ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 487

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

59. Jahrgang
28. Dezember 2016


Informationsnummer

Inhalt

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I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

519. Plenartagung des EWSA vom 21./22. September 2016

2016/C 487/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Neue Maßnahmen für eine entwicklungsorientierte Governance und Durchführung — Bewertung der europäischen Struktur- und Investitionsfonds und diesbezügliche Empfehlungen (Initiativstellungnahme)

1

2016/C 487/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Rechte von im Haushalt lebenden Pflegekräften(Initiativstellungnahme)

7

2016/C 487/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss — Die Biodiversitätspolitik der EU (Initiativstellungnahme)

14

2016/C 487/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Wie geht es weiter nach Paris? (Initiativstellungnahme)

24

2016/C 487/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Der Standpunkt des EWSA zu spezifischen Kernaspekten der Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) (Initiativstellungnahme)

30

2016/C 487/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu Nachhaltige Entwicklung: Bestandsaufnahme der internen und externen politischen Maßnahmen der EU (Sondierungsstellungnahme)

41

2016/C 487/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Zukunftsfähige Rechtsetzung (Sondierungsstellungnahme)

51


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

519. Plenartagung des EWSA vom 21./22. September 2016

2016/C 487/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Rechtsrahmen der Europäischen Union in Bezug auf Zollrechtsverletzungen und Sanktionen(COM(2013) 884 final — 2013/0432 (COD))

57

2016/C 487/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Offenlegung von Ertragsteuerinformationen durch bestimmte Unternehmen und Zweigniederlassungen(COM(2016) 198 final — 2016/0107 (COD))

62

2016/C 487/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/399 in Bezug auf die Nutzung des Einreise-/Ausreisesystems(COM(2016) 196 final — 2016/0105 (COD)) und Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Einreise-/Ausreisesystem (EES) zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten sowie der Einreiseverweigerungsdaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und zur Festlegung der Bedingungen für den Zugang zum EES zu Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungszwecken und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 767/2008 und der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011(COM(2016) 194 final — 2016/0106 (COD))

66

2016/C 487/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 994/2010(COM(2016) 52 final — 2016/0030 (COD))

70

2016/C 487/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über eine EU-Strategie für Flüssigerdgas und die Speicherung von Gas(COM(2016) 49 final)

75

2016/C 487/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Mechanismus für den Informationsaustausch über zwischenstaatliche Abkommen und nicht verbindliche Instrumente zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern im Energiebereich und zur Aufhebung des Beschlusses Nr. 994/2012/EU(COM(2016) 53 final)

81

2016/C 487/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Europäische Cloud-Initiative — Aufbau einer wettbewerbsfähigen Daten- und Wissenswirtschaft in Europa(COM(2016) 178 final)

86

2016/C 487/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Schwerpunkte der IKT-Normung für den digitalen Binnenmarkt(COM(2016) 176 final)

92

2016/C 487/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: EU-eGovernment-Aktionsplan 2016-2020 — Beschleunigung der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung(COM(2016) 179 final)

99

2016/C 487/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission: Hinweisendes Nuklearprogramm — Vorlage gemäß Artikel 40 des Euratom-Vertrags zur Stellungnahme durch den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss(COM(2016) 177 final)

104

2016/C 487/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Rates zu bestimmten Vorschriften für die finanzielle Abwicklung in Bezug auf bestimmte hinsichtlich ihrer Finanzstabilität von gravierenden Schwierigkeiten betroffene bzw. von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedrohte Mitgliedstaaten(COM(2016) 418 final — 2016/0193 (COD))

111

2016/C 487/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Geänderten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über zusätzliche Zölle auf die Einfuhren bestimmter Waren mit Ursprung in den Vereinigten Staaten von Amerika (kodifizierter Text)(COM(2016) 408 final — 2014/0175 (COD))

112

2016/C 487/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2004/37/EG über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch Karzinogene oder Mutagene bei der Arbeit (COM(2016) 248 final — 2016/0130 COD)

113


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

519. Plenartagung des EWSA vom 21./22. September 2016

28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Neue Maßnahmen für eine entwicklungsorientierte Governance und Durchführung — Bewertung der europäischen Struktur- und Investitionsfonds und diesbezügliche Empfehlungen“

(Initiativstellungnahme)

(2016/C 487/01)

Berichterstatter:

Etele BARÁTH

Beschluss des Plenums

21.1.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

8.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

171/1/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Nach Ansicht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) bedarf es einer koordinierten, entwicklungsorientierten europäischen Governance mit dem Ziel, zur Schaffung eines erneuerten, starken und friedlichen Europas beizutragen. Die Koordinierung muss gestärkt werden, eventuell durch eine neue Organisationsform für die Governance.

1.2.

Es gilt, anhand koordinierter Entwicklungen wieder für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung zu sorgen, die Grundlagen des gesellschaftlichen Wohls und der Demokratie, das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen und den beispielhaften Umgang mit der Umwelt zu verbessern.

1.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass mit der konsequenten Anwendung des Grundsatzes der Partnerschaft die Beteiligung der Interessenträger an der Planung und Durchführung von über die EU-Fonds finanzierten Investitionen gefördert werden soll. Hierdurch wird das kollektive Engagement für Investitionen gestärkt und mehr Fachwissen einbezogen. So wird die Umsetzung der Projekte effizienter, die Transparenz erhöht sowie zur Verhinderung von Betrug und Missbrauch beigetragen.

1.4.

Benötigt werden Zielvorgaben und eine Strategie, die einfach und allgemein verständlich sind, sowie ein einheitliches Projekt Europa (EU-Strategie 2030-2050). Es sollte bekräftigt werden, dass das strategische Hauptziel der EU auch weiterhin darin besteht, ein innovatives, nachhaltiges und inklusives Europa zu schaffen. Dazu müssen auch die Ziele der COP 21 (die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung) in das Projekt aufgenommen werden.

1.5.

Die Entwicklungsprogramme müssen besser harmonisiert werden. Die Erarbeitung der kurz-, mittel- und langfristigen Entwicklungsprogramme und -instrumente muss auf einer Reihe prägnanter Ziele beruhen. Unter Instrumente ist die Gesamtheit der politischen, rechtlichen, organisatorischen und finanziellen Instrumente zu verstehen.

1.6.

Der EWSA spricht sich dafür aus, die konventionellen europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI-Fonds) zusammen mit den marktorientierten und auch Privatkapital mobilisierenden Projekten im Rahmen des Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) in den Dienst der gemeinsamen europäischen Ziele zu stellen, um die Harmonisierung zu verbessern. Dazu müssen auch die Ziele der COP 21 (die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung) in das Projekt aufgenommen werden.

1.7.

Der EWSA schlägt vor, das europäische Semester, das auf dem Jahreswachstumsbericht basiert und auch Mittel zur kontinuierlichen Einflussnahme auf das Projekt Europa und zur aufmerksamen Verfolgung seiner Entwicklungen vorsehen sollte, zum wesentlichen Instrument im Dienste einer verstärkten, entwicklungsorientierten zentralen Governance zu machen. So könnte das europäische Semester zugleich die Aufgaben der Systeme übernehmen, die für ein soziales Umfeld sorgen sollen, in dem sich die Menschen wohlfühlen.

1.8.

Neben dem bereits angenommenen, wirtschaftsorientierten BIP-Leistungsindikator, der auf Wirksamkeitsmessungen der entwicklungsorientierten Steuerung basiert, wäre ein Ergebnisindikator (BIP) sinnvoll, der diesen ergänzt, auch die Nachhaltigkeit widerspiegelt und vorrangig soziale und ökologische Faktoren umfasst.

1.9.

Es sind eine enge Koordinierung (Strong Coordination) und die Einführung einer offenen Methode der Koordinierung (Open Method of Cooperation) zwischen den Mitgliedstaaten erforderlich. In den Entwicklungsverfahren muss die Änderung der bisherigen Praktiken berücksichtigt werden.

1.10.

Die Rechts- und Finanzinstrumente müssen konsolidiert werden. Die entwicklungsorientierte Governance hängt von der Dynamik der Wirtschaft, dem Anstieg des investierten Kapitals, einer größeren Effizienz des Investitionssystems, höheren Qualifikationen der Arbeitskräfte und der Leistung innovativerer Unternehmen ab. Ihr wichtiges längerfristiges Ziel besteht jedoch darin, für eine sich erneuernde Gesellschaft, Wohlergehen und eine bessere und nachhaltige Umwelt zu sorgen.

1.11.

Es ist eine auf mehrere Ebenen aufgeteilte Umsetzung erforderlich. Parallel zu der derzeitigen Reform (REFIT-Programm) müssen auch die Rechts- und Verwaltungsinstrumente für die entwicklungsorientierte Governance entwickelt werden. In diesem Zusammenhang gilt es, die Instrumente der mittleren Ebene, d. h. die Koordinierungsinstrumente für die makroregionale Entwicklung, deutlich zu stärken; zudem wird die Rolle der funktionalen Regionen, Städte, städtischen Gebiete, Ballungsräume, Metropolregionen und Netze innerhalb des für das Projekt Europa vorgesehenen Zeitrahmens erheblich an Bedeutung gewinnen.

1.12.

Ein wichtiger Bestandteil einer langfristigen entwicklungsorientierten Governance ist die Kontinuität. Die Rahmenbedingungen des zyklischen Verlaufs der Politik, des Planungs- und des Entwicklungsprozesses und der haushaltspolitischen Zeithorizonte müssen aufeinander abgestimmt werden. Die Entwicklungstätigkeit setzt eine kontinuierliche Analyse sowie Kontrolle und Korrektur voraus.

1.13.

Besonders wichtig sind die detaillierte Information der Öffentlichkeit und ihr Engagement, die Entwicklung der Kommunikation und der politischen Vermarktung sowie die korrekte Darstellung greifbarer Ergebnisse wie auch Schwächen.

1.14.

Der EWSA setzt sich konsequent für den Ausbau der demokratischen Teilhabe ein. Bei der offenen Methode der Zusammenarbeit ist auf allen Ebenen die Einbeziehung der Wirtschafts- und Sozialpartner sowie der nichtstaatlichen Organisationen sicherzustellen, was auf europäischer Ebene Hand in Hand mit einer Aufwertung der Rolle des EWSA gehen muss.

1.15.

Der EWSA — wie er bereits in seiner Stellungnahme von 2012 (1) betonte — begrüßt die durch die Europäische Kommission veranlasste Einführung des Europäischen Verhaltenskodexes für Partnerschaften (ECCP), mit dem die Mitgliedstaaten einen Rahmen für die partnerschaftliche Planung und Umsetzung erhalten sollen. Die eigene Vorstellung der Partner von Europa trägt zur Konzipierung der Ziele und zur Identifizierung mit ihnen bei bzw. hilft bei der wirksameren Umsetzung der Pläne.

1.16.

Der EWSA betont, dass über die auf Empfehlungen und vorbildlichen Verfahrensweisen beruhenden Partnerschaftsregelungen hinauszugehen ist und die für die Behörden der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Partnerschaft verbindlichen und an Sanktionen geknüpften Mindestanforderungen umfassend präzisiert werden müssen.

1.17.

Der EWSA empfiehlt, die Mitgliedstaaten dazu zu verpflichten, effiziente Finanzierungssysteme für den Auf- und Ausbau der Kapazitäten der Partner zu konzipieren, die über einfache Schulungen und die bloße Weitergabe von Informationen hinausreichen und auf den Aufbau von Partnerschaftsnetzen sowie die Einführung von Instrumenten für eine echte Beteiligung ausgedehnt werden müssen.

1.18.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die Zusammenarbeit mit den europäischen Partnerschaftsnetzen zu stärken. Es ist ein von der Europäischen Kommission einzurichtendes Finanzierungssystem erforderlich, das die Arbeit der in der Regionalpolitik aktiven europäischen Netze von NGO, einschließlich der Überwachung der nationalen Prozesse und der Sicherstellung von Rückmeldungen, unterstützt.

2.   Für ein erneuertes und starkes Europa

2.1.    Bestandsaufnahme und Begründung

2.1.1.

Die Europäische Union ist stark, aber sie kämpft immer noch gegen verschiedene, immer wieder neu aufflammende Krisen. Dies wird am Brexit-Phänomen deutlich. Die Wirtschaftskrise von 2008 zerstörte die mit der Erweiterung zu Beginn der 2000er-Jahre einhergehende Euphorie und verkehrte den Aufholprozess in zahlreichen Ländern ins Gegenteil.

2.1.2.

Die Wirtschaftskrise und der sich daraus ergebende Investitionsrückgang ließen die auf dem Wachstum gründende Einheit der Mitgliedstaaten bröckeln und führten zu wachsenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Spannungen. Entgegen dem grundlegenden Ziel der EU nehmen die Entwicklungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zu.

2.1.3.

Die den Ländern mit hohen Staats- und Auslandsschulden und Haushaltsdefiziten auferlegte strenge Sparpolitik trägt zur Vergrößerung der Kluft zwischen den fortschrittlichsten und den von Sparmaßnahmen betroffenen Ländern bei. Es sind neue Strategien erforderlich, um Wirtschaftswachstum und Eindämmung von Haushaltsdefiziten einerseits und wirksame, der sozialen Inklusion förderliche Maßnahmen andererseits miteinander zu kombinieren.

2.1.4.

Armut, prekäre Arbeitsverhältnisse und Arbeitslosigkeit haben ein untragbares Maß erreicht. Die Perspektivlosigkeit der jungen Menschen ist ein großes Hindernis für die sich neu gestaltende Zukunft Europas.

2.1.5.

Die Europäische Union hat ihren Status als Investitionsstandort verloren und gilt als schwerfällig. Bei den produktiven Investitionen fällt sie nach und nach hinter die Vereinigten Staaten und einige ihrer Mitgliedstaaten wie Deutschland oder das Vereinigte Königreich zurück. Die rückständigen Länder bremsen die besonders dynamischen. Die einzelnen Länder sind zwangsläufig weniger aufeinander angewiesen. In einigen Ländern nimmt das Gefälle trotz eines bedeutenden Haushaltsüberschusses aufgrund der sinkenden produktiven Investitionen weiter zu, wodurch die ärmeren Regionen im Übrigen noch weiter zurückfallen. Die Reaktionen sind langsam und bürokratisch.

2.1.6.

Die grundlegenden Errungenschaften der Union wie das Euro-Währungsgebiet oder der Schengener Raum erweisen sich im Lichte der Migrationskrise und des Terrorismus heutzutage als trennende Faktoren und nicht als Elemente des Zusammenhalts. Viele Länder instrumentalisieren die EU für innenpolitische Kämpfe.

2.1.7.

Beim Entwicklungsstand der einzelnen Regionen ist keine Annäherung zu verzeichnen. Die Differenz zwischen den am stärksten entwickelten und den schwächsten Regionen beträgt gemessen am BIP 14:1. Manche besonders stark geförderten Länder nutzen die ihnen zugewiesenen Mittel anstelle ihrer staatlichen Instrumente und Investitionsfazilitäten, und die nationalen Beiträge sind auf ein Minimum gesunken, weit unter die ursprünglichen Ziele. Die Instrumente der neu eingerichteten Wettbewerbsräte können einen wesentlichen Beitrag zur Annäherung des Entwicklungsstands der einzelnen Regionen leisten.

2.1.8.

Die europäischen Bürger und die Akteure aus Wirtschaft, Gesellschaft und nichtstaatlicher Organisationen haben jegliche Perspektive verloren, die politischen Prozesse sind ihnen fremd geworden, und sie wenden sich zunehmend nach innen. Sie nehmen die EU als starre, unflexible und zu Erneuerung unfähige Institution wahr.

2.1.9.

Die Europäische Union ist — in erster Linie aufgrund ihrer im Entwicklungsbereich schwachen institutionellen Struktur und Leistungen — nicht in der Lage, genügend Mittel zu mobilisieren, um ihre — im Übrigen fragmentierten — Ziele zu erreichen.

2.1.10.

Zukunftsvision, politischer Wille und Regierungsfähigkeit divergieren. Die Koordinierungsmethode ist unzureichend und veraltet, die Rechtsinstrumente sind wirkungslos oder schwer anwendbar und die Mitwirkung der Organisationen sowie die Unterstützung seitens der Gesellschaft, u. a. aufgrund fehlender Kommunikation, schwach.

2.1.11.

Die langfristige Strategie der Union für den Zeitraum bis 2020 ist schon jetzt nicht mehr auf genügend lange Sicht ausgelegt und nicht mehr realistisch. Überdies ist sie fragmentiert und bietet keine Möglichkeit, die Prozesse innerhalb der aktuellen methodischen Rahmen zu steuern. Inzwischen sind die 17 vorrangigen Ziele für eine nachhaltige Entwicklung verabschiedet worden, mit deren Berücksichtigung im Rahmen einer längerfristigen, komplexen Strategie die Europäische Kommission die Prüfung des Governance-Systems und der Governance-Instrumente in Angriff genommen hat.

2.2.    Neue Wege

2.2.1.

In diesem Zusammenhang hat die neu eingesetzte Europäische Kommission mit Unterstützung des Europäischen Parlaments ein neues Paradigma für die wirtschaftliche Entwicklung auf den Weg gebracht. Dessen formulierte Ziele — die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Wachstumsstimulierung, die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes, die Vereinfachung des Systems der Wirtschaftsregulierung, die Konsolidierung der vorrangigen Gemeinschaftsentwicklungen, der Energiemarkt, die Förderung der Investitionen in den digitalen Markt und in digitale Dienste, die vorrangige Behandlung der Europa verbindenden intellektuellen und physischen Netze sowie die Stärkung der Umwelthaftung — können der Wirtschaft eine bedeutende neue Dynamik verleihen.

2.2.2.

Das Europäische Semester und seine Komponenten bilden ein System, das über die wirtschaftliche Governance hinausgeht. Die Rolle der langfristigen sozioökologischen Ziele muss im Rahmen des Mechanismus des Europäischen Semesters verstärkt werden.

2.2.3.

Das vorrangige Programm zur vollständigen Konsolidierung des Finanzsystems des Euro-Währungsgebiets ist zum einen unzureichend und verschärft zum anderen auch die reale Angst, dass sich der Graben zwischen den europäischen Ländern weiter vertieft. Die europäischen Entwicklungsziele könnten die Starrheit des Europas der zwei Geschwindigkeiten verringern.

2.2.4.

Momentan bestimmen zwei große, grundverschiedene wirtschafts- und finanzpolitische Instrumentarien mit ihrem jeweils eigenen Verfahren die Entwicklungsprozesse; die Komplementarität dieser Instrumentarien muss bereits bei der Zielkoordinierung ausgebaut werden.

2.2.5.

Beim ersten Instrumentarium handelt es sich um die in den Verträgen verankerten klassischen europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI-Fonds), die den sozialen, wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt fördern sollen. Es handelt sich hier um fortlaufend modernisierte, aber in ihren Merkmalen unveränderte Investitions- und Entwicklungshilfen, die dank der Umverteilung des über die Beiträge der Mitgliedstaaten finanzierten EU-Haushalts zur Verfügung stehen. In einigen Fällen werden diese Fonds von den Begünstigten nicht gebührend geschätzt, die argumentieren, dass sie ihnen „zustehen“. Bei der sogenannten Halbzeitüberprüfung des bis 2020 reichenden Zeitraums müssen neue Rechtsvorschriften eingeführt werden, um die oben genannte Komplementarität zu fördern.

2.2.6.

Das zweite Instrumentarium ist der Europäische Fonds für strategische Investitionen (EFSI), welcher der Verwirklichung des neuen „Juncker-Plans“ dient und ein neues marktorientiertes, auf die Förderung von Risikokapital ausgerichtetes Finanzinstrument zur Mobilisierung von Mitteln seitens des Staates, der Banken und der Privatwirtschaft darstellt und dessen Betrag noch erhöht werden kann: Der eingerichtete Steuerungsmechanismus muss zu einem festen Bestandteil der entwicklungsorientierten Governance werden. Die Harmonisierung dieser beiden unterschiedlichen Finanzierungssysteme sollte ebenfalls auf der Ebene jedes Mitgliedstaats erfolgen.

2.2.7.

Im Vergleich zu diesen Finanzierungsquellen sind die anderen gut funktionierenden Finanzinstrumente diversifizierte, an ihre Funktionen angepasste Instrumente, die jedoch in ihrem Umfang begrenzt und auf spezifische Ziele ausgerichtet sind. Die Rahmenbedingungen für das Projekt Europa bieten die Möglichkeit einer systematischen und engen Koordinierung.

2.2.8.

Zu den wenigen, allerdings nicht miteinander verknüpften Zielen der auf die Koordinierung ausgerichteten Europa-2020-Strategie gehörten bisher keine direkten Instrumente zur Verwirklichung dieser Ziele. Es ist jedoch fraglich, ob sich die Entwicklung der EU ohne diese Instrumente angemessen koordinieren lässt. Daher muss die Planung des Zusammenspiels der verschiedenen Instrumente ebenfalls zu den Aufgaben des neuen Plans für den Zeitraum nach 2020 gehören.

2.2.9.

Die elf thematischen Ziele des mehrjährigen Finanzrahmens, welche die Realisierung der ESI-Fonds regeln, sowie die zehn Hauptziele des Juncker-Plans, die nur vage mit den oben genannten Zielen übereinstimmen, und ihre jeweilige Finanz- und Rechtsregelung tragen heute zur Verwirklichung der Europa-2020-Strategie bei. Hinzu kommen die 17 Referenzkriterien der Ziele für nachhaltige Entwicklung, die entscheidend für die Zukunft sind. Die Aufgaben im Rahmen der Programmplanung für die Zeit nach 2020 sollten auf einigen wenigen klar verständlichen und prägnanten Zielen beruhen.

2.2.10.

Heute führen die unterschiedlichen Mechanismen für die Verwirklichung der Ziele sowie die verschiedenen Anfangs- und Endzeiten und Zeitrahmen noch dazu, dass die Ziele weder transparent noch von der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Zivilgesellschaft leicht nachzuvollziehen oder zu verfolgen sind. Durch die fehlenden Synergien und Interaktionen zwischen den verschiedenen Zielen werden die Effizienz sowie die Wirksamkeit der Investitionen erheblich eingeschränkt. Die Synergien zwischen dem EFSI und der erneuerten Europa-2020-Strategie müssen mit der Ausarbeitung einer neuen EU-Strategie für den Zeitraum von 2030 bis 2050 (Projekt Europa) gestärkt werden.

2.2.11.

Während die Strukturfonds mit sehr bürokratischen, zugleich zentralisierten und dezentralisierten Vorbereitungs-, Durchführungs-, Kontroll- und Analysemechanismen einhergehen und auf Unionsebene zahlreiche Agenturen über ihre Umsetzung wachen, sprengt der nun geschaffene Steuerungsmechanismus des neuen EFSI den Rahmen der Europäischen Kommission, und seine neue Organisationsstruktur basiert auf den Anforderungen des Finanz- und Investitionsumfelds. Voraussetzung für die Abstimmung der beiden großen Systeme sind ein strategisches Instrument und ein neues Steuerungssystem (2).

2.2.12.

Die Konzeption eines neuen entwicklungsorientierten Governance-Systems kann zu einer verstärkten Abstimmung und einer offenen Zusammenarbeit zwischen den betreffenden Partnern führen.

2.2.13.

Zur Verbesserung der Wirksamkeit und Effizienz muss die institutionelle Struktur der Partnerschaft gestärkt werden und entsprechend dem Recht der Öffentlichkeit auf Teilhabe auf alle EU-Bürger ausgeweitet werden. Es gilt, den Unionsbürgen die Möglichkeit zu eröffnen, Zugang zu Informationen zu erhalten und sich an Entscheidungen für die Konzipierung und Umsetzung zu beteiligen. Zudem sollten sich die Bürger zu den Entwürfen für Programme, Ausschreibungen und Bewertungsberichte äußern können.

3.   Stärkung der Partnerschaft

3.1.

Der EWSA hat sich bereits in mehreren Stellungnahmen mit dem Partnerschaftsprinzip beschäftigt und detaillierte Vorschläge formuliert.

3.1.1.

In seiner 2010 verabschiedeten Stellungnahme (3) betonte der EWSA, dass die geltenden Vorschriften auch weiterhin zu viel Ermessensspielraum bei der Auslegung des Partnerschaftsprinzips auf nationaler Ebene lassen und die Europäische Kommission daher eine stärkere und deutlich proaktivere Rolle als Hüterin des Partnerschaftsprinzips spielen sollte. Er hält es für unerlässlich, dass alle operativen Programme den Partnern die für den Aufbau von Kapazitäten erforderlichen Ressourcen für technische Unterstützung garantieren. Er drängt auf eine Rückkehr zu den auf die soziale Innovation und die lokale Entwicklung ausgerichteten gemeinschaftlichen Initiativprogrammen.

3.1.2.

In seiner 2012 verabschiedeten Stellungnahme (4) unterstützt der EWSA die Initiative der Europäischen Kommission, einen Europäischen Verhaltenskodex für Partnerschaften aufzustellen. Er weist auf die Bedenken der organisierten Zivilgesellschaft aufgrund der Nichteinhaltung des Partnerschaftsprinzips hin und empfiehlt die Schaffung eines von den Partnern selbst verwalteten Systems zur Kontrolle der Partnerschaft. Er schlägt vor, die mit den Mitgliedstaaten abgeschlossenen Partnerschaftsabkommen an die Bedingung einer angemessenen Umsetzung des Verhaltenskodex zu knüpfen und hierzu die Ressourcen der operativen Programme durch finanzielle Anreize zu ergänzen. Er bekräftigt seine Empfehlungen in Bezug auf den Ausbau der Partnerkapazitäten.

3.2.

In den Rechtsvorschriften zur Kohäsionspolitik ist die Aufstellung eines Europäischen Verhaltenskodex für Partnerschaften (ECCP) vorgesehen.

3.3.

Die mit der Umsetzung des ECCP gesammelten Erfahrungen zeigen, dass einige Länder die Bestimmungen des Kodex im Rahmen der nationalen Planungsprozesse oder bei der Gestaltung der institutionellen Struktur für die Umsetzung nur formal erfüllt haben.

3.4.

In mehreren Ländern verfügten die Partner über zu wenig Zeit, um sich zu den relevanten Dokumenten zu äußern. Sie wurden in die wichtigsten strategischen Entscheidungen — wie die Festlegung der Prioritäten oder die Mittelzuweisungen — nicht wirklich einbezogen. Durch die speziellen Kommunikations- und Einbindungsmechanismen und -instrumente wurde keine aktive Beteiligung gefördert.

3.5.

Den von einigen NGO durchgeführten Untersuchungen (5) zufolge wurden in mehreren Ländern die Vorschriften für die Auswahl der Partner, die den Begleitausschüssen angehören sollten, zwar formal erfüllt, aber nicht in allen Fällen waren die Repräsentativität und die thematische Abdeckung gewährleistet. Es gibt keinen angemessenen Informationsaustausch zwischen den Verwaltungsbehörden und den Mitgliedern der Begleitausschüsse.

3.6.

Die für horizontale Fragen zuständigen Behörden wie z. B. die Umweltministerien sind in mehreren einschlägigen Begleitausschüssen nicht vertreten. Die Verwaltungsbehörden bemühen sich nicht, die die horizontalen Prinzipien vertretenden Partner der Zivilgesellschaft in die Planung der Ausschreibungen und die Bewertung der Vorschläge einzubinden.

3.7.

Die Maßnahmen zum Aufbau von Kapazitäten bei den Partnern sind in einigen Ländern unzureichend. Zumeist sind sie nur auf Schulungsmaßnahmen und die Erstattung der Reisekosten beschränkt, während mehrere im ECCP enthaltene Vorschläge nicht umgesetzt werden: so etwa die Vernetzung und die Koordinierung oder auch die Deckung der Kosten für Sachverständige, die zur Gewährleistung einer effektiven Mitwirkung des Partners erforderlich sind.

3.8.

In der ersten Hälfte des Finanzzeitraums haben die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten der Nutzung des Instruments der von der örtlichen Bevölkerung betriebenen Maßnahmen zur lokalen Entwicklung (CLLD) nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt.

3.9.

Nach Auffassung des EWSA ist eine umfassende Überprüfung der Partnerschaftspraktiken erforderlich. Die Prüfung muss auch eine Bewertung der Einführung der Planungsverfahren und der institutionellen Struktur für die Umsetzung sowie eine Evaluierung darüber umfassen, inwieweit das derzeitige Regelungssystem geeignet ist, effizient Partnerschaften zu knüpfen. Die Partner müssen aktiv in den Bewertungsprozess einbezogen werden.

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Das Partnerschaftsprinzip bei der Umsetzung der Fonds, für die der Gemeinsame Strategische Rahmen gilt — Elemente eines europäischen Verhaltenskodex für die Partnerschaft“ (ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 23).

(2)  Stellungnahme der AdR-Fachkommission für Kohäsionspolitik und EU-Haushalt Vereinfachung der ESI-Fonds aus der Sicht der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften, Berichterstatter: Petr Osvald (CZ/SPE).

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Förderung einer effizienten Partnerschaft bei der Verwaltung des neuen Programmplanungszeitraums in der Kohäsionspolitik 2007-2013 unter Rückgriff auf bewährte Verfahrensweisen“ (ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 1).

(4)  Siehe Fußnote 1.

(5)  Analysen der Organisationen CEE Bankwatch und SFteam for Sustainable Future.


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/7


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rechte von im Haushalt lebenden Pflegekräften“

(Initiativstellungnahme)

(2016/C 487/02)

Berichterstatter:

Adam ROGALEWSKI

Beschluss des Plenums

21.1.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

9.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

168/2/6

1.   Empfehlungen

1.1.

Es muss eine Diskussion über die Einführung einer gemeinsamen Berufsdefinition für die „Pflege durch im Haushalt lebende Fachkräfte“ in Europa und deren Anerkennung als Form der häuslichen Pflege angestoßen werden. Die Definition von häuslicher Pflege durch im Haushalt lebende Fachkräfte sollte die Arbeitsvereinbarungen für (angestellt oder selbstständig tätige) Personen umfassen, die in Privathaushalten leben und deren Arbeit hauptsächlich in der Pflege und Betreuung älterer und behinderter Menschen besteht. Im Haushalt lebende Pflegekräfte sollten ungeachtet ihres Angestellten- oder Selbstständigenstatus als Teil eines Langzeitpflege-Systems betrachtet werden. Die Einführung einer gemeinsamen Berufsdefinition bezweckt die Anerkennung der Existenz von im Haushalt lebenden Pflegekräften auf den europäischen Arbeitsmärkten und die Verbesserung der Qualität der von ihnen erbrachten Langzeitpflege-Dienstleistungen.

1.2.

Um eine Informationsgrundlage für die Politikgestaltung zu schaffen, sollte Eurostat entsprechende Daten über im Haushalt lebende Pflegekräfte erheben.

1.3.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die Situation dieser Arbeitskräfte zu untersuchen, u. a. ihre Anzahl, Staatsangehörigkeit, Migrationsstatus, grenzüberschreitende Mobilität, effektive Integration in Arbeits- und Sozialschutzsysteme, Arbeitsbedingungen und sozialen Umstände sowie ihre Qualifikationen und ihren tatsächlichen und potenziellen Beitrag zu den europäischen Volkswirtschaften.

1.4.

Der EWSA unterstreicht, dass im Haushalt lebende Pflegekräfte auf vergleichbare Weise behandelt werden sollten wie andere Pflegekräfte. Das bedeutet, dass sie einen vergleichbaren Schutz genießen sollten, z. B. eine Begrenzung der Arbeitszeit (einschließlich Bereitschaften) und einen Schutz gegen Scheinselbstständigkeit. Im Haushalt lebende angestellte Pflegekräfte dürfen nicht von einschlägigen Beschäftigungsregelungen der EU und der Mitgliedstaaten ausgeklammert werden, z. B. von angemessener Bezahlung, Gesundheitsschutz- und Sicherheitsvorschriften, sozialer Sicherheit und dem Recht auf Vereinigungsfreiheit und Tarifverhandlungen.

1.5.

Der Fachkräftemangel im Bereich der Langzeitpflege in Europa sollte positiv angegangen werden, indem angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen garantiert, der Mangel an Investitionen behoben, die Grundsätze der Freizügigkeit beachtet, Hindernisse für Arbeitskräfte bei der Wahrnehmung ihrer Arbeitnehmerrechte abgebaut und Möglichkeiten des Zugangs zu einer regulären Beschäftigung für Migrantinnen und Migranten geschaffen werden.

1.6.

Der EWSA fordert die Europäische Union auf, das Angebot und die Mobilität von im Haushalt lebenden Pflegekräften in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten zu koordinieren, und zwar im Rahmen eines Konzepts zur Steigerung der Gesamtkapazität der Branche für die Erbringung hochwertiger Pflegedienstleistungen. Konkrete Maßnahmen sollten unter anderem Folgendes umfassen:

Verbesserung der Garantien in der Richtlinie über Sanktionen gegen Arbeitgeber (2009/52/EG) zum Schutz der Rechte von Arbeitnehmern ohne gültigen Aufenthaltstitel, um gegen die irreguläre Beschäftigung vorzugehen. Die EU-Opferschutzrichtlinie (2012/29/EU) muss konsequent angewandt werden, um im Haushalt lebenden Pflegekräften, die Opfer von Ausbeutung sind, ungeachtet ihres Migrationsstatus wirksam zu helfen;

Abstimmung aller relevanter EU-Richtlinien auf das Übereinkommen 189 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über die Rechte von Hausangestellten;

Berücksichtigung der Rechte der im Haushalt lebenden Pflegekräfte und der von ihnen betreuten Personen bei künftigen Überarbeitungen oder Vorschlägen für Rechtsvorschriften der EU und der Mitgliedstaaten;

vorrangiges Angehen einer Reform der Arbeitsbedingungen von im Haushalt lebenden Pflegekräften im Rahmen der Europäischen Plattform zur Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit — eine Initiative, die vom EWSA begrüßt wird;

Berücksichtigung der Rechte von im Haushalt lebenden Pflegekräften im Europäischen Semester sowie in den Beratungen im Zusammenhang mit der Initiative „New start to address the challenges of work-life balance“ („Neubeginn zur Bewältigung der Herausforderungen bei der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben“);

Initiierung einer EU-weiten Informationskampagne über die Rechte von im Haushalt lebenden Pflegekräften, die sich an Nutzer und Anbieter von Pflegedienstleistungen richtet;

Förderung und Unterstützung der Gründung von Organisationen und Genossenschaften von im Haushalt lebenden Pflegekräften;

Einführung von Verfahren für die Anerkennung, Harmonisierung und Übertragbarkeit der Qualifikationen und Berufserfahrung von im Haushalt lebenden Pflegekräften unter Rückgriff auf Instrumente zur Anerkennung von Qualifikationen, einschließlich der durch die Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten eingeführten Instrumente (1);

Umschichtung europäischer Mittel zur Finanzierung von Schulungen für derzeitige und potenzielle im Haushalt lebende Pflegekräfte zur Verbesserung der Pflegequalität;

Überwachung und Verbesserung der Entsendung von im Haushalt lebenden Pflegekräften durch die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für gleiche Arbeit.

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass im Kommissionsvorschlag zur europäischen Säule sozialer Rechte in keiner Weise auf die Situation von im Haushalt lebenden Pflegekräften eingegangen wird. Bei der weiteren Arbeit an dem Vorschlag zur Säule — zu der der EWSA derzeit eine Stellungnahme erarbeitet — sollte erwogen werden, ihre sozialen Rechte zu berücksichtigen.

1.7.

Die Mitgliedstaaten sollten den Schutz der Rechte von Pflegebedürftigen und Pflegekräften — einschließlich der im Haushalt lebenden — sicherstellen. Konkrete Maßnahmen sollten unter anderem Folgendes umfassen:

Ratifizierung und Umsetzung des Übereinkommens Nr. 189 der ILO (2) und Regularisierung des Status von im Haushalt lebenden Pflegekräften ohne gültigen Aufenthaltstitel;

Einführung unterstützender Maßnahmen, darunter die Vermittlung von Personal, um Pflegebedürftigen bei der Suche nach im Haushalt lebenden Pflegekräften zu helfen;

Schaffung eines umfassenden Systems der Unterstützung für Pflegeempfänger und ihre Familien, einschließlich steuerlicher Anreize oder Zuschüssen;

Bereitstellung von Schulungsprogrammen für im Haushalt lebende Pflegekräfte, die bezahlten Urlaub erhalten, um an diesen Programmen teilzunehmen;

Förderung der Versammlungsfreiheit und der Tarifverhandlungen in der Branche, u. a. durch die Unterstützung der Rechte der im Haushalt lebenden Pflegekräfte und ihrer Arbeitgeber/Auftraggeber, Vereinigungen beizutreten oder zu gründen;

Bekämpfung von Sozialdumping und Ausbeutung;

proaktive Regulierung der Langzeitpflege-Branche, insbesondere hinsichtlich der Einhaltung von Arbeitsgesetzen, um den Schutz der Pflegeempfänger und der im Haushalt lebenden Pflegekräfte zu gewährleisten. So ist sicherzustellen, dass die Arbeitsaufsichtsbehörden und andere einschlägige staatliche und nichtstaatliche Organisationen Zugang zu Arbeitsplätzen in Privathaushalten erhalten.

1.8.

Der EWSA unterstreicht, dass die finanzielle Unterstützung für Pflegebedürftige, die auf im Haushalt lebende Pflegekräfte angewiesen sind, durch geeignete langfristige und nachhaltige öffentliche Investitionen gewährleistet werden muss.

1.9.

Gewerkschaften, Arbeitgeber und zivilgesellschaftliche Organisationen müssen an der Politikgestaltung auf Ebene der Mitgliedstaaten und der EU beteiligt sein. Es sollte der soziale und zivile Dialog mit allen Interessenträgern auf allen Ebenen gefördert werden.

1.10.

Der EWSA sollte sich aktiv für die Förderung der Konzeption von EU-Maßnahmen zur Unterstützung von Pflegekräften, Pflegebedürftigen und ihren Familien einsetzen, unter anderem durch die Organisation einer Konferenz zur Zukunft der Pflege durch im Haushalt lebende Fachkräfte.

2.   Hintergrund

2.1.

Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen ist eine „tickende Zeitbombe“. Der Pflegenotstand dauert an (3), und der Fachkräftemangel wird zunehmen, solange keine entsprechenden politischen Maßnahmen ergriffen werden. Schon 1994 bestimmte die Europäische Kommission die Pflege als strategischen Sektor. 2010 warnte die Europäische Kommission davor, dass im Jahr 2020 zwei Millionen Pflegekräfte fehlen werden (davon bis zu eine Million im Bereich der Langzeitpflege), wenn keine dringenden Abhilfemaßnahmen ergriffen würden (4).

2.2.

Im Haushalt lebende Pflegekräfte stellen rein zahlenmäßig einen bedeutsamen, aber kaum beachteten Teil der Arbeitskräfte im Langzeitpflegebereich. Sie sind hochmobil und befinden sich innerhalb der Branche am unteren Ende der Arbeitskräftehierarchie. Bei den Planungen bezüglich der Langzeitpflege-Branche auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene finden im Haushalt lebende Pflegekräfte vielfach keine Berücksichtigung.

2.3.

Die genaue Anzahl von im Haushalt lebenden Pflegekräften ist aufgrund fehlender Daten unklar; häufig werden sie in Datenerhebungssystemen übersehen. Als kaum anerkannte und schlecht bezahlte Pflegekräfte sind im Haushalt lebende Pflegekräfte für politische Entscheidungsträger schon viel zu lange „unsichtbar“.

2.4.

Im Haushalt lebende Pflegekräfte gibt es in allen Mitgliedstaaten. Viele von ihnen sind Migranten aus Drittländern, andere hingegen EU-Bürger, die in ihrem Heimatland oder im Ausland arbeiten. Einige Migranten ohne gültigen Aufenthaltstitel üben eine irreguläre Arbeit aus, andere befinden sich in zirkulärer oder temporärer Migration. Manche sind unter prekären Arbeitsbedingungen tätig, u. a. als Scheinselbstständige.

2.5.

Da es derzeit noch keine Definition für die Beschäftigung von im Haushalt lebenden Pflegekräften gibt, werden sie Hausangestellten gleichgestellt (5). Angaben der ILO zufolge macht Haushaltsarbeit einschließlich Pflege zwischen 5 % und 9 % der Gesamtbeschäftigung in den Industrieländern aus (6).

2.6.

Einige Mitgliedstaaten sind bezüglich der Formalisierung und Integration von Migrantinnen und Migranten ohne Aufenthaltstitel, die als Pflegekräfte arbeiten, durch die Unterzeichnung des Übereinkommens Nr. 189 der ILO bereits tätig geworden.

2.7.

Der EWSA hat bereits zur Politikgestaltung in Bezug auf die Langzeitpflege und -betreuung durch Stellungnahmen zu Arbeitnehmerrechten von Hausangestellten (7), dem Bedarf an Sozialinvestitionen (8) und Langzeitbetreuung und Deinstitutionalisierung (9) beigetragen. Die vorliegende Stellungnahme beruht auf diesen Positionen, wobei der Schwerpunkt auf der spezifischen Situation von im Haushalt lebenden Pflegekräften liegt.

3.   Arbeitskräftemangel, Sparmaßnahmen, Migration und im Haushalt lebende Pflegekräfte

3.1.

Die schnelle Zunahme der häuslichen Pflege wird durch den zunehmenden Wunsch nach Betreuung in den eigenen vier Wänden, die für viele Menschen zu hohen Kosten einer Heimunterbringung sowie unzureichende Investitionen in die Infrastruktur im Pflegebereich beeinflusst.

3.2.

Die in den meisten Mitgliedstaaten ergriffenen Sparmaßnahmen haben die bereits begrenzte Infrastruktur im Bereich der Langzeitpflege noch weiter eingeschränkt und den diesbezüglichen Fachkräftemangel verschärft. Nach Auffassung des EWSA sollten Investitionen in die Langzeitpflege positiv gesehen werden, und zwar als wirtschaftliche Chance und als Schwerpunktbereich für die Schaffung von Arbeitsplätzen, die soziale Unterstützung für Familien und die Gleichstellung der Geschlechter. Investitionen in die Pflege stärken die Erwerbsbeteiligung und schaffen einen möglichen Ausweg aus der Wirtschaftskrise (10).

3.3.

In zahlreichen Mitgliedstaaten fehlt es an Pflegefachkräften. Durch die Beschäftigung von im Haushalt lebenden regulären Pflegkräften wie auch von solchen ohne Aufenthaltstitel wird der Mangel im Langzeitpflegebereich verringert. Insbesondere die Pflegesysteme in Südeuropa sind in großem Maße von im Haushalt lebenden Pflegekräften abhängig. In Italien machen aus dem Ausland stammende, im Haushalt lebende Pflegekräfte ca. 75 % der in der häuslichen Pflege Beschäftigten aus (11).

3.4.

Mittel- und osteuropäische Länder (MOEL) sind vom Fachkräftemangel im Pflegebereich ebenso betroffen wie vom wachsenden Pflegebedarf in Westeuropa. Beispielsweise arbeiten zahlreiche Polen als im Haushalt lebende Pflegekräfte im Ausland, obwohl es in Polen selbst an Pflegekräften mangelt. Dieser Mangel wird durch Arbeitskräfte aus der Ukraine und anderen Drittstaaten ausgeglichen.

3.5.

Trotz des wachsenden Bewusstseins für die Bedeutung der Pflegebranche für den Wohlstand ist der Beitrag der von im Haushalt lebenden Pflegekräften geleisteten Arbeit nicht erfasst und sollte europaweit untersucht werden.

3.6.

Viele Europäerinnen zählen zur „Sandwich-Generation“, d. h., von ihnen wird erwartet, dass sie sich um ihre Eltern wie um ihre Kinder kümmern. Sie greifen dafür zunehmend auf bezahlte Pflegekräfte zurück. In einer Welt mit globalisierten Pflegedienstleistungen führt dies zu weltweiten Pflegeketten (12). In der Pflege beschäftigte Migrantinnen und Migranten, die aus Erwerbsgründen auswandern, müssen häufig für ihre eigenen Familienangehörigen Pflegekräfte finden und Personen aus anderen — häufig ärmeren — Verhältnissen einstellen.

4.   Arbeitsbedingungen von im Haushalt lebenden Pflegekräften

4.1.

Der geringe Status von im Haushalt lebenden Pflegekräften ist die Folge der geschlechtsspezifischen Denkweise, dass Pflege gering qualifizierte „Frauenarbeit“ ist. Verstärkt wird dies auch durch die strukturelle Ausgrenzung von Migrantinnen. In verschiedenen Arbeitskräfteerhebungen werden Hausangestellte als gering qualifiziert oder unqualifiziert eingestuft. Ein nicht unerheblicher Anteil der im Haushalt lebenden Pflegekräfte verfügt jedoch über Kompetenzen und Qualifikationen, die aus jahrelanger Erfahrung oder aus nicht anerkannten formellen Ausbildungs- und Zertifizierungsprogrammen resultieren. Im Haushalt lebende Pflegekräfte müssen häufig ihre Erfahrung im Pflegebereich und Qualifikationen nachweisen, bevor sie eingestellt werden; diese Anforderungen spiegeln sich aber nicht in ihren Arbeitsbedingungen wider.

4.2.

Viele m Haushalt lebende Pflegekräfte sind mit ungeregelten Arbeitsbedingungen konfrontiert, und viele von ihnen arbeiten irregulär. Sie haben oft keine Möglichkeit, ihre Arbeitnehmerrechte wahrzunehmen, und werden ausgebeutet. Die Arbeitsbedingungen grenzen mitunter an moderne Sklaverei: Manchmal werden die Arbeitskräfte isoliert, Opfer von Gewalt oder Missbrauch oder gezwungen, rund um die Uhr zu arbeiten, ohne ein Mindestmaß an Lebensstandard, wie etwa ein eigenes Zimmer. Andere arbeiten als Scheinselbstständige. In vielen Fällen haben Arbeits- und sonstige staatliche Aufsichtsbehörden oder Gewerkschaften keinen Zugang zu den Arbeitsplätzen der Pflegekräfte (d. h. Privatwohnungen).

4.3.

Maßnahmen zur Regularisierung und Legalisierung von im Haushalt lebenden Pflegekräften müssen gefördert werden, um den legalen Zugang zur Pflegebranche sicherzustellen. Für einen solchen Ansatz gibt es durchaus Präzedenzfälle: In Spanien und Italien wurden seit 2002 ungefähr 500 000 Hausangestellte ohne Aufenthaltstitel regularisiert (13). Es müssen Maßnahmen auf dem Gebiet der Arbeitsmigration entwickelt werden, die es Drittstaatsangehörigen ermöglichen, regulär im Pflegesektor zu arbeiten, dabei die gleiche Behandlung zu genießen und den Arbeitgeber wechseln zu können.

4.4.

Im Haushalt lebende Pflegekräfte zählen zu den mobilsten Arbeitskräften im Langzeitpflegebereich. Viele im Haushalt lebende Pflegekräfte stammen aus mittel- und osteuropäischen Ländern, sind Frauen mittleren Alters und haben eigene familiäre Verpflichtungen (14). Üblicherweise arbeiten Pflegekräfte aus Mittel- und Osteuropa bis zu drei Monaten am Stück in westeuropäischen Ländern, bevor sie in ihre Heimat zurückkehren.

4.5.

Durch die Migration von qualifizierten im Haushalt lebenden Pflegekräften in die Aufnahmeländer fällt in den Herkunftsländern eine erhebliche Zahl an Arbeitskräften aus. Werden die Qualifikationen der Arbeitskräfte in den Aufnahmeländern nicht anerkannt, bedeutet dies einen sozialen und wirtschaftlichen Verlust in Zeiten eines generellen Fachkräftemangels im europäischen und weltweiten Pflegesektor.

4.6.

Alle diese Umstände spiegeln die Tatsache wider, dass die Rechte der im Haushalt lebenden Pflegekräfte durch den europäischen und einzelstaatlichen Rechtsrahmen nicht angemessen geschützt sind.

4.7.

Im Haushalt lebende Pflegekräfte sollten von den Mitgliedstaaten unterstützt und gefördert werden, um ihrer irregulären Beschäftigung vorzubeugen.

5.   Die Rolle der Pflegebedürftigen und ihrer Familien

5.1.

Pflegebedürftige und ihre Familien finden schwer eine entsprechende Fachkraft. In den meisten Fällen werden Pflegekräfte über informelle Netzwerke innerhalb der Familie oder unter Freunden gefunden. Bei Pflegekräften, die unter diesen Umständen eingestellt werden, gibt es kaum eine Garantie für die Qualität der Pflege. Familien fehlt es häufig an klaren Leitlinien für die legale Beschäftigung von Pflegekräften.

5.2.

Pflegebedürftige und ihre Familien sollten vom Staat entsprechend unterstützt werden. Auf kurze Sicht sollte dies auch eine Informationskampagne und fortlaufende Unterstützung bei Fragen der Beschäftigung und der Sozialversicherung von im Haushalt lebenden Pflegekräften umfassen. Auf lange Sicht sollten die Mitgliedstaaten durch entsprechende Schritte eine Aufsicht und das Vorhandensein von Vermittlungsstellen sicherstellen, um Pflegebedürftige bei der Suche nach im Haushalt lebenden Pflegekräften zu unterstützen.

5.3.

Pflegebedürftige und ihre Familien sollten auf ein ihren Bedürfnissen entsprechendes breites Angebot an Unterstützungsleistungen zurückgreifen können, einschließlich häuslicher Pflegedienste auf Teilzeit- oder Vollzeitbasis. Bei sämtlichen Pflegevereinbarungen müssen angemessene Bedingungen für die angestellt oder selbstständig Tätigen sichergestellt sein.

5.4.

Pflegebedürftige und ihre Familien sollten auch für die Bedürfnisse der im Haushalt lebenden Pflegekräfte sensibilisiert werden und diese als Arbeitskräfte behandeln, die Respekt verdienen und Rechte besitzen. Die Pflege ist eine sowohl körperlich als auch psychisch äußerst anspruchsvolle Arbeit. Im Haushalt lebende Pflegekräfte sollten adäquat untergebracht werden und ein eigenes Zimmer haben; und im Falle angestellter Pflegekräfte müssen ihre Arbeitszeiten (einschließlich Bereitschaften) eingehalten werden.

5.5.

Gleichzeitig muss das Recht des Pflegebedürftigen auf eine angemessene Pflege geachtet werden. Dies gilt insbesondere für schutzbedürftige Gruppen und Personen mit besonderen Bedürfnissen, wie etwa Demenzkranke.

6.   Die Rolle der Arbeitgeber

6.1.

Eine Vielzahl kleiner Unternehmen (einschließlich Leiharbeitsfirmen) ist zunehmend aktiv im Sektor der im Haushalt lebenden Pflegekräfte; parallel dazu besteht jedoch auch ein nahezu völlig unregulierter informeller Sektor.

6.2.

Die Pflegebranche kann zur Schaffung angemessener Arbeitsplätze und zum Wirtschaftswachstum in Europa beitragen. Nur hochwertige Arbeitsplätze können die Qualität der geleisteten Pflege garantieren.

6.3.

Fehlende Bestimmungen für die grenzüberschreitende Beschäftigung von im Haushalt lebenden Pflegekräften ermöglichen es einigen Unternehmen, niedrigere Löhne für die gleiche Arbeit anzubieten, was zum Sozialdumping beiträgt. Besonders auffällig ist dies bei polnischen und slowakischen Agenturen und Unternehmen, die im Haushalt lebende Pflegekräfte nach Deutschland entsenden (15). Dieser anhaltende unlautere Wettbewerb schadet den Arbeitnehmern, den Arbeitgebern und der europäischen Wirtschaft.

7.

Die Rolle der Zivilgesellschaft

7.1.

Gemeindenahe Organisationen und Glaubensgemeinschaften (16) spielen neben öffentlichen und privaten Arbeitgebern eine zentrale Rolle bei der Erbringung von Pflegedienstleistungen auf unterschiedlichen Ebenen. Viele gemeindenahe Organisationen haben zur Regularisierung von aus dem Ausland stammenden und im Haushalt lebenden Pflegekräften beigetragen (17).

7.2.

Allerdings wird die Pflege in vielen Mitgliedstaaten nicht angemessen unterstützt. Die jüngste Wirtschaftskrise hat zu einer Unterfinanzierung der Pflegedienste in ganz Europa geführt, was sich u. a. durch eine Verschlechterung der Pflegequalität und der Arbeitsbedingungen negativ ausgewirkt hat.

7.3.

Pflegedienstleister-Organisationen sollten angemessen finanziert werden, um dem wachsenden Pflegebedarf gerecht zu werden. Aufgrund ihrer Erfahrung müssen sie wirksam am sozialen und zivilen Dialog beteiligt werden, der in branchenspezifischen Regelungen für die Organisation und Erbringung der Pflege münden sollte.

8.   Die Rolle der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union

8.1.

Schweden ist ein gutes Beispiel für eine hochwertige Pflege unter Beteiligung sämtlicher Interessenträger. Das System basiert auf einem hohen Anteil öffentlicher und steuerfinanzierter Unterstützung (18). Dienstleistungsschecksysteme wie die in Frankreich und Belgien haben zur Formalisierung der Hausarbeit beigetragen und in einigen Fällen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Personen geführt, die Dienstleistungen im Haushalt erbringen. Im Falle Belgiens ist die Pflege von diesem System ausgeschlossen (19).

8.2.

Österreich hat ein System im Haushalt lebender Pflegekräfte mit Selbstständigenstatus entwickelt, um den Bedarf an Langzeitpflege zu decken und die rechtlichen Anforderungen an Qualität und Rahmenbedingungen für die Dienstleistungserbringung festgelegt. 2015 wurden weitere Verbesserungen bei den Qualitätsstandards und der Transparenz vorgenommen. Dieses System wird von der österreichischen Bevölkerung ausgiebig genutzt; österreichische Gewerkschaften kritisieren jedoch, dass dadurch Beschäftigungsstandards ausgehöhlt werden.

8.3.

Da die Modelle bewährter Verfahren für hochwertige Pflegedienstleistungen nicht immer 1:1 auf alle Mitgliedstaaten übertragbar sind, sollte auf allen Stufen ein ganzheitliches Konzept, das alle Interessenträger einbezieht, auf europäischer Ebene koordiniert werden.

8.4.

Der EWSA ist der Überzeugung, dass die Europäische Union das Angebot und die Mobilität von im Haushalt lebenden Pflegekräften innerhalb Europas sorgfältig beobachten sollte, und spricht sich für Konzepte aus, die die Gesamtkapazität der Pflegebranche für die Erbringung von Qualitätsdienstleistungen steigern und angemessene Arbeitsplätze schaffen.

8.5.

Die Frage des Arbeitskräftemangels in der europäischen Pflegebranche muss auf der politischen Agenda der EU Priorität erhalten. Die im Haushalt lebenden Pflegekräfte, die von der Politik bislang weitgehend übersehen wurden, müssen die gebührende Aufmerksamkeit erhalten.

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  KOM(2010) 682 endgültig: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52010DC0682&from=DE

(2)  Das Übereinkommen 189 der ILO trat am 5. September 2013 in Kraft und wurde bislang von Belgien, Deutschland, Finnland, Irland, Italien, Portugal und der Schweiz sowie von 14 außereuropäischen Ländern ratifiziert.

(3)  UNI Europa UNICARE (2016).

(4)  Europäische Kommission (2013).

(5)  Beschäftigung im Haushalt umfasst laut der Definition von Eurostat Tätigkeiten von Privathaushalten und Hauspersonal wie Dienstmädchen, Köchen, Servicekräften, Dienern, Wäscherinnen, Gärtnern, Hausverwaltern, Erzieherinnen, Babysittern, Hauslehrern, Sekretären usw.

(6)  Internationale Arbeitsorganisation (2012).

(7)  ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 39, ABl. C 12 vom 15.1.2015, S. 16, ABl. C 242 vom 23.7.2015, S. 9.

(8)  ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 91, ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21.

(9)  ABl. C 332 vom 8.10 2015, S. 1.

(10)  ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21.

(11)  Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments (2016).

(12)  Hochschild, A. R. (2000) „Global Care Chains and Emotional Surplus Value“ in Hutton, W. und Giddens, A. (Hrsg.) On The Edge: Living with Global Capitalism, London.

(13)  Platform for International Cooperation on Undocumented Migrants (2013).

(14)  Aussage der „live-in“-Pflegekraft Alina Badowska (2016) bei der öffentlichen Anhörung zu SOC/535.

(15)  Erfahrungen des Projekts „Faire Mobilität“ des DGB: www.faire-mobilitaet.de.

(16)  In Deutschland spielen insbesondere die Caritas und die Diakonie eine wichtige Rolle bei der Unterstützung von im Haushalt lebenden Pflegekräften sowie von Pflegebedürftigen.

(17)  Z. B.: www.gfambh.com.

(18)  Sweden.se (2016).

(19)  Internationale Arbeitsorganisation (2013).


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/14


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss — „Die Biodiversitätspolitik der EU“

(Initiativstellungnahme)

(2016/C 487/03)

Berichterstatter:

Lutz RIBBE

Beschluss des Plenums

21.1.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

156/31/22

1.   Zusammenfassung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen des EWSA

1.1.

Die Biodiversitätspolitik der EU ist ein klassisches Beispiel einer Politik nicht eingehaltener Versprechungen auf europäischer und nationaler Ebene; und dies, obwohl die Politik sowohl die Probleme als auch die erforderlichen Instrumente völlig richtig identifiziert bzw. etabliert hat.

1.2.

Der EWSA unterstreicht die Aussagen der Kommission hinsichtlich der Bedeutung des Biodiversitätsschutzes, sie ist vergleichbar mit der des Klimaschutzes. Es geht nicht nur um die Erhaltung von Tier- und Pflanzenarten, sondern um nicht weniger als die Lebensgrundlagen der Menschheit.

1.3.

Der EWSA fordert die konsequente und unverzügliche Umsetzung von Vogelschutz- und FFH-Richtlinie. Auch die konsequente und unverzügliche Umsetzung der Wasserrahmen-Richtlinie würde nach Auffassung des EWSA einen erheblichen Beitrag zum besseren Schutz der biologischen Vielfalt leisten.

1.4.

Die Mitgliedstaaten müssen endlich den konkreten Finanzbedarf, der sich aus der Umsetzung europäischen Rechts ergibt, ermitteln, die Kommission hat das notwendige Geld bereitzustellen. Da die Finanzierung von Natura 2000 aus EU-Fondsmitteln, in erster Linie dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER), als in weiten Teilen gescheitert anzusehen ist, fordert der EWSA den Aufbau eines eigenständigen Haushaltstitels, der für die Finanzierung des Natura-2000-Netzes zur Verfügung stehen muss.

1.5.

Der EWSA fordert die Herstellung der Kohärenz zwischen allen Politikbereichen, die sich auf den Biodiversitätsschutz auswirken. In diesem Zusammenhang erwartet der EWSA, dass schon die Halbzeitbewertung der „ökologischen Vorrangflächen“ und eine mögliche Halbzeitbewertung der GAP dazu genutzt werden, dass die GAP künftig gezielter zur Erreichung der Biodiversitätsziele beiträgt. Aktuell ist nach Auffassung des EWSA eine Änderung bei den ökologischen Vorrangflächen hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Qualität erforderlich.

1.6.

Die Stärkung der Grünen Infrastruktur wird ausdrücklich begrüßt. Der EWSA fordert in diesem Zusammenhang die Kommission und die Mitgliedstaaten dazu auf, eine konsistente Strategie zur Grünen Infrastruktur zu entwickeln und umzusetzen. Ferner sollte die EU die grünen transeuropäischen Netze (TEN-G) zu einer Investitionspriorität zu machen. Auch hierfür braucht es dringend zweckgebundene Mittel.

1.7.

An der von den Kommissionsdienststellen, dem Rat Umwelt, dem Europäischen Parlament, dem AdR und auch dem EWSA vielfach festgestellten und kritisierten Inkohärenz der EU-Politiken hat sich in den letzten Jahren substanziell nichts verändert! Wenn aber die eigenen Vorschläge zur Lösung der Biodiversitätsprobleme nicht ernst genommen und nicht umgesetzt werden, ist es nicht verwunderlich, wenn sich a) die gewünschten Ergebnisse nicht einstellen und sich b) Enttäuschung unter den Betroffenen und in der Gesellschaft breitmacht.

1.8.

Die diversen Biodiversitätsstrategien bzw. Biodiversitätsaktionsprogramme der EU aus den Jahren 1998, 2001, 2006 und 2010, die die Probleme jeweils treffend beschrieben und richtige Instrumente dargestellt haben, müssen deshalb im Nachhinein als weitgehend nutzlos betrachtet werden, denn sie waren nicht in der Lage, das politische Versprechen umzusetzen und den durch die Gesellschaft verursachten Biodiversitätsverlust zu stoppen.

