassungen

Europäisches Parlament, 14.6.2018

Rat der Europäischen Union, 3.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 172, Artikel 194 und Artikel 304 AEUV

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

6.9.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

144/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) plädiert für eine Aufstockung des Finanzrahmens der Fazilität „Connecting Europe“ (CEF) für die Zeit nach 2020, bei der Finanzhilfen nach wie vor das wichtigste Element sein sollten. Etliche Verkehrs-, Energie- und Digitalinfrastrukturprojekte sind zwar von grundlegender Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit der EU, erzielen jedoch nicht die erforderlichen Renditen, um private Investoren anzuziehen. Deshalb ist ein umfassendes Engagement der EU und der öffentlichen Stellen in den Mitgliedstaaten erforderlich.

1.2.

Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten, weiterhin Synergieeffekte auf Projektebene zwischen den drei Bereichen anzuregen, da der Haushaltsrahmen hinsichtlich der Förderfähigkeit von Projekten und der Erstattungsfähigkeit von Kosten zu unflexibel ist.

1.3.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, die technische Unterstützung (programmunterstützende Maßnahmen der Fazilität „Connecting Europe“) zur Verbesserung der Förderfähigkeit ausgereifter und hochwertiger Projekte fortzuführen und für Kontinuität bei der Bereitstellung dieser Art von Unterstützung zu sorgen, einschließlich einer Aktualisierung der Bewertungskriterien, damit der Mehrwert von Projekten besser ersichtlich wird. Es sollten weitere Schritte unternommen werden, um die Verwaltungsanforderungen zu vereinfachen, nicht nur für Finanzhilfen geringen Umfangs.

1.4.

Der EWSA fordert die beiden gesetzgebenden Organe auf, die Zusage aus der vorigen CEF-Verordnung beizubehalten, wonach der „größte Teil“ der für den Energiebereich vorgesehenen Mittel in Elektrizitätsvorhaben fließen soll. Dies ist wichtig, um zu gewährleisten, dass die CEF im Einklang mit der Klima- und Energiepolitik der EU steht und nicht zu einer Hauptfinanzierungsquelle für Vorhaben im Bereich fossiler Energieträger im mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) wird. Diese Zusage darf in der Fazilität „Connecting Europe“ für die Jahre 2021-2027 nicht abgeschwächt, sondern muss vielmehr gestärkt werden.

1.5.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die in Artikel 13 aufgeführten Förderkriterien für Projekte um die Sicherheit der Versorgung mit allen Energiearten (Strom, Gas, Wärme usw.) und die spezifische, durch das jeweilige Projekt erzielte Verringerung der CO2-Emissionen ergänzt werden sollten.

1.6.

Der EWSA betont, dass die CEF auf Energievorhaben abzielen muss, durch die eine größere Unabhängigkeit und Sicherheit der Energieversorgung der EU erreicht werden kann. Auch neue Stromspeicheranlagen sollten mit Unterstützung der Fazilität „Connecting Europe“ geschaffen werden.

1.7.

Der EWSA empfiehlt, dass die Finanzierungskapazität des CEF-Programms im Rahmen des nächsten MFR erhöht wird. In Bezug auf die Verteilung der Finanzhilfen auf die drei Bereiche empfiehlt der EWSA die Berücksichtigung der finanziellen Erfordernisse jedes Bereichs, etwa Kapitalintensität und Kapitalrendite, wobei den Investitionen Vorrang gegeben werden sollte, die nicht vom Markt finanziert werden können, um die Glaubwürdigkeit und die Attraktivität für Investoren zu wahren.

1.8.

Daher regt der EWSA an, angesichts der entscheidenden Bedeutung dieser Bereiche für den Binnenmarkt die CEF-Mittelausstattung insgesamt anzuheben.

1.9.

Der EWSA unterstreicht, dass sowohl die Kommission als auch die Mitgliedstaaten an den wichtigsten verkehrspolitischen Zielen der CEF festhalten müssen: Vollendung des Kernnetzes im Rahmen des transeuropäischen Verkehrsnetzes (TEN-V) bis 2030 und Umstellung auf eine saubere, wettbewerbsfähige, innovative und vernetzte Mobilität einschließlich einer EU-weiten Basis an Ladeinfrastruktur für alternative Kraftstoffe bis 2025. Multimodale und grenzüberschreitende Verbindungen sind in diesem Zusammenhang von größter Wichtigkeit.

1.10.

Der EWSA fordert die beiden gesetzgebenden Organe auf, für einen umfassenden, fairen Wettbewerb unter Projekten zu sorgen, die CEF-Mittel erhalten, indem die Gegenseitigkeit in der Praxis eingehalten wird und Vertragsbedingungen angewandt werden, die Effizienz und eine gerechte Aufteilung der Risiken miteinander verbinden.