1.9.

Der EWSA stellt deshalb — wie schon in vielen seiner früheren Stellungnahmen zur Biodiversitätspolitik der EU — abermals fest: Es fehlt am politischen Willen, nicht an den rechtlichen Grundlagen! Eine Veränderung der vorhandenen rechtlichen Grundlagen ist nicht nötig.

2.   Hintergrund: zur Chronologie der Biodiversitätspolitik der EU — und die Reaktionen des EWSA

2.1.

Nachdem in der im Jahr 1998 beschlossenen Biodiversitätsstrategie (1) festgestellt wurde, dass sich „die reiche Artenvielfalt in der Europäischen Union […] im Laufe der Jahrhunderte aufgrund menschlicher Eingriffe allmählich verringert“ hat und „in den vergangenen Jahrzehnten […] diese Eingriffe ungeheure Ausmaße angenommen“ haben, wurden im Jahr 2001 in der vom Europäischen Rat beschlossenen Nachhaltigkeitsstrategie („Göteborg-Strategie“) klare Ziele im Bereich der Biodiversität formuliert, nämlich den Verlust der biologischen Vielfalt in der EU bis 2010 einzudämmen und für die Wiederherstellung von Habitaten und natürlichen Ökosystemen zu sorgen.

2.2.

Zur Umsetzung dieses Ziels wurde in 2001 ein Biodiversitäts-Aktionsplan (2) veröffentlicht, im Mai 2006 folgte ein weiterer Biodiversitäts-Aktionsplan (3); dieser unterschied sich aber inhaltlich kaum vom ersten.

2.3.

Im März 2010 mussten die Staats- und Regierungschefs der EU zugeben, dass sie ihr 2001 abgegebenes Versprechen nicht einhalten werden; und dies trotz der diversen Aktionspläne, die vom EWSA jeweils als richtig und zielführend bewertet wurden.

2.4.

Daraufhin wurde auf Basis der Kommissionmitteilung „Optionen für ein Biodiversitätskonzept und Biodiversitätsziel der EU für die Zeit nach 2010“ (4) eine weitere, neue „Biodiversitätsstrategie der EU für das Jahr 2020“ (5) beschlossen, die allerdings im Kern wiederum nur die alten Forderungen und Instrumente der früheren Aktionspläne aufgriff und das ursprünglich für das Jahr 2010 festgelegte Ziel auf das Jahr 2020 verschob.

2.5.

Optimistisch wird darin verkündet: „Die Biodiversitätsstrategie der EU für 2020 wird […] die EU auf den richtigen Weg [bringen], ihren eigenen Biodiversitätszielen und ihren globalen Verpflichtungen nachzukommen“.

2.6.

Der EWSA hatte sich auch zu dieser Strategie geäußert (6) und kritische Anmerkungen gemacht; u. a. drückte er seine tiefe Besorgnis darüber aus, dass die „Politik […] bisher nicht die Kraft bzw. den Willen hatte, die seit Jahren als notwendig anerkannten Maßnahmen zu realisieren, obwohl die Mitteilung abermals deutlich macht, dass von einer stringenten Biodiversitätspolitik Gesellschaft und Wirtschaft gleichermaßen profitieren. Nicht einmal die zentralen Naturschutzrichtlinien der EU sind — 32 bzw. 19 Jahre nach deren Inkrafttreten! — durch die Mitgliedstaaten vollständig umgesetzt worden.“

2.7.

Für den EWSA blieb damals „unklar, wie der bisher fehlende politische Wille überwunden werden kann. Insofern stellt die vorgelegte Biodiversitätsstrategie keinen wirklichen Fortschritt dar. Die bisherigen Debatten im Ministerrat zu dieser Mitteilung zeigen, dass man immer noch weit davon entfernt ist, eine Integration der Biodiversitätspolitik in andere Fachpolitiken zu vollziehen“.

2.8.

Bereits damals vertrat der EWSA die Auffassung, dass es von größter Wichtigkeit sei, bei den damals anstehenden politischen Reformprozessen (beispielsweise der Fischerei-, Agrar-, Verkehrs-, Energie- und Kohäsionspolitik) einen engen Bezug zur Biodiversitätsstrategie herzustellen. Er sah dabei aber noch große Defizite und kam folglich zum Ergebnis, dass „die Kommission […] ihre eigene Biodiversitätsstrategie ernster nehmen (muss)!“

2.9.

Von dem in der neuen EU-Biodiversitätsstrategie formulierten Anspruch, den richtigen Weg gefunden zu haben und den Biodiversitätsverlust nun endlich zu stoppen, ist bereits nach nur vier Jahren wenig übrig geblieben. Das wird aus der Halbzeitbewertung der Biodiversitätsstrategie sehr deutlich (7).

3.   Die Halbzeitbewertung der aktuellen Biodiversitätsstrategie

3.1.

Die Strategie selbst umfasst insgesamt sechs klar definierte Einzelziele mit insgesamt 20 Maßnahmen. Die Halbzeitbewertung führt aus:

3.1.1.

zu Einzelziel 1 („Aufhalten der Verschlechterung des Zustands aller unter das europäische Naturschutzrecht fallenden Arten und Lebensräume und Erreichen einer signifikanten und messbaren Verbesserung dieses Zustands […]“), dass zwar einige Fortschritte erzielt wurden, diese aber zu langsam sind, um das Ziel zu erreichen. Vor allem mangelt es an der Vervollständigung des Natura-2000-Netzes im Bereich der Meeresgebiete, an einer Gewährleistung der effektiven Bewirtschaftung von Natura-2000-Gebieten und an der Bereitstellung der erforderlichen Finanzmittel für die Unterstützung des Natura-2000-Netzes. Und auch wenn das terrestrische Natura-2000-Netz mittlerweile „im Wesentlichen“ vollständig ist, existierten in 2012 für lediglich 58 % der Natura-2000-Gebiete Bewirtschaftungspläne bzw. befanden sich derartige Pläne in Entwicklung.

3.1.2.

zu Einzelziel 2 („Bis 2020 Erhaltung von Ökosystemen und Ökosystemdienstleistungen und deren Verbesserung durch grüne Infrastrukturen sowie Wiederherstellung von mindestens 15 % der verschlechterten Ökosysteme“), dass mit den bisher ergriffenen Maßnahmen „die Tendenz der Verschlechterung von Ökosystemen und Ökosystemdienstleistungen […] noch nicht aufgehalten werden“ konnte.

3.1.3.

zu Einzelziel 3 („Erhöhung des Beitrags von Land- und Forstwirtschaft zur Erhaltung und Verbesserung der Biodiversität“), dass es „keine signifikanten Fortschritte“ gegeben hat und dass „die anhaltende Verschlechterung des Zustands von Arten und Lebensräumen von europäischer Bedeutung, die auf die Landwirtschaft zurückzuführen ist, […] deutlich (macht), dass es größerer Anstrengungen bedarf, um die Biodiversität in diesen Bereichen zu erhalten und zu verbessern. Im Zusammenwirken mit entsprechenden umweltpolitischen Maßnahmen kommt der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) in diesem Prozess wesentliche Bedeutung zu“. Zwar existieren hier mittlerweile eine Reihe von Instrumenten, doch müssen diese von den Mitgliedstaaten auch „in ausreichendem Maße“ in Anspruch genommen werden. Nur wenn diese „in größerem Umfang“ genutzt werden, könnte die EU ihr Ziel bis 2020 doch noch erreichen. Insgesamt sind „wesentlich intensivere Anstrengungen notwendig“.

3.1.4.

zu Einzelziel 4 („Sicherstellung der nachhaltigen Nutzung von Fischereiressourcen“), dass zwar „beträchtliche Fortschritte bei der Schaffung eines politischen Rahmens“ erreicht wurden, […] „doch werden die Maßnahmen in den Mitgliedstaaten uneinheitlich umgesetzt, und die fristgerechte Erreichung der Ziele stellt diese nach wie vor vor beträchtliche Herausforderungen. Lediglich reichlich die Hälfte der nach dem MSY-Konzept bewerteten Bestände wurde 2013 nachhaltig befischt“. In allen (!) europäischen Meeren ist nach wie vor eine rückläufige Entwicklung zu verzeichnen.

3.1.5.

zu Einzelziel 5 („Bekämpfung invasiver gebietsfremder Arten“), dass dies das einzige Ziel ist, wo sich die EU „auf Kurs“ sieht und erwartet, dass das 2020-Ziel erreicht werden kann.

3.1.6.

zu Einzelziel 6 („Beitrag zur Vermeidung des globalen Biodiversitätsverlustes“), dass „hinsichtlich der Reduzierung der Auswirkungen der Konsumgewohnheiten in der EU auf die globale Biodiversität […] noch keine ausreichenden Fortschritte erzielt werden (konnten)“ und „es mit den derzeitigen Anstrengungen kaum möglich sein (wird), die Biodiversitätsziele von Aichi fristgerecht zu erreichen“.

3.2.

Diese ernüchternde Halbzeitbewertung wurde just zu der Zeit vorgelegt, in der die Kommission darüber nachdenkt, die für den Naturschutz wichtigsten EU-Richtlinien, nämlich die Vogelschutzrichtlinie aus 1979 und die Fauna-, Flora-, Habitatrichtlinie aus 1992, grundlegend zu überarbeiten.

3.3.

Die Expertenberichte (8) zum Fitness-Check der Vogelschutz- und FFH-Richtlinie bestätigen, was der EWSA seit Jahren beharrlich wiederholt: Der rechtliche Rahmen ist ausreichend und kann nicht als Begründung für die Verfehlung der Biodiversitätsschutzziele verantwortlich gemacht werden. Zentrale Mängel liegen in der nicht erfolgten Umsetzung, im Fehlen eines Naturschutzbudgets und in der Inkonsistenz der EU-Politik.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA wiederholt seine Aussagen, dass wir in der EU „beim Erhalt der Biodiversität […] nicht arm an Gesetzen, Richtlinien, Programmen, Modellprojekten, politischen Erklärungen oder Handreichungen, sondern arm an Umsetzungen und konzertierten Aktionen auf allen politischen Handlungsebenen (sind)“. Er sieht diese Aussage nicht nur durch die Evaluierungsstudie, sondern auch durch die Schlussfolgerungen des Rates Umwelt vom 16. Dezember 2015 (9) bestätigt, die sich im Kern nicht von den Schlussfolgerungen des Rates Umwelt aus dem Jahr 2011 unterscheiden. Solange die Richtlinien nicht vollständig umgesetzt sind, solange keine ausreichenden Finanzmittel zur Verfügung gestellt bzw. genutzt werden und solange die anderen Politikbereiche der EU nicht kohärent auf die Biodiversitätsbelange ausgerichtet werden, können die gewünschten Erfolge nicht erzielt werden.

4.2.

Neue Strategie- oder Aktionspapiere und/oder die Überarbeitung des rechtlichen Rahmens ändern daran nichts, sie täuschen vielmehr politische Aktivität vor, die ins Leere laufen muss, wenn die eigentlichen Probleme der Nichtumsetzung nicht abgestellt werden.

4.3.

Um bei der Biodiversitätserhaltung erfolgreich sein zu können, bedarf es mehrerer Ansätze:

4.4.    Die Etablierung des Natura-2000-Netzes

4.4.1.

Für den „klassischen“ Naturschutz, also z. B. für den Erhalt seltener Tier- und Pflanzenarten und einzigartiger Biotope (wie z. B. Moore, Trockenstandorte, Reste naturnaher Waldformationen etc.), ist das Natura-2000-Netz von absolut zentraler Bedeutung. Dieses basiert vornehmlich auf der 1992 verabschiedeten FFH-Richtlinie und den bereits durch die mit der 1979 verabschiedeten Vogelschutz-Richtlinie etablierten Vogelschutzgebiete.

4.4.2.

Mit der Verabschiedung besonders der FFH-Richtlinie haben sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Kommission zwei Versprechen abgegeben:

einerseits den Aufbau des Natura-2000-Netzes innerhalb von 3 Jahren abzuschließen (10) und

andererseits hierfür auch Geld zur Verfügung zu stellen, um die Lasten nicht den Landeigentümern bzw. -nutzern zu überlassen.

4.4.3.

Das Netzwerk hätte also im Jahr 1995, vor über 20 Jahren (!), fertig sein sollen. Zwar ist mittlerweile die Ausweisung der meisten Gebiete erfolgt, 18 % der Landfläche der EU-Staaten sind als Natura-2000-Gebiet ausgewiesen, doch mit der Ausweisung allein ist es nicht getan. Für viele Gebiete liegt noch keine dauerhaft rechtliche Sicherung vor, und erst für etwas mehr als die Hälfte der Gebiete gibt es Bewirtschaftungs- oder Managementpläne. Solange aber für die Bürger und die Verwaltungen, insbesondere aber für die Grundeigentümer und Landnutzer nicht klar ist, was nun erlaubt bzw. verboten ist, kann kein erfolgreicher Naturschutz stattfinden und auch keine Kompensation für eventuelle Nutzungsauflagen gewährt werden.

4.4.4.

Es spricht für sich, dass der Rat Umwelt am 19. Dezember 2011 die Mitgliedstaaten — und somit sich selbst — aufforderte, „den Aufbau des Natura-2000-Netzes zeitnah abzuschließen und Bewirtschaftungspläne oder andere gleichwertige Instrumente zu entwickeln und umzusetzen, […] und dadurch eine tragfähige Grundlage für die strategische Planung im Hinblick auf die anschließende Umsetzung des Mehrjährigen Finanzrahmens 2014-2020 zu schaffen“. Was eigentlich vor 20 Jahren hätte fertig sein sollen, wurde 2011 nochmals „zeitnah“ eingefordert — und ist bis heute nicht vollzogen!

4.4.5.

Deshalb forderte der Rat Umwelt am 16. Dezember 2015 abermals die Mitgliedstaaten — und somit wiederum sich selbst, diesmal sogar „nachdrücklich“ — auf, „die Errichtung des Natura-2000-Netzes fertigzustellen“.

4.5.    Maßnahmen außerhalb von Schutzgebieten

4.5.1.

Die Kommission, der Rat Umwelt und auch das Europäische Parlament (11) betonen sehr zu Recht, dass es bei der Biodiversitätspolitik nicht nur um den Schutz von Tier- und Pflanzenarten bzw. Habitaten geht, sondern um die Produktions- und Lebensgrundlagen des Menschen. Nur eines von vielen Beispielen dafür ist die Bestäubungsleistung von Insekten wie Bienen oder Schmetterlingen, deren ökonomischer Wert — nicht nur für die Landwirtschaft — unermesslich ist. Doch die Kommission musste feststellen, dass „die Ökosysteme […] nicht mehr in der Lage [sind], Basisleistungen wie Bestäubung, saubere Luft und Wasser in optimaler Quantität und Qualität bereitzustellen […]“ (12).

4.5.2.

Die Erhaltung (der Leistung) von Bestäubern oder Destruenten, aber auch z. B. von vielen anderen Arten kann nicht geschehen, indem man sich ausschließlich auf die Ausweisung von Schutzgebieten fokussiert. Die Biodiversitätspolitik der EU muss deshalb zusätzlich auch einen flächenhaften Anspruch — außerhalb von Schutzgebieten — formulieren; und hier spielt die Kohärenz mit der Flächennutzungspolitik eine entscheidende Rolle.

4.5.3.

Dabei ist es völlig richtig, dass sowohl die Kommission als auch der Rat die Bedeutung z. B. des Agrarsektors immer wieder betont, zuletzt in der Halbzeitbewertung: Der Rat „nimmt mit Besorgnis zur Kenntnis, dass die Landwirtschaft eine der wichtigsten Belastungen für die terrestrischen Ökosysteme ist und dass bis 2012 bei den mit der Landwirtschaft in Verbindung stehenden Arten und Lebensräumen, die unter die Habitat-Richtlinie fallen, keine messbare Verbesserung des Erhaltungszustands festgestellt wurde, und bedauert den erheblichen Rückgang von Ackerlandvögeln, Wiesenschmetterlingen und Bestäubungsleistungen, der die anhaltende Belastung durch bestimmte Landbewirtschaftungsmethoden wie etwa einige Modalitäten der Aufgabe von landwirtschaftlichen Flächen sowie der Intensivierung der Nutzung verdeutlicht“ (13).

4.6.    Inkohärenz der EU-Politik

4.6.1.

In der Biodiversitätsstrategie der EU für das Jahr 2020 wurde zwar betont, dass diese „integraler Bestandteil der Europa-2020-Strategie“ (14) sei, doch finden sich die Begriffe „Biodiversität“, „Habitate“, „Naturschutz“ oder „Artenschutz“ sowie „Schutz der Vielfalt genetischer Ressourcen“ oder „Ökosystem“ in der Europa-2020-Strategie nicht ein einziges Mal wieder! Lediglich der Begriff „Artenvielfalt“ wird zweimal kurz erwähnt, und dies nur in Halbsätzen unter dem Thema „Ressourceneffizienz“. Für den EWSA ist deshalb völlig unverständlich, wie die Kommission zu dieser Aussage kommen konnte; ihre reale Politik beweist genau das Gegenteil.

4.6.2.

Dabei wäre die Europa-2020-Strategie, nachdem die Nachhaltigkeitsstrategie der EU aus dem Jahr 2001 politisch so gut wie keine Rolle mehr spielt, genau der richtige Rahmen, um das Problem anzusprechen. Oft genug hat der EWSA gefordert, die Wirtschafts- und Finanzminister sollten sich z. B. über die ökonomische Relevanz des Biodiversitätsrückgangs Gedanken machen (15). Geschehen ist dies noch nicht.

4.6.3.

Da die Ziele der EU-Naturschutzrichtlinien und der EU-Biodiversitätsstrategie zudem auch den international vereinbarten Zielen (z. B. den Aichi-Zielen im Rahmen des UN-Übereinkommens über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD) oder den Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDG)) entsprechen, ist es dringend geboten, die Biodiversitätspolitik umfassend in die Umsetzungsstrategie der SDG, respektive in eine neue Nachhaltigkeitsstrategie der EU zu integrieren.

4.6.4.

Biodiversitätspolitik wird aber bisher von vielen Kommissionsdienststellen und einigen EU-Ministerräten nach wie vor eher als konkurrierendes Politikfeld angesehen, das wirtschaftliche Entwicklung partiell blockiert bzw. behindert und zudem Finanzmittel bindet.

4.6.5.

Dabei ist unbestritten: Es gibt Konflikte zwischen verschiedenen Nutzungsansprüchen, und gelegentlich werden Eingriffe in den Naturhaushalt etwa durch die Naturschutz-Richtlinien verhindert. Das ist aber genau die Aufgabe des Naturschutzes, nämlich von staatlicher Seite aus dafür zu sorgen, dass es ein ausgewogenes Verhältnis von ökonomischer Nutzung und Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen gibt. Darin unterscheidet sich der Naturschutz nicht von anderen Politikbereichen, wenn das „freie Spiel der Marktkräfte“ durch ordnungspolitische Maßnahmen reguliert wird.

4.6.6.

Dass es keine wirkliche Kohärenz zwischen der klassischen Wirtschafts- und der Umweltpolitik gibt, ist nicht neu. Bereits im Jahr 2006 hat der EWSA „[…] bemängelt, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit extreme Lücken klaffen“ und dass öffentliche „Planungsentscheidungen und Förderprogramme häufig dazu beitragen, die Biodiversität weiter zu gefährden“. (16)

4.6.7.

Wesentliche Ursache für diesen Zielkonflikt ist der Widerspruch zwischen der Durchsetzung von Partikularinteressen, und zwar insbesondere von ökonomischen Interessen, und dem Gemeinwohlinteresse. Die bisherigen Aussagen der EU sind so zu interpretieren, dass sie hinter dem gemeinwohlorientierten Biodiversitätsschutz steht. Dann sollte sie konsequenterweise klare Leitplanken für die Begrenzung von solchen ökonomischen Interessen definieren, welche den Biodiversitätsschutz konterkarieren, und ihre Einhaltung durchsetzen.

4.7.    Agrarpolitik/Landwirtschaft

4.7.1.

Der EWSA hat sich mehrfach mit dem Verhältnis von Landwirtschaft, Gemeinsamer Agrarpolitik und Biodiversität befasst und dabei festgestellt, dass der schleichende, aber massive und fortwährende Rückgang der biologischen Vielfalt geschieht, obwohl die Landwirte die geltenden Gesetze überwiegend einhalten. Er geschieht also im Rahmen der Gesetze, bei der Erfüllung der sogenannten guten, fachlichen Praxis. Dieser Umstand lässt sich nicht durch eine Reform des Naturschutzrechtes ändern, sondern nur durch veränderte Nutzungspraktiken in Verbindung mit einer veränderten Agrar-Förderpolitik. Der EWSA verweist in diesem Zusammenhang auf seine Initiativstellungnahme „Die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik 2013“ (17), in der ausführlich beschrieben wird, welche Veränderungen er für nötig hält.

4.7.2.

Die Kommission weiß sehr wohl um die Bedeutung der Landwirtschaft, sie stellt fest, dass „die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) das politische Instrument (ist), das sich am stärksten auf die biologische Vielfalt im ländlichen Raum auswirkt. Einer der Rückschläge in Bezug auf die biologische Vielfalt war die Abschaffung verpflichtender Flächenstilllegungen“ (18). Die Agrarpolitik steht somit nach wie vor häufig im Widerspruch zur Biodiversitätspolitik, obwohl mit Teilen der GAP, insbesondere mit den Agrarumweltprogrammen der 2. Säule, aufgezeigt wird, wie diese Widersprüche gelöst werden könnten.

4.7.3.

Die Flächenstilllegungen wurden Mitte der 1980er-Jahre nicht etwa deshalb eingeführt, um die ökologische Stabilität der Kulturlandschaften zu verbessern, sondern um Überschüsse abzubauen. Mit der GAP-Reform von 2013 wurde allerdings der Gedanke, Teile der Nutzflächen weniger intensiv zu bewirtschaften, erneut aufgegriffen. Im Rahmen des „Greening“ wurden sog. „ökologische Vorrangflächen“ verpflichtend vorgeschrieben. Dabei gab es allerdings einen heftigen Streit a) um den Umfang und b) zur Frage, was unter „ökologischem Vorrang“ zu verstehen ist.

4.7.4.

So wird heute z. B. der Anbau von Leguminosen bzw. von Zwischenfrüchten als „ökologischer Vorrang“ definiert. Auch wenn die Zunahme an Flächen, auf denen Leguminosen oder Zwischenfrüchte angebaut werden, grundsätzlich zu begrüßen ist, werden diese Maßnahmen keinen wirklichen Beitrag zur Verbesserung der Biodiversität leisten. Und auch die Tatsache, dass der Einsatz von Pestiziden auf ökologischen Vorrangflächen teilweise erlaubt ist, steht in krassem Widerspruch zur Intention der Ökologisierung der Agrarpolitik: Pestizide tragen nicht zur Erhöhung der biologischen Vielfalt, sondern zu ihrer Reduzierung bei.

4.7.5.

Die Kommission sollte möglichst schnell eine erste Bilanz der Wirkung der beschlossenen Maßnahmen vornehmen, zumal das „Greening“ eine der zentralen Begründungen für die Aufrechterhaltung der Agrarzahlungen aus dem EU-Haushalt gewesen ist.

4.7.6.

Vor diesem Hintergrund sollte im Rahmen der Querschnittsmaßnahmen der EU (insbesondere im Zusammenhang mit FEI) aber auch der Beitrag berücksichtigt und besonders beachtet werden, den die Forschung, Entwicklung und Innovation im Bereich der Landwirtschaft zur Verbesserung der Biodiversität leisten können.

4.8.    Grüne Infrastruktur

4.8.1.

Die FFH-Richtlinie weist eine entscheidende fachliche Schwäche auf: Zwar wird in Artikel 10 auf die Bedeutung der Vernetzung von Landschaftselementen ausdrücklich hingewiesen, es fehlt aber ein verbindlicher Mechanismus, der in Europa zu einem konsistenten Biotopverbundsystem führen würde. Die Kommission hat mit ihrer Mitteilung zur Grünen Infrastruktur skizziert, wie dieser Mangel durch entsprechende Investitionen in den Erhalt und die Wiederherstellung von Grüner Infrastruktur — sowohl groß- wie auch kleinräumig — kompensiert werden könnte. Es ist vor diesem Hintergrund von erheblicher Bedeutung, dass eine konsistente Strategie für die Grüne Infrastruktur verabschiedet und umgesetzt wird. Sie sollte in jedem Fall als Kernelement ein methodisches Gerüst und ein Finanzierungsinstrument für transeuropäische Biodiversitätsnetze (TEN-G) enthalten. Dies gilt sowohl großräumig wie auch kleinräumig, z. B. in Agrarlandschaften.

4.9.    Anmerkungen zur Politik in den Mitgliedstaaten und potenziellen Beitrittsländern

4.9.1.

In vielen Mitgliedstaaten bzw. Beitrittskandidaten finden nach wie vor gravierende Naturzerstörungen statt. Um nur ein paar Beispiele zu nennen:

4.9.2.

In Rumänien betrug die Fläche natürlicher Urwälder zum Zeitpunkt des EU-Beitritts mehr als 2 000 km2. Diese Flächen sind fast vollständig als Natura-2000-Gebiete ausgewiesen. Inzwischen sind zahlreiche großflächige Kahlschläge in Rumäniens Urwäldern dokumentiert und damit ein unwiederbringliches europäisches Naturerbe verloren.

4.9.3.

Die Flussökosysteme auf dem Balkan, insbesondere im Westbalkanraum, sind mit Abstand die wertvollsten in Europa. Rund ein Drittel der Flüsse in den Jugoslawien-Nachfolgestaaten und Albanien weisen eine natürliche Dynamik auf und können noch als Naturflüsse bezeichnet werden. Durch die dokumentierte Planung von mehr als 2 700 (!) Wasserkraftwerken, zu mindestens einem Drittel in Naturschutzgebieten, ist die natürliche Dynamik und biologische Vielfalt aller Flüsse auf dem Balkan massiv bedroht. Bei der Finanzierung dieser Vorhaben werden öffentliche Mittel eingesetzt. In fast allen EU-Mitgliedsstaaten wurde die biologische Vielfalt fast aller Flüsse schon massiv beeinträchtigt, sodass heute, u. a. im Rahmen der Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie, erhebliche Summen für ihre Renaturierung aufgebracht werden müssen.

4.9.4.

Zahlreiche Vogelarten, die im Anhang I der Vogelschutz-Richtlinie aufgeführt sind und daher innerhalb der EU Schutz genießen, werden in den Beitrittskandidatenstaaten auf dem Balkan rücksichtslos verfolgt; die Vogeljagd ist auch in vielen Mitgliedstaaten ein vielfach ungelöstes Problem. Der Abschuss von Löfflern, Kranichen, Zwergscharben und Moorenten, um nur einige Arten zu nennen, führt zur Schwächung der Brutvorkommen dieser Arten in der EU.

4.10.    Finanzierung

4.10.1.

Ein weiteres, in der Halbzeitbewertung wie auch in den Ratsschlussfolgerungen angesprochenes Problem ist die Finanzierung, nicht nur, aber auch des Natura-2000-Netzes. In einer Kommissionsmitteilung aus dem Jahr 2004 (19) ging es um die Finanzierung des Netzes, dabei a) um die Höhe der dafür erforderlichen Mittel sowie b) um die Frage, aus welchem Finanztopf die Mittel zu decken seien. Damals wurde als überschlägiger Betrag eine Summe von 6,1 Mrd. EUR jährlich genannt; entschieden wurde, nicht etwa eine eigene Finanzierungslinie aufzubauen oder das Life-Programm entsprechend auszubauen, sondern in erster Linie die 2. Säule der GAP und weitere EU-Fonds zu nutzen.

4.10.2.

Der EWSA hatte damals Zweifel an der Höhe angemeldet und „es für zwingend nötig (gehalten), möglichst rasch genauere Kostenkalkulationen vorzulegen. Er hat beispielsweise Zweifel, dass die für die neuen Mitgliedstaaten angegebene Summe von 0,3 Mrd. EUR (für die EU (15): 5,8 Mrd. EUR) ausreichend sein wird“ (20).

4.10.3.

Bis heute ist hier nichts geschehen, es ist immer noch die gleiche Summe im Gespräch. Die verantwortlichen Mitgliedstaaten und die Kommission haben es bislang versäumt, hier Klarheit zu schaffen.

4.10.4.

Der EWSA hat damals auf die Gefahr hingewiesen, dass es bei der Finanzierung der Natura-2000-Maßnahmen aus der 2. Säule zu Konkurrenzen mit anderen Maßnahmen der ländlichen Entwicklung kommen könnte (21). Dies hat sich in zweierlei Hinsicht bestätigt: Zum einen wurden die Zahlungen aus der 2. Säule in der Finanzperiode 2007-2013 um 30 % gegenüber der früheren Finanzperiode gekürzt, zum anderen weist der Europäische Rechnungshof und der Rat Umwelt sehr zu Recht darauf hin, dass „die Mitgliedstaaten den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) nicht in allen Fällen als mögliches Instrument für die Förderung der Biodiversität in Betracht gezogen und sein Potenzial als Finanzierungsquelle für Natura-2000 nicht ausreichend erkannt haben“ (22).

4.10.5.

Dies hat zur Folge, dass die Kommission (23) feststellen musste, dass der Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums zwar nach wie vor die wichtigste Finanzierungsquelle der Gemeinschaft für Natura-2000 und die Biodiversität in der EU ist, dass aber „nur 20 % des gesamten Finanzbedarfs für die Bewirtschaftung von Naturschutzgebieten einschließlich des Natura-2000-Netzwerks in Europa gedeckt (sind)“.

4.10.6.

Es ist also dringend geboten, den genauen Finanzbedarf für die Umsetzung der europäischen Naturschutzrichtlinien zu ermitteln und entsprechende Mittel — zweckgebunden in einer eigenen Haushaltslinie (z. B. in einem erweiterten LIFE-Haushalt) — zur Verfügung zu stellen.

4.11.    Mitwirkungs- und Beteiligungsprozesse

4.11.1.

Die Defizite bei der Umsetzung der EU-Biodiversitätsstrategie, insbesondere bei Natura 2000, sind zum Teil auch einer unzureichenden Beteiligung bzw. Mitwirkung der Zivilgesellschaft in den jeweiligen Schutzgebieten geschuldet. Die Ausweisung von Schutzgebieten ist zunächst als Verwaltungsakt anzusehen, der unter Wahrung aller rechtsstaatlichen Prinzipien zu erfolgen hat. Aber bei der Entwicklung und Umsetzung der Management- und Bewirtschaftungspläne sollte eine intensive Einbeziehung der Grundeigentümer, der Landnutzer, der Naturschutzorganisationen und der Kommunen erfolgen. Dies ist in vielen Fällen nicht erfolgt und das hat in vielen Fällen zu Misstrauen und Ablehnung gegenüber der EU-Biodiversitätspolitik geführt.

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  KOM(1998) 42 endg.

(2)  KOM(2001) 162 endgültig.

(3)  KOM(2006) 216 endgültig.

(4)  KOM(2010) 4 endgültig.

(5)  KOM(2011) 244 endgültig.

(6)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 111.

(7)  COM(2015) 478 final.

(8)  Milieu, IEEP und ICF, „Evaluation Study to support the Fitness Check of the Birds and Habitats Directives“, März 2016.

(9)  Rat der Europäischen Union, Dok-Nr. 15389/15.

(10)  Der Zeitraum von drei Jahren (also bis 1995) betraf die Meldung der entsprechenden Gebiete durch die Mitgliedstaaten. Teilweise ist diese Meldung bis heute nicht endgültig abgeschlossen.

(11)  Siehe u. a.: Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. Februar 2016 zur Halbzeitbewertung der Strategie der EU zur Erhaltung der biologischen Vielfalt (2015/2137(INI)).

(12)  KOM(2010) 548 endgültigl, 8.10.2010, S. 3.

(13)  Rat der Europäischen Union, Dok-Nr. 15389/2015, Ziffer 36.

(14)  KOM(2011) 244 endgültig, S. 2.

(15)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 150, Ziffer 2.3.

(16)  ABl. C 195 vom 18.8.2006, S. 96.

(17)  ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 35.

(18)  COM(2010) 548 final, S. 5.

(19)  KOM(2004) 431 endgültig.

(20)  ABl. C 221 vom 8.9.2005, S. 108, Ziffer 3.10.1.

(21)  ABl. C 221 vom 8.9.2005, S. 108, Ziffer 3.14.1 und 3.14.2.

(22)  Rat Umwelt, 16. Dezember 2015.

(23)  KOM(2010) 548 endgültig, S. 13.


ANHANG

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 4.7.4 — Ändern:

 

So wird heute z. B. der Anbau von Leguminosen bzw. von Zwischenfrüchten als „ökologischer Vorrang“ definiert. Auch wenn dDie Zunahme an Flächen, auf denen Leguminosen oder Zwischenfrüchte angebaut werden, ist grundsätzlich zu begrüßen. ist, werden diese Maßnahmen keinen wirklichen Ein Beitrag zur Verbesserung der Biodiversität besteht unter anderem in der Förderung des Bodenlebens durch die Symbiose von Leguminosen und Rhizobien leisten. Und auch die Tatsache, dass d Der Einsatz von Pestiziden Pflanzenschutzmitteln auf ökologischen Vorrangflächen ist im Rahmen der strengen europäischen Zulassungs- und Anwendungsvorschriften teilweise erlaubt und ermöglicht damit die Förderung des Eiweißpflanzenanbaus in Europa ist, steht in krassem Widerspruch zur Intention der Ökologisierung der Agrarpolitik: Pestizide tragen nicht zur Erhöhung der biologischen Vielfalt, sondern zu ihrer Reduzierung bei.

Begründung

Die Maßnahme befindet sich erst im 2. Umsetzungsjahr. Es liegen im Hinblick auf die Biodiversität noch keine aussagekräftigen Analysen vor. Der gezielte Einsatz von Pflanzenschutzmitteln kann in bestimmten Fällen sinnvoll sein, z. B. um die im Jugendstadium konkurrenzschwache Kulturpflanze vor Verunkrautung zu schützen. Gemäß Art. 46 VO 1307/2013 hat die EK bis März 2017 zur Umsetzung der ökologischen Vorrangflächen einen Evaluierungsbericht vorzulegen.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

69

Nein-Stimmen:

96

Enthaltungen:

26

Ziffer 4.7.4 — Ändern:

 

So wird heute z. B. der Anbau von Leguminosen bzw. von Zwischenfrüchten als „ökologischer Vorrang“ definiert. Auch wenn die Zunahme an Flächen, auf denen Leguminosen oder Zwischenfrüchte angebaut werden, grundsätzlich zu begrüßen ist, werden diese Maßnahmen keinen wirklichen Beitrag zur Verbesserung der Biodiversität leisten. Und auch die Tatsache, dass der Einsatz von Pestiziden auf ökologischen Vorrangflächen teilweise erlaubt ist, steht in krassem Widerspruch zur Intention der Ökologisierung der Agrarpolitik: Pestizide tragen nicht zur Erhöhung der biologischen Vielfalt, sondern zu ihrer Reduzierung bei. Gleichzeitig besteht ein großer Mangel an in der EU angebauten Eiweißpflanzen, und ein allgemeines Verbot des Einsatzes von Pestiziden für Leguminosen würde diesen Mangel noch verstärken.

Begründung

Erfolgt mündlich.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

80

Nein-Stimmen:

105

Enthaltungen:

11

Ziffer 1.5 — Ändern:

 

Der EWSA fordert die Herstellung der Kohärenz zwischen allen Politikbereichen, die sich auf den Biodiversitätsschutz auswirken. In diesem Zusammenhang erwartet der EWSA, dass schon die Halbzeitbewertung der „ökologischen Vorrangflächen“ und eine mögliche Halbzeitbewertung der GAP dazu genutzt werden, dass die GAP künftig gezielter zur Erreichung der Biodiversitätsziele beiträgt. Aktuell ist nach Auffassung des EWSA eine Änderung bei den ökologischen Vorrangflächen hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Qualität erforderlich.

Begründung

Das mit 2015 neu eingeführte Greening befindet sich derzeit erst im 2. Umsetzungsjahr. Es gibt daher noch keine ausreichend belastbaren Analysen, die in dieser Frage eine seriöse Schlussfolgerung zulassen. Gemäß Art. 46 VO 1307/2013 hat die EK bis März 2017 zur Umsetzung der ökologischen Vorrangflächen einen Evaluierungsbericht vorzulegen. In der Folge sind dann auf Basis dieser Evaluierungsergebnisse adäquate Schritte abzuleiten.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

57

Nein-Stimmen:

120

Enthaltungen:

11

Ziffer 1.5 — Ändern:

 

Der EWSA fordert die Herstellung der Kohärenz zwischen allen Politikbereichen, die sich auf den Biodiversitätsschutz auswirken. In diesem Zusammenhang erwartet der EWSA, dass schon die Halbzeitbewertung der „ökologischen Vorrangflächen“ und eine mögliche Halbzeitbewertung der GAP dazu genutzt werden, dass die GAP künftig gezielter zur Erreichung der Biodiversitätsziele beiträgt. Aktuell ist nach Auffassung des EWSA eine Änderung bei den ökologischen Vorrangflächen hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Qualität erforderlich. Außerdem muss sichergestellt werden, dass sie besser in moderne Landwirtschaftsmethoden integriert werden können.

Begründung

Erfolgt mündlich.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

75

Nein-Stimmen:

118

Enthaltungen:

9


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/24


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — „Wie geht es weiter nach Paris?“

(Initiativstellungnahme)

(2016/C 487/04)

Berichterstatterin:

Tellervo KYLÄ-HARAKKA-RUONALA

Beschluss des Plenums

26.4.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

129/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Das Übereinkommen von Paris ist ein ersehnter Schritt hin zu einem weltweiten Engagement zur Eindämmung des Klimawandels. Es muss nun ratifiziert, umgesetzt und weiterentwickelt werden. In dieser Stellungnahme legt der EWSA seine Ansichten zu den wesentlichen Strategien dar, mit denen der langfristige Wandel in die mit dem Übereinkommen angestrebte klimaneutrale Zukunft bewerkstelligt werden soll.

1.2.

Angesichts der enormen globalen Herausforderungen ist ein grundlegender Wandel in der Herangehensweise der Europäischen Union notwendig. Anstatt sich nur auf ihren eigenen Klimagasausstoß zu konzentrieren, sollte die EU überlegen, wie sie dazu beitragen kann, einen aus globaler Sicht möglichst hohen Klimanutzen zu erzielen. Der EWSA fordert die Europäische Kommission in diesem Sinn auf, eine langfristige Strategie zur Förderung und Vergrößerung des globalen ökologischen Handabdrucks (1) der EU zu entwerfen.

1.3.

Die EU sollte ferner Lösungen anstreben, die unter sowohl wirtschaftlichen als auch sozialen und ökologischen Aspekten gewinnbringend sind. Der EWSA fordert daher die Kommission auf, die Klimastrategie so anzulegen, dass sie zur Stärkung der EU-Wirtschaft und zur Verbesserung des Wohlergehens der EU-Bürger beiträgt und gleichzeitig die Eindämmung des Klimawandels fördert.

1.4.

Weltweites Engagement ist eine wesentliche Voraussetzung, um echten Klimanutzen zu erzielen, die Verlagerung von Emissionen (carbon leakage) zu verhindern, das Investitionsrisiko zu senken und der Abwanderung von Arbeitsplätzen entgegenzuwirken. Der EWSA appelliert an die Kommission, weiterhin durch aktive Klimadiplomatie eine umfassende Umsetzung des Übereinkommens zu fördern und andere große Volkswirtschaften zu ermutigen, ebenso ehrgeizige Verpflichtungen einzugehen wie die EU. Die Kommission sollte auch in allen Bereichen der Außenpolitik, insbesondere Handel und Investitionen sowie Entwicklungszusammenarbeit, klimapolitische Überlegungen einbeziehen.

1.5.

In der Praxis kann die EU am besten zum Klimaschutz beitragen, indem sie Technologien sowie Lösungen für die Verringerung von Emissionen und den Ausbau von Kohlenstoffsenken exportiert und emissionsärmere Produkte für den Weltmarkt herstellt als ihre Konkurrenten. Der EWSA plädiert deshalb dafür, verstärkt Innovationen von der Forschungs- bis zur Markteintrittsphase zu fördern, um eine weltweit führende Rolle der EU im Bereich Klimaschutztechnologie sicherzustellen. Besondere Aufmerksamkeit sollte dem Potenzial der KMU gelten.

1.6.

Die interne Dimension der EU-Klimapolitik könnte auf handlungsorientierte, wirksame und kohärente Maßnahmen im Rahmen einer Klimaunion abheben. Zunächst muss alles darangesetzt werden, die bis jetzt gefällten Entscheidungen umzusetzen. Dabei haben die Kommission und die Mitgliedstaten jeweils ihre eigenen Zuständigkeiten.

1.7.

Der EWSA fordert die Kommission ferner auf, die langfristige Strategie bereichsübergreifend anzulegen. Der weitere Weg sollte im Zusammenspiel mit den einschlägigen „Unionen“ im Binnenmarkt — insbesondere in Verbindung mit Energie, Verkehr, Digitalisierung, Industrie, Landwirtschaft, Kapital und Innovation — entwickelt werden. Auch den Herausforderungen im Zusammenhang mit nachhaltigen Nahrungsmittelsystemen und der Rolle von Kohlenstoffsenken sollte besonderes Augenmerk gelten.

1.8.

Die Umsetzung der im Pariser Übereinkommen festgelegten Ziele sollte so weit wie möglich durch Marktmechanismen vorangetrieben werden. Ein globales Kohlenstoffpreissystem wäre ein neutrales und wirksames Mittel, um alle Marktteilnehmer ins Boot zu holen. Der EWSA ermutigt die Kommission, aktiv verschiedene Entwicklungspfade und Maßnahmen zu prüfen und gemeinsam mit anderen Ländern den Weg hin zu einem globalen Kohlenstoffpreis einzuschlagen.

1.9.

Der Weg von Paris hin zu einer Niedrigemissionswirtschaft ist mit außerordentlich großen Herausforderungen gepflastert. Zur Steuerung eines gerechten Wandels und zur Unterstützung der Unternehmen und Bürger bei der Anpassung an die Veränderungen und bei der Entwicklung neuer Lösungen und Kompetenzen müssen in der Klimastrategie geeignete Anpassungsmaßnahmen vorgesehen werden.

1.10.

Die zivilgesellschaftlichen Partner bewirken durch ihr Handeln vor Ort die Umstellung auf eine Niedrigemissionswirtschaft. Aufgabe der politischen Entscheidungsträger ist es, geeignete Rahmenbedingungen und die Finanzierung sicherzustellen und sie über alle verfügbaren Finanzierungsmöglichkeiten zu informieren. Durch Entwicklung einer angemessenen Multi-Level-Governance ist das zivilgesellschaftliche Klimahandeln zu fördern und von eventuellen Hindernissen zu befreien. Der EWSA geht davon aus, dass er umfassend in die Entwicklung dieser Multi-Stakeholder-Infrastruktur sowie in die Erarbeitung der langfristigen EU-Klimastrategie einbezogen wird.

2.   Die EU als starker Akteur der internationalen Klimapolitik

2.1.

Auf der Weltklimakonferenz in Paris (COP 21) wurde ein globales Übereinkommen erzielt, um weltweit die Weichen für eine Begrenzung der Erderwärmung auf merklich unter 2 oC zu stellen und weitere Anstrengungen zur Senkung des Temperaturanstiegs auf 1,5 oC gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu unternehmen. Dazu sind weltweit massive Emissionssenkungen und tief greifende gesellschaftliche Veränderungen erforderlich.

2.2.

Angesichts der weltweit anstehenden Herausforderungen ist ein grundlegender Wandel in der Herangehensweise der EU an die Eindämmung des Klimawandels notwendig. Es ist entscheidend, dass die EU sich gezielt darum bemüht, weltweit konkrete Impulse zu setzen. In diesem Sinn sollte sie anstreben, nicht nur ihren eigenen „ökologischen Fußabdruck“ zu verringern, sondern auch ihren „ökologischen Handabdruck“ zu vergrößern.

2.3.

Weltweites Engagement ist eine wesentliche Voraussetzung, um den Klimawandel zu bewältigen, die Verlagerung von Emissionen (carbon leakage) zu verhindern, das Investitionsrisiko zu senken und der Abwanderung von Arbeitsplätzen entgegenzuwirken. Die EU hat vor und während der Weltklimakonferenz in Paris eine Führungsrolle übernommen und sollte in diesem Sinn auch im Hinblick auf die künftigen Konferenzen der Vertragsparteien agieren. Ihre klimadiplomatischen Bemühungen sollte die EU in erster Linie auf diejenigen Länder mit dem größten Klimagasausstoß ausrichten, aber auch auf ihre unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten schärfsten Konkurrenten und vielversprechendsten Partner. Klima- und Wirtschaftsdiplomatie sollten Hand in Hand gehen.

2.4.

Die größten Verursacher sind China, die USA und die EU mit einem jeweiligen Anteil von mehr als 25 % bzw. rund 15 % bzw. ca. 10 % am weltweiten Klimagasausstoß. Der EU-Anteil an den Emissionen soll bis 2030 auf etwa 5 % sinken. Damit die Klimaschutzmaßnahmen der EU größtmögliche Wirkung zeitigen, muss die EU deshalb alles daransetzen, andere Parteien zu mehr Ehrgeiz zu bewegen.

2.5.

In der Praxis kann die EU am besten zum globalen Klimaschutz beitragen, indem sie Niedrigemissions-Konzepte exportiert und emissionsärmere Produkte für den Weltmarkt herstellt als ihre Konkurrenten.

2.6.

Neben den USA sind mittlerweile auch China und andere sich rasch entwickelnde Länder wichtige Lieferanten von Niedrigemissionstechnologien. Die EU hat sowohl auf den Exportmärkten wie auch auf dem Binnenmarkt in den letzten fünf Jahren in bestimmten Sektoren regelrechte Einbrüche erlebt, die einst vorhandene globale technologische Führerschaft ist verloren gegangen. Die Juncker-Kommission hat zwar den Anspruch formuliert, weltweit die Nummer eins bei erneuerbaren Energien werden zu wollen, doch dieses Ziel rückt derzeit in weite Ferne.

2.7.

Es müssen deshalb dringend neue und zusätzliche Impulse gesetzt werden, damit die EU bei Klimaschutzlösungen wieder führend wird. Die globalen Möglichkeiten erstrecken sich über ein breites Spektrum an Technologien, Produkten, Dienstleistungen, Wissen sowie allgemeine Produktions- und Verbrauchsmodelle. Auch sollte der Export von Know-how im Bereich Kohlenstoffsenken, bspw. durch den Transfer von Wissen im Bereich nachhaltige Waldbewirtschaftung und Aufforstung, als Chance begriffen werden, globale Impulse zu setzen.

2.8.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission der Innovationsmission beigetreten ist, in deren Rahmen sich die größten Wirtschaftsmächte der Welt verpflichtet haben, ihre finanzielle Unterstützung von Forschung und Entwicklung im Bereich saubere Energie in den nächsten fünf Jahren zu verdoppeln.

2.9.

Eine wirksame Handels- und Investitionspolitik ist ein wesentliches Instrument für eine erfolgreiche Umsetzung von Niedrigemissions-Konzepten und die Förderung der Umstellung auf eine klimaneutrale Weltwirtschaft. Um konkrete Fortschritte zu erzielen, sollten Klimafragen ein wichtiger Aspekt von Verhandlungen über Handels- und Investitionsabkommen sein. Letztlich sollten Handelsschranken für klimafreundliche Produkte, Technologien und Konzepte aufgehoben werden; in diesem Kontext wäre besonders das Abkommen über den Handel mit Umweltschutzgütern relevant. Gemeinsame Lösungen sind auch erforderlich, um Wettbewerbsverzerrungen aufgrund unterschiedlicher regionaler Klimaschutzmaßnahmen und -anforderungen zu vermeiden.

2.10.

Im Bereich Entwicklungspolitik wurde die aktuelle Zielvorgabe einer von den Industrieländern zugesagten jährlichen Klimafinanzierung von 100 Mrd. USD auf der COP 21 bis 2025 verlängert; für die Umsetzung des Ziels wurde ein praktischer Fahrplan gefordert. Einzelne Länder machten ebenfalls Finanzierungszusagen. Nun kommt es darauf an, dass die Versprechen eingehalten und die Mittel wirtschaftlich, ökologisch und sozial verantwortungsvoll eingesetzt werden. Insbesondere in den Entwicklungsländern sind Aufklärungskampagnen notwendig, um die Akteure der Zivilgesellschaft über den Zugang zu Finanzmitteln zu informieren. Der EWSA hat im Kontext der EU-Afrika-Strategie einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet.

2.11.

In der Entwicklungspolitik spielt auch die technologische Zusammenarbeit eine Rolle. Dabei ist für einen angemessenen Schutz der Rechte des geistigen Eigentums als wesentliche Voraussetzung für Innovation zu sorgen. Ferner ist darauf zu achten, dass die bereitgestellten Lösungen den Voraussetzungen in den Entwicklungsländern gerecht werden und diesen Ländern im Geiste der Partnerschaft ein klimaneutrales Wachstum ohne Beeinträchtigung ihrer Entwicklung ermöglichen. Die Entwicklungsländer müssen bei ihren Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen außerdem durch Kapazitätsaufbau unterstützt werden.

2.12.

Allgemein sollten Klimaschutzbelange in allen Dimensionen der EU-Außenpolitik durchgängig berücksichtigt werden, um weltweit die Umsetzung des Pariser Übereinkommens voranzubringen.

3.   Der Weg zu einer wirksameren Klimaunion

3.1.

Um auf einer soliden Grundlage weltweit Einfluss nehmen zu können, sollte die EU eine aufgrund ihrer internen Maßnahmen in vollem Maße wirksame, geschlossene und glaubwürdige Klimaunion anstreben, die allem voran eine Union des Handelns sein muss. Zunächst muss alles darangesetzt werden, die bis jetzt gefällten Entscheidungen umzusetzen. Dabei haben die Kommission und die Mitgliedstaten jeweils ihre eigenen Zuständigkeiten.

3.2.

Von der Eindämmung der Klimawandelfolgen sind alle Wirtschaftsbereiche betroffen, weshalb der Klimaunion ein integrierter Ansatz zugrunde gelegt werden muss. Weitere Klimaschutzmaßnahmen sollten im Zusammenspiel mit anderen einschlägigen „Unionen“ wie beispielsweise der Energieunion, dem einheitlichen europäischen Verkehrsraum, dem Binnenmarkt für Waren und Dienstleistungen, dem digitalen Binnenmarkt, der europäischen Industriepolitik, der Gemeinsamen Agrarpolitik, der Kapitalmarktunion und der Innovationsunion entwickelt werden. Ferner muss sichergestellt werden, dass die EU-Klimapolitik und nationale Umsetzungsmaßnahmen ineinandergreifen.

3.3.

Die EU sollte durch die Erfüllung ihrer Klimaverpflichtungen ihre Wirtschaft und das Wohlergehen ihrer Bürger stärken. Klimapolitische Maßnahmen sollten nicht auf den simplen Ausgleich der wirtschaftlichen wie auch sozialen und ökologischen Aspekte, sondern auf allseits gewinnbringende Lösungen abheben. Daher muss ein emissionsarmes Wachstum gefördert werden, wobei u. a. das Potenzial der Digitalisierung, sauberer Technologien, der Bio-Ökonomie und der Kreislaufwirtschaft umfassend auszuschöpfen ist.

3.4.

Nicht nur weltweit, sondern auch innerhalb der EU herrscht ein enormer Klimaschutz-Investitionsbedarf. Klimaschutzaspekte sollten in die Finanzierungskriterien öffentlicher Investitionsprogramme einfließen und auch bei der Förderung durch EU-Mittel berücksichtigt werden. Der öffentlich-privaten Zusammenarbeit, dem Europäischen Fonds für strategische Investitionen und der Europäischen Investitionsbank kommen eine entscheidende Rolle zu. Der EWSA begrüßt die Errichtung des europäischen Investitionsvorhabenportals und der europäischen Plattform für Investitionsberatung und weist darauf hin, dass zahlreiche kleinere Projekte nicht aufgrund des Schwellenwerts für die Projekte ausgeschlossen werden dürfen.

3.5.

Die Voraussetzungen für Klimaschutzinvestitionen in der Privatwirtschaft sind dieselben wie für alle anderen Investitionen. Damit die durch Klimaschutz eröffneten geschäftlichen Chancen und Potenziale genutzt werden können, muss für ein wettbewerbsfähiges und stabiles Förderumfeld für Unternehmen gesorgt werden.

3.6.

Um sich zum weltweiten Spitzenreiter im Bereich Klimaschutztechnologien und -lösungen aufzuschwingen, muss die EU für innovationsfreundliche Rahmenbedingungen sorgen, die Forschung, Entwicklung, Pilotprojekte, Demonstration, Markteintritt und internationalen Marktausbau umfassen. Besonderes Augenmerk sollte dem Innovationspotenzial und dem internationalen Marktzugang der KMU gelten. In diesem Zusammenhang muss sichergestellt werden, dass KMU nicht am Zugang zu Finanzierung scheitern.

3.7.

Da die meisten Klimagasemissionen bei der Energieerzeugung verursacht werden, steht die Energie im Mittelpunkt des Wandels. Grundlegende Maßnahmen sind die Ersetzung fossiler Brennstoffe durch klimaneutrale Energieträger und die Verbesserung der Energieeffizienz in allen Sektoren und Tätigkeitsbereichen. Die zunehmende Elektrifizierung der Gesellschaft kann im Fall der Ersetzung fossiler Brennstoffe erheblich zur Senkung der Emissionen beitragen. In der Entwicklung von Stromspeichermöglichkeiten liegt eine der größten Herausforderungen und Chancen.

3.8.

Die Dekarbonisierung des Verkehrs, insbesondere des Straßenverkehrs, erfordert breit gefächerte Maßnahmen. Elektrizität und alternative Energieträger, moderne Biokraftstoffe, die Verbesserung der Energieeffizienz von Fahrzeugen und in der Logistik, die verstärkte Nutzung von emissionsarmen Verkehrsträgern, Ko-Modalität und öffentlichen Verkehrsmitteln sowie die Raumplanung spielen bei der Umstellung eine Rolle. Mit Blick auf die Schifffahrt und den Luftverkehr fordert der EWSA die Vereinbarung ehrgeiziger globaler Zielsetzungen im Rahmen der IMO und der ICAO.

3.9.

Eine erfolgreiche Dekarbonisierung setzt auch die Weiterentwicklung von Produkten und Produktionsverfahren voraus. Die größten Chancen liegen in der Entwicklung innovativer Geschäftsmodelle und der Gestaltung neuer klimaneutraler Produkte, die dienst- und funktionsorientiert sind. Dabei sollte das Potenzial sämtlicher Branchen nutzbar gemacht werden, ohne dass die politischen Entscheidungsträger Favoriten, bspw. bestimmte Branchen, Techniken oder Produkte, fördern.

3.10.

Die Land- und Forstwirtschaft sind im Kontext des Klimawandels in mehrfacher Hinsicht relevant. Neben Emissionssenkungen ist auch die Bindung von Kohlendioxid für die Eindämmung des Klimawandels wichtig. Die Bedeutung einer nachhaltigen Nutzung von forstwirtschaftlichen Ressourcen und einer angemessenen Bodenbewirtschaftung ist somit ersichtlich. Andererseits bereitet die Anpassung an den Klimawandel große Probleme in der Land- und Forstwirtschaft. Deshalb ist intensive Forschungs- und Entwicklungsarbeit im Bereich Resilienz und Anpassung sowie der Senkenfunktion von Böden notwendig.

3.11.

Zwischen Klimawandel und Ernährungssicherheit besteht vor dem Hintergrund des raschen Bevölkerungswachstums ein existenzieller Zusammenhang. Um die enormen Herausforderungen von sowohl Ernährungssicherheit als auch Klimaschutz zu bewältigen, müssen nachhaltigere Nahrungsmittelsysteme geschaffen und gleichzeitig die Verlagerung von Emissionen und Arbeitsplätzen verhindert werden.

3.12.

Die Digitalisierung ist ein übergreifender Aspekt der Dekarbonisierung der Gesellschaft. Automatisierung, Robotik und das Internet der Dinge machen industrielle Abläufe und Logistiksysteme effizienter. Durch intelligente Energienetze, intelligente Mobilität, intelligente Gebäude und intelligente Gemeinschaften werden die Bürger in den Dekarbonisierungsprozess eingebunden, während Verbraucher zu Prosumenten werden und über digitale Plattformen Produkte und Dienstleistungen gemeinsam genutzt werden.

3.13.

Insgesamt kommt den Bürgern bei der Umstellung auf eine klimaneutrale Wirtschaft eine entscheidende Rolle zu. Der Umstieg auf nachhaltigere Konsummuster und Veränderungen der Lebensweise, bspw. der Ernährungs-, Einkaufs-, Fortbewegungs- und Freizeitgewohnheiten, können zu bemerkenswerten Ergebnissen führen. Sensibilisierungskampagnen, Produktinformationen und Bildungsmaßnahmen können den Bürgern helfen, fundierte Entscheidungen zu treffen.

3.14.

Der EWSA hat sich in den letzten Jahren in verschiedenen Stellungnahmen zu spezifischen Maßnahmen zur Bewerkstelligung des Wandels hin zu einer klimaneutralen Zukunft in den oben genannten Bereichen geäußert (2).

3.15.

Beim Übergang hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft wird es sich nicht vermeiden lassen, dass es neben Gewinnern auch Verlierer gibt. Daher ist es unerlässlich, den Wandel in gerechter Weise kontrolliert zu steuern. Es bedarf geeigneter Maßnahmen zur Unterstützung der Unternehmen und Bürger bei der Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Kostensteigerungen und Qualifikationslücken sind die größten Probleme, die gelöst werden müssen. Nach Ermittlung der am stärksten gefährdeten Branchen und Gruppen kann eine gezielte finanzielle Unterstützung hier Abhilfe schaffen. In erster Linie sollten jedoch neue Lösungen ausgelotet und Qualifikationen entwickelt werden.

4.   Umfassende Nutzung von Preisbildungsmechanismen

4.1.

Bei der Durchführung von Maßnahmen zur Verwirklichung der von den politischen Entscheidungsträgern im Rahmen des Pariser Übereinkommens festgelegten Ziele und Zielvorgaben sollten weitestmöglich Marktmechanismen zum Tragen kommen. Um den Klimaschutz auf neutrale und effiziente Weise voranzubringen, sollte eine globale Bepreisung von Klimagasemissionen angestrebt werden. Damit Preismechanismen funktionieren können, sollten deshalb ihnen zuwiderlaufende oder interferierende Energiesubventionen deshalb abgeschafft werden.

4.2.

In mehreren Ländern und Regionen gibt es bereits verschiedene Kohlenstoff-Preissysteme, die zumeist auf der Besteuerung von Kohlenstoff und auf der Zuteilung von und dem Handel mit Emissionsrechten beruhen. Es wird erwogen, die verschiedenen Systeme miteinander zu verknüpfen.

4.3.

Im EU-Emissionshandelssystem ist der Preis für Emissionszertifikate immer noch unerwartet niedrig, denn das Angebot an Emissionsrechten hat die Nachfrage weit überschritten, und sich überschneidende Subventionen haben den Markt beeinträchtigt. Die Emissionsobergrenzen sorgen für die Einhaltung der Emissionsreduktionsziele, doch bietet das System keinen Anreiz für Investitionen in klimaneutrale Energie. Dazu nämlich müsste der Kohlenstoffpreis angehoben werden, während gleichzeitig durch geeignete Maßnahmen Emissionsverlagerungen verhindert werden müssten.

4.4.

Ein gut funktionierendes und gerechtes globales Kohlenstoffpreissystem würde die Ausgangsbedingungen für Exportunternehmen auf dem Weltmarkt angleichen und somit das Investitionsrisiko senken und der Abwanderung von Arbeitsplätzen entgegenwirken. Außerdem hätten importierte Erzeugnisse, die aufgrund niedrigerer Klimaauflagen billiger sind, keinen Wettbewerbsvorteil mehr. Und Finanzierungsströme würden in die Entwicklungsländer umgeleitet. Deshalb sollte eine entsprechende globale Regelung mit Nachdruck angestrebt werden. Der Ausschuss erinnert daran, dass er sich zudem — quasi als Zwischenlösung — für einen „Border Carbon Adjustment“-Mechanismus ausgesprochen hat, bis eine solche globale Regelung greift (3). Allerdings sollte den Herausforderungen und Risiken solcher Mechanismen gebührende Aufmerksamkeit zukommen.