1.11.

Die beiden gesetzgebenden Organe sollten aus Sicht des EWSA dafür sorgen, dass die Teilnahme an den entsprechenden Ausschreibungsverfahren nur Unternehmen aus Ländern offensteht, in denen die entsprechenden Märkte offen sind, sodass wirkliche Gegenseitigkeit gewährleistet ist, und dass die verwendete Standardvertragsform zu den Zielsetzungen und Gegebenheiten des Projekts passt. Die Vertragsbedingungen sollten so abgefasst sein, dass die mit dem Vertrag verbundenen Risiken gerecht aufgeteilt sind, denn das vorrangige Ziel muss es sein, den Vertrag zu einem möglichst wirtschaftlichen Preis und möglichst effizient zu erfüllen. Dieser Grundsatz sollte unabhängig davon gelten, ob eine nationale oder internationale Standardvertragsform verwendet wird (auf der Grundlage von Artikel 3.21 der Auftragsvergabevorschriften der EBWE vom 1. November 2017).

1.12.

Der EWSA unterstützt nachdrücklich den Vorschlag, die grenzübergreifende Zusammenarbeit bei der Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen in die CEF für den Zeitraum 2021–2027 einzubeziehen. Der EWSA meint, dass die Maßnahmen der CEF im Bereich der regenerativen Energieträger von dem Grundgedanken getragen sein sollten, ein europaweites Netz für Strom aus erneuerbaren Energiequellen aufzubauen, das eine wirksamere Integration von EE-Technologien ermöglicht und das verfügbare Technologiepotenzial in Europa besser zur Geltung bringt.

1.13.

Der EWSA begrüßt, dass künftig auch Anlagen für erneuerbare Energieträger im Rahmen des Bereichs Energie der CEF förderfähig sein sollen, und empfiehlt, diese Bestimmung dahingehend zu ändern, dass größere Projekte ebenso berücksichtigt werden wie Portfolios kleinerer Projekte, damit alle Technologien fair um die Gelder konkurrieren können.

1.14.

Der EWSA empfiehlt eine Ausweitung der in Artikel 3 aufgeführten Ziele der CEF, sodass dort nicht nur die Erleichterung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit im Bereich der erneuerbaren Energien, sondern auch der Einsatz erneuerbarer Energieträger ausdrücklich genannt wird.

1.15.

Der EWSA stellt fest, dass Ausgaben im Zusammenhang mit dem Erwerb von Grundstücken nicht als förderfähige Kosten gemäß Artikel 15 Buchstabe c gelten, und fordert die beiden gesetzgebenden Organe auf zu prüfen, ob dies bestimmte Projekte und Technologien bevorteilen oder benachteiligen könnte. Für Bereiche wie Verkehr und erneuerbare Energien ist der Erwerb von Grundstücken ein nicht zu vernachlässigender Teil der Investition.

1.16.

Der EWSA erinnert die Kommission daran, dass grenzüberschreitende Energieverbindungsleitungen wichtige Elemente für die Integration erneuerbarer Energieträger sind, nicht nur weil sie den Transport von Strom aus erneuerbaren Energieträgern über weite Strecken hinweg ermöglichen und dadurch die Nutzung saubererer und billigerer Stromquellen in Europa begünstigen, sondern auch, weil sie wesentlich zur Flexibilität des Systems beitragen.

1.17.

Der EWSA empfiehlt, die Chancen, die aus der Digitalisierung der verschiedenen Stromnetze sowie aus der Schaffung intelligenter Netze für die Integration erneuerbarer Energieträger erwachsen, umfassend zu nutzen, und empfiehlt der Kommission zu prüfen, wie Synergien zwischen dem Energie- und dem Digitalbereich der CEF in diesem Punkt erschlossen werden können. Der EWSA bemerkt einen Mangel an Vorhaben im Bereich der intelligenten Netze in der CEF für 2014-2020, was teilweise an Hindernissen für die Finanzierung von kleineren Projekten für Verteilnetze im Gegensatz zu Vorhaben im Zusammenhang mit Hochspannungsnetzen liegt.

1.18.

Aus Sicht des EWSA sollte im Rahmen der CEF auch für Verfahren gesorgt werden, nach denen Strom aus erneuerbaren Quellen, der in Verkehrsanwendungen genutzt wird, zertifiziert wird, etwa durch entsprechende Herkunftsnachweise.

1.19.

Nach Auffassung des EWSA sollten große, EU-weite Vorhaben zur Digitalisierung des Verkehrs Vorrang haben, wie das Europäische Eisenbahnverkehrsleitsystem ERTMS oder das Programm zur Flugsicherungsforschung für den einheitlichen europäischen Luftraum (SESAR) und das autonome Fahren. Zur Ausstattung des Kernnetzes mit ERTMS bis 2030 werden Investitionen in Höhe von 15 Mrd. EUR benötigt. Ein EU-weites Großvorhaben wird aus Finanzhilfen der verschiedenen CEF-Cluster, privaten Mitteln und einer Kombination aus Elementen von InvestEU finanziert.