4.5.

Um die Voraussetzungen für ein geeignetes Preissystem und seine Auswirkungen zu ermitteln, sollten verschiedene Optionen sorgfältig geprüft werden. Zumindest folgende Pfade und Maßnahmen sollten ausgelotet werden:

übergreifende Vernetzung regionaler Preis- und Handelssysteme;

Einführung sektoraler internationaler Emissionshandelskonzepte in den wichtigsten Sektoren.

Der EWSA appelliert an die Kommission, aktiv verschiedene Entwicklungspfade und Maßnahmen zu prüfen, ihre Erfahrungen zu teilen und gemeinsam mit anderen Ländern den Weg hin zu einem globalen Kohlenstoffpreissystem einzuschlagen.

5.   Die vielfältige Rolle der Zivilgesellschaft

5.1.

Im Wandel in die klimaneutrale Zukunft kommt der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle auf globaler, europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene zu. Unternehmen, Arbeitnehmer, Verbraucher und Bürger bewerkstelligen den Wandel durch ihr Handeln vor Ort, während die politischen Entscheidungsträger für ein geeignetes Förderumfeld sorgen sollten.

5.2.

Auf den Märkten sind zahlreiche Fortschritte zu verzeichnen: Immer mehr private und institutionelle Anleger berücksichtigen bei ihren Investitionen das sog. Kohlenstoffrisiko, und es sind klimabezogene private Kapitalfonds errichtet worden. Viele Unternehmen erneuern und entwickeln ihre Tätigkeiten und ihre Produktpalette, um den klimabewussten Ansprüchen ihrer Kunden und Aktionäre gerecht zu werden. Über Branchengrenzen hinweg und zwischen Großunternehmen und KMU entstehen neue unternehmerische Ökosysteme.

5.3.

Auf der COP 21 verdeutlichten zahlreiche Tätigkeiten die Rolle der nachgeordneten Gebietskörperschaften, der Privatwirtschaft und anderer zivilgesellschaftlicher Akteure bei der Verwirklichung von Klimazielen und der Förderung neuer Partnerschaften. Die Dynamik der „Global Climate Action Agenda“ muss aufrechterhalten werden, um weitere Impulse für entsprechende Initiativen zu setzen.

5.4.

Wie der EWSA vorgeschlagen hat (4), sollte ein Bündnis aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft errichtet werden, um nichtstaatlichen Klimaschutz auf verschiedenen Ebenen zu fördern und ins Bewusstsein zu bringen, ein Forum für einen strukturierten Dialog zwischen Zivilgesellschaft und Entscheidungsträgern zu bieten und Hindernisse für Maßnahmen zu beseitigen. Der EWSA geht davon aus, dass er umfassend in die Entwicklung einer solchen schlüssig durchdachten Multi-Stakeholder-Infrastruktur einbezogen wird.

5.5.

Bei der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in anderen Regionen wie beispielsweise der Gruppe der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten (AKP-Gruppe) (5) oder dem Mittelmeerraum hat der Klimaschutz in Verbindung mit der Ernährungssicherheit für den EWSA oberste Priorität.

5.6.

Der EWSA strebt ferner eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Kommission bei der Erarbeitung der langfristigen Klimastrategie der EU an, mit der der Weg in eine klimaneutrale Zukunft bereitet wird.

Brüssel, den 21. September 2016

Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Der „Handabdruck“ misst die positiven Einflüsse auf die Umwelt oder Gesellschaft, der „Fußabdruck“ dagegen steht für negative Einflüsse durch bspw. Emissionen. (Norris 2015). Der „ökologische Handabdruck“ ist somit ein Maß für den durch die Verringerung von Emissionen oder den Ausbau von Senken bewirkten Klimanutzen. Der ökologische Handabdruck der EU setzt sich aus der Gesamtheit der positiven Einflüsse der EU überall in der Welt zusammen.

(2)  Siehe bspw. die EWSA-Stellungnahmen zu folgenden Themen: Die Auswirkungen der COP 21 auf die europäische Verkehrspolitik (ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 10); Lage der Energieunion 2015 (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 117); Kreislaufwirtschaft (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 98); Ein integrierter SET-Plan (ABl. C 133 vom 14.4.2016, S. 25); Umgestaltung des Energiemarkts (ABl. C 82 vom 3.3.2016, S. 13); Energieeffizienzkennzeichnung (ABl. C 82 vom 3.3.2016, S. 6); Verbesserte Möglichkeiten für die Energieverbraucher (ABl. C 82 vom 3.3.2016, S. 22); Überprüfung des Emissionshandelssystems der EU (ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 57); Das Paris-Protokoll (ABl. C 383, 17.11.2015, S. 74); Auswirkungen der Klima- und Energiepolitik auf die Land- und Forstwirtschaft (ABl. C 291 vom 4.9.2015, S. 1); Rahmen für die Klima- und Energiepolitik im Zeitraum 2020-2030 (ABl. C 424 vom 26.11.2014, S. 39); Marktwirtschaftliche Instrumente (ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 1).

(3)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Marktwirtschaftliche Instrumente“, Ziffer 3.5.1 und 3.5.2 (ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 1).

(4)  Stellungnahme des EWSA vom 14. Juli 2016 zur „Schaffung eines Bündnisses zur Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens von Paris“ (ABl. C 389, vom 21.10.2016, S. 20).

(5)  Siehe die im Juli 2016 in Nairobi angenommene Entschließung des Netzes der wirtschaftlichen und sozialen Interessenträger EU-Afrika.


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/30


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — „Der Standpunkt des EWSA zu spezifischen Kernaspekten der Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP)“

(Initiativstellungnahme)

(2016/C 487/05)

Berichterstatter:

Philippe DE BUCK

Mitberichterstatterin:

Tanja BUZEK

Beschluss des Plenums

21.1.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

REX

Annahme in der Fachgruppe

19.7.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

213/23/17

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

2016 wird ein entscheidendes Jahr für die Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP). Die Verhandlungsführer der EU und der USA sagten zu, die Gespräche zu beschleunigen, damit eine ambitionierte und umfassende politische Einigung erzielt werden kann, die vor dem Amtsende der gegenwärtigen US-Regierung in allen Bereichen die möglichen „Zielzonen“ bestimmt. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) beschloss daher, eine Initiativstellungnahme zu spezifischen Kernaspekten der TTIP auszuarbeiten.

1.2.

In dieser Stellungnahme geht es nicht um das mögliche endgültige Abkommen, das erst als Ergebnis der Verhandlungen zwischen der EU und den USA vorliegen wird. Es ist jedoch wichtig, zu beurteilen, inwieweit die Positionen der europäischen organisierten Zivilgesellschaft, die insbesondere in früheren Stellungnahmen des EWSA formuliert wurden, in den Vorschlägen der EU berücksichtigt wurden, die gegenwärtig öffentlich zugänglich sind. Dies wird die Grundlage für eine gestärkte Partnerschaft zwischen der Europäischen Kommission und der europäischen Zivilgesellschaft bei der Entwicklung der künftigen EU-Handelspolitik schaffen.

1.3.

In diesem Sinne spricht der Ausschuss unter Hinweis auf seine Rolle im Institutionengefüge folgende Empfehlungen aus:

1.4.    Zusammenarbeit in Regulierungsfragen

1.4.1.

Die TTIP-Verhandlungen setzen neue Impulse für eine engere Zusammenarbeit in Regulierungsfragen mit höheren Erwartungen. Der Ausschuss begrüßt deshalb, dass die Umsetzung von Gemeinwohlzielen sowie ein hohes Schutzniveau in einer Reihe von konkreten Bereichen in das vorgeschlagene Kapitel aufgenommen wurden. Der EWSA begrüßt auch, dass ausdrücklich deutlich gemacht wird, dass Funktion und Zweck der institutionellen Struktur für die Zusammenarbeit in Regulierungsfragen darauf abzielen, den Entscheidungsträgern im Rahmen einer demokratischen Kontrolle Unterstützung und Beratung zu bieten, und dass sie weder befugt sein wird, Rechtsakte zu verabschieden, noch nationale Regelungsverfahren ersetzen soll.

1.4.2.

Der Ausschuss fordert jedoch eine klarere Definition des Begriffs „aufwendige“ Anforderungen und betont, dass Vorschriften zum Schutz von Verbraucher-, Arbeitnehmer- und Umweltrechten nicht per se als „aufwendig“ betrachtet werden dürfen.

1.4.3.

Der EWSA fordert zudem, dass mit dem Kapitel über gute Regulierungspraxis nicht das Recht der Vertragsparteien eingeschränkt wird, Vorschriften zu erlassen oder Verfahren einzuführen, die dem in den USA üblichen Verfahren der Bekanntmachung und Stellungnahme (notice and comment) gleichwertig sind.

1.4.4.

Der EWSA fordert die Kommission darüber hinaus auf, die konkrete Ausgestaltung der Einbindung der Interessenträger, vor allem der Sozialpartner und der Vertreter der Zivilgesellschaft, näher zu erläutern.

1.5.    Technische Handelshemmnisse (TBT) und gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen (SPS)

1.5.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Vorschläge zu Normung, technischen Vorschriften, Kennzeichnung und Etikettierung als wichtige offensive Interessen der Europäischen Union zu betrachten sind. Er nimmt die wichtigen Bestimmungen zur Transparenz zur Kenntnis. Allerdings fordert er,

dass die Bedenken der gemeinsamen europäischen Normeninstitution CEN-Cenelec in Bezug auf die Risiken der gegenseitigen Anerkennung freiwilliger Standards berücksichtigt werden;

dass detailliertere Arbeit im Bereich der Kennzeichnungs- und Etikettierungsvorschriften geleistet wird.

1.5.2.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass das Kapitel zu den SPS auf dem Übereinkommen der WTO über die Anwendung der Vorschriften über die Lebensmittelsicherheit sowie die Tier- und Pflanzengesundheit beruht, das das Vorsorgeprinzip umfasst. Allerdings fordert der EWSA weitere Zusagen, dass die EU-Vorschriften für Lebensmittel nicht geändert werden und dass die EU ihre Beschränkungen in Bezug auf Hormone, Wachstumsförderer sowie genetisch veränderte Organismen beibehalten wird.

1.6.    Zoll- und Handelserleichterungen

1.6.1.

Der EWSA weist auf die Bedeutung von Handelserleichterungen, insbesondere für kleine Unternehmen, hin und begrüßt das von der Kommission vorgeschlagene Kapitel. Er fordert jedoch eine weitere Vereinfachung der Zollverfahren sowie eine Präzisierung der Regeln für Strafmaßnahmen und Zuständigkeiten bei Zuwiderhandlungen gegen das Zollrecht.

1.7.    Dienstleistungen

1.7.1.

Der EWSA begrüßt die substanziellen Zusagen der EU im Kapitel über Dienstleistungen und bekräftigt seine Forderung nach besserem Marktzugang sowohl auf föderaler als auch auf bundesstaatlicher Ebene, nach einer engeren Zusammenarbeit in Regulierungsfragen (von der der Marktzugang ebenfalls abhängt) sowie nach Bewahrung der öffentlichen Dienstleistungen gemäß dem AEUV. Der EWSA bekräftigt ferner, dass audiovisuelle Dienste nicht Teil des Mandats sind und daher nicht Gegenstand von Verpflichtungen sein sollten. Der EWSA unterstützt auch die Entscheidung der Kommission, die Verhandlungen über den Zugang zum Markt für Finanzdienstleistungen auszusetzen, bis die US-Verhandlungsführer eindeutig zusagen, Gespräche über eine regulatorische Zusammenarbeit in diesem Bereich aufzunehmen, mit denen ein höherer Schutz und eine höhere Finanzstabilität in dieser Branche angestrebt wird. Der EWSA fordert auch eine explizite und ausführliche Formulierung der weit gefassten Ausnahme für öffentliche Versorgungsleistungen, damit sichergestellt ist, dass alle öffentlichen Dienstleistungen, die an externe Vertragspartner vergeben werden, bzw. alle staatlich, von privaten Organisationen mit Gewinnerzielungsabsicht oder von gemeinnützigen Organisationen finanzierten öffentlichen Dienstleistungen von der Regelung ausgenommen sind.

1.8.    Handel und nachhaltige Entwicklung

1.8.1.

Der EWSA begrüßt den weit gespannten und detaillierten Umfang des Kommissionsvorschlags zum Handel und zur nachhaltigen Entwicklung. Er verweist jedoch darauf, dass der tatsächliche Wert solcher Bestimmungen in erster Linie davon abhängt, ob sie letztlich auch wirksam durchgesetzt werden können. Der EWSA fordert ein wirksames Verfahren zur Durchsetzung und ein starkes Verfahren zur Überwachung seitens der Zivilgesellschaft. Der EWSA ist nicht in der Lage, Stellung zu den Durchsetzungsmaßnahmen für das TTIP-Kapitel zur nachhaltigen Entwicklung zu nehmen, da sich die Textvorschläge für die Durchsetzung verzögert haben. Es ist wichtig, dass sich die Kommission mit der Zivilgesellschaft und den Sozialpartnern über diese Vorschläge abstimmt, damit sie so gestaltet werden, dass das Verfahren in der Praxis wirksam ist. Der EWSA behält sich vor, sich zu diesen Elementen zu äußern, sobald sie öffentlich zugänglich gemacht werden.

1.9.    Investitionsschutz

1.9.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag für eine Reform des Investitionsschutzsystems und das Ziel der Schaffung eines ständigen Gerichts für multilaterale Investitionen anstelle privater Schiedsgerichte. Der EWSA hat jedoch weiterhin Bedenken hinsichtlich einiger in Ziffer 8.8 genannter Problempunkte, die geklärt werden müssen. Er fordert die Kommission zudem auf, eine Folgenabschätzung zu den Kosten und zur Funktionsweise der neuen Investitionsgerichtsbarkeit vorzunehmen.

2.   Hintergrund

2.1.

Seit dem Beginn der TTIP-Verhandlungen im Juni 2013 hat der EWSA mit seinen Stellungnahmen zu spezifischen Aspekten der TTIP-Verhandlungen (1), bezüglich des Anlegerschutzes und der Investor-Staat-Streitbeilegung (ISDS) (2) sowie in Bezug auf die Auswirkungen der TTIP auf KMU (3) einen wichtigen Beitrag geleistet, indem er die Positionen der organisierten Zivilgesellschaft der EU formuliert hat. In der Zwischenzeit hat die Kommission ihre wegweisende Mitteilung „Handel für alle“ (4) veröffentlicht, in der die Bedingungen für künftige Handels- und Investitionsabkommen dargelegt werden. Der EWSA hat den in der Mitteilung verfolgten Ansatz in seiner Stellungnahme (5) unterstützt. Der Ausschuss strebt außerdem in Zusammenarbeit mit den anderen EU-Institutionen danach, mittels einer Reihe von Aktivitäten im Zusammenhang mit dem TTIP-Abkommen zu einer sachkundigen Debatte über die TTIP in der Zivilgesellschaft beizutragen. Dies umfasst auch die Organisation von Anhörungen und Besuche seiner Mitglieder in den Vereinigten Staaten.

2.2.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die TTIP-Verhandlungen transparenter durchgeführt werden als Handels- und Investitionsverhandlungen in der Vergangenheit: Es sind die ersten Verhandlungen, bei denen das Mandat des Rates und die Positionen und verschiedene Textvorschläge der EU veröffentlicht wurden. Es wurde eine Beratungsgruppe aus Experten eingerichtet, die ein breites Spektrum an Interessen vertreten (Verbraucher, Gewerkschaften, Unternehmen, Umwelt und öffentliche Gesundheit), um den Verhandlungsführern der EU eine fundierte Beratung in den zur Verhandlung anstehenden Bereichen zu bieten. Der EWSA bedauert angesichts seiner Stellung im Institutionengefüge jedoch, dass er nicht förmlich in die Beratungsgruppe zu TTIP eingebunden wurde (6). Die Europäische Kommission hat für das TTIP-Abkommen eine eigene Website erstellt, auf der Informationsblätter und Lese-Empfehlungen, Positionspapiere der EU (die die allgemeine Haltung der EU zu einem Thema darlegen), Textvorschläge der EU (dies sind die ersten Vorschläge für Rechtstexte zu Themen der TTIP) sowie die Angebote der EU bezüglich des Marktzugangs für Dienstleistungen abgerufen werden können. Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Einrichtung eines Forums der Zivilgesellschaft, das sich aus Vertretern unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen zusammensetzen wird, darunter Mitglieder der internen Beratungsgruppen, um sich über die Umsetzung und Durchführung des Abkommens auszutauschen.

2.3.

Die vorliegende Stellungnahme baut auf den Erkenntnissen früherer Stellungnahmen auf, wonach die Vorteile der TTIP in gleicher Weise Unternehmen (auch KMU), Arbeitnehmern, Verbrauchern und Bürgern zugutekommen müssen und die Wahrung der bestehenden hohen Standards der EU eine Voraussetzung für die Annahme der Vereinbarung sein muss. Der EWSA hält es für wichtig, sich zu den bereits veröffentlichten Positionen der EU sowie den Textvorschlägen für eine Reihe von Kapiteln zu äußern, um zu untersuchen, inwieweit sie mit diesen Voraussetzungen übereinstimmen, und um die wichtigsten Interessen und Anliegen der europäischen Zivilgesellschaft herauszustellen. Der EWSA hat insbesondere beschlossen, sich auf die Analyse von Vorschlägen zur Zusammenarbeit in Regulierungsfragen zu konzentrieren, einschließlich der guten Regulierungspraxis (veröffentlicht am 21. März 2016), technischer Handelshemmnisse (TBT) und gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (SPS) (beide veröffentlicht im Januar 2015), Zoll- und Handelserleichterungen (veröffentlicht im Januar 2015 und geändert im März 2016), Dienstleistungen (veröffentlicht im Juli 2015), nachhaltige Entwicklung (veröffentlicht im November 2015) und Investitionen (veröffentlicht im November 2015). In dieser Stellungnahme werden die bis zum 14. Juli 2016 veröffentlichten Dokumente berücksichtigt.

2.4.

Es ist anzumerken, dass die Europäische Kommission am 14. Juli 2016 einen Vorschlag zur institutionellen Struktur des Abkommens veröffentlicht hat (7), der die Einrichtung interner Beratungsgruppen umfasst, die sich aus Vertretern der Zivilgesellschaft zusammensetzen und die Parteien bezüglich der Durchführung des Abkommens beraten sollen. Der Ausschuss begrüßt, dass das Mandat der internen Beratungsgruppen auf alle Fragen ausgeweitet wird, die im Rahmen des Abkommens von Interesse sind; er bedauert jedoch, dass die gemeinsame Sitzung der beiden internen Beratungsgruppen, die auf deren eigene Initiative einberufen werden soll, nicht ausdrücklich im Vorschlag der EU erwähnt wird und dass das Forum der Zivilgesellschaft nur durch den Gemeinsamen Ausschuss einberufen werden kann. Die Sitzungen des Forums der Zivilgesellschaft sollen es den Mitgliedern der beiden internen Beratungsgruppen ermöglichen, gemeinsame Empfehlungen an die Vertragsparteien auszuarbeiten.

2.5.

In diesem Zusammenhang bedauert der EWSA ausdrücklich, dass — wenn es dann endlich zu Verhandlungen auf der Grundlage der konsolidierten Texte kommt — das hohe Maß an Transparenz, das bislang durchgesetzt wurde, möglicherweise erheblich ausgehöhlt wird, wenn die USA nicht einwilligen, diese Texte für die Öffentlichkeit oder zumindest für die Beratungsgruppe der EU zugänglich zu machen. Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, weiterhin alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um diesen Punkt ihrem Verhandlungspartner gegenüber anzusprechen.

3.   Zusammenarbeit in Regulierungsfragen

3.1.

Die Zusammenarbeit in Regulierungsfragen ist — neben den Punkten Marktzugang und Regeln — einer der drei Grundpfeiler der TTIP und setzt sich aus vier Elementen zusammen: horizontale Aspekte (dies schließt einen Abschnitt über die „regulatorische Kohärenz“ oder „gute Regulierungspraxis“ einerseits und einen Abschnitt zur „Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden in Regulierungsfragen“ andererseits mit ein), technische Handelshemmnisse (TBT), Nahrungsmittelsicherheit sowie gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen (SPS) und sektorspezifische Anhänge. In diesem Abschnitt soll es um das erste Element — die horizontalen Aspekte — gehen, während der folgende Abschnitt TBT und SPS behandelt.

3.2.

Die Zusammenarbeit in Regulierungsfragen wurde als eines der Kernziele der TTIP herausgestellt, da sie eine wichtige Rolle bei der Förderung von Handel und Investitionen sowie bei der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit insbesondere kleiner Unternehmen spielen kann. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen erwarten, dass sich ihnen neue Möglichkeiten eröffnen, denn im Unterschied zu großen Unternehmen fehlen ihnen die Mittel, um unterschiedliche ordnungspolitische Rahmenbedingungen diesseits und jenseits des Atlantiks zu bewältigen. Zugleich würde eine größere Vereinbarkeit der Regelungssysteme auch Chancen für große Unternehmen schaffen, Skaleneffekte zwischen Europa und den USA zu nutzen.

3.3.

Die Bemühungen um eine Zusammenarbeit in Regulierungsfragen sind nicht neu (8). Die TTIP-Verhandlungen setzen neue Impulse für eine engere Zusammenarbeit in Regulierungsfragen mit höheren Erwartungen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Vorteile einer engeren Zusammenarbeit in Regulierungsfragen schwer einzuschätzen sind, vor allem da sie in Abhängigkeit von dem in den Verhandlungen vereinbarten Umfang der Zusammenarbeit unterschiedlich ausfallen werden. Laut dem Entwurf des technischen Zwischenberichts der Kommission zur Nachhaltigkeitsprüfung dürften 76 % der Auswirkungen der TTIP auf die Zusammenarbeit in Regulierungsfragen zurückzuführen sein und 24 % der Auswirkungen insgesamt auf den Abbau von Zöllen (9).

3.4.

Nach Auffassung des EWSA muss allerdings dafür gesorgt werden, dass die Zusammenarbeit in Regulierungsfragen nicht benutzt wird, um Sozial-, Arbeits-, Verbraucher- und Umweltstandards auszuhöhlen, sondern eher um sie zu verbessern. Wenn dies gegeben ist, würden nicht nur wirtschaftliche Vorteile entstehen, sondern es würde auch die Aufgabe des Gesetzgebers bei der Umsetzung von Gemeinwohlzielen erleichtert.

3.5.

Die Wahrung der hohen, in der EU geltenden Schutzniveaus war ein entscheidendes Anliegen des EWSA. Der aktuelle Vorschlag zu Artikel x1b im Kapitel über die Zusammenarbeit in Regulierungsfragen behandelt die Verfolgung von Gemeinwohlzielen und einen hohen Schutzanspruch unter anderem für die öffentliche Gesundheit, für das Leben und die Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen, für Gesundheit und Sicherheit, Arbeitsbedingungen, Tierschutz, Umwelt, Verbraucher, Sozialschutz und soziale Sicherheit, personenbezogene Daten und Cybersicherheit, kulturelle Vielfalt und finanzielle Stabilität.

3.6.

Allerdings ist der EWSA besorgt, dass dies durch Artikel x1d infrage gestellt werden könnte, in dem unter den Zielen der Abbau unnötig aufwendiger rechtlicher Anforderungen (10) genannt wird. Der EWSA fürchtet, dass eine solche Formulierung so ausgelegt werden könnte, als seien Vorschriften zum Schutz von Verbraucher-, Arbeitnehmer- und Umweltrechten per se „aufwendig“.

3.7.

Der EWSA möchte deshalb nochmals nachdrücklich bekräftigen, dass die Bewahrung der hohen geltenden Standards ein grundlegendes Erfordernis ist und dass es neben dem Ausbau der Handelsmöglichkeiten auch Ziel der Zusammenarbeit in Regulierungsfragen sein sollte, Sicherheit und Gesundheit sowie den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wohlstand der Menschen zu beiden Seiten des Atlantiks zu verbessern. In der endgültigen Fassung des Abkommens sollte diese Verpflichtung deshalb deutlich und detailliert bekräftigt werden. Der EWSA hat Bedenken hinsichtlich des EU-Vorschlags zur guten Regulierungspraxis. Die Zusammenarbeit in Regulierungsfragen sollte auf die Verbesserung des Dialogs zwischen den für die Regulierung zuständigen Institutionen abzielen, nicht auf eine gegenseitige Beeinflussung der Rechtsetzungsverfahren. Der EWSA ersucht die Europäische Kommission um Präzisierung des Abschnitts über gute Regulierungspraxis in ihrem Vorschlag.

3.8.

Insofern vertritt der EWSA die Position, dass der aktuelle Vorschlag für das Kapitel über gute gesetzgeberische Praxis, in dem es heißt, dass die Vertragsparteien aufgefordert sind, nichtrechtliche Alternativen zu prüfen, mit denen das Ziel der Rechtsetzung erreicht werden könnte (einschließlich der Möglichkeit, keine Rechtsvorschrift zu erlassen), nicht so aufgefasst werden darf, als würde das Regelungsrecht der Vertragsparteien beschnitten. Im Sinne größerer Sicherheit sollte im Text des Abkommens deutlich niedergelegt werden, dass diese Bestimmung das Regelungsrecht der Vertragsparteien nicht beschneidet. Er verweist ferner darauf, dass die in Artikel 6 des Vorschlags vorgesehene Konsultation der Interessenträger nicht als gleichwertig mit dem in den USA üblichen Verfahren der Bekanntmachung und Stellungnahme (notice and comment) zu sehen ist.

3.9.

Nach Auffassung des EWSA muss der Ausbau des Handels daher weiterhin die zentrale Zielsetzung sein. Wichtig ist, dass in den TTIP-Verhandlungen auf die Beseitigung unnötiger Handelshindernisse hingewirkt wird (11).

3.10.

Der EWSA begrüßt, dass im aktuellen Vorschlag der Kommission ausdrücklich deutlich gemacht wird, dass Funktion und Zweck der institutionellen Struktur darauf abzielen, den Entscheidungsträgern im Rahmen der demokratischen Kontrolle durch das Europäische Parlament und den Rat der EU Unterstützung und Beratung zu bieten (12). Das reguläre Rechtsetzungsverfahren darf nicht ausgehöhlt werden, und Verzögerungen oder eine Lähmung der Rechtsetzung müssen verhindert werden. Der EWSA begrüßt den Vorschlag für Artikel 1, in dem das Recht sowohl auf Regulierung als auch auf die Bestimmung des Schutzniveaus nochmals bestätigt wird. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, in dem Vorschlag die Zusammensetzung und die Verfahrensregeln der verschiedenen Ausschüsse und Gruppen festzulegen. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die Kohärenz und Konsistenz zwischen den horizontalen Kapiteln über die Zusammenarbeit in Regulierungsfragen sowie den TBT und den SPS sowie den sektorspezifischen Anhängen sicherzustellen.

3.11.

Ein Dialog am Beginn des Regulierungsverfahrens erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass politische Lösungen gefunden werden, bei denen grenzüberschreitende Belange berücksichtigt werden, und ist unabdingbar. Im Kommissionsvorschlag muss im Detail auf die Einbeziehung der Interessenträger mittels eines transparenten Verfahrens eingegangen werden, da dies ein Grundprinzip einer guten Rechtsetzung in der Europäischen Union ist. Damit die Zusammenarbeit in Regulierungsfragen umfassende Ergebnisse und Vorschläge für die Gesetzgeber mit sich bringt, ist eine strukturierte und ausgewogene Einbeziehung der Interessenträger nötig, vor allem der Unternehmen, der Verbraucher, der Umweltorganisationen und der Arbeitnehmer.

3.12.

Damit konkrete Fortschritte erzielt werden können, sind frühzeitige Konsultationen über eventuelle Rechtsetzungsaktivitäten zwischen den Gesetzgebern in der EU und den USA vorzusehen. Es wird erwartet, dass ein Austausch in einer frühen Phase des Gesetzgebungsverfahrens die Möglichkeiten für ein Erreichen von kompatiblen Regelungen in der Zukunft verbessert und dass dies alle Marktteilnehmer dazu befähigt, beiden Systemen zugleich gerecht zu werden. Allerdings sollten die für die Regulierung zuständigen Institutionen den Dialog und die Antworten auf die Bemerkungen ihrer Amtskollegen oder interessierten Parteien als fakultativ betrachten, um eine Lähmung der Regulierungstätigkeit zu vermeiden.

3.13.

Der EWSA fordert die Kommission auf, die konkrete Ausgestaltung sowohl des oben erwähnten Dialogs als auch der Einbindung repräsentativer Interessenträger, vor allem der Sozialpartner und der Vertreter der Zivilgesellschaft, näher zu erläutern. Es muss sichergestellt werden, dass alle betroffenen Interessenträger zu einem transparenten Dialog beitragen können, und zwar auf der Grundlage eines klar definierten Verfahrens, das Gleichbehandlung vorschreibt und Verzögerungen im Gesetzgebungsverfahren vermeidet. Bei der Beurteilung der Relevanz und Repräsentativität der Interessenträger sollte von EU-Seite das Transparenzregister zu Rate gezogen werden.

4.   TBT und SPS

4.1.

Der EWSA begrüßt, dass das WTO-Abkommen zu den TBT in der derzeitigen Form in den Vorschlag aufgenommen wird. In dem vorgeschlagenen Kapitel zu den TBT geht es um technische Anforderungen (technische Vorschriften und Standards) sowie um Voraussetzungen für die Konformitätsprüfung. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Vorschläge zu Normung, technischen Vorschriften, Kennzeichnung und Etikettierung als wichtige offensive Interessen der Europäischen Union zu betrachten sind. Wichtig ist, dass diese Vorschläge nicht dazu verwendet werden, Vorschriften infrage zu stellen, die für Gesundheit und Sicherheit sowie Sozialschutz notwendig sind.

4.2.

Der EWSA nimmt die wichtigen Bestimmungen zur Transparenz zur Kenntnis: Er bekräftigt, dass es verbindlich sein muss, Maßnahmen bei der Welthandelsorganisation anzukündigen, Informationen für die andere Partei bereitzustellen, schriftliche Kommentare zu ermöglichen und auf diese Kommentare zu antworten. Das Kapitel regelt auch die Veröffentlichung aller anzuwendenden, neuen oder bereits geltenden technischen Vorschriften mithilfe eines Registers sowie aller Normen, auf die in technischen Vorschriften verwiesen wird (da die große Mehrzahl der Normen zwar von der Industrie verwendet wird, die Gesetzgeber in technischen Vorschriften jedoch nicht darauf verweisen).

4.3.

Auf dem Gebiet der Normung begrüßt der EWSA die Zusammenarbeit zwischen den Normungsorganisationen sowie die Grundsätze der begrenzten gegenseitigen Anerkennung. Allerdings nimmt der EWSA die Bedenken der gemeinsamen europäischen Normeninstitution CEN-Cenelec in Bezug auf die Risiken der gegenseitigen Anerkennung freiwilliger Standards zu TTIP zur Kenntnis. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Vorschläge der EU-Normungsorganisationen zu prüfen und dafür zu sorgen, dass die Interessen der EU gewahrt werden. Wichtig ist auch die Garantie, dass alle einschlägigen Interessenträger zur Entwicklung neuer Standards beitragen können.

4.4.

Die Normungssysteme in den USA und in der EU unterscheiden sich erheblich voneinander. Insbesondere der Grundsatz „Ein Produkt, eine Norm, überall anerkannt“, der einen Grundpfeiler des EU-Binnenmarkts bildet, gilt in den Vereinigten Staaten nicht. In Europa werden bei der Verabschiedung einer neuen Norm alle entgegenstehenden nationalen Normen aufgehoben, in den USA hingegen existieren verschiedene Normen auf dem Markt nebeneinander, sodass KMU Probleme haben, zu verstehen, welche Norm auf ihre Produktlinien am besten anzuwenden ist. Zur Erhöhung der Transparenz und zur Förderung kleiner Unternehmen ist es wichtig, dass die US-Seite eine Anlaufstelle zur Unterstützung von EU-Unternehmen einrichtet, die auf den US-Markt exportieren wollen. Dabei handelt es sich nämlich oft um kleine Unternehmen mit begrenzten Mitteln, jedoch ausgeprägter Spezialisierung auf einem Nischenmarkt, die die Grundlage ihrer Wettbewerbsfähigkeit ist.

4.5.

Der EWSA bedauert, dass Schlüsselbereiche wie elektrische Sicherheit, elektromagnetische Kompatibilität, maschinelle Anlagen und Telekommunikation, wo die Europäische Union ein deutliches offensives Interesse hat, als Schwerpunktbereiche für eine künftige Prüfung ausgewiesen werden: Diese Bereiche sollten bei den betreffenden spezifischen Zielen in Bezug auf Konformitätsprüfungen, die in den Verhandlungen vereinbart werden, erscheinen.

4.6.

Der EWSA bedauert ebenfalls, dass im Abschnitt über die Kennzeichnung und Etikettierung keine Bereiche als Prioritäten für die künftige Arbeit ausgewiesen werden und dass keine Platzhalter für den Zeitrahmen einer künftigen Überarbeitung der Kennzeichnungs- und Etikettierungsvorschriften und für die Einbindung von Verhandlungsergebnissen in spezielle Sektoren vorgesehen sind.

4.7.

Das vorgeschlagene SPS-Kapitel beruht auf dem WTO-Übereinkommen über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen und bezieht sich auf den Textvorschlag der EU, der den USA für die Verhandlungsrunde vom 29. September bis 3. Oktober 2014 zur Diskussion vorgelegt und am 7. Januar 2015 öffentlich gemacht wurde.

4.8.

Das SPS-Übereinkommen der WTO über die Anwendung der Vorschriften über die Lebensmittelsicherheit sowie die Tier- und Pflanzengesundheit umfasst das Vorsorgeprinzip (Artikel 5 Absatz 7), das nun auch im Vertrag von Lissabon verankert ist. Dies darf nicht zur Verhandlung stehen und sollte deshalb nicht Teil des Abkommens sein. Der EWSA begrüßt deshalb nachdrücklich die Zusagen der EU, dass das TTIP-Abkommen die geltenden Vorschriften für Lebensmittel nicht ändern wird, dass die EU ihre Beschränkungen in Bezug auf Hormone und Wachstumsförderer in Fleisch nicht ändern wird und dass das Abkommen keine Änderung der EU-Vorschriften über genetisch veränderte Organismen mit sich bringen wird.

5.   Zoll- und Handelserleichterungen

5.1.

Da der Handel mit Gütern einen großen Teil des transatlantischen Handels ausmacht, wird jede Anstrengung zur Verbesserung der Zollverfahren erhebliche Auswirkungen auf den bilateralen Handel haben, insbesondere für kleine Unternehmen.

5.2.

Der EWSA begrüßt insbesondere die folgenden zusätzlichen Vorschläge zur Erleichterung der Zollverfahren: die Einrichtung einer einheitlichen Anlaufstelle auf beiden Seiten des Atlantiks, verbesserte Koordinierung bei internationalen Standards, die Entwicklung eines Partnerschaftsprogramms für Handelserleichterungen, Datenharmonisierung und -anpassung, die Verpflichtung zur Feststellung, welche Daten angepasst werden sollten, sowie die Erweiterung der Kompetenzen des Gemischten Ausschusses für die Zusammenarbeit im Zollwesen, sodass dieser in einer Reihe von noch zu definierenden Bereichen als „Fachausschuss für Zollfragen“ auftreten und verbindliche Vorabauskünfte erteilen kann.

5.3.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, diejenigen Teilaspekte mit besonderer Bedeutung für Unternehmen der EU, die im vorliegenden Text nicht deutlich dargestellt sind, zu präzisieren, wie zum Beispiel den Grenzwert für Kleinstmengen, die Abschaffung aller zusätzlichen Gebühren und die Frage der Strafmaßnahmen und Zuständigkeiten bei Verstößen gegen die Zollvorschriften.

6.   Dienstleistungen

6.1.

Zum Thema Dienstleistungen bietet die EU echte Zusagen in Bereichen an, die wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstum Europas sind (digitaler Bereich und Telekommunikation), die Integration globaler Wertschöpfungsketten beschleunigen (Verkehr, Kurierdienste, Unternehmensdienstleistungen sowie Dienstleistungen der freien Berufe) oder Schlüsselbranchen betreffen (Bau, Einzelhandel, Energie).

6.2.

Der EWSA begrüßt, dass mit dem EU-Vorschlag ein Rahmen zur Schaffung einer fairen, transparenten und kohärenten Regelung für die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen durch die Vertragspartner geschaffen wird und die allgemeinen Voraussetzungen für die Aushandlung von Abkommen über die gegenseitige Anerkennung festgelegt werden, die für europäische Erbringer von Dienstleistungen von entscheidender Bedeutung für einen besseren Marktzugang sind.

6.3.

Der EWSA bekräftigt drei wesentliche Aspekte im Zusammenhang mit Dienstleistungen: das Erfordernis, dass der Marktzugang sowohl auf föderaler als auch auf bundesstaatlicher Ebene verbessert wird, die Tatsache, dass der Marktzugang auch von einer besseren Zusammenarbeit in Regulierungsfragen abhängt, sowie die Forderung nach Bewahrung der Besonderheit der öffentlichen Dienstleistungen gemäß dem AEUV.

6.4.

Der EWSA betont, dass die Kommission sicherstellen sollte, dass das TTIP-Abkommen in Bezug auf Dienstleistungen über geltende Abkommen wie das GATS und das TISA hinausgeht und dass konkrete Vereinbarungen getroffen werden, um zahlreiche, in den USA bestehende diskriminierende Beschränkungen abzuschaffen.

6.5.

Nach Auffassung des EWSA sollte die Kommission insbesondere einen Punkt berücksichtigen, nämlich den ungleichen Marktzugang: US-Unternehmen können vom EU-Binnenmarkt profitieren, während EU-Unternehmen einen fragmentierten US-Markt vorfinden, da viele Branchen des Dienstleistungssektors auf Ebene der Bundesstaaten geregelt sind. Der EWSA weist darauf hin, dass die weiterhin bestehende Visapflicht für Angehörige einiger EU-Mitgliedstaaten bei Einreise in die USA bei gleichzeitiger Visafreiheit für in die EU einreisende US-Bürger eine Diskriminierung von EU-Bürgern darstellt, die den bilateralen Beziehungen abträglich ist.

6.6.

Der EWSA möchte folgende Anmerkungen zu einzelnen Branchen machen:

audiovisuelle Dienste sind nicht Teil des Mandats und sollten daher nicht Gegenstand von Verpflichtungen sein;

der Zugang zum Markt für Finanzdienstleistungen sollte ausgesetzt werden, bis die US-Verhandlungsführer eindeutig zusagen, Gespräche über eine Zusammenarbeit in Regulierungsfragen aufzunehmen. Eine solche Zusammenarbeit sollte zum Ziel haben, die Schutzniveaus und die Finanzstabilität anzuheben;

öffentliche Dienstleistungen sollten uneingeschränkt geschützt werden, da sie die geltenden hohen Standards bei der Erbringung grundlegender und sensibler Dienstleistungen für die Bürger gewährleisten. Dazu sollten klare und umfassend definierte Ausnahmen festgelegt werden.

6.7.

Zu den öffentlichen Dienstleistungen betont der EWSA in seiner Stellungnahme zum „Handel für alle“, dass der Schutz öffentlicher Dienstleistungen in Handelsabkommen „am besten durch die Verwendung einer Positivliste für den Marktzugang und die Inländerbehandlung zu bewerkstelligen ist“. Allerdings verfolgt die EU bei ihrem aktuellen Angebot zu Dienstleistungen in der TTIP einen beispiellosen „hybriden“ Ansatz bei der Aufzählung der Dienstleistungen, der zu erheblichen Unsicherheiten führen kann.

6.8.

Anhang III zum Marktzugang enthält eine Positivliste, die mit dem Wortlaut der EU-GATS-Regelung übereinstimmt: „Öffentliche Versorgungsleistungen bestehen z. B. in folgenden Sektoren: verbundene wissenschaftliche und technische Beratungsdienstleistungen, Forschungs- und Entwicklungsdienstleistungen in den Sozial- und Geisteswissenschaften, technische Prüf- und Analysedienstleistungen, Umweltdienstleistungen, Gesundheitsdienstleistungen, Verkehrsdienstleistungen und Hilfsdienstleistungen für alle Verkehrsarten. Ausschließliche Rechte für solche Dienstleistungen werden vorbehaltlich bestimmter Versorgungspflichten häufig privaten Betreibern gewährt, z. B. Betreibern mit Konzessionen öffentlicher Stellen. Da öffentliche Versorgungsleistungen häufig auch auf subzentraler Ebene bestehen, ist eine detaillierte und erschöpfende sektorspezifische Auflistung praktisch nicht möglich“ (13). Allerdings hat die Klausel für öffentliche Versorgungsleistungen, die es ermöglicht, Monopolstrukturen beizubehalten, verschiedene Mängel, einschließlich der Tatsache, dass sie keine Zwänge berücksichtigt wie wirtschaftlichen Bedarf, Tests oder Quoten. Der EWSA betont, dass die Ausnahme für öffentliche Versorgungsleistungen auf alle Erbringungsarten Anwendung finden muss.

6.9.

Der EWSA fordert eine explizite und ausführliche Formulierung der Ausnahme für öffentliche Versorgungsleistungen in Anhang III, damit sichergestellt ist, dass alle öffentlichen Dienstleistungen, die an externe Vertragspartner vergeben werden, bzw. alle staatlich, von privaten Organisationen mit Gewinnerzielungsabsicht oder von gemeinnützigen Organisationen finanzierten öffentlichen Dienstleistungen von der Regelung ausgenommen sind.

6.10.

Obwohl die Standstill- und die Ratchet-Klausel nicht für Anhang II gelten, ist der EWSA besorgt, dass die Verhandlungen dazu führen könnten, dass die gegenwärtig in diesem Anhang aufgeführten Vorbehalte der EU in Anhang I verschoben werden und damit verhindern, dass Liberalisierungen zurückgenommen werden. In diesem Zusammenhang unterstützt der EWSA die Feststellung des Gutachterberichts des niederländischen Wirtschafts- und Sozialrates, dass die Regierungen weiterhin die Möglichkeit haben müssen, bestimmte Dienstleistungen nach eigenem Ermessen zu Dienstleistungen von allgemeinem öffentlichen Interesse zu erklären (14).

6.11.

Der EWSA ist zudem besorgt, dass die staatliche Regulierung jeder Dienstleistung, die nicht entsprechend in Anhang I und Anhang II aufgeführt ist, von der US-Regierung wegen Verstoßes gegen Verpflichtungen hinsichtlich der Inländerbehandlung bzw. gegen die Meistbegünstigungsklausel im Rahmen des Verfahrens zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Staaten oder im Rahmen der Investitionsgerichtsbarkeit angefochten werden kann.

6.12.

Der EWSA bedauert, dass der Zugang zum Dienstleistungsmarkt im Vergleich zu anderen Kapiteln vernachlässigt wird, und fordert die Kommission auf, ihre Anstrengungen zur Beseitigung der noch bestehenden Hürden für den Marktzugang in den USA zu verstärken. In den Vereinigten Staaten gilt weiterhin ein vollständiges Verbot beim Seefrachtverkehr. Es gelten Obergrenzen für Beteiligungen, wie zum Beispiel 25 % bei der Luftfahrt und 20 % in der Telekommunikation, und es bestehen erhebliche Handelsschranken nichttarifärer Art, etwa für Telekommunikation und Satelliten. Es gibt eine sehr lange Liste mit Anforderungen in Bezug auf die Staatsangehörigkeit, zum Beispiel für Bankgeschäfte, Versicherungen und Buchhaltung. Für rechtliche Dienstleistungen, Buchhaltung, Ingenieurleistungen und Versicherungen gilt eine Residenzpflicht. Präsenzpflicht vor Ort besteht zum Beispiel für Rechtsdienstleistungen, Buchhaltung und Versicherungen, und es gibt Anforderungen bezüglich der Rechtsform bei Versicherungen usw.

7.   Nachhaltige Entwicklung

7.1.

Die TTIP bietet den Vertragsparteien eine Möglichkeit, Nachhaltigkeit durch Handel zu fördern und im Hinblick auf Nachhaltigkeitsziele über alle Handelsabkommen hinauszugehen, die jeder der Partner bis zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen hat. In seinen Stellungnahmen REX/390 und REX/449 (15) hat der EWSA gefordert, ein substanzielles Kapitel zum Thema Handel und nachhaltige Entwicklung als wesentlichen Bestandteil der Vereinbarung aufzunehmen, und er begrüßt daher den weit gespannten und detaillierten Umfang des Kommissionsvorschlags. Allerdings hängt der tatsächliche Wert solcher Bestimmungen nach Überzeugung des EWSA in erster Linie davon ab, ob sie letztlich auch wirksam durchgesetzt werden können.

7.2.

In der Stellungnahme REX/390 wird festgestellt, dass ein starker gemeinsamer Überwachungsmechanismus seitens der Zivilgesellschaft fester Bestandteil jedes Abkommens sein muss. Der EWSA unterstützt deshalb uneingeschränkt die Erklärung von Kommissionsmitglied Malmström, dass im Kapitel nachhaltige Entwicklung wirksame Durchsetzungsmechanismen nötig sind (16). Der EWSA unterstützt auch die Empfehlungen des Gutachterberichts des niederländischen Wirtschafts- und Sozialrates sowie des französischen Wirtschafts- und Sozialrates zur Möglichkeit der Verhängung wirksamer Sanktionen gegen die Vertragsparteien, sofern erforderlich (17).

7.3.

Der EWSA lobt die umfassenden Bemühungen der Europäischen Kommission um die Gewährleistung hoher Arbeits- und Umweltstandards. Der EWSA begrüßt, dass das Recht der Vertragsparteien, Rechtsvorschriften zu erlassen und hohe Schutzniveaus zu bestimmen, in der Präambel der Vereinbarung und in einem eigenen Artikel im Kapitel über nachhaltige Entwicklung nochmals bekräftigt wurde.

7.4.

Der EWSA hatte gefordert, dass die Verpflichtung der Vertragsparteien zur effektiven Umsetzung und Durchsetzung ihres Arbeitsrechts sowie ihre aus der Mitgliedschaft in der IAO erwachsenden Pflichten erneut bekräftigt werden. Der EWSA begrüßt daher die Aufnahme verbindlicher Bestimmungen über den Schutz der Kernarbeitsnormen im Arbeitsrecht, wie zum Beispiel die Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Tarifverhandlungen durch die Bildung von und den Beitritt zu Gewerkschaften, das Verbot von Zwangs- oder Pflichtarbeit, die wirksame Abschaffung von Kinderarbeit sowie Gleichbehandlung und Diskriminierungsverbot hinsichtlich Beschäftigungsverhältnis und Berufstätigkeit. Der EWSA begrüßt außerdem die zusätzliche Aufnahme der Verpflichtung der Vertragsparteien zur Gewährleistung von menschenwürdigen Arbeitsbedingungen sowie von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Um diese Bestimmungen zur nachhaltigen Entwicklung verbindlich zu machen, muss ein dreistufiges Konzept angewandt werden, das Regierungskonsultationen, interne Beratungsgruppen und Expertengremien unter Einbeziehung der IAO sowie ein allgemeines Streitbeilegungsverfahren des Abkommens umfasst.

7.5.

In Sachen Umweltschutz entspricht die Aufnahme einer Bestimmung über den umweltverträglichen Umgang mit Chemikalien und Abfällen beim Handel den Anliegen der Zivilgesellschaft. Der EWSA billigt daher die Aufnahme von Vorschriften in die Vereinbarung, die darauf abzielen, schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt durch Chemikalien und Abfälle zu verhindern oder zu minimieren. Ferner begrüßt der EWSA die Verpflichtung der Vertragsparteien zur nachhaltigen Bewirtschaftung von Wäldern sowie zur gegenseitigen Anerkennung der beträchtlichen negativen Auswirkungen der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten Fischerei.

7.6.

Der EWSA begrüßt, dass die Zusammenarbeit der Vertragsparteien in der Arbeits- und Umweltpolitik in Fragen, die den Handel betreffen, in den Vorschlag aufgenommen wurde. Der EWSA unterstützt die Anerkennung der Bedeutung einer Zusammenarbeit bei der Förderung angemessener Arbeitsbedingungen in globalen Lieferketten und für die Ausarbeitung von Strategien und Maßnahmen, um den Beitrag des Handels zur Ressourceneffizienz, zu einer umweltfreundlichen Wirtschaft und zur Kreislaufwirtschaft zu fördern (18).

7.7.

Das Ziel, Arbeitnehmerrechte und die Umwelt durch einen Verhaltenskodex, Standardregelungen, Kennzeichnung, Zertifizierung, Prüfung und andere, damit zusammenhängende Maßnahmen der Unternehmen zu schützen, wird vom EWSA befürwortet.

7.8.

Eine verantwortungsbewusste Unternehmenspolitik, wie zum Beispiel die soziale Verantwortung von Unternehmen, kann die Nachhaltigkeitsziele voranbringen. Der EWSA unterstützt die Aufnahme von ausdrücklichen Hinweisen auf die „Richtlinien für multinationale Unternehmen“ der OECD, auf den Globalen Pakt der UN, auf ISO 26000, auf die Dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik der IAO und auf die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der UN in das Nachhaltigkeitskapitel.

7.9.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass der Textvorschlag der EU keine Elemente mit Bezug auf die Streitbeilegung enthält, die in einer späteren Phase entwickelt werden, und behält sich vor, sich zu diesen Elemente zu äußern, sobald sie öffentlich zugänglich gemacht werden.

7.10.

Damit die Vertragsparteien ihre Verpflichtung zur Förderung des internationalen Handels auf eine Art und Weise, dass dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung Rechnung getragen wird, auch umsetzen, sollte nach Auffassung des EWSA ein Durchsetzungsverfahren auf der Grundlage des sozialen Dialogs zur Anwendung kommen. Der EWSA begrüßt die Vorschläge der Kommission zur Einrichtung interner Beratungsgruppen, die sich in ausgewogener Weise aus Vertretern zivilgesellschaftlicher Gruppen zusammensetzen, die ausgewogen die Interessen der Bereiche Wirtschaft, Arbeitnehmer, Verbraucher, Umwelt und Gesundheitswesen vertreten, und die Ansichten oder Empfehlungen zur Umsetzung der TTIP unterbreiten können (19). Die Erfahrungen mit den geltenden Abkommen zeigen, dass es für die Wirksamkeit solcher Überwachungsmechanismen wichtig ist, dass die Empfehlungen der Kontrollorgane eine Untersuchung durch EU-Institutionen auslösen und dass sie mit einem Durchsetzungsverfahren verbunden sind.

8.   Investitionen

8.1.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission einen Textvorschlag für eine Investitionsgerichtsbarkeit vorgelegt hat, der eine Reform des Verfahrens vorsieht, wonach anstelle des ISDS ein neues System geschaffen werden soll. Er besteht aus zwei Teilen, den eigentlichen Bestimmungen über den Investitionsschutz sowie Bestimmungen zur Funktionsweise des Systems zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten. Ferner umfasst es einen einleitenden Abschnitt mit Definitionen der Grundbegriffe im Bereich des Investitionsschutzes.

8.2.

Wie in der Stellungnahme REX/390 gefordert, werden detailliertere Definitionen der Begriffe „Regelungsrecht“, „indirekte Enteignung“ sowie „gerechte und gleiche Behandlung“ vorgelegt. Diese Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um ein Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Staat und Investor einzurichten. Die Präzisierungen sind im Sinne des Rechts der Vertragsparteien, das öffentliche Interesse bei der Regelung von Streitigkeiten über den Investitionsschutz zu stellen.

8.3.

Der EWSA betont, dass die Definitionen des Abkommens, insbesondere das Regelungsrecht, eindeutig formuliert sein und das Recht des Staates sicherstellen sollten, hohe Standards insbesondere beim Sozial-, Umwelt- und Verbraucherschutz beizubehalten und einzuführen, und zugleich den Investoren einen angemessenen und legitimen Schutz vor Protektionismus und Diskriminierung bieten sollten. Der EWSA begrüßt, dass zusätzlich zur Präambel ein eigenständiger Artikel in den verfügenden Teil des Abkommens aufgenommen wurde. Beim Regelungsrecht im Bereich des Sozialschutzes sollten ausdrücklich Tarifverträge erwähnt werden, einschließlich dreiseitiger und/oder generalisierter (Erga-Omnes-)Vereinbarungen, damit ausgeschlossen ist, dass sie als Verstoß gegen den Vertrauensschutz für Investoren ausgelegt werden. Regelungen in Bezug auf Arbeitsbedingungen und Löhne, die in Tarifvereinbarungen festgelegt sind, dürfen nicht als nichttarifäre Handelshemmnisse betrachtet werden.

8.4.

Der EWSA stellt jedoch fest, dass die wesentlichsten Änderungen beim Verfahren der Streitbeilegung vorgenommen wurden. Das Schiedsverfahren wurde in ein Verfahren mit einem Gericht umgewandelt, bei dem Richter, die von den Vertragsparteien von einer ständigen Liste ausgewählt werden, an die Stelle der von den Streitparteien bestellten Ad-hoc-Schiedsrichter treten. Durch diese Änderungen wird der institutionelle Charakter des Systems gefestigt. Der EWSA fordert die Vertragsparteien auf, dafür zu sorgen, dass die Investitionsgerichtsbarkeit gleich nach Ratifizierung des Abkommens richtig funktioniert und dass die Richter demokratisch legitimiert sind und auf eine Art und Weise bestellt werden, die der Gefahr einer Politisierung des Gerichts und der Gefahr von Interessenkonflikten vorbeugt.

8.5.

Der EWSA ist zufrieden, dass ein strenger Verhaltenskodex eingeführt wird, um Unparteilichkeit zu gewährleisten und Interessenkonflikten vorzubeugen. Ferner wird ein Berufungsgericht geschaffen, das die Schiedssprüche des Gerichts prüft und sich mit legitimen Einsprüchen im Zusammenhang mit dem ISDS befasst. Zudem ist die Transparenz gewährleistet, da die Regeln der UNCITRAL auf die Streitigkeiten angewandt werden.

8.6.

Der EWSA begrüßt zwar die erzielten Verbesserungen zur Reformierung des Systems, sieht jedoch noch entscheidende Problempunkte, die behoben werden müssen.

8.7.

Der EWSA stellt zudem fest, dass die Interessenträger nach wie vor jeweils unterschiedliche Bedenken im Hinblick auf die Umsetzung des neuen Systems haben. Der EWSA fordert die Kommission auf, diese Punkte im Rahmen ihrer anhaltenden Bemühungen um eine Verbesserung des Systems zur Lösung von Investitionsstreitigkeiten weiter zu berücksichtigen.

8.8.

Einige dieser Bedenken können wie folgt zusammengefasst werden:

Es muss ein ausgewogenes Verhältnis zwischen legitimen Maßnahmen staatlicher Politik und Investitionsschutzstandards in Bezug auf eine „gerechte und billige Behandlung“ und zum „Schutz vor indirekter Enteignung“ hergestellt werden, das auf klaren Definitionen beruht, die die Gefahr einer großzügigen Auslegung begrenzen.

Die Liste der legitimen Gemeinwohlziele im Zusammenhang mit dem Regelungsrecht, etwa Schutz der öffentlichen Gesundheit, Sicherheit, Umwelt oder der öffentlichen Moral, Sozial- bzw. Verbraucherschutz sowie Förderung und Schutz der kulturellen Vielfalt, ist sehr begrenzt.

Vorschriften für die Organisation und Erbringung öffentlicher Dienstleistungen sind nicht ausdrücklich ausgenommen.

Bei der Berechnung der Entschädigung für getätigte Investitionen bleiben entgangene Gewinne gänzlich unberücksichtigt.

Die Umsetzung des Grundsatzes, dass die unterlegene Partei die Kosten zu tragen hat, könnte in der Praxis Unternehmen, insbesondere KMU, davon abhalten, das System in Anspruch zu nehmen.

Es sind Hinweise auf Verpflichtungen der Investoren gemäß der Erklärung über multinationale Unternehmen der IAO, den UN-Prinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sowie den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen aufzunehmen.

Es fehlt an klaren Aussagen darüber, wie die Schiedssprüche von den inländischen Gerichten anerkannt und vollzogen werden und in welchem Verhältnis die Regelungen zum New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche bzw. zu den einschlägigen Regeln des ICSID stehen. Dies sollte klargestellt werden, da die Investoren bereits im gegenwärtigen System mit Problemen bei der Durchsetzung konfrontiert sind.

Es muss sorgfältig geprüft werden, ob die Investitionsgerichtsbarkeit mit dem Rechtsrahmen der EU vereinbar ist.

Es mangelt an echter Unabhängigkeit der Richter — nach dem neuen Vorschlag soll es in einigen Fällen nach wie vor zulässig sein, dass sie als Unternehmensjurist tätig sind.

Die Empfehlung aus dem Entwurf des technischen Zwischenberichts über die Nachhaltigkeitsprüfung im Hinblick auf das TTIP-Abkommen, dass ausgeschlossen werden sollte, dass die Investitionsgerichtsbarkeit im Zusammenhang mit öffentlichen Dienstleistungen angerufen werden kann, sollte geprüft werden (20).

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Zivilgesellschaft und die europäische Juristenschaft in die Erörterung dieser Bedenken einzubinden.

8.9.

Zudem geben einige Interessenträger zu bedenken, dass in ordnungsgemäß funktionierenden und hochentwickelten inländischen Rechtssystemen kein eigenes Schiedssystem für Investitionsstreitigkeiten nötig ist (21).

8.10.

Der EWSA ist abschließend der Auffassung, dass der Vorschlag der Kommission für die Investitionsgerichtsbarkeit ein Schritt in die richtige Richtung ist, jedoch in einigen Punkten verbessert werden muss, damit sie als unabhängiges internationales Rechtsorgan tätig werden kann. Der EWSA bedauert, dass das System vorgeschlagen wurde, ohne dass umfassende und ordnungsgemäße Konsultationen durchgeführt wurden und ohne dass seine Kosten und seine Funktionsweise bewertet wurden, und fordert die Kommission auf, eine solche Folgenabschätzung vorzunehmen.

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Siehe Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Transatlantische Handelsbeziehungen/Zusammenarbeit und Freihandelszone EU-USA“ (ABl. C 424 vom 26.11.2014, S. 9).

(2)  Siehe Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Anlegerschutz und Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat in Handels- und Investitionsabkommen der EU mit Drittländern“ (ABl. C 332 vom 8.10.2015, S. 45).

(3)  Siehe Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Die Auswirkung der TTIP auf kleine und mittlere Unternehmen“ (ABl. C 383 vom 17.11.2015, S. 34).

(4)  Mitteilung der Kommission „Handel für alle — Hin zu einer verantwortungsbewussteren Handels- und Investitionspolitik“ (COM(2015) 497 final).

(5)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum Thema „Handel für alle: Hin zu einer verantwortungsbewussteren Handels- und Investitionspolitik“ (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 123).

(6)  Ebd.

(7)  Siehe http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2016/july/tradoc_154802.pdf.

(8)  Z. B. Transatlantischer Wirtschaftsrat (TEC), gegründet 2007, Hochrangiges Forum für Zusammenarbeit, Hochrangiges Forum für Zusammenarbeit in Regulierungsfragen.

(9)  Ecorys, „Trade SIA on the Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) between the EU and the USA — Draft Interim Technical Report“, S. 18 (http://www.trade-sia.com/ttip/wp-content/uploads/sites/6/2014/02/TSIA-TTIP-draft-Interim-Technical-Report.pdf).

(10)  Geänderter Textvorschlag der EU zur Zusammenarbeit in Regulierungsfragen, veröffentlicht am 21. März 2016, http://trade.ec.europa.eu/doclib/html/154377.htm.

(11)  Sociaal-Economische Raad (SER), Gutachterbericht 16/04E zur TTIP (https://www.ser.nl/~/media/files/internet/talen/engels/2016/ttip.ashx).

(12)  Siehe Stellungnahme des französischen Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrates „Les enjeux de la négociation du projet de Partenariat transatlantique pour le commerce et l’investissement (PTCI)“

(http://www.lecese.fr/sites/default/files/pdf/Avis/2016/2016_01_projet_partenariat_transtlantique.pdf).

(13)  Angebot der Europäischen Union im Bereich Dienstleistungen und Investitionen (http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2015/july/tradoc_153670.pdf).

(14)  Siehe Fußnote 11.

(15)  Siehe Fußnote 5.