1.20.

Der EWSA dringt auf die 5G-Abdeckung des TEN-V-Netzes, die von fundamentaler Bedeutung ist.

1.21.

Der EWSA fordert Maßnahmen wie wirksame Kontrollen, moderne Übernachtungsmöglichkeiten und ausreichende Parkplätze mit geeigneter Ausstattung.

1.22.

Darüber hinaus meint der EWSA, dass überlegt werden sollte, wie der Öffentlichkeit die Erfolge der CEF besser vermittelt werden können. Es wäre deshalb sinnvoll, Mittel für Kommunikationsmaßnahmen bereitzustellen. Eine bessere Planbarkeit ist ebenfalls zu berücksichtigen.

1.23.

Der EWSA empfiehlt, zusätzliche Maßnahmen in Erwägung zu ziehen, um das Potenzial des Programms ganz auszuschöpfen, da Maßnahmen der CEF entscheidende Anstöße für die meisten Projekte gegeben und sich als enormer Katalysator sowohl für öffentliche als auch für private Investitionen erwiesen haben. Eine größere Komplementarität zwischen der CEF und anderen Programmen (wie Horizont Europa, InvestEU und dem Kohäsionsfonds) wäre nötig, um Überschneidungen zu vermeiden und die Haushaltsmittel optimal einzusetzen.

1.24.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Mittel für die Kohäsionspolitik von entscheidender Bedeutung für die Fertigstellung der Teile der Kernnetze in den Kohäsionsländern sind, und empfiehlt der Kommission und den Mitgliedstaaten, den Anteil des Kohäsionsfonds im nächsten MFR unter direkter Verwaltung der CEF zu belassen. Die CEF-Verkehrsprioritäten müssen durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung gefördert werden. In jedem Fall sollten die Mittel im jeweils begünstigten Mitgliedstaat verbleiben.

1.25.

Der EWSA regt eine Anpassung der Evaluierungsmethode an, da der Erfolg der Fazilität „Connecting Europe“ nicht allein in der Höhe der zugewiesenen Mittel und der Zahl der geförderten Projekte besteht.

Der EWSA schlägt Verbesserungen an der Methode zur Evaluierung der CEF vor. Am Ende des Zeitraums 2014-2020 sollte eine echte quantitative bzw. qualitative Bewertung der abgeschlossenen und der weit fortgeschrittenen Projekte vorgenommen werden. Der EWSA fordert eine erneute Prüfung u. a. der Fortschritte beim TEN-V-Ausbau sowie der Veränderungen der Personen- und Güterverkehrsströme. Der EWSA fordert zudem eine sozioökonomische Kosten-Nutzen-Analyse von TEN-V-Projekten, in der die einschlägigen sozialen, wirtschaftlichen, klimabezogenen und ökologischen Vorteile und Kosten betrachtet werden.

1.26.

Der EWSA fordert den Abschluss spezifischer Maßnahmen zu allgemeinen Klimaschutzzielen.

1.27.

Der EWSA spricht sich dafür aus, den Metropolen in den großen Infrastrukturprojekten Rechnung zu tragen, unabhängig davon, ob sie Mittel aus dem Kohäsionsfonds erhalten können oder nicht.

1.28.

Der EWSA empfiehlt, mit konkreten Maßnahmen die Nach- oder Aufrüstung oder ein Repowering der existierenden Infrastruktur attraktiv zu machen, die nach wie vor das Rückgrat der bestehenden Netze und der installierten Leistung ist.

1.29.

Der EWSA unterstützt die Entwicklung von Infrastruktur mit doppeltem Verwendungszweck (zivil und militärisch) sowohl in Bezug auf physische als auch auf technologische Infrastrukturen (etwa ERTMS und SESAR) im Rahmen der CEF und empfiehlt angesichts der neuen internationalen geopolitischen Bedingungen (z. B. Drei-Meere-Initiative) einen offenen und vorausschauenden Ansatz.

1.30.

Der EWSA empfiehlt, dass im Rahmen der CEF Investitionen in grenzübergreifende TEN-V-Infrastrukturen Priorität erhalten, um eine kohärente Kapazität herzustellen, Engpässe bei allen Verkehrsträgern zu vermeiden und so ein vollständig integriertes Verkehrsnetz sicherzustellen.

2.   Erläuterung des Kommissionsvorschlags

2.1.

Mit dem Vorschlag soll die Rechtsgrundlage für die CEF für die Zeit nach 2020 geschaffen werden; er ist für eine Union mit 27 Mitgliedstaaten bestimmt.

2.2.