(16)  Erklärung von Kommissionsmitglied Malmström vom 17. November 2015 http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2015/november/tradoc_153968.pdf.

(17)  Siehe Fußnoten 11 und 12.

(18)  Siehe EWSA-Stellungnahme zum Thema „Menschenwürdige Arbeit in globalen Lieferketten“ (ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 17).

(19)  Siehe Fußnote 7.

(20)  Ecorys, Trade SIA on the Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) between the EU and the USA — Draft Interim Technical Report, S. 144 (http://www.trade-sia.com/ttip/wp-content/uploads/sites/6/2014/02/TSIA-TTIP-draft-Interim-Technical-Report.pdf).

(21)  Siehe Position des EGB und Vorschlag der Kommission für eine Investitionsgerichtsbarkeit in der TTIP und im CETA https://www.etuc.org/documents/etuc-position-commissions-proposal-investment-court-system-ttip-and-ceta#.V2xn19KNhHg.


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/41


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu „Nachhaltige Entwicklung: Bestandsaufnahme der internen und externen politischen Maßnahmen der EU“

(Sondierungsstellungnahme)

(2016/C 487/06)

Berichterstatter:

Ioannis VARDAKASTANIS

Mitberichterstatterin:

Jarmila DUBRAVSKÁ

Befassung

Europäische Kommission, 8.6.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

171/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Annahme der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung steht für einen historischen Paradigmenwechsel. Ausgehend von einem auf Allgemeingültigkeit und Integration basierenden Ansatz sollen die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ungleichheiten beseitigt werden. Alle Länder müssen unabhängig von ihrem Einkommensniveau die Agenda in die Praxis umsetzen. Diese einzigartige Agenda entspricht ohne Einschränkung den europäischen Werten der sozialen Gerechtigkeit, der demokratischen Governance und der sozialen Marktwirtschaft sowie des Umweltschutzes. Der EU eröffnet sich damit die großartige Chance, diese Werte zu fördern und die Agenda bereichsübergreifend umzusetzen. Der EWSA ruft die EU auf, in diesem außerordentlich schwierigen Prozess weltweit mit gutem Beispiel voranzugehen.

1.2.

Der EWSA begrüßt das Engagement der Europäischen Union für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG). Er stellt jedoch mit Besorgnis fest, dass seit der Annahme der UN-Agenda 2030 schon ein Jahr verstrichen ist, ohne dass die EU konkrete und vorausschauende Maßnahmen zur Integration der SDG in ihre politischen Strategien und Programme ergriffen und eine breit angelegte Konsultation der Zivilgesellschaft eingeleitet hätte.

1.3.

Die EU steht vor enormen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und strukturellen Herausforderungen in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft. Ungleichheiten, Arbeitslosigkeit und insbesondere Jugendarbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und Armut, geschlechtsspezifische Diskrepanzen, Diskriminierung und Marginalisierung gefährdeter Gruppen in den europäischen Gesellschaften untergraben das europäische Einigungswerk. Die Finanzkrise hat in vielen Mitgliedstaaten das Problem zusätzlich verschärft, es mutiert zu einer Menschenrechts- und Sozialkrise.

1.4.

Aus der UN-Agenda 2030 sollte ein proaktives und positives europäisches Narrativ für den Wandel geschaffen werden. Dies erfordert einen starken politischen Willen und die Entschlusskraft, eine nachhaltige Europäische Union zu gestalten, indem unsere Volkswirtschaften auf einen Entwicklungspfad hin zu Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit, Ressourceneffizienz, Klimaneutralität und Inklusion gebracht werden. Dieses zukunftsweisende Narrativ würde auch dazu beitragen, das beispiellos erschütterte Vertrauen der EU-Bürger in das Projekt Europa wiederherzustellen und vor allem die jungen Leute dafür zu gewinnen. Die EU sollte den Unionsbürgern auf diese Weise über die UN-Agenda 2030 eine neue Vision für Europa eröffnen: den Gesellschaftsvertrag des 21. Jahrhunderts.

1.5.

Der EWSA plädiert für eine übergreifende und integrierte Strategie für ein nachhaltiges Europa 2030 und darüber hinaus, die dem notwendigen langfristigen Zeithorizont gerecht wird und für die erforderliche Koordination und Kohärenz der Maßnahmen zur Umsetzung der UN-Agenda 2030 sorgt. Diese Strategie sollte auf eine interinstitutionelle Vereinbarung zwischen Europäischer Kommission, Rat und Europäischem Parlament gestützt werden, um über eine solide Grundlage für weitere politische Maßnahmen zu verfügen. Die gegenwärtigen EU-Strategien wie die Strategie Europa 2020, die mit der Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie aus 2001 eine übergreifende Vorläuferstrategie verdrängt hat, und die zehn Prioritäten von Präsident Juncker reichen nach Ansicht des EWSA nicht aus, um die Verwirklichung der SDG in der EU umfassend zu bewältigen.

1.6.

Die oben genannte übergreifende Strategie muss spezifische Zielvorgaben für die Umsetzung, Überprüfung und Überwachung der SDG, Aktionspläne mit den erforderlichen legislativen und politischen Instrumenten, Sensibilisierungsmaßnahmen — bspw. eine Eurobarometer-Umfrage über die Nachhaltigkeitsziele — und einen Plan für die Mobilisierung finanzieller Ressourcen umfassen. Der Prozess zur Entwicklung dieser Strategie sollte mit der anstehenden Mitteilung der Europäischen Kommission eingeleitet werden, wobei in der Konzeptionsphase eine breit angelegte Konsultation der Zivilgesellschaft, der Regierungen, der Parlamente sowie der lokalen Gebietskörperschaften stattfinden sollte. Der EWSA hält sich bereit, in diesem Prozess eine Mittlerfunktion zu übernehmen.

1.7.

Die von der Europäischen Kommission durchgeführte Bestandsaufnahme der internen und externen Maßnahmen der EU im Zusammenhang mit den 17 SDG ist notwendig. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, ergänzend dazu eine eingehende Bedarfsanalyse mit Blick auf die Verwirklichung der 17 SDG vorzunehmen, um auszuloten, in welchen Maßnahmenbereichen die EU vorrangig und unmittelbar tätig werden sollte.

1.8.

Der EWSA hat die folgenden strategisch wichtigen Bereiche für die Nachhaltigkeitswende ermittelt und empfiehlt der Europäischen Kommission, unter Berücksichtigung der Bemerkungen in Ziffer 4.3 dieser Stellungnahme geeignete Leitinitiativen mit transparenten Aktionsplänen und Meilensteinen aufzustellen:

ein gerechter Übergang zu einer Niedrigemissions-, Kreislauf- und kollaborativen Wirtschaft;

der Wandel hin zu einer sozial inklusiven Gesellschaft und Wirtschaft — menschenwürdige Arbeit und Menschenrechte;

der Wandel hin zu Nachhaltigkeit in Nahrungsmittelerzeugung und -verbrauch;

Investitionen in Innovation sowie langfristige Infrastrukturmodernisierung und Förderung nachhaltiger Unternehmen;

Beitrag des Handels zu einer globalen nachhaltigen Entwicklung.

1.9.

Der EWSA appelliert an die Europäische Kommission, die SDG in allen wichtigen Maßnahmenbereichen übergreifend zu berücksichtigen. Die Halbzeitüberprüfungen der Programme und Strategien mit Planungszeitraum 2014-2020 sollten dazu genutzt werden. Die künftigen MFR-Zeiträume werden eine ausgezeichnete Gelegenheit bieten, die SDG umfassend in die Ausgabenprogramme der EU zu integrieren.

1.10.

Besonders wichtig ist es, die UN-Agenda 2030 uneingeschränkt in die externen Maßnahmen der Europäischen Union zu integrieren. Die Europäische Kommission sollte wichtige Bereiche wie Handels- und Entwicklungspolitik, globale Umweltpolitik und Klimaschutz, humanitäre Hilfe, Verringerung des Katastrophenrisikos, Technologietransfer und Förderung der Menschenrechte umfassend anpassen, um die Umsetzung der UN-Agenda 2030 proaktiv voranzutreiben. Der EWSA appelliert ferner an die Europäische Kommission, die UN-Agenda 2030 uneingeschränkt in den europäischen Konsens über die Entwicklungspolitik zu integrieren, und bedauert, dass dies in der Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union nicht ausreichend berücksichtigt worden ist.

1.11.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die horizontale und vertikale politische Koordinierung im Hinblick auf eine wirksame Umsetzung der UN-Agenda 2030 zu bewerten und zu verbessern. Bessere Governance ist eine Grundvoraussetzung für nachhaltige Entwicklung. Das Europäische Semester sollte zu einem geeigneten Governance-Rahmen für die vertikale Koordinierung der SDG-Umsetzung mit den Mitgliedstaaten ausgebaut werden. Wesentliche Charakteristika einer besseren Governance sollten dem EWSA zufolge Partizipation, Transparenz, Überwachung und Überprüfung, Rechenschaftspflicht und Teilhabe der Bürger sein.

1.12.

Nach Vorbild der UN sollte Eurostat ein Set von Indikatoren und Vergleichsgrößen ausarbeiten und anwenden, um die Überprüfung, Überwachung, Rechenschaftslegung und Transparenz im SDG-Umsetzungsprozesses zu erleichtern und für die EU-Institutionen, die Mitgliedstaaten und alle Interessenträger konkrete, nach den SDG und den Zielvorgaben aufgeschlüsselte statistische Daten bereitzustellen.

1.13.

Der EWSA ist erfreut, dass unter den 22 Ländern, die dem Hochrangigen Politischen Forum für Nachhaltige Entwicklung (HLPF) der Vereinten Nationen 2016 die ersten freiwilligen Berichte über die Umsetzung der SDG vorgelegt haben, vier EU-Mitgliedstaaten waren. Er appelliert an die EU, mit gutem Beispiel voranzugehen und auf der Tagung des HLPF 2017 als erste regionale Organisation einen freiwilligen Bericht vorzulegen. Der EWSA wäre bereit, den Beitrag der Zivilgesellschaft zu organisieren.

1.14.

Die EU sollte sich bei der Umsetzung der SDG von einem Multi-Stakeholder-Ansatz leiten lassen, in dessen Rahmen alle Akteure einschließlich der Organisationen der Zivilgesellschaft nach den Grundsätzen der Partizipation, Rechenschaftspflicht und Partnerschaft einbezogen werden. Der EWSA selbst hat bereits eine spezifische Initiative zur Einrichtung eines Multi-Stakeholder-Nachhaltigkeitsforums der europäischen Zivilgesellschaft unterbreitet. Die Europäische Kommission sollte proaktiv eine Initiative für eine SDG-Charta ausloten und entwickeln, um starke Partnerschaften auf nationaler, EU- und internationaler Ebene zu fördern.

2.   Einleitung

2.1.

Im September 2015 legten sich die Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt auf den Aktionsplan „Transformation unserer Welt: die UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ fest und stellten damit Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG) zur Bekämpfung der Armut, zum Schutz des Planeten, zur Wahrung der Menschenrechte und zur Gewährleistung von Wohlstand für alle auf. Jedes dieser Ziele ist in spezifische Zielvorgaben untergliedert, die in den kommenden 15 Jahren erreicht werden sollen.

2.2.

Der EU wird eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in Europa zukommen. Die Europäische Kommission kündigte in ihrem Arbeitsprogramm für 2016 eine neue Initiative „Nächste Schritte für eine nachhaltige Zukunft Europas“ mit dem Ziel an, die SDG in die internen und externen politischen Maßnahmen der EU zu integrieren (1).

2.3.

In einem ersten Schritt führt die Europäische Kommission eine interne Bestandsaufnahme durch, um zu ermitteln, in welchen EU-Politikbereichen die Herausforderungen im Zusammenhang mit den Nachhaltigkeitszielen bereits berücksichtigt werden. Sie hat den EWSA um die vorliegende Sondierungsstellungnahme als Beitrag zu diesem Prozess ersucht. Um die breitere Debatte in der europäischen Zivilgesellschaft einzubeziehen, berücksichtigt der EWSA die Ergebnisse von zwei Konferenzen zur Umsetzung der SDG, die 2016 im EWSA stattgefunden haben, sowie von einigen anderen großen Konferenzen (2).

3.   Übertragung der SDG in eine europäische Agenda 2030: auf dem Weg zu einer Union der nachhaltigen Entwicklung

3.1.

Der EWSA begrüßt die Initiative „Nächste Schritte für eine nachhaltige Zukunft Europas“ im Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für 2016 als neues Konzept, um Wirtschaftsentwicklung und soziale und ökologische Nachhaltigkeit in Europa über das Jahr 2020 hinaus zu gewährleisten und die Nachhaltigkeitsziele in der internen und externen Politik der EU in einem integrierten Ansatz zu verwirklichen (3). Es gibt jedoch Bedenken, dass es an politischem Willen und Engagement mangeln könnte, da die Umsetzung der Agenda bislang kaum in Angriff genommen worden ist.

3.2.

Zu einer Zeit, in der das europäische Einigungswerk ins Wanken gerät und das Vertrauen vieler europäischer Bürger verliert, sollte die EU mit Hilfe der SDG ein positives Narrativ für den Wandel hin zu einem nachhaltigen Europa schaffen, indem sie die langfristige Perspektive durch konkrete kurz- und mittelfristige politische Maßnahmen ausgestaltet. Nachhaltigkeit ist ein „europäisches Markenzeichen“ (4): Die UN-Agenda 2030 reflektiert europäische Werte und das europäische Modell sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Governance. Sie bietet daher eine ausgezeichnete Gelegenheit, ein neues positives und überzeugendes Narrativ mitsamt einer Vision für die EU zu entwickeln.

3.3.

Die UN-Agenda 2030 ist von allen EU-Mitgliedstaaten und von der EU als solcher gebilligt worden. Nun muss durch ein klares politisches Engagement auf höchster politischer Ebene signalisiert werden, dass die EU diese neue Agenda als Vision und übergreifenden Rahmen für den Wandel hin zu einer Union der nachhaltigen Entwicklung begreift (5).

3.4.

Die Umsetzung der SDG geht über Entwicklung und Umweltschutz hinaus. Die SDG verkörpern die wichtigsten Problemstellungen des Wandels von Wirtschaft und Gesellschaft, auch in den hoch entwickelten Staaten. Ihre Umsetzung in der EU setzt ein neues, wirtschaftlich nachhaltigeres, sozial inklusiveres und ökologisch dauerhaft tragfähiges Entwicklungsmodell voraus, das sicherstellt, dass die Ressourcen unseres Planeten in gerechter Weise mit der wachsenden Weltbevölkerung geteilt werden. Unsere Wirtschaftsweise muss grundlegend verändert werden (6). Das neue Entwicklungskonzept sollte eine überarbeitete Definition von Wohlstand für die EU und ein neues Indikatorenset beinhalten. Die SDG sollten als Hebel angesetzt werden, um den langfristigen Wandel hin zu einer resilienten und wettbewerbsfähigen, ressourceneffizienten und inklusiven EU-Wirtschaft zu ermöglichen und zu beschleunigen.

3.5.

Die Aufstellung eines Fahrplans für die Erneuerung des Europäischen Konsenses über die Entwicklungspolitik seitens der Europäischen Kommission erweckt den Eindruck, dass sie vorhat, die neue Agenda zunächst in der Entwicklungspolitik umzusetzen. Diese Art der Prioritätensetzung widerspricht dem integrierten Ansatz der SDG, der die externen und internen Maßnahmen überspannende, bereichsübergreifende und integrierte Umsetzungsstrategien erfordert.

3.6.

Um einen Governance-Rahmen für die Umsetzung der SDG aufzustellen, muss die EU ihren Planungshorizont weit über 2020 hinaus ausdehnen. Eine für die Zeit bis 2030 und darüber hinaus angelegte übergreifende und langfristige Strategie für ein nachhaltiges Europa (7) sollte die SDG in interne und externe politische Maßnahmen der EU umsetzen, spezifische europäische Problemstellungen berücksichtigen und transparente Fahrpläne und Aktionspläne für legislative und politische Initiativen sowie einen detaillierten Zeitplan bis 2030 umfassen. Das Europäische Parlament hat sich ebenfalls für einen solchen Ansatz ausgesprochen (8).

4.   Eine Bestandsaufnahme der internen und externen politischen Maßnahmen der EU

4.1.    Die Bestandsaufnahme muss mit einer Bedarfsanalyse verknüpft werden

4.1.1.

Zur Festlegung einer politischen Strategie und eines Fahrplans der EU zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele ist mehr nötig als eine bloße Bestandsaufnahme der bestehenden politischen Maßnahmen. Die Zuordnung bestehender EU-Maßnahmen zu den einzelnen Nachhaltigkeitszielen lässt keine Einschätzung zu, ob die Ziele ohne weiteres in der EU verwirklicht werden können. Die bestehenden Maßnahmen könnten ineffizient sein, durch andere Maßnahmen untergraben oder auf andere Weise behindert werden. Deshalb muss die Bestandsaufnahme der Maßnahmen mit einer Bedarfsanalyse einhergehen, in der die praktischen Lücken in der EU-Politik hinsichtlich der 17 Nachhaltigkeitsziele und der damit verbundenen Zielvorgaben, die in der UN-Agenda 2030 festgelegt sind, aufgezeigt werden.

4.1.2.

In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA die unter Federführung des früheren Generaldirektors der GD Umwelt, Karl Falkenberg, erarbeiteten Strategic Notes „Sustainability Now!“, die den sich aus der UN-Agenda 2030 für die EU ergebenden Reformbedarf an Beispiel einiger weniger Politikfelder schon dezidiert beschreiben.

4.1.3.

Es gibt noch keine umfassende, SDG-orientierte Bedarfsanalyse für die EU. Indes geht aus der Veröffentlichung „SDG Index & Dashboards“ und weiteren, in den EU-Mitgliedstaaten durchgeführten Bewertungen hervor, dass die Umsetzung der SDG auch für die Länder mit hohem Einkommen ein ehrgeiziges Unterfangen ist (9), vor allem aufgrund der Art und Weise, wie sie Güter und Dienstleistungen produzieren, liefern und verbrauchen, und der dadurch verursachten Umweltauswirkungen. Die größten Herausforderungen für die EU-Mitgliedstaaten stellen sich in Verbindung mit SDG 12 Verantwortungsvolle Konsum- und Produktionsmuster, SDG 13 Bekämpfung des Klimawandels, SDG 14 und SDG 15 Schutz der Ökosysteme, den Zielvorgaben zu nachhaltiger Landwirtschaft und Ernährung unter SDG 2 sowie SDG 9 Industrialisierung, Innovation und Infrastruktur, wo es Investitionslücken gibt.

4.1.4.

Weitere Herausforderungen stellen die auf Menschen ausgerichteten SDG, insbesondere SDG 10 Ungleichheiten verringern, SDG 8 produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit und SDG 1 Armut beenden sowie SDG 5 Geschlechtergleichstellung erreichen und SDG 4 Bildung.

4.1.5.

Viele OECD-Länder verfehlen die Zielvorgabe unter SDG 17 betreffend ihren finanziellen Beitrag zur Entwicklungszusammenarbeit.

4.1.6.

Die SDG auf der universell gültigen Agenda heben ferner darauf ab, die verheerenden sozialen und ökologischen Auswirkungen des wirtschaftlichen Handelns der Länder mit hohem Einkommen in Entwicklungsländern zu verringern. Dieser bisher kaum bewertete Aspekt ist ein Prüfstein für die EU-Mitgliedstaaten.

4.2.    Der Beitrag der gegenwärtigen europäischen Strategien zur Umsetzung der SDG

4.2.1.

Der EWSA ist der Ansicht, dass eine Bestandsaufnahme der Maßnahmen der EU bei den politischen Instrumenten ansetzen sollte, die für die Gestaltung und Durchführung der politischen Maßnahmen der EU von strategischer Bedeutung sind. Erste Bewertungen deuten darauf hin, dass diese Instrumente nicht der Herausforderung der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in der EU gewachsen sind (10). Keine dieser Strategien ist auf den Zeithorizont der UN-Agenda 2030 ausgelegt.

4.2.2.

Die Strategie Europa 2020 wurde unter Barroso zur übergeordneten Strategie der EU erklärt und löste damit die Nachhaltigkeitsstrategie ab. Sie spricht zwar grundsätzlich die drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung an, ist aber eine eher kurzfristige Strategie mit klarem europäischem Fokus. Sie bezieht weder die internationale Perspektive mit ein, noch beschreibt sie die Auswirkungen interner politischer Maßnahmen der EU auf andere Teile der Welt und externe Maßnahmen wie Entwicklungszusammenarbeit. Sie konnte deshalb niemals den Anspruch erfüllen, ein Ersatz für die frühere Nachhaltigkeitsstrategie zu sein. Zwei Nachhaltigkeitsziele werden gar nicht berücksichtigt: SDG 2 Ernährung und Landwirtschaft und SDG 16 Institutionen; anderen wird nur teilweise Rechnung getragen, bspw. SDG 6 Wasser und SDG 11 Städte.

4.2.3.

In den zehn Prioritäten von Kommissionspräsident Juncker werden zwei Nachhaltigkeitsziele — SDG 14 Meere und SDG 15 Biologische Vielfalt — überhaupt nicht und andere, wie SDG 4 Bildung, SDG 6 Wasser, SDG 11 Städte und SDG 12 Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster nur begrenzt berücksichtigt.

4.2.4.

Der Bericht der fünf Präsidenten behandelt ein weniger umfassendes Prioritätenspektrum und konzentriert sich auf wirtschaftliche, finanzielle, währungspolitische, fiskalpolitische und an fünfter Stelle Governance-Anliegen. In dem Bericht wird einige Male auf Aspekte der SDG wie Energie, Beschäftigung und Soziales sowie Gesundheitssysteme verwiesen.

4.2.5.

Im Rahmen des Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) wurden Projekte in Bereichen vorgelegt, die sich bestimmten Herausforderungen in Verbindung mit der Umsetzung der SDG zuordnen lassen: Energie (40 %), Umwelt und Ressourceneffizienz (12 %), Soziale Infrastrukturen (3 %) (11).

4.2.6.

In den Investitionsprioritäten („thematischen Zielen“) der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESIF) werden mehrere SDG nicht ausreichend berücksichtigt, insbesondere SDG 3 Gesundheit, SDG 5 Geschlechtergleichstellung, SDG 10 Ungleichheit und SDG 11 Städte.

4.2.7.

Die neue globale Strategie der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik bietet einen übergeordneten Mechanismus für die Berücksichtigung der UN-Agenda 2030 in Bereichen wie Handel, Entwicklung, Demokratie, Menschenrechte, humanitäre Hilfe, Verringerung des Katastrophenrisikos, Technologietransfer und Klimaschutz. In der Strategie werden die SDG, die auf die Sicherung von Wohlstand für alle ausgerichtet sind, zumindest teilweise berücksichtigt. Ferner heißt es darin, dass die SDG das künftige Cotonou-Nachfolgeabkommen prägen werden und Treiber für die Überarbeitung des europäischen Konsenses über die Entwicklungspolitik sind.

4.3.    Wichtige Bereiche des Wandels

4.3.1.

Auf der Grundlage einer Analyse der realen Lücken und der Entwicklungstendenzen in den Bemühungen der EU zur Verwirklichung der Ziele und Zielvorgaben sollte die Europäische Kommission die für den notwendigen Wandel strategisch wichtigen Bereiche ermitteln. In diesen entscheidenden Bereichen sollten Maßnahmen in Form von Leitinitiativen ergriffen werden, die transparente Aktionspläne und Meilensteine beinhalten. U. a. auf Grundlage seiner bisherigen einschlägigen Arbeiten erachtet der EWSA vor allem nachstehende Maßnahmenbereiche als wesentlich.

Ein gerechter Übergang zu einer Niedrigemissions-, Kreislauf- und kollaborativen Wirtschaft

(SDG 7, 8, 9, 11, 12 und 13)

4.3.2.1.

Ein vorrangiges Ziel der SDG ist es, dass die Entwicklungspfade innerhalb der Belastungsgrenzen unseres Planeten verlaufen, und zwar in Bezug auf die Klimafolgen, den Ressourcenverbrauch, die Luft- und Wasserqualität sowie die Auswirkungen auf Land- und Meeresökosysteme und die biologische Vielfalt. Hochentwickelte Regionen wie Europa müssen deshalb den ökologischen Fußabdruck ihrer Wirtschaft grundlegend verringern, indem sie in Produktion, Verbrauch und Gesellschaft einen Wandel hin zu einer Niedrigemissions- und Kreislaufwirtschaft vollziehen. Der notwendige Wandel bietet der EU die Chance, ihre Wirtschaft zu modernisieren, dadurch ihre Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz zu steigern, und die Lebensqualität wie auch das Wohlergehen ihrer Bürger zu verbessern.

4.3.2.2.

Mit dem 7. Umweltaktionsprogramm, der Klima- und Energiestrategie für 2030 und dem Kreislaufwirtschafts-Aktionsplan wurden Fahrpläne aufgestellt. Indes muss der Fortschritt in der Praxis beschleunigt werden (12). Es ist notwendig, die Kohärenz mit anderen politischen Bereichen zu verstärken und die Umsetzungslücken in zahlreichen Mitgliedstaaten in Angriff zu nehmen, indem der Wandel hin zu einer Niedrigemissions- und Kreislaufwirtschaft zum Bestandteil des Europäischen Semesters gemacht wird (13). Um die Wirksamkeit des 7. UAP und des Kreislaufwirtschaftsaktionsplans zu gewährleisten, sind starke Umsetzungsmechanismen und eine aktive Koordination mit anderen Politikbereichen innerhalb der Europäischen Kommission erforderlich (14). Fortschritte setzen einen verbesserten Dialog und Bündnisse mit der Zivilgesellschaft sowie Unternehmen und Gewerkschaften voraus. Über aktive Beschäftigungsmaßnahmen muss für einen gerechten Wandel gesorgt werden (15). Klimapolitik muss auf Klimagerechtigkeit gründen, d. h., in Verbindung mit den Auswirkungen des Klimawandels auf Menschenrechte, Armut und Gleichstellung muss dafür gesorgt werden, dass eine gerechte Nutzen- und Lastenverteilung entsteht und die Bürde nicht auf die am stärksten benachteiligten Gruppen abgewälzt wird.

4.3.2.3.

Es ist sicherzustellen, dass die Märkte den wirtschaftlichen Wandel unterstützen und die Preise die echten externen Kosten des Klimagasausstoßes und des Verbrauchs natürlicher Ressourcen widerspiegeln (16). Die bestehenden Verpflichtungen zur Abschaffung umweltschädlicher Subventionen müssen in die Praxis umgesetzt und eine ökologische Steuerreform konsequent vorangetrieben werden. Neue Marktstrukturen für dezentral erzeugte saubere Energie mit Verbrauchern, die gleichzeitig Erzeuger sind, müssen ausgebaut werden. In vergleichbarer Weise erleichtert eine dezentrale Sharing Economy den Verbrauchern die Umstellung auf eine Kreislaufwirtschaft. Die in der Entwicklung begriffene kollaborative Wirtschaft geht mit einem neuen Verständnis des Arbeitsbegriffs einher und erschließt ein großes Beschäftigungspotenzial. Die Rechte der Verbraucher und Arbeitnehmer sowie der faire Wettbewerb in diesem neuen Sektor müssen gesichert werden (17).

Der Wandel hin zu einer sozial inklusiven Gesellschaft und Wirtschaft — menschenwürdige Arbeit und Menschenrechte

(SDG 1, 3, 4, 5, 8 und 10)

4.3.3.1.

Die zentralen Anliegen der SDG sind, die Armut zu beenden und sicherzustellen, dass alle Menschen ihr Potenzial in Würde und unter gleichberechtigten Bedingungen ausschöpfen können. Darin spiegeln die SDG die europäischen Wertvorstellungen wider und werden dem europäischen Gesellschaftsmodell gerecht. Jedoch hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich in Europa in den letzten Jahrzehnten verbreitert, und haben acht Jahre Rezession und Finanzkrise, Sparmaßnahmen und in einigen Gebieten fehlende Strukturreformen noch weiter zum Anstieg von Arbeitslosigkeit und Armutsquote, zur Ausweitung von Ungleichheiten und zur Beeinträchtigung des Sozialschutzes beigetragen, was vor allem zu Lasten der schwächsten Gruppen geht.

4.3.3.2.

Zur Verwirklichung der SDG muss die EU einen wirtschaftlichen Paradigmenwechsel hin zu einem inklusiveren Entwicklungsmodell vollziehen, das eine gerechtere Umverteilung des vorhandenen Wohlstands ermöglicht und auch die wirtschaftliche und finanzielle Resilienz verstärkt (18). Um die Beschäftigung und die Wirtschaftsentwicklung in der EU zu fördern, muss die EU ein günstiges Investitionsklima schaffen und gleichzeitig einen reibungslos funktionierenden Binnenmarkt, internationale Wettbewerbsfähigkeit und eine stärkere Binnennachfrage sicherstellen.

4.3.3.3.

Die SDG sollten ein Grund sein, die Ziele der Strategie Europa 2020 in den Bereichen Armutsbekämpfung, Beschäftigung und Bildung zu bekräftigen und ihre effiziente Umsetzung zu überdenken. Wichtige soziale Zielsetzungen wie menschenwürdige Arbeit, Beseitigung der Armut, Verringerung von Ungleichheit und Sozialinvestitionen müssen im Rahmen des Europäischen Semesters makroökonomischen Belangen gleichgestellt werden (19). In dem ersten Vorschlag der Europäischen Kommission zu der europäischen Säule sozialer Rechte wurde auf die SDG überhaupt kein Bezug genommen. Bei der weiteren Ausarbeitung der europäischen Säule sozialer Rechte sollten die SDG einbezogen werden. Der EWSA erarbeitet derzeit eine einschlägige Stellungnahme, in der er seinen Standpunkt hierzu darlegen wird.

4.3.3.4.

Die EU sollte ihre Bemühungen systematischer und auf kohärentere Weise darauf ausrichten, gesellschaftliche Ausgrenzung, Marginalisierung und Armut zu bekämpfen, insbesondere gefährdete Gruppen zu schützen und sich dabei auf die Menschenrechte und die Geschlechtergleichstellung zu berufen. Der Vorschlag für eine Richtlinie zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung muss angenommen werden (20).

4.3.3.5.

Neben Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsalterung müssen die Sozialleistungssysteme auch an neue Herausforderungen angepasst werden, insbesondere in Verbindung mit neuen Beschäftigungsformen, die zwar neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen, aber zu prekären Arbeitsverhältnissen und Erwerbstätigenarmut führen können. Das Beschäftigungspotenzial wichtiger wirtschaftlicher Wandlungsprozesse wie der Umstellung auf die Digital-, Niedrigemissions- und Kreislaufwirtschaft muss zum Tragen gebracht werden (21). Beschäftigungsstandards und ein europäisches Mindesteinkommen werden zur Festigung des territorialen und sozialen Zusammenhalts sowie zur gerechten Verteilung von Ressourcen und Einkommen beitragen (22), wobei den Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten und der EU in diesen Belangen Rechnung zu tragen ist. Das enorme Beschäftigungspotenzial von Sozialinvestitionen sollte durch öffentliche und private Akteure mobilisiert werden (23). Im Einklang mit dem Grundsatz „Leaving no one behind (LNOB)“ (niemand soll zurückgelassen werden) muss in gute und inklusive Bildung sowie in hochwertige, erschwingliche und integrierte Dienste zur Unterstützung schutzbedürftiger Menschen investiert werden.

4.3.3.6.

Sozialunternehmen fördern die Arbeitsmarktintegration und liefern erschwingliche Produkte und Dienste mit gesellschaftlichem Mehrwert, beispielsweise Dienste in einer dezentralen Niedrigemissions- und Kreislaufwirtschaft. Sie sollten durch Anreize für sozialwirtschaftliche Start-ups und ein geeignetes Regelungsumfeld unterstützt werden (24).

Der Wandel hin zu Nachhaltigkeit in Nahrungsmittelerzeugung und -verbrauch

(SDG 2, 12 und 15)

4.3.4.1.

Nahrungsmittel — bzw. die Art und Weise, wie sie angebaut, erzeugt, verbraucht, gehandelt, transportiert, gelagert und vermarktet werden — sind eine grundlegende Schnittstelle zwischen den Menschen und dem Planeten und dem Entwicklungspfad hin zu einem inklusiven und nachhaltigen Wirtschaftswachstum (25). Die SDG, insbesondere SDG 2 und 12, bieten einen wichtigen Rahmen für ein gemeinsames Handeln im Hinblick auf eine nachhaltige Welternährung bis 2030. Ein Übergang zu nachhaltigeren Nahrungsmittelsystemen in sämtlichen Phasen von der Erzeugung bis zum Verbrauch ist dringend erforderlich. Die Erzeuger müssen unter Verringerung der Umweltauswirkungen mehr Nahrungsmittel anbauen, während die Verbraucher zu einer Umorientierung hin zu hochwertiger und gesunder Ernährung mit einem kleineren CO2-Fußabdruck veranlasst werden müssen.

4.3.4.2.

Mit der Reform der GAP wurde eine Kombination von Maßnahmen eingeführt, die als ein Schritt in die richtige Richtung betrachtet werden können (26). Die Umstellung auf nachhaltige Nahrungsmittelsysteme erfordert eine umfassende Ernährungspolitik im Zusammenspiel mit einer breitangelegten Bioökonomie-Strategie, nicht allein eine Agrarpolitik. Ausgehend von der Erkenntnis der zwischen Nahrungsmittelerzeugung und -konsum bestehenden Wechselbeziehung muss ein geeigneter europäischer Politikansatz entwickelt werden, der den Weg zu Nachhaltigkeit, Gesundheit und Widerstandsfähigkeit aufzeigt (27).

4.3.4.3.

Dabei muss z. B. die Frage beantwortet werden, die im „Falkenberg Bericht“ gestellt wurde, ob z. B. die Exportorientierung der europäischen Landwirtschaft kompatibel mit dem Ziel ist, die Nahrungsmittelerzeugung in den Entwicklungsländern zu stärken.

4.3.4.4.

Der EU wird bei der Umsetzung von Teilziel 12.3 (Halbierung der Nahrungsmittelabfälle pro Kopf) eine Vorreiterrolle zukommen. Ca. 800 Mio. Menschen weltweit leiden Hunger. Gleichzeitig liegen Zahlen vor, dass ein Drittel der für den menschlichen Verzehr erzeugten Nahrungsmittel weltweit verloren geht oder verschwendet wird, allein in der EU 100 Mio. t (28). Der EWSA begrüßt die Absicht der Europäischen Kommission, eine Plattform der Interessenträger zu schaffen, um zur Konzipierung der erforderlichen Maßnahmen beizutragen und bewährte Verfahren zur Vermeidung und Verringerung von Lebensmittelverschwendung auszutauschen (29).

Investitionen in Innovation sowie langfristige Infrastrukturmodernisierung und Förderung nachhaltiger Unternehmen

(SDG 7, 8, 9 und 13)

4.3.5.1.

Die Umstellung der Wirtschaft auf mehr Nachhaltigkeit erfordert eine maßgebliche Verlagerung von Investitionen. Schätzungen zufolge würden für die weltweite Verwirklichung der SDG sowohl öffentliche als auch private Investitionen im Umfang von rund 3 Billionen USD (30) benötigt. Für die Mobilisierung finanzieller Ressourcen auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten muss ein umfassender Plan aufgestellt werden. Die verschiedenen Finanzierungsprogramme und -initiativen der EU müssen integriert werden.

4.3.5.2.

Die EU muss öffentliche Investitionen in Entwicklungsländern wirksamer auf eine integrierte nachhaltige Entwicklung ausrichten und bei der Aufwendung öffentlicher Mittel für Entwicklungsvorhaben SDG-Indikatoren berücksichtigen. Vor allem aber muss sie verstärkt privatwirtschaftliche Investitionen in diesen Bereichen mobilisieren.

4.3.5.3.

Aber auch innerhalb der EU erfordert die Verwirklichung der SDG umfangreiche Investitionen in Infrastrukturmodernisierung und nachhaltige Unternehmen. Eine erste Bestandsaufnahme der Umsetzung der SDG in der EU zeigt erhebliche Investitionslücken in Industrie, Innovation und Infrastruktur auf (31).

4.3.5.4.

Nachhaltigkeit ist in jedem Fall von Interesse für die Unternehmen. Um das damit verbundene Potenzial umfassend zum Tragen zu bringen, sollte die EU ein für Innovation, Unternehmergeist und nachhaltige Investitionen günstiges Unternehmensumfeld schaffen. Einige Unternehmen befinden sich bereits im Umstellungsprozess, entscheidend ist jedoch die Weiterentwicklung und Nachahmung erfolgreicher Nachhaltigkeitserfahrungen von Unternehmen. Auf Freiwilligkeit beruhende Ansätze wie die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen (CSR) können dem Wandel förderlich sein. Sie müssen durch unterstützende Maßnahmen wie bspw. die Verbesserung der Transparenz, die Entwicklung von Kompetenzen, die Förderung von Partnerschaften und Leitlinien für die Berichterstattung ergänzt werden. Die Europäische Kommission sollte bewerten, ob Multi-Stakeholder-Bündnisse mit dem Privatsektor auf EU-Ebene sinnvoll wären.

4.3.5.5.

Die EU-Finanzierungsprogramme müssen auf die SDG ausgerichtet werden. Initiativen wie dem Juncker-Plan wie auch Finanzinstitutionen und öffentlichen Investitionsbanken kommt eine wichtige Funktion zu. Die Herausforderung besteht in der Umverteilung von Kapital. Die Kapitalmarktunion eröffnet eine Gelegenheit zur Förderung nachhaltiger Investitionen (32). Die Halbzeitüberprüfung des MFR bietet Gelegenheit zur bereichsübergreifenden Integration der SDG in die großen EU-Fonds. Langfristige Investitionen müssen gefördert und Hemmnisse beseitigt werden (33).

Beitrag des Handels zu einer globalen nachhaltigen Entwicklung

(SDG 12 und 17)

4.3.6.1.

In einer globalisierten Wirtschaft hat der Handel einen entscheidenden Einfluss auf die nachhaltige Entwicklung innerhalb der EU und weltweit. Deshalb wird er im Rahmen zahlreicher SDG als wichtiges Mittel zur Umsetzung der UN-Agenda 2030 eingestuft. In ihrer Mitteilung „Handel für alle“ hat die Europäische Kommission einen ehrgeizigen Aktionsplan zur Förderung einer verantwortungsbewussteren Handels- und Investitionspolitik unter Berücksichtigung von Sozial- und Umweltschutznormen und zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung aufgestellt (34). Die Umsetzung der SDG muss systematisch und wirksam mit diesem Aktionsplan verknüpft werden, und die Ergebnisse müssen überwacht werden.

4.3.6.2.

In alle Handels- und Investitionsabkommen der EU sollten ehrgeizige Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung aufgenommen und praktisch um- und durchgesetzt werden. Die Dimension der nachhaltigen Entwicklung innerhalb des WTO-Rahmens muss gestärkt werden (35). Am besten lassen sich Sozial-, Arbeits- und Umweltnormen in Freihandelsabkommen sicherstellen, indem für eine wesentlich umfangreichere Einbeziehung der Zivilgesellschaft während des gesamten Verhandlungs-, Durchführungs- und Überwachungsprozesses gesorgt wird (36).

4.3.6.3.

Die Europäische Kommission sollte eine Strategie zur Förderung von menschenwürdiger Arbeit in globalen Lieferketten annehmen (37). Multi-Stakeholder-Initiativen für die Gewährleistung der Sorgfaltspflicht in globalen Lieferketten müssen unterstützt werden.

4.4.    Bessere Governance für eine nachhaltige Entwicklung

4.4.1.

Zur Unterstützung von Maßnahmen in wichtigen Politikbereichen muss die EU die horizontale und vertikale politische Koordinierung im Hinblick auf eine wirksame Umsetzung der UN-Agenda 2030 bewerten und verbessern. Bessere Governance ist eine Grundvoraussetzung für nachhaltige Entwicklung (38), und bessere Koordinierung ein maßgeblicher Ansatz für die Gewährleistung von Politikkohärenz.

4.4.2.

Die EU muss die Kohärenz ihrer Maßnahmen verbessern und sie konsequent auf eine ausgewogene nachhaltige Entwicklung ausrichten. Das derzeitige Verfahren „Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung“ zur Integration entwicklungspolitischer Belange in andere Politikbereiche sollte überprüft, gestärkt und im Hinblick auf eine „Politikkohärenz im Interesse der nachhaltigen Entwicklung“ neu durchdacht sowie mit anderen Maßnahmen für horizontale Koordinierung verknüpft werden.

4.4.3.

Die Europäische Kommission sollte auch ausloten, wie die Instrumente für eine bessere Rechtsetzung für die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele eingesetzt werden können. Die Leitlinien für die Folgenabschätzung sollten entsprechend überarbeitet werden (Aufnahme eines Nachhaltigkeitskriteriums in die Folgenabschätzung von neuen Rechtsvorschriften).

4.4.4.

Im Hinblick auf die Berücksichtigung der SDG in allen wichtigen Maßnahmenbereichen sollte die Europäische Kommission bei der Überprüfung der EU-Rechtsvorschriften sowie ihrer Politikgestaltung von den Leitprinzipien der UN-Agenda 2030 und insbesondere einem menschenrechtsorientierten Ansatz sowie dem Grundsatz „Leaving no one behind (LNOB)“ (niemand soll zurückgelassen werden) ausgehen.

4.4.5.

Die EU muss auf der Grundlage der globalen Nachhaltigkeitsindikatoren und geeigneter ergänzender europäischer Indikatoren ein System für die Überwachung und Überprüfung der SDG errichten, das mit den Überwachungsmaßnahmen in den EU-Mitgliedstaaten und der globalen Überwachung auf Ebene des hochrangigen politischen Forums für nachhaltige Entwicklung koordiniert wird.

4.4.6.

SDG-Indikatoren sollten auch in die bestehenden Verfahren zur Überwachung und Bewertung von Maßnahmen aufgenommen werden. Dies gilt insbesondere für das Europäische Semester als zentrales Governance-Instrument der EU, das an die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele angepasst werden muss.

4.4.7.

Die verstärkte Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsindikatoren bei der Zuweisung der Haushaltsmittel durch den Gesetzgeber würde maßgeblich zur nachhaltigen Entwicklung beitragen. Die Konditionalitätskriterien im Rahmen der europäischen Struktur- und Investitionsfonds sollten an die Umsetzung der SDG angepasst werden.

4.4.8.

Die Initiative des europäischen Nachhaltigkeitsnetzwerks ESDN (European Sustainable Development Network), eine Plattform der Mitgliedstaaten für gegenseitiges Lernen zu errichten, ist unterstützenswert.

4.4.9.

Die EU sollte die Initiative ergreifen und als erste regionale Organisation auf der Tagung des Hochrangigen Politischen Forums für Nachhaltige Entwicklung (HLPF) 2017 einen freiwilligen Bericht vorlegen. Zudem sollte die EU darlegen, wie sie durch ihre internen und externen politischen Maßnahmen zur Umsetzung der SDG in den jährlichen thematischen Schwerpunktbereichen des HLFP beiträgt (39). Die Zivilgesellschaft sollte über das europäische Nachhaltigkeitsforum umfassend in die Ausarbeitung und Präsentation des freiwilligen Berichts und der thematischen Berichte einbezogen werden.

5.   Die Zivilgesellschaft als treibende Kraft

5.1.

Die UN-Agenda 2030 erfordert die Umstellung auf einen Multi-Stakeholder-Ansatz, bei dem der Zivilgesellschaft eine größere Rolle zukommt. Voraussetzung für die Umsetzung der SDG ist eine aktive und eigenverantwortliche Rolle der Zivilgesellschaft und der anderen Interessenträger. Die Zivilgesellschaft muss auf allen Ebenen — von der lokalen und regionalen über die nationale und EU-Ebene bis hin zur Ebene des hochrangigen politischen Forums für nachhaltige Entwicklung — und in allen Phasen bis hin zur Umsetzung eingebunden werden.

5.2.

Für die EU und ihre Mitgliedstaaten schlägt der EWSA die Errichtung eines europäischen Forums für nachhaltige Entwicklung zur Einbeziehung eines breiten Spektrums zivilgesellschaftlicher Organisationen und Interessenträger in die Umsetzung der SDG sowie ihre laufende Überwachung und Überprüfung in der EU vor (40). Eine erste Aufgabe dieses Forums sollte es sein, den zivilgesellschaftlichen Dialog zu moderieren, an dessen Ende eine übergreifende Strategie für die Umsetzung der SDG stehen soll.

5.3.

Die Europäische Kommission sollte ein spezifisches Programm mit einer eigenen Förderlinie zur Unterstützung des Kapazitätsaufbaus der zivilgesellschaftlichen Organisationen im Hinblick auf ihre umfassende Teilnahme an diesem Prozess auflegen. Die bestehenden Programme für Kapazitätsaufbau müssen verstärkt für zivilgesellschaftliche Organisationen geöffnet werden, die sich mit inländischen Belangen befassen und eine Brückenfunktion zwischen der internen und externen Dimension, bei der Integration der Nachhaltigkeitsziele und bei Governance-Fragen haben.

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  COM(2015) 610 final.

(2)  Vom niederländischen Ratsvorsitz gemeinsam mit EWSA, der Nachhaltigkeitsinitiative Sustainable Development Solutions Network (SDSN) und SDG Charter NL am 30./31. Mai 2016 organisierte Konferenz „How to make SDGs Europe's business“; vom EWSA am 7. Juli 2016 organisierte Konferenz „Next steps for a sustainable European future“; von IDDRI am 10./11. Mai 2016 in Paris veranstaltete Konferenz „Sustainable development: it’s time!“; vom IASS vom 1. bis 3. Mai 2016 organisierte Konferenz „Jump-starting the SDGs in Germany“.

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ein Nachhaltigkeitsforum der europäischen Zivilgesellschaft“, (ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 73).

(4)  Sustainability now! EPSC Strategic Notes, Ausgabe 18, 20. Juli 2016.

(5)  Ebenda.

(6)  Rede von Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans auf dem Gipfel der Vereinten Nationen am 27. September 2015.

(7)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Bestandsaufnahme der Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“, Ziffer 4.3.3 (ABl. C 12 vom 15.1.2015, S. 105); EWSA-Stellungnahme zum Thema „Ein Nachhaltigkeitsforum der europäischen Zivilgesellschaft“ (ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 73).

(8)  Entschließung des Europäischen Parlaments 2016/2696(RSP).

(9)  Bertelsmann Stiftung and Sustainable Development Solutions Network (SDSN) (Hrsg.), SDG Index & Dashboards, Juli 2016; Niestroy, How are we getting ready? Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, Discussion paper 9/16.

(10)  Grundlage der Bewertung in den Ziffern 4.2.2 bis 4.2.7 siehe Niestroy (2016), S. 38; Europäische Kommission, Generaldirektion Forschung und Innovation, Bericht der Expertengruppe „Follow-up to Rio+20, notably the SDGs“ über „The Role of Science, Technology and Innovation Policies to Foster the Implementation of the Sustainable Development Goals (SDGs)“, 2015.

(11)  COM(2016) 359 final.

(12)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Das Paris-Protokoll — Ein Blueprint zur Bekämpfung des globalen Klimawandels nach 2020“ (ABl. C 383 vom 17.11.2015, S. 74); EWSA-Stellungnahme zum Thema „Marktwirtschaftliche Instrumente“ (ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 1).

(13)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Marktwirtschaftliche Instrumente“ (ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 1).

(14)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Kreislaufwirtschaft“ (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 98).

(15)  Stellungnahme des EWSA vom 14. Juli 2016 zur Schaffung eines Bündnisses zur Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens von Paris (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(16)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Marktwirtschaftliche Instrumente“ (ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 1); EWSA-Stellungnahme zum Thema „Umgestaltung des Energiemarkts“ (ABl. C 82 vom 3.3.2016, S. 13); EWSA-Stellungnahme zum Thema „Verbesserte Möglichkeiten für die Energieverbraucher“ (ABl. C 82 vom 3.3.2016, S. 22).

(17)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Gemeinschaftlicher oder partizipativer Konsum: ein Nachhaltigkeitsmodell für das 21. Jahrhundert“ (ABl. C 177 vom 11.6.2014, S. 1); EWSA-Stellungnahme zum Thema „Sharing Economy und Selbstregulierung“ (ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 36).

(18)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Auswirkungen von Sozialinvestitionen auf die Beschäftigung und die öffentlichen Haushalte“ (ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21); EWSA-Stellungnahme zum Thema „Grundsätze wirksamer und verlässlicher Sozialleistungssysteme“ (ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 40).

(19)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Auswirkungen von Sozialinvestitionen auf die Beschäftigung und die öffentlichen Haushalte“ (ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21); EWSA-Stellungnahme zum Thema „Bekämpfung der Armut“ (ABl. C 133 vom 14.4.2016, S. 9).

(20)  COM(2008) 426 final.

(21)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Grüner Aktionsplan für KMU und Initiative für grüne Beschäftigung“ (ABl. C 230 vom 14.7.2015, S. 99); EWSA-Stellungnahme zum Thema „Digitale Gesellschaft: Zugang, allgemeine und berufliche Bildung, Beschäftigung, Instrumente für die Förderung der Gleichbehandlung“ (ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 25); EWSA-Stellungnahme zum Thema „Für eine florierende datengesteuerte Wirtschaft“ (ABl. C 242 vom 23.7.2015, S. 61).

(22)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Europäisches Mindesteinkommen und Armutsindikatoren“ (ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 23).

(23)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Auswirkungen von Sozialinvestitionen auf die Beschäftigung und die öffentlichen Haushalte“ (ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21).

(24)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Schaffung eines Finanzökosystems für Sozialunternehmen“ (ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 152).

(25)  FAO and the 17 Sustainable Development Goals: http://www.fao.org/3/a-i4997e.pdf.

(26)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Nachhaltigere Lebensmittelsysteme“ (ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 64).

(27)  Ebenda.

(28)  FUSIONS (2016). Estimates of European food waste levels; http://www.eu-fusions.org/phocadownload/Publications/Estimates%20of%20European%20food%20waste%20levels.pdf.

(29)  Siehe Fußnote 26.

(30)  IDDRI, 2015 Issue Brief: http://www.iddri.org/Publications/Three-commitments-governments-should-take-on-to-make-Sustainable-Development-Goals-the-drivers-of-a-major-transformation.

(31)  Niestroy (2016), S. 28.

(32)  UNEP Inquiry, Building a sustainable Financial System in the European Union, S. 5: http://web.unep.org/inquiry.

(33)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft“ (ABl. C 327 vom 12.11.2013, S. 11).

(34)  COM(2015) 497 final.

(35)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Handel, Wachstum und Entwicklung“ (ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 77); EWSA-Stellungnahme zum Thema „Entwicklungsfinanzierung — der Standpunkt der Zivilgesellschaft“ (ABl. C 383 vom 17.11 2015, S. 49).

(36)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Handel für alle“ (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 123).

(37)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Menschenwürdige Arbeit in globalen Lieferketten“ (ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 17).

(38)  „Ultimately, It’s All About Governance“, Rede von Kommissionsmitglied Frans Timmermans am 27. September 2015 anlässlich des UN-Gipfels für nachhaltige Entwicklung.

(39)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Die Agenda 2030 — eine den globalen Nachhaltigkeitszielen verpflichtete Europäische Union“ (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(40)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ein Nachhaltigkeitsforum der europäischen Zivilgesellschaft“ (ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 73).


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/51


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Zukunftsfähige Rechtsetzung“

(Sondierungsstellungnahme)

(2016/C 487/07)

Berichterstatter:

Christian MOOS

Mitberichterstatter:

Denis MEYNENT

Befassung

Slowakischer Ratsvorsitz, 14.3.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständig

Unterausschuss „Zukunftsfähige Rechtsetzung“

Annahme im Unterausschuss

7.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung am

21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

213/2/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der slowakische Ratsvorsitz hat den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) um eine Stellungnahme zum Thema „Zukunftsfähige Rechtsetzung“ ersucht. Dieses neue Konzept steht im Einklang mit anderen an die Kommission und die Mitgesetzgeber gerichteten spezifischen Forderungen, um eine bessere Übereinstimmung der Gesetzgebung — insbesondere mit der Wettbewerbsfähigkeit der EU und der Berücksichtigung der Besonderheiten von KMU und Mikrounternehmen — zu erzielen. Der EWSA hat sich bereits mehrfach zu diesen Aspekten geäußert.

1.2.

Der EWSA stellt fest, dass es Bemühungen gibt, die Qualität der europäischen Rechtsvorschriften zu verbessern, und dass es diese zu intensivieren gilt.

1.3.

Der EWSA verweist darauf, dass hochwertige, einfache, verständliche und kohärente Rechtsvorschriften „ein wesentlicher Integrationsfaktor [sind … und] keine Belastung oder zu verringernde Kosten“ darstellen, da sie für ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum und die Förderung von Innovation und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen — auch von KMU — und für die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze unabdingbar sind.

1.4.

Der „Innovationsgrundsatz“ — wie er in Kapitel 2 definiert wird — reiht sich in die Bemühungen im Rahmen des REFIT-Programms ein. Der EWSA erinnert an die definierten Grundsätze des Programms „Bessere Rechtsetzung“, die bereits Anwendung finden, und er betont, dass diese Grundsätze durch den neuen Grundsatz nicht in den Hintergrund gedrängt werden dürfen. Letzterer muss intelligent und mit Umsicht angewandt werden, insbesondere in den Bereichen Sozial- und Umweltschutz, Gesundheit und Verbraucherschutz.

1.5.

Der EWSA schlägt vor, das Potenzial des Innovationsgrundsatzes weiter zu ergründen, u. a. durch einen Austausch bewährter Verfahren.

1.6.

Innovation ist eine der notwendigen Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum in Europa. Hierfür bedarf es eines für Innovation günstigen Rechtsrahmens, auch wenn es keine einfache Wechselwirkung zwischen Innovation und Rechtsrahmen gibt. Daher ist es notwendig, nicht nur entsprechende Rechtsvorschriften, sondern auch weitere Maßnahmen zur Förderung und Entwicklung von Innovation zu ergreifen (verwaltungstechnische Maßnahmen, steuerliche und finanzielle Vorteile usw.).

1.7.

Ziel der EU-Rechtsvorschriften muss es stets sein, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, in dem Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger von den Vorteilen des Binnenmarkts profitieren können, und dabei unnötige Verwaltungslasten zu vermeiden. Die europäische Rechtsetzung ist zukunftsfähig, wenn sie zielführend und vorausschauend ist. Der EWSA spricht sich für eine anpassungsfähige Rechtsetzung aus. Eine zukunftsfähige Rechtsetzung muss nach Ansicht des EWSA auf der Gemeinschaftsmethode beruhen.

1.8.

Unnötige Regulierungskosten sind zu vermeiden. Die Regulierungskosten müssen in einem angemessenen Verhältnis zum entstehenden Nutzen stehen.

1.9.

Der EWSA ist überzeugt, dass jede Rechtsvorschrift das Ergebnis öffentlicher politischer Beratungen sein muss. In diesem Zusammenhang kommt der Rolle der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner eine große Bedeutung zu, da es einen angemessenen Rahmen für den sozialen und zivilen Dialog geben muss, wo die geäußerten Standpunkte gebührend berücksichtigt werden.

1.10.

Der EWSA stellt fest, dass nicht nur der Inhalt der Rechtsvorschriften, sondern auch das Rechtsetzungsverfahren an sich zukunftsfähig sein sollte, um den Bedürfnissen der Unternehmen und der Bürger gerecht zu werden.

1.11.

Eine zukunftsfähige Rechtsetzung muss im Hinblick auf ihre Zielsetzung solide sein, stets im Einklang mit den in den Verträgen festgelegten Zielen stehen und im Hinblick auf ihre Umsetzung in nationales Recht flexibel sein. Sie sollte nicht ins Detail gehen, sondern nur einen Rahmen abstecken, der rechtzeitig und ordnungsgemäß auf nationaler Ebene umgesetzt werden muss, was die Konsultation der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft und die Berücksichtigung ihrer Standpunkte einschließt. Der Einsatz von Aufhebungsklauseln („sunset clauses“) sollte weiter geprüft werden.

1.12.

Der EWSA spricht sich für eine Klarstellung des Subsidiaritätsprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aus, die bisweilen von den Gegnern von Rechtsetzungsinitiativen ohne fundierte Begründung ins Feld geführt werden.

1.13.

Die Zivilgesellschaft muss der Resonanzkörper einer zukunftsfähigen Rechtsetzung sein. Der EWSA ist gut positioniert, um als Mittler zwischen dem Gesetzgeber und der organisierten Zivilgesellschaft und den Sozialpartnern fungieren zu können.

1.14.

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der Folgenabschätzungen auf nationaler und europäischer Ebene, einschließlich des KMU-Tests, und zwar für jede legislative oder sonstige Initiative, damit die politischen Entscheidungen in Kenntnis der Sachlage und auf der Grundlage konkreter Elemente getroffen werden. Die Folgenabschätzungen sind eine Hilfe für die politische Entscheidungsfindung, ersetzen diese jedoch nicht.

1.15.

Der EWSA verlangt, konsultiert zu werden, wenn die Kommission, das Parlament und der Rat sich auf die Rücknahme von Legislativvorschlägen einigen, denn ist es wichtig, die materiellen und immateriellen Folgen derartiger Rücknahmen einzuschätzen.

1.16.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Rat transparenter werden muss und dass bei einer künftigen Reform der Verträge eine größere Kohärenz zwischen den Beschlüssen des Rates angestrebt werden sollte. Die Rechte des Parlaments müssen gestärkt werden.

1.17.

Der EWSA hält es für erforderlich, vermehrt auf eine verstärkte Zusammenarbeit zurückzugreifen, wobei es zu vermeiden gilt, dass die Organe der EU dadurch geschwächt werden.

1.18.

Der EWSA fordert seine Beteiligung an den Konsultationen, die eine Vertiefung der WWU begleiten müssen. Das Europäische Parlament, aber auch die beratenden Einrichtungen müssen besser in den Zyklus des Europäischen Semesters eingebunden werden.

1.19.

Der EWSA befürwortet ein beschleunigtes Rechtsetzungsverfahren im Rahmen des Trilogs nur in eilbedürftigen Fällen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der slowakische Ratsvorsitz hat den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ersucht, eine Stellungnahme zum Thema „Zukunftsfähige Rechtsetzung“ vorzulegen und Überlegungen darüber anzustellen, wie die EU die Rechtsetzung so verbessern kann, dass sie sich in einer sich schnell verändernden Welt den Bedürfnissen der Wirtschaft und der Gesellschaft anpasst. Der Ratsvorsitz wirft die Frage auf, wie die Regulierungskosten für die Unternehmen auf ein vernünftiges Maß begrenzt werden können, ohne dabei die Ziele der Verträge zu vernachlässigen.

2.2.

Die europäische Rechtsetzung ist zukunftsfähig, wenn sie zielführend und vorausschauend ist und ein Höchstmaß an Klarheit und Rechtssicherheit bietet. Der EWSA spricht sich deshalb für eine Rechtsetzung aus, mit der Anpassungen und zugleich vorausschauendes Handeln möglich sind.

2.3.

Rechtsvorschriften sind u. a. notwendig, um die politischen Ziele der Verträge zu erreichen. Die Europäische Union ist eine soziale Marktwirtschaft und bestimmte Vorschriften sind daher mit Kosten für die Unternehmen verbunden, z. B. im Bereich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz. Diese Ausgewogenheit zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen ist der Garant des sozialen Friedens in Europa. Im Rahmen einer zukunftsfähigen Rechtsetzung müssen diese Ausgewogenheit gewahrt und der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten gefördert werden.

2.4.

Der EWSA begrüßt und betont zwar die Notwendigkeit einer Stärkung der Legitimität der europäischen Gesetzgebung durch eine bessere Rechtsetzung, aber er legt Wert darauf, dass das Verständnis von Zukunftsfähigkeit nicht zu einer Entpolitisierung des Rechtsetzungsverfahrens führt. Er ist überzeugt, dass jede Rechtsvorschrift das Ergebnis politischer Beratungen sein muss. Die bedeutende Rolle der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner im sozialen Dialog muss dabei berücksichtigt werden.

2.5.

Die europäische Rechtsetzung ist zukunftsfähig, wenn sie von den Bürgerinnen und Bürgern als legitim angesehen wird. Sie muss auf Repräsentation, Konsens und Mitwirkung beruhen und so gestaltet sein, dass Ergebnisse und Lösungen für gemeinsame Probleme geliefert werden.