Der Kommissionsvorschlag (1) vom 2. Mai 2018 für den MFR nach 2020 sieht einen Betrag von 42,265 Mrd. EUR für die CEF vor und setzt sich wie folgt zusammen:

Fazilität „Connecting Europe“ 2021-2027

Zahlen zu jeweiligen Preisen — EUR

Verkehr,

einschließlich:

30 615 493 000

Finanzausstattung allgemein

Beitrag aus dem Kohäsionsfonds

Unterstützung der militärischen Mobilität

12 830 000 000

11 285 493 000

6 500 000 000

Energie

8 650 000 000

Digitales

3 000 000 000

GESAMT

42 265 493 000

2.3.

Ziel ist es, eine Mobilität nahezu ohne Unfallopfer, Emissionen und Papier in Europa zu erreichen („Vision Null“), bei der Nutzung erneuerbarer Energien weltweit führend zu werden und ein Vorreiter in der digitalen Wirtschaft zu sein.

2.4.

Die Fazilität „Connecting Europe“ unterstützt Investitionen in die Verkehrs-, Energie- und Digitalinfrastruktur, indem sie den Aufbau der transeuropäischen Netze (TEN) vorantreibt, und fördert die grenzübergreifende Zusammenarbeit bei der Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen. Diese Netze und die grenzübergreifende Zusammenarbeit sind essenziell für das Funktionieren des Binnenmarktes und auch strategisch wichtig, um die Energieunion, den digitalen Binnenmarkt und die Entwicklung nachhaltiger Verkehrsträger umzusetzen.

2.5.

Im MFR 2021-2027 wird ein ehrgeizigeres Ziel für die durchgängige Berücksichtigung der Klimaschutzbelange in allen EU-Programmen gesetzt, dass nämlich 25 % der EU-Ausgaben dafür aufgewendet werden sollen. Von der CEF wird ein wichtiger Beitrag dazu erwartet, denn ihre Zielvorgabe lautet, dass 60 % ihrer Finanzausstattung der Verwirklichung von Klimazielen dienen sollen.

2.6.

Die künftigen Anforderungen hinsichtlich der Umstellung auf eine Niedrigemissionswirtschaft und der Digitalisierung werden zu einer zunehmenden Konvergenz der Bereiche Verkehr, Energie und Digitales führen. Daher sollten Synergien zwischen diesen drei Bereichen in vollem Umfang genutzt werden, um die Wirksamkeit und Effizienz der Unionsförderung zu maximieren. Um Anreize für sektorübergreifende Vorschläge zu geben und diesen Vorrang zu verschaffen, werden Synergieaspekte bei der Bewertung einer vorgeschlagenen Maßnahme bei den Gewährungskriterien berücksichtigt.

2.7.

Ziel der CEF ist es, dass der Verkehr einen Beitrag zur Fertigstellung beider Ebenen der TEN-V-Netze (des Kernnetzes bis 2030 und des Gesamtnetzes bis 2050) leistet. Schätzungen zufolge werden durch die Fertigstellung des TEN-V-Kernnetzes im Zeitraum 2017 bis 2030 etwa 7,5 Mio. Arbeitsplätze geschaffen. Dadurch wird im Jahr 2030 mit einem zusätzlichen BIP-Wachstum von 1,6 % gerechnet.

2.8.

Zum ersten Mal überhaupt soll die Unionsförderung für die Durchführung von Verkehrsprojekten mit ziviler und militärischer Doppelnutzung im Rahmen der CEF erfolgen.

2.9.

Im Energiebereich liegt der Schwerpunkt auf der Fertigstellung der transeuropäischen Energienetze durch die Entwicklung von Vorhaben von gemeinsamem Interesse in Bezug auf die weitere Integration des Energiebinnenmarkts und die grenz- und sektorübergreifende Interoperabilität, auf einer nachhaltigen Entwicklung durch Schaffung der Voraussetzungen für die Umstellung auf eine Niedrigemissionswirtschaft, insbesondere mittels Integration erneuerbarer Energien, sowie auf der Versorgungssicherheit, u. a. durch die intelligentere Gestaltung und die Digitalisierung der Infrastrukturen.

2.10.

Im Bereich Digitales sorgt die CEF dafür, dass alle Bürger, Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen möglichst stark vom digitalen Binnenmarkt profitieren.

2.11.

Die Verkehrs-, Energie- und Digitalinfrastruktur wird durch eine Reihe von EU-Finanzierungsprogrammen und -instrumenten wie der CEF, dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und dem Kohäsionsfonds, Horizont Europa, InvestEU und LIFE in unterschiedlichem Maße gefördert.

2.12.

Die Maßnahmen des Programms sollten eingesetzt werden, um Marktversagen oder suboptimale Investitionsbedingungen in angemessener Weise auszugleichen, ohne private Finanzierungen zu duplizieren oder zu verdrängen; zudem sollten die Maßnahmen einen klaren europäischen Mehrwert aufweisen.