2.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der europäische Rechtsetzungsprozess im Rahmen des Vertrags von Lissabon und ggf. im Rahmen eines neuen Vertrags überarbeitet werden sollte, damit die politischen Maßnahmen der EU bessere Ergebnisse zeitigen. Es ist genau dieser Aspekt einer zukunftsfähigen Rechtsetzung, den der EWSA hervorheben möchte, d. h. ihre Qualität, Legitimität und Transparenz sowie ihre Eigenschaft, alle Akteure einzubeziehen.

2.7.

Der EWSA stellt fest, dass nicht nur der Inhalt der Rechtsvorschriften, sondern auch das Rechtsetzungsverfahren an sich zukunftsfähig sein sollte, um den Bedürfnissen der Unternehmen und der Bürger gerecht zu werden. Mit anderen Worten: Hier stellt sich die Frage der Demokratie auf europäischer Ebene.

2.8.

Der politische Wille und die Entscheidungen der gewählten Mandatsträger sind daher die wichtigsten Determinanten. Jede Rechtsetzung kann anhand ihrer Eignung zur Umsetzung dieses politischen Willens in die Praxis und auf ihre demokratische Qualität beurteilt werden. Der EWSA schlägt daher vor, nicht nur den Inhalt der Rechtsvorschriften, sondern auch den Rechtsetzungsprozess zu prüfen.

2.9.

Dieser neue Ansatz der zukunftsfähigen Rechtsetzung steht in Verbindung mit anderen Initiativen zur Verbesserung der Rechtsvorschriften. Der EWSA hat sich in seinen Stellungnahmen (1) wiederholt zum Programm „Bessere Rechtsetzung“ und zum Programm REFIT (2) geäußert. Er verweist insbesondere auf seine Stellungnahme zu einem proaktiven Rechtsansatz (3).

2.10.

Die Umsetzung des Programms „Bessere Rechtsetzung“ und des 2012 von der Europäischen Kommission ins Leben gerufenen Programms REFIT zur quantitativen Einschätzung und ggf. Beseitigung des mit bestehenden Rechtsvorschriften einhergehenden Verwaltungsaufwands ist im Zeitraum Januar 2016 bis Juni 2017 eine wesentliche Priorität des Dreiervorsitzes (Niederlande, Slowakei und Malta). Es liegt auf der Hand, dass die Idee einer zukunftsfähigen Rechtsetzung im Zusammenhang mit diesen Programmen zu sehen ist.

2.11.

Der EWSA stellt fest, dass es Bemühungen gibt, die Qualität der europäischen Rechtsvorschriften zu verbessern, und betont die Notwendigkeit, diese zu intensivieren. Der EWSA hat die Mitteilung der Kommission vom 19. Mai 2015 (4) und die interinstitutionelle Vereinbarung „Bessere Rechtsetzung“ vom 13. April 2016 (5) zur Kenntnis genommen, musste allerdings feststellen, dass er bei der Ausarbeitung der Vereinbarung nicht hinzugezogen worden war.

2.12.

Der EWSA ist der Auffassung, dass hochwertige, einfache, verständliche und kohärente Rechtsvorschriften, die durch Kommission, Parlament und Rat zu garantieren sind, eine unabdingbare Voraussetzung sind für ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum und die Förderung von Innovation und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen — auch von KMU und Kleinstunternehmen — und für die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze. Wichtig ist zudem, dass der Small Business Act („Vorfahrt für KMU“) auf allen Ebenen voll umfänglich umgesetzt wird.

2.13.

Die europäischen Rechtsvorschriften „sind ein wesentlicher Integrationsfaktor, der keine Belastung oder zu verringernde Kosten darstellt. Wenn die Rechtsvorschriften verhältnismäßig sind, dann sind sie vielmehr ein Garant des Schutzes, der Förderung und der Rechtssicherheit, die für sämtliche Akteure und europäische Bürger wichtig sind“ (6).

2.14.

Der EWSA verweist auf die Bedeutung der bereits definierten Grundsätze im Hinblick auf angemessene Rechtsvorschriften. Dazu gehören insbesondere die Grundsätze der korrekten und zeitlich nahen Umsetzung, das Subsidiaritätsprinzip und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Vorsorgeprinzip, die Grundsätze der Vorhersehbarkeit und der „Vorfahrt für KMU“, die externe Dimension der Wettbewerbsfähigkeit und der Binnenmarkttest.

2.15.

Ein neuer Aspekt der Rechtsetzung wird für den Rat derzeit offenbar immer wichtiger: das Innovationsprinzip. Dieses Prinzip, dem zufolge bei der Ausarbeitung und Überprüfung von Rechtsvorschriften deren Auswirkungen auf Forschung und Innovation zu berücksichtigen sind, ist eines von zahlreichen Kriterien für die Beurteilung eines Legislativvorschlags der Kommission in den Bereichen Technik, Technologie und Wissenschaft. Es sollte jedoch insbesondere in den Bereichen Sozialschutz, Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz intelligent und mit Umsicht angewandt werden.

2.16.

Aus den Schlussfolgerungen des Rates „Wettbewerbsfähigkeit“ geht hervor: Der „Innovationsgrundsatz [sollte] zum Tragen kommen […], sodass in allen Politikbereichen im Zuge der Entwicklung und Überarbeitung der Rechtsvorschriften die Auswirkungen auf Forschung und Innovation berücksichtigt werden“ (7). Dies spiegelt sich nicht zuletzt im Ersuchen des slowakischen Ratsvorsitzes und in einer neueren Studie des Zentrums CEPS (8) wider, wonach die Festlegung zu strikter Vorschriften Investitionen gefährden und die Innovation behindern könnte. Diese Überlegungen stehen auch im Einklang mit der Logik des REFIT-Programms.

2.17.

Nach Ansicht des EWSA sollte vorab genau definiert und festgelegt werden, wie dieser neue Grundsatz zur Anwendung zu bringen ist.

2.18.

Nach Auffassung des EWSA sollte der Innovationsgrundsatz dasselbe Gewicht haben wie die anderen, unter Ziffer 2.14 genannten Kriterien, die die Kommission für die Bewertung der Auswirkungen eines Legislativvorschlags heranzieht. Es sollte daher ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Innovationsgrundsatz und den übrigen Kriterien geschaffen und dafür gesorgt werden, dass diese durch den neuen Grundsatz nicht in den Hintergrund gedrängt werden.

2.19.

Der EWSA schlägt dem slowakischen Ratsvorsitz vor, das Potenzial des Innovationsgrundsatzes weiter zu ergründen, u. a. durch einen Austausch bewährter Verfahren. Nach Ansicht des EWSA sollte die Kommission auf dieser Grundlage in der Lage sein, eine Bilanz der Möglichkeiten und Auswirkungen dieses neuen Grundsatzes zu ziehen.

2.20.

Ziel der EU-Rechtsvorschriften muss es stets sein, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, in dem Unternehmen und Bürger von den Vorteilen des Binnenmarkts und seiner Grundfreiheiten profitieren können, d. h., die innovativen Kräfte in Europa zu fördern. Dies bedeutet, dass unnötige Verwaltungslasten vermieden und schlechte, veraltete und belastende Vorschriften überarbeitet oder aufgehoben werden müssen.

2.21.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kosten von Rechtsvorschriften in einem angemessenen Verhältnis zum entstehenden Nutzen stehen müssen. Unnötige Kosten und Gebühren sind im Interesse der Unternehmen, Bürger und der die Rechtsvorschriften anwendenden Behörden zu vermeiden. Entscheidend ist, dass der Nettonutzen und Mehrwert einer Rechtsvorschrift größer sind als die dadurch verursachten Kosten für die Unternehmen und die Gesellschaft insgesamt.

3.   Vorschläge für eine zukunftsfähige Rechtsetzung

3.1.

Der EWSA drängt auf eine klarere Definition des Begriffs „zukunftsfähige Rechtsetzung“. Diese muss mit den Werten und Zielen der Europäischen Union gemäß den Artikeln 1 und 2 des Vertrags von Lissabon stärker im Einklang stehen. Daher muss der Innovationsgrundsatz, der eine Priorität des slowakischen Vorsitzes (9) bildet und damit in unmittelbarem Zusammenhang mit dem neuen Konzept der zukunftsfähigen Rechtsetzung steht, verantwortungsvoll angewandt werden.

3.2.

Innovation ist eine der Grundvoraussetzungen für ein dauerhaftes Wachstum in Europa. Beim Erlass der Rechtsvorschriften (gleich, ob auf europäischer oder nationaler Ebene) sollten unnötige Belastungen für die Unternehmen vermieden werden, insbesondere für KMU, die über wenig Ressourcen verfügen. Innovation und Wettbewerbsfähigkeit sind die Grundlage des Erfolgs der sozialen Marktwirtschaft in Europa. Innovation benötigt einen hochwertigen Rechtsrahmen. Die Wechselwirkung zwischen Rechtsvorschriften und Innovation ist komplex und nicht ausschließlich quantitativ im Sinne von mehr oder weniger Rechtsvorschriften zu bemessen (10).

3.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Einsatz von Aufhebungsklauseln („sunset clauses“) in EU-Rechtsvorschriften zur Vermeidung künftiger bürokratischer Hindernisse weiter geprüft werden sollte.

3.4.

Eine zukunftsfähige Rechtsetzung muss stets im Hinblick auf ihre Zielsetzung solide sein, mit den Zielen der Verträge übereinstimmen sowie im Hinblick auf ihre Umsetzung in nationales Recht flexibel sein, wobei die vorstehend genannten Grundsätze zu berücksichtigen sind. Sie sollte nicht ins Detail gehen, sondern nur einen Rahmen abstecken, der gegebenenfalls durch Instrumente außerhalb der Gesetzgebung ergänzt wird, sei es durch die nationalen Regulierungsbehörden, die Sozialpartner oder mittels Selbstregulierung, wobei Letztere stets der Kontrolle des Gesetzgebers auf geeigneter Ebene unterliegen muss.

3.5.

Der EWSA spricht sich für eine Klarstellung des Subsidiaritätsprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aus. Die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips oder vielmehr die Verteilung der Zuständigkeiten ist für das ordnungsgemäße Funktionieren der EU als gemeinsamer Rechtsraum von größter Bedeutung. Allerdings werden diese beiden Grundsätze bisweilen von den Gegnern einzelner Rechtsetzungsinitiativen ohne fundierte Begründung ins Feld geführt. Es sollte klargestellt werden, welche Kriterien für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gelten. Der Rechtsraum der Europäischen Union muss ein einheitliches und unteilbares Ganzes sein.

3.6.

Der EWSA hält es für erforderlich, zunächst das Rechtsetzungsverfahren auf europäischer Ebene im Hinblick auf die Verbesserung der Qualität der Rechtsvorschriften zu überprüfen. Zahlreiche Initiativen sind auf die Verbesserung des Rechtsetzungsprozesses gerichtet, aber bei den an diesem Prozess Beteiligten herrscht Uneinigkeit über die Mittel und Wege dazu. Der EWSA verweist auf die Leitlinien der Kommission in dem Programm „Bessere Rechtsetzung“ (19. Mai 2015) und die interinstitutionelle Vereinbarung (Dezember 2015, April 2016), den Bericht Brok-Bresso (Februar 2016), den Bericht Hübner (März 2016), den Bericht Giegold (Ende Mai 2016) und insbesondere den Small Business Act (Februar 2011). Ferner verweist er auf die Vorschläge der Regierungen und der Parlamente der Mitgliedstaaten sowie auf Initiativen z. B. der Europäischen Bewegung International (EMI) und der Union Europäischer Föderalisten (UEF) sowie auf die Beiträge von Forschungseinrichtungen und Denkfabriken.

3.7.

Der organisierten Zivilgesellschaft kommt für die Meinungsbildung der europäischen Öffentlichkeit eine entscheidende Bedeutung zu. Europa braucht eine weniger fragmentierte Öffentlichkeit als Resonanzkörper für eine zukunftsfähige Rechtsetzung. Als Vertretung der organisierten Zivilgesellschaft in Europa bringt der EWSA die richtigen Voraussetzungen mit, um den Konsens zwischen den verschiedenen Akteuren der Zivilgesellschaft auf allen Ebenen, auch in den Mitgliedstaaten, zu erleichtern. Genauer gesagt ist er ein wichtiger Mittler zwischen dem Gesetzgeber auf der einen und der organisierten Zivilgesellschaft und den Sozialpartnern auf der anderen Seite.

3.8.

Der EWSA erkennt die Bedeutung von Gesetzesfolgenabschätzungen an, insbesondere für KMU. Diese müssen in der Rechtsetzung Berücksichtigung finden, dürfen den politischen Prozess aber nicht ersetzen.

3.9.

Die Vereinfachung von Gesetzen, die schwer zu verstehen oder sogar anzuwenden sind, bzw. die Aufhebung überflüssig gewordener Vorschriften können den Bürgern und der Wirtschaft Nutzen bringen und somit zu günstigen Rahmenbedingungen für Wachstum und die Schaffung mehr hochwertiger Arbeitsplätze beitragen. Der EWSA möchte jedoch konsultiert werden, wenn die Kommission, das Parlament und der Rat sich auf die Rücknahme von Legislativvorschlägen einigen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die materiellen und immateriellen Folgen derartiger Rücknahmen einzuschätzen und den EWSA darüber zu informieren.

3.10.

Mit dem Vertrag von Lissabon war eine Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments und der Gemeinschaftsmethode beabsichtigt. Im Zuge der Krise wurde der Europäische Rat zum Dreh- und Angelpunkt des institutionellen Systems der EU. Der EWSA vertritt die Ansicht, dass diese Fehlentwicklung korrigiert werden muss. Eine zukunftsfähige Rechtsetzung muss auf der Gemeinschaftsmethode beruhen.

3.11.

Die Tagungen der Ratsformationen, in denen mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird, sollten im Interesse von mehr Transparenz und Demokratie öffentlich sein. Die Abstimmung nach dem Verfahren der qualifizierten Mehrheit sollte für Ratsentscheidungen die Regel sein. Der EWSA ist auch der Auffassung, dass bei einer künftigen Reform der Verträge eine bessere Kohärenz zwischen den Beschlüssen der einzelnen Ratsformationen angestrebt werden sollte, da Letztere zum Teil widersprüchliche Strategien verfolgen, was die Qualität der Rechtsetzung eindeutig beeinträchtigt.

3.12.

Die Ausweitung der Rechte des Europäischen Parlaments ist zwar in den Verträgen vorgesehen, hat aber konkret noch nicht stattgefunden und muss so bald wie möglich verwirklicht werden. So sollte das beschränkte Initiativrecht, das durch den Vertrag von Lissabon (Artikel 225 AEUV) eingeführt wurde, nach Maßgabe dieses Vertrags verstärkt angewandt werden. Eine Ablehnung durch die Kommission sollte nur aus formellen Gründen möglich sein, insbesondere wenn die Zuständigkeit nicht ausreicht.

3.13.

Unterschiedliche Geschwindigkeiten bei der europäischen Integration sind schon lange eine Realität in der EU, und diese Unterschiede sind angesichts der Zahl der Mitgliedstaaten auch in Zukunft unvermeidlich. In diesem Zusammenhang hält es der EWSA für erforderlich, vermehrt auf eine verstärkte Zusammenarbeit zurückzugreifen. Gleichzeitig gilt es zu vermeiden, dass die Organe der EU durch eine „variable Geometrie“ der europäischen Integration geschwächt werden. Die verstärkte Zusammenarbeit sollte auf der Grundlage der qualifizierten Mehrheit durchgeführt werden.

3.14.

Der EWSA unterstützt die Forderung des Europäischen Parlaments nach einer Umgestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) in eine „wirksame und demokratische Wirtschaftsregierung“; der EWSA fordert erneut seine Beteiligung an entsprechenden Konsultationen, die eine Vertiefung der WWU in diese Richtung begleiten müssen, wenn die Zivilgesellschaft eingebunden werden soll.

3.15.

Der EWSA ist der Auffassung, dass das beschleunigte Rechtsetzungsverfahren im Rahmen des Trilogs nur in eilbedürftigen Fällen angewandt werden sollte, wie es im Übrigen auch im Vertrag steht. Im Gegensatz zu den Ausschüssen des Europäischen Parlaments sind die Sitzungen im Rahmen des Trilogs weder transparent noch zugänglich. Die Beschränkung des Gesetzgebungsverfahrens auf eine einzige Lesung führt zu einer Einschränkung der Beteiligung der Zivilgesellschaft.

3.16.

Der EWSA vertritt die Ansicht, dass die im Zuge der Finanz- und Eurokrise eingeführten Instrumente und Verfahren besser in den Rechtsrahmen der EU integriert werden müssen. Das Europäische Parlament, aber auch die Einrichtungen der EU, wie der Europäische Ausschuss der Regionen (AdR) und der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, müssen besser in den Zyklus des Europäischen Semesters eingebunden werden. Der Europäische Stabilitätsmechanismus ist mit dem Rechtsrahmen der EU zu verknüpfen.

3.17.

Bei delegierten Rechtsakten sollte die Europäische Kommission bei ihrer Beschlussfassung mehr Transparenz an den Tag legen (siehe Artikel 290 AEUV), wie der Ausschuss bereits mehrfach festgestellt hat.

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Liste der Stellungnahmen und der Informationsberichte des EWSA.

(2)  ABl. C 230 vom 14.7.2015, S. 66 und ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 45.

(3)  ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 26.

(4)  „Bessere Ergebnisse durch bessere Rechtsetzung — Eine Agenda der EU“ — COM(2015) 215 final.

(5)  „Bessere Rechtsetzung“ (ABl. C 123 vom 12.5.2016, S. 1).

(6)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 45.

(7)  Schlussfolgerungen des Rates „Wettbewerbsfähigkeit“ vom 26.5.2016 (Ziffer 2), http://www.consilium.europa.eu/register/de/content/out/?&typ=ENTRY&i=ADV&DOC_ID=ST-9580-2016-INIT

(8)  CEPS (Centre for European Policy Studies, Zentrum für europäische politische Studien) ist eine in Brüssel ansässige Denkfabrik.

(9)  http://www.eu2016.sk/data/documents/presidency-programme-de-final2.pdf.

(10)  „Better regulations for innovation-driven investment at EU level“ (Bessere Vorschriften für innovationsgesteuerte Investitionen auf EU-Ebene), Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen: https://ec.europa.eu/research/innovation-union/pdf/innovrefit_staff_working_document.pdf.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

519. Plenartagung des EWSA vom 21./22. September 2016

28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/57


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Rechtsrahmen der Europäischen Union in Bezug auf Zollrechtsverletzungen und Sanktionen“

(COM(2013) 884 final — 2013/0432 (COD))

(2016/C 487/08)

Hauptberichterstatter:

Herr Antonello PEZZINI

Befassung

Europäisches Parlament, 22.6.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch

Verabschiedung auf der Plenartagung

21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

173/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hat stets die Auffassung vertreten, dass eine effiziente Zollunion ein wesentlicher Bestandteil des europäischen Integrationsprozesses und notwendig ist, um den freien Warenverkehr unter Einhaltung der Wettbewerbsregeln und unter Wahrung eines Höchstmaßes an Verbraucher- und Umweltschutz zu gewährleisten, Rechtsverletzungen, Betrug und Fälschungen wirksam zu bekämpfen und den legalen Handel zu erleichtern.

1.2.

Der Ausschuss unterstützt nachdrücklich die Zielsetzungen des Kommissionsvorschlags, soweit die vorgeschlagenen Maßnahmen:

ein erster Schritt sind auf dem Weg hin zu einem wirksamen Rahmen für ein einheitliches europäisches Zollwesen mit einheitlicher Governance, gemeinsamen Verwaltungsinstanzen und Rechtsprechungsorganen für Zollfragen: d. h. mit einem europäischen Zollgerichtshof, einem gemeinsamen Korpus von Durchsetzungsbestimmungen für den Zollkodex, einem einheitlichen IT-System mit harmonisierten Verfahren und einer eindeutigen Auslegung der Vorschriften, die die Entwicklung des Binnenhandels und des Handels mit Drittstaaten fördert;

für Rechtssicherheit sorgen im Hinblick auf die Vorschriften und ihre einheitliche Anwendung in der gesamten EU, und zwar durch ein harmonisiertes System für die Untersuchung und Verfolgung von Rechtsverletzungen sowie für die Verhängung entsprechender zivilrechtlicher nichtstrafrechtlicher Sanktionen, die im Verhältnis zu den umgangenen Zöllen und der Schwere des Vergehens stehen müssen, im Rahmen von gemeinsamen Unter- und Obergrenzen und mit der Möglichkeit nichtfinanzieller Sanktionen;

solide gemeinsame Systeme zur Prävention und Abschreckung als Teil der Vorschriften vorsehen, mit IKT-gestützten Systemen der Konformitätskontrolle und automatischen Frühwarnsystemen;

gemeinsame Mechanismen zur Streitbeilegung und zum Vergleich im Hinblick auf die verhängten Strafen vorsehen, um die Entwicklung des europäischen Handels zu fördern und zu beschleunigen und langwierige und kostspielige Verfahren zu vermeiden;

den Verpflichtungen aus den internationalen Referenzrahmen der Welthandelsorganisation (WTO) und der Weltzollorganisation (WZO) vollends gerecht werden.

1.3.

Der EWSA fordert, in der Richtlinie auch das Ziel vorzusehen, dass dieses Instrument, das eine allmähliche und notwendige Konvergenz hin zu einem einheitlichen Rechtsrahmen im Hinblick auf die Vorschriften und ihre Anwendung und Auslegung ermöglicht, durch eine Kontrolle und Marktaufsicht auf der Grundlage automatischer Verfahren für die Ermittlung von Verstößen ergänzt wird, die die Entwicklung des legalen Handels in Europa nicht hemmen dürfen.

1.4.

Der EWSA empfiehlt, dass in dem Bericht, der alle zwei Jahre dem Europäischen Parlament (EP), dem Rat und dem EWSA vorzulegen ist, nicht nur eine Bewertung der erreichten Konvergenz bei der Anwendung der neuen Vorschriften auf Gebietsebene erfolgt, sondern auch Indikatoren für die nächsten Schritte auf dem Weg zu folgenden Zielen vorgeschlagen werden:

Schaffung einer europäischen Zollagentur,

Einrichtung eines europäischen Zollgerichtshofs,

Bildung eines effizienten gemeinsamen Zollkorps zur Angleichung der Systeme für Zollrechtsverletzungen und Sanktionen mit einer einheitlichen rechtlichen Grundlage im Hinblick auf die Vorschriften und ihre Anwendung sowie eindeutige Auslegung.

2.   Einleitung

2.1.

Die Zollunion ist der Eckstein der Europäischen Union. Die zollrechtlichen Vorschriften der EU sind in ihren materiellen und verfahrensrechtlichen Bestimmungen seit 1992 vollständig harmonisiert. 2013 wurde mit der Verordnung (EU) Nr. 952/2013, die 2016 in Kraft trat, der neue Zollkodex (Zollkodex der Europäischen Union — UZK) erlassen.

2.2.

Zollfragen fallen, was die rechtlichen Aspekte betrifft, nach Artikel 3 AEUV in die ausschließliche Zuständigkeit der Union, während die Mitgliedstaaten für die Organisation der Kontrollen, das Sanktionssystem sowie die Durchsetzungsmaßnahmen im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Titel V AEUV) zuständig sind.

2.3.

Die Zollaktionen der EU betreffen ungefähr 16 % des weltweiten Handels, d. h. Ein- und Ausfuhren im Wert von über 3 500 Mrd. EUR pro Jahr. 2013 beliefen sich die Zolleinnahmen auf 15,3 Mrd. EUR, d. h. knapp 11 % des EU-Haushalts.

2.4.

Die Tatsache, dass die nationalen Systeme für Zollrechtsverletzungen und Sanktionen nicht harmonisiert sind, könnte dazu führen, dass der illegale Handel in Mitgliedstaaten verlagert wird, in denen die Entdeckungsgefahr und die Strafen geringer sind. Gleichzeitig müssen legal operierende Unternehmen höhere Kosten tragen, wenn sie grenzüberschreitend in mehreren Rechtsgebieten tätig sind, in denen unterschiedliche Sanktionsregelungen den Handel und die Wirtschaftstätigkeit im Binnenmarkt verzerren, wobei Unternehmen in Ländern mit weniger strengen Zollkontrollen Vorteile erlangen könnten.

2.5.

Seit Einführung des Programms „Zoll 2013“ wurden die nationalen Systeme für Zollrechtsverletzungen und die damit verbundenen Sanktionen analysiert, wobei eine erhebliche Zahl von Unterschieden zwischen den einzelnen Regelungen festgestellt und in jüngster Zeit durch eingehende Untersuchungen bestätigt wurde (1).

2.6.

Folglich richtet sich die Bekämpfung von Zollrechtsverletzungen nach 28 (2) unterschiedlichen Rechtsrahmen und verschiedenen Verwaltungs- und Justiztraditionen, mit großen Unterschieden in Bezug auf die Definition und die Schwere der Sanktionen. Die uneinheitliche Durchsetzung der zollrechtlichen Vorschriften beeinflusst die Wettbewerbsbedingungen, die im Binnenmarkt gleich sein sollten.

2.7.

Die Unterschiede bei der Rechtsdurchsetzung betreffen insbesondere folgende Aspekte: den Charakter der Sanktionen — verwaltungsrechtliche und/oder strafrechtliche Sanktionen, die Arten der vorgesehenen Sanktionen, die Schwellenwerte und den Umfang der Verletzungen, die Beilegung/den Vergleich, das Ausmaß und die Art der Haftung, erschwerende oder mildernde Umstände, die Fristen und die Verjährung sowie die Haftung juristischer Personen.

2.8.

Es ist notwendig geworden, diese Unterschiede bei der Durchsetzung der Vorschriften zu beseitigen und, nach dem Grundsatz eines einheitlichen europäischen Zolls, harmonisierte europäische Zollsysteme zu schaffen, innerhalb derer die Mitgliedstaaten Streitbeilegungsmechanismen für den Verfahrensabschluss bei Zollrechtsverletzungen (je nach Art und Umfang der Vergehen) zulassen, um langwierige und für beide Parteien kostspielige Gerichtsverfahren zu vermeiden.

2.9.

Im Übrigen soll darauf hingewiesen werden, dass die Zollunion der verlängerte Arm für die Umsetzung eines großen Teils der handelspolitischen Maßnahmen der EU und zahlreicher internationaler Abkommen im Zusammenhang mit Handelsfragen ist. In ihrem Rahmen werden durch die Verwaltungen der Mitgliedstaaten wichtige horizontale Prozesse der Datenverwaltung, der Verwaltung der am Handel beteiligten Akteure und Anwendungen umgesetzt. Die Unterschiede bei der Durchsetzung der Vorschriften innerhalb des europäischen Systems waren bereits Gegenstand von Beschwerden vor der WTO.

2.10.

Die Zollunion ist bezüglich ihrer Funktionsweise durch die unterschiedliche Anwendung der EU-Rechtsvorschriften mit großen Problemen konfrontiert, die ihre Gesamteffektivität beeinträchtigen könnten. Der EWSA forderte in diesem Zusammenhang „eine gemeinsame Zollpolitik, die auf einheitlichen, aktualisierten, transparenten, effizienten und vereinfachten Verfahren basiert und zur Stärkung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit der EU auf internationaler Ebene beiträgt […]“ (3).

2.11.

Wie der EWSA bereits festgestellt hat (4), müssen im Hinblick auf die Schaffung eines echten Binnenmarkts folgende Aspekte garantiert werden: verbindliche Fristen für die Umsetzung der Durchführungsvorschriften; eine einheitliche Auslegung der zollrechtlichen Vorschriften der EU, die als einheitliche Verwaltung zur Verwirklichung der Gleichbehandlung der Wirtschaftsbeteiligten im gesamten Zollgebiet der EU handeln muss; Zugang zum Status eines zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten; umfassende aktualisierte Information aller betroffenen Wirtschaftsbeteiligten, computergestützte Verfahren; qualitativ hochwertige Schulungsmaßnahmen für Zollbedienstete. Kurz, es gilt, ein einheitliches europäisches Zollwesen zu schaffen.

2.12.

Nur durch konkrete Schritte in Richtung eines einheitlichen europäischen Zollwesens und geeignete Verwaltungsstrukturen können die aufgrund der komplexen und uneinheitlichen Verfahren noch bestehenden Probleme in der konkreten Arbeitsweise der Zollunion behoben werden.

3.   Der Kommissionsvorschlag

3.1.

Das Hauptziel der von der Kommission vorgeschlagenen Richtlinie besteht darin, durch eine Harmonisierungsrichtlinie einen gemeinsamen Rechtsrahmen zu schaffen, um Folgendes zu erreichen:

Gleichbehandlung der Wirtschaftsbeteiligten;

wirksamer Schutz der finanziellen Interessen der EU;

wirksame Durchsetzung der Vorschriften im Bereich der Zollrechtsverletzungen und Sanktionen;

Rechtssicherheit (lex certa) sowie Konditionalität und Verhältnismäßigkeit der Strafen (nulla poena sine culpa).

Dabei soll die einheitliche Einhaltung der zollrechtlichen Vorschriften in der gesamten EU durch eine harmonisierte Durchsetzung der Bestimmungen für Zollrechtsverletzungen und Sanktionen gewährleistet werden, um zu stark voneinander abweichende nationale Regelungen zu vermeiden, die die Wettbewerbsbedingungen verzerren und den freien Warenverkehr beeinträchtigen.

3.2.

Konkret schlägt die Kommission unter Verweis auf die ursprünglich gewählte Rechtsgrundlage — Artikel 33 AEUV — Folgendes vor:

die Erstellung einer ausführlichen Liste strafbarer Tatbestände, die in drei Hauptkategorien eingeteilt werden: verschuldensunabhängige Haftung (strict liability), schuldhaftes Verhalten oder Fahrlässigkeit und Vorsätzlichkeit;

eine abgestufte Liste „wirksamer, abschreckender und verhältnismäßiger“ Sanktionen für jede der Kategorien in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs (5) festgelegten Kriterien;

ein Spektrum von Geldbußen von 1 % bis 30 % des Warenwerts bzw. Festbeträge, wenn sich die Zollrechtsverletzung auf einen bestimmten Status oder bestimmte Genehmigungen bezieht;

die Einführung einer Verjährungsfrist von vier Jahren ab dem Tag, an dem die Rechtsverletzung begangen wurde oder, bei fortgesetzten oder wiederholten Rechtsverletzungen, ab dem das der Rechtsverletzung zugrunde liegende Verhalten eingestellt wurde, um die unterschiedlichen Fristen für die Sanktionsbefugnisse abzudecken;

Einführung eines Verfahrens zur Aussetzung der Verwaltungsverfahren in Bezug auf Zollrechtsverletzungen, wenn in der gleichen Sache bereits ein Strafverfahren eingeleitet wurde;

Förderung der Zusammenarbeit und des Austauschs von Informationen zwischen den Mitgliedstaaten.

3.3.

Der von der Kommission vor drei Jahren vorgelegte Vorschlag wurde dem Europäischen Parlament zur Prüfung vorgelegt und hat zu Einwänden seitens mehrerer Mitgliedstaaten geführt. Das litauische Parlament wandte ein, dass „die für den Vorschlag herangezogene Rechtsgrundlage (Artikel 33 AEUV) es der EU nicht gestattet, Maßnahmen zur Schaffung eines gemeinsamen Rahmens für Verletzungen der zollrechtlichen Vorschriften der Europäischen Union und entsprechende Sanktionen anzunehmen“ (6), da der Vorschlag nicht mit dem Grundsatz der Subsidiarität vereinbar ist, insbesondere insofern, als er nicht den Anforderungen des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung gerecht wird, wonach die Union nur dann tätig wird, wenn in den Verträgen eine Rechtsgrundlage dafür vorgesehen ist.

3.4.

Das Europäische Parlament hat die Prüfung des Vorschlags wieder aufgenommen und MdEP Kaja Kallas, Berichterstatterin im IMCO-Ausschuss, mit der Erarbeitung seines Berichts über den Vorschlag beauftragt. Die Berichterstatterin hat die Ausweitung der Rechtsgrundlage auf Art. 114 AEUV (7) gefordert, womit eine obligatorische Befassung des EWSA vorgesehen ist. Dies geht aus dem Befassungsschreiben des Vorsitzenden des IMCO-Ausschusses an den EWSA hervor.

3.5.

Der EWSA stimmt dieser Wahl vorbehaltlos zu und betont die Bedeutung eines einheitlichen Zollsystems, das Werte und Einheitlichkeit vorgibt, nicht nur auf dem Binnenmarkt, sondern für die gesamte europäische Gesellschaft, die mehr denn je einheitliche Systeme anstrebt.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat stets die Auffassung vertreten, dass eine effiziente Zollunion ein wesentlicher Bestandteil des europäischen Integrationsprozesses und notwendig ist, um den freien Warenverkehr unter Einhaltung der Wettbewerbsregeln und unter Wahrung eines Höchstmaßes an Verbraucher- und Umweltschutz zu gewährleisten.

4.2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass ein gemeinsamer Ansatz für die Verhinderung, Abschreckung und eindeutige Ermittlung von Rechtsverletzungen und Sanktionen und eine einheitliche Verwaltung der vorgesehenen Sanktionen, einschließlich Verfahren zur Beilegung und zum Vergleich, von grundlegender Bedeutung sind, um eine einheitliche und diskriminierungsfreie Anwendung der Rechtsvorschriften auf dem gesamten Gebiet der EU gemäß Artikel 3 AEUV gewährleisten zu können.

4.3.

Der EWSA unterstützt nachdrücklich die Beschleunigung des laufenden Prozesses zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Zollwesens mit einer einheitlichen Verwaltung durch eine europäische Zollagentur und die Schaffung gemeinsamer Verwaltungs- und Justizbehörden (8), mit einem EU-Zollgerichtshof (9) nach amerikanischem Vorbild für die Anwendung eines homogenen Systems für die Sanktionen und eines gemeinsamen Systems für in letzter Instanz verhängte Strafen, ergänzt durch die frühzeitige Aktivierung von Systemen zur Prävention und durch Mechanismen zur Beilegung und zum Vergleich mit dem Ziel der Minimierung oder Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten, die für den Handel in der EU und insbesondere für die KMU kostspielig und aufwendig sind.

4.4.

Nach Auffassung des EWSA sollte sich die einheitliche Anwendung des EU-Zollrechts auch auf die Rechtsstreitigkeiten für die Wirtschaftsbeteiligten erstrecken, und zwar sowohl aus der Sicht des Binnenmarktes als auch auf internationaler Ebene, sowie auf den Ansatz der Prävention auf der Grundlage von klar definierten und etablierten IKT-Telematiklösungen, um übermäßigen bürokratischen Erhebungsaufwand zu vermeiden.

4.4.1.

Der Ausschuss bekräftigt seine Auffassung, dass „der Durchführung einer gemeinsamen Zollpolitik, die auf einheitlichen, transparenten, effizienten und vereinfachten Verfahren basiert, zur Stärkung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit der EU auf internationaler Ebene beiträgt und den Schutz des geistigen Eigentums sowie der Rechte und der Sicherheit der europäischen Unternehmen und Verbraucher gewährleisten kann, große Bedeutung [beizumessen ist]“ (10).

4.5.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass ein europäisches System für Zollrechtsverletzungen und für die Beilegung und den Vergleich bei Sanktionen mit Maßnahmen einhergehen muss, die sich auf alle anderen Elemente des Systems der allgemeinen Rechtsdurchsetzung erstrecken, wie beispielsweise Aufsicht, Kontrolle, Untersuchung und Überwachung.

4.6.

Der Ausschuss hält es für wichtig, im Hinblick auf die Vorschriften und ihre einheitliche Anwendung in der gesamten EU für Rechtssicherheit zu sorgen und dazu ein harmonisiertes System für die Untersuchung und Verfolgung von Rechtsverletzungen nach feststehenden Kategorien sowie für die Verhängung entsprechender zivilrechtlicher und nichtstrafrechtlicher Sanktionen zu schaffen, die im Verhältnis zur Schwere der Verletzung stehen müssen, im Rahmen von gemeinsamen Unter- und Obergrenzen und mit einer Konvergenz der Leitlinien, auch nichtfinanziellen Sanktionen.

4.7.

Nach Ansicht des EWSA sollte dieser erste Schritt zur Konvergenz der verschiedenen Rechtsrahmen, die es für Verletzungen des EU-Zollrechts und entsprechende Sanktionen gibt, Folgendes umfassen:

Angleichung der Verjährungsfristen an die Fristen für die Mitteilung einer Zollschuld (drei Jahre) gemäß dem Zollkodex;

Gewährleistung, dass die Verstöße je nach Grad des Verschuldens bestraft werden;

Kalibrierung der Geldbußen gemäß der Verhältnismäßigkeit und in Abhängigkeit von der Höhe der umgangenen Zölle und nicht vom Wert der Waren.

4.8.

Der EWSA fordert nachdrücklich, dass die volle Interoperabilität zwischen den verschiedenen existierenden Datenbanken im europäischen Marktaufsichtssystem garantiert wird, um die abschreckende Wirkung zu verbessern, und zwar auf der Grundlage einer gemeinsamen Strategie und durch starke Unterstützung durch Gemeinschaftsprogramme, um einen Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Behörden und Ebenen in Echtzeit sicherzustellen, insbesondere in Fällen schwerer Verstöße und Sanktionen, auch im Hinblick auf die verstärkte Bekämpfung des illegalen Handels und die Vereinfachung der Verfahren für den legalen Handel.

4.9.

Im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs hält der Ausschuss die Entscheidung, neben Artikel 33 AEUV auch Artikel 114 AEUV in die Rechtsgrundlage aufzunehmen, für nachvollziehbar, da die in Artikel 114 AEUV vorgesehenen Maßnahmen zur Verbesserung der Bedingungen für das Funktionieren des Binnenmarkts und zur Beseitigung der Wettbewerbsverzerrungen beitragen, was dem Geist des hier behandelten Vorschlags entspricht.

4.10.

Bis zum Erreichen einer wirklichen Zollunion fordert der EWSA eine Intensivierung der Maßnahmen der EU zur Ausbildung und Entwicklung qualifizierter Humanressourcen und zur Stärkung der Managementkapazitäten innerhalb des gemeinschaftlichen Rechtsrahmens, auch durch Maßnahmen zugunsten der Verwaltungskapazitäten und die Schaffung des Kerns einer gemeinsamen Zollbehörde, die eine einheitliche Anwendung der Bestimmungen über Sanktionen, Beilegung und Vergleich garantiert.

4.11.

Der Ausschuss empfiehlt, dass die Kommission in dem Bericht, den sie alle zwei Jahre dem EP, dem Rat und dem EWSA vorlegen muss, nicht nur eine Bewertung der erreichten Konvergenz der Mitgliedstaaten vornimmt, sondern auch und vor allem einen Überblick gibt über die wichtigsten Leistungsindikatoren in Bezug auf die zollrechtlichen Sanktionen, die Verbreitung vorbildlicher Verfahren und die Wirksamkeit der damit zusammenhängenden Dienstleistungen sowie die Effizienz des erlassenen EU-Rechtsrahmen. Auf dieser Grundlage können die nächsten Schritte auf dem Weg zur Schaffung einer europäischen Zollagentur, eines EU-Zollgerichtshofs und eines effektiven und effizienten gemeinsamen Zollkorps erwogen werden.

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Vgl. Analysis and effects of the different Member States‘ customs sanctioning systems. PE 569.990 — Januar 2016.

(2)  Derzeitiger Stand.

(3)  Vgl. ABl. C 229 vom 31.7 2012, S. 68.

(4)  Vgl. Stellungnahmen des EWSA ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 68 und ABl. C 251 vom 31.7.2015, S. 25.

(5)  Vgl. Entscheidungen des Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen C-382/92 und C- 91/02.

(6)  Vgl. Parlament der Republik Litauen — Schlussfolgerungen des Ausschusses für Europäische Angelegenheiten, Dokument-Nr. ES-14-51, 9. Juli 2014, n. 100-P-71.

(7)  Artikel 33 AEUV ist somit die richtige Rechtsgrundlage, wenn es um einen Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen den Zollbehörden geht. Artikel 114 AEUV ist die Rechtsgrundlage für Harmonisierungsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Binnenmarkt. Voraussetzung für Harmonisierungsmaßnahmen nach diesem Artikel sind Unterschiede in den einschlägigen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, die zu Handelsstörungen im Binnenmarkt führen könnten.

(8)  Dies ist rechtlich möglich, auf der Grundlage der Bestimmungen von Art. 257 AEUV, die bereits für das Gericht für den öffentlichen Dienst (das Arbeitsgericht für die EU-Bediensteten) angewendet wurden und voraussichtlich auch für die Einrichtung eines europäischen Gerichtshofs für Marken und Patente herangezogen werden.

(9)  Als Vorbild könnte der U.S. Court of International Trade dienen. „The Customs Courts Act of 1980 creates a comprehensive system for judicial review of civil actions arising out of import transactions and federal transactions affecting international trade.“

(10)  Vgl. die Stellungnahme des EWSA (ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 66).


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/62


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Offenlegung von Ertragsteuerinformationen durch bestimmte Unternehmen und Zweigniederlassungen“

(COM(2016) 198 final — 2016/0107 (COD))

(2016/C 487/09)

Berichterstatter:

Victor ALISTAR

Mitberichterstatter:

Petru Sorin DANDEA

Befassung

Europäisches Parlament, 28.4.2016

Rat, 28.4.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 50 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

8.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

Rat, 21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

204/7/16

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Kommission, der die Transparenz des Steuersystems durch eine länderspezifische Berichterstattung verbessern soll und ist der Ansicht, dass diese Maßnahme das Vertrauen der Bürger in die Europäische Union stärken kann.

1.2.

Transparenz in Steuerangelegenheiten ist ein nützliches Mittel zur Sicherung der Anerkennung des Beitrags, den die multinationalen Unternehmen zu den öffentlichen Einnahmen in den Ländern, in denen sie geschäftlich tätig sind, leisten.

1.3.

Der EWSA hebt hervor, dass die nach Ländern aufgeschlüsselte Veröffentlichung der spezifischen Daten über die Einhaltung der Steuerpflichten (die schon durch andere Vorschriften auf EU-Ebene, der Ebene der Mitgliedstaaten und der Kapitalmärkte festgelegt wurde) gleichermaßen von Öffentlichkeit und Wirtschaft gefordert wird.

1.4.

Das Umfeld eines fairen wirtschaftlichen Wettbewerbs wird durch eine gerechte steuerliche Belastung von Gewinnen, die im europäischen Binnenmarkt erzielt wurden, für alle Akteure des Binnenmarkts gewährleistet, unabhängig von ihrer Organisationsform im globalen Markt.

1.5.

Die von der Kommission vorgeschlagenen Standards für die zu veröffentlichenden Daten sind minimal und niedriger als die von der OECD festgelegten. Im Gegenzug wird durch den Richtlinienvorschlag die Offenlegung dieser Daten gefordert, um die Kohärenz mit den Erklärungen zur Wirtschaftsethik und die öffentliche Verantwortung der betreffenden Unternehmen gegenüber der Gesamtheit der Verbraucher, Partnern und Steuerpflichtigen der Europäischen Union sicherzustellen. Daher ist der EWSA der Auffassung, dass die bereitzustellenden Daten den durch die BEPS-Standards vorgeschriebenen entsprechen müssen, die die EU und die meisten Mitgliedstaaten bereits angenommen haben, da diese Regulierungsvorschrift Transparenz bezweckt und nicht zu Abstrichen an bereits eingegangenen internationalen Verpflichtungen führen soll.

1.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass mit den Regelungen der Kommission im Steuerpaket dafür gesorgt werden muss, dass die großen bzw. multinationalen Unternehmen, die die Steuerpflichten ehrlich einhalten, nicht durch die aggressive Steuerplanung anderer multinationaler Unternehmen benachteiligt werden.

1.7.

Der EWSA empfiehlt, dass die Veröffentlichung in einer der internationalen Verkehrssprachen, die auch eine Amtssprache der Europäischen Union ist, erfolgt, um das Ziel — den tatsächlichen Zugang der Öffentlichkeit zu den Daten im gesamten Binnenmarkt — zu verwirklichen.

1.8.

Zur Vereinfachung des Verwaltungsaufwands für die Veröffentlichung und Verwaltung der Daten auf Ebene der Europäischen Union ist der EWSA der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet werden sollten, ein öffentliches Register für die länderspezifische Berichterstattung zu führen, das sich in ein standardisiertes System auf europäischer Ebene einfügt.

1.9.

In Anbetracht der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und der Kommission für eine Open Government Partnership (OGP) muss die Veröffentlichung der Daten über ein Portal in einem offenen System erfolgen, damit Zivilgesellschaft und Wirtschaft Zugang zu den Daten haben und diese leicht nutzen können.

1.10.

Der EWSA meint, dass die Kommission zur Lösung der zugrunde liegenden Probleme ein ehrgeizigeres Paket aufstellen müsste, damit der aktuelle Ansatz zur Steuerharmonisierung fortgesetzt und sichergestellt wird, dass die notwendigen Mittel für Investitionsprogramme, Sozialschutz und Wirtschaftswachstum in den Mitgliedstaaten wirksam, verhältnismäßig und diskriminierungsfrei erfasst und Steuererosion sowie die Gefahr von Missbrauch und Überbesteuerung in einigen Steuerhoheitsgebieten vermieden werden.

1.11.

Der EWSA hält die Grenze von 750 Mio. EUR für zu hoch und empfiehlt eine Herabsetzung oder die Aufstellung eines Zeitplans für eine schrittweise Verringerung dieser Schwelle.

1.12.

Es müssen klarere Kriterien für die Definition von verantwortungsvollem Handeln im Steuerbereich und für die Identifizierung der Steuergebiete, die dies nicht einhalten, festgelegt werden.

2.   Der Vorschlag der Kommission

2.1.

Im März 2016 hat die Europäische Kommission eine Mitteilung (1) vorgelegt, die einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Änderung der Rechnungslegungsrichtlinie (2) enthält. Dieser Vorschlag für eine Richtlinie wurde im Rahmen des von der Kommission im März 2016 vorgestellten Maßnahmenpakets zur Bekämpfung von Steuervermeidung als Teil der Agenda (3) für eine transparentere, vergleichbarere und wirksamere Besteuerung der Unternehmen angekündigt.

2.2.

Die Bekämpfung von Steuervermeidung und aggressiver Steuerplanung ist eine politische Priorität der Europäischen Kommission. Mit dem vorliegenden Vorschlag möchte die Kommission sicherstellen, dass der Grundsatz angewandt wird, nach dem die Besteuerung des Gewinns an dem Ort erfolgt, an dem er erwirtschaftet wurde.

2.3.

Durch den Vorschlag werden multinationale Unternehmen mit einem Umsatz von mehr als 750 Mio. EUR verpflichtet, in einer nach Ländern aufgeschlüsselten Rechnungslegung ihre Steuern auf ihren Gewinn zusammen mit anderen relevanten steuerlichen Informationen offenzulegen.

2.4.

Der Richtlinienvorschlag bringt für kleine Unternehmen und Kleinstunternehmer keine zusätzliche Verpflichtung im Zusammenhang mit der Besteuerung ihrer Gewinne mit sich.

2.5.

Der Vorschlag für eine Richtlinie zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU dient der einheitlichen Umsetzung von Aktion 13 (4) des BEPS-Aktionsplans (Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung) der OECD in den Mitgliedstaaten. Diese Maßnahmen betreffen die Verbesserung des Mechanismus für den automatischen Informationsaustausch zwischen den Steuerstellen der Mitgliedstaaten, darunter auch Informationen über die Geschäftsjahresergebnisse multinationaler Unternehmen.

2.6.

Der Vorschlag der Kommission entspricht den Forderungen des Europäischen Parlaments nach Einführung einer länderspezifischen Berichterstattung über die Ertragsteuer auf Ebene der Europäischen Union.

2.7.

Zwischen Juni und Dezember 2015 führten die Dienststellen der Kommission umfassende Konsultationen zu dem Vorschlag eines Systems mit nach Ländern aufgeschlüsselter Rechnungslegung durch. Rund 400 Rückmeldungen kamen von Unternehmen, Wirtschaftsverbänden, nichtstaatlichen Organisationen, Bürgern und Denkfabriken. Die meisten an der öffentlichen Konsultation teilnehmenden Einzelpersonen vertraten die Auffassung, dass die Europäische Union in der Debatte eine Vorreiterrolle einnehmen und nötigenfalls über die derzeitigen internationalen Initiativen zur länderspezifischen Berichterstattung hinausgehen sollte. Die Mehrheit der Unternehmen, die geantwortet haben, zieht eine nach Ländern aufgeschlüsselte Rechnungslegung nach dem BEPS-Standard der OECD vor.

2.8.

Der Vorschlag stützt sich auf eine Folgenabschätzung, die vom Ausschuss für Regulierungskontrolle positiv bewertet wurde. Infolge der Stellungnahme des Ausschusses wurde die Folgenabschätzung verbessert.

2.9.

Die Kommission schätzt, dass etwa 6 000 multinationale Unternehmen einen länderspezifischen Bericht erstellen müssen, da sie in der Europäischen Union tätig sind. Davon unterhalten rund 2 000 Unternehmen — und damit nur ein Bruchteil der insgesamt über 7,5 Mio. Unternehmen — ihren Sitz in der EU.

3.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

3.1.

Mit dem Vorschlag für eine Richtlinie wird die einheitliche Umsetzung der Vorschriften, die im BEPS-Aktionsplan der OECD (5) enthalten sind, auf Ebene der Mitgliedstaaten bezweckt, um so die aggressive Steuerplanung auf globaler Ebene zu bekämpfen. Wie bereits in früheren Stellungnahmen (6), begrüßt der EWSA die Initiative der Kommission und unterstützt ihr Vorgehen gegen die aggressive Steuerplanung, da diese von manchen multinationalen Unternehmen betriebene Praxis zur Schwächung der Steuerbasis der Mitgliedstaaten in einem Umfang führt, der auf einen zweistelligen Milliarden-Euro-Betrag pro Jahr geschätzt wird.

3.2.

Mit dem Maßnahmenpaket der Kommission gegen Steuerumgehung wird zur Transparenz der Steuerpraktiken beigetragen und ein legitimer Druck erzeugt, um gleiche Ausgangsbedingungen für Wettbewerb und wirtschaftliche Leistung unter den Unternehmen, die über Instrumente zur Steuerplanung verfügen, und denen, die nur im Binnenmarkt agieren, zu gewährleisten. Durch die vorliegende Richtlinie werden keine Änderungen der Besteuerungsgrundsätze, sondern eine höhere Transparenz bei deren Anwendung eingeführt, wie es die europäische Öffentlichkeit nach den Skandalen rund um Luxleaks und die Panama Papers gefordert hat.

3.3.

Etwa 85-90 % der multinationalen Unternehmen fallen nicht in den Anwendungsbereich dieses Richtlinienvorschlags, da eine länderspezifische Berichterstattung erst ab einem Umsatz von 750 Mio. EUR verpflichtend ist. Der EWSA hält diese Schwelle für zu hoch und diskriminierend. Wenn die Mehrheit der multinationalen Unternehmen gar nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, könnte dies deren Wirkung schmälern.

3.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Schwelle von 750 Mio. EUR schrittweise herabgesetzt und dafür nach einer Zwischenbewertung der Auswirkungen ein Zeitplan aufgestellt werden sollte.

3.5.

Die Kommission schlägt vor, dass die länderspezifische Berichterstattung eine Reihe von Informationen umfasst, die detailliert in Artikel 48c des Vorschlags für eine Richtlinie aufgeführt sind. Nach Auffassung des EWSA sollte dazu auch eine Erklärung der Unternehmen in Bezug auf eventuelle Geschäftstätigkeiten in Steuergebieten, die in der Liste in Artikel 48 g aufgeführt sind, gehören. Damit die Anwendung der Richtlinie zu den erwarteten Ergebnissen führt, muss die Liste mit Informationen, die im erwähnten Artikel aufgeführt sind, auch Angaben zu Aktiva und Umsätzen sowie eine Liste aller Tochtergesellschaften und Niederlassungen umfassen, wie im BEPS-Standard der OECD empfohlen.

3.6.

Die Kommission schlägt vor, dass die länderspezifische Berichterstattung detailliert erfolgt und dass die finanzielle Situation für jeden Mitgliedstaat, in dem die Muttergesellschaft eine Tochtergesellschaft oder Niederlassung unterhält, separat aufgeführt wird. Für Steuergebiete außerhalb der Europäischen Union ist im Richtlinienvorschlag vorgesehen, dass diese Informationen zusammengefasst aufgeführt werden. Der EWSA meint, dass durch diese zusammenfassende Vorlage der Daten eventuelle, für eine aggressive Steuerplanung spezifische Operationen verschleiert werden könnten, wodurch die Richtlinie weniger wirksam wäre. Der EWSA empfiehlt der Kommission, eine Veröffentlichung der nach Ländern aufgeschlüsselten Rechnungslegung für alle Steuergebiete, in denen die Muttergesellschaft eine Tochtergesellschaft oder Niederlassung unterhält, vorzusehen.

3.7.

In Artikel 48 g des Vorschlags ist die Erstellung einer Liste mit nicht kooperierenden Steuergebieten sowie mit den Gebieten, die nicht die Standards eines verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich respektieren, geregelt. Der EWSA hat sich bereits in der Vergangenheit für eine EU-Liste ausgesprochen (7), in der die Rechtsgebiete aufgeführt sind, die sich weigern, die Vorschriften des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich anzuwenden. Derzeit verfügen die meisten Mitgliedstaaten jeweils über eigene Systeme mit derartigen Listen und Sanktionen gegen Finanzoperationen, die über solche Rechtsgebiete abgewickelt werden. Nach Auffassung des EWSA wäre eine Liste auf Ebene der EU — mit klaren Kriterien für die Ermittlung nicht-kooperierender Rechtsgebiete sowie Sanktionen, die von sämtlichen Mitgliedstaaten einheitlich anzuwenden sind — ein weitaus wirksameres Instrument zur Bekämpfung der Steuervermeidung und der aggressiven Steuerplanung. Deshalb unterstützt der EWSA die seitens der Kommission im Rahmen dieser Strategie vorgeschlagenen Maßnahmen.

3.8.

Um das politische Ziel einer höheren Transparenz der Unternehmensbesteuerung zu erreichen, empfiehlt der EWSA die Einrichtung eines öffentlichen nationalen Registers, das von den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten verwaltet wird, damit die länderspezifische Berichterstattung uneingeschränkt zugänglich ist. Um den Arbeitsprozess zu vereinfachen und den Verwaltungsaufwand für die Unternehmen zu verringern, empfiehlt der EWSA in diesem Zusammenhang, in der Richtlinie ein gemeinsames Standardformat auf Ebene der Mitgliedstaaten festzulegen, das die offene Verarbeitung der Daten gemäß den Verpflichtungen im Rahmen der Open Government Partnership ermöglicht.

3.9.

Der EWSA ist außerdem der Auffassung, dass es für eine einheitliche Steuerethik im Binnenmarkt erforderlich ist, die fiskalpolitischen Maßnahmen durch eine stärkere Harmonisierung der Besteuerungsgrundsätze und -strategien zu unterfüttern, mit einem stärkeren Akzent auf dem Grundsatz der Besteuerung der Einnahmen an dem Ort, an dem diese generiert werden, auch für die Produktions- und Handelsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten.

3.10.

Angesichts zahlreicher Forderungen von Organisationen der Zivilgesellschaft nach einer größeren Transparenz bei der Besteuerung multinationaler Konzerne begrüßt der EWSA die Initiative der Kommission, in die Bestimmungen der Richtlinie eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Veröffentlichung der Daten der länderspezifischen Berichterstattung aufzunehmen.

3.11.

Im Richtlinienvorschlag ist vorgesehen, dass die länderspezifische Berichterstattung in der Amtssprache des Mitgliedstaats erfolgt, in dem das Unternehmen seiner Geschäftstätigkeit nachgeht. Nach Ansicht des EWSA sollte die Veröffentlichung auch mindestens in einer ausländischen Verkehrssprache erfolgen, um den Zugang der Öffentlichkeit zu den veröffentlichten Steuerinformationen zu gewährleisten.

3.12.

Angesichts der negativen Auswirkungen, die die Krise auf die Verwaltungskapazität der Steuerbehörden der Mitgliedstaaten hatte, empfiehlt der EWSA der Kommission und den Mitgliedstaaten, die personellen und finanziellen Mittel bereitzustellen, die für eine erfolgreiche Anwendung der neuen Regeln im Steuerbereich notwendig sind.

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  COM(2016) 198 final.

(2)  Richtlinie 2013/34/EU.

(3)  http://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/resources/documents/taxation/company_tax/anti_tax_avoidance/timeline_without_logo.png.

(4)  http://www.oecd.org/tax/transfer-pricing-documentation-and-country-by-country-reporting-action-13-2015-final-report-9789264241480-en.htm.

(5)  http://www.oecd.org/ctp/beps-actions.htm.

(6)  Siehe Stellungnahme des EWSA zur „Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung“ (ABl. C 198 vom 10.7.2013, S. 34) sowie zum „Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Steuervermeidung“ (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 93).

(7)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum „Maßnahmenpaket zur steuerlichen Transparenz“ (ABl. C 332 vom 8.10.2015, S. 64).


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/66


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/399 in Bezug auf die Nutzung des Einreise-/Ausreisesystems“

(COM(2016) 196 final — 2016/0105 (COD))

und „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Einreise-/Ausreisesystem (EES) zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten sowie der Einreiseverweigerungsdaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und zur Festlegung der Bedingungen für den Zugang zum EES zu Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungszwecken und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 767/2008 und der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011“

(COM(2016) 194 final — 2016/0106 (COD))

(2016/C 487/10)

Berichterstatter:

Cristian PÎRVULESCU

Befassung

Europäisches Parlament, 9.5.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

9.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung am

21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

155/2/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist der Auffassung, dass das Einreise-/Ausreisesystem (Entry/Exit System — EES) in seiner neuen Form nötig ist, da es einen Mehrwert für die Sicherheit auf europäischer Ebene bringt. Wie in anderen Bereichen der Politik und Gesetzgebung fördert der Ausschuss durch seine Stellungnahmen einen ausgewogenen Ansatz, um die notwendige Gewährleistung der Sicherheit und die Einhaltung der Rechtsvorschriften miteinander in Einklang zu bringen und zugleich an den Grundwerten der Europäischen Union festzuhalten.

1.2.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Öffentlichkeit über die Einführung des neuen Einreise-/Ausreisesystems informiert werden muss. Die Funktionsweise muss so klar wie möglich erläutert werden, wobei der Schwerpunkt auf dem Schutz der personenbezogenen Daten liegen muss. Er empfiehlt, Informations- und Schulungsmaßnahmen sowohl für Behörden als auch für Angehörige von Drittstaaten durchzuführen.

1.3.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass eine angemessene Information und Schulung des am Betrieb des Systems beteiligten Personals erforderlich ist. Er empfiehlt, die Schulung des Personals sowohl finanziell als auch institutionell angemessen zu unterstützen.

1.4.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Achtung der Grundrechte durch die einschlägigen Institutionen der Europäischen Union kontinuierlich überwacht werden sollte und dass die Organisationen der Zivilgesellschaft auf europäischer und nationaler Ebene dabei eingebunden werden könnten.

1.5.

Der Ausschuss betont, dass das Recht auf Auskunft über personenbezogene Daten sowie das Recht auf deren Berichtigung bzw. Löschung klar definiert und sichergestellt werden muss.

1.6.

Der Ausschuss empfiehlt, nach der Einführung des Systems eine ähnliche Umfrage wie bereits zu dem Pilotprojekt durchzuführen, um die Auswirkungen des Systems auf die Reisenden unter realen Bedingungen bewerten zu können.

2.   Einführung: Kontext und Argumente im Zusammenhang mit der Einführung eines neuen Einreise-/Ausreisesystems für die EU

2.1.

Prognosen zufolge wird die Gesamtzahl der regulären Grenzübertritte im Jahr 2025 auf 887 Mio. ansteigen, wovon ein Drittel voraussichtlich auf Drittstaatsangehörige entfällt, die zu Kurzaufenthalten in die Schengen-Staaten reisen. Aufgrund dessen ist die Modernisierung der Grenzen notwendig, damit der Strom der Reisenden gemeinsam und effizient verwaltet werden kann.

2.2.

Das neue Einreise-/Ausreisesystem (EES) wird für Grenzübertritte von visumpflichtigen sowie visumbefreiten Drittstaatsangehörigen gelten, die für einen Kurzaufenthalt (höchstens 90 Tage in einem Zeitraum von 180 Tagen) oder ggf. auf der Grundlage eines Rundreise-Visums (bis zu einem Jahr) in den Schengen-Raum reisen.

2.3.

Die Einführung des EES soll folgende Vorteile bringen: 1. Reduzierung von Verzögerungen bei den Grenzübertrittskontrollen und Verbesserung der Qualität der Grenzübertrittskontrollen für Drittstaatsangehörige; 2. Gewährleistung einer systematischen und zuverlässigen Ermittlung von Personen, die die Aufenthaltsdauer überziehen („Overstayer“); 3. Stärkung der inneren Sicherheit und wirksamere Bekämpfung von Terrorismus und schwerer Kriminalität.

2.4.

Zur Modernisierung des Außengrenzenmanagements im Schengen-Raum legte die Kommission im Februar 2013 ein Paket von Legislativvorschlägen für intelligente Grenzen vor. Seit 2013 haben sich einige Änderungen ergeben, die die Gestaltung und Einführung des EES erleichtern:

2.4.1.

Das VISA-Informationssystem (VIS) ist nunmehr voll funktionsfähig und die biometrische Überprüfung der Visainhaber im VIS an den Grenzen des Schengen-Raums ist inzwischen vorgeschrieben.

2.4.2.

Die Dialoge über eine Liberalisierung der Visabestimmungen mit den Ländern auf dem Westbalkan und an den östlichen und südöstlichen Grenzen der EU sind abgeschlossen oder wurden beschleunigt, was dazu führen wird, dass ein größerer Anteil der in die EU reisenden Personen von der Visumpflicht befreit ist.

2.4.3.

Es wurde ein Fonds für die innere Sicherheit (ISF-B) eingerichtet und mit Mitteln in Höhe von 791 Mio. EUR für die Entwicklung intelligenter Grenzen ausgestattet.

2.4.4.

In der Europäischen Migrationsagenda wurde das Grenzmanagement als einer der vier Schwerpunkte für eine bessere Steuerung der Migration festgelegt.

2.4.5.

Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung hat rechtliche Klarheit über die Bedingungen und Garantien geschaffen, die bei der Speicherung und Verwendung von EES-Daten eingehalten werden müssen.

3.   Allgemeine Bemerkungen zur Einführung eines neuen Einreise-/Ausreisesystems in der EU

3.1.

Der Ausschuss hält den Übergang von einem nicht integrierten und schwerfälligen System, das auf dem Stempeln der Reisedokumente durch das Grenzpersonal beruhte, zu einem quasi automatischen System, das den Zugang von Drittstaatsangehörigen erleichtert, für notwendig. In diesem Fall ist der Mehrwert der Bemühungen der EU offensichtlich. Die Europäische Union benötigt ein Grenzsystem, das einerseits mit der wachsenden Mobilität Schritt hält und gleichzeitig die Sicherheit auf dem Gebiet der Union gewährleistet — ein System, das die Mobilität vereinfacht und gleichzeitig die Grundrechte nicht einschränkt.

3.2.

Der Ausschuss begrüßt, dass dieses System im Rahmen eines Pilotprojekts getestet wurde und dass die Auswirkungen der verschiedenen Verfahren der biometrischen Identifizierung auf die Reisenden aus Drittländern in der Praxis beobachtet werden konnten (siehe die nach dem Pilotprojekt veröffentlichte Studie) (1). Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass die Befragten größtenteils Vertrauen in die biometrischen Verfahren haben, und spiegeln den Konsens der Sachverständigen in Bezug auf die sichersten und zuverlässigsten Verfahren zur biometrischen Identifizierung einer Person wider.

3.3.

Auch die Beteiligung der Agentur für Grundrechte wird begrüßt. Die Agentur hatte unter Drittstaatsangehörigen, mit denen das System erprobt wurde, eine Umfrage über verschiedene Verfahren durchgeführt, mit denen die biometrischen Erkennungsmerkmale von Personen aus Drittländern in unterschiedlichen Umgebungen (Flughäfen, Bahnhöfe und Züge, Häfen und Seegrenzen, Grenzübergänge an Straßen) und unter verschiedenen Bedingungen untersucht werden können, wobei alle in diesem Test eingesetzten Geräte bereits auf dem Markt verfügbar sind (2).

3.4.

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass die Erhebung biometrischer Daten von bestimmten Gruppen als erniedrigend empfunden wird (durchschnittlich 45 % der Befragten, dabei entfallen auf Nordamerika 30 %, Europa 43 %, Lateinamerika und Karibik 46 %, Asien 52 % und Afrika 58 %) (3). Hinsichtlich der Art der erhobenen biometrischen Daten wird das Scannen der Iris vom größten Anteil der Befragten als erniedrigend empfunden (32 %), gefolgt von der Gesichtserkennung (26,2 %). Außerdem ist relevant, dass ein beträchtlicher Anteil der Befragten (44,3 %) der Meinung ist, dass die Einführung des Systems zu weniger Diskriminierung führen wird.

3.5.

Der Ausschuss hat sich durch seine Stellungnahmen wiederholt um einen ausgewogenen Ansatz bemüht, der es ermöglicht, Sicherheitserfordernisse und die Einhaltung der Rechtsvorschriften in Einklang zu bringen und zugleich an den Grundwerten der Europäischen Union und ihrer Vision eines freien, offenen und sicheren Raums festzuhalten.

3.6.

Es ist von entscheidender Bedeutung für die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten, das Ein- und Ausreisesystem zu erleichtern, um mehr Besucher — von Touristen bis hin zu Geschäftsleuten und Fachkräften — anzuziehen statt abzustoßen. Der Ausschuss hat deshalb auf eine beunruhigende Entwicklung in einigen Mitgliedstaaten hingewiesen, die Drittstaatsangehörigen mit zunehmender Zurückhaltung aufnehmen. „Der Ausschuss befürchtet jedoch angesichts bestimmter Praktiken in gewissen Mitgliedstaaten, dass es nicht zu erwarten steht, dass die Mitgliedstaaten Menschen aus Drittländern den Zugang zur EU erleichtern werden, wenn es gleichzeitig schon Mitgliedstaaten gibt, die selbst Unionsbürgern mit der Ausweisung in ihr Herkunftsland drohen, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren, oder ihnen schlichtweg die Einreise verweigern“ (4).

3.7.

In einer früheren Stellungnahme zum Thema „Intelligente Grenzen“ betonte der EWSA, „dass die Identität der Europäischen Union explizit und implizit mit Offenheit und Vernetzung nicht nur innerhalb ihrer Grenzen, sondern auch über die Grenzen hinweg in Zusammenhang gebracht wird. Die EU ist ein lebendiger kultureller, sozialer, politischer und wirtschaftlicher Raum, und grenzüberschreitende Mobilität leistet einen Beitrag, um die Bedeutung Europas in der Welt zu bewahren. Vor diesem Hintergrund sollten die EU-Institutionen und Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die neuen Systeme die Mobilität von Drittstaatsangehörigen und deren Bereitschaft zu Reisen in die EU nicht beeinträchtigen“ (5).

3.8.

In dieser Stellungnahme unterstreicht der Ausschuss auch die Bedeutung des Schutzes der Grundrechte und des Diskriminierungsverbots sowie der Integrität und ordnungsgemäßen Nutzung gesammelter und im System gespeicherter Daten durch verfahrenstechnische und institutionelle Mittel.

3.9.

Unklar ist, wie die Mitgliedstaaten ihren haushaltstechnischen und institutionellen Beitrag zum Funktionieren des Systems leisten sollen. Dies muss präzisiert werden, und es müssen Lösungen gefunden werden, um die Mitgliedstaaten in die Pflicht zu nehmen, damit sie kooperieren und einen Beitrag zur Umsetzung des Systems leisten.

3.10.

Der Ausschuss verweist auf ähnliche Erfahrungen in Ländern, die vergleichbare Systeme eingeführt haben. Die Erwartungen der Öffentlichkeit und aller Beteiligten müssen mit den Kapazitäten des Systems in Einklang gebracht werden, damit alle festgelegten Ziele erreicht werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Hinsichtlich der biometrischen Erkennungsmerkmale begrüßt der Ausschuss die Verringerung der Zahl der Fingerabdrücke von 10 auf 4, was ein notwendiges Minimum darstellt, damit zusammen mit der Gesichtserkennung relevante Daten erfasst werden können.

4.2.

Der Ausschuss betont, dass das Recht auf Auskunft über personenbezogene Daten sowie das Recht auf deren Berichtigung bzw. Löschung klar definiert und sichergestellt werden muss.

4.3.

Es ist äußerst wichtig, dass die zuständigen Behörden bei der Anwendung des EES sicherstellen, dass die Menschenwürde und die Integrität der Personen, deren Daten angefordert werden, gewahrt werden und dass keine Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen Meinung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung erfolgt.

4.4.

Die Anwendung des EES hat deutliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Rechte, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind: das Recht auf Achtung der Würde des Menschen (Artikel 1 der Charta), das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Artikel 5), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 6), das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 7), das Recht auf Schutz personenbezogener Daten (Artikel 8), das Recht auf Nichtdiskriminierung (Artikel 21), die Rechte des Kindes (Artikel 24), die Rechte älterer Menschen (Artikel 25), die Rechte von Menschen mit Behinderung (Artikel 26) und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Artikel 47). Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Achtung der Grundrechte durch die Fachinstitutionen der Europäischen Union kontinuierlich überwacht werden sollte und dass die Organisationen der Zivilgesellschaft auf europäischer und nationaler Ebene dabei eingebunden werden sollten.

4.5.

Auch wenn das Pilotprojekt, mit dem das System an einigen Einsatzorten getestet wurde, keinen erheblichen Widerstand oder maßgebliche Vorbehalte unter den Nutzern hervorgerufen hat, sind den Ergebnissen der von der Agentur für Grundrechte durchgeführten Studie zufolge Schwierigkeiten bei seinem Einsatz bei bestimmten Personengruppen sowie eine negative Wahrnehmung in der Öffentlichkeit abzusehen. Möglicherweise gibt es über die Vorbehalte dieser Personengruppen hinaus Menschen, die die Erfassung biometrischer Daten aus kulturellen oder religiösen Gründen ablehnen oder, weil sie kein Vertrauen in die Art und Weise haben, wie die Daten von den Behörden genutzt und geschützt werden.

4.6.

Daher meint der Ausschuss, dass die Anwendung dieses Systems von einer Öffentlichkeitsarbeit begleitet werden muss, bei der die Funktionsweise des Systems so klar wie möglich erläutert wird, wobei der Schwerpunkt auf dem Schutz der personenbezogenen Daten liegen sollte. Die Öffentlichkeit muss über sämtliche Vorsorgemaßnahmen in Zusammenhang mit der Erfassung, Speicherung und Verwendung der Daten unterrichtet werden, damit eventuelle Vorbehalte überwunden und die Mobilität ohne Hindernisse erleichtert wird.

4.7.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass eine angemessene Information und Schulung des am Betrieb des Systems beteiligten Personals erforderlich ist. Wie auch schon im Rahmen des Pilotprojekts berichtet, hat das Grenzpersonal selbst angemerkt, dass Schulungen als Vorbereitung für die Nutzung der neuen Geräte und Verfahren erforderlich sind (6). Für den einwandfreien Betrieb des Systems sind wiederum die Mitgliedstaaten verantwortlich. Daher müssen Normen und Verfahren erarbeitet werden, durch die die Verantwortung der Mitgliedstaaten im Falle von Schäden aufgrund einer Verletzung der Bestimmungen der Verordnung genauer festgelegt wird.

4.8.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Weitergabe von durch Mitgliedstaaten im Rahmen des EES erhobenen personenbezogenen Daten an einen Drittstaat, eine internationale Organisation oder eine private Stelle innerhalb oder außerhalb der Union sowie deren Offenlegung beschränkt und vollständig begründet werden muss.

4.9.

Nach Auffassung des Ausschusses sollten die benannten Stellen und Europol nur dann Zugang zum EES beantragen können, wenn sie den begründeten Verdacht haben, dass dadurch ein wesentlicher Beitrag zur Verhütung, Aufdeckung oder Untersuchung einer terroristischen oder sonstigen schweren Straftat geleistet wird. Die Nutzung des EES wird einen Mehrwert für die Polizeiarbeit bringen; es ist jedoch wichtig, den Zugang streng zu regulieren.

4.10.

Der Ausschuss begrüßt, dass die für das System veranschlagten Kosten überprüft und deutlich verringert wurden (von 1,1 Mrd. EUR auf 480 Mio. EUR).

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, 2015, „Smart Borders Pilot Project: Report on the technical conclusions of the Pilot“, Teil 1.

(2)  Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, 2015, „Smart Borders Pilot Project: Annexes“, November 2015, S. 307-335.

(3)  Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, 2015, „Smart Borders Pilot Project: Technical Report Annexes“, November 2015, S. 322.

(4)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Ein offenes und sicheres Europa: Praktische Umsetzung (COM(2014) 154 final) (ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 96).

(5)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Einreise-/Ausreisesystem (EES) zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union — COM(2013) 95 final — 2013/0057 (COD); Vorschlag für Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 in Bezug auf die Nutzung des Einreise-/Ausreisesystems (EES) und des Programms für registrierte Reisende (RTP) — COM(2013) 96 final — 2013/0060 (COD); Vorschlag für Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Registrierungsprogramm für Reisende — COM(2013) 97 final — 2013/0059 (COD), (ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 97).

(6)  Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, 2015, „Smart Borders Pilot Project: Report on the technical conclusions of the Pilot“, Teil 1, S. 14.


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/70


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 994/2010“

(COM(2016) 52 final — 2016/0030 (COD))

(2016/C 487/11)

Berichterstatter:

Graham WATSON

Befassung

Europäische Kommission, 16.9.2016

Europäisches Parlament, 7.3.2016

Rat der Europäischen Union, 9.3.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 194 des Vertrags über die Europäische Union und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

22.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

133/4/9

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die EU-Maßnahmen zur Gewährleistung einer sicheren Gasversorgung haben die Mitgliedstaaten immerhin dazu bewogen, in ihre Überlegungen verstärkt die Aspekte „Solidarität“ und „gemeinsame Sicherheit“ einzubeziehen. Indes werden die meisten energiepolitischen Fragen in der Praxis nach wie vor als nationale Belange erachtet. Um den Erwartungen der Menschen in Europa in Sachen Versorgungssicherheit gerecht zu werden, ist ein kohärenterer Ansatz für die Energieversorgung auf EU-Ebene erforderlich.

1.2.

Eine derartige EU-weite Regelung muss folgenden Aspekten Rechnung tragen: dem übergeordneten Kontext der globalen Klimaschutzanstrengungen mit den ehrgeizigen im Übereinkommen von Paris festgelegten Zielen, der EU-Strategie für eine krisenfest Energieunion mit einer vorausschauenden Klimapolitik und den verschiedenen geopolitischen Spannungen in Europa und weltweit, u. a. den Flüchtlingsströmen, Krisen an den EU-Außengrenzen, beispielsweise den jüngsten Krisen in der Ukraine, in der Türkei, in Libyen und in Georgien, sowie dem zunehmenden Regionalismus, der die europäische Integration gefährdet.

1.3.

Zur Sicherung der Gasversorgung in Europa sind umfangreiche Investitionen erforderlich. Diese Investitionen müssen in erster Linie über private Quellen finanziert werden; die Öl- und Gasindustrie erzielt ausreichend hohe Gewinne, dass eine öffentliche Förderung nicht notwendig sein sollte. Es bedarf eines berechenbaren und zuverlässigen politischen Rahmens, um das Vertrauen der Investoren und im Gegenzug eine stabile und zuverlässige Gasversorgung zu sichern.

1.4.

Mit der vorgeschlagenen Verordnung soll Gasversorgungskrisen wie in den Jahren 2006 und 2009 vorgebeugt werden. Der größte Gasbedarf besteht für die Beheizung von Gebäuden. Ein breit angelegtes Programm zur energetischen Gebäudesanierung gemäß dem Vorschlag in der Richtlinie 2010/31/EU über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden und der Energieeffizienzrichtlinie 2012/27/EU würde, insbesondere mit einem Fokus auf gasbeheizten Gebäuden, einen erheblichen Rückgang der Gasnachfrage bewirken, vor allem in den Wintermonaten, in denen diese Krisen bislang auftraten.

1.5.

Erdgas ist nach wie vor eine wichtige Übergangsenergiequelle und trägt in erheblichem Maße zur Verringerung der Klimagasemissionen sowie des Ausstoßes gefährlicher Giftstoffe (darunter Feinstaub der Kategorien PM10 und PM2,5) bei. Aufgrund der erheblich günstigeren Emissionsniveau-Indikatoren als bei Kohle ist ein höherer Anteil von Erdgas am Energiemix der Mitgliedstaaten für die Verbesserung der Luftqualität und in der Folge der öffentlichen Gesundheit in den Mitgliedstaaten und ihren Nachbarländern besonders wichtig. Die Energiewende hin zu einer Niedrigemissions-Wirtschaft muss jedoch beschleunigt werden, und die Gasversorgungspolitik muss diesem Aspekt Rechnung tragen.

1.6.

Die Energieverbraucher können eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Verwaltung der Versorgung spielen. In Zusammenarbeit mit den Verbrauchern sollten Verfahrensweisen, insbesondere die innovative Nutzung der IKT, entwickelt werden, um die aktive Teilnahme der Verbraucher am Energiemarkt zu fördern. Energiearmut sollte in erster Linie durch sozialpolitische Maßnahmen bekämpft werden. Diese Maßnahmen sollten eigene nationale Pläne umfassen, um Investitionen in Gebäuderenovierungsprogramme gemäß Artikel 4 der Energieeffizienzrichtlinie 2012/27/EU zu mobilisieren, wobei von Energiearmut bedrohten und schutzbedürftigen Verbrauchern Vorrang einzuräumen und die Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartner zu fördern ist.

1.7.

Der Ausbau erneuerbarer Energie in Verbindung mit einer immer schnelleren Elektrifizierung wird einen deutlichen Rückgang des Gasverbrauchs in der EU und somit der Importe bewirken. Je schneller erneuerbare Energien sich durchsetzen, desto geringer wird die Bedeutung der EU-Außendiplomatie in Sachen Gasversorgungssicherheit. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, eine Bewertung vorzulegen, inwieweit eine Abstimmung zwischen den Prognosen zum Gasverbrauch in der EU, der Gasversorgungssicherheit, der EE-Entwicklung und der Verbesserung der Energieeffizienz in allen Sektoren stattgefunden hat.

2.   Einleitung (Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags)

2.1.

Aufgrund der Auswirkungen der Unterbrechung der Gasversorgung auf die Wirtschaft und die Bürger will die Europäische Kommission ausgehend von den bisherigen Arbeiten der EU eine stärkere Vernetzung der Gasversorgungsinfrastruktur und eine größere Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten erreichen, damit diese gewillt sind, die Lasten derartiger Versorgungsunterbrechungen gemeinsam zu tragen.

2.2.

Ziel des Verordnungsvorschlags ist es, die Vorschriften in einem für die von der EU angestrebte europäische Energieunion wichtigen Politikbereich zu überarbeiten (COM(2015) 80 final). Die Energieunion muss den Verpflichtungen der EU gerecht werden, den vom Menschen durch die Verfeuerung fossiler Brennstoffe verursachten Klimawandel zu stoppen oder nach Möglichkeit sogar umzukehren.

2.3.

Mit dem Verordnungsvorschlag soll gewährleistet werden, dass alle Mitgliedstaaten über geeignete Instrumente zur Vorbereitung auf einen Gasversorgungsengpass und zu dessen Bewältigung verfügen, gleichgültig, ob dieser auf eine Versorgungsunterbrechung oder eine außergewöhnlich hohe Nachfrage zurückzuführen ist.

2.4.

Damit dieses Ziel erreicht wird, werden in dem Verordnungsentwurf eine stärkere Koordinierung auf regionaler Ebene und die Festlegung bestimmter Grundsätze und Standards auf EU-Ebene vorgeschlagen. Das vorgeschlagene Konzept sieht vor, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung der regionalen Risikobewertungen eng mit den Mitgliedstaaten ihrer Region zusammenarbeiten. Sämtliche Risiken, die bei regionalen Risikobewertungen ermittelt werden, sollen dann Gegenstand regionaler Präventions- und Notfallpläne sein, die einer Begutachtung durch Sachverständige unterzogen und von der Kommission gebilligt werden müssen.

2.5.

Damit die Risikobewertungen und die Pläne umfassend und untereinander kohärent sind, enthält die Verordnung obligatorische Vorlagen, in denen die Aspekte aufgeführt sind, die bei den Risikobewertungen und der Erstellung der Pläne zu berücksichtigen sind.

2.6.

Durch die Verordnung wird ferner die Anwendung des Versorgungsstandards auf geschützte Kunden (vor allem Privathaushalte) und des Infrastrukturstandards (Möglichkeit von Gaslieferungen bei Ausfall der größten Infrastruktur) verbessert. Sie ermöglicht die Schaffung permanenter Kapazitäten für Gasflüsse in beide Richtungen. Schließlich wird die Einführung zusätzlicher Maßnahmen für eine größere Transparenz bei Erdgaslieferverträgen vorgeschlagen, da diese Verträge sich auf die Versorgungssicherheit in der EU auswirken können.

2.7.

Es besteht klarer Handlungsbedarf auf EU-Ebene, da eine nationale Vorgehensweise zu suboptimalen Maßnahmen führt und die Folgen einer Krise noch verschärft. Eine Maßnahme eines Landes kann zu einem Gasversorgungsengpass in benachbarten Ländern führen.

2.8.

Gut funktionierende Märkte sind von entscheidender Bedeutung für eine sichere Gasversorgung, und koordinierte Maßnahmen der Mitgliedstaaten können, insbesondere in Notfällen, die Versorgungssicherheit erheblich verbessern. Dies gilt für die bessere Koordinierung nicht nur der nationalen Folgenminderungsmaßnahmen in Notfällen, sondern auch der nationalen Präventionsmaßnahmen, z. B. der Vorschläge für eine bessere Koordinierung der nationalen Speicherung oder der Konzepte für LNG (COM(2016) 49 final), die in einigen Regionen von strategischer Bedeutung sein können.

2.9.

Aus einem Monitoring-Bericht der Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) aus dem Jahr 2014 geht hervor, dass es immer noch ernsten Anlass zur Besorgnis hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten gibt (die überwiegend nationalen Maßnahmen sind nicht geeignet, Gasversorgungsprobleme zu beheben). Außerdem hat sich bei dem im Sommer 2014 durchgeführten Stresstest (COM(2014) 654 final) gezeigt, dass eine gravierende Unterbrechung der Gaslieferungen aus dem Osten noch immer erhebliche Folgen für die gesamte EU hätte.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die Hauptschwierigkeit in Verbindung mit diesem Verordnungsvorschlag ist nicht das Dokument an sich, sondern sein Kontext. Während in der Rahmenstrategie für eine krisenfeste Energieunion mit einer zukunftsorientierten Klimaschutzstrategie (COM(2015) 80 final) beinahe schon mit messianischem Sendungsbewusstsein die Notwendigkeit der Bekämpfung des Klimawandels betont wird, trägt dieser Vorschlag (obwohl im Einklang mit den früheren Verordnungen über die Gasversorgungssicherheit) den Zielen der Rahmenstrategie nicht umfassend Rechnung.

3.2.

Viele Klimaforscher haben darauf hingewiesen, dass bis 2050 praktisch ein Nullemissionsniveau erreicht werden muss, wenn eine realistische Aussicht darauf bestehen soll, den Temperaturanstieg auf 2 oC zu begrenzen. Für eine Begrenzung auf 1,5 oC muss Klimaneutralität noch früher erreicht werden. Um den Ausstoß von rund 4 611 Mio. t Kohlendioxidäquivalent in die Atmosphäre (Referenzjahr: 2013) zu verhindern, muss der Bedarf an Primärenergie in der EU (1 567 Mio. t Rohöläquivalent im Jahr 2013) durch saubere Energie abgedeckt werden. Mehr als zwei Drittel der Emissionen sind auf die Verfeuerung fossiler Brennstoffe zurückzuführen, die unsere industrielle Gesellschaft antreiben. Diese müssen ersetzt werden.

3.3.

Erdgas ist nach wie vor eine wichtige Übergangsenergiequelle und hat zur Verringerung der Klimagasemissionen aus festen Brennstoffen in der EU beigetragen, vor allem in Ländern, die zur Energieerzeugung vor allem Kohle einsetzen. Die Energiewende hin zu CO2-armen und letztlich klimaneutralen Energiequellen muss jedoch beschleunigt werden. Dies ist eine Voraussetzung für die Verwirklichung des langfristigen Ziels der Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 oC, das im Übereinkommen von Paris verankert ist, und die Gasversorgungspolitik muss diesem Aspekt Rechnung tragen. Dies sollte auch in den Risikobewertungen berücksichtigt werden, die die Mitgliedstaaten vornehmen müssen. Eine bessere Abstimmung zwischen den EU-Maßnahmen zur Gasversorgung und den Dimensionen der Energieunion, insbesondere einem voll integrierten europäischen Energiemarkt, der Erhöhung der Energieeffizienz und der Dekarbonisierung, tut not, um wirksame Investitionen zu fördern und den Rahmen für ein krisenfestes Energiesystem zu schaffen.

3.4.

Fünf Jahre nach der Verabschiedung der Verordnung (EU) Nr. 994/2010 ist die Frage der Gasversorgungssicherheit angesichts der anhaltenden Spannungen zwischen der Ukraine und Russland nach wie vor von großer Bedeutung. In den Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene werden Anstrengungen unternommen, um die Versorgungssicherheit für den Winter 2016/2017 und darüber hinaus zu erhöhen. Ernsthafte Bemühungen zur Sicherstellung einer besseren Energieleistung von Gebäuden durch Isolierung, vor allem bei gasbeheizten Gebäuden, würden sich indes erheblich auf den Gasbedarf auswirken.

3.5.

Erdgas hat feste Brennstoffe als zweitwichtigster Energieträger in der EU abgelöst; so wurden 23,8 % des gesamten Primärenergieverbrauchs im Jahr 2013 über Erdgas gedeckt. Dies hat zur Verringerung des Klimagasausstoßes in der EU beigetragen. Gleichzeitig ist auch die Zunahme des Anteils erneuerbarer Energie bemerkenswert: So entfielen 2013 15 % des Bruttoendenergieverbrauchs in der EU auf erneuerbare Energien (2004 lag ihr Anteil noch bei 8,3 %), wodurch die EU auf dem richtigen Weg zur Verwirklichung eines EE-Anteils von 20 % im Jahr 2020 ist. Die Bruttostromerzeugung aus erneuerbaren Energien hat sich zwischen 2000 und 2013 fast verdoppelt; auf erneuerbare Energien entfielen 2013 mehr als 25 % der gesamten Stromerzeugung.

3.6.

Der Ausbau erneuerbarer Energie in Verbindung mit einer immer schnelleren Elektrifizierung wird einen deutlichen Rückgang des Gasverbrauchs in der EU und somit der Importe bewirken. Je schneller erneuerbare Energien sich durchsetzen, desto geringer wird die Bedeutung der EU-Außendiplomatie in Sachen Gasversorgungssicherheit. Eine bessere Abstimmung zwischen den Prognosen zum Gasverbrauch in der EU, der Gasversorgungssicherheit, der EE-Entwicklung und den Verbesserungen der Energieeffizienz in allen Sektoren ist daher unverzichtbar.

3.7.

Eine Koordinierung zwischen den EU-Mitgliedstaaten in puncto Brennstofftransport und -lieferung in Bezug auf politische Maßnahmen und langfristige Strategien ist für die Verwirklichung der Energieunion von entscheidender Bedeutung. In dem Kommissionsvorschlag soll die EU in sieben „Regionen“ aufgeteilt werden, innerhalb derer die Politik koordiniert werden soll. Dies ist bestenfalls eine Übergangslösung, da eine EU-weite Politikkoordinierung schon bald unumgänglich sein wird; diese Koordinierung sollte idealerweise auf die Vertragsparteien der Energiegemeinschaft ausgedehnt werden, d. h. auf die Nachbarländer, mit denen die EU Energieabkommen geschlossen hat.

3.8.

Angesichts des zunehmenden Wettbewerbs um Energielieferungen und der erforderlichen Diversifizierung der Versorgungsquellen muss Energie ein wichtiger Aspekt in der EU-Außenpolitik bleiben. Diese Politik muss jedoch vermehrt auf Energieversorgungssicherheit auf der Grundlage erneuerbarer Energieträger (EE) ausgerichtet sein, vor allem ausgereifter Technologien wie Solar- und Windenergie, um die EE-Produktion in der EU zu ergänzen.

3.9.

Eine neue Energie-Governance muss für Kohärenz zwischen verschiedenen Aspekten der Energieversorgung und für die Verwirklichung der EU-Ziele sorgen. Ein wichtiger Faktor zur Gewährleistung der Kohärenz ist eine systematische und strukturierte Einbeziehung der Zivilgesellschaft zu einem früheren Zeitpunkt, um sicherzustellen, dass eine breite Mehrheit der Organisationen der Zivilgesellschaft um die Herausforderungen im Bereich Energieversorgungssicherheit wissen und, noch viel wichtiger, dass politische Entscheidungsträger in ganz Europa sich der Anliegen und Interessen sowie der Ressourcen und Lösungen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner zur Bewältigung dieser Herausforderungen und zur Verwirklichung der Ziele der EU-Energiepolitik bewusst sind. Hierfür hat der EWSA das Konzept des europäischen Energiedialogs aktiv beworben; die Europäische Kommission hat diese Initiative ausdrücklich begrüßt.

3.10.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Energie-Governance sollte die gegenseitige Verstärkung der externen und der internen Dimension der Energiepolitik im Einklang mit dem Aktionsplan für die Energiediplomatie sein. Der EWSA hat bereits die Forderung erhoben, bei der Konzeption und Durchführung der externen Energiepolitik der EU die bestehende Zusammenarbeit und den Dialog im Energiebereich mit wichtigen Erzeugerstaaten oder -regionen, Transitländern oder -regionen und Nachbarstaaten sowie mit wichtigen globalen und regionalen strategischen Partnern auszubauen bzw. neue Möglichkeiten für Energiezusammenarbeit und -dialog zu erschließen, um die Diversifizierung der Energiequellen, -lieferanten und -versorgungswege zu verbessern.

3.11.

Die externe Energiepolitik der EU, einschließlich der Erdgasbeschaffungspolitik, muss einem breiten geopolitischen Kontext Rechnung tragen. Der EWSA hat bereits darauf hingewiesen, dass die kommerziellen Aspekte eines Projekts nicht alleiniges Entscheidungskriterium sein sollten, zumal Russland dazu neigt, Energie als geopolitischen Hebel anzusetzen. Die politische Stabilität der Länder entlang der Pipelinetrassen und ihre Anfälligkeit für politische Einflussnahme von außen, die soziale und ökologische Bilanz von Projektentwicklern und die Beteiligung russischer Unternehmen an Exploration und Förderung zählen zu den Faktoren, die in der Energiediplomatie der EU berücksichtigt werden müssen. Bei der Bewertung neuer Projekte müssen außerdem ihre Auswirkungen auf die Energiesicherheit von Nachbarländern mit einbezogen werden. So bergen beispielsweise Projekte, bei denen Erdgas nicht mehr über die Ukraine transportiert wird, die Gefahr, dass die Einnahmen des Landes sinken, Investitionen in die Modernisierung der Netze ausbleiben und sich das Kräfteverhältnis zugunsten Moskaus verschiebt.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA begrüßt den Kommissionsvorschlag in Bezug auf die gemeinsame Definition des Begriffs „geschützter Kunde“.

4.2.

Der EWSA begrüßt das Konzept der „gemeinsamen Verantwortung“ auf drei Ebenen zwischen Erdgasunternehmen, den Mitgliedstaaten und der EU zur Sicherheit der Energieversorgung sowie den Vorschlag, dass die Europäische Kommission ggf. die Maßnahmen koordinieren soll — eine Forderung, die der Ausschuss bereits in einer früheren Stellungnahme (1) erhoben hatte. Dies ist zur Gewährleistung der Transparenz von Lieferverträgen besonders wichtig.

Der EWSA ist außerdem der Ansicht, dass die Verantwortlichkeiten und Aufgaben der öffentlichen Behörden, auf die sich Artikel 3 bezieht, von denen der Unternehmen und privaten Einrichtungen unterschieden werden müssen. Deshalb schlägt er einen neuen Wortlaut vor, der dies verdeutlicht:

Die sichere Erdgasversorgung ist im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten Aufgabe der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten und der Kommission.

Die Erdgasunternehmen und die gewerblichen Erdgasverbraucher müssen zusammenarbeiten und die von den zuständigen Behörden beschlossenen Maßnahmen umsetzen.

4.3.

Der EWSA nimmt die Kriterien für die Zusammensetzung der sieben „Regionen“ in der EU zur Kenntnis. Es sollte zumindest eine Lösung ins Auge gefasst werden, in der ein Mitgliedstaat gleichzeitig mehr als nur einer „Region“ angehören kann.

4.4.

Der EWSA hält fest, dass der vorgeschlagene Infrastrukturstandard sich kaum von den in der Verordnung aus dem Jahr 2010 enthaltenen Vorschriften unterscheidet. Er begrüßt den Vorschlag zur Schaffung von Kapazitäten für Gasflüsse in beide Richtungen (bidirektionale Kapazität) auf allen Verbindungsleitungen zwischen Mitgliedstaaten.

4.5.

Der EWSA weist darauf hin, dass sich der vorgeschlagene Versorgungsstandard ebenfalls kaum von den in der Verordnung aus dem Jahr 2010 enthaltenen Vorschriften unterscheidet. Er begrüßt die Anforderung zur Durchführung einer Folgenabschätzung vor der Einführung neuer nicht marktbasierter Maßnahmen.

4.6.

Der EWSA nimmt den Vorschlag zur Kenntnis, dass Risikobewertungen nun auf regionaler Ebene durchgeführt werden. Er begrüßt dies als Schritt in die richtige Richtung, bis Risikobewertungen auf EU-Ebene durchgeführt werden. Er begrüßt außerdem die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Vorlage und erachtet das Begutachtungsverfahren (Peer-Review) diesbezüglich als wichtig.

4.7.

Der EWSA begrüßt die Vorschläge für Notfallpläne, Krisenmanagementverfahren und Notfallmaßnahmen.

4.8.

Der EWSA begrüßt ferner die auf den Ergebnissen der Stresstests im Sommer 2014 beruhenden Vorschläge für Transparenz und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten als geeigneten Sicherheitsmechanismus. Er nimmt insbesondere erfreut zur Kenntnis, dass sich die hochrangige Gruppe für Erdgas-Verbindungsleitungen in Mittel- und Südosteuropa auf eine Liste von vorrangigen Projekten geeinigt hat, deren Umsetzung den Ländern in der Region Zugang zu mindestens drei Erdgasquellen eröffnet und somit die Diversifizierung und Versorgungssicherheit gewährleistet.

4.9.

Der EWSA begrüßt darüber hinaus die Vorschläge für die Zusammenarbeit mit Drittländern, die Vertragspartner der Energiegemeinschaft sind.

4.10.

Der EWSA ist sich der Wichtigkeit des Vorschlags für eine kontinuierliche Überwachung der Maßnahmen zur Erdgasversorgungssicherheit bewusst und fordert die Europäische Kommission auf, dabei der Notwendigkeit Rechnung zu tragen, den Ausstieg aus Erdgas zugunsten erneuerbarer Energien voranzubringen.

4.11.

Der EWSA nimmt die vorgeschlagenen Ausnahmen für Malta und Zypern zur Kenntnis und fordert beide Länder auf, angesichts ihres günstigen Klimas als Vorreiter in Sachen Energiewende aufzutreten und ihren Energiebedarf statt über fossile Brennstoffe über erneuerbare Energiequellen zu decken.

Brüssel, den 22. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Siehe ABl. C 339 vom 14.12.2010, S. 49.


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/75


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über eine EU-Strategie für Flüssigerdgas und die Speicherung von Gas“

(COM(2016) 49 final)

(2016/C 487/12)

Berichterstatter:

Marian KRZAKLEWSKI

Befassung

Europäische Kommission, 16.2.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

22.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

109/0/8

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die in der Mitteilung COM(2016) 49 final beschriebene EU-Strategie für Flüssigerdgas (LNG) und die Speicherung von Gas ein unverzichtbarer Bestandteil der geplanten Energieunion ist und dazu dient, die Sicherheit und Diversifizierung der Versorgung zu gewährleisten.

1.2.

Der Ausschuss sieht Chancen für einen Zuwachs an Sicherheit und Krisenfestigkeit der Gasversorgung der EU, da das weltweite Potenzial der Gasverflüssigung in den nächsten Jahren wachsen und wahrscheinlich für einen Preisrückgang sorgen wird.

1.3.

Der Ausschuss hält eine Flexibilisierung des europäischen Gasmarktes durch Ausweitung des LNG-Anteils auf diesem Markt für dringend erforderlich.

1.4.

Nach Auffassung des EWSA sind die Erhöhung des LNG-Anteils auf dem EU-Gasmarkt, die Sicherstellung angemessener Gasreserven in den Speichern sowie eine echte Diversifizierung der Energieversorgung Faktoren zur Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit der Länder der EU.

1.5.

In der Kommissionsmitteilung, um die es in dieser Stellungnahme geht, wird zu Recht auf die scheinbar ausreichende Rückvergasungskapazität der EU hingewiesen, da dieses Potenzial regional nicht optimal ausgeschöpft wird.

1.6.

Der Ausschuss teilt die Überzeugung, dass für die angestrebte vollständige und nachhaltige Diversifizierung der Gaslieferungen in die EU diversifizierte Konzepte für den Bau neuer LNG-Terminals nötig sind.

1.6.1.

Investitionen, mit denen die Ausgewogenheit der Versorgungsrichtungen gefördert werden soll, sind vorrangig zu behandeln. Bei einer umsichtigen Förderung des Baus neuer LNG-Terminals und grenzüberschreitender Verbindungsleitungen aus EU-Mitteln sollten Regionen berücksichtigt werden, die derzeit isoliert und von einem einzigen Lieferanten abhängig sind.

1.6.2.

Von Bedeutung für einen Ausbau des LNG-Marktes in der EU sind effiziente und rechtzeitige Investitionen in Vorhaben von gemeinsamem Interesse. Es gilt, transparente Verfahren für eine gerechte Verteilung der Investitions- und Betriebskosten zwischen den Mitgliedstaaten und Wirtschaftsteilnehmern auszuarbeiten.

1.6.3.

Nach Auffassung des Ausschusses sollte die EU sicherstellen, dass die Entwicklung von LNG-Terminals der Typen „Fast-Track“ und Floating Storage and Regasification Units (FSRU) technisch neutral ausgewählt und von den effektivsten Investitionen getragen wird.

1.7.

Der EWSA unterstützt die Absicht der Kommission, zu prüfen, ob die zwischenstaatlichen Übereinkommen über LNG-Einkäufe von Drittstaaten mit dem EU-Recht im Einklang stehen.

1.8.

Der Ausschuss weist darauf hin, dass in der Kommissionsmitteilung nicht dargelegt wird, inwiefern die Strategie zur Erhöhung des LNG-Anteils und zur Stärkung der Gasspeicherung mit den derzeit geplanten umfangreichen Netzinvestitionen durch Nachbarstaaten der EU, etwa Nordstream 2, vereinbar ist.

1.9.

Der EWSA würdigt und bekräftigt die Bedeutung von Erdgas, unter anderem die wichtige Rolle von LNG, für die Umstellung der Energiewirtschaft der EU auf emissionsarme Energiequellen und die Reduzierung der Emissionen von Treibhausgasen sowie giftigen Gasen und Feinstaub (PM10, PM2,5), die die Gesundheit und das Leben der Bürger in den Mitgliedstaaten gefährden.

1.9.1.

Die in der Mitteilung vorgestellte Strategie lässt eine stärkere Betonung der Brückenfunktion des Erdgases in der Zeit der Umstellung der kohlegestützten Stromerzeugung auf eine emissionsarme Wirtschaft vermissen. Erdgas als saubere Energiequelle ist von besonderer Bedeutung für die spürbare Reduzierung bodennaher Emissionen, insbesondere aus privaten Haushalten und im Verkehr.

1.9.2.

Der Ausschuss empfiehlt, in der Phase des Übergangs von der kohlegestützten Stromerzeugung zu einer emissionsarmen Wirtschaft den Erdgasanteil im Energiemix der Mitgliedstaaten zu erhöhen, insbesondere in den Staaten, in denen der größte Anteil auf Kohle entfällt.

1.10.

Der EWSA teilt die in der Mitteilung dargelegte These, dass die Verwendung von LNG im Gütertransport mit schweren Nutzfahrzeugen und im Schiffsverkehr die schädlichen Umweltauswirkungen deutlich verringern kann.

1.10.1.

Zugleich betont der Ausschuss, dass in der Mitteilung der intensiven Entwicklung des europäischen Systems der Versorgung mit und Nutzung von LNG als Kraftstoff im Straßen- und im Schiffsverkehr zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird.

1.11.

Der Ausschuss erkennt die besondere Bedeutung der Gasspeicherung für das europäische System der Versorgungssicherheit und eine krisenfeste Versorgung mit Erdgas an. Die EU verfügt über beträchtliche Speicherkapazitäten (COM(2016) 49 final), ihre Verteilung ist jedoch unzulänglich.

1.12.

Nach Einschätzung des EWSA ist eine ausgewogene und sichere Energieversorgung nur erreichbar, wenn die Betreiber von Speicheranlagen den Grundsatz befolgen, dass die Mindestmenge des gespeicherten Gases den Bedarf des nationalen Marktes in der Winterzeit zu 100 % decken sollte. Die beste Alternative wäre allerdings eine regional ausgewogene Gasspeicherung.

1.13.

Der Ausschuss unterstützt und würdigt die Pläne der Kommission, die Handelsbarrieren zwischen effizienten regionalen Gas-Hubs und den Märkten einzelner Länder aufzuheben.

1.14.

Im Hinblick auf die in der Mitteilung betonte Frage der Errichtung fehlender Infrastrukturen ist der EWSA überzeugt, dass die im Rahmen des Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) gegebenen Möglichkeiten einer Kofinanzierung von Projekten in den Bereichen Energie und kritische Informationsinfrastrukturen genutzt werden sollten.

2.   Hintergrund

2.1.

Im März 2015 nahm der Rat der Europäischen Union Schlussfolgerungen zur Energieunion an. Der wichtigste Teil dieses Dokuments enthält die Feststellung: „Die EU tritt für die Schaffung einer Energieunion mit einer zukunftsorientierten Klimapolitik auf der Grundlage der Rahmenstrategie der Kommission ein, deren fünf Dimensionen

(Energieversorgungssicherheit, Solidarität und Vertrauen;

ein vollständig integrierter europäischer Energiemarkt;

Energieeffizienz als Beitrag zur Senkung der Nachfrage;

Verringerung der CO2-Emissionen der Wirtschaft;

Forschung, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit) eng miteinander verbunden sind und sich gegenseitig verstärken.“

2.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass der Rat in oben zitiertem Dokument unter Punkt 2. a) zum Voranbringen von Strom- und Gasinfrastrukturprojekten, einschließlich Verbundnetzen, insbesondere zur Anbindung von Regionen in Randlage, aufruft, damit Energieversorgungssicherheit und ein gut funktionierender Energiebinnenmarkt gewährleistet werden können.

2.3.

Der EWSA analysiert die in der Mitteilung COM(2016) 49 final dargestellte EU-Strategie für Flüssigerdgas (LNG) und die Speicherung von Gas. Diese Strategie ist angesichts ihres Beitrags zur Energieversorgung, zur Wettbewerbsfähigkeit der Energiemärkte sowie zu den Klima- und Umweltzielen im Rahmen der Energieunion und außerhalb von ihr ein wichtiges Element des Energieunion-Projekts (COM(2015) 80).

2.4.

Erdgas ist ein wichtiger Brennstoff in der Energiebilanz der EU. Im Gesamtverbrauch der Energieträger nimmt Erdgas 25 % ein. Es sei darauf hingewiesen, dass die Gewinnung dieses Rohstoffs in den Mitgliedstaaten 34 % des Energiebedarfs der Industrie, des Dienstleistungssektors und der privaten Haushalte deckt.

2.5.

Der Rückgang der Erdgasgewinnung in der EU schreitet ziemlich schnell voran. Während 2004 noch 229,5 Mrd. Kubikmeter Erdgas gewonnen wurden, betrug die Fördermenge 2014 lediglich 132,3 Mrd. Kubikmeter. Zudem ist die auf 11,3 Jahre geschätzte statische Reichweite der Reserven nicht groß. In Anbetracht dieser Zahlen ist es nur verständlich, dass die Europäische Union der weltweit größte Importeur von Erdgas ist. Im Jahr 2014 betrug der Gasverbrauch in der EU 386,9 Mrd. Kubikmeter, fiel damit auf den niedrigsten Stand der vergangenen zehn Jahre und war um 11,6 % geringer als im Vorjahr. Der durchschnittliche jährliche Gasverbrauch in der EU betrug im Zeitraum 2004-2013 indessen 477 Mrd. Kubikmeter.

2.6.

Die weltweit förderbaren Erdgasreserven sind beträchtlich (187 000 Mrd. Kubikmeter), die statische Reichweite beträgt hier 54 Jahre. Berücksichtigt man die Vorkommen unkonventionellen Gases, steigt die statische Reichweite der Gasreserven auf 290 Jahre.

2.7.

Bis 2020 wird das weltweite Potenzial der Gasverflüssigung bedeutend steigen (+ 50 %), vornehmlich in den USA und in Australien (über 100 Mio. Tonnen jährlich), und so mit Sicherheit für einen Preisrückgang sorgen. Diese Entwicklung bietet den EU-Mitgliedstaaten die Chance für mehr Sicherheit und Krisenfestigkeit der Gasversorgung im Falle möglicher Versorgungsschwierigkeiten.

2.8.

In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts wurde Gas hauptsächlich über Gasleitungssysteme in die EU eingeführt, Flüssiggas (LNG) machte lediglich ein Fünftel des Imports aus, obwohl dieses ein 600-fach kleineres Volumen hat, was seinen Transport und seine Speicherung kosteneffizienter macht.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA würdigt die Bedeutung von Gas für die Umstellung der EU-Energiewirtschaft auf emissionsarme Energiequellen und das Ziel einer Emissionsreduzierung. Ein ausgewogener und freier Zugang der Mitgliedstaaten zu diversifizierten und politisch stabilen Märkten für Erdgaserzeuger ist kurz- und mittelfristig von höchster Priorität und ein wichtiger Faktor der Klima- und Energiepolitik der EU sowie der Schaffung einer stabilen Energieunion. Bei der Politik im Zusammenhang mit dem Anteil von Gas am Energiemix ist das im Übereinkommen von Paris (COP 21) niedergelegte langfristige Ziel zu berücksichtigen, den Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur auf 1,5 oC zu begrenzen.

3.2.

Der Ausschuss merkt an, dass es sich bei der Mitteilung der Kommission (COM(2016) 49 final) um eine Fortsetzung der auf der Tagung des Europäischen Rates vom 23./24. Oktober 2014 angenommenen Schlussfolgerungen zum Rahmen der Klima- und Energiepolitik der EU handelt, die bis 2030 folgende Ziele festschreibt:

Reduzierung der CO2-Emissionen um 40 %;

Anteil der erneuerbaren Energien am Energieverbrauch in der EU von mindestens 27 %;

Verbesserung der Energieeffizienz um mindestens 27 %.

3.3.

Für die Wettbewerbsfähigkeit von Gas als Brennstoff in den EU-Ländern sowie für die Frage, ob Gas zukünftig eine echte Alternative zu Festbrennstoffen, insbesondere Kohle, sein wird, ist schlussendlich das Zusammenspiel der folgenden fünf Faktoren im nächsten Jahrzehnt entscheidend:

die Energie- und Klimapolitik, insbesondere Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität;

der Gaspreis;

die Umsetzung des europäischen Emissionshandelssystems und damit die Preise für Rechte an CO2-Emissionen;

die Dynamik des Gas-Exportes (LNG) aus den USA und Australien;

die Absatzpreise von Erdöl und Kohle auf dem Weltmarkt.

3.4.

Der EWSA unterstützt und würdigt die Pläne der Kommission, die Handelsbarrieren zwischen effizienten regionalen Gas-Hubs und den Märkten einzelner Länder aufzuheben. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Binnenmärkte für Gas geschaffen, regulatorische und rechtliche Barrieren sowie Handelshemmnisse aufgehoben und der Zugang zu diesen Märkten sichergestellt werden.

3.4.1.

Da sich die Einfuhr von flüssigem Schiefergas aus den USA positiv auf den europäischen Gasmarkt auswirken kann, bestärkt der EWSA die EU-Organe darin, sich in den TTIP-Verhandlungen aktiv für den Abbau von Hürden für entsprechende Importe aus den USA einzusetzen.

3.5.

Anzumerken ist, dass in der Kommissionsmitteilung nicht dargelegt wird, inwiefern die Strategie zur Erhöhung des LNG-Anteils und der Stärkung der Gasspeicherung mit den geplanten Investitionen in Nordstream 2 vereinbar ist (COM(2016) 49 final).

3.6.

Die in der Mitteilung vorgestellte Strategie lässt eine stärkere Betonung der Brückenfunktion des Erdgases in der Zeit der Umstellung der kohlegestützten Stromerzeugung auf eine emissionsarme Wirtschaft vermissen. Gas als Brennstoff ist besonders für eine schnelle und krisenfeste Erzeugung von Strom und Wärme geeignet und kann so für die Absicherung der Versorgung aus erneuerbaren Energiequellen genutzt werden.

3.7.

Der Ausschuss empfiehlt, in der Phase des Übergangs von der kohlegestützten Stromerzeugung zu einer emissionsarmen Wirtschaft den Erdgasanteil im Energiemix der Mitgliedstaaten zu erhöhen, insbesondere in den Staaten, deren Stromerzeugung überwiegend auf Kohle gestützt ist. Das ist besonders für die Verbesserung der Luftqualität wichtig und wird sich günstig auf die Gesundheit der Bürger dieser Länder und der Nachbarländer auswirken. Ferner ist mit einer spürbaren Reduzierung von Treibhausgasen und giftigen Gasen zu rechnen.

3.7.1.

In einigen Mitgliedstaaten werden rund zwei Drittel der Endenergie als Wärme für das Beheizen von Wohnungen genutzt, die in niedrigeffizienten Kohlekraftwerken erzeugt wird. Investitionen in Gaskraftwerke mit geringerem elektrischem Wirkungsgrad würden die Krisenfestigkeit des Energiesystems erhöhen und die Luftqualität verbessern. Solche Investitionen sind kurzfristig (innerhalb von zwei Jahren) realisierbar, und die Finanzierungskosten (CAPEX) sind relativ gering (wenngleich sie deren Betriebskosten erhöhen) und kompensieren zum Teil die relativ hohen Brennstoffkosten. Ein weiterer Vorteil von Gaskraftwerken mit geringerem elektrischem Wirkungsgrad besteht darin, dass sie innerhalb kurzer Zeit mit dem Stromverteilnetz synchronisiert werden können. Sie eignen sich daher besonders als kompensatorische Energiequelle in Zeiten von Bedarfsspitzen.

3.8.

Was die in der Mitteilung hervorgehobene Frage der Errichtung fehlender Infrastrukturen betrifft, sollten die im Rahmen des Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) gegebenen Möglichkeiten genutzt werden. Im Rahmen dieses Programms können unter anderem folgende Projekte in den Bereichen Energie und kritische Informationsinfrastruktur kofinanziert werden:

Ausbau länderübergreifender Stromnetze;

Diversifizierung von Energiequellen und Leitungswegen;

Ausarbeitung europäischer und regionaler Pläne für den Fall einer Energiekrise;

Steigerung der Effizienz der Energiewirtschaft.

4.   Besondere Bemerkungen zu LNG

4.1.

Der Ausschuss hält eine Flexibilisierung des europäischen Gasmarktes durch eine Ausweitung des LNG-Anteils für erforderlich.

4.2.

Die Ausweitung des LNG-Anteils auf dem EU-Gasmarkt, die Sicherstellung angemessener Gasreserven in den Speichern sowie eine echte Diversifizierung der Versorgungsrichtungen sind unerlässliche Faktoren einer erhöhten Energieversorgungssicherheit der Länder der Europäischen Union.

4.3.

In der vorliegenden Kommissionsmitteilung wird zu Recht auf die nur scheinbar ausreichende Rückvergasungskapazität der EU hingewiesen. Scheinbar — denn dieses Potenzial ist geografisch nicht optimal verteilt. In den Ländern der Iberischen Halbinsel, in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden wird das Potenzial der Rückvergasung nur in geringem Maße genutzt, und die Mitgliedstaaten im Ostseeraum, in Südosteuropa sowie Nordosteuropa sind weitgehend von einem einzigen Lieferanten abhängig.

4.4.

Der Ausschuss teilt die Überzeugung, dass für die angestrebte konsequente und nachhaltige Diversifizierung der Gasversorgung des europäischen Marktes diversifizierte Konzepte für den Bau neuer LNG-Terminals nötig sind. Investitionen, die eine Ausgewogenheit der Versorgungsrichtungen fördern, sind prioritär zu behandeln.

4.5.

Bei einer sinnvollen Förderung des Baus neuer LNG-Terminals und grenzüberschreitender Verbindungsleitungen aus EU-Mitteln sollten in erster Linie Regionen berücksichtigt werden, die derzeit isoliert und von einem einzigen Lieferanten abhängig sind. Eine solche Stimulierung von Investitionen würde einer Vielzahl von Gaslieferanten einen gleichberechtigten Zugang zu diesen Regionen eröffnen, auf der Grundlage eines freien und fairen Wettbewerbs. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Erweiterung der Netzkopplungspunkte, mit deren Hilfe der Gashandel zwischen den Inlandsmärkten der Mitgliedstaaten erleichtert wird, insbesondere in Regionen, die derzeit eine nur unzureichende Versorgungssicherheit aufweisen.

4.6.

Von besonderer Bedeutung für einen Ausbau des LNG-Marktes in der EU sind effiziente und rechtzeitige Investitionen in Vorhaben von gemeinsamem Interesse (PCI). Es gilt, klare Verfahren für eine gerechte Verteilung der Investitions- und Betriebskosten zwischen den Mitgliedstaaten auszuarbeiten, die über unterschiedlich entwickelte LNG-Infrastrukturen sowie Kapazitäten für die Gasspeicherung verfügen.

4.7.

Die EU muss sicherstellen, dass die Entwicklung von LNG-Terminals der Typen „Fast-Track“ und FSRU technisch neutral ausgewählt und von den effektivsten Investitionen getragen wird. Diese sollten sich in möglichst niedrigen Tarifen für die Rückvergasung, in einer verkürzten Dauer der Markteinführung der Produkte, einem geringeren Risiko der Einführung sowie einer größeren Sicherheit auf dem Markt niederschlagen.

4.8.

Der EWSA unterstützt uneingeschränkt die Absicht der Kommission, zu prüfen, ob die zwischenstaatlichen Übereinkommen über den LNG-Handel zwischen Mitgliedstaaten und über Einkäufe von Drittstaaten mit dem EU-Recht im Einklang stehen.

4.9.

Der Ausschuss teilt die in der Kommissionsmitteilung dargelegte These, dass die Verwendung von LNG im Gütertransport mit schweren Nutzfahrzeugen als Alternative zum Dieselkraftstoff und die Substitution von Schweröl im Schiffsverkehr die schädlichen Umweltauswirkungen des Verkehrs deutlich verringern können.

4.9.1.

Der Ausschuss weist darauf hin, dass in der Mitteilung dem europäischen System der Versorgung mit und Nutzung von LNG als Kraftstoff im Straßenverkehr und im Schiffsverkehr zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Insbesondere der innovative Ausbau des Versorgungssystems, des Tankstellennetzes im Straßenverkehr und der Bunkerstationen im Schiffsverkehr verdient mehr Beachtung. Diese Ziele werden unter anderem im Rahmen des Projekts „Blue Corridors“ umgesetzt, das EU-Länder von Frankreich bis zu den baltischen Staaten umfasst.

4.10.

In einigen EU-Mitgliedstaaten, die einen unzureichenden Gasnetzzugang haben, werden in großem Umfang fossile Festbrennstoffe für die Strom- und Wärmeerzeugung genutzt. Die Verwendung von LNG als Alternativbrennstoff in lokalen Systemen, in denen es die erhebliche Gas- und Feinstaubemissionen verursachenden konventionellen Brennstoffe ersetzen kann, wird eine zügige Verbesserung der Luftqualität bewirken. Unter diesen Bedingungen und gemäß den langfristigen Zielen einer nachhaltigen Entwicklung wird LNG erneuerbare Energiequellen nicht verdrängen.

4.11.

Der EWSA teilt die in der Mitteilung dargelegte Einschätzung der Kommission, dass erneuerbare Energiequellen und Energieeffizienz kosteneffiziente Lösungen bieten und dass diese Optionen im Zuge von Entscheidungen über LNG-Infrastrukturen deshalb sorgfältig geprüft werden sollten, um künftig die Gefahr technischer Lock-ins oder verlorener Vermögenswerte zu vermeiden. Es darf nicht zu einer Entkoppelung von Investitionen in Energieträger von der wirtschaftlichen Entwicklung der Mitgliedstaaten kommen.

5.   Besondere Bemerkungen zur Gasspeicherung

5.1.

Der Ausschuss erkennt die besondere Bedeutung der Gasspeicherung für das europäische System der Versorgungssicherheit und eine dauerhaft krisenfeste Versorgung der europäischen Wirtschaft mit Erdgas. Die EU verfügt über beträchtliche Speicherkapazitäten, ihre Verteilung ist jedoch unzulänglich. Über 83 % der Gasspeicherkapazitäten befinden sich im Westen und Nordwesten Europas. Regulatorische oder tarifäre Hemmnisse sowie ein unzureichendes Netz von Interkonnektoren in einigen Regionen Europas stellen erhebliche Hindernisse für eine grenzüberschreitende Nutzung der Speicherkapazitäten dar.

5.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass ein nachhaltiges und sicheres Energiesystem nur dann funktionieren kann, wenn die Betreiber von Speicheranlagen den Grundsatz befolgen, dass die Mindestmenge des gespeicherten Gases den Bedarf des nationalen Marktes in der Winterzeit zu 100 % decken sollte. Die wirtschaftlich vorteilhafteste Alternative jedoch wäre eine regional ausgewogene Gasspeicherung. Ein solches optimales Modell ist durch den Ausbau von Interkonnektoren in Nordosteuropa (Finnland, Schweden, baltische Staaten, Polen), Südosteuropa (Bulgarien, Türkei, Serbien, Kroatien) und Südwesteuropa (Portugal, Spanien, Frankreich) erreichbar. Eine weitere Voraussetzung ist die Beseitigung jeglicher Barrieren für grenzüberschreitende Lieferungen, insbesondere von Grenztarifen.

5.3.

Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission, gleiche Bedingungen für konkurrierende Flexibilitätsinstrumente zu schaffen und einen EU-weiten Netzkodex auszuarbeiten, der auf eine Vereinheitlichung der Tarife für die Einspeicherung und die Entnahme von Gas zielt, unter der Voraussetzung, dass die Tarifstrukturen die Kosten widerspiegeln.

5.4.

Dringend erforderlich sind Maßnahmen zur Gewährleistung eines freien physischen Zugangs zu den Speichern und Kapazitäten im Fernleitungsnetz, auch im grenzüberschreitenden System. Der EWSA teilt die Einschätzung der Europäischen Kommission in Bezug auf die notwendige Optimierung der Nutzung der bestehenden Speicherkapazitäten durch Abschluss der Arbeiten an den Netzkodizes. In diesem Zusammenhang wäre eine effektive Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den angrenzenden Drittstaaten in der Frage einer optimalen Nutzung der Speicherkapazitäten beider Seiten wichtig.

Brüssel, den 22. September 2016

Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/81


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Mechanismus für den Informationsaustausch über zwischenstaatliche Abkommen und nicht verbindliche Instrumente zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern im Energiebereich und zur Aufhebung des Beschlusses Nr. 994/2012/EU“

(COM(2016) 53 final)

(2016/C 487/13)

Berichterstatter:

Vladimír NOVOTNÝ

Befassung

Europäische Kommission, 16. Februar 2016

Rat, 2. März 2016

Europäisches Parlament, 7. März 2016

Rechtsgrundlage

Artikel 194 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7. September 2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

21. September 2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

139/0/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Kommissionsvorschlag und erachtet den Vorschlag für einen neuen Beschluss insgesamt als Schritt zur Stärkung der Rechtssicherheit für Investitionen im Energiebereich und für die damit verbundenen Infrastrukturprojekte, zur Erhöhung der Transparenz in Fragen der Erdgasversorgungssicherheit und zur Verbesserung der Funktionsweise des Energiebinnenmarkts.