2.13.

Am 13. Februar 2018 nahm die Kommission die Ergebnisse der Ex-post-Bewertungen nach den fünf Kriterien Wirksamkeit, Effizienz, Relevanz, Kohärenz und EU-Mehrwert an (2). Hier einige wesentliche Punkte:

Die CEF ist ein wirksames und zielgerichtetes Instrument für Investitionen in den Bereichen Verkehr, Energie und digitale Wirtschaft. Die Investitionen der CEF seit 2014 belaufen sich auf 25 Mrd. EUR, somit wurden in der EU etwa 50 Mrd. EUR in die Infrastruktur investiert.

Durch die Unterstützung von Projekten zur Förderung der Konnektivität mit grenzüberschreitender Dimension bringt die CEF für alle Mitgliedstaaten einen hohen europäischen Mehrwert.

Zum ersten Mal wurde ein Teil des Kohäsionshaushalts (11,3 Mrd. EUR für Verkehr) in direkter Mittelverwaltung im Rahmen der CEF ausgeführt.

Die CEF hat weiter zur Nutzung und zum Aufbau innovativer Finanzierungsinstrumente beigetragen, die allerdings aufgrund der neuen Möglichkeiten des EFSI nur in begrenztem Umfang zum Einsatz kamen.

Mit der CEF wurden ferner bereichsübergreifende Synergien erprobt, die aufgrund der Rigidität des derzeitigen Rechts- und Haushaltsrahmens allerdings begrenzt waren. Die Leitlinien für die einzelnen Bereiche und das CEF-Instrument müssten flexibler gestaltet werden, um Synergien zu erleichtern und stärker auf neue technische Entwicklungen und Prioritäten wie die Digitalisierung reagieren zu können, während gleichzeitig die Umstellung auf eine Niedrigemissionswirtschaft beschleunigt und gemeinsame gesellschaftliche Herausforderungen, beispielsweise die Cybersicherheit, angegangen werden.

2.14.

Die Kommission schlägt vor, das neue Programm für die drei CEF-Bereiche ebenfalls in direkter Verwaltung durch die Europäische Kommission und ihre Exekutivagentur für Innovation und Netze (INEA) durchzuführen.

2.15.

Die vorgeschlagenen Haushaltsmittel decken alle für die Programmdurchführung erforderlichen operativen Ausgaben sowie die Personalkosten und sonstigen Verwaltungsausgaben im Zusammenhang mit der Programmverwaltung.

2.16.

Im Vergleich zur CEF 2014-2020 wird ein einfacherer, aber soliderer Leistungsrahmen geschaffen, um die Erfüllung der Ziele und den Beitrag zur Verwirklichung der politischen Ziele der EU zu überwachen. Die Indikatoren für die Überwachung der Durchführung und der Fortschritte beziehen sich insbesondere auf folgende Aspekte:

effiziente und miteinander verbundene Netze und Infrastrukturen für eine intelligente, nachhaltige, inklusive, sichere und geschützte Mobilität sowie Anpassung an die Anforderungen der militärischen Mobilität;

Beitrag zur Verbundfähigkeit und Integration der Märkte, zur Energieversorgungssicherheit und zur nachhaltigen Entwicklung durch Ermöglichung der Umstellung auf eine Niedrigemissionswirtschaft; Beitrag zur grenzübergreifenden Zusammenarbeit im Bereich der erneuerbaren Energien;

Beitrag zum Auf- und Ausbau digitaler Vernetzungsinfrastruktur in der gesamten EU.

3.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

3.1.

Der EWSA hebt die strategische Bedeutung des CEF-Programms aus dem Blickwinkel der Integration des Binnenmarktes und der intelligenten Mobilität hervor und sieht darin eine Gelegenheit, greifbare Vorteile für die Bürger, den sozialen Zusammenhalt und die Wirtschaft sowie Wohlstand und einen Nutzen für die EU als Ganzes durch dieses Programm zu schaffen.

Bis Ende 2017 wurden aus der CEF (Verkehr) bereits Finanzhilfen in Höhe von 21,3 Mrd. EUR für TEN-V-Projekte bewilligt, die Investitionen von insgesamt 41,6 Mrd. EUR angestoßen haben.

3.2.

Im Laufe des Jahres 2018 werden zusätzliche Finanzhilfevereinbarungen für Mischfinanzierungsprojekte unterzeichnet, bei denen CEF-Finanzhilfen mit privaten Finanzmitteln kombiniert werden, unter anderem aus dem Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI). Schätzungen zufolge werden mit jeder Milliarde Euro, die in das TEN-V-Kernnetz investiert wird, bis zu 20 000 Arbeitsplätze geschaffen.