1.2.

Der EWSA unterstützt die Durchführung einer Bewertung zwischenstaatlicher Energieabkommen mit Drittländern in Form eines Ex-ante-Mechanismus als Präventionsinstrument, um der Gefahr vorzubeugen, dass diese Abkommen potenziell im Widerspruch zu dem EU-Recht und den Erfordernissen des Energiebinnenmarkts stehen. Gleichzeitig ist seiner Meinung nach in diesem Fall Prävention die effizientere Lösung als nachträgliche Abhilfemaßnahmen.

1.3.

Der EWSA schlägt vor, dass die Notifizierungs- und Prüfverfahren vor dem Abschluss zwischenstaatlicher Energieabkommen (Ex-ante) auf Abkommen über die Erdgasversorgung der Mitgliedstaaten beschränkt werden. Erdgas ist die kritischste Primärenergiequelle, und die Erdgasversorgung betrifft gewöhnlich mehrere Mitgliedstaaten.

1.4.

Nach Auffassung des EWSA sollte sich die Überarbeitung des Beschlusses auf das Konzept von Rahmenabkommen beschränken, die direkte Auswirkungen auf den EU-Binnenmarkt und/oder die Energieversorgungssicherheit haben. Die Kommission sollte ausschließlich prüfen, ob der Entwurf des zwischenstaatlichen Abkommens mit dem EU-Recht übereinstimmt.

1.5.

Ein stärkerer Schutz vertraulicher Informationen während der gesamten Vorbereitung eines zwischenstaatlichen Energieabkommens ist eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung der vorgeschlagenen Notifizierungs- und Prüfverfahren in Bezug auf zwischenstaatliche Abkommen im Energiebereich, die derzeit vorbereitet oder bereits ausgehandelt werden.

1.6.

Nach Meinung des EWSA sollten die sonstigen Abkommen im Energiebereich im Zuge der geltenden Ex-post-Rechts- und Verwaltungsverfahren geprüft werden. Er empfiehlt gleichzeitig jedoch, den Mitgliedstaaten auf Ersuchen die Möglichkeit einzuräumen, derartige Abkommen für eine freiwillige Ex-ante-Prüfung zu übermitteln, wenn sie dies für notwendig erachten.

1.7.

Der EWSA erachtet außerdem die vorgeschlagene Frist von zwölf Wochen für eine ablehnende Stellungnahme seitens der Kommission im Falle der Unvereinbarkeit des Abkommensentwurfs mit dem EU-Recht als Maximalfrist. Nach Ablauf dieser Frist wird davon ausgegangen, dass die Kommission dem Abkommensentwurf zustimmt und die Verhandlungen über den Abschluss des Abkommens fortgesetzt werden können.

2.   Einleitung

2.1.

Der Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines „Mechanismus für den Informationsaustausch über zwischenstaatliche Abkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern im Energiebereich“ ist Teil des sogenannten „Winterpakets“ der Europäischen Kommission für die Energieversorgungssicherheit im Rahmen der geplanten Energieunion. Dieses Paket zielt in erster Linie auf die Gasversorgung aus Drittländern ab.

2.2.

Die Europäische Kommission nahm 2015 eine Überprüfung und Bewertung der Wirksamkeit des geltenden Beschlusses Nr. 994/2012/EU vom 25. Oktober 2012 zur Einrichtung eines Mechanismus für den Informationsaustausch über zwischenstaatliche Energieabkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern vor.

2.3.

Aus dem Bewertungsbericht der Europäischen Kommission geht hervor, dass der geltende Beschluss ihrer Auffassung nach eines seiner Hauptziele nicht erfüllt, namentlich die Gewährleistung der Vereinbarkeit der zwischenstaatlichen Abkommen mit dem EU-Recht. Die Europäische Kommission hat drei wesentliche Gründe für dieses Problem ermittelt:

das Fehlen einer vorherigen Meldung der zwischenstaatlichen Abkommen bei der Kommission, wodurch die Gefahr besteht, dass zwischenstaatliche Energieabkommen ausgearbeitet werden, die mit dem EU-Recht nicht vereinbar sind;

das Fehlen angemessener rechtlicher Mechanismen in einigen zwischenstaatlichen Abkommen, mit denen diese geändert oder beendet werden können;

die mangelnde Transparenz bei laufenden Verhandlungen über zwischenstaatliche Abkommen/Substitutionseffekt.

2.4.

Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag für einen Beschluss zur Aufhebung des Beschlusses Nr. 994/2012/EU vorgelegt, der eine Reihe grundlegender Änderungen enthält, um den Schlussfolgerungen zur Überarbeitung dieses Beschlusses nachzukommen. Mit der Überarbeitung werden zwei wesentliche Ziele verfolgt:

Gewährleistung der Vereinbarkeit zwischenstaatlicher Abkommen mit dem EU-Recht im Hinblick auf ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes und zur Stärkung der Sicherheit der Energieversorgung der EU in der Zukunft und

Erhöhung der Transparenz zwischenstaatlicher Abkommen mit Drittländern im Hinblick auf eine kosteneffizientere Energieversorgung der EU und eine größere Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.

3.   Das Kommissionsdokument

3.1.

Der Vorschlag für einen überarbeiteten Beschluss enthält folgende Elemente:

3.1.1.

Notifizierungspflichten in Bezug auf zwischenstaatliche Abkommen:

Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, die Kommission über ihre Absicht zu informieren, Verhandlungen mit Drittstaaten über den Abschluss neuer oder die Änderung bestehender zwischenstaatlicher Abkommen über die Erdgasversorgung aufzunehmen.

Im Anschluss an eine solche Mitteilung über die Aufnahme von Verhandlungen sollte die Kommission über deren Fortgang unterrichtet werden.

Informiert ein Mitgliedstaat die Kommission über die Aufnahme von Verhandlungen, können die Dienststellen der Kommission den Mitgliedstaat beraten, wie sich eine Unvereinbarkeit des zwischenstaatlichen Abkommens mit dem EU-Recht, politischen Standpunkten des Rates oder Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vermeiden lässt.

Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, der Kommission den Entwurf des zwischenstaatlichen Abkommens oder der Änderung mit sämtlichen Begleitdokumenten zum Zweck der Ex-ante-Prüfung durch die Kommission zu übermitteln („notifizieren“), sobald die Vertragsparteien bei den Verhandlungen eine Einigung über alle wesentlichen Bestandteile erzielt haben.

Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, der Kommission alle zwischenstaatlichen Abkommen oder Änderungen mit sämtlichen Begleitdokumenten nach der Ratifizierung zu übermitteln.

Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, der Kommission alle bestehenden zwischenstaatlichen Abkommen oder Änderungen mit sämtlichen Begleitdokumenten zu übermitteln.

Vereinbarungen zwischen Unternehmen fallen nicht unter die Notifizierungspflicht, sondern können freiwillig übermittelt werden.

Die Kommission wird verpflichtet, die Informationen und Dokumente, die sie erhalten hat, unter Beachtung der Bestimmungen über die Vertraulichkeit der Angaben anderen Mitgliedstaaten zur Verfügung zu stellen.

3.1.2.

Prüfung durch die Kommission:

Die Kommission wird verpflichtet, eine Ex-ante-Prüfung des Entwurfs eines zwischenstaatlichen Abkommens oder von Änderungen durchzuführen und innerhalb von sechs Wochen den betreffenden Mitgliedstaat über etwaige Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht, insbesondere mit den Rechtsvorschriften zum Energiebinnenmarkt und dem Wettbewerbsrecht der Union, zu informieren.

Die Kommission wird verpflichtet, dem Mitgliedstaat ihre Stellungnahme zur Vereinbarkeit des zwischenstaatlichen Abkommens oder der Änderung mit dem EU-Recht innerhalb von zwölf Wochen ab Notifizierung mitzuteilen.

Der Mitgliedstaat darf keine der vorgeschlagenen zwischenstaatlichen Abkommen abschließen oder Änderungen annehmen, bis die Kommission ihn in ihrer Stellungnahme über etwaige Zweifel unterrichtet hat. Bei Abschluss des vorgeschlagenen zwischenstaatlichen Abkommens oder Annahme der vorgeschlagenen Änderung tragen die Mitgliedstaaten den Schlussfolgerungen und Empfehlungen der Kommission umfassend Rechnung.

Die Kommission wird verpflichtet, eine Ex-post-Prüfung bestehender zwischenstaatlicher Abkommen oder Änderungen durchzuführen und die Mitgliedstaaten bei Zweifeln hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Abkommen mit dem EU-Recht innerhalb von neun Monaten nach ihrer Notifizierung zu informieren.

3.1.3.

Notifizierungspflichten und Prüfung durch die Kommission in Bezug auf nicht verbindliche Instrumente:

Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, der Kommission bestehende und künftige nicht verbindliche Instrumente mit sämtlichen Begleitdokumenten zu übermitteln.

Die Kommission kann eine Ex-Post-Prüfung der übermittelten nicht verbindlichen Instrumente durchführen und den Mitgliedstaat entsprechend informieren, wenn sie der Ansicht ist, dass die Maßnahmen zur Durchführung des nicht verbindlichen Instruments gegen das EU-Recht verstoßen könnten.

Die Kommission schlägt als kostenwirksamste, effizienteste und angemessenste Option diejenige vor, mit der eine Ex-ante-Vereinbarkeitsprüfung zwischenstaatlicher Abkommen durch die Kommission verbindlich eingeführt wird. Die Mitgliedstaaten sollten verpflichtet werden, die Kommission frühzeitig über laufende Verhandlungen zu zwischenstaatlichen Abkommen über Erdgaslieferungen zu unterrichten und der Kommission einschlägige Entwürfe für die Ex-ante-Prüfung zu übermitteln.

3.2.

Nach Meinung der Kommission sollte dieser Beschluss Folgendes bewirken:

eine größere Rechtssicherheit, wodurch Investitionen begünstigt würden;

einen gut funktionierenden Energiebinnenmarkt ohne jedwede Segmentierung und mit größerem Wettbewerb;

mehr Transparenz in Bezug auf die Lage der Versorgungssicherheit in allen Mitgliedstaaten.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA beschäftigte sich mit der Problematik der Abkommen im Energiebereich bereits im Jahr 2012 in Verbindung mit der Vorbereitung des Beschlusses Nr. 994/2012/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (1). In seiner einschlägigen Stellungnahme betonte er, dass Energieabkommen von strategischen und kommerziellen Überlegungen geleitet sein sollten und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Transparenz gewahrt bleiben müssen.

4.2.

Der EWSA äußerte unter anderem sein Bedauern darüber, dass wichtige Handelsabkommen im Energiebereich zwischen privaten Vertragsparteien mit Auswirkungen auf mehrere Mitgliedstaaten nicht Gegenstand des Vorschlags für den Beschluss sind und dass diese Abkommen gegen EU-Recht verstoßen könnten. Er wies auf die potenziellen Gefahren hin, die dann entstehen, wenn strategische Partnerschaften zur Verankerung von Zugeständnissen führen, die von Drittstaaten-Interessen diktiert werden und sich letztlich als nachteilig erweisen können.

4.3.

Die europäischen Arbeitgeberverbände als wesentliche Partner des sozialen Dialogs und die Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft äußerten Vorbehalte gegen den Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates, mit dem der Beschluss Nr. 994/2012/EU aufgehoben wird. Die Arbeitgeberverbände wiesen darauf hin, dass der bestehende Ex-post-Mechanismus ausreicht. Sie unterstrichen, dass die Bewertung auf Abkommen ausgerichtet sein sollte, die Auswirkungen auf den Energiebinnenmarkt oder die Energieversorgungssicherheit haben.

4.4.

4.4 Zivilgesellschaftliche Organisationen wie auch eine Reihe von Mitgliedstaaten betonten außerdem, dass im Falle eines Bekanntwerdens wirtschaftlich sensibler Informationen eine Haftungsbestimmung eingeführt und ein ausreichender Schutz der Geschäftsinteressen gewährleistet werden muss. Sie befürworteten auch die Ausnahme von Abkommen zwischen privaten Vertragsparteien und von Abkommen, die sich auf die Euratom-Mechanismen stützen; zudem forderten sie, dass bei der gesamten Überarbeitung des Beschlusses Nr. 994/2012/EU die unternehmerische Freiheit, der Schutz der Geschäftsgeheimnisse und das Recht auf eine gute Verwaltung gewahrt werden müssen.

4.5.

Im Zuge der Konsultationen zu dieser Problematik äußerten Interessenträger, u. a. europäische Branchenverbände und Vereinigungen von Regulierungsbehörden, ähnliche Vorbehalte. Unter anderem wurde auch darauf hingewiesen, dass die Begleitunterlagen der Kommission (SWD (2016) 28 final) keine ausreichend quantifizierten Daten und Argumente enthalten, um die Schlussfolgerung zu untermauern, dass mit den geltenden Rechtvorschriften die Ziele nicht erreicht werden und daher neue Rechtsvorschriften notwendig sind. Um die in zwischenstaatlichen Abkommen festgestellten Mängel zu beheben, reicht eine striktere Durchsetzung des geltenden Beschlusses anstelle neuer Rechtsvorschriften.

4.6.

In seiner aktuellen Stellungnahme strebt der EWSA eine angemessene Kompromisslösung an und stützt sich daher sowohl auf die oben ausgeführten Anmerkungen und Einwände eines Teils der organisierten Zivilgesellschaft als auch auf die Argumente der Europäischen Kommission und die Schlussfolgerungen des Rates „Energie“.

4.7.

Aufgrund der Erfahrung der Kommission, dass Änderungen bereits unterzeichneter zwischenstaatlicher Energieabkommen im Fall einer unzureichenden Vereinbarkeit mit dem EU-Recht schwierig sind, unterstützt der EWSA den Vorschlag, den Ex-ante-Mechanismus als eine Art Präventionsinstrument für Verstöße gegen das EU-Recht und die Rechtsvorschriften für den Energiebinnenmarkt in Fällen zu nutzen, die von Bedeutung für die gesamte EU sind oder Auswirkungen auf mehrere Mitgliedstaaten haben.

4.8.

Nach Auffassung des EWSA sollte die Überarbeitung des Beschlusses sich daher auf wichtige Energieabkommen mit Drittländern beschränken, die direkte Auswirkungen auf den EU-Binnenmarkt und/oder die Energieversorgungssicherheit haben. Die Kommission sollte zudem nur prüfen, ob der Entwurf des zwischenstaatlichen Abkommens mit dem EU-Recht übereinstimmt.

4.9.

In Rahmen von Verhandlungen über ein zwischenstaatliches Abkommen mit geringfügiger oder begrenzter Tragweite sollte die Kommission kein spezifisches Mandat für die Unterstützung des Mitgliedstaats in diesen Verhandlungen erhalten. Gleichzeitig sollten die Mitgliedstaaten weiterhin die Möglichkeit haben, auf ihr Ersuchen hin fachliche Beratung bei der Kommission einzuholen, um zu vermeiden, dass ein in Verhandlung stehender Vertrag im Widerspruch zum EU-Recht steht. In diesem Fall sollten für die Kommission verbindliche Fristen für die Bereitstellung der einschlägigen Informationen gelten.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Der EWSA ist der Meinung, dass der Kontrollmechanismus weiterhin ausschließlich für zwischenstaatliche Abkommen über Erdgaslieferungen gelten sollte.

5.2.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass die Verpflichtungen, die sich aus diesem Vorschlag für einen Beschluss ergeben, nicht auf die Abkommen Anwendung finden dürfen, die zwischen privaten Vertragsparteien abgeschlossen werden. Er schlägt indes vor, die Anwendung des vorgeschlagenen Ex-ante-Mechanismus im Falle von Abkommen im Privatsektor mit erheblichen Auswirkungen auf den Energiebinnenmarkt oder die Energieversorgungssicherheit in Erwägung zu ziehen. Hierfür müssen jedoch klare Regeln aufgestellt werden.

5.3.

Der EWSA erwartet, dass für den Fall des Bekanntwerdens wirtschaftlich sensibler Informationen eine Haftungsbestimmung festgeschrieben wird und solche Fälle im Rahmen des Strafrechts geprüft werden.

5.4.

Der EWSA erachtet es weder als notwendig noch sinnvoll, dass dieser Beschluss auf nicht rechtsverbindliche Instrumente Anwendung findet (Artikel 2 des Vorschlags).

5.5.

Der EWSA stellt die Behauptung der Kommission infrage, dieser Vorschlag habe keine Auswirkungen auf den EU-Haushalt. So lässt insbesondere eine Ausweitung des Ex-ante-Mechanismus auf Abkommen zwischen privaten Vertragsparteien eine Steigerung der Verwaltungskosten wie auch eine Zunahme des Verwaltungsaufwands erwarten. Der EWSA vermisst eine Analyse, wie in dem neuen Beschluss das Subsidiaritätsprinzip eingehalten und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durchgesetzt wird.

5.6.

Der EWSA befürwortet den Vorschlag der Kommission, den fakultativen Charakter der Unterstützung seitens der Kommission zu bewahren (Artikel 4 des Vorschlags), wobei diese Unterstützung im Rahmen von Verhandlungen der Mitgliedstaaten mit Drittländern nicht verbindlich sein sollte.

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 65.


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/86


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Europäische Cloud-Initiative — Aufbau einer wettbewerbsfähigen Daten- und Wissenswirtschaft in Europa“

(COM(2016) 178 final)

(2016/C 487/14)

Berichterstatter:

Antonio LONGO

Befassung

Europäische Kommission, 19.4.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

149/1/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt und unterstützt die strategische Entscheidung der Kommission für eine offene und für die Wissenschaft bestimmte Europäische Cloud im Rahmen eines starken politischen und wirtschaftlichen Engagements für die digitale Innovation. Bereits seit 2011 hat er der Kommission wiederholt eine Reihe von Empfehlungen dazu unterbreitet, wie sich Europa mithilfe führender Unternehmen in diesem vielversprechenden Sektor eine Spitzenposition verschaffen kann.

1.2.

Dies hat nach Auffassung des EWSA oberste Priorität und ist sowohl im Hinblick auf die Überwindung der technologischen Kluft als auch hinsichtlich des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritts der Gesellschaft von strategischer Bedeutung.

1.3.

Der EWSA schlägt eine allen Bürgern und Unternehmen zugängliche Europäische Cloud vor. Vor allem fordert er die Klärung und Präzisierung der Fristen und Modalitäten für die Ausweitung der Nutzerbasis, die innovativen KMU und der Industrie zugesagt wurden.

1.4.

Der EWSA pflichtet der Analyse der Kommission hinsichtlich der Probleme bei, die Europa daran hindern, das Potenzial der Daten auszuschöpfen, insbesondere im Hinblick auf die unzureichende Interoperabilität, die Fragmentierung der Strukturen und deren mangelnde Offenheit gegenüber anderen Beiträgen und einem Austausch. In der Mitteilung werden positive Maßnahmen zur Überwindung der Unterschiede bei den nationalen Gegebenheiten aufgeführt, die der Verwirklichung eines echten europäischen digitalen Binnenmarkts im Wege stehen; Ziel dieser Maßnahmen sind die Verbesserung der Zugänglichkeit und die Stärkung des Vertrauens zwischen dem öffentlichen Sektor und den Hochschulen, die häufig völlig voneinander getrennt sind und nicht miteinander kommunizieren.

1.5.

Der EWSA fordert, die Integrationsmaßnahmen so durchzuführen, dass mithilfe von Mechanismen zur Verflechtung der Hochschulinfrastrukturen, Forschungszentren und öffentlichen Einrichtungen sowie mittels Überarbeitung der Struktur der Anreize für eine stärkere gemeinsame Nutzung der Daten ein Umdenken unter den Wissenschaftlern gefördert wird; Gemeinschaften, in denen die gemeinsame Nutzung von Daten bereits recht weit verbreitet ist, sollten ermutigt werden, eine maßgebliche Rolle bei der Festlegung der Einzelheiten im Bereich Open Data zu übernehmen.

1.6.

Der EWSA empfiehlt, größere Klarheit darüber zu schaffen, wie die europäische Dateninfrastruktur, mit der auch die Förderung, Entwicklung und Einführung von Hochleistungsrechnern vorangetrieben werden soll, und die angekündigte Leitinitiative zur Stärkung der Quantentechnologien interagieren werden.

1.7.

Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission zu der entscheidenden Frage der Verwaltung sowie zu der schrittweisen Öffnung für alle und den Modalitäten für die Datennutzung und -speicherung eine umfassende Konsultation unter direkter Einbeziehung der Wissenschaft und der Interessenverbände der Bürger einleitet.

1.8.

Der EWSA empfiehlt, dass die für die Europäische Cloud erforderliche Hardware und Software in Europa erworben wird, und fordert größere Klarheit hinsichtlich der aus verschiedenen Rahmenprogrammen, Strukturfonds, der Fazilität „Connecting Europe“ und dem EFSI stammenden Finanzmittel.

1.9.

Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten ein umfassendes Programm zur Entwicklung und Erschließung neuer hoch qualifizierter Berufe einleitet, das neue qualifizierte Beschäftigungsmöglichkeiten bietet und in anderen Ländern tätige junge Wissenschaftler zur Rückkehr in die EU ermutigt.

1.10.

Der EWSA schlägt vor, ein „zentrales Portal des digitalen Europas“ zu schaffen, über das die Bürger und Unternehmen auf die bestehenden EU-Texte leicht zugreifen können, um den Unternehmen und Bürgern in einem derart strategischen, aber auch derart komplexen und in stetem Wandel begriffenen Bereich wie dem digitalen Sektor einen klaren und sicheren Rechtsrahmen zu bieten.

1.11.

Schließlich bekräftigt der EWSA, dass für eine echte digitale Revolution Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für alle Altersgruppen der europäischen Bevölkerung und in sämtlichen Phasen der Erwerbstätigkeit und Nichterwerbstätigkeit erforderlich sind. Insbesondere betont der EWSA die Notwendigkeit, in die technologische Ausbildung der Frauen sowie deren Zugang zu verantwortungsvollen und leitenden Positionen zu investieren.

2.   Kontext und Inhalt

2.1.

Die Kommission hat eine Reihe von Leitlinien zur Schaffung der Grundlagen für eine offene und für die Wissenschaft bestimmte Europäische Cloud-Initiative ausgearbeitet und einen Vorschlag veröffentlicht, in dem angesichts der Entwicklung der Massendatenverarbeitung — der sogenannten Big Data — die Cloud als ein Instrument angesehen wird, mit dem sich die von den öffentlichen und privaten Nutzern generierten Datenmengen in vollem Umfang nutzen lassen. Es wird davon ausgegangen, dass die Fähigkeit zur Nutzung der Big Data Auswirkungen auf die Weltwirtschaft hat und Möglichkeiten für bedeutende wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovationen und die Schaffung neuer Finanzdienstleistungen und -produkte eröffnet.

2.2.

Dieser Vorschlag ist Teil eines am 19. April 2016 angekündigten ersten Pakets industriepolitischer Maßnahmen im Rahmen der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt mit einem umfassenden Finanzierungsplan in Höhe von 50 Mrd. EUR, der auf einen konkreten „Weg für die Digitalisierung der europäischen Industrie“ ausgerichtet ist und „Maßnahmen [vorsieht], um nationale Initiativen zu unterstützen und zu verknüpfen. Damit fördert [die Kommission] die Digitalisierung von Unternehmen aus allen Branchen und der entsprechenden Dienstleistungen und schafft — gestützt auf strategische Partnerschaften und Netze — neue Investitionsanreize“.

2.3.

Die Cloud-Initiative gehört zu den wichtigsten Verpflichtungen mit dem Ziel, dass Europa „in der Datenwirtschaft weltweit führend wird“. Wie Carlos Moedas, für Forschung, Wissenschaft und Innovation zuständiges Kommissionsmitglied, erklärte, ist diese Entscheidung auch eine Reaktion auf den „Appell der Wissenschaftler, eine Infrastruktur für offene Wissenschaft aufzubauen. (…) Der Nutzen der offenen Daten für Europas Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft wird enorm sein“.

2.4.

Nach Auffassung der Kommission muss Europa eine Antwort auf vier Fragen finden:

Wie lässt sich der Austausch von Daten bestmöglich nutzen?

Wie lässt sich eine möglichst weitreichende Nutzung der Daten über wissenschaftliche Fachrichtungen hinweg sowie zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor gewährleisten?

Wie lassen sich die bereits vorhandenen und neuen Dateninfrastrukturen in ganz Europa besser verknüpfen?

Wie lässt sich die für die europäischen Dateninfrastrukturen vorhandene Unterstützung am besten koordinieren?

2.5.

Das von der Kommission aufgezeigte Instrument ist die Entwicklung einer Europäischen Cloud für offene Wissenschaft  — einer zuverlässigen und offenen Umgebung, in der die wissenschaftliche Gemeinschaft Daten und Ergebnisse speichern, gemeinsam nutzen und wiederverwenden kann. Dieses wichtige Instrument zum Aufbau der Rechenkapazitäten, der Netzverbindungen und der Lösungen für die Hochleistungscloud würde eine europäische Dateninfrastruktur nutzen, die zunächst die wissenschaftliche Gemeinschaft und dann auch den öffentlichen Sektor und die Industrie miteinander verbindet. All dies erfordert eine offene Zusammenarbeit all derjenigen, die ein Interesse daran haben, die Datenrevolution in Europa zu nutzen.

2.6.

Die Kommission stellt klar, dass die Initiative von weiteren Maßnahmen auf der Grundlage der Strategie für den Digitalen Binnenmarkt in Bezug auf Cloud-Verträge für gewerbliche Nutzer und den Anbieterwechsel von Cloud-Diensten sowie von der Initiative für den freien Datenfluss flankiert werden wird.

2.7.

Die Kommission nennt fünf Gründe, warum Europa das Datenpotenzial noch nicht voll ausschöpft:

Daten aus öffentlich geförderter Forschung sind nicht immer offen zugänglich;

unzureichende Interoperabilität;

Fragmentierung der Daten- und Recheninfrastrukturen;

Mangel an Hochleistungsrechnern der Spitzenklasse für die Datenverarbeitung und

Bedarf an fortgeschrittenen Analysetechniken, wie der gezielten Text- und Datensuche, in einer zuverlässigen Umgebung.

2.8.

Mit der Europäischen Cloud für offene Wissenschaft soll Europa die weltweite Führung bei den wissenschaftlichen Dateninfrastrukturen übernehmen; sie wird 1,7 Millionen Forschern und 70 Millionen Fachkräften eine virtuelle Umgebung bieten, in der sie kostenfrei Dienste in Anspruch nehmen können. Die Entwicklung der Cloud würde von den Wissenschaftlern vorangetrieben und künftig auch für Bildungs- und Ausbildungszwecke zur Verfügung stehen. Die Festlegung anerkannter Standards würde die Schaffung eines sicheren Datenumfelds für die Nutzer ermöglichen.

2.9.

Aufbauend auf der bestehenden Infrastruktur will die Kommission auch bereits vorgesehene Maßnahmen wie beispielsweise den offenen Zugang zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Daten im Rahmen von Horizont 2020 als Hebel nutzen. Die Frage der Verwaltung der Europäischen Cloud für offene Wissenschaft wird nach Abschluss eines eingehenden Vorbereitungsprozesses geregelt, der bereits im Gang ist.

2.10.

In der Mitteilung werden folgende spezifische Maßnahmen für die Verwirklichung der Cloud aufgeführt:

standardmäßig offene Zugänglichkeit aller im Rahmen des Horizont-2020-Programms generierten Daten;

Sensibilisierung und Veränderung der Anreizstrukturen;

Weiterentwicklung der Interoperabilität und des Datenaustauschs;

Schaffung einer zweckmäßigen europaweiten Verwaltungsstruktur;

Entwicklung cloudgestützter Dienste für die offene Wissenschaft;

Ausweitung der wissenschaftlichen Nutzerbasis der Europäischen Cloud für offene Wissenschaft.

2.11.

Die Kommission sieht eine europäische Dateninfrastruktur mit integrierten Hochleistungsrechenkapazitäten der Spitzenklasse vor, die für Europa eine Notwendigkeit darstellt; diese ist bis 2022 im Exa-Maßstab zu realisieren und würde Europa zu einem der drei Spitzenreiter in diesem Bereich machen.

2.12.

Die Europäische Kommission ist der Auffassung, dass die europäische Dateninfrastruktur auch zur Digitalisierung der Industrie, zur Förderung der industriellen Innovation und zur Entwicklung strategischer europäischer Plattformen in der Forschung beitragen wird.

2.12.1.

Die Maßnahmen werden im Zeitraum von 2016 bis 2020 durchgeführt.

2.13.

In ihrer Mitteilung kündigt die Kommission außerdem eine Leitinitiative zur Förderung der Forschung und der Entwicklung der Quantentechnologien an.

2.14.

Schließlich plant die Kommission, den Zugang zu verbessern und das Vertrauen zwischen dem öffentlichen Sektor und den Hochschulen zu stärken, indem die Europäische Cloud für den öffentlichen Sektor geöffnet wird.

2.15.

Die Nutzerbasis würde schrittweise auf öffentliche Dienste, innovative KMU und die Industrie ausgeweitet. Die Ausweitung der Initiative auf öffentliche Dienste wird sich auf bestehende Exzellenzbeispiele wie die INSPIRE-Richtlinie für Geodaten und das Gesundheitstelematiknetz stützen. Grundlage für die Ausweitung auf die Industrie werden aktuelle Beispiele für die Bereitstellung wichtiger wissenschaftlicher Infrastrukturen wie Helix-Nebula, EBI-EMBL und PRACE sein. Der nächste Schritt für KMU könnte die Beteiligung als Anbieter innovativer Lösungen für EOSC sein, wie dies bereits bei Horizont 2020 der Fall ist.

2.16.

Die Kommission sieht verschiedene Finanzierungsquellen vor:

das Rahmenprogramm für Forschung und Innovation (Horizont 2020);

die Fazilität „Connecting Europe“;

die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESIF);

den Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI).

2.16.1.

Erste Schätzungen für die notwendigen öffentlichen und privaten Zusatzinvestitionen belaufen sich auf 4,7 Mrd. EUR für einen Zeitraum von fünf Jahren.

2.17.

Mit der Zeit wird die Initiative mit zunehmender Nutzung der Dienste durch die wissenschaftliche Gemeinschaft, innovative Start-ups und den öffentlichen Sektor selbst Einnahmen erzielen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA stimmt dem politischen und wirtschaftlichen Engagement der Kommission für die digitale Innovation nachdrücklich zu, insbesondere was die Entscheidung für eine Europäische Cloud angeht.

3.1.1.

Die Kommission definiert eine sehr ehrgeizige Strategie. Wenn diese auch sehr komplex ist, werden doch die politischen Ziele klar dargelegt. Die Schwächen Europas und die Herausforderungen, mit denen es hinsichtlich der Schaffung der notwendigen Dienste zur Nutzung der von der Wissenschaft und den öffentlichen Diensten generierten Big Data konfrontiert ist, werden genau aufgezeigt, und dies sollte der Ausgangspunkt für die gesamte in den kommenden Jahren zu leistende Arbeit sein.

3.2.

Bereits seit 2011 (1) hat der Ausschuss mehrfach der Kommission dahingehend Empfehlungen unterbreitet, „wie sich Europa in diesem lohnenswerten Bereich mithilfe führender Unternehmen an die Spitze setzen kann“.

3.3.

Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass der EWSA eine allen Bürgern und Unternehmen zugängliche Europäische Cloud vorgeschlagen hat. Allerdings könnte der Titel der Mitteilung die Leser in die Irre führen, da daraus nicht hervorgeht, dass sie sich ausschließlich an die Wissenschaftler richtet.

3.4.

Der EWSA begrüßt die Entscheidung der Kommission und unterstreicht die strategische Bedeutung der Optionen, sowohl im Hinblick auf die Überwindung der technologischen Kluft als auch hinsichtlich des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritts der europäischen Gesellschaft. Die wissenschaftliche Cloud erfüllt außerdem die Forderung der Wissenschaft, Zugang zu den Daten der öffentlichen Forschung zu erhalten und diese gemeinsam zu nutzen.

3.5.

Der EWSA pflichtet der Analyse der Kommission hinsichtlich der Probleme bei, die Europa daran hindern, das Potenzial der Daten auszuschöpfen, insbesondere im Hinblick auf die unzureichende Interoperabilität, die Fragmentierung der Strukturen und deren mangelnde Offenheit gegenüber anderen Beiträgen und einem Austausch. Ferner bekräftigt der EWSA, dass Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für alle Altersgruppen der europäischen Bevölkerung und in sämtlichen Phasen der Erwerbstätigkeit und Nichterwerbstätigkeit erforderlich sind (2). Insbesondere betont der EWSA die Notwendigkeit, in die technologische Ausbildung der Frauen sowie deren Zugang zu verantwortungsvollen und leitenden Positionen zu investieren.

3.6.

Der Ausschuss stimmt den Zielen und den in der Mitteilung aufgeführten Maßnahmen zur Überwindung der Unterschiede bei den nationalen Gegebenheiten zu, die der Verwirklichung eines echten europäischen digitalen Binnenmarkts im Wege stehen. Außerdem ist der Übergang von der Speicherung der persönlichen und arbeitsbezogenen Daten auf dem eigenen Computer hin zur diesbezüglichen Nutzung öffentlicher oder kommerzieller Clouds mittlerweile zu einem generellen Trend geworden. Die Cloud-Initiative geht daher in die richtige Richtung.

3.7.

Positiv zu sehen ist auch die Zusage der Kommission, Maßnahmen durchzuführen, um die Zugänglichkeit zu verbessern und gemeinsam das Vertrauen zwischen dem öffentlichen Sektor und den Wissenschaftlern zu stärken, die häufig völlig voneinander getrennt sind und nicht miteinander kommunizieren.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Einige Aspekte sollten genauer geklärt werden. Der Plan der Kommission scheint zugleich hinsichtlich der Ziele äußerst komplex, jedoch bei einigen grundlegenden Punkten allgemein gehalten zu sein.

4.2.

Zunächst einmal empfiehlt der EWSA, die für die Europäische Cloud erforderliche Hard- und Software in Europa zu erwerben. Da Softwarelösungen in Europa hoch entwickelt sind, sollte die technologische Abhängigkeit von anderen Regionen der Welt vermieden werden können. Bezüglich der Hardware ist positiv zu vermerken, dass mindestens einer der beiden Hochleistungsrechner im Exa-Maßstab aus europäischer Produktion stammen soll.

4.3.

Der EWSA ist außerdem besorgt über die für die Verwirklichung und Entwicklung der Cloud erforderlichen Ressourcen — nicht nur die Finanzmittel, sondern auch die Fachkräfte. Um das Potenzial von Big Data für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung in Europa voll auszuschöpfen, wird die Verfügbarkeit von Arbeitskräften mit geeigneten Qualifikationen von entscheidender Bedeutung sein. Er fordert die Kommission überdies auf, grenzübergreifende Cloud-Systeme sorgfältig zu berücksichtigen, die bereits existierenden und bewährten grenzübergreifenden Cloud-Systeme einzelner Wissenschaftsgemeinschaften sorgfältig zu berücksichtigen. Dies gilt auch für nationale Maßnahmen mit demselben Ziel.

4.3.1.

Der EWSA begrüßt die Zielsetzung von Horizont 2020 und der Finanzierung des Edison-Projekts zur beschleunigten Einführung des Berufs des „Datenwissenschaftlers“; er plädiert jedoch dafür, dass die Kommission in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten ein umfassendes Programm zur Entwicklung neuer hoch qualifizierter Berufe einleitet, das qualifizierte Beschäftigungsmöglichkeiten fördert und in anderen Ländern tätige junge Wissenschaftler zur Rückkehr in die EU ermutigt. Insbesondere besteht ein hoher Bedarf an „Datenverwaltern“, die die Wissenschaftler, die Industrie und die öffentlichen Verwaltung dabei unterstützen können, die erfassten Daten optimal zu nutzen und auszutauschen. Diese Maßnahmen der Kommission sind von allerhöchster Dringlichkeit und müssen auch auf die Sicherung von Beschäftigungsmöglichkeiten abzielen.

4.4.

Darüber hinaus herrscht Unklarheit darüber, wie die vorgeschlagene europäische Dateninfrastruktur, mit der auch die Förderung, Entwicklung und Einführung von Hochleistungsrechnern vorangetrieben werden soll, und die Leitinitiative interagieren werden, durch die sie zur Stärkung der Quantentechnologien flankiert werden soll. Die beiden Initiativen ergänzen einander, obgleich es Unterschiede gibt. Während die Hochleistungsrechner im Exa-Maßstab bis 2018 realisiert werden sollen, befindet sich die Strategie für die Quantentechnologie noch in einer Vorbereitungsphase und stellt sich als langfristiger Ansatz dar.

4.5.

Die Mitteilung bleibt auch dort sehr vage, wo sie von Mechanismen einer natürlichen Verflechtung zwischen Hochschulinfrastrukturen, Forschungszentren und öffentlichen Einrichtungen dank der Europäischen Cloud für offene Wissenschaft und der europäischen Dateninfrastruktur ausgeht. Diese Strategie kann nur dann erfolgreich sein, wenn sich alle interessierten Parteien abstimmen. Die Bewusstseinsbildung und die Veränderung der auf Hochschulen, Industrie und öffentliche Dienste abzielenden Anreizstrukturen für den Datenaustausch ist ein notwendiger Schritt für die Entwicklung der Cloud für offene Wissenschaft. Insbesondere könnten Gemeinschaften, in denen die gemeinsame Nutzung von Daten bereits recht weit verbreitet ist, wie beispielsweise in zahlreichen Forschungsbereichen, eine maßgebliche Rolle bei der Festlegung der Einzelheiten im Bereich Open Data in einem von der Basis ausgehenden Prozess übernehmen.

4.5.1.

Der EWSA begrüßt die Entscheidung der Kommission, ab 2017 für alle neuen Projekte des Horizont-2020-Programms offen zugängliche Forschungsdaten als Standard festzulegen. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Empfehlungen aus dem Jahr 2012 über den Zugang zu wissenschaftlichen Informationen und deren Bewahrung zu prüfen.

4.6.

Ferner muss präzisiert werden, wie die den innovativen KMU und der Industrie zugesagten Mechanismen für die Ausweitung der Nutzerbasis mithilfe von Daten- und Software-Exzellenzzentren sowie Innovationspolen für Datendienste für KMU aussehen.

4.7.

Der EWSA fordert einen besseren Aufbau der Verwaltung der Cloud, die laut der Kommission nach Abschluss eines eingehenden Vorbereitungsprozesses geregelt wird, der bereits im Gang ist. Die Wissenschaft, die Unternehmen und die Bürger haben das Recht, an dieser Verwaltung mitzuwirken, und die Kommission hat die Pflicht, vorzugeben, wie und in welchem Maße dies geschehen soll. Die Nutzung der Plattform für eine Politik der offenen Wissenschaft (OSPP) kann ein nützliches Instrument sein.

4.8.

Der EWSA schlägt vor, zu Themen wie die Verwaltung, die schrittweise Öffnung für alle und die Modalitäten für die Datennutzung und -speicherung eine umfassende Konsultation unter Einbeziehung der Wissenschaft und der Interessenverbände der Bürger einzuleiten.

4.9.

Insbesondere sollte die Kommission detailliertere Angaben zu der Plattform für die Verwaltung der Cloud machen.

4.10.

Die Finanzierung hält der EWSA angesichts der zahlreichen Staaten, in der sie zu implementieren wäre, aber auch vor dem Hintergrund des schwachen Wirtschaftswachstums in Europa, das private Investitionen in eine sich de facto nur indirekt und sekundär auf die Industrie und die KMU auswirkende europäische Initiative äußerst schwierig gestaltet, für eine absolute Priorität für Europa.

4.11.

Die Unternehmen würden von den positiven Auswirkungen der Cloud und der Dateninfrastruktur erst dann profitieren, wenn sie unter Wahrung noch auszuarbeitender gemeinsamer technischer Vorschriften verwirklicht würden, und zwar in einem Rechtsrahmen in Bezug auf die Privatsphäre, die Cybersicherheit und das geistige Eigentum, der bislang weder auf Ebene der europäischen Rechtsvorschriften noch in Bezug auf die Umsetzung in den Mitgliedstaaten konsolidiert ist.

4.12.

In diesem Zusammenhang schlägt der EWSA vor, ein „zentrales Portal des digitalen Europas“ zu schaffen, über das die Bürger und Unternehmen auf die bestehenden EU-Texte zugreifen können

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 40; ABl. C 76 vom 14.3.2013, S. 59.

(2)  ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 25.


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/92


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Schwerpunkte der IKT-Normung für den digitalen Binnenmarkt“

(COM(2016) 176 final)

(2016/C 487/15)

Berichterstatter:

Gundars STRAUTMANIS

Befassung

Europäische Kommission, 19.4.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

159/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt die Mitteilung der Kommission allgemein als Ausgangspunkt für Pläne und Initiativen zur Förderung der IKT-Normung; sie beinhaltet Schwerpunktbereiche und -maßnahmen und hebt auf die Erstellung einer Roadmap ab.

1.2.

Nach Meinung des EWSA sollten durch Normung Mehrwert geschaffen, Arbeitsplätze in allen Bereichen gesichert und das gesamtgesellschaftliche Wohlergehen verbessert werden. Deshalb müssen insbesondere — auch im IKT-Bereich — die Schwerpunktbereiche für Normung ermittelt werden, um diese für die Allgemeinheit wichtigen Fragen zu lösen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit der Kommissionsmitteilung als Voraussetzung für die Weiterentwicklung der IKT-Normung und damit des digitalen Binnenmarkts.

1.3.

Der EWSA möchte hier eine Reihe Empfehlungen unterbreiten, wie die Kommission ihre Mitteilung und in Verbindung damit vorgelegte Begleitdokumente weiter verbessern könnte.

1.3.1.   Empfehlung Nr. 1

Der EWSA empfiehlt, dass die Kommission in künftigen Mitteilungen und einschlägigen Dokumenten alle Interessenträger über die Notwendigkeit informiert, bei der Normung im IKT-Bereich einen ausgewogenen Ansatz zwischen Einschränkung und Lenkung von Kreativität zu wählen.

1.3.2.   Empfehlung Nr. 2

Der EWSA empfiehlt, die Bezeichnungen für die Schwerpunktbereiche für IKT-Normung, die in der Mitteilung der Kommission und dem fortlaufenden Plan für die IKT-Normung unterschiedlich sind, anzugleichen. Im Interesse der Kohärenz der verschiedenen Dokumente und einschlägigen Texte muss die Terminologie vereinheitlicht werden.

1.3.3.   Empfehlung Nr. 3

Angesichts der Bedeutung der Schwerpunktsetzung in der IKT-Normung empfiehlt der EWSA, dass im Zusammenhang mit der Auswahl der Schwerpunktbereiche ausführlicher über die Beweggründe, die Methodik und die Ergebnisse informiert werden sollte.

1.3.4.   Empfehlung Nr. 4

Damit alle Interessenträger die Maßnahmen zur Umsetzung der Kommissionsmitteilung und ihre Kohärenz nachvollziehen können, empfiehlt der EWSA, über wiederkehrende Maßnahmen zur Ergänzung oder Fortsetzung der im Rahmen der Mitteilung eingeleiteten Arbeiten zu informieren.

1.3.5.   Empfehlung Nr. 5

Damit die Interessenträger sichergehen können, dass die Kommission bei der Erarbeitung ihrer Mitteilung über die unmittelbaren Belange der IKT-Normungsprioritäten hinausgeblickt und auch die verschiedenen sozialen Auswirkungen dieser Prioritäten (Artikel 11 AEUV) geprüft hat, empfiehlt der EWSA, in künftige Mitteilungen der Kommission spezifische Informationen über die Einbeziehung verschiedener Interessenträger und die sozialen Folgen des gewählten Ansatzes im Bereich der IKT-Normung, die bereits jetzt alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft, aufzunehmen.

1.4.

Der EWSA befürwortet die Mitteilung der Kommission generell, rät indes dazu, zu prüfen,

ob die Form der Mitteilung den anvisierten Zielen angemessen ist, bspw. der stärkeren „Führungsrolle Europas“, oder ob eventuell eine andere Dokumentenart angebracht wäre, die konkretere und entschlossenere Maßnahmen ermöglicht,

ob die Idee der „Führungsrolle“ überdacht werden und die Mitteilung vielleicht weniger auf Wettbewerb und verstärkt auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit internationalen Normungsorganisationen abheben sollte, zumal wir im Großen und Ganzen dieselben, die EU-Grenzen sprengenden Anliegen verfolgen.

2.   Einleitung

2.1.

Am 19. April 2016 nahm die Kommission ihre „Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Schwerpunkte der IKT-Normung für den digitalen Binnenmarkt“ an (COM(2016) 176 final).

2.2.

Ziele der Kommissionsmitteilung:

Unterstützung und Stärkung der Rolle der EU in der globalen digitalen Wirtschaft,

Sicherstellung, dass die Normen im IKT-Bereich so gestaltet werden, dass sie den politischen Erfordernissen besser entsprechen,

Gewährleistung, dass die Normen beweglich, offen sowie stärker mit Forschung und Innovation verknüpft sind.

2.3.

Essenz der Kommissionsmitteilung:

Ein umfassendes strategisches und politisches Konzept für die Normung vorrangiger IKT: In der Mitteilung wird ein umfassendes strategisches und politisches Konzept für die Normung vorrangiger Informations- und Kommunikationstechnologien vorgelegt, die von entscheidender Bedeutung für die Vollendung des digitalen Binnenmarkts sind.

Bewältigung der Herausforderungen im Bereich der IKT-Normung: Zur Bewältigung der Herausforderungen im Bereich der Normung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) kündigte die Kommission an, sie werde „einen integrierten Normungsplan mit Normungsschwerpunkten aufstellen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Technologien und Bereiche, die als unverzichtbar für den digitalen Binnenmarkt gelten“.

2.4.

Kontext der Kommissionsmitteilung:

Gemeinsame Normen als Grundlage für einen effizienten digitalen Binnenmarkt: Gemeinsame Normen gewährleisten die Interoperabilität der digitalen Technologien und bilden die Grundlage für einen effizienten digitalen Binnenmarkt. Durch solche Normen wird sichergestellt, dass Technologien zuverlässig und reibungslos zusammen funktionieren und Größenvorteile geschaffen, Forschung und Innovation gefördert und die Märkte offen gehalten werden. Unterschiedliche nationale Normen können jedoch Innovationen beträchtlich verlangsamen und europäische Unternehmen gegenüber der übrigen Welt benachteiligen.

Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 zur europäischen Normung: Die jüngste Überarbeitung der Normungspolitik der EU führte zur Annahme der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 zur europäischen Normung und zur Schaffung eines Rahmens für ein transparenteres, effizienteres und wirksameres europäisches Normungssystem, das alle Industriebereiche erfasst. Die Mitteilung stützt sich auf die Verordnung (EU) Nr. 1025/2012  (1) und steht im Zusammenhang mit der geplanten gemeinsamen Normungsinitiative, die Teil der umfassenderen Strategie für den Binnenmarkt ist (COM(2015) 550 final — Den Binnenmarkt weiter ausbauen: mehr Chancen für die Menschen und die Unternehmen).

2.5.

Zentrale Anliegen der Kommissionsmitteilung:

IKT-Normen als Eckpfeiler des digitalen Binnenmarkts

Festlegung von Normen für IKT in einem sich rasch wandelnden und schwierigen globalen Kontext

Europas Antwort: Ein Zwei-Säulen-Plan zur Schwerpunktsetzung in der IKT-Normung für den digitalen Binnenmarkt und zu deren Durchführung

Fünf Schwerpunktbereiche: die Bausteine der IKT-Normung

Durch Normen eine Führungsrolle erringen und behaupten — eine Verpflichtung auf hoher Ebene

3.   Überblick über den Wortlaut der Mitteilung und allgemeine Bemerkungen

3.1.    IKT-Normen als Eckpfeiler des digitalen Binnenmarkts

3.1.1.

Gemäß Ziffer 1 der Mitteilung betrifft die Digitalisierung der Weltwirtschaft sämtliche Industrie- und Dienstleistungssektoren. Ferner werden in Ziffer 1 die allgemeinen Aspekte der Mitteilung umrissen —

ihr Ziel,

ihr Gegenstand und

ihr Hintergrund.

3.2.    Festlegung von Normen für IKT in einem sich rasch wandelnden und schwierigen globalen Kontext

3.2.1.

Ziffer 2 der Kommissionsmitteilung zufolge steht die Entwicklung von IKT-Normen vor mehreren neuen Herausforderungen, die eine gezielte und nachhaltige Lösung auf EU-Ebene erfordern.

3.2.2.

In der Mitteilung wird hervorgehoben, dass mögliche Folgen dieser Probleme die unökonomische Verteilung begrenzter Ressourcen, mangelnde Effizienz und generell eine Dämpfung der Innovationsfähigkeit in Europa sein könnten.

3.3.    Europas Antwort: Ein Zwei-Säulen-Plan zur Schwerpunktsetzung in der IKT-Normung für den digitalen Binnenmarkt und zu deren Durchführung

3.3.1.

In Ziffer 3 wird in dieser Mitteilung ein Plan mit Schwerpunktmaßnahmen für die nächste Normungswelle bei Technologien der digitalen Wirtschaft vorgelegt.

3.3.2.

Konzept der Kommission:

1.

In dieser Mitteilung werden eine Reihe vorrangiger Bausteine für den digitalen Binnenmarkt aufgeführt, bei denen eine verbesserte IKT-Normung besonders dringlich ist, und entsprechende Ziele und Zeitpläne vorgegeben.

2.

Die Kommission schlägt ein Verfahren auf hoher politischer Ebene zur Validierung, Überwachung und gegebenenfalls Anpassung der Schwerpunktliste vor. Bei diesem Verfahren wird auf die Instrumente des europäischen Normungssystems und die Beteiligung einer Vielzahl unterschiedlicher Interessenträger innerhalb der EU und auf internationaler Ebene gesetzt.

3.3.3.

Beide Teile dieses Schwerpunktplans müssen gemeinsam vorangebracht werden, um der EU eine Führungsrolle in der globalen digitalen Wirtschaft zu sichern.

3.4.    Fünf Schwerpunktbereiche: die Bausteine der IKT-Normung

3.4.1.

In Ziffer 3.1 ihrer Mitteilung nennt die Kommission die fünf Schwerpunktbereiche, die die grundlegenden technologischen Bausteine des digitalen Binnenmarkts bilden (Reihenfolge unerheblich):

Cloud Computing,

das Internet der Dinge (IoT),

5G-Kommunikation,

Datentechnologien (auch für Big Data) und

Cybersicherheit.

3.4.2.

Diese Schwerpunktbereiche wurden basierend auf den Empfehlungen der Europäischen Multi-Stakeholder-Plattform für die IKT-Normung ausgewählt, die Interessenträger der Branche, Normungseinrichtungen, Regierungen und Vertreter der Zivilgesellschaft an einen Tisch bringt.

3.4.3.

Die Digitalisierung hat für verschiedene Sektoren wie auch für die Verbraucher erhebliche Auswirkungen. Viele wichtige IKT-Anwendungsbereiche (wie bspw. elektronische Gesundheitsdienste (eHealth), intelligente Verkehrssysteme, intelligente Energie, fortgeschrittene Fertigung, intelligente Städte usw.) bauen unmittelbar auf den ausgewählten fünf Schwerpunktbereichen auf.

3.4.4.

Die ausgewählten Schwerpunkte werden andere Instrumente zur Umsetzung der europäischen Normungspolitik ergänzen. Neben der geplanten gemeinsamen Normungsinitiative sind das der fortlaufende Plan für die IKT-Normung und das jährliche Arbeitsprogramm der Union.

3.5.    Durch Normen eine Führungsrolle erringen und behaupten — eine Verpflichtung auf hoher Ebene

3.5.1.

Laut Ziffer 3.2 der Mitteilung reicht die Festlegung von Schwerpunkten für die IKT-Normung im Sinne des digitalen Binnenmarkts indes allein nicht aus. Der Erfolg hängt davon ab, dass sich ein breites Spektrum von Interessenträgern, das die Industrie, Normungsorganisationen und die Forschergemeinschaft sowie EU-Organe und nationale Verwaltungen umfasst, auf hoher Ebene zur Normung bekennt.

3.5.2.

Die Kommission schlägt einen auf hoher Ebene angesiedelten Prozess zur Verwirklichung der Schwerpunktmaßnahmen vor. Dieser Prozess stützt sich auf die Europäische Multi-Stakeholder-Plattform, den fortlaufenden Plan für die IKT-Normung und das jährliche Arbeitsprogramm der Union für europäische Normung als Durchführungs- und Verbreitungsmechanismen für Normen. In der Mitteilung werden sämtliche Elemente des Prozesses und alle damit verknüpften Tätigkeiten beschrieben.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.    Gleichgewicht zwischen Normung und Kreativität

4.1.1.

Aus dem Blickwinkel der Mitteilung ist Normung Mittel zum Zweck und verfolgt u. a. das Ziel, Forschung und Innovation im IKT-Bereich zu fördern.

4.1.2.

Normen beschreiben nicht nur Möglichkeiten, sondern legen auch Regeln und Grenzen fest. Normen können Entwicklung fördern, aber auch hemmen, insbesondere in sehr dynamischen Bereichen wie IKT.

4.1.3.

In Ziffer 2 der Mitteilung „Festlegung von Normen für IKT in einem sich rasch wandelnden und schwierigen globalen Kontext“, in dem es um die Herausforderungen im Normungsprozess geht, wird davor gewarnt, dass „Innovationen durch die zunehmende Komplexität, die sich aus der wachsenden Zahl von Normen ergibt, und durch die Vielfalt der an der Normung beteiligten fachlichen Gruppierungen gebremst werden“ können.

4.1.4.

Die Ergebnisse der öffentlichen Konsultation (Synopsis report on the public consultation „Standards in the Digital Single Market: setting priorities and ensuring delivery“) veranschaulichen die Ansichten der Interessenträger, u. a. in der IKT-Branche, die einen Bottom-up-Ansatz befürworten.

4.1.5.

Es liegt auf der Hand, dass Normen, die zu strikt sind oder verfrüht festgelegt werden, dazu führen können, dass

Kreativität und damit die Entwicklung und Umsetzung innovativer Lösungen gehemmt werden,

die Hersteller den erarbeiteten und angenommenen Normen zum Trotz in ihrem Arbeitsalltag andere eigene „Normen“ anwenden.

4.1.6.

Das bedeutet, dass im Verlauf des Normungsprozesses die Konzeption, Annahme und Anwendung jeder Norm sorgfältig geprüft und bei der Normung ein ausgewogener Ansatz zwischen Einschränkung und Lenkung von Kreativität gewählt werden muss, um die freie Gestaltung origineller Lösungen zu ermöglichen.

4.1.7.   Empfehlung Nr. 1

Der EWSA empfiehlt, dass die Kommission in künftigen Mitteilungen und einschlägigen Dokumenten alle Interessenträger über die Notwendigkeit informiert, bei der Normung im IKT-Bereich einen ausgewogenen Ansatz zwischen Einschränkung und Lenkung von Kreativität zu wählen.

4.2.    Unterschiedliche Bezeichnungen für die Schwerpunktbereiche in verschiedenen Dokumenten zu Normung

4.2.1.

In Ziffer 3.1 der Mitteilung werden die fünf genannten Schwerpunktbereiche für die IKT-Normung aufgelistet:

Cloud Computing,

das Internet der Dinge (IoT),

5G-Kommunikation [EN: 5G communications],

Cybersicherheit [EN: Cybersecurity],

Datentechnologien (auch für Big Data) [EN: (big) data technologies].

4.2.2.

Indes stützt sich die Mitteilung auf den fortlaufenden Plan für die IKT-Normung. Im fortlaufenden Plan der EU für die IKT-Normung 2016 (Rolling Plan for ICT standardisation 2016) lauten die Bereiche wie folgt:

3.5.

Grundvoraussetzungen und Sicherheit

95

 

3.5.1.

Cloud Computing

96

 

3.5.2.

Informationen des öffentlichen Sektors, Open Data und Big Data

101

 

3.5.3.

Elektronische Behördendienste

106

 

 

3.5.3.1.

Anwendungsprofil DCAT für Datenportale in Europa

107

 

 

3.5.3.2.

Austausch von Metadaten für wiederverwendbare Interoperability Assets (elektronische Behördendienste)

107

 

 

3.5.3.3.

Core Vocabularies zur Erleichterung der Entwicklung interoperabler Lösungen

107

 

3.5.4.

Elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste einschl. elektronische Signatur

109

 

3.5.5.

Radiofrequenz-Identifizierung (RFID)

112

 

3.5.6.

Internet der Dinge

114

 

3.5.7.

Netz- und Informationssicherheit

120

 

3.5.8.

Datenschutz für elektronische Kommunikation

124

 

3.5.9.

E-Infrastruktur für Forschungsdaten und rechenintensive Wissenschaft

127

 

3.5.10.

Kartierung von Breitbandinfrastrukturen

131

 

3.5.11.

Erhaltung des digitalen Kinos

134

4.2.3.

Obwohl die beiden Dokumente — die Mitteilung der Kommission und der fortlaufende Plan der EU für die IKT-Normung 2016 — zusammenhängen und ineinandergreifen, stimmen sie terminologisch nicht überein. Keines der beiden Dokumente enthält Querverweise auf entsprechende Normungsbereiche.

4.2.4.   Empfehlung Nr. 2

Der EWSA empfiehlt, die Bezeichnungen für die Schwerpunktbereiche für IKT-Normung, die in der Mitteilung der Kommission und dem fortlaufenden Plan für die IKT-Normung unterschiedlich sind, anzugleichen. Im Interesse der Kohärenz der verschiedenen Dokumente und einschlägigen Texte muss die Terminologie vereinheitlicht werden.

4.3.    Auswahl der Schwerpunktbereiche für IKT-Normung

4.3.1.

In Ziffer 3.1 der Mittelung werden die fünf Schwerpunktbereiche für IKT-Normung aufgeführt. Dazu heißt es: „Diese Bereiche wurden basierend auf den Empfehlungen der Europäischen Multi-Stakeholder-Plattform für die IKT-Normung ausgewählt, die Interessenträger der Branche, Normungseinrichtungen, Regierungen und Vertreter der Zivilgesellschaft an einen Tisch bringt. Eine öffentliche Konsultation hat bestätigt, dass ein breiter Konsens über diese Schwerpunkte besteht.

4.3.2.

An der öffentlichen Konsultation, die zwischen dem 23. September 2015 und dem 4. Januar 2016 stattfand, nahmen 168 Interessenträger teil. Die Ergebnisse der Konsultation sind in dem Synopsis report on the public consultation „Standards in the Digital Single Market: setting priorities and ensuring delivery“ enthalten.

4.3.3.

Da die Konsultationsergebnisse in die Festlegung der in der Mitteilung der Kommission aufgelisteten Schwerpunktbereiche der IKT-Strategie eingeflossen sind, die ein breites Spektrum europäischer Unternehmer betreffen, könnte es in Anbetracht der geringen Teilnehmerzahl (Antworten von 168 Interessenträgern) angezeigt sein, zusätzliche Informationen über die Zusammensetzung der Befragten zu geben.

4.3.4.

Informationen über die befragten Gruppen sind dem Bericht zu entnehmen (2).

4.3.5.

Viele Befragte gehören demnach verschiedenen Normungsorganisationen an. Eine vergleichsweise kleine Gruppe besteht aus Entwicklern und Herstellern, d. h. Akteuren, die den Marktbedarf aufmerksam verfolgen, technologische Entwicklungstrends setzen oder ihnen folgen und eigene Entwicklungspläne haben. In absoluten Zahlen ist ihr Anteil gering.

4.3.6.

Die in dem Gesamtbericht (Synopsis report) erläuterten Konsultationsergebnisse bieten Informationen über die ausgewählten Bereiche, nicht jedoch darüber, wie viele und welche Bereiche tatsächlich untersucht wurden (auch ist kein Verweis auf die Bereiche im fortlaufenden Plan für die IKT-Normung enthalten). Es wird auch nicht angegeben, wer die Auswahl getroffen hat, ob ursprünglich weitere Optionen zur Auswahl standen und welche Standpunkte vertreten wurden.

4.3.7.   Empfehlung Nr. 3

Angesichts der Bedeutung der Schwerpunktsetzung in der IKT-Normung empfiehlt der EWSA, dass im Zusammenhang mit der Auswahl der Schwerpunktbereiche ausführlicher über die Beweggründe, die Methodik und die Ergebnisse informiert werden sollte.

4.4.    Lebenszyklus der Mitteilung

4.4.1.

In der Mitteilung der Kommission werden zahlreiche veränderliche Elemente genannt, u. a. die Schwerpunktbereiche, die Schwerpunktmaßnahmen, die wichtigsten Fristen usw. Ein Dokument wie diese Mitteilung kann also nicht auf Dauer angelegt sein.

4.4.2.

Deshalb muss in der Praxis ein spezifisches Verfahren zur Anwendung kommen, in dem festgelegt ist, wie und in welchen Abständen das Dokument überprüft wird und öffentliche Konsultationen durchgeführt, Beschlüsse gefasst, strategische Planungsmaßnahmen ergriffen und andere Tätigkeiten ausgeführt werden — sprich: ein Management-System für den Lebenszyklus des Dokuments und den damit zusammenhängenden Tätigkeiten.

4.4.3.   Empfehlung Nr. 4

Damit alle Interessenträger die Maßnahmen zur Umsetzung der Kommissionsmitteilung und ihre Kohärenz nachvollziehen können, empfiehlt der EWSA, über wiederkehrende Maßnahmen zur Ergänzung oder Fortsetzung der im Rahmen der Mitteilung eingeleiteten Arbeiten zu informieren.

4.5.    Unzureichend berücksichtigte Aspekte

4.5.1.

In der Kommissionsmitteilung werden viele Aspekte in Verbindung mit der Auswahl von Schwerpunkten für die IKT-Normung und den dazu geplanten weiterführenden Maßnahmen angesprochen. Nach Durchsicht der Mitteilung und der damit verbundenen Dokumente fällt jedoch auf, dass verschiedene gesellschaftlich relevante Aspekte gar nicht behandelt oder nur gestreift werden.

4.5.2.

Auch wenn die Kommissionsmitteilung in erster Linie darauf abhebt, die Marschroute für die IKT-Normung und die damit verknüpften Tätigkeiten vorzugeben, wird die praktische Umsetzung und Durchführung auch mittelbare und unmittelbare Auswirkungen auf andere Bereiche haben, so z. B.:

Verbraucherrechte,

die Tätigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU),

Beschäftigung und Arbeitsplatzsicherheit,

Arbeitszeiten und -bedingungen,

barrierefreien IKT-Zugang,

Umweltschutz,

verschiedene Anliegen in Verbindung mit der sozialen Dimension.

4.5.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass während des Normungsprozesses auf Folgendes geachtet werden muss:

die Sicherung gleicher Ausgangsbedingungen für alle Interessenträger,

die Berücksichtigung von Normungsanliegen in bilateralen Freihandelsabkommen der EU,

die Abgrenzung von Tätigkeitsbereichen,

die Qualifikation der Arbeitnehmer zur Erfüllung von Normenanforderungen,

die Grundrechte der Arbeitnehmer,

die Einbindung zivilgesellschaftlicher Vertreter in den Dialog.

4.5.4.   Empfehlung Nr. 5

Damit die Interessenträger sichergehen können, dass die Kommission bei der Erarbeitung ihrer Mitteilung über die unmittelbaren Belange der IKT-Normungsprioritäten hinausgeblickt und auch die verschiedenen sozialen Auswirkungen dieser Prioritäten (Artikel 11 AEUV) geprüft hat, empfiehlt der EWSA, in künftige Mitteilungen der Kommission mehr spezifische Informationen über die Einbeziehung verschiedener Interessenträger und die sozialen Folgen des gewählten Ansatzes im Bereich der IKT-Normung, die bereits alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft, aufzunehmen.

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. L 316 vom 14.11.2012, S. 12.

(2)  http://ec.europa.eu/information_society/newsroom/image/document/2016-17/synopsis_report_on_the_public_consultation_-_standards_in_the_digital_single_market_setting_priorities_and_ensuring_delivery_15264.pdf


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/99


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: EU-eGovernment-Aktionsplan 2016-2020 — Beschleunigung der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung“

(COM(2016) 179 final)

(2016/C 487/16)

Berichterstatter:

Raymond HENCKS

Befassung

Europäische Kommission, 19.4.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

22.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

162/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Das Ziel der Europäischen Union, bis 2020 über eine elektronische öffentliche Verwaltung zu verfügen, die über alle Abläufe hinweg nutzerfreundliche, personalisierte und grenzübergreifende digitale Dienste anbietet, mutet angesichts der bisherigen Fortschritte bei der Umsetzung der aufeinanderfolgenden einschlägigen Aktionspläne in zahlreichen Mitgliedstaaten nicht sehr realistisch an.

1.2.

Der EWSA befürwortet die im dritten europäischen Aktionsplan (2016-2020) unterbreiteten Vorschläge zur Beschleunigung der Verwirklichung effizienter, interoperabler und universell zugänglicher elektronischer Behördendienste.

1.3.

Funktionierende elektronische öffentliche Dienste setzen unter anderem ein leistungsfähiges digitales Netz, fortgeschrittene Online-Dienste, einen universellen und erschwinglichen Zugang sowie die Stärkung der digitalen Kompetenzen aller Nutzer auf allen Ebenen und in allen Altersklassen voraus. Aber auch wenn die Kommunikation mittel- und langfristig standardmäßig über eGovernment-Dienste ablaufen soll, muss es für die Bürger, die dies wünschen, auch weiterhin möglich sein, auf herkömmlichem Wege (per Post, persönlich oder telefonisch) mit der öffentlichen Verwaltung Kontakt aufzunehmen.

1.4.

Der EWSA schlägt der Kommission vor, auf einer zentralen Website alle Nutzerrechte in Verbindung mit elektronischen Behördendiensten zusammenzutragen, insbesondere die Rechte auf Zugang und Diskriminierungsfreiheit, freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, Schutz der Privatsphäre und der personenbezogenen Daten, Bildung und Allgemeinwissen (von der Schulbildung bis hin zum lebenslangen Lernen), Rechtsbehelfe usw.

1.5.

Der EWSA befürwortet die sieben Grundsätze, auf die sich der Kommissionsvorschlag stützt, gibt jedoch zu bedenken, dass einige davon erst umgesetzt werden können, wenn die damit verbundenen rechtlichen und technischen Probleme ausgeräumt sind.

1.6.

Er stellt fest, dass die rechtlichen und organisatorischen Probleme in Verbindung mit dem Grundsatz der einmaligen Erfassung, demzufolge Privatpersonen und Unternehmen den Verwaltungen dieselben Informationen nur einmal zu übermitteln brauchen, fortbestehen, und fordert die Kommission auf, einen entsprechenden Pilotversuch zu starten. Er schlägt ferner vor, den Grundsatz eines ressortübergreifenden Ansatzes (Whole-of-Government-Ansatz) aufzunehmen, demzufolge die verschiedenen öffentlichen Einrichtungen über ihren Zuständigkeitsbereich hinaus zusammenarbeiten, so dass ein Antragsteller über einen Ansprechpartner eine integrierte Antwort erhält.

1.7.

Der EWSA bedauert, dass der Grundsatz „keine Erblasten“, d. h., die Erneuerung der IT-Systeme und Technologien in der öffentlichen Verwaltung, um immer mit der technischen Entwicklung Schritt zu halten, nicht berücksichtigt worden ist.

1.8.

Er beharrt darauf, dass den Bürgern und Unternehmen im Rahmen der Anwendung des Grundsatzes „Offenheit und Transparenz“ ausdrücklich das Recht eingeräumt werden muss, im Einklang mit den geltenden Rechtsvorschriften und einschlägigen Verfahren die Kontrolle über die Weitergabe ihrer personenbezogenen Daten an andere Behörden zu behalten und diese Daten ggf. löschen zu lassen (Recht auf Vergessenwerden), und fordert, einen Vorschlag für ein sicheres europäisches System für Archivierung und elektronischen Dokumentenaustausch zu unterbreiten.

1.9.

Da viele Bürger noch nicht mit den neuen elektronischen öffentlichen Diensten vertraut sind, sollten die Mitgliedstaaten und ihre lokalen und regionalen Gebietskörperschaften den Bürgern Schulungen zum Erwerb der digitalen Kompetenzen anbieten und dazu verpflichtet werden, eine durch europäische Mittel kofinanzierte Hilfestellung bzw. „assistierte Nutzung“ von Online-Diensten oder eine praxisnahe Begleitung anzubieten. Das Gleiche gilt für die Beschäftigten der öffentlichen Verwaltungen im Rahmen der beruflichen Weiterbildung.

1.10.

Der EWSA bedauert zutiefst, dass in dem Aktionsplan mit keinem Wort auf die Sozialfolgen der elektronischen Behördendienste und ihre Auswirkungen auf die Beschäftigung — weder auf Arbeitsplatzverluste noch auf unbesetzte Arbeitsplätze aufgrund der fehlenden digitalen Kompetenzen — eingegangen wird. Im Rahmen einer Umschichtung der im Zuge der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung freigesetzten Arbeitsplätze sollten die Beschäftigten, deren Arbeitsplätze verloren gehen, für die assistierte Nutzung von Online-Diensten eingesetzt oder geeigneten Arbeitsaufgaben zugeführt werden.

2.   Einleitung

2.1.

Der Europäische eGovernment-Aktionsplan 2011-2015 (Einsatz der IKT zur Förderung intelligent, nachhaltig und innovativ handelnder Behörden) (1) ist im Dezember 2015 ausgelaufen.

2.2.

Die elektronischen Behördendienste sind jedoch nach wie vor eine der „Großbaustellen“ der digitalen Agenda und auf Ebene der EU wie auch der Mitgliedstaaten eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Vollendung des digitalen Binnenmarkts.

2.3.

Zahlreiche in dem abgelaufenen Aktionsplan vorgesehene Initiativen sind in mehreren Mitgliedstaaten noch nicht vollständig umgesetzt worden und müssen unter dem neuen EU-eGovernment-Aktionsplan 2016-2020 fortgesetzt werden.

2.4.

Die öffentlichen Verwaltungen müssen das Design ihrer elektronischen Dienstleistungen verbessern und verstärkt nutzerfreundlich gestalten, um effiziente, auch grenzübergreifend funktionierende elektronische Behördendienste sicherzustellen.

3.   Inhalt der Kommissionsmitteilung

3.1.

Der Aktionsplan, der die Beschleunigung des digitalen Wandels zum Ziel hat, soll die Koordination der Modernisierungsmaßnahmen im öffentlichen Sektor sowie der Ressourcen im eGovernment-Bereich unterstützen.

3.2.

Er beinhaltet 20 Maßnahmen, die jedoch nicht erschöpfend sind und im Laufe des rasch voranschreitenden Wandels durch weitere, von der Kommission oder den Interessenträgern vorgeschlagene Maßnahmen ergänzt werden können.

3.3.

Die Initiativen im Rahmen des neuen Aktionsplans sollten mit den folgenden Grundsätzen im Einklang stehen:

„Standardmäßig digital“: Elektronisch erbrachte Dienstleistungen sollten der Regelfall werden, aber für diejenigen, die digitale Daten nicht nutzen wollen oder können, sollten auch andere Kanäle beibehalten werden. Zudem sollten öffentliche Verwaltungen ihre öffentlichen Dienste über einen zentralen Ansprechpartner oder eine zentrale Stelle und unter Nutzung mehrerer Kanäle anbieten.

Grundsatz der einmaligen Erfassung: Demnach sollten Privatpersonen und Unternehmen den Verwaltungen dieselben Informationen nur einmal übermitteln müssen.

Inklusion und Barrierefreiheit: Öffentliche Verwaltungen sollten digitale öffentliche Dienste so konzipieren, dass sie grundsätzlich inklusiv sind und unterschiedlichen Bedürfnissen — etwa denen von älteren Menschen oder Menschen mit Behinderungen — Rechnung tragen.

Offenheit und Transparenz: Öffentliche Verwaltungen sollten Informationen und Daten untereinander austauschen. Sie sollten den Bürgern und Unternehmen aber auch Zugang zu ihren Daten sowie die Kontrolle über ihre Daten und deren Berichtigung ermöglichen, den Nutzern Einblick in die sie betreffenden Verwaltungsverfahren gestatten und sich bei der Entwicklung und Erbringung ihrer Dienste gegenüber den einzelnen Interessengruppen (wie z. B. Unternehmen, wissenschaftlichen Einrichtungen sowie gemeinnützigen Organisationen) öffnen und diese mit einbeziehen.

„Standardmäßig grenzübergreifend“: Öffentliche Verwaltungen sollten einschlägige digitale öffentliche Dienste grenzübergreifend anbieten und eine weitere Fragmentierung verhindern, um die Mobilität im Binnenmarkt zu erleichtern.

„Standardmäßig interoperabel“: Öffentliche Dienste sollten so konzipiert sein, dass sie nahtlos im gesamten Binnenmarkt und über organisatorische Grenzen hinweg erbracht werden können, wozu ein freier Austausch von Daten und digitalen Dienstleistungen in der Europäischen Union gewährleistet werden sollte.

Vertrauenswürdigkeit und Sicherheit: Alle Initiativen sollten über die bloße Einhaltung des Rechtsrahmens zum Schutz personenbezogener Daten und der Privatsphäre sowie der IT-Sicherheit hinausgehen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA unterstützt die Bemühungen der Kommission, die Entwicklung und Nutzung der elektronischen Behördendienste voranzubringen. Seit dem ersten eGovernment-Aktionsplan 2006 haben sich die Mitgliedstaaten darauf festgelegt, wirksame, effiziente, interoperable und allgemein zugängliche elektronische Behördendienste, auch grenzüberschreitend, anzubieten. Ihre Zusagen wurden im Rahmen der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt bis 2020 aufgegriffen.

4.2.

Doch trotz der laut Bewertung des Aktionsplans 2011-2015 erzielten Fortschritte und unbeschadet der bereitgestellten umfangreichen gemeinschaftlichen Finanzmittel, die von den Mitgliedstaaten jedoch kaum in Anspruch genommen wurden, stehen die Nutzer immer noch vor dem Problem einer je nach Mitgliedstaat mehr oder weniger bruchstückhaften Modernisierung der öffentlichen Verwaltungen und eines unzureichenden Angebots an grenzübergreifenden digitalen Diensten. Der EWSA fragt sich, warum die von der EU bereitgestellten Mittel weitgehend unausgeschöpft bleiben, und fordert die Kommission auf, dem nachzugehen, mögliche Hindernisse zu beseitigen und die Mitgliedstaaten zu ermutigen, diese Mittel wirksam und effizient, vor allem zur Förderung von eGovernment, zu nutzen.

4.3.

Die elektronischen Behördendienste sind ein Schlüsselelement der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt. Allerdings gibt es noch weitere wichtige Digitalisierungskriterien, die in der vorliegenden Mitteilung zwar nicht angesprochen werden, aber eine Grundvoraussetzung für eGovernment darstellen. So liegt es auf der Hand, dass Bürger jeden Alters und Unternehmen, unabhängig von ihrem Standort oder ihrer finanziellen Lage, Anspruch auf einen allgemeinen und erschwinglichen Zugang zu den auf dem neuesten Stand befindlichen digitalen Netzen und Diensten und erforderlichenfalls auf Hilfestellung und Schulung im Hinblick auf die Aneignung der erforderlichen Kompetenzen zur effizienten und verantwortlichen Nutzung der digitalen Anwendungen haben müssen.

4.4.

Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die Rechte der Nutzer der elektronischen Behördendienste, sprich: die Anwendung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten auf die Internetnutzer, insbesondere die Rechte auf Zugang und Diskriminierungsfreiheit, freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, Schutz der Privatsphäre und der personenbezogenen Daten, Bildung und Allgemeinwissen (von der Schulbildung bis hin zum lebenslangen Lernen), Rechtsbehelfe usw. Hinzu kommen noch spezifische Rechte in unmittelbarem Zusammenhang mit digitalen öffentlichen Diensten. In Anbetracht der unterschiedlichen Rechtsquellen schlägt der EWSA der Kommission vor, auf einer zentralen Website alle Nutzerrechte in Verbindung mit elektronischen Behördendiensten zusammenzutragen.

4.5.

Da es für die Nutzer häufig schwer ist, notwendige Informationen und digitale Hilfestellung zu finden, schlägt die Kommission vor, sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene eine zentrale Anlaufstelle einzurichten. Entsprechende Anlaufstellen gibt es in den meisten Mitgliedstaaten, Regionen und Kommunen bereits. Der EWSA unterstützt die Einrichtung einer solchen Anlaufstelle bei den nationalen, regionalen oder kommunalen öffentlichen Verwaltungen, die die Nutzer unmittelbar an die für ihre jeweiligen Anliegen oder Wünsche zuständigen Stellen weiterleitet.

4.6.

Der Aktionsplan 2016-2020 stützt sich auf sieben Grundsätze, auf denen zum Großteil auch schon die vorhergehenden Aktionspläne beruhten. Der EWSA unterstützt diese Grundsätze generell, fragt sich jedoch, wie sie umgesetzt werden können, bevor die damit verbundenen rechtlichen (Verarbeitung personenbezogener Daten und Schutz der Privatsphäre im Rahmen einer offenen Verwaltung) und technischen (grundlegende und industrielle Technologien, Umstellung der Dienste auf digitale Kanäle) Fragen gelöst sind.

4.7.

In dem neuen Aktionsplan wird der Schwerpunkt auf Interoperabilität und die Wiederverwendung der im Besitz der Behörden befindlichen Daten gelegt, da heutzutage viele Daten seitens der öffentlichen Verwaltungen für einen einzigen bzw. sehr begrenzten Zweck erhoben werden. Nach dem Grundsatz der einmaligen Erfassung brauchen die Nutzer bei neuen Kontakten mit der öffentlichen Verwaltung ihre häufig genutzten Daten nicht erneut eingeben; die öffentlichen Verwaltungen können diese Informationen untereinander austauschen, sofern der Schutz der personenbezogenen Daten und der Privatsphäre gewahrt ist. Im Einklang mit diesem Grundsatz sollten die Handelsregister in der gesamten EU vernetzt werden und die verschiedenen nationalen und grenzübergreifenden Systeme zusammenarbeiten, so dass die Verwaltungen bereits vorhandene Informationen nicht mehr erneut erheben müssen. Zwar gilt für elektronische Behördendienste die Datenschutzverordnung, doch muss nach Ansicht des EWSA auf Ausgewogenheit zwischen rechtsstaatlicher Kontrolle und Sicherheit und Freiheit der Bürger geachtet werden.

4.8.

Der neue Ansatz der Kommission soll dem sich schnell ändernden Umfeld Rechnung tragen. Der EWSA stellt fest, dass der Grundsatz „keine Erblasten“, d. h., die Erneuerung der IT-Systeme und Technologien in der öffentlichen Verwaltung, um immer mit der technischen Entwicklung Schritt zu halten, nicht berücksichtigt worden ist und die Kommission ihn im Hinblick auf eine eventuelle Anwendung prüfen wird.

4.9.

Die Kommission hat ausdrücklich vor, die Öffentlichkeit in die Planung der elektronischen Behördendienste einzubeziehen, und fordert die öffentlichen Verwaltungen im Rahmen des Grundsatzes „Offenheit und Transparenz“ auf, den Dialog mit den Bürgern, Unternehmen, Vertretern der Sozialpartner und Verbraucher, Forschern und gemeinnützigen Einrichtungen im Hinblick auf die Konzeption und Erbringung dieser Dienste aufzunehmen.

4.10.

Über eine Online-Beteiligungsplattform, die die Bürger und die Behörden miteinander vernetzt und es ermöglicht, in verschiedenen Ländern ähnliche Probleme ermitteln und bewährte Praktiken wie auch Lösungswege der Verwaltungen aufzuzeigen, werden die Bürger Vorschläge einreichen und spezifische Forderungen unmittelbar an die Kommission und die Mitgliedstaaten richten können. Der EWSA unterstützt diese Art Initiative, die es jedem Einzelnen ermöglicht, die lokalen, regionalen oder nationalen Behörden über die Probleme in seinem Umfeld zu informieren.

4.11.

Der Grundsatz „Offenheit und Transparenz“ sieht vor, dass die öffentlichen Verwaltungen Informationen und Daten austauschen und den Bürgern und Unternehmen den Zugang zu ihren Daten, die Kontrolle über ihre Daten sowie deren Berichtigung ermöglichen. Der EWSA fordert nachdrücklich das Recht für Bürger und Unternehmen, im Einklang mit den geltenden Rechtsvorschriften und einschlägigen Verfahren die Kontrolle über die Weitergabe ihrer personenbezogenen Daten an andere Behörden zu behalten und ihre Daten ggf. löschen zu lassen (Recht auf Vergessenwerden).

4.12.

Nach Meinung des EWSA sollte die Kommission in diesem Kontext und im Hinblick auf die Vermeidung neuer Unstimmigkeiten einen Vorschlag für ein sicheres europäisches System für Archivierung und elektronischen Dokumentenaustausch unterbreiten.

4.13.

Im Aktionsplan fehlt der Grundsatz eines ressortübergreifenden Ansatzes (Whole-of-Government-Ansatz), demzufolge die verschiedenen öffentlichen Einrichtungen über ihren Zuständigkeitsbereich hinaus zusammenarbeiten, so dass ein Antragsteller über einen Ansprechpartner eine integrierte Antwort erhält.

4.14.

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Errichtung der zentralen elektronischen Anlaufstellen wie des Europäischen Justizportals, des „Single Window“-Systems für den Seeverkehr und der einzigen elektronischen Anlaufstellen für die übrigen Verkehrsträger voranzubringen. In der künftigen Strategie sollten die bestehenden europäischen Portale (wie bspw. eJustice, solvit, youreurope) in einem einzigen Portal zusammengefasst werden, das anschließend mit den nationalen Portalen vernetzt werden müsste, um alle möglichen Behördengänge zu vereinfachen.

4.15.

Der EWSA unterstützt zwar die Idee, dass die Mitgliedstaaten und ihre lokalen und regionalen Behörden im Zuge des Ausbaus von eGovernment ihre Dienste künftig verstärkt über diese Portale anbieten, betont jedoch, dass diese Portale nach wie vor eine Ergänzung der physischen Anlaufstellen und der herkömmlichen Wege der Kontaktaufnahme (per Post, persönlich am Schalter oder telefonisch) sind.

4.16.

Die Vereinten Nationen bestimmen anhand des E-Government-Entwicklungsindexes, der sich aus den Teilindikatoren „Menschliches Kapital“, „Telekommunikationsinfrastruktur“ und „Online-Dienstleistungen“ zusammensetzt, in welchen Ländern die elektronischen Behördendienste am weitesten entwickelt sind. In dem Aktionsplan wird mit keinem Wort auf die Sozialfolgen der elektronischen Behördendienste und ihre Auswirkungen auf die Beschäftigung — weder auf Arbeitsplatzverluste noch auf unbesetzte Arbeitsplätze aufgrund der fehlenden digitalen Kompetenzen — eingegangen.

4.17.

Die standardmäßig digitale Erbringung von Dienstleistungen entbindet nicht von der Pflicht, die digitale Kluft zu bekämpfen.

4.18.

Es besteht ein deutliches Missverhältnis zwischen dem Angebot an elektronischen Behördendiensten auf der einen Seite und der Nutzung und Akzeptanz dieser Dienste durch die Anwender auf der anderen Seite in verschiedenen Mitgliedstaaten. Die zurückhaltende Nutzung der angebotenen Online-Dienste erklärt sich häufig durch fehlende digitale Kompetenzen. Viele Bürger müssen erst mit den neuen eGovernment-Anwendungen vertraut werden und sind auf „assistierte Nutzung“ von Online-Diensten oder eine praxisnahe Begleitung angewiesen. Das Gleiche gilt für die Beschäftigten der öffentlichen Verwaltungen im Rahmen der beruflichen Weiterbildung.

4.19.

Nach Meinung des EWSA sollten die Mitgliedstaaten und ihre lokalen und regionalen Gebietskörperschaften aufgefordert werden, den Bürgern eine durch europäische Mittel kofinanzierte Hilfestellung bzw. „assistierte Nutzung“ von Online-Diensten anzubieten. Im Rahmen einer Umschichtung der im Zuge der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung freigesetzten Arbeitsplätze sollten die Beschäftigten, deren Arbeitsplätze verloren gehen, für die assistierte Nutzung von Online-Diensten eingesetzt oder geeigneten Arbeitsaufgaben zugeführt werden.

Brüssel, den 22. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  COM(2010) 743 final und COM(2010) 744 final.


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/104


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission: Hinweisendes Nuklearprogramm — Vorlage gemäß Artikel 40 des Euratom-Vertrags zur Stellungnahme durch den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss“

(COM(2016) 177 final)

(2016/C 487/17)

Berichterstatter:

Brian CURTIS

Befassung

Europäische Kommission, 4.4.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 40 Euratom-Vertrag

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

22.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

210/2/11

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Zur Unterstützung der neuen Initiative für die Energieunion werden derzeit zahlreiche Rechtsvorschriften im Energiebereich überprüft und Initiativen ausgearbeitet, die im Lauf der kommenden 12 Monate vorgelegt werden. Man hätte daher erwarten können, dass in dieser strategischen Überprüfung als Beitrag zu diesem umfassenden Legislativpaket die wichtigsten Belange der Kernenergieerzeugung, Nuklearforschung und Stilllegung von Kernkraftwerken beleuchtet werden. Das hinweisende Nuklearprogramm (PINC) bietet jedoch keinen klaren und umfassenden Ansatz für einen planvollen Umgang mit der komplexen Zukunft der Kernenergie im europäischen Energiemix.

1.2.

Die Kernenergieerzeugung ist in den meisten Mitgliedstaaten ein politisch heikles Thema und wird von sich ändernden sozialen und wirtschaftlichen Fragestellungen auf nationaler Ebene beeinflusst. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, diese Gelegenheit zu nutzen, um ein klares Analyseverfahren und eine schlüssige Methodik vorzuschlagen, die einen kohärenten freiwilligen Rahmen für die nationale Entscheidungsfindung in Bezug auf die etwaige Rolle der Kernenergie im Energiemix bieten.

1.3.

Der EWSA fordert daher, den Entwurf des PINC, wie in Ziffer 4.3 erläutert, zu ändern und um spezifische Kapitel zu folgenden Punkten zu ergänzen:

kurz-, mittel- und langfristige Wettbewerbsfähigkeit der Kernkraft;

die damit verbundenen wirtschaftlichen Aspekte;

Beitrag zur Versorgungssicherheit;

Klimawandel und CO2-Ziele;

öffentliche Akzeptanz, Atomhaftung, Transparenz und effektiver Dialog auf nationaler Ebene.

1.4.

Eine transparente Überwachung ist sowohl für die nukleare Sicherheit als auch das öffentliche Vertrauen von grundlegender Bedeutung. Daher schlägt der EWSA vor, dass die Vorschläge der Europäischen Gruppe der Regulierungsbehörden für nukleare Sicherheit (ENSREG) für Überwachung und Berichterstattung in den nationalen Aktionsplänen der Mitgliedstaaten im PINC ausdrücklich befürwortet werden sollten. Es sollten größere Anstrengungen unternommen werden, um benachbarte Drittländer miteinzubeziehen.

1.5.

Im Zusammenhang mit dem öffentlichen Vertrauen sollte außerdem auf die ausführlichen Arbeiten zur anlagenexternen und grenzüberschreitenden Notfallvorsorge im Nuklearbereich („Review of Current Off-site Nuclear Emergency Preparedness and Response Arrangements in EU Member States and Neighbouring Countries“, Euratom, Dezember 2013) sowie auf die Schlussfolgerungen des Gipfels zur Nuklearsicherheit 2016 verwiesen werden, insbesondere in Verbindung mit möglichen terroristischen Bedrohungen.

1.6.

In Anerkennung des starken Engagements der EU in der Erforschung der Stromerzeugung durch Kernfusion wäre es sinnvoll, einen Fahrplan in das PINC aufzunehmen, um den Weg bis zur kommerziellen Nutzung zu skizzieren.

1.7.

Die strategischen Auswirkungen des Ausgangs des Brexit-Referendums im Vereinigten Königreich und insbesondere seine Bedeutung für den Euratom-Vertrag sollten beleuchtet werden. So sollte im PINC ausdrücklich auf die Notwendigkeit hingewiesen werden, über die möglicherweise weitreichenden Folgen zu beraten.

2.   Einleitung

2.1.

Gemäß Artikel 40 des Euratom-Vertrags „veröffentlicht die Kommission in regelmäßigen Abständen hinweisende Programme, insbesondere hinsichtlich der Ziele für die Erzeugung von Kernenergie und der im Hinblick hierauf erforderlichen Investitionen aller Art. Vor der Veröffentlichung holt die Kommission die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu diesen Programmen ein.“ (COM(2003) 370 final). Seit 1958 wurden fünf derartige hinweisende Nuklearprogramme (PINC) erarbeitet, wobei das letzte Programm 2007 veröffentlicht und 2008 aktualisiert wurde. Die endgültige Fassung wird nach Eingang der Stellungnahme des EWSA veröffentlicht.

2.2.

Wie schon bei früheren Gelegenheiten weiß der EWSA die Möglichkeit zu schätzen, Stellung zu einem Entwurf der Europäischen Kommission beziehen zu können, ehe die endgültige Fassung an den Rat und das Europäische Parlament übermittelt wird. Der EWSA appelliert nachdrücklich an die Europäische Kommission, die in Ziffer 1 dieser Stellungnahme enthaltenen Empfehlungen in ihren Entwurf einzuarbeiten, um mit einem umfassenderen und strategischer ausgerichteten PINC einen größeren Beitrag zu dem Paket zur Energieunion zu leisten.

2.3.

Kernenergie ist eine der grundlegenden Primärenergiequellen in der EU. Im Bericht über den Stand der Energieunion 2015 ist festgehalten: Mit „27 % aus erneuerbaren Energiequellen und weiteren 27 % aus Kernenergie“ ist „die EU […] derzeit eine der drei großen Volkswirtschaften, die mehr als die Hälfte ihres Stroms ohne Treibhausgasemissionen erzeugen.“ Außerdem wird in diesem Bericht darauf hingewiesen, dass durch das Programm „mehr Klarheit über den langfristigen Investitionsbedarf und den Umgang mit den Verbindlichkeiten im Nuklearbereich geschaffen werden“ soll (COM(2015) 572 final).

2.4.

Die Energiestrategie der EU ist seit dem letzten PINC umfänglich weiterentwickelt worden und hat hohe Priorität. So wurden Ziele für 2020, 2030 und 2050 festgelegt, es gibt allerdings weiterhin erhebliche Variablen und Unwägbarkeiten. Dazu zählen u. a. die Frage, inwieweit das Übereinkommen von Paris zum Klimawandel umgesetzt wird, die Volatilität der internationalen Märkte für fossile Brennstoffe, die Durchsetzungsrate neuer Technologien, die Zusammensetzung der EU in Bezug auf ihre Mitgliedstaaten, der Einfluss der weltweiten Konjunkturaussichten und das Ausmaß, in dem die geplanten massiven Investitionen in die gesamte Energiekette auch wirklich getätigt werden.

2.5.

Ungeachtet der EU-Energiepolitik bleiben die grundlegenden Entscheidungen über den Energiemix das Vorrecht der Mitgliedstaaten. Die EU-Energiepolitik kann als Referenzrahmen für diese Entscheidungen dienen, aber Energie ist ein politisch äußerst heikler Themenbereich und wird daher vom wechselnden gesellschaftlichen und politischen Klima in den Mitgliedstaaten beeinflusst. Die EU-Politikgestaltung muss auf einem klaren Analyseverfahren und einer schlüssigen Methodik beruhen, die einen kohärenten Rahmen für die Entscheidungsfindung auf nationaler Ebene bieten. Das PINC kann diese Möglichkeit für Mitgliedstaaten, die die Nutzung von Kernenergie in Betracht ziehen, für Mitgliedstaaten, die Kernenergie nutzen, und für Mitgliedstaaten, die die Zukunft ihrer Kernenergie überdenken, eröffnen.

3.   Wesentlicher Inhalt der Kommissionsmitteilung

3.1.

Die Kommissionsmitteilung beginnt mit der Feststellung „Das PINC liefert die Grundlage für die Erörterung der Frage, wie die Kernenergie zu den Zielen der EU im Energiebereich beitragen kann“ und endet mit der Aussage „Als CO2-arme Technologie und bedeutender Faktor im Hinblick auf Versorgungssicherheit und Diversifizierung dürfte die Kernenergie bis 2050 weiterhin ein wichtiger Bestandteil des Energiemixes der EU bleiben.“

3.2.

Im Mittelpunkt der Mitteilung stehen die Investitionen in die Verbesserung der Sicherheit nach dem Unfall von Fukushima und in den sicheren Betrieb vorhandener Anlagen. Außerdem wird der geschätzte Finanzierungsbedarf für die Stilllegung von Kernkraftwerken und die Entsorgung radioaktiver Abfälle und abgebrannter Brennelemente beleuchtet.

3.3.

In 14 Mitgliedstaaten sind 129 Kernreaktoren in Betrieb; in zehn dieser Mitgliedstaaten ist der Bau neuer Reaktoren geplant. Die EU verfügt über den fortschrittlichsten rechtsverbindlichen Rahmen für die nukleare Sicherheit weltweit, der im Zuge einer regelmäßigen Überarbeitung der Richtlinie über nukleare Sicherheit (1) aufrechterhalten und aktualisiert wird.

3.4.

Die Nuklearindustrie der EU operiert auf einem globalen Markt mit einem Volumen von 3 Billionen EUR bis 2050 und ist einer der technischen Marktführer. Sie stellt zwischen 400 000 und 500 000 direkte sowie etwa 400 000 weitere indirekte Arbeitsplätze.

3.5.

EU-Unternehmen sind stark in der weltweiten Herstellung von Kernbrennstoffen vertreten, wobei sie eng mit der Euratom-Versorgungsagentur zusammenarbeiten, und decken den Bedarf für die Reaktoren westlicher Bauart der EU, verfügen aber auch über die Kapazitäten zur Entwicklung von Brennelementen für Reaktoren russischer Bauart. (Derzeit sind 19 Kernkraftwerke russischer Bauart in der EU in Betrieb).

3.6.

Die Europäische Kommission rechnet mit einem Rückgang der derzeitigen Kapazitäten zur Erzeugung von Kernenergie in der EU (120 GWe) bis 2025 und anschließend mit einer Umkehr dieser rückläufigen Entwicklung bis 2030. Um das Jahr 2050 dürften die Nuklearkapazitäten konstant zwischen 95 und 105 GWe liegen, sofern 90 % der bestehenden Kernkraftwerke bis dahin ersetzt werden. Die Investitionen liegen schätzungsweise zwischen 350 und 450 Mrd. EUR, wodurch die Stromerzeugung bis Ende des Jahrhunderts gesichert wäre.

3.7.

Kostenüberschreitungen und lange Verzögerungen bei neuen Projekten sowie unterschiedliche Ansätze der nationalen Genehmigungsbehörden haben Investitionen behindert. Die Standardisierung von Reaktorkonzepten und die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Regulierungsbehörden der Mitgliedstaaten sind grundlegende Elemente der künftigen Politik.

3.8.

Es wird an Programmen zur Verlängerung der Lebensdauer vieler EU-Reaktoren (um 10 bis 20 Jahre) gearbeitet, für die schätzungsweise 45 bis 50 Mrd. EUR veranschlagt werden müssen; die gemäß der Richtlinie über nukleare Sicherheit maßgeblichen Verfahrensschritte sollten vorweggenommen und geplant werden.

3.9.

Bis 2025 werden voraussichtlich 50 Reaktoren stillgelegt. Auch wenn die Frage politisch heikel ist, müssen die Mitgliedstaaten rasch Entscheidungen mit Blick auf die Maßnahmen und Investitionen für die geologische Endlagerung und die langfristige Entsorgung der radioaktiven Abfälle sowie weitere einschlägige Aspekte der Reaktorstilllegung treffen.

3.10.

Es besteht umfangreiches Know-how über die Lagerung und Entsorgung schwach- und mittelradioaktiver Abfälle; in Finnland, Schweden und Frankreich werden zwischen 2020 und 2030 die ersten Endlager in tiefen geologischen Formationen für hoch radioaktive Abfälle in Betrieb gehen. Ein Austausch dieses Know-hows und eventuelle gemeinsame Endlager von Mitgliedstaaten würden sowohl in Sachen Effizienz als auch Sicherheit Vorteile bringen. Die Einrichtung eines europäischen Exzellenzzentrums wird dies noch weiter fördern.

3.11.

Betreiber kerntechnischer Anlagen schätzen die Kosten für Stilllegung und Entsorgung radioaktiver Abfälle auf 253 Mrd. EUR; 133 Mrd. EUR davon sind in Form spezieller Fonds eingeplant. Die Mitgliedstaaten müssen dafür sorgen, dass die Betreiber ihrer Verantwortung in vollem Umfang nachkommen und die Stilllegung in einem klaren Zeitrahmen erfolgt.

3.12.

Für die nicht der Stromerzeugung dienenden Verwendungszwecke von Nuklear- und Strahlentechnologien ist eine stärkere Koordinierung in den Bereichen technische Entwicklung und Vermarktung notwendig. So weist beispielsweise der Markt für bildgebende Geräte im medizinischen Bereich in Europa allein ein Volumen von 20 Mrd. EUR jährlich auf. Auch in Landwirtschaft, Industrie und Forschung kommt diese Technologie zunehmend zum Einsatz. Sowohl in die Forschung auf den Gebieten Kernkraftwerke der neuen Generation und modulare Kernspaltung als auch zur Aufrechterhaltung der Führungsrolle in der Fusionsforschung werden weiterhin erhebliche Investitionen getätigt; dies ist entscheidend, um das Fachwissen, die beruflichen Laufbahnen und einen weltweiten Einfluss beizubehalten. Dies ist umso wichtiger, als die Kernkraft zwar nicht in Europa, aber weltweit stetig ausgebaut wird.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA hat regelmäßig zur Sicherheit und zur Rolle der Kernenergie im EU-Energiemix Stellung genommen (2). Diese Mitteilung enthält das erste hinweisende Nuklearprogramm (PINC) der Europäischen Kommission seit Fukushima. Obwohl sie in dem vorhergehenden Programm versprochen hatte, „ihr hinweisendes Nuklearprogramm künftig in kürzeren Abständen vor[zu]legen“ (COM(2007) 565 final), ist nichts dergleichen geschehen. Das PINC 2016, dem zwar ein umfangreiches Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen beigefügt ist, ist nur halb so lang wie die Mitteilung aus dem Jahr 2007. Der EWSA schlägt vor, durch Aufnahme einiger Punkte in das Programm zu einem strategischen Dokument zu gelangen, in dem die für Investitionsentscheidungen und Zielsetzungen maßgeblichen Kontextfaktoren erörtert werden.

4.2.

Der EWSA begrüßt die in dem Programm enthaltene umfangreiche Analyse der Investitionen im gesamten Kernbrennstoffkreislauf und nimmt zur Kenntnis, dass sowohl die Herausforderungen als auch die Chancen des Sektors erläutert werden. Er begrüßt ebenfalls, dass der Schwerpunkt auf die höchsten Sicherheitsstandards und die Notwendigkeit gelegt wird, eine umfassende Finanzierung für alle Aspekte der Stilllegung sicherzustellen. Das Arbeitsdokument ist diesbezüglich vergleichsweise detailliert; es wird auch auf die Bedeutung der Weiterführung der Forschung hingewiesen. Gleichzeitig werden in anderen Bereichen viele Aspekte nicht angesprochen, was den strategischen Wert der Mitteilung abschwächt.

4.3.

Der Entwurf für das PINC 2016 bedeutet eine grundlegende Änderung in der Herangehensweise der Europäischen Kommission. In vorhergehenden Programmen wurde die Überarbeitung in den Kontext der energiepolitischen Herausforderungen für die EU und die internationale Gemeinschaft gestellt. So enthielt beispielsweise das PINC 2007 Abschnitte, die eine klare strategische Linie aufzeichneten, 2016 aber verworfen wurden. Sie sollten in den vorliegenden Entwurf wiederaufgenommen werden und folgende Bereiche umfassen:

Wettbewerbsfähigkeit: Faktoren, die heute und in Zukunft die Wettbewerbsfähigkeit der Kernenergie beeinflussen, so z. B. die Rolle staatlicher Förderung, insbesondere finanzieller und steuerlicher Begünstigungen, Entwicklungstrends bei den Baukosten, Kapitalkosten, Abfallentsorgung, Genehmigungsverfahren, Verlängerung der Lebensdauer und relative Kosten anderer Energieträger;

wirtschaftliche Aspekte: Die Struktur des Energiemarktes ist weiterhin ungewiss, was von langfristigen Investitionen abschreckt, und die wirtschaftlichen Risiken der Kernkraft sind in Zeiten finanzieller und politischer Unsicherheit beträchtlich;

Versorgungssicherheit: Weltweit steigt die Energienachfrage, auch wenn sie in Europa stabil ist bzw. sogar zurückgeht. Den Auswirkungen dieser Entwicklung sowie den politischen und außenpolitischen Aspekten muss mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Da die Versorgungsquellen für Kernbrennstoff (Uran) derzeit anscheinend sicherer sind als für Erdöl oder Erdgas, kann die Kernenergie insbesondere zur Energiesicherheit beitragen und tut dies auch (3).

Klimawandel: Kernenergie liefert 50 % des CO2-arm erzeugten Stroms in Europa;

Öffentliche Akzeptanz: Die Variationsbreite der Meinungen in der EU zur Kernkraft ist schwer zu durchschauen, aber entscheidend für die politische Akzeptanz.

Diese Fragen sind in den letzten neun Jahren immer wichtiger geworden, da der Schwerpunkt im aktuellen PINC jedoch auf der Sicherheit und dem Brennstoffkreislauf liegt, werden diese Fragen in der Mitteilung und dem Arbeitsdokument nur gestreift. So wird weder die Art der Debatte über diese Themen, die vielfach kontrovers und umstritten sind (beispielsweise die Aufrechterhaltung hoher Standards in der Arbeit der Unterauftragnehmer), umrissen, noch werden Leitlinien oder ein strategisches Konzept für die Debatte über die Kernenergie im Gesamtenergiemix vorgegeben. Dies entspricht dem Ansatz, der auch für das Paket zur Energieunion gewählt wurde; auch hier wurde davor zurückgescheut, die Auswirkungen einer europäischen Energiestrategie auf die Debatten in den Mitgliedstaaten über die potenzielle künftige Rolle der Kernenergie im Energiemix auszuloten.

4.4.

Wie bereits erwähnt, ist in der Mitteilung festgehalten, dass das „PINC die Grundlage für die Erörterung der Frage [liefert], wie die Kernenergie zu den Zielen der EU im Energiebereich beitragen kann“, da sie „bis 2050 weiterhin ein wichtiger Bestandteil des Energiemixes der EU bleiben“ dürfte. Der Inhalt dieses Dokuments wird derartigen Aussagen nicht in vollem Umfang gerecht. Vorhergehende PINC enthielten eine grundlegende analytische Überprüfung der Rolle der Kernenergie sowie Leitlinien für die künftige Politik.

4.5.

Insbesondere die Analyse des Investitionsbedarfs im Kernenergiebereich (ein erhebliches Problem unter den heutigen Umständen) muss doch nun in den Kontext der notwendigen Gesamtinvestitionen zur Verwirklichung der Ziele der Energieunion gestellt werden, da es bei den Investitionsentscheidungen über sämtliche Produktionstechnologien und -infrastrukturen hinweg Wechselwirkungen und Zielkonflikte gibt.

4.6.

Darüber hinaus gibt es viele weitere kontextuelle Faktoren, die politische und wirtschaftliche Entscheidungen im Kernenergiebereich beeinflussen, aber nicht umfassend erörtert werden. Aufgrund laufender Überarbeitungen und Überprüfungen kann sich die Europäische Kommission auch kaum dazu äußern. U. a. geht es dabei um die Funktionsweise des Emissionshandelssystem (EU-ETS), Vorschläge für Beihilfen für Kapazitätssicherungsmechanismen und die Entwicklung der erneuerbaren Energien.

4.7.

Derzeit entfallen 28 % der inländischen Energieerzeugung und 50 % der emissionsarmen Stromerzeugung in der EU auf die Kernenergie (Eurostat, Mai 2015). Die Verringerung der CO2-Emissionen ist ein grundlegendes Ziel der Energiepolitik der EU und weltweit. Zur Verwirklichung des Ziels einer Begrenzung der Erderwärmung auf 2 oC ist eine Minderung der globalen CO2-Emissionen im Energiebereich um durchschnittlich 5,5 % jährlich im Zeitraum 2030-2050 notwendig. Im Energiefahrplan 2050 ist dargelegt, wie der Beitrag der EU zur Verwirklichung dieses Ziels erreicht werden kann. Hierfür werden verschiedenste Szenarien beleuchtet, wie sich der Energiemix aufgrund unterschiedlicher politischer, wirtschaftlicher und sozialer Faktoren gestalten könnte (COM(2011) 885 final). Auf der Grundlage der von den Mitgliedstaaten übermittelten Daten geht die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung von Nuklearkapazitäten von rund 100 GWe im Jahr 2050 aus, angesichts der aktuellen Debatte scheint diese Annahme allerdings ungewiss.

4.8.

Der EWSA verweist auf das jüngste Beispiel Schweden, das nach der Veröffentlichung des Programms (weshalb dieses Beispiel auch nicht darin aufgenommen werden konnte) den Beschluss fasste, die stillgelegten Kraftwerke schrittweise durch zehn neue Reaktoren zu ersetzen und sich parallel und ergänzend dazu zu Maßnahmen verpflichtete, um bis 2040 die Energieversorgung zu 100 % aus erneuerbarer Energie zu decken (Financial Times, 10. Juni 2016). In diesem Fall ist das Zusammenspiel aus einer starken Politik für Erneuerbare und einer zusätzlichen Kapazität zur Bereitstellung von Niedrigemissions-Energie für Nachbarländer politisch für alle Parteien akzeptabel und somit im europäischen Kontext von strategischer Bedeutung. Dieses Beispiel sollte daher in die Mitteilung aufgenommen werden.

4.9.

Der EWSA hat sich über viele Jahre konsequent für einen strategischer ausgerichteten Ansatz in Energiefragen ausgesprochen und auf eine stärkere Förderung eines breiten öffentlichen Dialogs zu Energieerzeugung und -nutzung gedrungen (4). Technologie ist nicht wertefrei, und gerade in Bezug auf die Energietechnologien gibt es ein breites Spektrum an ethischen, gesellschaftlichen und politischen Anschauungen. Der Energiemix liegt im Ermessen der Mitgliedstaaten. Lediglich in der Hälfte der Mitgliedstaaten werden Kernkraftwerke betrieben. Seit Veröffentlichung des letzten PINC sind die Meinungen zur Kernkraft immer weiter auseinandergegangen. Dieses Programm, ein wichtiges Dokument für die zyklische Bewertung, hätte von einer objektiven Darstellung des Themas und der grundlegenden Aspekte in Verbindung mit der „Erörterung der Frage, wie die Kernenergie zu den Zielen der EU im Energiebereich beitragen kann“, profitiert. Daher wird vorgeschlagen, eine Reihe neuer Kapitel in das endgültige Dokument aufzunehmen, die in Ziffer 4.3 dargelegt werden. Außerdem soll die Strategie insgesamt den besonderen Bemerkungen in Ziffer 5.3.1 bis 5.3.4 stärker Rechnung tragen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

In der Mitteilung wird die Bedeutung einer stärkeren Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten, einer besseren Zusammenarbeit aller Beteiligten sowie von mehr Transparenz und einer stärkeren Beteiligung der Öffentlichkeit in nuklearen Fragen betont. Dabei wird auf die wichtige Rolle der Europäischen Gruppe der Regulierungsbehörden für nukleare Sicherheit (ENSREG) sowie die anhaltenden Bemühungen hingewiesen, „den Dialog zwischen den Beteiligten im Rahmen des Europäischen Kernenergieforums [zu] fördern“. Im Dezember 2015 veröffentlichte die ENSREG eine Erklärung zu den Fortschritten bei der Umsetzung der nationalen Aktionspläne nach Fukushima, in der sie festhielt, dass die Umsetzung unterschiedlich weit fortgeschritten ist und das Tempo der sicherheitstechnischen Nachrüstung angezogen werden sollte, um die vereinbarten Fristen für die Umsetzung einzuhalten. Sie sprach die Empfehlung aus, dass die beteiligten Mitgliedstaaten regelmäßig einen aktualisierten Bericht über den Stand der Umsetzung ihres nationalen Aktionsplans veröffentlichen sollten, um eine transparente Überwachung zu gewährleisten und 2017 einen Bericht über die Umsetzung zu veröffentlichen (Vierter Bericht der ENSREG, November 2015). Der EWSA schlägt vor, dass die Europäische Kommission diese Empfehlung im PINC unterstützen sollte.

5.2.

In der Mitteilung wird außerdem auf die Beziehungen zu Nachbarländern der EU, die Kernkraft nutzen, eingegangen. Nach Ansicht des EWSA wäre insbesondere eine stärkere Zusammenarbeit mit Weißrussland hilfreich, um Transparenz- und Sicherheitsbedenken im Zusammenhang mit dem Bau des ersten weißrussischen Kernkraftwerks in Ostrovets auszuräumen. Die Kontakte sollten vorrangig über die ENSREG laufen.

5.3.

In Bezug auf Dialog und Transparenz ganz allgemein unterstreicht der EWSA, dass die Rolle, die Ressourcen, die Kapazitäten und der Status des Europäischen Kernenergieforums (ENEF) in der Praxis in den letzten beiden Jahren erheblich geschmälert wurden. Es ist wichtig, dass die im Dialog über die europäische Kernenergiepolitik anstehenden grundlegenden Fragen weiter ergründet werden und ein gemeinsamer Rahmen für die Debatte in den Mitgliedstaaten vorgeschlagen wird. Diese Aufgabe wird nun wohl kaum innerhalb des ENEF vorangebracht werden, und sie wird auch im PINC mit keinem Wort erwähnt. Ein derartiger Rahmen wäre auch für die künftige Governance der Energieunion sinnvoll und sollte konsequent auf alle Primärenergiequellen Anwendung finden. Zur Klärung sollte das PINC daher eigene Kapitel zu den Auswirkungen der Fragestellungen und ihrer Bedeutung für die Investitionspolitik im Nuklearbereich enthalten. Diese Fragen, die in den folgenden vier Ziffern näher erläutert werden, sind grundlegende Punkte in der Debatte und wesentlicher Bestandteil jedweder strategischen Vision.

5.3.1.

Die Umstellung auf Strom und die Frage, inwieweit eine kohärente Stromversorgung aus Primärenergiequellen gewährleistet werden kann: Einerseits kann die Kernenergie zur Energiesicherheit beitragen, da große Mengen an planbarem Strom kontinuierlich über längere Zeiträume hinweg erzeugt werden können und sie sich positiv auf die Stabilität der Elektrizitätssysteme auswirken kann (z. B. Aufrechterhaltung der Netzfrequenz). Andererseits jedoch sind die Kapital- und Baukosten hoch, neue Sicherheitsanforderungen anspruchsvoll, die Finanzierung unsicher und die künftigen Marktbedingungen weitgehend unvorhersehbar. Alle Mitgliedstaaten, die über Kernenergieerzeugungskapazitäten verfügen, stehen vor diesen Problemen, die von entscheidender Bedeutung dafür sein könnten, wie bzw. ob überhaupt realistische nationale Pläne zur Verwirklichung der übergeordneten Energie- und Klimaziele der EU umgesetzt werden können. Das PINC sollte mit einem gemeinsamen Rahmen für die Diskussion über diese Fragen verknüpft werden, wie die Europäische Kommission ihn bereits in anderen strategischen Mitteilungen zur Energiepolitik vorgeschlagen hat, um zu einer ausgewogenen Analyse der Rolle der Kernenergie zu gelangen.

5.3.2.

Bewusstsein, Einstellungen und Risikowahrnehmung der Öffentlichkeit in Verbindung mit der Energieerzeugung: Die nukleare Sicherheit, die Auswirkungen von Tschernobyl und Fukushima und die offenen Fragen in Verbindung mit der Stilllegung von Anlagen und der Entsorgung radioaktiver Abfälle rufen in einigen Mitgliedstaaten schwerwiegende öffentliche Bedenken hervor. Indes weisen auch andere Primärenergiequellen erhebliche negative Faktoren auf, die oftmals heruntergespielt werden. Der EWSA hat immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass die Bürger das „Energiedilemma“ begreifen, bei dem es im Wesentlichen um die Frage geht, wie ein Gleichgewicht zwischen den ineinandergreifenden und manchmal widersprüchlichen Zielen Energiesicherheit, Erschwinglichkeit und ökologische Nachhaltigkeit erreicht werden kann. Der politische Wille wird in großem Maße von öffentlichen Einstellungen beeinflusst, und das nur schwach ausgeprägte Energieverständnis kann zu suboptimalen politischen Entscheidungen führen. Eine Aufstockung der Ressourcen und ein unterstützender Rechtsrahmen, der die Einrichtung lokaler Informationsausschüsse wie beispielsweise in Frankreich ermöglicht, wären hilfreich.

5.3.3.

Eine Methodik zur Bewertung der Kosten und der Wettbewerbsfähigkeit: Zur Verwirklichung der vereinbarten Klima- und Energieziele ist erschwingliche Niedrigemissions-Energie notwendig, allerdings ist dieser Bereich vom freien Spiel der Marktkräfte ausgenommen. Darüber hinaus gibt es derzeit keine gängige oder brauchbare Methode, mit der die Mitgliedstaaten künftige Kosten alternativer Optionen in ihrem Energiemix bewerten können, ehe sie eine politische Entscheidung treffen (die wieder von anderen Faktoren beeinflusst wird).

5.3.4.

Die Bedeutung einer aktiven Forschungs- und Stromerzeugungsbasis für eine führende Rolle auf dem Markt, im Technologie- und im Sicherheitsbereich: Wie wichtig ist die Erhaltung einer bedeutenden und sich ständig weiterentwickelnden Nuklearindustrie für die Aufrechterhaltung der Beschäftigung sowie des Einflusses und der Führungsrolle der EU in einem weltweit expandierenden Industriesektor? (US Energy Information Administration: „World nuclear generation to double by 2040“, Mai 2016). China beispielsweise beabsichtigt, seine Nuklearkapazitäten bis 2020/2021 auf mindestens 58 GWe zu verdoppeln und bis 2030 auf 150 GWe auszubauen. Die Bedeutung qualitativ hochwertiger und gut bezahlter Arbeitsplätze in der EU ist bekannt; für einen etwaigen schrittweisen Abbau dieser Arbeitsplätze müsste ein Programm zur Gewährleistung eines fairen Übergangs mit entsprechender Unterstützung aufgelegt werden.

5.4.

Der Löwenanteil der EU-Mittel für die Nuklearforschung wird für die Entwicklung des gemeinsamen Programms für Kernfusion (ITER — Internationaler Thermonuklearer Versuchsreaktor) bereitgestellt. In dem Fahrplan für das EFDA-Übereinkommen (Europäisches Übereinkommen zur Entwicklung der Fusionsforschung) wird die Entwicklung von den laufenden Fusionsexperimenten bis zu einem Demonstrations-Fusionskraftwerk skizziert, das netto Netzstrom erzeugt. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, den möglichen Beitrag von Strom aus Fusionskraftwerken in allen kosteneffizienten Post-2050-Szenarien zu berücksichtigen. Außerdem sollte die Forschung in Reaktoren der 4. Generation, die eine Kostensenkung und eine erhebliche Verringerung hochradioaktiver Abfälle versprechen, weiterhin unterstützt werden.

5.5.

Der Programmentwurf wurde vor dem Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich ausgearbeitet. Nach der gegenwärtigen Rechtsauffassung tritt ein Mitgliedstaat beim Verlassen der Europäischen Union gleichzeitig auch aus Euratom aus. Dies hat erhebliche strategische Auswirkungen, vor allem auf die Energieziele für 2030, aber auch auf die Zusammenarbeit in den Bereichen Forschung, Regulierung, Lieferketten und Sicherheit. Dieser Problematik muss deshalb in diesem Entwurf Rechnung getragen werden, auch wenn die Auswirkungen im Einzelnen gegenwärtig nicht absehbar sind.

Brüssel, den 22. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. L 219 vom 25.7.2005, S. 42.

(2)  ABl. C 341 vom 21.11.2013, S. 92; ABl. C 133 vom 14.4.2016, S. 25.

(3)  ABl. C 182 vom 4.8 2009, S. 8.

(4)  ABl. C 291 vom 4.9 2015, S. 8.


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/111


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Rates zu bestimmten Vorschriften für die finanzielle Abwicklung in Bezug auf bestimmte hinsichtlich ihrer Finanzstabilität von gravierenden Schwierigkeiten betroffene bzw. von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedrohte Mitgliedstaaten“

(COM(2016) 418 final — 2016/0193 (COD))

(2016/C 487/18)

Befassung

Europäisches Parlament, 4.7.2016

Rat der Europäischen Union, 8.7.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 117 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständig

Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Verabschiedung auf der Plenartagung

21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

169/1/4

Da der Ausschuss dem Inhalt dieses Vorschlags vollkommen zustimmt und sich bereits in seinen Stellungnahmen „Änderung der Strukturfonds-Verordnung — spezifische Maßnahmen für Griechenland“ (verabschiedet am 8. Oktober 2015) (1), „Finanzielle Abwicklung und Vorschriften für die Aufhebung der Mittelbindung bei von gravierenden Schwierigkeiten bedrohten Mitgliedstaaten“ (verabschiedet am 19. September 2013) (2), „Stellungnahme zu Strukturfonds — allgemeine Bestimmungen“ (verabschiedet am 25. April 2012) (3) sowie „Änderungen der Vorkehrungen für die finanzielle Abwicklung — Strukturfonds — für Mitgliedstaaten in finanzieller Notlage“ (verabschiedet am 27. Oktober 2011) (4) geäußert hat, beschloss er auf seiner 519. Plenartagung am 21./22. September 2016 (Sitzung vom 21. September) mit 169 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 4 Stimmenthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme abzugeben und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in den genannten Stellungnahmen vertreten hat.

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  EWSA-Stellungnahme „Änderung der Strukturfonds-Verordnung — spezifische Maßnahmen für Griechenland“ (ABl. C 32 vom 28.1.2016, S. 20).

(2)  EWSA-Stellungnahme „Finanzielle Abwicklung bei bestimmten, hinsichtlich ihrer Finanzstabilität von Schwierigkeiten betroffenen bzw. von gravierenden Schwierigkeiten bedrohten Mitgliedstaaten“ (ABl. C 341 vom 21.11.2013, S. 27).

(3)  EWSA-Stellungnahme „Strukturfonds — allgemeine Bestimmungen“ (ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 30).

(4)  EWSA-Stellungnahme „Änderungen von Vorkehrungen für die finanzielle Abwicklung — Strukturfonds — für Mitgliedstaaten in finanzieller Notlage“ (ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 81).


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/112


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Geänderten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über zusätzliche Zölle auf die Einfuhren bestimmter Waren mit Ursprung in den Vereinigten Staaten von Amerika (kodifizierter Text)“

(COM(2016) 408 final — 2014/0175 (COD))

(2016/C 487/19)

Befassung

Europäische Kommission, 23.6.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 207 AEUV

Zuständige Fachgruppe

REX

Verabschiedung auf der Plenartagung am

21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

165/0/8

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 519. Plenartagung vom 21./22. September 2016 (Sitzung vom 21. September) mit 165 Stimmen bei 8 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/113


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2004/37/EG über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch Karzinogene oder Mutagene bei der Arbeit

(COM(2016) 248 final — 2016/0130 COD)

(2016/C 487/20)

Befassung

Rat, 24.5.2016

Europäisches Parlament, 25.5.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 148 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Verabschiedung auf der Plenartagung

21.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

171/0/3

Da der Ausschuss sich bereits in seinen Stellungnahmen zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch Karzinogene am Arbeitsplatz (sechste Einzelrichtlinie im Sinne von Artikel 8 der Richtlinie 80/1107/EWG) vom 2. Juni 1988 (1) und 20. Oktober 1999 (2) sowie in seiner Stellungnahme zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über einen strategischen Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2014-2020 vom 11. Dezember 2014 zu dem Inhalt dieses Vorschlags geäußert hat, beschloss er, von der Ausarbeitung einer neuen Stellungnahme abzusehen und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in den vorgenannten Stellungnahmen vertreten hat.

Brüssel, den 21. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. C 208 vom 8.8.1988, S. 43.

(2)  ABl. C 368 vom 20.12.1999, S. 18.