3.3.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung der Fazilität „Connecting Europe“ und zur Aufhebung der Verordnungen (EU) Nr. 1316/2013 und (EU) Nr. 283/2014 für den Zeitraum 2021-2027.

3.4.

Der EWSA stellt fest, dass die CEF eines der erfolgreichsten EU-Programme ist, und betont ihre strategische Bedeutung in Bezug auf die Integration des Binnenmarkts, die Vollendung der Energieunion, intelligente Mobilität und die Gelegenheit für die EU, einen greifbaren Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger, den sozialen Zusammenhalt und die Unternehmen zu schaffen.

3.5.

Der EWSA meint, dass die Finanzierungskapazität des CEF-Programms im Rahmen des nächsten MFR erhöht und ausgewogener verteilt werden sollte, um die Glaubwürdigkeit und die Attraktivität für Investoren zu wahren. Eine unzureichende Mittelausstattung würde die Vollendung des TEN-V- und des TEN-E-Netzes gefährden und dies würde in der Tat den Wert von bereits mit öffentlichen Mitteln getätigten Investitionen mindern.

3.6.

Der EWSA hebt hervor, dass Investitionen in digitale, innovative und nachhaltige Verkehrsprojekte zügiger getätigt werden müssen, damit Fortschritte mit Blick auf ein umweltgerechteres, wirklich integriertes, modernes, allen zugängliches, sichereres und effizientes Verkehrssystem erzielt werden. Der soziale Zusammenhalt auf EU-Ebene sollte durch höhere öffentliche Investitionen in Projekte mit europäischem und regionalem Mehrwert gestärkt werden.

3.7.

Der EWSA glaubt, dass Synergieeffekte auf Projektebene zwischen den drei Bereichen bisher begrenzt sind, da der Haushaltsrahmen hinsichtlich der Förderfähigkeit von Projekten und der Erstattungsfähigkeit von Kosten zu unflexibel ist.

3.8.

Der EWSA begrüßt die geleistete technische Unterstützung zur Verbesserung der Förderfähigkeit ausgereifter und hochwertiger Projekte und die Kontinuität bei der Bereitstellung dieser Art von Unterstützung einschließlich einer Aktualisierung der Bewertungskriterien, damit der Mehrwert von Projekten besser ersichtlich wird. Es bedarf weiterer Schritte zur Vereinfachung der Verwaltungsanforderungen, nicht nur für Finanzhilfen geringen Umfangs.

3.9.

Der EWSA unterstreicht, dass sowohl die Kommission als auch die Mitgliedstaaten an den wichtigsten politischen Zielen der CEF festhalten müssen: Vollendung des TEN-V-Kernnetzes bis 2030 und Umstellung auf eine saubere, wettbewerbsfähige, innovative und vernetzte Mobilität einschließlich einer EU-weiten Basis an Ladeinfrastruktur für alternative Kraftstoffe bis 2025. Multimodale und grenzüberschreitende Verbindungen sind in diesem Zusammenhang von größter Wichtigkeit.

3.10.

Die CEF sollte auf Energievorhaben abzielen, durch die eine größere Unabhängigkeit und Sicherheit der Energieversorgung der EU erreicht werden kann. Auch neue Stromspeicheranlagen sollten mit Unterstützung der Fazilität „Connecting Europe“ geschaffen werden.

3.11.

Der EWSA meint, dass grenzüberschreitende Energieverbindungsleitungen wichtige Elemente für die Integration erneuerbarer Energieträger sind, nicht nur weil sie den Transport von Strom aus erneuerbaren Energieträgern über weite Strecken hinweg ermöglichen, sondern auch, weil sie wesentlich zur Flexibilität des Systems beitragen.

3.12.

Die Rolle der europäischen Koordinatoren sollte ausgeweitet werden, damit eine gründliche Prüfung der abgeschlossenen oder baulich weit fortgeschrittenen Projekte, der tatsächlichen Ergebnisse und der verbliebenen Engpässe vorgenommen werden kann. Die Kommission sollte dafür Sorge tragen, dass die Aufrufe zur Projekteinreichung entsprechend ihrer Beurteilung nach Priorität eingestuft werden.

3.13.

Nach Ansicht des EWSA sollte sich der Verkehrssektor die von digitalen und innovativen Technologien eröffneten Chancen voll zunutze machen, und er merkt an, dass eine neue innovative Verkehrsinfrastruktur attraktiver für Investitionen, insbesondere aus der Privatwirtschaft, ist.

3.14.

Der EWSA ist der Auffassung, dass Investitionen in den Verkehr und insbesondere in das transeuropäische Verkehrsnetz (TEN-V) entscheidend für das Wachstum und die Beschäftigung in Europa sind. Deshalb plädiert er für eine Aufstockung des Finanzrahmens für die Fazilität „Connecting Europe“ für die Zeit nach 2020, bei der Finanzhilfen nach wie vor das wichtigste Element sein sollten. Etliche Verkehrsinfrastrukturprojekte sind zwar von entscheidender Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit der EU, erzielen jedoch nicht die erforderlichen Renditen, um private Investoren anzuziehen. Deshalb ist hier ein umfassendes Engagement der EU und der öffentlichen Stellen in den Mitgliedstaaten erforderlich.

3.15.

Die Kommission sollte die Mittelausstattung der CEF für 2021-2027 beibehalten und keine weiteren Kürzungen zugunsten anderer Programme (EFSI, Europäisches Programm zur industriellen Entwicklung im Verteidigungsbereich (EDIDP)) vornehmen.

3.16.

Nach Auffassung des EWSA sollten große, EU-weite Vorhaben zur Digitalisierung des Verkehrs, wie ERTMS, SESAR und autonomes Fahren, Vorrang haben. Die Realisierung dieser Vorhaben erfordert eine Mischfinanzierung: öffentliche Mittel aus der CEF und durch InvestEU abgesicherte private Gelder. Auch die 5G-Abdeckung des TEN-V-Netzes wäre von fundamentaler Bedeutung. Nur 8 % der 51 000 km der Kernnetzkorridore wurden zwischen 1995 und 2016 mit ERTMS ausgestattet. Bei diesem Tempo würde es 200 Jahre dauern, bis das gesamte Kernnetz ausgestattet ist. Die Fertigstellung bis 2030 würde 15 Mrd. EUR an Investitionen sowie eine erhebliche Beschleunigung des Programms erfordern. Im Ergebnis wäre ein nahtloser Eisenbahnverkehr in Europa möglich, was mit einer Erhöhung der Kapazitäten sowie mehr Sicherheit und Pünktlichkeit einhergehen würde.

3.17.

Elektromobilität ist ein Kernstück der Umstellung auf einen nachhaltigen Verkehr und bietet zudem das Potenzial für die Netzintegration von Elektrofahrzeugen, wobei die Speicherkapazität der Elektroautobatterien als Quelle für die Flexibilität des Netzes genutzt wird. Die Interoperabilität in Schnittstellen für die Netzintegration von Elektrofahrzeugen sollte zentrale Priorität in der gesamten EU genießen. Im Rahmen der CEF sollte auch für Verfahren gesorgt werden, nach denen zertifiziert wird, dass Energie aus erneuerbaren Quellen in Verkehrsanwendungen genutzt wird, etwa durch entsprechende Herkunftsnachweise.

3.18.

Synergien sind für die erfolgreiche Umsetzung der CEF von entscheidender Bedeutung. Beispiele für solche Synergien sind Ladestationen für Elektrofahrzeuge, die mit Strom aus erneuerbaren Quellen betrieben werden, Photovoltaik-Carports und die Entwicklung technischer Lösungen für die Netzintegration von Elektrofahrzeugen.

3.19.

Die Elektrifizierung des Straßengüterverkehrs sollten ebenfalls in Betracht gezogen werden. Für Lastkraftwagen und Busse wären 10 Mrd. EUR für die Elektrifizierung von rund 7 000 km Straßen im Bezugszeitraum erforderlich.

3.20.

Die Entwicklung und Sanierung von Verkehrsinfrastruktur in der EU erfolgt nach wie vor in heterogener Weise und ist eine erhebliche Herausforderung in Bezug auf Kapazität und Finanzierung. Entscheidend ist, dass sowohl das nachhaltige Wachstum, die Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit als auch der soziale und territoriale Zusammenhalt der EU gewahrt werden.

3.21.

Im Bereich der Verkehrsinfrastruktur sind 11,2 Mio. Menschen beschäftigt. Ihren Bedürfnissen und Arbeitsbedingungen muss im CEF-Rahmen ebenfalls Rechnung getragen werden. Der EWSA fordert Maßnahmen wie wirksame Kontrollen, moderne Übernachtungsmöglichkeiten und ausreichende Parkplätze mit geeigneter Ausstattung.

3.22.

Der EWSA stellt fest, dass der Kommissionsvorschlag in seiner jetzigen Form eine Abschwächung der früheren Zusage bedeutet, den „größten Teil“ der für den Energiebereich vorgesehenen Mittel für Elektrizitätsvorhaben bereitzustellen. Der EWSA begrüßt die Erwartung der Kommission, dass dies im aktuellen CEF-Programm bis zum Ende des Programmplanungszeitraums erfüllt sein dürfte. Die Einhaltung dieser Zusage ist grundlegend dafür, dass die CEF im Einklang mit der Klima- und Energiepolitik der EU steht.

3.23.

Was die künftige Förderfähigkeit von Anlagen für erneuerbare Energieträger im Rahmen des Bereichs Energie der CEF betrifft, wird eine Änderung in dem Sinne empfohlen, dass größere Projekte ebenso wie Portfolios kleinerer Projekte berücksichtigt werden. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für eine umfangreichere Nutzung von EU-Mitteln für erneuerbare Energieträger, wie in der Neufassung der Erneuerbaren-Energien-Richtlinie dargelegt.

3.24.

Wir stellen fest, dass die Mittel für die CEF 2021-2027 und der Beitrag des Kohäsionsfonds zu konstanten Preisen eine Kürzung von 12-13 % aufweisen. Dieser Aspekt sollte noch einmal überdacht werden. Zugleich ist es wichtig, die Verkehrsprioritäten der CEF umzusetzen. Der Teil des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, der in den ersten drei Jahren nicht von den begünstigten Mitgliedstaaten gebunden wurde, wird gemäß diesen Prioritäten im selben Land zugewiesen.

3.25.

Bei der Halbzeitbewertung der CEF standen vor allem quantitative Aspekte im Vordergrund, obwohl die meisten Projekte ganz konkreter Natur waren.

3.26.

Am Ende des Zeitraums 2014-2020 sollte eine echte quantitative bzw. qualitative Bewertung der abgeschlossenen und der baulich weit fortgeschrittenen Projekte vorgenommen werden.

3.27.

Eine Beurteilung der Wirksamkeit von Projekten fehlt in dem Entwurf, wie der Europäische Rechnungshof in seinem Bericht für 2018 kritisiert. Der EWSA fordert eine erneute Prüfung u. a. des Fortschritts beim TEN-V-Ausbau sowie der Veränderungen der Personen- und Güterverkehrsströme. Der EWSA fordert ferner eine sozioökonomische Kosten-Nutzen-Analyse von TEN-V-Projekten, in der die einschlägigen sozialen, wirtschaftlichen, klimabezogenen und ökologischen Vorteile und Kosten betrachtet werden.

3.28.

Der EWSA weist darauf hin, dass der Erfolg der Fazilität „Connecting Europe“ nicht allein in der Höhe der zugewiesenen Mittel und der Zahl der geförderten Projekte besteht. Die Evaluierungsmethode sollte angepasst werden.

3.29.

Darüber hinaus meint der EWSA, dass überlegt werden sollte, wie der Öffentlichkeit die Erfolge der CEF besser vermittelt werden können. Eine bessere Planbarkeit ist ebenfalls nötig.

3.30.

Die Metropolen Europas sind diejenigen Gebiete in der EU mit dem höchsten Verkehrsaufkommen, fast der gesamte Verkehr hat seinen Abfahrts- oder Zielort in einer Metropole. Der EWSA spricht sich dafür aus, den Ballungsräumen in den großen Infrastrukturprojekten Rechnung zu tragen, unabhängig davon, ob sie Mittel aus dem Kohäsionsfonds erhalten können oder nicht.

3.31.

Aus Sicht des EWSA ist es zu begrüßen, dass die CEF erstmals überhaupt eine Unterstützung für Verkehrsinfrastruktur mit doppeltem Verwendungszweck (zivil und militärisch) in Höhe von 6,5 Mrd. EUR bietet, um die militärische Mobilität in der EU zu verbessern, was der Gemeinsamen Mitteilung vom November 2017 (3) und dem Aktionsplan vom März 2018 (4) entspricht.

3.32.

Der EWSA begrüßt die Ziele des „Aktionsplans zur militärischen Mobilität“ und befürwortet eine Verteidigungsunion sowohl im Hinblick auf die Verbesserung der Infrastruktur als auch wegen der möglichen Synergien. Eine Dual-Use-Infrastruktur (für zivile und militärische Zwecke) sollte entlang des TEN-V-Netzes sowie in den militärisch am stärksten bedrohten Gebieten ausgebaut werden.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  COM(2018) 321 final.

(2)  COM(2018) 66 final.

(3)  Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat „Die militärische Mobilität in der Europäischen Union verbessern“ (JOIN(2017) 41 final) vom 10.11.2017.

(4)  Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat über den Aktionsplan zur militärischen Mobilität (JOIN(2018) 5 final) vom 28.3.2018.


6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/199


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung eines Aktionsprogramms in den Bereichen Austausch, Unterstützung und Ausbildung zum Schutz des Euro gegen Geldfälschung für den Zeitraum 2021-2027 (Programm ‚Pericles IV‘)“

(COM(2018) 369 final — 2018/0194(CNS))

(2018/C 440/34)

Befassung

Europäische Kommission, 18.6.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 133 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

207/0/1

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 537. Plenartagung am 19./20. September 2018 (Sitzung vom 19. September) mit 207 Stimmen bei 1 Enthaltung, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 19. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER