ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 242

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

58. Jahrgang
23. Juli 2015


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I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

504. Plenartagung des EWSA vom 21./22. Januar 2015

2015/C 242/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Der Beitrag der Zivilgesellschaft zur Überarbeitung der EU-Strategie für Zentralasien (Sondierungsstellungnahme)

1

2015/C 242/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema Integration von Migrantinnen in den Arbeitsmarkt (Initiativstellungnahme)

9

2015/C 242/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Jagd nach Agrarland — ein Alarmsignal für Europa und eine Bedrohung für bäuerliche Familienbetriebe (Initiativstellungnahme)

15

2015/C 242/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses: Die Lage nach dem Auslaufen des Milchquotensystems 2015 (Initiativstellungnahme)

24

2015/C 242/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Elektrosensitivität (Initiativstellungnahme)

31

2015/C 242/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Lage und Arbeitsbedingungen der zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Türkei

34


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

504. Plenartagung des EWSA vom 21./22. Januar 2015

2015/C 242/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur (COM(2014) 557 final — 2014/0256 (COD))

39

2015/C 242/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Sechster Bericht über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt: Investitionen in Beschäftigung und Wachstum (COM(2014) 473 final)

43

2015/C 242/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission zu wirksamen, zugänglichen und belastbaren Gesundheitssystemen(COM(2014) 215 final)

48

2015/C 242/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Verwendung von Arzneifuttermitteln sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/167/EWG des Rates (COM(2014) 556 final — 2014/0255 (COD)) und dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Tierarzneimittel (COM(2014) 558 final — 2014/0257 (COD))

54

2015/C 242/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Für eine florierende datengesteuerte Wirtschaft(COM(2014) 442 final)

61

2015/C 242/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die möglichen Maßnahmen der Union aufgrund eines vom WTO-Streitbeilegungsgremium angenommenen Berichts über Antidumping- oder Antisubventionsmaßnahmen (kodifizierter Text)(COM(2014) 318 final — 2014/0164 (COD))

66


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

504. Plenartagung des EWSA vom 21./22. Januar 2015

23.7.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 242/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der Beitrag der Zivilgesellschaft zur Überarbeitung der EU-Strategie für Zentralasien“

(Sondierungsstellungnahme)

(2015/C 242/01)

Berichterstatter:

Jonathan PEEL

Mitberichterstatter:

Dumitru FORNEA

Am 25. September 2014 ersuchte Rihards Kozlovskis, Innenminister und amtierender Außenminister der Republik Lettland, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema:

„Der Beitrag der Zivilgesellschaft zur Überarbeitung der EU-Strategie für Zentralasien“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 17. Dezember 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 504. Plenartagung am 21./22. Januar 2015 (Sitzung vom 21. Januar 2015) mit 180 gegen 2 Stimmen bei 18 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt nachdrücklich das Ersuchen des künftigen lettischen EU-Ratsvorsitzes um eine Sondierungsstellungnahme zu der anstehenden zweijährlichen Überprüfung der EU-Strategie für eine neue Partnerschaft mit Zentralasien (1) und insbesondere seinen Vorschlag zur Vertiefung der Beziehungen der EU zu den fünf zentralasiatischen Ländern (2) hin zu einer effektiven Partnerschaft als eine ihrer wesentlichen außenpolitischen Prioritäten.

1.1.1.

Auf diese Weise würde der Ausschuss erneut auf die Schlussfolgerungen und Empfehlungen seiner 2011 verfassten Stellungnahme zu Zentralasien hinweisen (3), die nach wie vor aktuell sind.

1.2.

Der Ausschuss nimmt die anlässlich der letzten Überarbeitung verabschiedeten Schlussfolgerungen des Rates zur Kenntnis, dass die EU-Strategie sich bewährt hat und nach wie vor gültig ist (4). Jegliches Bemühen der EU um die Vertiefung ihrer Beziehungen mit den fünf zentralasiatischen Ländern muss auf einer pragmatischen Grundlage beruhen und den sich wandelnden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten der Region angepasst sein — ohne Missachtung der wichtigsten Menschenrechte und Grundsätze und mit größtmöglicher Flexibilität, um den Ausbau von Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen zu erleichtern.

1.2.1.

Vor allem erübrigt sich sicher der Hinweis, dass es — anders als in Europa — kein echtes regionales Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen diesen Ländern gibt, die daher einzeln betrachtet werden müssen, und dass jedwede Vertiefung oder Erweiterung des Engagements der EU in diesen Ländern sich unweigerlich auf ihre übergeordneten Beziehungen zu Russland auswirken wird. Die EU muss die bestehenden Machtstrukturen in der Region berücksichtigen und sich zugleich das Recht auf unabhängiges Handeln vorbehalten. Da diese fünf Länder früher der ehemaligen Sowjetunion angehörten, ist Russland der Ansicht, dass sie — ebenso wie die Ukraine — in seinem eigenen Einflussbereich liegen. Folglich sind bei dieser Überarbeitung das Gesamtkonzept der EU gegenüber Russland und ihre Beziehungen zu Russland mitzubedenken.

1.3.

Der Ausschuss stellt fest, dass die strategische Lage Zentralasiens seit 2011, insbesondere vor dem Hintergrund der Ukrainekrise, an Bedeutung gewonnen hat. Darüber hinaus stellt er fest, dass das Engagement Chinas in der Region exponentiell zugenommen hat. Die Region ist daher wichtig für die Beziehungen der EU zu China und bietet eine gute Gelegenheit zur Stärkung der strategischen Partnerschaft EU-China, insbesondere durch eine engere Zusammenarbeit in den Bereichen Energie und Verkehr. Wir empfehlen eine umfassende Behandlung dieser Aspekte.

1.3.1.

In der Partnerschaftsstrategie werden Energie und Verkehr als vorrangige Bereiche eingestuft. Der Ausschuss wiederholt seine Empfehlung von 2011, dass die Tragfähigkeit der Verbindungen der EU zu den erheblichen potenziellen Energiereserven Zentralasiens auf praktischen und wirtschaftlichen Überlegungen basieren muss. Die EU beteiligt sich zu Recht an der Entwicklung des Energiesektors in diesen Ländern, zumal ihre Reserven Europa zusätzliche und ergänzende (im Gegensatz zu alternativen) Energiequellen bieten, wenngleich sie durch Fragen des Transits und der Beförderung erschwert werden. Es wird jedoch wichtig sein, mögliche Missverständnisse mit China in Zusammenhang mit dem beiderseitigen Interesse an einer verstärkten Energieversorgung aus Zentralasien zu vermeiden.

1.3.2.

Wir empfehlen nachdrücklich, die erheblichen Kompetenzen der EU bezüglich einer verstärkten Zusammenarbeit für die Verbesserung der Energieeffizienz und den Einsatz erneuerbarer Energieträger zu nutzen, da das Potenzial der Region bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist; ein weiteres zentrales Ziel ist der Ausbau der regionalen Zusammenarbeit mit der EITI (5).

1.3.3.

Außerdem wiederholt der Ausschuss seine Empfehlung von 2011, dass die vorgeschlagenen Verkehrskorridore Chinas und der EU vollständig aufeinander abgestimmt werden müssen, nicht zuletzt in der Eisenbahninfrastruktur, wo dies möglich ist. Darüber hinaus empfiehlt der Ausschuss, bei der IGC TRACECA (6) (der Zwischenstaatlichen Kommission für den Verkehrskorridor Europa-Kaukasus-Asien) stärker auf Ergebnisse hinzuwirken, um die Entwicklung einer nachhaltigen Infrastrukturkette zu beschleunigen und dabei einen multimodalen Verkehr (insbesondere Schienen- und Straßenverkehrinfrastruktur) durch die Vernetzung des Korridors mit den transeuropäischen Verkehrsnetzen (TEN-V) zu gewährleisten.

1.4.

Allerdings wird die EU keine großen Sympathien bei den Menschen in Zentralasien gewinnen, wenn sie lediglich wirtschaftliche Ziele verfolgt. Ein Schwerpunkt der Partnerschaftsstrategie liegt daher auf den Themen Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung und Demokratisierung. Mit der Strategie muss der Aufbau von Vertrauen innerhalb der bestehenden Machtstrukturen gefördert werden. Hier steht die Region weiterhin vor großen Herausforderungen aufgrund des schmerzlichen Übergangs von der Kommandowirtschaft zur marktorientierten Volkswirtschaft, der durch endemische Phasen ethnischer, umweltbezogener und wirtschaftlicher Turbulenzen beeinträchtigt wurde.

1.4.1.

In der Partnerschaftsstrategie wird insbesondere die Fähigkeit Europas unterstrichen, „Erfahrungen mit der regionalen Integration auf dem Weg zu politischer Stabilität und Wohlstand“ zu bieten, wobei besonders auf diejenigen Mitgliedstaaten Bezug genommen wird, die der EU 2004 oder später beigetreten sind. Daher ruft der Ausschuss den lettischen Ratsvorsitz nachdrücklich dazu auf, die anderen Mitgliedstaaten dazu anzuhalten, ihre Erfahrungen mit der Bewältigung des Übergangs von einer Kommandowirtschaft, mit der Entwicklung elektronischer Behördendienste (und insbesondere mit der „elektronischen Seidenautobahn“ — e-silk-highway) sowie mit anderen Fördergebieten auszutauschen, die einen Mehrwert bieten könnten, vor allem wenn sie mit Bemühungen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit einhergehen.

1.4.2.

Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die Empfehlungen der EWSA-Stellungnahme „Nachhaltiger Wandel in Übergangsgesellschaften“ (7). Darüber hinaus möchten wir darauf hinweisen, dass Unternehmen und Gewerkschaften — getrennt voneinander und als Sozialpartner — hierbei ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, indem sie ihre bestehenden Verbindungen nutzen und nicht zuletzt bei den zentralasiatischen Regierungen auf eine umfassendere Anerkennung der positiven Rolle der Zivilgesellschaft hinwirken. Um hierfür zu werben, sowie zur Investitionsförderung empfehlen wir, dass eine Delegation des EWSA bei nächster Gelegenheit nach Zentralasien reist.

1.4.3.

Besonders besorgt ist der Ausschuss über Berichte, wonach das Amt des Sonderbeauftragten der EU abgeschafft wurde, und empfiehlt nachdrücklich, es so bald wie möglich wieder einzurichten.

1.5.

Die Themen Jugend und Bildung sind besonders wichtig. In diesem Zusammenhang begrüßt der Ausschuss das revidierte, sehr populäre EU-Programm Erasmus+, das zur Förderung noch engerer Bildungskontakte und Mobilität in der Tertiärbildung beiträgt und mit Visumerleichterungen und Gebührenbefreiungen für die begabtesten Studierenden der Region einhergehen soll.

1.5.1.

Die Hälfte der zentralasiatischen Bevölkerung ist jünger als 25 Jahre. Daher ist die Sekundärbildung mindestens genauso wichtig wie die Tertiärbildung. Der Ausschuss fordert die EU nachdrücklich zu größerem Engagement und stärkerer Förderung — unter anderem durch die Bereitstellung von Unterrichtsmaterial (soweit es in der Sekundärbildung fehlt) — sowie zu einer umfassenderen Information über die EU in den lokalen Sprachen auf. Erwogen werden sollten auch eine stärkere Unterstützung für Lehrer, eventuell im Rahmen des übergeordneten Programms für ländliche Entwicklung, sowie eine Ausweitung der Zielgruppen, so dass auch die Eltern stärker eingebunden werden. Eine Steigerung des allgemeinen Bildungsniveaus sollte auch eine etwaige Radikalisierung der Jugend in der Region verringern.

1.5.2.

Der Ausschuss empfiehlt außerdem eine stärkere Unterstützung für den naturwissenschaftlichen Unterricht in Zentralasien, wo er von historischer Bedeutung war und insbesondere Verbindungen zu den baltischen Staaten bestanden, sowie die Gewährleistung einer stärkeren Medienpräsenz in der Region über europäische Rundfunk- und Fernsehnetzwerke wie Euronews und Euranet, die Programme in den lokalen Sprachen anbieten.

1.6.

Gleichwohl ist der Ausschuss der festen Überzeugung, dass die Menschenrechte am besten durch die Entwicklung und Förderung von Kontakten mit der örtlichen Zivilgesellschaft und durch den Ausbau ihrer Fähigkeit zur Entwicklung hin zu einem effektiven (Ansprech-)partner der Regierungen gefördert werden können, wodurch wiederum die Rechtsstaatlichkeit sowie eine unabhängige Justiz gestärkt werden.

1.6.1.

Die Förderung eines unabhängigen öffentlichen Dienstes und einer stärkeren Beteiligung der örtlichen Zivilgesellschaft sind nach wie vor entscheidend, vor allem, weil beide traditionell kaum ausgeprägt sind. Wesentlich ist, dass die EU sich selbst im Rahmen des Menschenrechtsdialogs umfassender und intensiver für die örtliche Zivilgesellschaft engagiert und stärker einsetzt, nicht zuletzt durch eine vermehrte Nutzung des Internets und einschlägiger Websites.

1.6.2.

Eines der ersten Ergebnisse der EU-Strategie für Zentralasien von 2007 war die Einrichtung des Menschenrechtsdialogs der EU. Mit jedem Land wurden durchschnittlich sechs Dialogrunden durchgeführt. Der Ausschuss begrüßt zwar ausdrücklich die Briefings zivilgesellschaftlicher Organisationen durch den EAD in Brüssel, dringt jedoch auf deutlich mehr Sitzungen mit zentralasiatischen zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort. Diese scheinen bislang nur ad hoc stattgefunden zu haben und meistens nur im Vorfeld des Dialogs; außerdem werden dabei nicht immer diejenigen Themen behandelt, welche die zivilgesellschaftlichen Organisationen als die wichtigsten ansehen.

1.6.3.

Der Ausschuss bedauert, dass die Rolle der traditionellen, ländlicheren ashar/hashar-Formen von Gemeinschafts- bzw. Selbsthilfevereinigungen, die in Gebieten mit Nomaden- wie auch mit sesshafter Bevölkerung Zentralasiens tief verwurzelt sind, bislang von der EU weitgehend außer Acht gelassen wurden, die offenbar nur fest etablierte professionelle NGO fördert. Dies muss ebenfalls dringend geändert werden.

1.7.

Bemerkungen zu den vielen spezifischen Bereichen der Partnerschaftsstrategie würden den Rahmen dieser Stellungnahme sprengen, doch sind die Themen ökologische Nachhaltigkeit und Wasser weiterhin von grundlegender Bedeutung. Der Ausschuss fordert dringend eine stärkere Betonung der Energieeffizienz, der Ernährungs- und Lebensmittelsicherheit, vor allem jedoch der Wassereffizienz, sowie intensive Bemühungen zur Verringerung der extrem hohen Wasserverschwendung. Wasser ist ein wichtiges Primärgut in der Region und sollte die Grundlage für jede mögliche Unterstützung der EU für die örtliche Landwirtschaft bilden.

1.7.1.

Der Ausschuss wiederholt seine Empfehlung von 2011 zu den miteinander verbundenen, wenngleich schwierigen Fragen der Ernährungs- und Wassersicherheit sowie Energieversorgung. Er fordert die EU erneut nachdrücklich auf, bei den fünf Staaten stärker auf eine gemeinsame und ganzheitliche Bewältigung dieser Probleme hinzuwirken, nicht zuletzt deshalb, weil die EU bei der Unterstützung anderer Akteure auf diesem Gebiet bereits Erfahrung hat, und einen stärkeren gegenseitigen Handel mit Agrarerzeugnissen zu fördern.

2.   Hintergrund

2.1.

Der künftige lettische EU-Ratsvorsitz hat die Vertiefung der Beziehungen der EU zu den fünf zentralasiatischen Ländern zu einer seiner wichtigsten außenpolitischen Prioritäten erklärt. Anfang 2015 sollen die Schlussfolgerungen des Rates nach der zweijährlichen Überarbeitung der EU-Strategie für Zentralasien durch den EAD verabschiedet werden. Der Ausschuss wurde insbesondere ersucht, die zentralen Fragen aufgrund der derzeitigen geopolitischen und strategischen Lage zu erörtern, zumal es ein deutliches Potenzial für die Entwicklung einer echten Partnerschaft zwischen der EU und den zentralasiatischen Ländern gibt.

2.1.1.

Zu diesen Fragen gehören Sicherheit, Bildung, Energie, Verkehr, Umweltfragen, darunter auch die ländliche Entwicklung, die übergeordneten Aspekte der nachhaltigen Entwicklung sowie das Unternehmensumfeld, einschließlich KMU, Handel und Investitionen.

2.1.2.

Es ist nicht nötig, an dieser Stelle viele der Hintergrunddetails der Stellungnahme von 2011 zu wiederholen. Wichtig ist jedoch der Hinweis, dass die fünf Länder sich zwar über ein sehr großes Gebiet erstrecken, die Gesamtbevölkerung (2013) jedoch nur ca. 66 Mio. Einwohner zählt. Diese vergleichsweise neuen Staaten sind noch im Entstehen begriffen. Sie sind erst seit 1991 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unabhängig geworden, und in keinem dieser Länder gab es vorher eine nationale Befreiungsbewegung. Die meisten haben ein gespanntes Verhältnis zu ihren Nachbarn, nicht zuletzt aufgrund der Grenzen, die selten entlang der ethnischen Grenzen verlaufen; dies kann in Gewalt umschlagen. Das geringe noch vorhandene Zusammengehörigkeitsgefühl kann jedoch auch ein negativer Faktor sein, da es an die Zeiten der Sowjetunion erinnert. Große Herausforderungen bestehen auch aufgrund des schmerzlichen Übergangs zu marktorientierten Volkswirtschaften. Auch die Geisteshaltung der regierenden Eliten hat sich nicht viel verändert: die Verwaltungsstrukturen der alten sowjetischen Nomenklatura haben sich in bürokratische Strukturen einzelner Oligarchen, Clans und Familien verwandelt.

2.1.3.

Zudem befinden sich die fünf Länder in grundverschiedenen Entwicklungsphasen. Kasachstan ist der zentrale Akteur der Region, zu dem die Beziehungen der EU rasche Fortschritte verzeichnen. Kirgisistan und Tadschikistan sind weitaus ärmer, jedoch relativ offen mit einem gewissen Maß an zivilgesellschaftlichem Engagement. Die Beziehung der EU zu Usbekistan wird auch enger, während Turkmenistan das am stärksten abgeschottete Land der Region ohne echte unabhängige Zivilgesellschaft bleibt.

3.   Strategischer Knotenpunkt

3.1.

Trotz der Unwirtlichkeit der Gegend ist Zentralasien seit 2011 als strategischer Knotenpunkt immer wichtiger geworden. Aufgrund der geografischen Lage ist die Region bei den Verkehrswegen, die ihr den Zugang zu internationalen Märkten ermöglichen, extrem auf ihre Nachbarländer angewiesen.

3.1.1.

Der russische Einfluss ist stark, und seit der Krise in der Ukraine und der Nichteinhaltung internationaler Verträge durch Russland wird er regional und international mit noch größerer Aufmerksamkeit verfolgt. Allgemein wird angenommen, dass der russische Präsident versucht, den früheren Einflussbereich wiederherzustellen. Dies wiederum nährt Ängste vor einer Rückkehr zu den Zeiten des Kalten Krieges und einer stärkeren potentiellen Bedrohung nicht nur konkret der Länder, die früher Teil der Sowjetunion waren, sondern auch allgemeinerer Interessen. Darüber hinaus darf nicht unterschätzt werden, wie stark die „Soft Power“ ist, die Russland über Radio und Fernsehen ausübt, was noch dadurch unterstützt wird, dass Russisch die Hauptverkehrssprache der Region ist und ein großer Anteil der Migranten aus der Region gegenwärtig in Russland beschäftigt ist.

3.1.2.

Insbesondere konzentriert sich das internationale Interesse stärker auf Energie (und natürliche Ressourcen), auch wenn der chinesische Einfluss in der Region bereits sehr groß war. Dazu kommt, dass die Aussichten auf ein Kriegsende in Afghanistan und ein abnehmendes Engagement der USA einem militanten Islamismus und dem so genannten Islamischen Staat Vorschub leisten könnten.

3.2.

Viele betrachten Zentralasien als Hauptschauplatz einer neuerlichen chinesisch-russischen Rivalität, wobei der EU nur eine Statistenrolle zukommt. In der Finanzkrise 2008 ist die Wirtschaft in China auf Russlands Kosten gewachsen. Im Energiebereich haben diese zwei Länder kein leichtes Miteinander gehabt, und durch das stärkere Engagement Chinas in Zentralasien wird die dortige Vormachtstellung Russlands deutlich infrage gestellt. Dies könnte mit der Zeit ausreichend dafür sein, dass Russland sich trotz der gegenwärtigen Spannungen um engere Beziehungen zur EU bemüht. Es ist auffällig, wie viel Zurückhaltung China (ebenso wie Indien) in der Ukrainekrise an den Tag legt. Viele können die europäischen Bedenken nicht vollständig nachvollziehen.

3.2.1.

China ist auch die treibende Kraft hinter der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), zu deren Mitgliedern auch Zentralasien, Russland und der Iran gehören. Ihr ursprünglicher Zweck war die Beilegung von Grenzstreitigkeiten. Für China hat sich die Organisation aber auch nützlich erwiesen, sowohl um in den neuen Ländern für sich zu werben als auch um auf der chinesischen Seite der Grenze in Sinkiang die eigene Position zu stärken. Für Russland ist die SOZ wichtig, um den eigenen Einflussbereich gegen China zu verteidigen, aber sie bietet auch die Möglichkeit, Sicherheitsfragen zu erörtern, darunter Terrorismus, Extremismus und Separatismus (die „drei Geißeln“).

3.2.2.

Chinas zunehmende Bedeutung in der Region zeigte sich 2013, als Staatspräsident Xi die Initiative „Wirtschaftsgürtel Seidenstraße“ ins Leben rief, die mit 16,3 Mrd. USD ausgestattet war und deren Ziel darin liegt, engere Verbindungen zu Europa aufzubauen, aber auch die Länder entlang der Seidenstraße zu beteiligen. Der Grund für Chinas wirtschaftliche Aktivitäten in der Region ist sein Energiebedarf. China hat sowohl Straßen als auch Rohrleitungssysteme gebaut und erhebliche Investitionen insbesondere in turkmenisches Gas getätigt, möglicherweise mehr als dort gegenwärtig gefördert werden kann, aber den riesigen Vorkommen in Turkmenistan durchaus angemessen. Zwar berichtete die russische Nachrichtenagentur „Nowosti“ (8), dass Russland Tadschikistan 6,7 Mio. USD als Hilfe für eine Umstrukturierung der Landwirtschaft angeboten habe, aber später erklärte ein tadschikischer Minister gegenüber der Financial Times, dass China bis 2017 mindestens 6 Mrd. USD investieren werde (beinahe 70 % des tadschikischen BIP im Jahr 2013 und mehr als das 40-fache seiner jährlichen ausländischen Direktinvestitionen (9)).

3.2.3.

Wie in Afrika geht das chinesische Engagement damit einher, dass massenhaft chinesische Arbeitskräfte und Ingenieure ins Land geholt werden, was einiges Missfallen erregt hat, das in Tadschikistan möglicherweise noch dadurch verschärft wurde, dass viele der einheimischen Arbeitskräfte in Russland arbeiten.

3.3.

Am 1. Januar 2015 wird unter der Führung Russlands die aus der früheren Zollunion hervorgegangene Eurasische Wirtschaftsunion Wirklichkeit werden. Kasachstan wird der Wirtschaftsunion angehören, höchstwahrscheinlich auch Kirgisistan, auch wenn das mit Blick auf seine florierende Tätigkeit als Zwischenhändler für Exporte aus China zu Problemen führen könnte. Auch Tadschikistan wird wohl keine andere Alternative haben, als der Währungsunion beizutreten, nicht zuletzt, weil die Heimatüberweisungen der in Russland arbeitenden Tadschiken 52 % seines BIP ausmachen. In Usbekistan und Turkmenistan bestehen jedoch nach wie vor stärkere Bedenken gegen eine erneute Intensivierung der Bindungen zu Russland.

3.3.1.

Kasachstan dagegen sieht die Währungsunion im Wesentlichen eher als wirtschaftlichen denn als politischen Zusammenschluss und ist darauf bedacht, die verschiedenen internationalen Interessen, die von außen an es herangetragen werden, in einem Gleichgewicht zu halten. Kasachstan ist sehr daran interessiert, das erst vor kurzem geschlossene vertiefte Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU so bald wie möglich abzuzeichnen. Außerdem ist es als erstes zentralasiatisches Land dem Asien-Europa-Treffen (ASEM) (10) beigetreten. Es ist bedauerlich, dass Kasachstans Beitrittsgesuch für die WTO von der WTO-Ministerkonferenz 2013 nicht zu einem Abschluss gebracht worden ist, was von vielen auf Verzögerungen durch seinen großen eurasischen Nachbarn zurückgeführt wird.

3.4.

Obwohl es sich bei dem militanten Islamismus um ein Minderheitenphänomen handelt (religiöser Fanatismus war 1990 im Bürgerkrieg in Tadschikistan ein wesentlicher Faktor), verfolgt jede Regierung eine aggressive säkulare Politik, was angesichts des immer stärker werdenden Wunsches — auch von Frauen — nach einer muslimischen Erziehung kontraproduktiv ist. Sunniten stellen den Großteil der Bevölkerung. Personen aus der Gegend waren an Kampfhandlungen in Syrien beteiligt. Der Iran ist an einer Intensivierung seiner Kontakte in dieser Region interessiert, nicht nur hinsichtlich der Verkehrs- und Energieinfrastruktur (und seiner Beziehung zu China), sondern auch im kulturellen und sprachlichen Bereich. In Tadschikistan und weiten Teilen Usbekistans (z. B. Samarkand, Buchara) wird Persisch gesprochen. Da die anderen Sprachen zur Gruppe der Turksprachen gehören, hat die Türkei ebenfalls ein zentrales Interesse an der Region.

4.   Das Potenzial zur Entwicklung einer stärkeren Partnerschaft zwischen der EU und Zentralasien

4.1.

In der EWSA-Stellungnahme von 2011 wird festgestellt, dass der EU eine vergleichsweise schwache Rolle in der Region zukommt. Die EU hat im Juli 2007 eine eigene Strategie für Zentralasien initiiert, die jetzt turnusmäßig zur Überprüfung ansteht. Obwohl der Handel nur einen geringen Umfang hat, ist die EU einer der Haupthandelspartner aller Länder in der Region, insbesondere Kasachstans. 2013 entfielen auf die EU 38 % des gesamten kasachischen Handelsvolumens und zwei Drittel der kasachischen Exporte (im Wesentlichen Energie). Insgesamt hatten die Importe der EU aus dieser Region ein Volumen von 24,9 Mrd. EUR und die Exporte ein Volumen von 10,6 Mrd. EUR und machten damit 1 % des Gesamthandelsvolumens der EU aus.

4.1.1.

Es muss jede Möglichkeit ergriffen werden, den Handelsumfang mit den einzelnen Ländern ebenso wie die dortigen Investitionen zu vergrößern und die Rolle und Tätigkeit der Sozialpartner als zentrale zivilgesellschaftliche Akteure auszubauen.

4.1.2.

Kirgisistan kann im Rahmen des ASP (11) Zollvergünstigungen erhalten, aber weder Usbekistan noch Tadschikistan haben einen Antrag zur Aufnahme in das ASP+ gestellt, was zweifellos auf die daran geknüpften Bedingungen zurückzuführen ist. 2016 wird Turkmenistan die Förderungsfähigkeit unter dem ASP verlieren, da es dann als Land mit mittlerem Einkommen eingestuft werden wird. Da nur Kirgisistan und Tadschikistan WTO-Mitglieder sind, ist nicht mit dem Abschluss von Freihandelsabkommen, insbesondere der Art, die die EU mit der Ukraine, Georgien oder Moldau geschlossen hat, zu rechnen. Dennoch muss die EU im Zusammenhang mit der Östlichen Partnerschaft und der Schwarzmeerstrategie ihren Blick, wann immer möglich, viel stärker nach Zentralasien richten.

4.2.

Durch eine stärkere Zusammenarbeit, insbesondere in den Bereichen Energie und Verkehr, bietet Zentralasien eine wichtige Gelegenheit zur Stärkung der strategischen Partnerschaft EU-China. Dies muss gründlich geprüft werden, da beide Seiten beabsichtigen, mehr Energie aus der Region zu beziehen.

4.2.1.

Angesichts der riesigen Kohlenwasserstoffvorkommen in Zentralasien, insbesondere in der Form von Erdgas, werden diese Ziele gegenwärtig nicht als stark miteinander konkurrierend wahrgenommen. Natürlich wird das Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum in der Region einen stärkeren internen Energiebedarf nach sich ziehen, aber daneben existiert ein erhebliches unerschlossenes Potenzial zur Verbesserung der Energieeffizienz und Erschließung erneuerbarer Energiequellen. Da die EU ein erhebliches Fachwissen entwickelt hat und in ihr eine starke Industrie im Bereich der nachhaltigen Energie entstanden ist, spricht sehr viel für die Verbesserung der Zusammenarbeit in diesen Bereichen, aber auch für eine Ausweitung der Zusammenarbeit in der Region im Rahmen der EITI (12), die eine größere Transparenz bezüglich der Staatseinnahmen aus Energierohstoffen mit sich bringt und die Rolle der Zivilgesellschaft stärkt.

4.3.

Das TRACECA-Programm bleibt für die EU eine wichtige Initiative. Hierbei handelt es sich um ein internationales Programm, mit dem auf Grundlage der bestehenden Verkehrssysteme vom Schwarzmeerbecken bis zum Südkaukasus und nach Zentralasien Wirtschaftsbeziehungen, Handel, Verkehr und Kommunikation gestärkt werden sollen. In dem TRACECA-Programm manifestieren sich der politische Wille und die gemeinsamen Ziele der 13 Mitgliedstaaten, darunter die entsprechenden Länder der früheren Sowjetunion und Zentralasiens (mit Ausnahme Turkmenistans), Türkei, Bulgarien und Rumänien.

4.3.1.

Der Aufbau einer modernen, interoperablen Straßeninfrastruktur sowie einer strategischen Eisenbahninfrastruktur entlang der Seidenstraße liegt im zentralen Interesse Chinas und der EU, aber auch Russlands. Die erfolgreiche Erschließung dieser Region mittels einer modernen und verlässlichen Infrastruktur wäre eine enorme Chance nicht nur für eine größere wirtschaftliche Integration, sondern auch für die Förderung der Mobilität von Personen und des multikulturellen Austausches, was wiederum die Bedingungen verbessern würde, um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie voranzutreiben. Dementsprechend begrüßt der Ausschuss die besondere Bedeutung, die der lettische Ratsvorsitz der Entwicklung multimodaler Verkehrsverbindungen in Eurasien beimisst.

4.4.

Kasachstan hat enorme natürliche Ressourcen und fossile Brennstoffe, von denen viele noch unangetastet sind. Allerdings bleibt die fördernde Industrie weit hinter ihren Möglichkeiten zurück (13). Kasachstan und Usbekistan haben reiche Öl- und Gasvorkommen, und allein in Turkmenistan befinden sich 9 % der weltweiten Erdgasreserven (14). Andererseits müssen Kirgisistan und Tadschikistan ihr Potenzial im Bereich der Wasserkraft ebenso wie ihre Vorkommen wertvoller Mineralien noch erschließen (15). Usbekistan und Turkmenistan gehören zu den zehn größten baumwollproduzierenden Ländern weltweit, obwohl ihre Wasserressourcen für diese viel Wasser benötigende Pflanze eigentlich nicht ausreichen.

4.5.

Allerdings wird die EU nicht die Sympathie der Menschen in Zentralasien gewinnen, wenn sie lediglich wirtschaftliche Ziele verfolgt. Ein Drittel der Bevölkerung Kirgisistans und Tadschikistans lebt unter der Armutsgrenze. In Kirgisistan sind mehr als zwei Drittel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in der Schattenwirtschaft beschäftigt. Mehr als eine Million Tadschiken und ungefähr halb so viele Kirgisen arbeiten im Ausland, insbesondere in Russland oder Kasachstan, nicht zuletzt aufgrund der Jugendarbeitslosigkeit im eigenen Land. Trotz rechtlicher Gleichstellung der Frau besteht nach wie vor ein Ungleichgewicht zwischen dem Einkommen von Männern und dem von Frauen, was teilweise auf die geringen Beschäftigungsquoten von Frauen, die noch dazu in Niedriglohnberufen tätig sind, zurückzuführen ist. Frauen haben außerdem weniger Bildungsmöglichkeiten.

4.6.

Daher werden in dieser Stellungnahme eine Reihe wesentlicher Empfehlungen in den Bereichen Energie- und Wassereffizienz, Ernährungssicherheit (die in Tadschikistan immer noch ein zentrales Problem ist), Wasserversorgungssicherheit und Energieversorgung vorgelegt, die an die Empfehlungen der Stellungnahme von 2011 anknüpfen.

5.   Die Rolle der Zivilgesellschaft

5.1.

Eine grundsätzliche Überzeugung des EWSA ist es, dass der Ausbau von Kontakten zur Zivilgesellschaft vor Ort für die EU einer der besten Wege zu einer effektiven Zusammenarbeit ist. Außerdem ist es wichtig, dass dies auf eine positive Art und Weise geschieht. Nicht zuletzt sollte versucht werden, die Vorbehalte zu zerstreuen, die die Regierungen in der Region gegenüber der Rolle der Zivilgesellschaft in immer stärkerem Ausmaß an den Tag legen (16). Die Förderung eines stärkeren Kontakts zwischen jungen Menschen und entsprechender Austauschprogramme sollte eine Hilfe auf diesem Weg sein. Der Ausschuss begrüßt sehr, dass man sich mit dem erweiterten EU-Programm Erasmus+ zur Förderung engerer Bildungskontakte und Mobilität im tertiären Bildungsbereich, das idealerweise mit Visumerleichterungen und Gebührenbefreiungen für die begabtesten Studierenden der Region einhergeht, um ein hohes Maß an Unterstützung in Zentralasien bemüht.

5.1.1.

Die Sekundarbildung ist ein anderer zentraler Bereich, in dem die EU stärker aktiv werden und mehr fördern kann, unter anderem dadurch, dass mehr Informationen über die EU in den lokalen Sprachen bereitgestellt werden und sich stärker um die Einbindung der Eltern bemüht wird. In einigen Ländern sind Rückschritte im Bildungssystem zu beobachten: Es mangelt an Schulbüchern für die Sekundarstufe, und eine gute Erziehung wird allgemein als elitär wahrgenommen, was nicht zuletzt an den enormen Kosten der Hochschulbildung liegt. Ebenfalls positiv könnte sich eine basisnahe Förderung der Lehrer erweisen, vielleicht im Kontext der allgemeinen ländlichen Entwicklung. Es sollte ebenfalls ernsthaft erwogen werden, über europäische Rundfunk- und Fernsehnetzwerke wie Euronews und Euranet, die Programme in den lokalen Sprachen anbieten, eine stärkere Medienpräsenz in der Region zu zeigen.

5.2.

2011 hat der Ausschuss in seiner Stellungnahme die Rolle und Tätigkeit der im weiteren Sinne unabhängigen Zivilgesellschaft in Zentralasien untersucht. Bedauerlicherweise scheint sich die Situation seitdem in keinem der fünf Länder nennenswert verbessert zu haben. Stärkere Vorbehalte der Regierungen haben zu einem größeren Druck auf nichtstaatliche Organisationen, die Medien und Oppositionelle geführt. Ende 2011 gab es in Kasachstan bei Protesten der Arbeiter in der Ölindustrie 14 Tote und viele Verletzte, was dazu geführt hat, dass die Regierung unabhängigen Gewerkschaften misstrauischer gegenübersteht, einer der Hauptoppositionsführer verhaftet wurde und verschiedene Medienbetriebe verboten wurden.

5.2.1.

In Kirgisistan und Kasachstan, in denen die Zivilgesellschaft stärker aktiv ist, gibt es Bestrebungen zu einer stärkeren Reglementierung internationaler NRO. In Kasachstan wurde eine Studie über die Erfahrungen „anderer Länder“ (d. h. Russlands) erstellt, und im kirgisischen Parlament wurde erneut ein Gesetzesentwurf vorgelegt, der sich am russischen Beispiel orientiert.

5.3.

Besonders eingegangen wurde in der Stellungnahme von 2011 auch auf traditionelle, stärker ländlich geprägte Arten der gemeinschaftlichen Organisation bzw. Vereinigungen zur Selbsthilfe (z. B. zur Verbesserung der gemeinschaftlichen Infrastruktur), die tief in Zentralasien verwurzelt sind, sowohl in den vom Nomadentum geprägten Gebieten als auch dort, wo die Bevölkerung traditionell sesshaft ist. Eine Renaissance erlebten diese Organisationsformen (Ashar/Hashar) in den neunziger Jahren nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems, insbesondere im sozialen Bereich. Auch wenn Ashar-Organisationsformen im allgemeinen keine formalen Strukturen benötigen, haben einige dieser Zusammenschlüsse die formalen Anforderungen für die Gründung einer Organisation erfüllt und sich als Nichtregierungsorganisation eintragen lassen. Diese Zusammenschlüsse bieten gegenüber Spendern aus dem Ausland eine Grundlage für Projekte, die ländliche Gemeinschaften stärken.

5.3.1.

Wir bedauern, dass die EU die Tendenz hat, ausschließlich fest etablierte NRO zu fördern, stellen aber gleichzeitig fest, dass Ashar/Hashar-Organisationsformen auf vorsowjetischen Traditionen beruhen, die häufig nicht mit den Wertvorstellungen von Spendern im Einklang stehen, besonders wenn Entscheidungen von „Aksakals“ („Dorfältesten“) getroffen werden. Wenn diese ein Projekt für unnötig halten, richtet sich die Dorfgemeinschaft strikt nach dieser Entscheidung und behindert dessen Umsetzung.

5.4.

Auf die EU-Strategie für Zentralasien von 2007 folgte die Einrichtung des Menschenrechtsdialogs der EU. Mit den meisten Ländern fanden sechs Dialogrunden statt (mit Usbekistan acht, mit Kirgisistan fünf).

5.4.1.

Vor und nach jeder Dialogrunde führte der EAD in Brüssel Informationsveranstaltungen für zivilgesellschaftliche Organisationen durch. Treffen mit zentralasiatischen Organisationen der Zivilgesellschaft vor Ort dagegen wurden lediglich auf einer Ad-hoc-Basis durchgeführt, meistens vor der jeweiligen Dialogrunde. Diese lokalen Seminare bieten der zentralasiatischen und europäischen Zivilgesellschaft ein Forum zur Erörterung länderspezifischer Menschenrechtsfragen mit EU- und Regierungsvertretern, die die Tagesordnung unter sich festlegen. Die Empfehlungen der Zivilgesellschaft, die in diesen Seminaren erstellt werden, müssen in vollem Umfang Eingang in die Menschenrechtsdialoge finden.

5.4.2.

Es ist von Fall zu Fall unterschiedlich, welche Relevanz die Menschenrechtsdialoge und die begleitenden zivilgesellschaftlichen Seminare haben und was für eine Bedeutung sie entfalten. Einige Bedeutung für die tatsächliche Menschenrechtssituation und den Dialog mit den Regierungen hatten lediglich die Seminare in Kirgisistan und Tadschikistan, nach denen einzelne konkrete Gesetzesänderungen durchgeführt wurden (17), insbesondere über die Anwendung von Folter. In beiden Fällen kam den von der EU initiierten Dialogen jedoch lediglich eine ergänzende und unterstützende Bedeutung zu, da die Fragen bereits im Vorfeld in UN-Foren diskutiert worden waren. Bedauerlicherweise war die Wirkung in anderen Ländern sehr beschränkt, in Usbekistan wurde lediglich 2008 ein zivilgesellschaftliches Seminar abgehalten, in Turkmenistan gar keins.

5.4.3.

Allerdings wurde der Zivilgesellschaft in Kasachstan ein Mitspracherecht bei der Festlegung der Themen für das zivilgesellschaftliche Seminar 2011 verwehrt. Dort wurden zwar die Rechte behinderter Menschen und Gleichstellungsfragen erörtert, nicht aber über den damals aktuellen Streik der Arbeiter in der Ölindustrie im Westen Kasachstans gesprochen. 2012 lag der Schwerpunkt des Seminars auf dem „Beitrag der Zivilgesellschaft zur Reform der Justiz in Kasachstan“, die Regierung Kasachstans jedoch zeigte kein Interesse an der Veranstaltung, und es ist unklar, ob die Empfehlungen damals in die Menschenrechtsdialoge eingeflossen sind.

5.5.

Trotz der unterschiedlichen wirtschaftlichen Lage gibt es bei den fünf Ländern im Bereich Beschäftigung große Gemeinsamkeiten: Es gibt generell zu wenig gute Arbeit, die Schattenwirtschaft ist enorm wichtig, und Korruption ist weit verbreitet. Dies ist ein Klima, das der Vereinigungsfreiheit nicht zuträglich ist.

5.5.1.

In allen Ländern bestehen für den Arbeitskampf und insbesondere das Streikrecht restriktive gesetzliche Bestimmungen. Eine Einflussnahme seitens der Regierung ist häufig, meist durch Wunschkandidaten für führende Posten in Gewerkschaften und gesetzliche Beschränkungen von Gewerkschaftsstrukturen, -verfahren und -aktivitäten. In Kasachstan könnte ein neues Gesetz zu einem Gewerkschaftsmonopol führen, wie es bereits in Tadschikistan und Usbekistan der Fall ist. Der soziale (dreiseitige) Dialog auf nationaler Ebene wird stark vom Staat dominiert: Die Rolle der Sozialpartner ist größtenteils beratend, und führende Gewerkschafter stehen den staatlichen Stellen nahe.

5.5.2.

In der Stellungnahme von 2011 wurde die Situation hinsichtlich der Kernübereinkommen der ILO untersucht. Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan haben viele Jahre lang mit der ILO zusammengearbeitet, vor allem im Rahmen der Programme für menschenwürdige Arbeit, die Usbekistan im April 2014 unterzeichnet hat. Festzustellen ist, dass das internationale Programm der ILO zur Beseitigung von Kinderarbeit in Kirgisistan und Tadschikistan funktioniert; die EU nimmt auch die positiven Schritte Usbekistans in diesem Bereich zur Kenntnis (18). Die vollständige Umsetzung dieser Übereinkommen bleibt jedoch ein wesentliches Ziel.

Brüssel, den 21. Januar 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Europäische Union und Zentralasien: Eine Strategie für eine neue Partnerschaft, Rat QC-79.07.222.29C, Oktober 2007.

(2)  Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan.

(3)  CESE 1010/2011 (ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 49).

(4)  Siehe Pressemitteilung Schlussfolgerungen des Rates zu Zentralasien, Juni 2012.

(5)  Extractive Industries Transparency Initiative (Initiative zur Verbesserung der Transparenz in der Rohstoffindustrie).

(6)  http://www.traceca-org.org/en/traceca/

(7)  ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 6.

(8)  7. Februar 2014.

(9)  22. Oktober 2014, laut „The Diplomat“11. November 2014.

(10)  Ein wichtiges Forum für Dialog und Zusammenarbeit auf Ebene der Staats- und Regierungschefs. Im Oktober 2014 waren es 53.

(11)  Das allgemeine Präferenzsystem der EU.

(12)  Initiative für Transparenz in der Rohstoffindustrie.

(13)  http://www.gecf.org/gecfmembers/kazakhstan(observer) (in Englisch).

(14)  BP Statistical Review of World Energy [Statistischer Weltenergiebericht von BP], Juni 2014.

(15)  Die Menge der Eisenerzvorkommen in Kirgisistan wird auf 5 Mrd. Tonnen geschätzt, wobei ihr Eisengehalt bei größtenteils über 30 % liegt. Darüber hinaus befindet sich in Kirgisistan eins der größten nachgewiesenen Goldvorkommen der Welt.

(16)  Dies hat auch mit dem „Arabischen Frühling“, der jüngsten Gesetzgebung „über ausländische Agenten“ in Russland und schließlich der Euromaidan-Bewegung in der Ukraine zu tun.

(17)  Nachdem auf einem zivilgesellschaftlichen Seminar vier Monate zuvor entsprechende Empfehlungen abgegeben worden waren, verabschiedete das kirgisische Parlament im Juni 2012 ein Gesetz gegen Folter. In Tadschikistan wurde im selben Jahr ein Gesetz verabschiedet, das Folter unter Strafe stellt.

(18)  Pressemitteilung des EAD vom 19. November 2014.


23.7.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 242/9


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema Integration von Migrantinnen in den Arbeitsmarkt

(Initiativstellungnahme)

(2015/C 242/02)

Berichterstatterin:

Béatrice OUIN

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 10. Juli 2014, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Integration von Migrantinnen in den Arbeitsmarkt“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. Dezember 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 504. Plenartagung am 21./22. Januar 2015 (Sitzung vom 21. Januar) mit 212 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen

1.1.

Mit Blick auf die Umsetzung der Europa-2020-Strategie und der europäischen Agenda für die Integration von Drittstaatenangehörigen sowohl in Bezug auf den Zugang von Frauen zur Beschäftigung als auch auf die Integration von Migranten und angesichts der Tatsache, dass Europa auf Migranten angewiesen ist — aller feindseligen Reden zum Trotz, die in besorgniserregendem Maße zunehmen und dem langfristigen Interesse der in Europa lebenden Bevölkerungsgruppen schaden —, ruft der EWSA die europäischen Institutionen dazu auf:

das Potenzial des Europäischen Semesters besser zu nutzen und länderspezifische Empfehlungen zur Integration von Migrantinnen in den Arbeitsmarkt auszusprechen;

die Besonderheiten von Migrantinnen bei der Vorbereitung der Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern nach 2015 zu berücksichtigen;

weiterhin die Umsetzung der Richtlinie 2003/86/EG betreffend das Recht auf Familienzusammenführung zu überwachen, um den Frauen mit Anspruch auf Familienzusammenführung den Zugang zur Beschäftigung nicht zu verzögern und eine Überarbeitung dieser Richtlinie dahingehend vorzusehen, dass Ehegatten unmittelbaren Zugang zur Beschäftigung bekommen;

den Anteil der Frauen unter den Begünstigten der Blauen Karte der EU (1) und der Saisonarbeiterrichtlinie (2) sowie die Art der von ihnen verfolgten Beschäftigung zu bemessen, um sicherzugehen, dass Migrantinnen nicht Opfer von Diskriminierungen sind;

dafür zu sorgen, dass die künftigen für Forscher, Studierende, Freiwillige und Au-pair-Beschäftigte geltenden Bestimmungen (3) Frauen wie Männern zugutekommen;

sicherzustellen, dass die für die Integration von Einwanderern bereitgestellten Finanzierungsinstrumente mindestens zur Hälfte den Frauen gewidmet werden.

1.2.

Zusätzlich zu den Maßnahmen, die für alle Migranten, Männer und Frauen, gelten sollten, ruft der EWSA die Mitgliedstaaten dazu auf:

klare und ehrgeizige Ziele für die Integration von Migrantinnen festzulegen;

politische Maßnahmen unter Berücksichtigung der besonderen Lage der Frauen, ihres Bildungsniveaus, ihrer Kenntnis der Sprache des Gastlandes und ihrer Zugehörigkeit zur ersten Zuwanderungsgeneration oder den nachfolgenden zu verabschieden;

der Kommission im Rahmen des Europäischen Semesters die zur Förderung der Integration von Migrantinnen in den Arbeitsmarkt ergriffenen Maßnahmen mitzuteilen;

im Rahmen der Familienzusammenführung den Zugang zur Beschäftigung für die Ehegatten nicht aufzuschieben, um die Integration der Familien zu fördern sowie Armut und Kompetenzverlust vorzubeugen;

den Frauen in jeder Phase des Migrationsprozesses individuelle Rechte zu gewährleisten und nicht nur Rechte als Familienmitglied;

für eine bessere Information der Migrantinnen über den Zugang zu Dienstleistungen, die den Zugang zur sprachlichen und beruflichen Bildung und zu hochwertigen Arbeitsplätzen erleichtern sollen, Sorge zu tragen;

Sprachkurse zu organisieren, die den spezifischen Bedürfnissen von Migrantinnen entsprechen, auf die Suche nach einer Beschäftigung ausgerichtet und ihnen zugänglich sind;

die Verfahren zur Anerkennung von im Ausland erworbenen Kompetenzen und Erfahrungen zu beschleunigen, um den Frauen ihren Qualifikationen und Wünschen angemessene Arbeitsplätze zu ermöglichen;

der Dequalifizierung vorzubeugen, die einen Verlust an Humankapital darstellt;

zu beachten, dass die Arbeit in bestimmten Branchen (Reinigung, Kinderbetreuung, Altenpflege, Hotels und Gaststätten, Landwirtschaft u. a.) geringqualifizierten Migrantinnen Chancen unter der Voraussetzung bieten können, dass diese Branchen aus der Schattenwirtschaft herausgeholt, professionalisiert und aufgewertet werden, dass die Frauen für diese Berufe ausgebildet werden und dass ihnen ein berufliches Weiterkommen ermöglicht wird;

Unternehmerinnen zu unterstützen und die unternehmerische Bildung von Migrantinnen zu fördern;

die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft in die Ausarbeitung und Umsetzung von Maßnahmen einzubeziehen;

die Konvention der Vereinten Nationen über den Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen vom 18. Dezember 1990 zu ratifizieren;

den Aufenthaltsstatus von Migranten zu legalisieren, die seit mehreren Jahren in Europa wohnen; die in einigen Mitgliedstaaten erfolgten Massenregularisierungen haben sich als positiv erwiesen.

1.3.

Schließlich ruft der EWSA die Sozialpartner dazu auf:

die Besonderheiten von Migrantinnen im Arbeitsprogramm des europäischen sozialen Dialogs besser zu berücksichtigen;

in den Tarifvereinbarungen die Anerkennung von Qualifikationen von Migrantinnen zu erleichtern.

2.   Einleitung

2.1.

Seit einigen Jahrzehnten wird die Zuwanderung weiblich. Die Frauen, die nach Europa einwandern, kommen, um sich wieder Familienmitgliedern anzuschließen oder weil sie Flüchtlinge sind und Asyl beantragen. Viele kommen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, haben ihre Familie zurückgelassen und sind somit zur Hauptverdienerin der Familie geworden.

2.2.

Sie können mit oder ohne Aufenthaltstitel, mit oder ohne hochwertige Ausbildung kommen. Sie kommen freiwillig oder sind dazu gezwungen. Und manche sind auch Opfer von Menschenhandel. Es ist offensichtlich: Diese Bevölkerungsgruppe ist groß und vielfältig.

2.3.

Angesichts der alternden Bevölkerung, der rückläufigen Geburtenraten und des Bedarfs an Fachkräften in zahlreichen Branchen steht Europa seinerseits bezüglich des Arbeitsmarkts vor einer gewaltigen Herausforderung.

2.4.

Vor diesem Hintergrund stellen die Migrantinnen ein bislang unzureichend ausgeschöpftes Reservoir an Kompetenzen und Kreativität dar. Sie müssen unbedingt in den Arbeitsmarkt integriert werden. Dadurch kann das Potenzial der Migrationsbewegung voll ausgeschöpft werden: aufseiten der Migrantinnen ebenso wie aufseiten der Europäischen Union. Ihre berufliche Integration stärkt die soziale Integration und trägt zum Wirtschaftswachstum und zum sozialen Zusammenhalt bei.

2.5.

Der EWSA hat sich bereits mehrfach zu den Themen Einwanderung und Integration geäußert und zahlreiche, Männer wie Frauen betreffende Empfehlungen ausgesprochen (4). In dieser Stellungnahme sollen diese Empfehlungen nicht wieder aufgegriffen werden.

2.6.

Hingegen hat der EWSA bislang keine spezifischen Vorschläge zu Migrantinnen unterbreitet. Da aber nirgends in der Welt die Gleichstellung von Frauen und Männern Realität ist und weil es frauenspezifische Aspekte gibt, die unter einem globalen Blickwinkel nicht erfasst werden können, wird diese Stellungnahme dem Thema der Integration von Migrantinnen in den Arbeitsmarkt gewidmet.

3.   Europäischer Hintergrund

3.1.

Die Steigerung der Beschäftigungsquote von Frauen ist, ebenso wie jener von Migranten, eine Priorität der EU im Rahmen der Strategie Europa 2020, der Europäischen Agenda für die Integration von Drittstaatsangehörigen (5) und in den Mehrjahresprogrammen des Europäischen Rates (6).

3.2.

Die Europa-2020-Strategie sieht eine Steigerung der Beschäftigungsquote auf 75 % bis 2020 vor; eine bessere Integration der Migrantinnen in den Arbeitsmarkt ist hierfür unverzichtbar. In diesem Zusammenhang kann das Europäische Semester ein hilfreiches Instrument sein. Die Mitgliedstaaten sollten Maßnahmen zur Integration von Migrantinnen vorlegen, und die Kommission müsste diesbezügliche spezifische Empfehlungen vorschlagen.

3.3.

Auch sollte die Besonderheit von Migrantinnen bei der Vorbereitung der Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern nach 2015 besser berücksichtigt werden. Diese Strategie sollte zu einer besseren Stellung der Migrantinnen auf dem Arbeitsmarkt beitragen und sie auch zu unternehmerischer Initiative ermutigen.

3.4.

EU-weit schwankt die Lage von Migrantinnen sehr stark in Abhängigkeit von der jeweiligen Durchführungsrichtlinie.

3.5.

Diejenigen, die eine Blaue Karte (7) besitzen, haben leichter Zugang zu Arbeitsplätzen für Hochqualifizierte; auch hat die Ehefrau eines Inhabers einer Blauen Karte automatisch und umgehend Anspruch auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Gastland.

3.6.

Hingegen muss die Ehegattin mit Anspruch auf Familienzusammenführung (8) mitunter ein Jahr warten, bis sie Zugang zu einer unselbstständigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit hat. Diese Frist dürfen die Mitgliedstaaten auferlegen. Durch diese Wartezeit wird die Frau von ihrem Ehemann abhängig, wird vom Arbeitsmarkt entfernt und verliert einen Teil ihrer Kompetenzen. Um dem abzuhelfen, sollte die Kommission nicht nur die Umsetzung der Richtlinie zur Familienzusammenführung in den Mitgliedstaaten überwachen, sondern eine Überarbeitung ins Auge fassen.

3.7.

Den Asylbewerbern das Arbeiten zu verbieten, leistet der Annahme von nicht angemeldeter Arbeit Vorschub. Folglich sollten die rechtlichen Hindernisse behoben werden, die ihrem Zugang zum Arbeitsmarkt im Wege stehen. Darüber hinaus dürfte eine Beschäftigung die Regularisierung des Aufenthalts ermöglichen, was in den Mitgliedstaaten, die Regularisierungen im großen Maßstab durchgeführt haben, gute Ergebnisse gezeitigt hat.

3.8.

Abschließend lässt sich feststellen, dass eine Harmonisierung der europäischen Instrumente notwendig ist, um jeder Person, die sich legal auf europäischem Gebiet aufhält, unmittelbaren Zugang zur Beschäftigung zu ermöglichen und persönliches Aufenthaltsrecht zu gewähren, unabhängig vom Ehestatus.

4.

Spezifische Maßnahmen für die Integration von Migrantinnen in den Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten

4.1.   Die Schwierigkeiten als Frau und noch dazu als Migrantin sind besorgniserregend.

4.1.1.

Frauen werden auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt, egal, ob sie aus Europa oder Drittstaaten kommen. Trotz EU-weiter Rechtsvorschriften sind die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben, der Zugang zu den sozialen Rechten und zu verantwortungsvollen Stellen oder auch die Teilhabe am öffentlichen Leben für Frauen schwieriger als für Männer.

4.1.2.

Frauen konzentrieren sich auf einige Branchen (9) (Gesundheitswesen, Bildung, öffentliche Verwaltung, Hotels und Gaststätten, Familiendienstleistungen, Haushaltsarbeit u. a.). Sie arbeiten häufiger in Teilzeit und haben auch häufiger prekäre Kurzzeitverträge als Männer. Die Diskrepanz zwischen dem Durchschnittsgehalt von Frauen und dem von Männern liegt in der EU im Jahr 2014 immer noch bei 16,4 % (10) und bei den Renten und Pensionen sieht es sogar noch schlechter aus.

4.1.3.

Noch besorgniserregender ist die Situation von Migrantinnen: Ihre Beschäftigungsquote ist niedriger als die für einheimische Frauen. Die Mehrheit konzentriert sich auf einige Branchen und ist auch stärker von Prekariat und Teilzeitbeschäftigung, Niedriglöhnen und schlechten Arbeitsbedingungen betroffen. Kulturelle Hindernisse in ihrer Familie bzw. in den Migrantengemeinden, denen sie angehören, können ihren Zugang zur Beschäftigung behindern. Außerdem werden sie beim Zugang zum Arbeitsmarkt häufig diskriminiert.

4.2.   Spezifische Maßnahmen sind erforderlich

4.2.1.

In Anbetracht dessen ist eine positive Maßnahme angezeigt. Sie sollte vor allem die Lage der Frauen, ihr Bildungsniveau, ihre Kenntnis der Sprache des Gastlandes und ihre Zugehörigkeit zu einer ersten Zuwanderungsgeneration oder den nachfolgenden berücksichtigen.

4.2.2.

Einige Maßnahmen im Zusammenhang mit der Vereinbarung von Beruf und Familie sind dieselben wie für einheimische Frauen. Zugang zu hochwertigen erschwinglichen und ortsnahen Kinderbetreuungseinrichtungen zu haben, ist für Migrantinnen vordringlich, da sie in der Regal vor Ort keine Familienangehörigen haben, die sie unterstützen können.

4.2.3.

Andere Maßnahmen sind mehr auf Migrantinnen zugeschnitten: Bekämpfung von Rassismus, verbesserter Zugang zu Wohnraum, Gesundheitsversorgung, sozialen Diensten, Bekämpfung von Zwangsheiraten, Polygamie u. a. Die Achtung der Menschenrechte und die Gleichstellung von Frauen und Männern in Europa, Flucht vor der Gewalt gegen Frauen und Diskriminierungen sind Gründe, weshalb die Frauen ihr Land verlassen. Sie sollten in Europa nicht auf dieselben Probleme stoßen, und doch bestehen diese Schwierigkeiten hier auch und betreffen sogar die zweiten Generationen von Einwanderern, denen so der Zugang zur Beschäftigung verstellt wird.

4.2.4.

In der EU werden von der Zivilgesellschaft, den Migrantinnenverbänden oder den Hochschulen auf lokaler Ebene viele erfolgreiche Initiativen zur Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt ergriffen. Sie sollten unterstützt werden und die Verbreitung dieser bewährten Verfahren sollte in und unter den Mitgliedstaaten gefördert werden.

4.3.   Die erforderlichen Daten für eine fundierte Politik zusammentragen

4.3.1.

Um die Bedürfnisse der Migrantinnen besser zu kennen und angemessene politische Maßnahmen zu erarbeiten, ist die Verfügbarkeit besserer, nach Geschlecht und Nationalität bzw. Herkunft aufgeschlüsselter Statistiken auf nationaler und europäischer Ebene unverzichtbar.

4.4.   Die Migrantinnen besser informieren

4.4.1.

Um eine bessere Kenntnis von der Aufnahmegesellschaft und ihres Arbeitsmarktes zu bekommen, müssen die Migrantinnen Zugang zu mehrsprachigen Informationen über ihre Rechte und die bestehenden Dienstleistungen in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und den Migrantennetzwerken erhalten, deren Beitrag anerkannt und unterstützt werden muss.

4.5.   Das Erlernen der Sprachen der Aufnahmeländer erleichtern

4.5.1.

Integration und Zugang zur Beschäftigung erfolgen zunächst über den Zugang zur Sprache des Aufnahmelandes. Unzureichende Sprachkenntnisse fördern die Isolation der Frauen, hindern sie an der Kenntnis ihrer Rechte, am Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und wirken sich negativ auf die Integration ihrer Kinder aus. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund schneiden nämlich in der Schule meistens schlechter ab als ihre einheimischen Altersgenossen.

4.5.2.

Die öffentlichen Stellen müssen den Migrantinnen Sprachkurse anbieten, die in Bezug auf Kosten, Ort und Zeit (vereinbar mit Kleinkindern zuhause) zugänglich sind. Inhaltlich sollten die Kurse bei der Arbeitssuche und den Kontakten mit den öffentlichen Behörden hilfreich sein.

4.6.   Die Qualifikationen anerkennen und der Dequalifizierung vorbeugen

4.6.1.

Die Berufsprofile von Migrantinnen sind unterschiedlich, und die politischen Maßnahmen müssen diesen Unterschieden Rechnung tragen. Einige Migrantinnen habe ein geringes Bildungsniveau und wenig Erfahrung, während andere einen Hochschulabschluss und lange Berufserfahrung mitbringen.

4.6.2.

Die größte Schwierigkeit besteht für die meisten darin, diese im Ausland erworbenen Qualifikationen und Erfahrungen anerkennen zu lassen. Das ist paradox, weil Europa in vielen Branchen Fachkräfte dringend benötigt. Die mitunter lange Wartefrist für die Anerkennung der Diplome kann entmutigen, einen Wissensverlust bedingen und diese Frauen dazu bewegen, Arbeiten anzunehmen, für die sie überqualifiziert sind. Arbeitslose oder überqualifizierte Migrantinnen sind schlecht eingesetzte Ressourcen und eine Arbeitskraftverschwendung.

4.6.3.

Es müssten Dienste eingerichtet werden, um die Anerkennung von im Herkunftsland erworbenen Qualifikationen zu ermöglichen. Die Sozialpartner spielen im Rahmen der Tarifvereinbarungen ebenfalls eine wichtige Rolle für die erleichterte Anerkennung dieser Qualifikationen.

4.6.4.

Einige Branchen wie Reinigung, Kinderbetreuung, Altenpflege, Hotels und Gaststätten, Landwirtschaft oder die Sozialwirtschaft können geringqualifizierten Migrantinnen als Angestellte oder Selbstständige Beschäftigungschancen bieten. Gleichwohl müssen diese Branchen professionalisiert und aufgewertet, die Frauen für diese Berufe ausgebildet und der wichtige Beitrag der Arbeitnehmerinnen in diesen Branchen anerkannt werden, damit die Arbeit in diesen Bereichen für die Einheimischen ebenso wie für die Migrantinnen vorteilhaft ist.

4.6.5.

Eine derartige Arbeit kann auch vorübergehend sein. Deshalb ist es wichtig, während der Zeit, in der die Frauen in diesen Branchen arbeiten, Schulungen anzubieten, damit sie sich beruflich weiterentwickeln oder umorientieren können.

4.6.6.   Der besondere Fall der Arbeit in Privathaushalten

4.6.6.1.

Auch wenn nicht alle Migrantinnen in diesem Wirtschaftszweig arbeiten, so steuern sie diesen doch häufig zunächst einmal an: einerseits, weil die Nachfrage groß ist, und andererseits, weil man hier ohne Papiere arbeiten kann.

4.6.6.2.

Diese Frauen stecken in einer Zwickmühle: Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als schutzlos in der Schattenwirtschaft zu arbeiten. Sie haben keinen Zugang zur Legalisierung und zu einer Aufenthaltserlaubnis, weil sie keinen Arbeitsnachweis erbringen können. Somit sind sie in einer sehr prekären Lage, stehen den zahlreichen Arbeitgebern alleine gegenüber oder wohnen bei einem einzigen Arbeitgeber.

4.6.6.3.

Einige Mitgliedstaaten haben Maßnahmen ergriffen, um diese Schwarzarbeit zu legalisieren (steuerliche Beihilfen in Schweden, Dienstleistungsbons in Belgien, Dienstleistungsschecks in Frankreich ...), mit denen die Anmeldung für die Arbeitgeber erleichtert wird und die Arbeitnehmer Zugang zu den sozialen Rechten bekommen und ihre berufliche Tätigkeit nachweisen können, was somit den Weg zur Regularisierung ihres Aufenthalts ebnet.

4.6.6.4.

Die Mitgliedstaaten sollten das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) Nr. 189 (11) ratifizieren, mit dem Hausangestellten die gleichen Rechte gewährt werden, über die andere Arbeitnehmer verfügen, und diese Branche strukturieren, wie es der EWSA in seiner Stellungnahme „Entwicklung von Familiendienstleistungen zur Förderung der Beschäftigungsquote und der Geschlechtergleichstellung im Beruf“ (12) empfiehlt.

4.7.   Selbstständigkeit und Unternehmertum unterstützen

4.7.1.

Studien zeigen, dass Innovations- und Unternehmergeist bei Migranten größer ist als bei Einheimischen. In vielen Ländern nehmen sie den Status des Einzelunternehmers an oder gründen neue Unternehmen, in denen sie häufig andere Migranten beschäftigen. Der Ausschuss hat sich in einer Stellungnahme mit dem „Beitrag von Unternehmern mit Migrationshintergrund zur Wirtschaft der EU“ befasst (13).

4.7.2.

Damit sie erfolgreicher sind, brauchen diese Unternehmer Unterstützung, d. h. sie müssen Zugang zu Finanzierungen haben, lernen, Geschäftspläne aufzustellen, und das wirtschaftliche Umfeld des Gastlandes kennen. Spezifische Initiativen zur Unterstützung von Unternehmerinnen müssen entwickelt werden, wobei dem sozialen Unternehmertum besonderes Augenmerk zu schenken ist.

4.7.3.

Migrantinnen müssen auch die Möglichkeit des Sponsoring durch erfahrenere Unternehmer erhalten, während die Netze selbstständiger Migrantinnen unterstützt werden müssen. Die unternehmerische Bildung muss ebenfalls Migrantinnen angeboten und in enger Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern und der organisierten Zivilgesellschaft organisiert werden.

4.8.   Das Image der Migrantinnen verbessern

4.8.1.

Während die Zuwanderung selbstständiger und häufig qualifizierter Frauen zunimmt, ändert sich das soziale Bild der Migrantin als Opfer einer Kultur, die den Rechten der Frau nur wenig Platz einräumt, nur sehr schleppend. Ein positiveres Bild der Migrantinnen ist dringend erforderlich und könnte in den Migrantengemeinden als Modell fungieren. Informationskampagnen wären in diesem Zusammenhang sicher hilfreich.

4.9.   Die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Ebenen verbessern

4.9.1.

Integration kann nur gelingen, wenn sie auf der Partnerschaft zwischen allen beteiligten Akteuren, wie den europäischen Organen, den Mitgliedstaaten und den nationalen, regionalen und lokalen Akteuren, aufbaut.

4.9.2.

Die organisierte Zivilgesellschaft und insbesondere die Migrantinnenverbände müssen in allen Phasen der Politikgestaltung im Bereich der Integration von Migrantinnen in den Arbeitsmarkt einbezogen werden. Sie können nämlich dank ihrer Kenntnis der realen Lebensbedingungen von Migrantinnen einen echten Mehrwert bringen. Dadurch kann auch ein gemeinsames Verantwortungsgefühl geschaffen werden, das sich seinerseits positiv auf die gesellschaftliche Akzeptanz und die reibungslose Umsetzung der politischen Maßnahmen auswirkt.

5.   Schlussfolgerung

5.1.

Die Teilhabe am Arbeitsmarkt ist eines der wirksamsten und konkretesten Mittel zur sozialen Integration. Migrantinnen brauchen Unterstützung und müssen in ihrem Integrationsprozess begleitet werden. Sie müssen über ihre Rechte und Pflichten in der Aufnahmegesellschaft informiert werden, Zugang zu Bildung haben, ihre Kompetenzen honoriert bekommen und für den Beitrag, den sie zur Volkswirtschaft und der europäischen Gesellschaft leisten, Anerkennung erhalten.

Brüssel, den 21. Januar 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009.

(2)  Richtlinie 2014/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014.

(3)  Vorschlag für eine Richtlinie COM(2013) 151 final.

(4)  Die jüngsten Stellungnahmen des EWSA: ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 96; ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 16; ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 16; ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 131; ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 6; ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 16; ABl. C 347 vom 18.12.2010, S. 19; ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 29; ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 95 sowie der Informationsbericht zum Thema „Die neuen Herausforderungen auf dem Gebiet der Integration“, SOC/376.

(5)  COM(2011) 455 final.

(6)  Europäischer Rat von Tampere (1999), Den Haag (2004) und Stockholm (2009).

(7)  Richtlinie 2009/50/EG (ABl. L 155 vom 18.6.2009, S. 17).

(8)  Richtlinie 2003/86/EG (ABl. L 251 vom 3.10.2003, S. 12).

(9)  Bericht über den Gleichstellungsindex, Europäisches Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE), 2013, S. 21.

(10)  http://epp.eurostat.ec.europa.eu/statistics_explained/index.php/Gender_pay_gap_statistics

(11)  ILO-Übereinkommen Nr. 189, gültig seit dem 5. September 2013.

(12)  ABl. C 12 vom 15.1.2015, S. 16.

(13)  ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 16.


23.7.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 242/15


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Jagd nach Agrarland — ein Alarmsignal für Europa und eine Bedrohung für bäuerliche Familienbetriebe

(Initiativstellungnahme)

(2015/C 242/03)

Berichterstatter:

Kaul NURM

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 20. Januar 2014, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Jagd nach Agrarland — ein Alarmsignal für Europa und eine Bedrohung für bäuerliche Familienbetriebe“ (Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 8. Januar 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 504. Plenartagung am 21./22. Januar 2015 (Sitzung vom 21. Januar) mit 209 gegen 5 Stimmen bei 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

In dieser Stellungnahme wird das weltweit und in der EU auftretende Problem der Jagd nach Agrarland (Land Grabbing) einschließlich der Landkonzentration behandelt, das eine Bedrohung für bäuerliche Familienbetriebe darstellt.

1.2.

Agrarland ist die Grundlage für die Lebensmittelerzeugung und damit auch die Voraussetzung für die Gewährleistung der Ernährungssicherheit gemäß Artikel 11 des Internationalen Pakts der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie gemäß Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

1.3.

Die Jagd nach Agrarland wird durch folgende Faktoren ausgelöst: die zunehmend globalisierte Welt und die hiermit einhergehenden Grundsätze des freien Kapitalverkehrs, das Bevölkerungswachstum und die Verstädterung, die stetig steigende Nachfrage nach Nahrungsmitteln und Bioenergie, die steigende Nachfrage nach natürlichen Rohstoffen, die Schattenseiten der Agrar- und Umweltpolitik sowie die Möglichkeit, mit dem Wertzuwachs des Agrarlands spekulieren zu können.

1.4.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) sieht die ernste Gefahr, die von der starken Landkonzentration in den Händen nicht landwirtschaftlicher Großinvestoren und landwirtschaftlicher Großbetriebe — auch in Teilen der Europäischen Union — ausgeht. Sie läuft dem europäischen Modell einer nachhaltigen, multifunktionalen und weithin von Familienbetrieben geprägten Landwirtschaft zuwider und gefährdet die Umsetzung der in Artikel 39 und 191 AEUV formulierten Ziele. Sie steht im Widerspruch zum agrarstrukturellen Ziel einer breiten Eigentumsstreuung, führt zu einer irreversiblen Schädigung der Wirtschaftsstrukturen auf dem Lande und zu einer von der Gesellschaft nicht gewünschten industrialisierten Landwirtschaft.

1.5.

Infolge der industriell betriebenen Landwirtschaft verschärfen sich die mit der Lebensmittelsicherheit und der Bodenverarmung verbundenen Risiken, und die Ernährungssicherheit nimmt ab.

1.6.

Der landwirtschaftliche Familienbetrieb erfüllt neben der Erzeugung von Nahrungsmitteln noch weitere wichtige Funktionen in der Gesellschaft und für die Umwelt, was das industrielle, von Großunternehmen dominierte Agrarmodell nicht bieten kann. Damit die familienbetriebene Landwirtschaft eine lebensfähige Alternative zur industriell betriebenen Agrarwirtschaft und zur Jagd nach Agrarland als eine ihrer Ausprägungen sein kann, müssen aktive Maßnahmen zum Schutz bäuerlicher Familienbetriebe ergriffen werden.

1.7.

Land ist keine gewöhnliche Handelsware, von der sich einfach mehr produzieren ließe. Land ist eine endliche Ressource, weswegen hier nicht die üblichen Regeln des Markts gelten sollten. Die Eigentumsverhältnisse in Bezug auf Land und die Flächennutzung müssen stärker als bisher reguliert werden. Aufgrund der erkannten Fehlentwicklungen hält der EWSA sowohl auf Ebene der Mitgliedstaaten und der EU die Formulierung eines eindeutigen agrarstrukturellen Leitbildes für erforderlich. Daraus gilt es die Konsequenzen für die Landnutzung und das Bodenrecht zu ziehen.

1.8.

Der Markt für Agrarland ist in den Mitgliedstaaten der EU sehr unterschiedlich reguliert. Während es in manchen Staaten Beschränkungen gibt, fehlen diese in anderen Staaten, wodurch Ungleichheit zwischen den Mitgliedstaaten entsteht.

1.9.

Die Bodenpolitik fällt zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch wird sie durch den in den Verträgen festgeschriebenen Grundsatz des freien Kapital- und Warenverkehrs gewissen Beschränkungen unterworfen. Daher ersucht der EWSA das Europäische Parlament und den Rat, gemeinsam Überlegungen darüber anzustellen, ob der freie Kapitalverkehr auch in Bezug auf die Veräußerung und den Erwerb von Landwirtschaftsflächen und Agrarbetrieben gewährleistet sein muss — insbesondere mit Blick auf Drittstaaten, aber auch innerhalb der EU.

1.10.

Der EWSA ruft die Mitgliedstaaten dazu auf, die Bodennutzung dahin gehend zu lenken, dass die vorhandenen Möglichkeiten wie Steuern, Beihilfen und GAP-Mittel ausgeschöpft werden, um das auf bäuerlichen Familienbetrieben beruhende Landwirtschaftsmodell auf dem gesamten Gebiet der EU zu bewahren.

1.11.

Es muss den Mitgliedstaaten gestattet werden, Obergrenzen für den Erwerb von Agrarland festzulegen und ein System für Vorkaufsrechte für diejenigen zu schaffen, deren Landbesitz unterhalb dieser Obergrenze liegt.

1.12.

Der EWSA ruft die Europäische Kommission und das Parlament dazu auf, auf Grundlage eines einheitlichen Verfahrens umfassende Untersuchungen über die Folgen der in den verschiedenen Staaten angewendeten politischen Maßnahmen (Beihilfen und Beschränkungen) bezüglich der Konzentration von Agrarflächen und der landwirtschaftlichen Erzeugung durchzuführen. Gleichzeitig müssten die Risiken der Landkonzentration für die Bereiche Ernährungssicherheit, Beschäftigung, Umwelt, Bodenqualität und ländliche Entwicklung untersucht werden.

1.13.

Der EWSA fordert alle EU-Mitgliedstaaten auf, die Freiwilligen Leitlinien für die verantwortungsvolle Verwaltung von Boden- und Landnutzungsrechten (VGGT) anzuwenden und der Europäischen Kommission und der Welternährungsorganisation über den Einsatz und die Anwendung dieser Leitlinien in ihrer Landnutzungspolitik Bericht zu erstatten.

1.14.

Es muss eine Politik verfolgt werden, die nicht zu einer Landkonzentration, sondern zu einem Übergang von der industriellen Erzeugung zu kleineren Erzeugungseinheiten führt, indem das Modell des bäuerlichen Familienbetriebs gestärkt wird, was auch der Nahrungsmittelautarkie zuträglich wäre.

1.15.

Der EWSA wird auch künftig die Entwicklung der Landkonzentration aufmerksam verfolgen, deren Folgen untersuchen und sich an der Ausarbeitung von Vorschlägen für ihre Eindämmung beteiligen.

2.   Die weltweite Jagd nach Agrarland — der allgemeine Kontext

2.1.

In dieser Stellungnahme werden die Probleme der Jagd nach Agrarland (Land Grabbing) und der Landkonzentration behandelt, deren Folgen eine Bedrohung für die Existenz bäuerlicher Familienbetriebe darstellen.

2.2.

Eine international anerkannte, einheitliche Definition des Begriffs „Jagd nach Agrarland“ existiert nicht. Unter der Jagd nach Agrarland versteht man im Allgemeinen den Prozess des Aufkaufs landwirtschaftlicher Nutzflächen in großem Maßstab, ohne zuvor die lokale Bevölkerung anzuhören oder ihre Zustimmung einzuholen. Im Endergebnis führt sie dazu, dass die Möglichkeiten der lokalen Bevölkerung, selbstständig einen landwirtschaftlichen Betrieb zu führen und die Lebensmittelversorgung zu sichern, beeinträchtigt werden. Auch das Recht auf die Nutzung der Ressourcen (Land, Wasser, Wald) und der Gewinn aus deren Nutzung liegen beim Eigentümer. Eine mögliche Begleiterscheinung ist, dass die bisherige landwirtschaftliche Nutzung zugunsten anderer, außerlandwirtschaftlicher Tätigkeiten aufgegeben wird.

2.3.

Die landwirtschaftlichen Nutzflächen und der Zugang zu Wasser sind die Grundlagen für die Lebensmittelerzeugung. Der Selbstversorgungsgrad der Länder mit Nahrungsmitteln hängt von verschiedenen Faktoren ab, grundlegende Voraussetzungen sind jedoch das Vorhandensein ausreichender landwirtschaftlicher Nutzflächen und das Recht der Staaten, die Eigentums- und Nutzungsverhältnisse von Agrarflächen zu regeln.

2.4.

Durchschnittlich kommen auf jeden Menschen auf der Erde etwa 2  000 m2 landwirtschaftliche Nutzfläche. Die für die Landwirtschaft geeigneten Flächen sind in den einzelnen Ländern weltweit sehr unterschiedlich auf die Bewohner verteilt, weswegen einige Länder versuchen, für ihre landwirtschaftliche Erzeugung geeignete Flächen durch Landaufkäufe in anderen Ländern zu vergrößern.

2.5.

Die Jagd nach Agrarland wird durch folgende Faktoren begünstigt:

2.5.1.

die zunehmende Globalisierung und die mit ihr einhergehenden Grundsätze des freien Kapitalverkehrs;

2.5.2.

das Bevölkerungswachstum und die Verstädterung;

2.5.3.

den kontinuierlichen Anstieg der Nachfrage nach Lebensmitteln;

2.5.4.

die steigende Nachfrage nach Bioenergie;

2.5.5.

die steigende Nachfrage nach natürlichen Rohstoffen (Fasern und andere Holzprodukte);

2.5.6.

die Schattenseiten der Agrar- und Umweltpolitik;

2.5.7.

die Möglichkeit der Spekulation mit Nahrungsmitteln auf dem Weltmarkt oder zumindest auf dem europäischen Markt;

2.5.8.

die Möglichkeit, mit dem Wertzuwachs des Agrarlands und künftigen Beihilfen spekulieren zu können;

2.5.9.

das Streben von Großinvestoren, das in der Folge der Finanzkrise von 2008 freigesetzte Kapital in Agrarland als sicherere Geldanlage zu investieren.

2.6.

Diese Jagd nach landwirtschaftlichen Nutzflächen findet in großem Umfang in Afrika, Südamerika und in anderen Gebieten statt — auch in den Regionen Europas, in denen das Land im Vergleich zu den entwickelten Ländern und dem weltweiten Durchschnitt vergleichsweise billig ist.

2.7.

Es ist schwer, zuverlässige Daten über das Ausmaß der Jagd nach Agrarland zu erhalten, da nicht alle Geschäfte mit Land registriert werden und Landtransaktionen juristischer Personen untereinander häufig nicht besonders transparent sind, wie beispielsweise im Falle des Landaufkaufs über Tochter- und Partnerunternehmen. Einige Nichtregierungsorganisationen und Forschungsinstitute haben jedoch einschlägige Untersuchungen durchgeführt. Demnach erstreckte sich das Land Grabbing in den Jahren 2008-2009 nach Schätzungen der Weltbank weltweit auf eine Fläche von 45 Mio. Hektar. In einem Bericht von Land Matrix (1) wird beschrieben, wie in 1  217 groß angelegten Geschäften in den Entwicklungsländern insgesamt 83,2 Mio. Hektar Agrarland veräußert wurden, also 1,7 % der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche weltweit.

2.8.

Am umfangreichsten wurde Agrarland in Afrika aufgekauft (56,2 Mio. Hektar bzw. 4,8 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche Afrikas), gefolgt von Asien (17,7 Mio. Hektar) und Lateinamerika (7 Mio. Hektar). Bevorzugt wurden dabei stets Flächen, die gut gelegen und zugänglich sind, eine Wasserversorgung haben, sich für den Anbau von Getreide und Gemüse eignen und hohe Ernteerträge versprechen. Investoren interessieren sich auch für Waldgebiete. Die Investoren kommen in erster Linie aus China, Indien, Korea, Ägypten, den Golfstaaten, Brasilien und Südafrika, aber auch aus den USA und den EU-Mitgliedstaaten. Länder mit hohen Bodenpreisen interessieren die Aufkäufer nicht. In diesen Ländern kommt es eher zur Konzentration von Landbesitz, wenn landwirtschaftliche Großbetriebe das Land der Kleinerzeuger aufkaufen.

2.9.

Dem Bericht der Madariaga-Stiftung (2) vom 10. Juli 2013 zufolge haben einige EU-Politikbereiche direkte oder indirekte Auswirkungen auf das Land Grabbing in der EU und weltweit, z. B. die Bioökonomie-, die Handels- und die Agrarpolitik. Auch die liberalistische Bodenpolitik und der allgemein anerkannte Grundsatz des freien Kapital- und Warenverkehrs spielen hier hinein.

2.10.

In erster Linie werden die von der EU aufgestellte Forderung nach einem höheren Anteil an Biokraftstoffen und die Ermöglichung des zoll- und quotenfreien Zuckerhandels genannt, die als Auslöser hinter einigen mit der Jagd nach Agrarland verbundenen Projekten in Asien und Afrika stehen.

3.   Land Grabbing und Landkonzentration in Europa

3.1.

Europa ist in die globalen Prozesse eingebettet, und deshalb vollziehen sich diese Prozesse auch innerhalb Europas, in einigen Gegenden augenfällig, in anderen eher schleichend. Die Jagd nach Agrarland findet vor allem in den Ländern Ost- und Mitteleuropas statt.

3.2.

Neben dem klassischen Landerwerb findet eine Übernahme der Kontrolle über die Anbauflächen auch dadurch statt, dass Unternehmen mit Landbesitz oder entsprechenden Pachtverträgen aufgekauft werden oder versucht wird, Anteile an derartigen Unternehmen zu erwerben. Dies führt dazu, dass sich der Landbesitz immer stärker auf eine geringere Zahl von Großbetrieben konzentriert und in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern eine industriell geprägte Landwirtschaft vorherrscht.

3.3.

Während die Agrarfläche in Europa insgesamt schrumpft, konzentriert sich ein immer größerer Landbesitz in der Hand einzelner großer Unternehmen. Ein Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe kontrolliert 20 % des Agrarlands in der Europäischen Union. Drei Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe kontrollieren 50 % des Agrarlands in der Europäischen Union. Auf der anderen Seite kontrollieren 80 % der landwirtschaftlichen Betriebe lediglich 14,5 % des Agrarlands.

3.4.

In Europa lässt sich ein Zusammenhang zwischen der abnehmenden Zahl landwirtschaftlicher Produktionseinheiten und der sinkenden Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten feststellen. So nahm beispielsweise in den Jahren 2005-2010 in den osteuropäischen Ländern, insbesondere in den baltischen Staaten (Estland, Lettland und Litauen), die Zahl der Produktionseinheiten am stärksten ab, und parallel dazu sank in dieser Region auch der Arbeitskräftebedarf am stärksten (in Bulgarien und Rumänien um 8,9 % pro Jahr und in den baltischen Staaten um 8,3 % pro Jahr). In Irland und in Malta ist die Zahl der Landwirtschaftsbetriebe hingegen angestiegen, und damit auch die Nachfrage nach Arbeitskräften in der Landwirtschaft.

3.5.

Für die Landaufkäufe und die Konzentration von Landbesitz sind im Wesentlichen drei Kategorien von Investoren verantwortlich: Investoren aus Drittländern, der EU und dem Land selber.

3.6.

Den gründlichsten Überblick über die Konzentration von Landbesitz in Europa, auch in der Europäischen Union, bietet der Bericht „Concentration, land grabbing and people’s struggles in Europe“  (3), den Via Campesina und das Netz Hands off the Land im April 2013 vorgelegt haben. Diesem Bericht zufolge ist derzeit in der Europäischen Union ein schleichender Prozess der Jagd nach Agrarland und der Konzentration von Landbesitz im Gange, der sich auf die Menschenrechte und insbesondere auf das Recht auf angemessene Nahrung auswirkt. Die größten Ausmaße hat die Jagd nach Agrarland in Ungarn und Rumänien gehabt. Dieser Prozess ist aber auch in anderen mittel- und osteuropäischen Staaten zu beobachten.

3.6.1.

Nach Angaben verschiedener Quellen sind in Rumänien nunmehr bis zu 10 % der Agrarflächen in den Händen von Investoren aus Drittländern, und weitere 20-30 % werden von Investoren aus der EU kontrolliert. In Ungarn sind durch Geheimverträge eine Million Hektar Land unter die Kontrolle von Kapital vorwiegend aus den EU-Mitgliedstaaten geraten. Obwohl es Ausländern in Polen bis Mai 2016 verboten ist, Land zu erwerben, ist bekannt, dass ausländische Unternehmer vor allem aus den EU-Ländern bereits 2 00  000 Hektar Land aufgekauft haben. Im französischen Bordeaux-Gebiet haben Chinesen ca. 100 Weingüter aufgekauft. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden auf dem Gebiet der ehemaligen DDR die landwirtschaftlichen Produktgenossenschaften aufgelöst, und es entstanden sowohl landwirtschaftliche Familienbetriebe wie auch juristische Personen. Inzwischen mehren sich die Hinweise, dass die juristischen Personen besonders anfällig für außerlandwirtschaftliche Investoren und Kapitalgeber sind.

3.7.

Die folgenden Beispiele lassen den Umfang dieser Konzentration in den Betrieben erahnen: In Rumänien bewirtschaftet der größte Landwirtschaftsbetrieb ca. 65  000 Hektar Land, in Deutschland 38  000 Hektar. Der größte Milchviehbetrieb in Estland hat 2  200 Kühe und soll sogar noch bis auf 3  300 Tiere aufgestockt werden.

3.8.

Ein Grund für die Landkonzentration in Europa ist die einheitliche Flächenzahlung im Rahmen der ersten Säule der GAP, da sie Großerzeugern eine größere finanzielle Durchschlagskraft und somit Vorteile und mehr freies Kapital für Landzukäufe verschafft. In den Ländern der EU-15 wird hauptsächlich die Betriebsprämie und in denen der EU-12 hauptsächlich die einheitliche Flächenzahlung angewandt. Zugleich schreitet die Landkonzentration in der EU-15 erheblich langsamer voran als in der EU-12.

3.9.

Die Konzentration von Agrarland führt ihrerseits zu einer Konzentration der GAP-Beihilfen. 2009 erhielten 2 % der landwirtschaftlichen Familienbetriebe 32 % der GAP-Zahlungen. Dabei gibt es Unterschiede zwischen den westeuropäischen und den osteuropäischen Ländern. So erhielten beispielsweise 2009 landwirtschaftliche Großbetriebe, die in Bulgarien insgesamt 2,8 % aller Betriebe ausmachen, 66,6 % der Beihilfen. Die entsprechenden Zahlen für Estland sind 3 % und 53 %, in Dänemark liegen sie hingegen bei 3 % und 25 % und in Österreich bei 5,5 % und 25 %.

4.   Folgen der Jagd nach landwirtschaftlichen Nutzflächen

4.1.

In den Staaten, in denen Landkonzentration und Landaufkäufe stattfinden, wird das durch landwirtschaftliche Familienbetriebe geprägte multifunktionale europäische Landwirtschaftsmodell durch eine industrielle landwirtschaftliche Großerzeugung verdrängt.

4.2.

Aus den vorliegenden Untersuchungen geht hervor, dass die auf dem aufgekauften Agrarland erzeugten Nahrungsmittel und Rohstoffpflanzen überwiegend in die Länder exportiert werden, aus denen die Investitionen stammen. Lediglich ein Bruchteil dieser Erzeugnisse ist für den heimischen Markt bestimmt. Je nach Ausmaß der Jagd nach Agrarland verschlechtert sich die einheimische Ernährungssicherheit entsprechend.

4.3.

Die Jagd nach Agrarland und die Konzentration von Landbesitz führen dazu, dass die landwirtschaftlichen Betriebe, die die Flächen bislang genutzt haben, verdrängt werden. Die Folge davon ist der Verlust von Arbeits- und Lebensmöglichkeiten in den ländlichen Gebieten. Dieser Prozess ist in der Regel irreversibel, da es für Kleinerzeuger oder auch für neue Betriebe (und Jungbauern) sehr schwer ist, Land zu erwerben und in diesem Wirtschaftsbereich Fuß zu fassen, wenn sie nicht über ausreichend Kapital verfügen.

4.4.

Obwohl die Weltbank sich bemüht hat, auf die positive Seite der Jagd nach Agrarland wie beispielsweise Effizienzgewinn, Innovation und Entwicklung hinzuweisen, kritisieren zahlreiche Organisationen der Zivilgesellschaft und Bewegungen das Land Grabbing. Ihrer Ansicht nach führt es zu Umweltschäden, Bodenverschlechterung und einem Rückgang der Lebensmöglichkeiten in den ländlichen Gebieten, und anstelle einer nachhaltigen Landwirtschaft entwickelt sich eine auf Monokulturen beruhende riesige Agrarindustrie.

4.5.

Die Jagd nach Agrarland wirkt sich negativ auf die Entwicklung der ländlichen Gemeinschaft aus. Die negative Seite des großflächigen Anbaus ist der Anstieg der Arbeitslosigkeit in den ländlichen Gebieten, was soziale Kosten nach sich zieht.

4.6.

Willis Peterson, Forscher an der Universität Minnesota, behauptet sogar, dass kleine landwirtschaftliche Familienbetriebe mindestens ebenso effizient sind wie landwirtschaftliche Großunternehmen. Auch die Behauptung, dass eine Konzentration der Landflächen zu größeren Erträgen führt, entspricht nicht den Tatsachen (4). Daten der FAO belegen das Gegenteil, da weltweit 90 % der landwirtschaftlichen Betriebe bäuerliche Familienbetriebe sind, die 75 % der landwirtschaftlichen Flächen bewirtschaften und weltweit 80 % der Nahrungsmittel erzeugen.

4.7.

Ein mahnendes Beispiel für die Folgen von Landaufkäufen ist Schottland, wo vor 200 Jahren eine Fläche von der Größe Hollands in Landeinheiten von einer Größe zwischen 8  000 und 20  000 Hektar aufgeteilt und an Investoren verkauft wurde. In diesem Gebiet lebten 1,5 Millionen bis 2 Millionen Menschen. Bis heute ist dieses Gebiet aufgrund der industriell betriebenen Landwirtschaft entvölkert. Das schottische Parlament beschäftigt sich derzeit mit der Neubesiedlung dieses Gebiets, was jedoch erheblich teurer sein wird, als wenn das auf kleineren Betrieben beruhende Agrarmodell erhalten worden wäre.

5.   Die Bedeutung der bäuerlichen Familienbetriebe für die Gesellschaft und die Ernährungssicherheit

5.1.

Der EWSA hat mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, dass die Vereinten Nationen das Jahr 2014 zum Jahr der familienbetriebenen Landwirtschaft ausgerufen haben. Er hat sich verschiedentlich daran beteiligt, die strategische Bedeutung von Familienbetrieben für die Ernährungssicherheit und die Entwicklung des ländlichen Raums zu betonen und stärker in die gesellschaftliche Diskussion zu tragen.

5.2.

Da es bislang weder international noch innerhalb der Europäischen Union eine allgemein anerkannte Definition des bäuerlichen Familienbetriebs gibt, ruft der EWSA die Europäische Kommission, das Parlament und den Rat auf, diesen Begriff festzulegen. Der EWSA schlägt folgende Merkmale vor, die ein landwirtschaftlicher Betrieb erfüllen muss, um als bäuerlicher Familienbetrieb zu gelten:

5.2.1.

Betriebliche Beschlüsse werden von den Familienmitgliedern getroffen.

5.2.2.

Der wesentliche Teil der Hofarbeiten wird von Familienmitgliedern verrichtet.

5.2.3.

Sowohl der Besitz als auch der größte Teil des Kapitals gehören der Familie, oder das Land gehört einer örtlichen Gemeinschaft.

5.2.4.

Auch die Kontrolle über die Bewirtschaftung des Betriebes liegt in den Händen der Familie.

5.2.5.

Der Betrieb wird innerhalb der Familie von einer Generation an die nächste weitergegeben.

5.2.6.

Die Familie lebt auf dem zum landwirtschaftlichen Betrieb gehörenden eigenen Grund und Boden oder in der Nähe.

5.3.

Das gesellschaftlich und ökologisch adäquate, auf Familienbetrieben beruhende Leben und Arbeiten auf dem Lande und in der Landwirtschaft kann in den meisten Regionen der Erde auf eine jahrtausendealte Tradition zurückblicken. Wo Rechtssicherheit und politische Verlässlichkeit gegeben sind, haben sich weltweit die bäuerlichen Familienbetriebe gegenüber anderen Agrarsystemen als stabil bzw. überlegen erwiesen.

5.4.

Der landwirtschaftliche Familienbetrieb erfüllt neben der Erzeugung von Nahrungsmitteln noch weitere nützliche Funktionen in der Gesellschaft, die das industrielle, von Großunternehmen dominierte, auf abhängigen Beschäftigten beruhende Agrarmodell nicht bieten kann.

5.4.1.

Bäuerliche Familienbetriebe wie auch Agrargenossenschaften spielen eine aktive Rolle im Wirtschaftsgefüge der ländlichen Gebiete. Für ihre Stabilität und Flexibilität ist die Mitgliedschaft in genossenschaftlichen und berufsständischen Organisationen von erheblicher Bedeutung. Die bäuerlichen Familienbetriebe bewahren das kulturelle Erbe und das ländliche Leben, sie bilden den Kern des gesellschaftlichen Lebens auf dem Land, sie erzeugen hochwertige Produkte, sie gehen nachhaltig mit den natürlichen Ressourcen um und sorgen für eine breite Streuung des Eigentums in den ländlichen Gebieten.

5.4.2.

Bäuerliche Familienbetriebe beklagen nicht den Mangel an Arbeitsplätzen, sie schaffen diese selbst und sind offen für Innovation.

5.4.3.

Der Bauernhof bietet Kindern ein ideales Umfeld, wo erforderliches Wissen und Fähigkeiten von Generation zu Generation weitergegeben werden können, was die Kontinuität dieser Betriebe sichert.

5.4.4.

Die landwirtschaftliche Erzeugung durch Familienbetriebe ist dadurch gekennzeichnet, dass sie vielgestaltig und dezentral ist. Dadurch wird der Wettbewerb auf dem Markt gewährleistet und die mit der Landkonzentration einhergehenden Risikofaktoren verringert.

5.4.5.

Die Vielzahl der Betriebe ist unter der Perspektive des Fortbestands der Menschheit ein Wert an sich, da diese einer größeren Zahl an Menschen Fähigkeiten und Kenntnisse über die Lebensmittelerzeugung sichert und somit die Grundlagen dafür schafft, dass für das Überleben notwendige Fähigkeiten und Kenntnisse auch in Krisenzeiten vorhanden sind. Damit die familienbetriebene Landwirtschaft eine lebensfähige Alternative zur industriell betriebenen Landwirtschaft und zur Jagd nach Agrarland als eine ihrer Ausprägungen sein kann, müssen aktive Maßnahmen zum Schutz bäuerlicher Familienbetriebe ergriffen werden, u. a. Fördermaßnahmen für Erzeugerorganisationen und Maßnahmen gegen unlautere Handelspraktiken. Politische Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene können dazu beitragen, die familienbetriebene Landwirtschaft nachhaltiger und widerstandsfähiger zu machen (5).

6.   Möglichkeiten zur Regulierung des Marktes für landwirtschaftliche Flächen und zur Vermeidung der Jagd nach Agrarland und der Landkonzentration

6.1.

Land ist die Grundlage für die Lebensmittelerzeugung. Artikel 11 des Internationalen Pakts der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (6) und Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (7) verpflichten die Staaten dazu, das Recht eines jeden, der in ihrem Hoheitsgebiet lebt, auf ausreichende und sichere Ernährung anzuerkennen, und dies ist unmittelbar mit dem Zugang zu Land verbunden.

6.2.

Da es in der EU wenig Erdöl und Erdgas gibt, ist auch die Ernährungssicherheit in der Union gefährdet. Daher müssen eine nachhaltige Landwirtschaft und bäuerliche Familienbetriebe erhalten werden.

6.3.

Land ist keine gewöhnliche Handelsware, von der sich einfach mehr produzieren ließe. Land ist eine endliche Ressource, weswegen hier nicht die üblichen Regeln des Markts gelten sollten. Der EWSA ist der Überzeugung, dass in den Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene eine eingehende Diskussion über ein eindeutiges agrarstrukturelles Leitbild stattfinden muss. Nur auf dieser Grundlage können und müssen die politischen Konsequenzen und Maßnahmen abgeleitet werden. Ein Beispiel hierfür ist die rechtliche Bewertung des Erwerbs von Anteilen landwirtschaftlicher Gesellschaften (sog. „Share Deals“). Die Eigentumsverhältnisse in Bezug auf Land und die Flächennutzung müssen stärker als bisher reguliert werden.

6.4.

Organisationen unterschiedlicher politischer Couleur haben sich mit der Regulierung des Landbesitzes und der Ausarbeitung entsprechender politischer Maßnahmen befasst und darauf verwiesen, dass für diesen Bereich unbedingt eine gute Governance erforderlich ist. Die FAO hat Freiwillige Leitlinien zu diesem Thema erarbeitet: „The Voluntary Guidelines of the Responsible Governance of Tenure of Land, Fisheries and Forestry“ (8). Ziel dieser Leitlinien sind geregelte, sichere Nutzungsrechte, die einen gleichberechtigten Zugang zu den Ressourcen (Land, Fischgründe, Wälder) gewährleisten sollen, um so Hunger und Armut zu verringern, eine nachhaltige Entwicklung zu fördern und die Umwelt zu bereichern. Unctad, FAO, IFAD und die Weltbank haben gemeinsam Grundsätze für verantwortliche Agrarinvestitionen ausgearbeitet (9), in denen Rechte, Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts und Ressourcen anerkannt werden. Die OECD hat einen politischen Rahmen für Agrarinvestitionen herausgegeben (Policy Framework for Investment in Agriculture — PFIA) (10). Dadurch soll den Staaten eine Orientierungshilfe bei der Ausarbeitung politischer Maßnahmen für Anreize zu privaten Agrarinvestitionen an die Hand gegeben werden.

6.5.

Der EWSA hält die Leitlinien der FAO/UNO zu Landnutzungsrechten für Bauern für einen Meilenstein und fordert eine entschiedene und genaue Umsetzung in allen Staaten. Unklare Eigentumsrechte sind ein Indiz für „schlechtes Regieren“ und umgekehrt ein Anreiz für die Jagd nach Agrarland.

6.6.

In dem von Factor Markets 2012 veröffentlichten Dokument (11) werden die Rechtsbestimmungen für Landverkäufe in den EU-Mitgliedstaaten und den Kandidatenländern untersucht. Hieraus geht hervor, dass eine Reihe von Mitgliedstaaten eigene Rechtsbestimmungen haben, um forcierte Landkonzentrationen und den Aufkauf von Land durch Ausländer zu verhindern, z. B. durch die Einräumung von Vorkaufsrechten. In manchen Staaten müssen sämtliche Transaktionen landwirtschaftlicher Flächen unabhängig von dem Herkunftsland des Käufers behördlich bestätigt werden. Dies ist beispielsweise in Frankreich, Deutschland und Schweden üblich. Ferner gibt es Staaten (Ungarn und Litauen), in denen eine Obergrenze für die landwirtschaftliche Nutzfläche festgelegt wurde, die ein einzelner Besitzer haben darf.

6.6.1.

In Frankreich liegt die Kontrolle über Landtransaktionen in der Hand regionaler Landgesellschaften (Sociétés d’Aménagement Foncier et d’Etablissement Rural, SAFER). SAFER ist eine Behörde, deren Aufgabe darin besteht, landwirtschaftlichen Erzeugern, und hier vor allem Junglandwirten, bei der Neuordnung von Besitzverhältnissen zur Seite zu stehen und die Transparenz des Marktes für landwirtschaftliche Flächen zu sichern.

6.6.2.

In Schweden ist in dünn besiedelten Gebieten der Landerwerb genehmigungspflichtig. Für die Erteilung einer Genehmigung wird auch auf die Ausbildung bzw. frühere Erfahrungen geschaut, und manchmal wird auch gefordert, dass der Landkäufer auf dem von ihm gekauften Land wohnt. In Schweden können landwirtschaftliche Flächen nur von natürlichen Personen erworben werden.

6.6.3.

In Litauen darf eine juristische Person Land erwerben, wenn sie aus der landwirtschaftlichen Tätigkeit mindestens 50 % ihres gesamten Einkommens bezieht. Einheimische natürliche und juristische Personen dürfen bis zu 500 Hektar Land besitzen.

6.6.4.

In Belgien, Italien und Frankreich haben die Pächter landwirtschaftlicher Flächen bei einer Veräußerung das Vorkaufsrecht.

6.7.

Wie dieser Überblick erkennen lässt, ist der Markt für landwirtschaftliche Nutzflächen in den EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich reguliert. Während es in manchen Staaten Beschränkungen gibt, fehlen diese in anderen Staaten, wodurch eine Ungleichheit zwischen den Mitgliedstaaten entsteht. So ist auch der Beschluss des bulgarischen Parlaments zu verstehen, das ein am 22. Oktober 2013 auslaufendes Moratorium für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen entgegen der Warnung der EU bis zum Jahr 2020 verlängert hat, weil es die unmittelbare Gefährdung der einheimischen Landwirtschaftsflächen erkannte, da in Bulgarien die Preise für Land, aber auch die Kaufkraft der Landwirte bedeutend unter dem Niveau der wohlhabenden Staaten liegen.

6.8.

In der Analyse von Factor Markets aus dem Jahr 2012 (12) wird festgestellt, dass die Dominanz der Großunternehmen auf dem Markt für landwirtschaftliche Flächen auch das normale Funktionieren dieses Marktes beeinträchtigt. Die Großunternehmen, die Land Grabbing betreiben, spielen ihre Macht sowohl auf den lokalen als auch auf den regionalen Märkten für landwirtschaftliche Flächen aus, um die Landpreise und die Bedingungen für Pachtverträge zu beeinflussen.

6.9.

Die Bodenpolitik fällt in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, sie können Beschränkungen für Transaktionen festlegen, wenn die nationale Energie- oder Ernährungssicherheit gefährdet ist und wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an Beschränkungen besteht. Beschränkungen sind zulässig zur Verhinderung von Spekulationen, zum Erhalt lokaler Traditionen und zur Sicherstellung einer angemessenen Landnutzung. Gleichzeitig wird durch solche Beschränkungen der in den Verträgen festgelegte Grundsatz des freien Waren- und Kapitalverkehrs eingeschränkt. Daher ersucht der EWSA das Europäische Parlament und den Rat, zu erörtern, ob der freie Kapitalverkehr in Bezug auf die Veräußerung und den Erwerb von Landwirtschaftsflächen und Agrarbetrieben immer gewährleistet sein muss — vor allem mit Blick auf Drittstaaten, aber auch innerhalb der EU. Diesbezüglich ist zu berücksichtigen, dass die Preise für Landwirtschaftsflächen und die Einkommen der Menschen in den Mitgliedstaaten stark divergieren. Es muss eine Antwort auf die Frage gefunden werden, ob der freie Kapitalverkehr und der freie Markt sämtlichen Bürgern und juristischen Personen gleiche Chancen zum Landerwerb bieten.

6.10.

Nach Auffassung des EWSA müssen den Mitgliedstaaten mit Blick auf die Ernährungssicherheit und andere legitime Zielsetzungen auf der Grundlage eines nachhaltigen Agrarmodells mehr Möglichkeiten gegeben werden, ihren Markt für landwirtschaftliche Flächen zu regulieren und Beschränkungen dafür festzulegen. Gleichzeitig fordert der EWSA alle EU-Mitgliedstaaten auf, alle ihre Möglichkeiten bei der Gestaltung von Rechtsvorschriften auszuschöpfen. Offenkundig mangelt es einigen Ländern an klaren politischen Zielstellungen, oder die Ziele enthalten diskriminierende Ansätze.

6.11.

Wenn das Europäische Parlament und der Rat zu dem Schluss gelangen, dass Beschränkungen des Kapitalverkehrs im Hinblick auf die Ernährungssicherheit begründet sind, muss auch auf internationaler Ebene darüber beraten werden, da der freie Kapitalverkehr durch verschiedene internationale Übereinkommen gewährleistet wird.

6.12.

Die vorhandenen rechtlichen und politischen Möglichkeiten der EU und der Mitgliedstaaten ermöglichen eine Beeinflussung der Flächennutzung über Subventionen oder Steuern. Über einen geschickten Einsatz des Instrumentariums der GAP und über die Bodenpolitik kann dafür gesorgt werden, dass die Erzeugung auch für kleine Landwirtschaftsbetriebe möglich und wirtschaftlich rentabel ist, was wiederum einer Landkonzentration vorbeugen würde.

6.13.

Im Rahmen der reformierten GAP wäre es sicherlich möglich, Obergrenzen einzuführen und die Direktzahlungen so zu lenken, dass die ersten Hektare stärker gewichtet werden, und Investitions- und Direkthilfen für landwirtschaftliche Kleinbetriebe vereinfacht auszuzahlen. Allerdings bezweifelt der EWSA, dass bestehende Beschränkungen großen Einfluss auf die Verhinderung von Landkonzentration haben und ob von diesen Möglichkeiten in denjenigen Mitgliedstaaten ausreichend Gebrauch gemacht wird, in denen die strukturellen Unterschiede der landwirtschaftlichen Betriebe und die Intensität der Landkonzentration am größten sind. Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, diese Möglichkeiten intensiv zu nutzen, und fordert die Institutionen der Europäischen Union auf, einen stärkeren Mechanismus für die Umverteilung der Beihilfen einzuführen.

6.14.

Agrarland ist eine begrenzte natürliche Ressource, weshalb die Jagd nach Agrarland die Umsetzung der in Artikel 39 und 191 AEUV formulierten Ziele gefährdet. Daher appelliert der EWSA an die Europäische Kommission und das Europäische Parlament, sich aktiv mit der Regelung der Bodennutzung (Governance) zu befassen.

6.15.

Der EWSA empfiehlt, in allen EU-Mitgliedstaaten eine Obergrenze für den Erwerb von Landwirtschaftsflächen sowohl für natürliche als auch für juristische Personen einzuführen. Wer unterhalb dieser Obergrenze liegt, sollte ein Vorkaufsrecht erhalten. Die zuständigen Stellen können das Vorkaufsrecht nur für solche Landwirte ausüben, die unterhalb dieser Obergrenze liegen.

6.16.

Die örtlichen Gemeinschaften sollten in den Entscheidungsprozess in Bezug auf die Flächennutzung einbezogen werden, was zugleich bedeutet, dass ihnen größere Rechte und Möglichkeiten eingeräumt werden müssen.

6.17.

Bei der Nutzung landwirtschaftlicher Flächen sollte die Nahrungsmittelerzeugung Vorrang vor der Produktion von Biokraftstoffen haben.

6.18.

Es muss eine Politik verfolgt werden, die nicht zu einer Landkonzentration, sondern zu einem Übergang von der industriellen Erzeugung zu kleineren Erzeugungseinheiten führt, was auch die Nahrungsmittelautarkie stärken würde. In den EU-Mitgliedstaaten müsste es staatliche Einrichtungen geben, die einen Überblick über die Eigentums- und Nutzungsverhältnisse landwirtschaftlicher Flächen haben. Zu diesem Zweck müssten auf nationaler Ebene in staatlichen Datenbanken neben Angaben über den Besitzer des Landes auch dessen Nutzer erfasst werden. Derartige Daten könnten es ermöglichen, die erforderlichen Untersuchungen durchzuführen und auf Änderungen zu reagieren.

6.19.

Der EWSA ruft die Europäische Kommission und das Parlament dazu auf, auf der Grundlage eines einheitlichen Verfahrens umfassende Untersuchungen darüber durchzuführen, wie sich die politischen Maßnahmen und Beschränkungen in den verschiedenen Staaten auf die Landkonzentration auswirken. Gleichzeitig sollten die Gefahren der Landkonzentration für die Ernährungssicherheit, die Beschäftigung, die Umwelt und die ländliche Entwicklung untersucht werden.

6.20.

Der EWSA fordert alle EU-Mitgliedstaaten auf, der Europäischen Kommission und der Welternährungsorganisation über den Einsatz und die Anwendung der Freiwilligen Leitlinien für die verantwortungsvolle Verwaltung von Boden- und Landnutzungsrechten (VGGT, von der FAO 2012 angenommen) in ihrer Landnutzungspolitik Bericht zu erstatten. Der Geltungsbereich der Freiwilligen Leitlinien ist weltweit angelegt (Artikel 2.4) und umfasst somit auch Europa. In den Freiwilligen Leitlinien werden die Staaten aufgefordert, Multi-Stakeholder-Plattformen einzurichten, an denen die am stärksten Betroffenen beteiligt werden sollen, um die Umsetzung der Leitlinien zu begleiten und ihre Politik auf diese abzustimmen (13).

6.21.

Der EWSA wird auch künftig die Entwicklung der Landkonzentration aufmerksam verfolgen, deren Folgen untersuchen und sich an der Ausarbeitung von Vorschlägen für ihre Eindämmung beteiligen. Daneben unterstützt auch das WFAL (World Forum on Access to Land and Natural Resources) die Initiative und fordert die Europäische Kommission und das Parlament auf, diese Tätigkeit zu unterstützen.

Brüssel, den 21. Januar 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  http://www.landmatrix.org/en

(2)  www.madariaga.org

(3)  http://www.eurovia.org/IMG/pdf/Land_in_Europe.pdf

(4)  http://familyfarmingahap.weebly.com/family-vs-corporate-farming.html

(5)  http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/note/join/2014/529047/IPOL-AGRI_NT(2014)529047_EN.pdf

(6)  http://www.ohchr.org/en/professionalinterest/pages/cescr.aspx

(7)  http://www.un.org/en/documents/udhr/index.shtml#a25

(8)  http://www.fao.org/docrep/016/i2801e/i2801e.pdf

(9)  http://unctad.org/en/Pages/DIAE/G-20/PRAI.aspx

(10)  http://www.oecd.org/daf/inv/investment-policy/PFIA_April2013.pdf

(11)  http://ageconsearch.umn.edu/bitstream/120249/2/FMWP14CEPSonSalesMarketRegulations_D15.1_Final.pdf

(12)  http://ageconsearch.umn.edu/bitstream/120249/2/FM_WP14CEPSonSalesMarketRegulations_D15.1_Final.pdf

(13)  Siehe Artikel 26.2 der Freiwilligen Leitlinien: http://www.fao.org/docrep/016/i2801e/i2801e.pdf


23.7.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 242/24


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses: „Die Lage nach dem Auslaufen des Milchquotensystems 2015“

(Initiativstellungnahme)

(2015/C 242/04)

Berichterstatter:

Padraig WALSHE

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 10. Juli 2014 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die Lage nach dem Auslaufen des Milchquotensystems 2015“ (Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 8. Januar 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 504. Plenartagung am 21./22. Januar 2015 (Sitzung vom 21. Januar 2015) mit 219 gegen 1 Stimme bei 14 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA bewertet das Auslaufen der Milchquotenregelung im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik zum 31. März 2015, wie 2008 beschlossen, als eine „historische“ Zäsur. Seit der Einführung dieser umfassenden Produktionssteuerung am 1. April 1984 war im Zeitablauf zunehmend deutlich geworden, dass die Milchpreise und Einkommen der Landwirte nicht ausreichend wirksam gestützt und stabilisiert werden konnten und die Milchproduktion in der EU schrumpfte, während gleichzeitig die weltweite Milcherzeugung stark gestiegen ist.

1.2.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die EU nach Auslaufen der Milchquotenregelung, d. h. für die Zeit nach 2015, nicht nur Wachstum und Expansion ermöglichen sollte, sondern sie sollte auch dazu verpflichtet werden, eine Aufgabe der Milchproduktion zu vermeiden und Kleinerzeuger zu unterstützen, insbesondere in benachteiligten Gebieten und Bergregionen. Die Milchpolitik muss es den Landwirten und letztlich der EU-Wirtschaft ermöglichen, von den wachsenden globalen Milchmärkten zu profitieren, wobei zugleich der ebenso wertvolle wirtschaftliche und soziale Beitrag der kleinen benachteiligten Milchbetriebe in vielen europäischen Regionen anerkannt und gefördert werden muss.

1.3.

Nach Überzeugung des EWSA muss dies unter vollständiger Anwendung der Bestimmungen der Säule II der GAP 2014-2020 und des Milchpakets erfolgen, um zu gewährleisten, dass milchwirtschaftliche Familienbetriebe in der gesamten EU unterstützt werden können. Gefördert werden sollte die Mitgliedschaft in Erzeugerorganisationen, die den Landwirten bei der Verbesserung ihrer Position in der Lieferkette helfen können, sowie Wissenstransfermaßnahmen zur Unterstützung der Landwirte auf dem Weg zu größerer technischer und wirtschaftlicher Effizienz.

1.4.

Allerdings reichen nach Einschätzung des EWSA die Mittelausstattung und die Maßnahmen von Säule II oder die Maßnahmen des Milchpakets, das nunmehr Teil der GAP 2014-2020 ist, sicher nicht aus, um unter erschwerten Bedingungen tätige Milchbauern inner- und außerhalb benachteiligter Gebiete und Bergregionen zu schützen. Es könnten zusätzliche Maßnahmen notwendig sein, um sicherzustellen, dass diese Landwirte ein existenzsicherndes Einkommen und einen gerechten Anteil an den Markterträgen erhalten. Außerdem sollten es für sie Beratungsdienste für Produktionseffizienz, Diversifizierung und Neuausrichtung geben, die ihnen helfen, optimale Entscheidungen für ihre Zukunft und die ihrer Nachfolger zu treffen, wobei zu bedenken ist, dass die benachteiligten Betriebe nur eine begrenzte Fähigkeit zur Einkommenserzeugung haben.

1.5.

Für ebenso wichtig hält der EWSA es, dafür zu sorgen, dass kommerziell ausgerichtete, wettbewerbsfähige Milchbauern in allen Gebieten, auch in denjenigen, die für eine nachhaltige und wettbewerbsfähige exportorientierte Milcherzeugung besser geeignet sind, ihre Betriebe erweitern können, um der rasch steigenden weltweiten Nachfrage gerecht zu werden und auf diese Weise mehr Beschäftigung und Einnahmen für die Wirtschaft in den ländlichen Gebieten der EU zu schaffen. Die größte Herausforderung für diese Landwirte werden jedoch die massiven Einkommensschwankungen aufgrund der Volatilität der Preise für Grunderzeugnisse aus Milch (und somit die Erzeugermilchpreise) sowie der Kosten für Betriebsstoffe sein. Die EU muss auf jeden Fall die Entwicklung von Besteuerungslösungen und einfachen Garantieinstrumenten wie Verträge mit festen Margen, die für Landwirte leicht zugänglich sind, seitens der Mitgliedstaaten und der Industrie erleichtern.

1.6.

Der EWSA fordert nachdrücklich, dass das unangemessene Niveau der „Sicherheitsnetz“-Bestimmungen in der neuen GAP überarbeitet und laufend überprüft werden muss, um sicherzustellen, dass sie einen engeren Bezug zu den tatsächlichen Produktionskosten haben.

1.6.1.

Außerdem muss die Förderung von Milcherzeugnissen sowohl auf dem heimischen EU-Markt als auch für die Ausfuhr aus der EU weiterhin unterstützt werden. Die EU muss die Ermittlung und Entwicklung neuer Märkte unterstützen und gewährleisten, dass internationale Handelsabkommen ausgewogen sind und den EU-Exporteuren einen gerechten Zugang gewähren.

1.6.2.

Auf dem heimischen Markt muss die EU die Förderung der gesundheitlichen Vorteile durch den Verzehr von Milcherzeugnissen unterstützen, die durch die jüngste wissenschaftliche Forschung bestätigt wurden.

1.6.3.

Außerdem muss die EU den Einzelhandelsmarkt stärker regeln, damit die Profite der Handelsketten reguliert werden und die Fähigkeit der Landwirte zu einer kostendeckenden Erzeugung verbessert wird.

1.7.

Schließlich muss die wichtige Aufgabe von Genossenschaften im Milchsektor anerkannt und gefördert werden. Genossenschaften spielen eine führende Rolle in der globalen Milchwirtschaft — nach der Erhebung der Rabobank (Juli 2014) (1) zählen vier Genossenschaften weltweit zu den zehn größten Molkereiunternehmen. Genossenschaften können eine wesentlich stärkere Rolle bei der Unterstützung der Milcherzeuger gegenüber den Unwägbarkeiten der Volatilität als private Käufer/Verarbeiter spielen, da ihre Milchlieferanten großenteils auch ihre Anteilseigner sind. Darüber hinaus ist bei ihnen auch das Bekenntnis zum Milcherwerb von Mitgliedsbetrieben zu tragfähigen Milchpreisen weitaus belastbarer und langfristiger.

2.   Hintergrund — Lehren aus bisherigen Erfahrungen

2.1.

Der durchschnittliche Milchpreis in der EU betrug im September 2014 37,47 c/kg (Quelle: LTO Milk Review) (2) und damit 8,2 % weniger als der durchschnittliche Milchpreis im Februar 2014 (dieselbe Quelle).

2.2.

Bis ins späte Frühjahr dieses Jahres wurde ein gutes Preisniveau durch die starke weltweite Nachfrage gestützt. Allerdings hat eine Preisberichtigung begonnen, da das Produktionswachstum der großen Exporteure (+ 4,3 % auf Jahresbasis im Zeitraum Januar bis September 2014) rasanter als die gesunde Nachfragesteigerung (jährlich + 2-2,5 %) hauptsächlich von den aufstrebenden Märkten verläuft. In jüngster Zeit hatten der vorübergehende Marktaustritt Chinas, das in den Vormonaten Ankäufe über Bedarf getätigt hatte, sowie das russische Einfuhrverbot für Milcherzeugnisse aus der EU — nach Russland werden 33 % der EU-Exporte von Milcherzeugnissen geliefert — weitere Auswirkungen auf die Primärgüter- und somit auf die Erzeugerpreise in der zweiten Jahreshälfte 2014.

2.2.1.

Ende 2014 sind die EU-Milchbauern angesichts der rasch sinkenden Milchpreise verständlicherweise besorgt über die voraussichtlichen Auswirkungen auf ihren Lebensunterhalt in den nächsten Monaten, zumal die EU die Quotenregelung abschafft und die Erzeugung in anderen Regionen der Welt — zumindest auf kurze Sicht — weiter zunimmt. Außerdem bezweifeln die Milchbauern zu Recht, ob die EU gewillt und in der Lage ist, sie bei der Bewältigung der unvermeidlichen Phasen niedriger Milchpreise/Einkommen infolge künftiger Krisen zu unterstützen.

2.3.

Die mittel- und langfristigen Aussichten für Milch und Milcherzeugnisse sind sowohl auf dem Weltmarkt als auch im Binnenmarkt weiterhin äußerst positiv. Die weltweite Nachfrage bleibt dynamisch, insbesondere in den Schwellenländern, und basiert auf verlässlichen demografischen Trends. Die Nachfrage nach traditionellen, hochwertigen handwerklichen Erzeugnissen, die oftmals in benachteiligten Gebieten aus Milch von Kleinbetrieben hergestellt und von den Verbrauchern hochgeschätzt werden, steigt sogar in den gesättigten europäischen Heimatmärkten. Innovative Milcherzeugnisse wie Sportler-, medizinische und Säuglingsnahrung auf der Grundlage von Molke und anderer Milchbestandteile sind auf den inländischen wie auch auf den internationalen Märkten rasch wachsende Produktkategorien mit hoher Wertschöpfung.

2.4.

Produktionssteigerungen im Zuge der Quotenabschaffung sind insbesondere in jenen Mitgliedstaaten zu erwarten, die derzeit durch die Quoten beschränkt sind, wie Irland, Deutschland, die Niederlande, Dänemark, Österreich, Polen und Frankreich.

2.5.

Jedoch wird weiterhin bezweifelt, ob der EU-Rechtsrahmen für den Umgang mit einer zeitweisen extremen Marktvolatilität bzw. mit einer Krisensituation geeignet ist, insbesondere was die Unterstützung von Landwirten bei der Bewältigung volatiler Gewinnspannen und Einkommen sowie die Sicherstellung einer ausgewogenen Entwicklung der Milcherzeugung in der gesamten Europäischen Union angeht.

2.6.

Das russische Verbot und dessen Folgeeffekte für sämtliche EU-Märkte für Milchgrunderzeugnisse war der erste Test für die neue EU-Krisenmanagementregelung, und angesichts der begrenzten Auswirkungen auf die Märkte durch die Wiedergewährung der Beihilfe für die private Käselagerung (vor deren abrupter Abschaffung), der Beihilfe für die private Butter- und Magermilchpulverlagerung (MMP) sowie der verlängerten Interventionskäufe und höheren Absatzförderungsausgaben liegt es auf der Hand, dass diese Zweifel begründet sind. Es müssen zusätzliche Maßnahmen zur Bewältigung von Marktkrisen entwickelt werden, doch muss die EU vor allem darauf vorbereitet sein, diese rasch und entschlossen umzusetzen.

2.6.1.

Die EU hatte bei der Reaktion auf einen schweren Nachfrage- und Preiseinbruch im Milchsektor im Zuge des Börsenkrachs von 2008/2009 die Gelegenheit, zu lernen. 2009 entsprach das zögerliche Handeln der Europäischen Kommission dem Wert von sechsmonatigen Butterinterventionsankäufen und von achtmonatigen MMP-Ankäufen, bis die Marktpreise wieder über das volle Interventionsäquivalent zu steigen begannen. Die Zufuhr von Butter in die private Lagerhaltung wurde während des Großteils des Jahres (März bis Dezember) sowie im Jahr 2010 fortgesetzt und erst im August 2010 abgeschlossen. 2009 wurden insgesamt 370 Mio. EUR für sämtliche Interventionsmaßnahmen zur Marktstützung aufgewendet, davon 181 Mio. EUR für Ausfuhrerstattungen. 2010 wurden insgesamt 529 Mio. EUR für sämtliche Interventionsmaßnahmen zur Marktstützung aufgewendet, davon 186 Mio. EUR für Ausfuhrerstattungen. 2010 hat die Europäische Kommission 31 Mio. EUR aus dem Verkauf von Magermilchpulver und Butter aus dem Interventionslager und 2011 weitere 73 Mio. EUR aus dem Verkauf von Magermilchpulver eingenommen. Erhebliche Lagermengen wurden auch im Rahmen der Bedürftigenhilfe verwendet, die andernfalls einen finanziellen Beitrag aus dem EU-Haushalt erfordert hätte (3).

2.6.2.

Auch 2009 und 2010 stimmte das Europäische Parlament für die direkte Zahlung von 300 Mio. EUR an die Milcherzeuger in der EU. Dieser Betrag bedeutete knapp 600 EUR pro Landwirt (auf der Grundlage der Verteilungsmethode in Irland) und wurde erst Anfang 2010 mit großer Verzögerung ausgezahlt, als sich die Preise bereits wieder erholten. Es ist unklar, wie viel die verwaltungsmäßige Umsetzung dieser Maßnahme kostete. Die Erfahrung lehrt, dass solche Direktzahlungen wenig für eine Trendwende am Markt bewirken und dass eine geringfügige Zahlung pro Landwirt letztendlich einen hohen Aufwand verursacht.

2.6.3.

Während der Milchkrise des Jahres 2009 waren die Produktionskosten erheblich niedriger als heute. Damals beliefen sich die Produktionskosten in Irland auf 19 Cent pro Liter und sind 2014 auf 25,6 c/l gestiegen. Die „Sicherheitsnetz“-Intervention in Form des derzeitigen Niveaus des Interventionspreises für MMP und Butter entspricht einem Erzeugerpreisäquivalent von etwa 20 c/l und hat daher jegliche Relation zu den Erzeugerkosten der Landwirte verloren.

2.7.

Es wurden Vorschläge unterbreitet, wie die EU mit den Mitteln ausgestattet werden könnte, um eine tragfähige Milcherzeugung in Krisensituationen beizubehalten und die schädlichen Folgen für die Milchproduktion in benachteiligten Regionen besser in den Griff zu bekommen. Es ist wichtig, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen zweckgerichtet sind und zu einem europäischen Milchmarkt passen, in dem die Preise für Milchprodukte — auch in nicht exportierenden Ländern — nunmehr stark von globalen Trends beeinflusst werden. Keine Form der einseitigen Steuerung der EU-Milcherzeugung — auch freiwilliger Art — wird diese Tatsache ändern.

3.   Aussichten für die Milchmärkte nach 2015

3.1.

Nach den Prognosen der Vereinten Nationen für globale demografische und sozioökonomische Trends wird die Weltbevölkerung von heute 7 Milliarden auf 8,4 Mrd. Menschen im Jahr 2030 und auf 9,6 Mrd. im Jahr 2050 steigen (4). Dieses Wachstum wird den Prognosen zufolge großenteils, wenn nicht gar vollständig in den Schwellenländern stattfinden und mit der entsprechenden Zunahme der „Mittelklasse“ einhergehen. In einem 2012 veröffentlichten Papier (5) kamen globale Analysten von HSBC zu dem Schluss, dass bis 2050 2,6 Mrd. Menschen — mehr als ein Drittel der heutigen Weltbevölkerung — mindestens über ein mittleres Einkommen verfügen werden. Dieser Gruppe werden nicht nur immer mehr Menschen angehören, sondern sie werden auch wohlhabender und anspruchsvoller in ihrem Konsumverhalten sein. Sie werden immer stärker bestrebt sein, ihre Eiweißaufnahme in tierischer statt in pflanzlicher Form zu sichern.

3.2.

Vor diesem Hintergrund haben Milcherzeugnisse eine besonders starke Stellung, da sie in der Regel sowohl von staatlicher Seite als auch von den Bürgern selbst als Beitrag zu einer gesunden Ernährung angesehen werden und begehrt sind und oftmals von der offiziellen Politik unterstützt werden (beispielsweise durch das Schulmilchprogramm in China).

3.3.

Die OECD und die FAO prognostizieren in ihrer jüngsten Prognose für die Agrarmärkte (6), dass die Nachfrage nach Milchprodukten bis 2023 jährlich um rund 2 % steigen wird, insbesondere in Bezug auf MMP, Molke und Käse, wobei Butter mit einer Nachfrage von 1 % etwas schlechter abschneidet. In ihrem im Oktober 2014 veröffentlichten siebten Dairy-Index prognostizierte die Milchproduktsparte des Verpackungskonzerns Tetra Pak für den betreffenden Zeitraum sogar eine jährliche Nachfragesteigerung von 3,6 %. Diese und andere Fachorganisationen wie GIRA, IFCN und CNIEL (7) haben festgestellt, dass die Produktionssteigerung dem Nachfrageanstieg langfristig im Großen und Ganzen hinterherjagen wird, weil sich relativ wenige Regionen für eine ökologisch nachhaltige und wirtschaftlich wettbewerbsfähige Produktion eignen — darunter sind einige EU-Regionen, vor allem im Norden und im Westen.

4.   Schwankende Gewinnspannen — die größte Herausforderung für Milchbauern

4.1.

Während die Aussichten insgesamt äußerst positiv sind, werden gelegentliche Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage, wie etwa das, welches wir zurzeit erleben, einen zeitweiligen Preis- und somit auch Einkommensdruck für Landwirte erzeugen. Ähnliche schwankende globale Trends bei Getreide und anderen Futtermitteln werden dies noch verschärfen. Hierbei dürfte es sich angesichts der allgemeinen demografischen Tendenzen wahrscheinlich um kurzlebige Erscheinungen handeln, doch können sie sehr störend wirken, wenn es an neuen Bewältigungsstrategien fehlt.

4.2.

Die Volatilität der Milchpreise und damit auch der Einkommen ist eine relativ neue Erfahrung für alle europäischen Milchviehhalter und folgte auf den erheblichen Abbau von Marktstützungen und die Senkung der Einfuhrzölle zwischen 2005 und 2007 zu Beginn der vorigen GAP-Reform.

4.3.

Während die Ersetzung der Marktstützung durch Direktzahlungen an Landwirte diesen ein Stück weit bei der Bewältigung der Einkommensvolatilität helfen wird, werden das Ausmaß der Zahlungsumschichtung und die extremen Schwankungen der marktbasierten Einkommen zusätzliche Strategien erfordern.

5.   Produktionssteuerung — eine ineffiziente Strategie

5.1.

In der Uruguay-Runde des GATT (jetzt WTO), die von 1986 bis 1994 tätig war, fand die Landwirtschaft erstmals Eingang in internationale Handelsabkommen. Sie führte zu grundlegenden Änderungen in der Ausrichtung der EU-Politik. Einfuhrmöglichkeiten wurden durch die allgemeine Senkung der Zölle und durch zollfreie Einfuhrkontingente ausgeweitet. Das neue GATT-Abkommen markierte ferner den Beginn einer Verlagerung der Stützung weg vom Markt hin zu Direktzahlungen an Landwirte, die später zunehmend von der Produktion entkoppelt wurden. Die erst zwei Jahre zuvor eingeführte europäische Milchquotenregelung blieb davon unberührt und wurde mehrfach fortgesetzt.

5.2.

2003 sind die EU-Mitgliedstaaten im Zuge der Halbzeitbewertung der GAP übereingekommen, die Quotenregelung mit Wirkung zum 31. März 2015 abzuschaffen. Nach diesem Beschluss wurden 2008 weitere Maßnahmen zur „sanften Landung“ ergriffen, um das Auslaufen der Quoten abzufedern. Diese Änderung der politischen Ausrichtung — eine eindeutige Abkehr von Produktionsbeschränkungen oder Produktionssteuerung — kommt zu einer Zeit rasch wachsender globaler Märkte. Es ist daher sinnvoll, den europäischen Milchviehhaltern und der europäischen Milchindustrie — und letztlich der Wirtschaft der EU — die Belieferung dieser Märkte zu ermöglichen, damit sie sich von den massiven Verlusten an Marktanteilen durch 30 Jahre stagnierender Quoten wieder einigermaßen erholen können.

5.3.

Da aber die neue Preisvolatilität, die auf die Umsetzung der bisherigen GAP folgte, 2009 eine ernste Krise der Einkommen im Milchsektor auslöste, drehte sich die Debatte abermals um die Vorteile von Produktionsbeschränkungen, als verschiedene Vorschläge einer Produktionssteuerung in den letzten Jahren in verschiedenen Kreisen in Brüssel erneut diskutiert wurden.

5.4.

Ein Beispiel hierfür ist der vom EP während der GAP 2014-2020-Verhandlungen im Sommer 2013 angenommene „Dantin-Vorschlag“. Darin wird vorgeschlagen, dass Landwirte im Fall von Marktstörungen zur freiwilligen Produktionsdrosselung angeregt werden könnten („Buy-Out“), während diejenigen, die ihre Produktion ausweiten, schlechtergestellt werden könnten. Dieser Vorschlag wurde in einer Analyse von Dr. Michael Keane und Dr. Declan O’Connor im Auftrag des Europäischen Milchindustrieverbands (EDA) untersucht (8).

5.5.

Ebenfalls für die EU-Kommission wurden künftige milchpolitische Optionen unter dem Titel „Marktgleichgewicht und Wettbewerbsfähigkeit“ und „Nachhaltige Milchproduktion auch in regionaler Hinsicht“ von einer Sachverständigengruppe von Ernst & Young geprüft (9).

5.6.

In beiden Studien wurde darauf hingewiesen, dass Produktionssteuerung/Quoten die Milchpreise und die Einkommen nicht mehr wirksam stützen und stabilisieren konnten, wie Schaubild 1 deutlich zeigt. In beiden Studien wurde betont, dass das vorgeschlagene „Buy-Out“ oder andere vergleichbare Produktionssteuerungsmaßnahmen kaum EU-weit umzusetzen wären, da das Preisniveau, das eine Einkommenskrise verursachen kann, von Land zu Land sehr unterschiedlich ist; es würde auch nur sehr langsam Wirkung zeigen und wäre daher fruchtlos; außerdem wäre es kostspielig wegen der Höhe der Ausgleichszahlungen, die man den Erzeugern gewähren müsste, um sie zu einer freiwilligen Produktionsdrosselung zu bewegen. Dr. Keane und Dr. O’Connor betonen außerdem, dass das „Buy-Out“ im Falle seiner Umsetzung eine Fülle negativer vorhersehbarer und unbeabsichtigter Auswirkungen auf das normale Funktionieren der Milchmärkte hätte, und es würde Investitionen und Planungen auf agrarbetrieblicher Ebene und in der Verarbeitungskette nahezu unmöglich machen.

5.7.

Vor allem jedoch wurde in der Studie von Dr. Keane und Dr. O’Connor nachdrücklich betont, dass die vorgeschlagene Maßnahme in jedem Fall nur dann wirksam sein könne, wenn sie in einer geschlossenen Volkswirtschaft durchgeführt wird oder wenn sie in einer offenen Wirtschaft von allen großen internationalen Lieferanten zusammen eingeführt wird. Im Falle einer einseitigen Einführung wären die größten Gewinner die internationalen Wettbewerber der EU, während die EU-Milcherzeuger an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen würden, doch weiterhin die Folgen von Produktionsbeschlüssen der Konkurrenz in den USA und in Neuseeland auf ihren Milchpreis zu spüren bekämen.

5.8.

Während die EU durch Quoten gebunden war, ist die weltweite Milcherzeugung stark gestiegen — allein in den letzten zehn Jahren um 22 %. Im selben Zeitraum haben unsere Wettbewerber insbesondere in Neuseeland und den USA, die beide stark exportorientiert sind, ihre Produktion ganz erheblich erhöht, während sie in der EU schrumpfte, und die Quoten haben die Milchbauern der EU nicht vor den großen Preisschocks von 2007-2009 geschützt.

5.9.

Es ist auch davon auszugehen, dass diese Länder ihre Strategie des Exportwachstums, gestützt auf sehr gut publikgemachte Investitionspläne insbesondere in Neuseeland und in den USA, nach 2015 fortsetzen werden. Wenn die EU hier nicht mitspielt, wird sie am Ende von großen weltweiten Exportmärkten verdrängt werden — mit beträchtlichen Kosten für die Milchbauern der EU, aber allgemeiner auch in puncto Arbeitsplätze und Einkommen für die ländliche Wirtschaft der EU.

6.   Instrumente für Risikomanagement und ein besseres „Sicherheitsnetz“

6.1.

In der Studie von Ernst & Young wurde außerdem dringend empfohlen, das Sicherheitsnetz im Falle von Marktkrisen zu stärken. Betont wird darin außerdem, wie wichtig es ist, den Milchbauern bei der Bewältigung der neuen Einkommensvolatilität zu helfen, die von höchst variablen Milchpreisen und Betriebsmittelkosten verursacht wird, und es werden Instrumente für Risikomanagement angeführt, zum Beispiel Sicherungsgeschäfte, Nutzung der Märkte für Termingeschäfte usw.

6.2.

Die EU muss es den Mitgliedstaaten gestatten, mit steuerlichen Lösungen den Landwirten dabei zu helfen, in guten Jahren Mittel zu sparen, die in schlechten Jahren wieder in den Betrieb zurückgeführt und erst dann besteuert werden und auf die in expansionswilligen Betrieben in der Zwischenzeit auch Investitionen gestützt werden können.

6.3.

Darüber hinaus muss die EU Preis- und Margengarantieoptionen in der Milchindustrie anregen, fördern und ggf. auch regeln, die es den Landwirten ermöglichen, auf möglichst einfache Weise von Optionen für fixe Milchpreise/-margen für einen bestimmten Prozentsatz ihrer Milch und für einen bestimmten Zeitraum Gebrauch zu machen, ohne sich den komplexen Regeln für Termingeschäfte unterwerfen zu müssen. Die Landwirte in den USA haben über Milchgenossenschaften bereits Zugang zu Instrumenten dieser Art, und einige Milchabnehmer (Glanbia in Irland und Fonterra in Neuseeland) bieten fixe Preis-/Margenregelungen, die den Landwirten entgegenkommen. Eine größere Verfügbarkeit solcher Optionen in ganz Europa wird von entscheidender Bedeutung sein.

6.3.1.

Nach dem System von Glanbia für einen indexierten Milch-Festpreis können Landwirte freiwillig einen Prozentsatz ihrer Milch zu einem festen Preis für drei Jahre abgeben. Der Preis wird jährlich um eine bestimmte Betriebskosteninflation korrigiert, sodass die Landwirte auch einen Großteil ihrer Marge sichern können. Seit 2010 hat es vier solcher Dreijahresregelungen gegeben, die allesamt überzeichnet wurden, da sie den Landwirten ein hohes Maß an Sicherheit hinsichtlich der Erträge bieten, die sie für einen Teil ihrer Milch erhalten werden. Schätzungen zufolge werden 22 % aller von Glanbia gekauften Milchmengen im Rahmen dieser Regelung erworben, und die meisten Landwirte, die sich an der ersten Runde beteiligten, waren auch später wieder dabei.

6.4.

Aus wirtschaftlicher Sicht ist es auch von entscheidender Bedeutung, dass die EU die Grundlage ihrer Bestimmungen zum „Sicherheitsnetz“ überprüft. Die seit Mitte 2008 unveränderten Milchinterventionspreise bieten eine „Unterstützung“, die netto rund 19 Cent/Liter der Herstellungskosten entspricht und in keinem Verhältnis mehr zu den weitaus höheren Bandbreiten der globalen und europäischen Milchpreise sowie zu den erheblich gestiegenen primären Produktionskosten stehen. Die EU muss ihre Sicherheitsnetzstandards erhöhen, indem sie die Interventionspreise für MMP und Butter zumindest im Takt mit den Steigerungen der Produktionskosten anhebt, und sie muss die Relevanz ihres Sicherheitsnetzes in Anbetracht der Produktionskosten laufend überprüfen.

6.5.

Der Sektor muss prüfen, inwieweit ein zusätzliches Kriseninstrument entwickelt werden kann, insbesondere bei stark auftretenden Preisvolatilitäten, welche die Landwirte kurzfristig in Existenznot bringt.

6.6.

Genossenschaften sind aus Sicht der Landwirte die erfolgreichste Rechtsstruktur für einen Milchbetrieb. Der Leitgedanke einer Genossenschaft ist der Ertrag für ihre Anteilseigner (Landwirte), sei es in Form eines Gewinnanteils oder von Milchpreisen. Das Wohl und der beste geschäftliche Nutzen ihrer Mitglieder sind die Triebfeder ihrer Tätigkeit.

6.7.

Genossenschaften sind einzigartig insofern, als sie Volatilitätsmanagementoptionen — wie Festpreisverträge oder Möglichkeiten zur Festlegung eines Milchpreises und/oder einer Marge für einen bestimmten Zeitraum — an die Landwirte weitergeben.

6.8.

Jede künftige Milchpolitik muss die entscheidende Bedeutung der Genossenschaften gebührend berücksichtigen und darf dieser aus Sicht der Landwirte idealen Struktur nicht das Leben schwermachen.

6.9.

Das Unvermögen der Landwirte, ihre Kosten aus der Lieferkette im Einzelhandel hereinzuholen, muss ebenfalls angegangen werden. Die Verbraucher profitieren wenig von dramatischen Preissenkungen für Milcherzeugnisse, doch streben die Handelsketten stets einen größtmöglichen Gewinn an, indem sie bei weltweit sinkenden Milchpreisen — wie derzeit — den Druck auf die Lieferanten erhöhen. Durch Druck seitens des Einzelhandels erzielte niedrigere Großhandelspreise — einige davon wenn nicht rechtlich, so doch zumindest moralisch fragwürdig — bedeuten größere Einzelhandelsmargen und -gewinne auf Kosten der restlichen Kette und der Verbraucher. Die Landwirte befinden sich am unteren Ende der Kette und haben daher keine Möglichkeit, ihre Margen zum Erhalt des Familieneinkommens zu schützen. Durch raschere Marktinterventionen der EU-Kommission könnten Marktkrisen schneller überwunden werden und würde der in dieser Ziffer erwähnte Druck der Einzelhändler so gering wie möglich gehalten.

7.   Nachhaltige Milchproduktion in benachteiligten Gebieten

7.1.

Die Milchviehhaltung leistet einen wesentlichen sozioökonomischen und ökologischen Beitrag in allen Regionen der EU. Die Anerkennung und Unterstützung dieses Beitrags, der sich in vielen Regionen auf kleine, schwach dastehende landwirtschaftliche Betriebe stützt, gehörte lange Zeit zum Kern der GAP. Die zweite Säule der GAP umfasst viele in diesem Zusammenhang bedeutende Maßnahmen, ebenso wie die neuen, nunmehr in der GAP/GMO enthaltenen Bestimmungen, die zuerst als „Milchpaket“ eingeführt worden waren.

7.1.1.

Jedoch wäre es denkbar, dass das Auslaufen der Quotenregelung den Übergang in der Milcherzeugung in der EU hin zu den nördlichen und westlichen Gebieten beschleunigt, in denen die Erzeugung am effizientesten durchgeführt werden kann. Dadurch könnte womöglich die Produktion in den Gebieten Europas, die höhere Kosten aufweisen (und auch ärmer sind), verringert oder ganz aufgegeben werden, was die wirtschaftliche Kluft zwischen diesen Regionen vertiefen würde.

7.1.2.

Die große Mehrheit der landwirtschaftlichen Betriebe in den EU-Mitgliedstaaten verfügt über sehr wenige Milchkühe (75 % der Betriebe besitzen weniger als neun Milchkühe (10)). Während viele zweifellos Milch für den Eigenbedarf erzeugen, so ist die wirtschaftliche Anfälligkeit dieser Betriebe offensichtlich, zumal viele sich in Bergregionen oder anderweitig benachteiligten Gebieten befinden.

7.1.3.

Die EU-Kommission muss ein kohärentes Projekt für die Entwicklung des ländlichen Raums und der Milchwirtschaft für Bergregionen, benachteiligte Milcherzeugungsregionen und für Mitgliedstaaten auf den Weg bringen, in denen die Milcherzeugung in sehr kleinen Herden erfolgt.

7.1.4.

Zusätzlich zu dem Wissenstransferpaket oder eventuell als Teil davon wäre es von entscheidender Bedeutung, dass diese Betriebe Zugang zu Beratungs- und Bildungsdiensten erhalten, um ihnen dabei zu helfen, fundierte wirtschaftliche Entscheidungen für ihre eigene Zukunft und die ihrer Nachfolger zu treffen. Sie könnten sich in puncto Diversifizierung, Steigerung ihrer Effizienz, Ausbau ihrer Betriebsgröße, sofern dies wirtschaftlich machbar ist, sowie — falls relevant — zu der Frage beraten lassen, welche alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten für den derzeitigen Landwirt oder seinen Nachfolger erwogen werden sollten (berufliche Umorientierung).

7.2.

In Regionen, in denen das Risiko der Flächenstilllegung, Unterweidung oder anderer negativer Umweltauswirkungen besteht, könnten die Umweltzahlungen entsprechend der zweiten Säule zu bestimmten Bedingungen für Milchbauern eingesetzt werden.

7.3.

Schutzbedürftige Milcherzeuger in sämtlichen Regionen müssen zur Mitwirkung in Erzeugerorganisationen und Branchenverbänden ermuntert werden, um die Hochwertigkeit der Erzeugnisse zu fördern und ihr Gewicht und ihren Einfluss innerhalb der Lieferkette zu steigern.

7.4.

Zahlungen an Junglandwirte könnten auch zur Förderung des Generationswechsels in Gebieten verwendet werden, in denen die Landflucht aufgrund ihrer begrenzten Fähigkeit zur Einkommenserzeugung besorgniserregend ist. Für solche Landwirte könnten Investitionen durch günstige Darlehen oder andere derartige Maßnahmen gefördert werden.

Brüssel, den 21. Januar 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  https://www.rabobank.com/en/press/search/2014/dairy_top20.html

(2)  http://www.milkprices.nl/

(3)  Berichte der EU-Kommission über Interventionsmaßnahmen im Milchsektor 2008, 2009, 2010, 2011 (EU MMO).

(4)  World Population Prospects: the 2012 Revision, UN, Juni 2013.

(5)  Consumer in 2050 — The Rise of the Emerging Market Middle Class — HSBC Global, Oktober 2012.

(6)  http://www.oecd.org/fr/sites/perspectivesagricolesdelocdeetdelafao/produits-laitiers.htm

(7)  GIRA Food Consultancy, the International Farm Comparison Network und das französische Centre National Interprofessionnel de l’Industrie Laitiere.

(8)  Analysis of the Crisis Dairy Supply Management Proposal in the Report of the Committee on Agriculture and Rural Development (COMAGRI) on CAP Reform 2012/2013 (endgültige Fassung) — September 2013 von Michael Keane PhD, Cork (Irland) und Declan O’Connor, PhD, Cork Institute of Technology, Irland.

(9)  AGRI-2012-C4-04 — Analysis on future developments in the milk sector. Prepared for the European Commission — DG Agriculture and Rural Development. Abschlussbericht vom 19. September 2013, Ernst & Young.

(10)  Quelle: Eurostat, 1. Januar 2011.


23.7.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 242/31


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Elektrosensitivität

(Initiativstellungnahme)

(2015/C 242/05)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 10. Juli 2014, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Elektrosensitivität

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 7. Januar 2015 an.

Auf seiner 504. Plenartagung am 21./22. Januar 2015 (Sitzung vom 21. Januar) lehnte der Ausschuss die von der Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft erarbeitete Stellungnahme ab und verabschiedete mit 138 gegen 110 Stimmen bei 19 Enthaltungen folgende Gegenstellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Ausschuss nimmt mit Sorge die Verbreitung von Elektrosensitivität oder elektromagnetischer Hypersensitivität (EHS) zur Kenntnis. Er begrüßt, dass das Problem und seine Ursachen weiter eingehend erforscht werden. Der Wissenschaftliche Ausschuss „Neu auftretende und neu identifizierte Gesundheitsrisiken“ der Europäischen Kommission (SCENIHR) hat sich in den letzten Jahren ausführlich mit dieser Problematik beschäftigt und wird nach einer eingehenden Konsultation der Öffentlichkeit in Kürze seine jüngste Stellungnahme abschließen (vorläufige Stellungnahme des SCENIHR zu den möglichen gesundheitlichen Auswirkungen der Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern (EMF) vom 29.11.2013 (in englischer Sprache): http://ec.europa.eu/health/scientific_committees/emerging/docs/scenihr_o_041.pdf

1.2.

Es ist davon auszugehen, dass sich die Schlussfolgerungen des SCENIHR im Wesentlichen mit seiner vorläufigen Stellungnahme aus dem Jahr 2013 decken werden, in der er befand, dass alles darauf hindeutet, dass eine Exposition gegenüber Funkfrequenzfeldern beim Menschen keine Symptome verursacht und auch nicht seine kognitiven Funktionen beeinträchtigt. In seiner früheren Stellungnahme war er zu der Auffassung gelangt, dass eine Exposition gegenüber Funkfrequenzfeldern bei niedrigen Expositionspegeln unterhalb der Grenzwerte keine negativen Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit und Entwicklung zeigt. Die Auswertung neuer menschlicher und tierischer Daten bestätigt diese Einschätzung. Vorläufige Stellungnahme des SCENIHR zu den möglichen gesundheitlichen Auswirkungen der Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern (EMF) vom 29.11.2013 (in englischer Sprache): http://ec.europa.eu/health/scientific_committees/emerging/docs/scenihr_o_041.pdf

1.3.

In seiner vorläufigen Stellungnahme stellt der SCENIHR ferner fest, dass neue, seit seiner Stellungnahme aus dem Jahr 2009 gewonnene Erkenntnisse die Schlussfolgerung unterstreichen, dass zwischen einer Exposition gegenüber Funkfrequenzfeldern und Symptomen kein kausaler Zusammenhang besteht. Er weist darauf hin, dass häufig schon die Überzeugung der Betroffenen, exponiert zu sein (ohne Feldeinwirkung), ausreicht, um Symptome auszulösen.

1.4.

Um die anhaltenden Bedenken der Öffentlichkeit zu zerstreuen und im Einklang mit dem Vorsorgeprinzip drängt der Ausschuss die Europäische Kommission indes, ihre Arbeiten auf diesem Gebiet fortzusetzen, zumal weitere Untersuchungen erforderlich sind, um Erkenntnisse über potenzielle gesundheitliche Auswirkungen einer Langzeitexposition durch bspw. den Gebrauch eines Mobiltelefons über mehr als 20 Jahre zu gewinnen.

1.5.

Es bleibt die Frage der öffentlichen Wahrnehmung. Einige Menschen empfinden die zunehmende Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern (EMF) am Arbeitsplatz, zu Hause und in öffentlichen Räumen als Bedrohung. Andere Personengruppen sind in gleicher Weise über multiple Chemikaliensensibilität, verbreitete Nahrungsmittelintoleranzen oder Exposition gegenüber Partikeln, Fasern oder Bakterien in ihrem Umfeld besorgt. Diese Menschen bedürfen der Unterstützung im Umgang mit realen Krankheitssymptomen sowie mit den von ihnen geäußerten Bedenken gegen die moderne Gesellschaft.

1.6.

Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass von Elektrosensitivität Betroffene unter echten Beschwerden leiden. Es sollten Anstrengungen zur Verbesserung ihres Gesundheitszustands mit Schwerpunkt auf der Minderung von Funktionsstörungen unternommen werden, wie im Rahmen der Europäischen Koordinierungsaktion im Bereich Biomedizin und Molekulare Biowissenschaften COST BM0704 empfohlen wird (BMBS COST Action BM0704 Emerging EMF Technologies and Health Risk Management).

2.   Einleitung

2.1.

Ziel dieser Stellungnahme ist es, sich mit den von einigen zivilgesellschaftlichen Gruppen geäußerten Bedenken gegen Gebrauch und Wirkung von Geräten auseinanderzusetzen, die Radiofrequenzen aussenden und in Industrie und Privathaushalten in Anlagen und Diensten eingesetzt werden, die eine drahtlose Kommunikation erfordern. Dies ist von Relevanz für Personen, die unter einer Reihe unspezifischer Krankheitssymptome leiden, die sie unter Hinweis auf die mutmaßliche Ursache unter dem Begriff der elektromagnetischen Hypersensitivität (EHS) oder Elektrosensitivität zusammenfassen.

3.   Diagnose Elektrosensitivität — Krankheitszeichen

3.1.

Bedauerlicherweise — aus ihrer Sicht — herrscht in der medizinischen und wissenschaftlichen Fachwelt überwiegend die Meinung, dass es keine schlüssigen Beweise dafür gibt, dass das breite Spektrum an berichteten Elektrosensitivitäts-Symptomen durch eine Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern (EMF) oder Radiofrequenzfeldern verursacht wird. In diesem Sinn stellt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fest, dass alle bislang durchgeführten Untersuchungen ergeben haben, dass eine Exposition im Rahmen der vom ICNIRP empfohlenen Richtlinien für die Begrenzung der Exposition durch EMF bis 300 GHz keine bekannten schädlichen Gesundheitsfolgen verursacht (WHO: http://www.who.int/peh-emf/research/en/). Im Rahmen von Kampagnen fordern Aktivistengruppen in mehreren Ländern dennoch weiterhin mehr Anerkennung für das wahrgenommene Problem und verstärkte Vorbeugungs- und Abhilfemaßnahmen mit Blick auf die Intensität von EMF und die Verbreitung von Feldquellen. Diese Gruppen betrachten das Nichttätigwerden der Behörden bestenfalls als bequem, schlimmstenfalls aber als Teil einer breit angelegten Verschwörung von Regierungen, kommerziellen Interessen und Auslandsinteressen, die die umfangreichen Umstrukturierungsmaßnahmen aufgrund einer Nutzungsbeschränkung oder Abschaffung der Drahtloskommunikations- oder anderer elektrischer Geräte scheuen.

3.2.

Vor und seit der Vorlage der Empfehlung des Rates zur Begrenzung der Exposition der Bevölkerung gegenüber elektromagnetischen Feldern (0 Hz bis 300 GHz) (Empfehlung 1999/519/EG des Rates) von 1999 hat sich die EU aktiv mit dieser Problematik auseinandergesetzt und über mehrere Arbeitsgruppen sowie den Wissenschaftlichen Ausschuss „Neu auftretende und neu identifizierte Gesundheitsrisiken“ der Europäischen Kommission (SCENIHR) den besten verfügbaren wissenschaftlichen und medizinischen Rat eingeholt. Zahlreiche Analysen, Positionspapiere und Stellungnahmen untermauern die Ernsthaftigkeit, mit der sich die Behörden, die medizinische Fachwelt, Forscher und Wissenschaftler dieser Problematik annehmen.

3.3.

Es handelt sich nicht um ein rein europäisches Problem. Im November 2014 war die Europäische Kommission Gastgeber der 18. GLORE-Konferenz (Conference on global coordination of Research and Health Policy on RF Electromagnetic Fields), auf der über den Stand der Forschung zu den gesundheitlichen Risiken von EMF diskutiert wurde. Bislang liefern die vorliegenden wissenschaftlichen Gutachten keine hinreichenden wissenschaftlichen Beweggründe für eine Überarbeitung der Expositionsgrenzen (Basisgrenzwerte und Referenzwerte) gemäß der Empfehlung des Rates 1999/519/EG. Die Kommission räumt jedoch ein, dass es noch keine ausreichende Datengrundlage für die Bewertung bestimmter Risiken wie insbesondere der Langzeitexposition bei niedrigen Expositionspegeln gibt und mehr Forschungsbedarf besteht.

3.4.

Von Elektrosensitivität Betroffene machen weiterhin geltend, dass die von den Mitgliedstaaten und der EU ergriffenen einschlägigen Maßnahmen weit hinter dem zurückbleiben, was sie als erforderlich erachten. Die meisten Gesundheitsbehörden sind anderer Meinung (so bspw. der National Health Service des Vereinigten Königreichs, siehe: http://www.nhs.uk/Conditions/Mobile-phone-safety/Pages/QA.aspx#biological-reasons). Die Mehrheit der bisherigen unabhängigen Untersuchungen führte zu dem Ergebnis, dass subjektiv elektrosensitive Personen in ihrer Wahrnehmung nicht zwischen echter EMF-Exposition und Scheinfeldern (d. h. Nullexposition) unterscheiden können. Doppelblinde Versuche ergaben, dass selbstberichtet elektrosensitive Personen nicht in der Lage sind, EMF wahrzunehmen und sowohl nach einer Nullexposition als auch nach einer Exposition gegenüber echten elektromagnetischen Feldern über Beschwerden berichten (British Medical Journal 332 (7546): 886–889).

3.5.

Indes soll nicht die Realität der Elektrosensitivität zugeschriebenen Symptome bestritten werden, denn es gibt viele Menschen, die nach eigenen Angaben unter verschiedenen unspezifischen Beschwerden leiden, die sie auf EMF-Exposition zurückführen. Der Anteil der Bevölkerung, der sich durch elektromagnetische Felder beeinträchtigt fühlt, ist von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat sehr unterschiedlich. Die Weltgesundheitsorganisation stellt fest: „Es gibt keine eindeutigen Diagnosekriterien für EHS, und es gibt auch keine wissenschaftliche Basis, um die EHS-Symptome mit der Einwirkung von EMF in Verbindung zu bringen. Überdies ist EHS weder ein medizinisches Krankheitsbild, noch steht fest, dass es sich um ein eigenständiges medizinisches Problem handelt.“ (WHO — Elektromagnetische Felder und öffentliche Gesundheit http://www.who.int/peh-emf/publications/facts/ehs_fs_296_german.pdf)

3.6.

Die thermischen Auswirkungen elektromagnetischer Felder auf den menschlichen Körper hingegen sind seit mehr als 100 Jahren bekannt, und es gibt, wie bereits erwähnt, Empfehlungen des Rates zu elektromagnetischen Feldern und internationale Strahlenschutznormen, die regelmäßig überprüft werden. EMF sind Gegenstand folgender EU-Rechtsinstrumente:

Empfehlung des Rates 1999/519/EG vom 12. Juli 1999 zur Begrenzung der Exposition der Bevölkerung gegenüber elektromagnetischen Feldern (1), die die einzelstaatlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit ergänzen soll. Ziel ist es, auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen Daten und Gutachten einen Rahmen für die Begrenzung der Exposition der Bevölkerung gegenüber elektromagnetischen Feldern und eine Grundlage für eine Überprüfung und Beurteilung zu schaffen.

Richtlinie 1999/5/EG (2).

Richtlinie 2013/35/EU (3).

Richtlinie 2006/95/EG (4), die sicherstellt, dass die Bürger im Allgemeinen und die Arbeitnehmer im Besonderen keinen höheren Expositionsgrenzwerten als den in der Empfehlung aus dem Jahr 1999 vorgegebenen ausgesetzt werden.

Beschluss Nr. 243/2012/EU (5) über ein Mehrjahresprogramm für die Funkfrequenzpolitik.

3.7.

Seit dem Jahr 2000 hat die Europäische Kommission neben ihrer aktiven Auseinandersetzung mit diesem Thema 37 Millionen EUR für Forschung im Bereich EMF und Mobiltelefone bereitgestellt.

3.8.

Der Ausschuss hat seine diesbezüglichen Bedenken in seinen einschlägigen Stellungnahmen zum Ausdruck gebracht und dafür plädiert, die Exposition gegenüber nicht ionisierender Strahlung auf ein Minimum zu beschränken. Von Elektrosensitivität Betroffene führen ihre Symptome jedoch typischerweise auf EMF mit Feldstärken weit unterhalb der zulässigen Grenzwerte zurück.

Brüssel, den 21. Januar 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. L 199, vom 30.7.1999, S. 59.

(2)  Richtlinie 1999/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 91 vom 7.4.1999, S. 10).

(3)  Richtlinie 2013/35/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 179 vom 29.6.2013, S. 1).

(4)  Richtlinie 2006/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 374 vom 27.12.2006, S. 10).

(5)  Beschluss Nr. 243/2012/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 81 vom 21.3.2012, S. 7).


23.7.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 242/34


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Lage und Arbeitsbedingungen der zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Türkei

(2015/C 242/06)

Berichterstatter:

Arno METZLER

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 26./27. Februar 2014, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Lage und Arbeitsbedingungen der zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Türkei“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 17. Dezember 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 504. Plenartagung am 21./22. Januar 2015 (Sitzung vom 21. Januar 2015) mit 205 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA regt an, dass die türkische Regierung und die türkischen Verwaltungsebenen die zivilgesellschaftlichen Organisationen als wichtigen Teil der Gesellschaft und maßgeblichen Akteur des Annäherungsprozesses der Türkei an die Werte und den Besitzstand der EU anerkennen. Ziel muss es sein, eine Gesellschaft der gelebten Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen zu schaffen. Die Türkei sollte gemeinsam mit daran arbeiten, die institutionellen und legislativen Rahmenbedingungen für eine pluralistische, partizipative Kultur der gegenseitigen Anerkennung und des Austausches zu schaffen.

1.2.

Die Grundvoraussetzung für die Arbeitsweise zivilgesellschaftlicher Organisationen, die Gewaltenteilung im Rechtsstaat, muss in allen Bereichen gewahrt bleiben. Unverhältnismäßige staatliche Eingriffe, welche die Arbeitsfähigkeit über Gebühr beeinträchtigen, wie im Rahmen von Sonderprüfungen geschehen, sind damit nicht vereinbar. Ihr Zugang zu Rechtsbehelfen muss ebenfalls gewahrt bleiben. Korruption sollte mit Nachdruck bekämpft werden.

1.3.

Ein besonderes Augenmerk im Dialog EU-Türkei sollte auf die faktische Umsetzung der Grundfreiheiten und -rechte gelegt werden, darunter

das Recht zur freien Meinungsäußerung ohne Furcht vor individueller Benachteiligung oder Strafe;

eine die Vielfalt fördernde Medienfreiheit;

die Koalitions- und Versammlungsfreiheit, auch und gerade im Umfeld konfliktträchtiger Debatten und Ereignisse;

Frauenrechte;

die Rechte von Gewerkschaften;

die Rechte von Minderheiten, etwa durch religiöse, kulturelle oder sexuelle Zugehörigkeiten;

die Rechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern.

1.4.

Eine Teilung der Gewalten zwischen Legislative, Judikative und Exekutive, insbesondere die klare Unterscheidung und Unterscheidbarkeit zwischen Regierungs- und dem Vorbehalt der Gesetze unterliegendem Verwaltungshandeln sind Grundlage für eine gesicherte Arbeitsfähigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen. Insbesondere die Unabhängigkeit von Richtern ist die Grundlage aller Rechtsstaatlichkeit.

1.5.

Der EWSA appelliert an den Rat der Europäischen Union, auf die Eröffnung von Kapitel 23 (Justiz und Grundrechte) und Kapitel 24 (Recht, Freiheit und Sicherheit) der Verhandlungen über den EU-Beitritt der Türkei hinzuarbeiten, um den Prozess in der Türkei weiter zu begleiten.

1.6.

Zugleich sollte auch das Prinzip der vertikalen Gewaltenteilung, z. B. kommunale Selbstverwaltung, eingehalten werden.

1.7.

Es wäre von Vorteil, wenn zivilgesellschaftliche Organisationen in der Türkei Informationszugänge zu staatlichen (Entscheidungs-)Prozessen erhalten. Dazu sollten regelmäßig und auf Basis transparenter Regelungen Anhörungen und Konsultationen durchgeführt werden, um die Erkenntnisse aus der Arbeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen und die Interessen der vertretenen gesellschaftlichen Gruppen in politischen und administrativen Entscheidungen berücksichtigen zu können. Die türkische Regierung und Verwaltung wird dazu ermutigt, die Zivilgesellschaft in einen strukturellen Diskussionsprozess einzubinden (Wirtschafts- und Sozialrat) und dies im Rahmen des Verfassungs-Reformprozesses auch konstitutionell zu verankern.

1.8.

Einigen Berufsgruppen, namentlich Freien Berufen, kommt aus Sicht des EWSA eine wichtige Bedeutung zur Verwirklichung einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Gesellschaftsordnung zu. Der Zugang zum Recht oder zu medizinischer Versorgung kann nur durch unabhängige, fachlich qualifizierte Berufsangehörige garantiert werden, denen die Bürger sich in einem vor aller Welt und Gewalt geschützten Vertrauensverhältnis anvertrauen können. Diese Vertrauensdienstleistungen etwa durch Rechtsanwälte, Ärzte oder Steuerberater bedürfen einer umfassenden Wahrung des Berufsgeheimnisses.

1.9.

Entsprechend ist eine funktionierende Selbstverwaltung dieser Berufe z. B. in Berufskammern erforderlich, welche die Wahrnehmung der besonderen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und dem Einzelnen frei von sonstigen politischen Einwirkungen gewährleisten. Verstöße hiergegen mussten im Rahmen der Erkundungsmission des EWSA festgestellt werden.

1.10.

Um Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu Partnern auf Augenhöhe wachsen zu lassen, wäre ein sozialer Dialog auf nationaler Ebene sowie auf Branchen- und Unternehmensebene in der Türkei wünschenswert. Ziel sollte auch die Verbesserung von Arbeitsbedingungen sowie Arbeitsschutz und -sicherheit sein, welche in umfassenden Rechten der Arbeitnehmer Ausdruck finden muss (1).

2.   Einleitung und Hintergrund

2.1.

Der Besuch des EWSA in Istanbul und Ankara am 9./10. September 2013 zeigte, dass die Arbeitsbedingungen der zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Türkei teilweise empfindlich beeinträchtigt waren. In einigen Fällen hatten die Vertreter und Mitarbeiter zivilgesellschaftlicher Organisationen schwerwiegende persönliche Restriktionen bis hin zu körperlicher Gewalt durch staatliche Institutionen zu erleiden.

2.2.

Mit einer weiteren Mission nach Ankara und Diyarbakır vom 1. bis 3. Juli 2014 sollten die aktuelle Situation und die Entwicklungen bezüglich der Rahmenbedingungen zivilgesellschaftlicher Arbeit in der Türkei erkundet werden. Im Gespräch mit Vertretern der türkischen Zivilgesellschaft wurde nachgefragt, ob sich seit September 2013 Veränderungen in den Arbeitsbedingungen zivilgesellschaftlicher Organisationen ergeben haben.

2.3.

Diese Reisen fanden zusätzlich zu den regelmäßigen Treffen des Gemischten Beratenden Ausschusses EU/Türkei statt, der den EU-Beitrittsprozess der Türkei begleitet. So konnten die Mitglieder des EWSA ins Gespräch mit Vertretern der Zivilgesellschaft kommen, welche dem Gemischten Beratenden Ausschuss EU/Türkei nicht vorgeschlagen worden waren.

2.4.

In den Gesprächen mit Vertretern vielfältiger zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie Vertretern der Regierung inklusive einer kommunalen Gliederung, wurde insbesondere die Wahrnehmung der Arbeitsbedingungen zivilgesellschaftlicher Organisationen in der Türkei und eventueller Veränderungen erkundet. Individuelle Erfahrungen und Interpretationen einzelner zivilgesellschaftlicher Akteure sollten dabei ein Gesamtbild zeichnen. Dieses bildet weniger die rechtsförmlichen als die wahrgenommenen faktischen Rahmenbedingungen ab, welche für das persönliche Engagement in zivilgesellschaftlichen Organisationen von maßgeblicher Bedeutung sind.

2.5.

Es wird vorausgesetzt, dass eine vollständige Zufriedenheit aller zivilgesellschaftlichen Akteure mit ihren Arbeitsbedingungen auch unter optimalen Umständen nicht zu erreichen ist. Vielmehr muss eine ständige Optimierung des Umfelds für zivilgesellschaftliches Engagement durch einen Ausgleich von Interessen das Ziel im Sinne einer fortwährenden Reifung einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft sein, wie dies in allen EU-Mitgliedstaaten als lebendiger Prozess gestaltet ist.

2.6.

Der EWSA appelliert an die Türkei ebenso wie an die Europäische Union, zivilgesellschaftlichen Dialog als wesentliche Voraussetzung für eine Annäherung der Gesellschaften aneinander anzusehen und mit allen Kräften zu fördern. Dieser Prozess kann nur als gegenseitiger Lernprozess im kontinuierlichen, offenen Dialog gelingen.

3.   Institutionelle und legislative Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliche Organisationen

3.1.

Hinsichtlich der Grundprinzipien der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Selbstverwaltungen hat die Türkei deutliche Fortschritte gemacht, wenngleich noch weitere erhebliche Anstrengungen zur Umsetzung dieser Prinzipien notwendig sind. Zivilgesellschaftliche Organisationen sollten ihre Arbeit auf verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen stützen können. Dazu gehört, dass das geltende Recht ausreichend Handlungsspielraum für ihre Arbeit bietet und das Recht auch von Staat und Verwaltung entsprechend geachtet und angewandt wird. Diese Rechtssicherheit der Arbeitsbedingungen für die zivilgesellschaftlichen Organisationen und ihre Mitarbeiter muss transparent sein und garantiert werden.

3.2.

Gegenstand der Kritik war im Wesentlichen die Verfassungswirklichkeit im Sinne einer verlässlichen Achtung individueller Rechte durch staatliche Behörden. Ungeachtet formeller Rechtmäßigkeit von Verwaltungshandeln im Einzelfall oder eventueller Verstöße gegen Rechtsvorschriften schien die Transparenz der Grundlage bzw. Begründung staatlichen Handelns in einigen Fällen nicht gesichert und transparent. Dadurch wurden staatliche Maßnahmen als Willkür verstanden.

3.3.

Rechtsgrundlage einer Maßnahme, der zuständige Urheber und eine Begründung für eine Entscheidung oder Maßnahme sollten stets in einer für den Betroffenen nachvollziehbaren Weise offengelegt werden. Der unverzügliche Zugang zu Rechtsbehelfen muss dabei stets auch faktisch gewährleistet sein und dokumentiert werden.

4.   Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Handlungsfreiheit für den Einzelnen

4.1.

Auch alle Mitarbeiter zivilgesellschaftlicher Organisationen sind für ihr Handeln wie jeder andere Bürger auch verantwortlich. Ihnen dürfen aufgrund ihres Engagements keine ungerechtfertigten persönlichen Nachteile oder Restriktionen auferlegt werden. Insbesondere ihr Privatleben und das ihrer Familien bedürfen eines vollständigen Schutzes.

4.2.

Der EWSA hat festgestellt, dass Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen in mehreren Fällen durch verbale Angriffe und rechtliche Verfolgungen teilweise persönlich bedroht worden sind sowie in ihrer zivilgesellschaftlichen Arbeit ungerechtfertigt eingeschränkt wurden. Mehrere dieser beschriebenen Restriktionen fanden im Umfeld der Proteste im Gezi-Park im Mai und Juni 2013 und deren gerichtlicher Aufarbeitung statt.

4.3.

Tief bestürzt hat die EWSA-Delegation davon Kenntnis genommen, dass Ärzten nach den Protesten im Gezi-Park die Behandlung Verletzter untersagt wurde und Patientenakten als Ermittlungsakten herausverlangt worden seien. Einige Ärzte seien zudem wegen Missachtung anderslautender Weisungen von staatlichen Stellen mit Ermittlungen wegen Untreue usw. überzogen worden. Vertrauensgeschützte, unabhängige medizinische Versorgung ist unbesehen von politischen Vorkommnissen und ohne Ansehen der Person ein Menschenrecht und ist in Übereinstimmung mit dem hippokratischen Eid zu leisten. Dabei ist ebenso wie bei rechtlicher Vertretung die allseitige Achtung der Berufsgeheimnisse wesentliche Grundlage der durch Vertrauen charakterisierten Arbeit und Merkmal des Rechtsstaats. Die Achtung vor diesen Grundsätzen durch alle Amtswalter hat über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung für das Funktionieren einer rechtsstaatlichen Demokratie und das Vertrauen der Bevölkerung in die Wahrung ihrer Rechte.

4.4.

Der EWSA empfiehlt den türkischen Staatsorganen, durch transparente rechtsstaatliche Entscheidungen auf allen staatlichen Ebenen und die absolute Unabhängigkeit der Entscheidungen von legislativen, judikativen und exekutiven Organen zu versuchen, verlorenes Vertrauen aufseiten der zivilgesellschaftlichen Organisationen zurückzugewinnen.

4.5.

Die Einbindung der Zivilgesellschaft in demokratische Entscheidungsprozesse könnte im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses durch Eröffnung der Kapitel 23 (Justiz und Grundrechte) und 24 (Recht, Freiheit und Sicherheit) sowie eine ambitionierte Umsetzung der darin enthaltenen Grundrechte und -freiheiten unterstützt werden.

4.6.

Der EWSA unterstreicht, dass die Unabhängigkeit der Justiz und auch der Richter ein grundlegendes Element einer freien Zivilgesellschaft in einer Demokratie ist. Insbesondere Richter müssen frei von mittelbaren Weisungen anderer Organe oder individueller Ausübung von Druck oder der Androhung persönlicher Nachteile nach Maßgabe des Rechts unabhängig Recht sprechen können.

5.   Transparenz und Kommunikation für zivilgesellschaftliches Engagement

5.1.

Der EWSA würde es begrüßen, wenn Regierung und Verwaltung in der Türkei das Potenzial zivilgesellschaftlicher Organisationen für die Formulierung und Vermittlung politischer Entscheidung stärker nutzten, indem diese regelmäßig im Vorfeld von Entscheidungen angehört würden und ihnen zum Dialog Informationszugänge zu staatlichen Entscheidungsprozessen eröffnet würden. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen der Türkei haben mangelnde Zugangsmöglichkeiten zu staatlichen Entscheidungsprozessen beklagt. In den EU-Mitgliedstaaten werden Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen von Entscheidungsgremien regelmäßig vor Beschlussfassung angehört, um die aggregierten Einstellungen und Interessen der Mitgliedschaft dieser Organisationen in die Entscheidungsfindung einbeziehen und die Qualität und gesellschaftliche Tragfähigkeit der Entscheidungen steigern zu können. Staatliche Organe können durch Anhörungen beteiligter oder betroffener gesellschaftlicher Kreise, als feststehender Verfahrensbestandteil in Gesetz- und Verordnungsgebung, einerseits Verbesserungspotenziale im Vorhinein feststellen und andererseits auch auf eine Vermittlung der Entscheidung durch die jeweiligen Organisationen in deren Einflusskreise hinein zurückgreifen.

5.2.

Die türkische Regierung und Verwaltung werden dazu ermutigt, die Zivilgesellschaft inklusive Minderheiten auch formalisiert in einen strukturierten politischen Meinungsbildungsprozess durch Schaffung eines Wirtschafts- und Sozialrates einzubeziehen und dies im Rahmen des Verfassungs-Reformprozesses auch konstitutionell zu verankern.

5.3.

Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen sahen sich zum Zeitpunkt der Mission in der Kommunikation mit ihren Mitgliedern und der Öffentlichkeit stark eingeschränkt. Der Zugang zur Presse war durch zum Teil oligopole Strukturen der Medien und vielfach in ihrer Grundausrichtung einseitig geprägte Redaktionen schwierig bis praktisch unmöglich. Starke wirtschaftliche Abhängigkeiten und direkte Einflussnahmen auf die Medien werden berichtet. Eine Berichterstattung über die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen sei dadurch ebenso eingeschränkt wie die Möglichkeit freier Diskurse zu politischen Themen, in denen auch regierungskritische Standpunkte vertreten werden könnten.

5.4.

Der EWSA kommt zu der Einschätzung, dass weitere Schritte zur Verwirklichung einer freien, vielfältigen Medienlandschaft weiterhin notwendig sind. Repressionen gegen Journalisten aufgrund kritischer Arbeit, darunter Inhaftierungen, müssen sofort aufhören.

5.5.

Der EWSA kritisiert die zwischenzeitliche Blockade des digitalen Kurznachrichtendienstes „Twitter“. Meinungsfreiheit auch in den sozialen Medien sollte von der türkischen Regierung gestützt und als Teil des lebhaften Meinungsaustausches in einer Demokratie zugelassen werden.

6.   Gelebter Minderheitenschutz als Prüfstein für Funktionsweise der Demokratie

6.1.

Der Schutz gesellschaftlicher Minderheiten als Prüfstein für die Funktionsweise der Demokratie sollte ernst genommen werden. Diskriminierungen durch staatliche Organe sollten systematisch abgestellt und Diskriminierungen durch Dritte rechtsstaatlich bereinigt und durch gesellschaftliche Aufklärung verhindert werden. Die Einbindung der Zivilgesellschaft in demokratische Entscheidungsprozesse könnte im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses durch Eröffnung der Kapitel 23 (Justiz und Grundrechte) und 24 (Recht, Freiheit und Sicherheit) sowie eine rasche Umsetzung der darin enthaltenen Grundrechte und -freiheiten erleichtert werden.

6.2.

Auch wenn Frauen nicht sinnvoll als Minderheit bezeichnet werden können, fordert der EWSA die Türkei auf, Instrumente des Minderheitenschutzes im Sinne einer Gleichberechtigung der Geschlechter einzusetzen. Dazu sollte die Türkei die UN-Konvention zu Frauenrechten implementieren. Eine Förderung von Mädchen und Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere beim Zugang zum Arbeitsmarkt inklusive des öffentlichen Dienstes, sollte von der Türkei als politisches Ziel aufgenommen und mit Nachdruck verfolgt werden. Der türkische Staat sollte Müttern in schwierigen Lebenslagen Hilfestellung durch unabhängige fachkundige Beratung gewähren und dadurch illegale Abtreibungen reduzieren. Bewährte Praktiken der Zusammenarbeit zwischen Frauenrechtsorganisationen und dem türkischen Staat sollten fortgeführt und ausgebaut werden.

6.3.

Die Türkei sollte weiter daran arbeiten, die kurdische Minderheit als Teil der türkischen Gesellschaft zu integrieren und das kulturelle und sprachliche Leben der Kurdinnen und Kurden fördern.

6.4.

Der EWSA bittet die Türkei, Menschen unterschiedlicher sexueller Ausrichtung oder besonderer Geschlechtsidentität vor Diskriminierungen zu schützen und in die Gesellschaft zu integrieren.

6.5.

Dem EWSA wurde berichtet, dass das türkische Verfassungsprinzip der säkularen Staatlichkeit in einigen Fällen durchbrochen wird. Insbesondere seien Angaben zur Religion in offiziellen Ausweisdokumenten gefordert. Angehörige religiöser Minderheiten, darunter Aleviten, hätten Nachteile im gesellschaftlichen Leben und hinsichtlich ihrer individuellen Berufschancen zu erleiden. Die Türkei ist gebeten, sich stärker für eine diskriminierungsfreie Eingliederung religiöser Minderheiten in die Gesellschaft einzusetzen.

7.   Sozialer Dialog als Instrument und Ausdruck der Demokratie im Arbeitsleben

7.1.

Der EWSA hat Defizite in der Umsetzung einer systematischen Einbindung der Arbeitnehmer in relevante Entscheidungen vorgefunden. Gewerkschaften haben von Einschränkungen der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit als Grundbedingungen einer Organisation von Belegschaften in Gewerkschaften berichtet. Darüber hinaus werde individueller Druck auf Gewerkschafter, insbesondere Betriebsräte, ausgeübt, der das Grundrecht der Koalitionsfreiheit verletze.

7.2.

Mit Bestürzen hat der EWSA Defizite in Ausgestaltung und Umsetzung von Arbeitsschutzmaßnahmen erkannt, die auch im Vorfeld der Erkundungsmission zu Unfällen geführt hatten, wie beispielsweise das Grubenunglück im Mai 2014 in Soma. Der EWSA ruft die türkische Regierung und Verwaltung auf, unter Beteiligung der Arbeitnehmer Vorkehrungen zum Schutz von Leib und Leben der Arbeitnehmer weiterzuentwickeln und flächendeckend durchzusetzen.

8.   Kommunale Selbstverwaltung als Instrument partizipativer Demokratie

8.1.

In der Türkei ist das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung mitunter immer noch ein gegenseitiger Lernprozess, bei dem die jeweiligen Rollen und Befugnisse inkrementell definiert und ausgefüllt werden müssen. Der EWSA stellt fest, dass auch in der Türkei vertikale Gewaltenteilung als ein Instrument für die vielfältige Verknüpfung von Staatlichkeit und gesellschaftlichen Gruppen zum Einsatz kommt und demokratische Prozesse auch regional und lokal stärker zu verankern wären. Auch hier bietet es sich an, zivilgesellschaftliche Organisationen mit direktem lokalem Bezug in politische Entscheidungsprozesse einzubinden, z. B. als sachkundige Bürger und unabhängige Berater.

9.   Allgemeine gesellschaftliche Vorbedingungen für zivilgesellschaftliche Organisationen

9.1.

Staat und Medien könnten das Verständnis der Bevölkerung für die Verschiedenheit gesellschaftlicher Gruppen und die Notwendigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen und Interessenartikulation noch mehr fördern, damit auch Minderheiten als legitimer und bereichernder Teil der türkischen Gesellschaft wahrgenommen werden.

9.2.

Die Herausbildung und professionelle Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen bedarf einer gelebten pluralistischen, partizipativen Gesellschaftsstruktur. Entscheidend ist nicht nur die rechtliche Betätigungsmöglichkeit für zivilgesellschaftliche Organisationen durch institutionelle Vorkehrungen, sondern auch die Wahrung der faktischen Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Engagement. Ehrenamtliche Arbeit hängt neben der individuellen Überzeugung für die verfolgten Interessen und Werte auch von der Anerkennung ab, welche dem Einzelnen für sein Engagement entgegengebracht wird.

9.3.

Einige Gespräche mit zivilgesellschaftlichen Akteuren haben eine Selbstwahrnehmung eines unterlegenen Ankämpfens gegen Autoritäten anstatt einer legitimen Interessenvertretung gezeigt. Bestürzend waren teilweise Semantiken der Gegnerschaft, des Misstrauens und des Widerstandes gegen gesellschaftliche oder staatliche Kräfte. Diese Grundeinstellung steht einem gegenseitigen Verständnis und inhaltlichen Fortschritt durch gemeinsame Veränderungen entgegen und beinhaltet die Gefahr der Spaltung gesellschaftlicher Gruppen in der Türkei.

9.4.

Um ein Klima des Misstrauens und der Angst zu überwinden, sind die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen eingeladen, gemeinsam mit ihren europäischen Partnerorganisationen in einen Dialog und Trilog einzutreten, mit dem Ziel, ein Klima des gegenseitigen Respekts und Vertrauens zu stärken.

Brüssel, den 21. Januar 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Siehe hierzu den in der 32. Sitzung des Gemischten Beratenden Ausschusses (GBA) EU/Türkei vom 7./8. November 2013 angenommenen Bericht über die Gewerkschaftsrechte in der Türkei (Joint Report on Trade Union Rights Situation in Turkey, Ko-Berichterstatter: Frau Annie Van Wezel und Herr Rucan Isik) (CES6717-2013_00_00_TRA_TCD), http://www.eesc.europa.eu/?i=portal.en.events-and-activities-32-eu-turkey-jcc-jointreport.30035


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

504. Plenartagung des EWSA vom 21./22. Januar 2015

23.7.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 242/39


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur

(COM(2014) 557 final — 2014/0256 (COD))

(2015/C 242/07)

Berichterstatterin:

Renate HEINISCH

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 20. Oktober 2014 bzw. am 23. Oktober 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 und 168 Absatz 4 Buchstabe c AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur“

COM(2014) 557 final — 2014/0256 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 16. Dezember 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 504. Plenartagung am 21./22. Januar 2015 (Sitzung vom 21. Januar 2015) mit 223 Stimmen bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Änderung der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 (1) ist Teil eines Verordnungspaketes, mit dem das europäische Tierarzneimittelrecht neu geregelt werden soll. In der o. g. Verordnung werden die Verweise auf Tierarzneimittel gestrichen und damit eine komplette Entkopplung der Vorschriften für Tierarzneimittel und Humanarzneimittel vorgenommen. Dies ist aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den beiden Bereichen sinnvoll und wird von uns unterstützt. Die vorgeschlagenen Änderungen der o. g. Verordnung sind aus unserer Sicht folgerichtig. Konkrete Vorschläge zur Änderung der o. g. Verordnung werden nicht vorgelegt und erscheinen auch nicht notwendig. Der EWSA empfiehlt, dem Verordnungsentwurf in dieser Form zuzustimmen.

1.2.

Sehr viel bedeutsamer als die mit der genannten Verordnung vorgenommene Streichung der Bezüge zu Veterinärarzneimitteln ist jedoch die Neuregelung der Bestimmungen für Veterinärarzneimittel, die zeitgleich mit dem Entwurf der Verordnung COM(2014) 558 final — 2014/0257 (COD) vorgelegt wurde.

1.3.

Nach einer ersten Sichtung des betreffenden Dokuments werden auch diese Vorschläge zu einer Verordnung über Tierarzneimittel, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren sowie einer Verordnung zu Herstellung, Inverkehrbringen und Verwendung von Arzneifuttermitteln begrüßt. In einer Reihe von Punkten sehen wir allerdings noch Verbesserungsbedarf, um die angestrebten Ziele einer Verbesserung der Verfügbarkeit von Tierarzneimitteln, einer Verringerung des administrativen Aufwandes, der Förderung von Innovation und Wettbewerbsfähigkeit sowie ein besseres Funktionieren des Binnenmarktes auch tatsächlich zu erreichen.

1.4.

Die EU-Institutionen müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass jede Genehmigung zum Inverkehrbringen von Arzneimitteln für Tiere Auswirkungen auf die Lebensmittelkette und die menschliche Gesundheit hat. Grund hierfür sind insbesondere die verschiedenen Formen von Infiltration und Verbreitung über das Wasser bedingt durch Nanotechnologien, die Aufbereitung von Abwasser, die neue Durchlässigkeit bestimmter Grundwasser usw. Wie er bereits in seinen früheren Stellungnahmen dargelegt hat, beobachtet der EWSA dies mit Sorge.

1.5.

Eine tiefer gehende Kommentierung dieses Vorhabens ist jedoch nicht Teil unseres Arbeitsauftrages.

2.   Einleitung

2.1.

2001 wurden die Regelungen zur Herstellung, dem Vertrieb und der Anwendung von Tierarzneimitteln kodifiziert (Richtlinie 2001/82/EG (2)). Parallel wurde auch die Verordnung, in der u. a. das zentrale Zulassungsverfahren sowie die Europäische Arzneimittelagentur geregelt wird, neu gefasst (Verordnung (EG) Nr. 726/2004). In den genannten Dokumenten wurde die Zulassung, Herstellung, Vermarktung, Pharmakovigilanz und der Gebrauch von Tierarzneimitteln über deren gesamten Lebenszyklus geregelt. In Anhängen zur Richtlinie 2001/82/EG wurden auch Daten spezifiziert, die im Rahmen eines Zulassungsantrages zu übermitteln waren. Auch in der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 wurden u. a. Regelungen für Veterinärarzneimittel (neben Humanarzneimitteln) niedergelegt und die Zusammenarbeit mit der Europäischen Arzneimittelagentur geregelt.

2.2.

Die Regelungen für die Erteilung und Aufrechterhaltung von Zulassungen für Veterinärarzneimittel sollen nunmehr aus der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 gestrichen und in eine neue Verordnung für Veterinärarzneimittel überführt werden. Diese neue Verordnung soll alle Formen der Zulassungserteilung für Veterinärarzneimittel in der Union umfassen, sowohl zentral als auch national erteilte.

2.3.

Die Kosten für die Verfahren und Dienstleistungen im Zusammenhang mit dieser Verordnung sollen auf die Hersteller und Vertreiber entsprechender Produkte bzw. auch die Antragsteller umgelegt werden. Hierzu werden Prinzipien für Gebühren gegenüber der Europäischen Arzneimittelagentur etabliert. Diese umfassen auch Regelungen, die den besonderen Bedürfnissen von KMU Rechnung tragen, entsprechend den Regelungen des Vertrags von Lissabon.

2.4.

In dem am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon wird eine Unterscheidung getroffen zwischen der der Kommission in Artikel 290 AEUV übertragenen Befugnis, Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes zu erlassen (Verfahren der Befugnisübertragung), sowie der Befugnis gemäß Artikel 291 AEUV, Durchführungsrechtsakte zu erlassen (Verfahren zur Wahrnehmung von Durchführungsbefugnissen).

2.5.

Der rechtliche Rahmen ist in beiden Fällen völlig verschieden.

2.5.1.

Die Befugnisübertragung ist in folgenden nicht verbindlichen Instrumenten vorgesehen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Umsetzung von Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (3);

Vereinbarung über delegierte Rechtsakte zwischen dem Parlament, dem Rat und der Kommission;

Artikel 87 und 88 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments, geändert durch Beschluss vom 10. Mai 2012 (4).

2.5.1.1.

Der EWSA hat kürzlich einen ausführlichen Informationsbericht über das Verfahren der Befugnisübertragung verabschiedet, dessen Lektüre zum Verständnis dieser Stellungnahme dringend empfohlen wird (5).

2.5.2.

Die in Artikel 291 AEUV vorgesehene Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse wird durch rechtsverbindliche Instrumente geregelt:

Verordnung (EU) Nr. 182/2011 (6) (im Folgenden „Komitologieverordnung“), in der zwei Verfahren vorgesehen sind: das Beratungsverfahren und das Prüfverfahren;

Beschluss 1999/468/EG (7) (im Folgenden „Komitologiebeschluss“), zur Stärkung der Kontrollbefugnisse des Parlaments und des Rates 2006 geändert, der das Regelungsverfahren mit Kontrolle vorsieht.

2.5.3.

Das Regelungsverfahren mit Kontrolle wurde zur Annahme von Durchführungsmaßnahmen zur Änderung nicht wesentlicher Vorschriften eines Gesetzgebungsaktes angewandt. Der Wortlaut von Artikel 5a des Komitologiebeschlusses (8) ähnelt weitgehend der Definition der delegierten Rechtsakte. Ein delegierter Rechtsakt gemäß der Definition von Artikel 290 AEUV ist ein quasi-legislativer Akt, der von der Kommission zur Ergänzung oder Änderung bestimmter „nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes“ erlassen wird.

2.5.4.

Aufgrund dieser Ähnlichkeit bleiben Artikel 5a des Komitologiebeschlusses und das Regelungsverfahren mit Kontrolle zwischen 2009 und 2014 vorläufig gültig, da der Kommission daran gelegen ist, die geltenden Bestimmungen, die ein Regelungsverfahren mit Kontrolle vorsehen, innerhalb dieses begrenzten Zeitraums an die Regelung für delegierte Rechtsakte anzupassen.

2.5.5.

Als Reaktion auf eine „Forderung“ des Europäischen Parlaments (9) hat die Kommission mit Unterstützung des Rates einige Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen angepasst (10).

3.   Vorschläge der Kommission

3.1.

Die Kommission hat drei Verordnungsvorschläge vorgelegt:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur (COM(2014) 557 final),

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Tierarzneimittel (COM(2014) 558 final),

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Verwendung von Arzneifuttermitteln sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/167/EWG (11) des Rates (COM(2014) 556 final).

3.2.

Mit diesem Paket von Verordnungen soll eine komplette Entkopplung der Vorschriften für Human- und Tierarzneimittel vorgenommen werden.

3.3.

Um dies zu erreichen, werden im ersten Vorschlag alle Verweise auf Tierarzneimittel aus der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur gestrichen.

3.4.

Mittels der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Tierarzneimittel (COM(2014) 558 final) erfolgt dann eine Neuregelung der Bestimmungen zu Tierarzneimitteln. U. a. soll das zentrale Zulassungsverfahren auch für Tierarzneimittel geöffnet werden, die anderen Zulassungsverfahren (nationales Verfahren, dezentrales Verfahren und das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung) stehen den Tierarzneimitteln jedoch weiter offen. Ziel der Neuregelungen ist ferner, den administrativen Aufwand für die Änderung von Zulassungen von Tierarzneimitteln zu reduzieren.

3.5.

Die grundsätzliche Zielsetzung dieser Verordnung ist sinnvoll und wird von uns unterstützt. Eine Detailanalyse dieses Verordnungsvorschlages war jedoch nicht Teil des Arbeitsauftrages.

3.6.

Mittels der dritten Verordnung über die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Verwendung von Arzneifuttermitteln sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/167/EWG des Rates (COM(2014) 556 final) sollen schließlich EU-weit einheitliche Vorgaben für die Produktion und Anwendung von Arzneifuttermitteln etabliert werden. Die bisher allgemein gehaltenen Vorgaben der Richtlinie 90/167/EWG mit den Bedingungen für die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Verwendung von Fütterungsarzneimitteln in der Gemeinschaft werden insofern präzisiert und verbindlich vorgeschrieben. Hierdurch soll ein reibungsloses Funktionieren eines wettbewerbsfähigen und innovativen Binnenmarktes für Arzneifuttermittel bei einem hohen Maß an Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier erreicht werden.

3.7.

Die EU-Institutionen müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass jede Genehmigung zum Inverkehrbringen von Arzneimitteln für Tiere Auswirkungen auf die Lebensmittelkette und die menschliche Gesundheit hat. Grund hierfür sind insbesondere die verschiedenen Formen von Infiltration und Verbreitung über das Wasser bedingt durch Nanotechnologien, die Aufbereitung von Abwasser, die neue Durchlässigkeit bestimmter Grundwasser usw. Wie er bereits in seinen früheren Stellungnahmen dargelegt hat, beobachtet der EWSA dies mit Sorge.

3.8.

Zusammenfassend wird festgestellt, dass der EWSA die Entkopplung der Regelungen zu Human- und Tierarzneimittel begrüßt sowie die vorgeschlagenen Neuregelungen für die Tierarzneimittel im Grundsatz befürwortet. Positiv zu sehen sind insbesondere die Öffnung des zentralen Zulassungsverfahrens sowie die Vorschläge zur administrativen Vereinfachung in der Beantragung und Pflege von Zulassungen für Tierarzneimittel.

Brüssel, den 21. Januar 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. L 136 vom 30.4.2004, S. 1.

(2)  ABl. L 311 vom 28.11.2001, S. 1.

(3)  COM(2009) 673 final vom 9.12.2009.

(4)  Dok. A7-0072/2012.

(5)  Informationsbericht zum Thema „Bessere Rechtsetzung: Durchführungsrechtsakte und delegierte Rechtsakte“ (INT/656).

(6)  ABl. L 55 vom 28.2.2011, S. 13.

(7)  ABl. L 184 vom 17.7.1999, S. 23.

(8)  Beschluss des Rates vom 17. Juli 2006 (ABl. L 200 vom 22.7.2006, S. 11).

(9)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 5. Mai 2010 (P7-TA (2010) 0127), Ziffer 18.

(10)  Erklärungen der Kommission (ABl. L 55 vom 28.2.2011, S. 19).

(11)  ABl. L 92 vom 7.4.1990, S. 42.


23.7.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 242/43


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Sechster Bericht über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt: Investitionen in Beschäftigung und Wachstum

(COM(2014) 473 final)

(2015/C 242/08)

Berichterstatter:

Paulo BARROS VALE

Die Europäische Kommission beschloss am 23. Juli 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Sechster Bericht über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt: Investitionen in Beschäftigung und Wachstum“

COM(2014) 473 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 16. Dezember 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 504. Plenartagung am 21./22. Januar 2015 (Sitzung vom 21. Januar 2015) mit 211 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Mitteilung der Kommission — „Sechster Bericht über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt“, möchte jedoch gleichzeitig eine Reihe von Vorbehalten und Bedenken zu dieser derart wichtigen Thematik vorbringen.

1.2.

Ziel der Kohäsionspolitik muss ihr ursprünglicher Zweck bleiben, der auch im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verankert ist, nämlich die Förderung des sozialen, wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalts. Dafür müssen Zusammenarbeit und Solidarität in den Dienst einer harmonischen Entwicklung zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger gestellt werden. Die Fokussierung auf die Europa-2020-Strategie ist wichtig, angesichts der derzeitigen Herausforderungen aber unzureichend.

1.3.

Der Bericht ist eine Bilanz der Bemühungen der EU um ein lebenswerteres Europa, jedoch auch eine Bestandsaufnahme der dabei auftretenden Schwierigkeiten. Infolge der Krise sind die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede und das zwischen den (und innerhalb der) verschiedenen Mitgliedstaaten bestehende Gefälle größer geworden, wobei es zu einer Konzentration von Wachstum und Entwicklung gekommen ist. Die bei der Konvergenz erzielten Fortschritte wurden von der Krise nicht nur unterbrochen, sondern in einigen Fällen hat sich die Lage sogar verschärft, und fast im gesamten Euroraum herrscht Rezession.

1.4.

In Zeiten der Krise, wie wir sie gerade durchleben, sind die meisten Mitgliedstaaten und insbesondere die Länder des Euroraums nicht in der Lage, Investitionen zu fördern, wodurch sich die Unterschiede zwischen den Gebieten in Randlage und den Zentren (sowohl zwischen den EU-Mitgliedstaaten als auch innerhalb der einzelnen Länder) vergrößern. Das führt zu perversen Effekten wie Migrationsströmen und Konzentration der Investitionstätigkeit in den am höchsten entwickelten Gebieten, was eine rückläufige Entwicklung und Entvölkerung für die anderen Regionen bedeutet.

1.5.

Die ergriffenen Sparmaßnahmen haben generell nicht die erwartete Wirkung gezeigt. Ein ausgeglichener Haushalt ist ein erstrebenswertes Ziel, das aber nicht um jeden Preis verfolgt werden darf, da es sonst negative Auswirkungen hat und die Ergebnisse der Kohäsionspolitik zunichtemacht.

1.6.

Die Kohäsionspolitik, die in vielen Fällen die wichtigste Quelle von Investitionen sein dürfte, sollte ehrgeiziger konzipiert oder sogar grundlegend überarbeitet werden, solange kein Aufschwung bei Wachstum und Beschäftigung zu verzeichnen ist. Aus den bislang erzielten Ergebnissen kann geschlossen werden, dass die für diese Politik bereitgestellten Mittel offenkundig nicht ausreichen, um die wirklichen Probleme zu lösen. Es gilt daher, alternative Formen der Finanzierung für Konvergenzmaßnahmen zu finden, die die Kohäsionspolitik auf eine neue Stufe heben, die nicht nur auf der Solidarität innerhalb Europas beruht — derzeit ein besonders heikles Thema. Für die Solidarität innerhalb Europas werden große Anstrengungen unternommen, doch angesichts des Ausmaßes der Defizite, die in den wirtschaftlich und sozial am schwächsten entwickelten Regionen bestehen, reichen die dabei mobilisierten Ressourcen nicht für die realen Konvergenzerfordernisse aus.

1.7.

In einer globalen Wirtschaft hat sich die Globalisierung in unterschiedlicher Weise in den verschiedenen Regionen ausgewirkt. Diese verfolgen unterschiedliche Ansätze für Investitionen, wobei untersucht werden muss, warum einigen Regionen die Konvergenz gelingt, anderen dagegen nicht. Es muss unbedingt gelingen, mit der Kohäsionspolitik neue Formen der Governance einzuführen, mit denen die Regionen erfolgreich auf die vor ihnen stehenden Herausforderungen reagieren können. Die Rolle des Staates sollte es sein, zur Aufwertung der besonderen Merkmale der Regionen beizutragen, die Grundsätze der intelligenten Rechtsetzung einzuhalten, ein dynamisches Unternehmertum sicherzustellen und insbesondere die Entwicklung der KMU zu unterstützen sowie die Innovationsfähigkeit zu stärken, um damit Wohlstand, Lebensqualität, sozialen Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit zu fördern.

1.8.

Die Kohäsionspolitik muss auch in Zukunft auf die Förderung des Wirtschaftswachstums und der Wettbewerbsfähigkeit abstellen, darf dabei aber nicht die sozialen Ziele für ein intelligentes und inklusives Wachstum vernachlässigen. Der EWSA unterschreibt das Motto dieses sechsten Kohäsionsberichts: „Investitionen in Beschäftigung und Wachstum“.

2.   Vorschläge

2.1.

Grundlegendes Ziel der Kohäsionspolitik ist es, ihre Mittel so zu kanalisieren und zu investieren, dass ein veritabler Investitionsplan für Wachstum und Beschäftigung vorangetrieben wird. Zusammen mit dem nun beschlossenen Juncker-Plan sollen damit vorrangig länderübergreifende europäische Strukturprojekte (z. B. verschiedene Verkehrsnetze und Breitbandnetze) finanziert werden und eine Direktfinanzierung für Unternehmen (insbesondere KMU) in Schlüsselbereichen der lokalen Entwicklung und der Sozialwirtschaft bereitgestellt werden.

2.2.

Im Rahmen des unlängst angenommenen Juncker-Plans wird ein „Fonds für strategische Investitionen“ geschaffen, der aus bestehenden EU-Fonds und durch die EIB finanziert wird. Dabei hat man sich das sehr ehrgeizige Ziel gesetzt, eine größtmögliche Nutzung privater und öffentlicher Investitionsmittel zu erreichen, wozu schnell umsetzbare Projekte ausgewählt werden. Der Plan geht davon aus, dass es eine riesige, noch unerschlossene Nachfrage nach Investitionen dieser Art gibt. Ob der Plan Erfolg haben wird, kann nur die Zukunft zeigen.

2.3.

Mit Blick auf weiterführende Zielstellungen sind im Rahmen der Kohäsionspolitik neben den verfügbaren Fonds auch eigene Finanzierungsformen denkbar, z. B. durch Beteiligung der Europäischen Investitionsbank (EIB) oder Eurobonds, ohne dadurch die Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung oder die Erfüllung des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu gefährden.

2.4.

Damit die Investitionen ihre Multiplikatorwirkung entfalten können, sollte ein beträchtlicher Teil der verbleibenden Strukturfondsmittel aus dem vorhergehenden Programmplanungszeitraum (2007-2013) sowie Mittel aus dem neuen Zeitraum der EIB für eine Rekapitalisierung zugewiesen werden, um so auf dem Markt Risikokapital einzuwerben, das die Wirkung der Kohäsionspolitik verstärken könnte (1).

2.5.

Die Kohäsionspolitik muss mit den anderen Initiativen der EU gut verzahnt sein, insbesondere mit der Förderung der Wirtschafts- und Währungsunion, damit die elf gesteckten Ziele zusammen erreicht werden können und die „Investitionen für Wachstum und Beschäftigung“ tatsächlich getätigt werden.

2.6.

Die Kohäsionspolitik darf die Ziele der Haushaltskonsolidierung nicht infrage stellen. Die finanziell am schlechtesten gestellten Mitgliedstaaten haben derzeit nicht die Mittel, um die öffentliche Investitionstätigkeit anzukurbeln, und bieten daher für private Anleger keine attraktiven Konditionen. Der Grundsatz der Zusätzlichkeit muss in den betroffenen Mitgliedstaaten mit Umsicht und in entsprechend angepasster Form angewandt werden, da die Nichteinhaltung dieses Grundsatzes die Mittelzuweisungen beeinträchtigt, die in einigen Fällen die einzige Finanzierungsquelle für Investitionen sein können. Der EWSA unterstützt die Anwendung der goldenen Regeln, wonach die Kofinanzierung im Rahmen der Strukturfonds in den am stärksten von der Rezession betroffenen Staaten vorläufig aus den Berechnungen für den Fiskalpakt (und/oder Stabilitätspakt) ausgenommen werden sollte (2).

2.7.

Hier ist eine Überwachung der Ergebnisse von wesentlicher Bedeutung. Der EWSA bekräftigt seine Auffassung, dass die Zwischen- und Endergebnisse durch dynamische Arbeitsgruppen bewertet werden sollten, die ihre Schlussfolgerungen auf einem jährlichen europäischen Gipfel (3) vorstellen könnten, mit dem die Debatte über und ggf. die Annahme von Korrekturmaßnahmen gefördert werden.

2.8.

Die Durchführung der Kohäsionspolitik muss unter Einbindung der Sozialpartner erfolgen. Im Rahmen des Modells für die Verwaltung der kohäsionspolitischen Programme sollte die Möglichkeit von pauschalen Subventionen für die organisierte Zivilgesellschaft erwogen werden, um eine bürgernahe und unmittelbar auf die Lösung bestimmter Probleme ausgerichtete Unterstützung zu ermöglichen. Der EWSA setzt sich bereits seit Langem bei den EU-Institutionen dafür ein, doch leider ohne konkreten Erfolg.

2.9.

Es müssen regelrechte Kontrollmechanismen geschaffen werden, die die Sozialpartner zur Begleitung dieser Politik befähigen, damit sie nicht in vielen Fällen bloße Zuschauer bleiben, sondern tatsächlich mitwirken können. Der Beitrag der Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft ist von wesentlicher Bedeutung, nicht nur bei der Konzipierung der operationellen Programme, sondern auch bei der Überwachung und Bewertung der Ergebnisse. Durch Einbindung der Partner werden die Debatte über die festgestellten Probleme und Verbesserungs- und Vereinfachungsvorschläge für einen leichteren Zugang zu EU-Finanzierungen und für eine effizientere Verwendung der Mittel gefördert.

2.10.

Die Vereinfachung und Harmonisierung der Vorschriften für die Programme und die Vereinheitlichung der Verfahren und Formulare sind entscheidende Voraussetzungen für bessere Ergebnisse. Die Kommission kann bestimmte Verfahren vereinfachen, doch die wichtigste Rolle kommt den Mitgliedstaaten zu, da mit den EU-Verordnungen Möglichkeiten und keine Pflichten eingeführt werden. Die Mitgliedstaaten brauchen Unterstützung und Anreize für eine drastische Vereinfachung der Verfahren und den Verzicht auf unnötige zusätzliche Details, wobei die Kommission diese Bemühungen begleiten könnte und soweit möglich eine strikte Kontrolle der Ergebnisse anstelle rein administrativer Kontrollen stattfinden sollte. Die Vereinfachung könnte durch eine außerordentliche Maßnahme (eine neue Verordnung) des Rates geregelt werden (4).

2.11.

Die Anwendung eines Grundsatzes der Gewährung von Investitionen und der Bewertung der Förderfähigkeit der Ausgaben mit der Möglichkeit der Erstattung auf der Grundlage vereinfachter Kosten (Pauschalprinzip) ist für verschiedene Fälle denkbar, zum Beispiel für allgemeine Betriebskosten, wobei die Förderfähigkeit der Ausgaben dann vom Ergebnis und nicht von der buchhalterischen Zurechnung anhand von Verteilungsschlüsseln abhängt. Die Mitgliedstaaten müssen dann Anreize für die möglichst umfassende Anwendung dieses Grundsatzes erhalten, wobei die Verfahren zu vereinfachen sind.

2.12.

Die Vereinfachung derjenigen Verwaltungsverfahren, die nichts zu den Ergebnissen beitragen, muss durch Schulungsmaßnahmen für Unternehmer, insbesondere Mittelständler, und deren Beschäftigte sowie für Beamte flankiert werden. Die Schulung ist ein grundlegendes Instrument für das Verständnis der Finanzierungsverfahren und für die korrekte Verwendung der verfügbaren Mittel. Insbesondere die Fortbildung von Beamten ist wesentlich, um das thematische Ziel einer besseren öffentlichen Verwaltung zu erreichen.

2.13.

Die durch die Verringerung des Verwaltungsaufwands eingesparten Ressourcen könnten für die Schaffung einer Arbeitsgruppe bei der Kommission verwendet werden, mit dem Ziel, die Mitgliedstaaten und die Regionen bei der Aufstellung und Umsetzung von kohäsionspolitischen Vorhaben zu beraten und zu unterstützen. Diese Gruppe zur Unterstützung der Länder und der Regionen könnte in letzter Instanz und bei Verletzung der Vorschriften an die Stelle der für die Verwaltung der EU-Mittel zuständigen nationalen Stellen treten, sei es bei der Planung oder bei der Umsetzung der Pläne und der Einhaltung der Fristen.

2.14.

Die Ziele der Kohäsionspolitik dürfen nicht nur anhand von quantitativen Indikatoren gemessen werden. Zur Förderung des sozialen, wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalts, der das Kernstück der Kohäsionspolitik bildet, gehören auch Ziele, die durch qualitative Indikatoren gemessen werden können, die auf die Erfassung der Entwicklung und nicht nur des Wachstums ausgelegt sind. Es reicht zum Beispiel nicht, die Zahl der Arbeitslosen zu erfassen, die an einer Bildungsmaßnahme teilgenommen und Arbeit gefunden haben, sondern es muss auch gemessen werden, inwieweit sich diese Bildungsmaßnahmen in einer Verbesserung der Lebensbedingungen niederschlagen.

2.15.

Die Ex-ante-Konditionalität, mit der eine Reihe von Voraussetzungen für die Auszahlung der Gelder festgelegt wird, darf nicht dazu führen, das bestimmte besonders hoch verschuldete Regionen von der Förderung ausgeschlossen werden, weil sie aufgrund ihrer Situation nicht in der Lage sind, die zur Schaffung dieser Voraussetzungen nötigen Investitionen zu tätigen oder anzuziehen. Die Ex-ante-Konditionalität muss behutsam angewendet oder sogar für einen bestimmten Zeitraum ausgesetzt werden, wenn eine Krisensituation oder Deflation droht, da sonst die bereits schwierige Situation bestimmter Regionen noch verschärft und diesen jede Möglichkeit genommen wird, wachstumsfördernde Finanzierungen zu erhalten, was die Probleme für sie weiter verschlimmert.

2.16.

Die makroökonomische Konditionalität darf nicht zur Anwendung kommen, da sonst die Regionen und ihre Bürger für die auf nationaler oder europäischer Ebene getroffenen makroökonomischen Entscheidungen bestraft werden (5).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die Einführung von Reformen in der Kohäsionspolitik wurde bereits im fünften Bericht über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt behandelt, wobei der EWSA seinerzeit den allgemeinen Ansatz befürwortet hatte.

3.2.

Die Kohäsionspolitik wird als Hauptwachstumsmotor dargestellt. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass sie das nur sein kann, wenn sie mit den anderen EU-Maßnahmen in den einzelnen Politikbereichen zusammenwirkt. Die Ausrichtung der Kohäsionspolitik auf die Ziele der Strategie Europa 2020 ist zwar wichtig, reicht jedoch nicht aus: Es gilt, zusammen mit den übrigen gemeinsamen Politikbereichen und Instrumenten auf wirtschaftlicher, sozialer und regionaler Ebene gemeinsame Umsetzungsstrategien aufzustellen.

3.3.

Besonderes Augenmerk muss der Umsetzung der Kohäsionspolitik in den am stärksten von der Krise betroffenen Ländern gelten, die um eine Haushaltskonsolidierung ringen, was ihre öffentliche Investitionstätigkeit beeinträchtigt. Die Gratwanderung zwischen der Anwendung des Grundsatzes der Zusätzlichkeit und der notwendigen Haushaltskonsolidierung ist schwierig, eine fehlende Verzahnung der Ziele und der Methoden zu ihrer Verwirklichung kann die Haushaltskonsolidierung beeinträchtigen und/oder die potenzielle Wirkung der Kohäsionspolitik aufheben.

3.4.

Die Bedeutung der Kohäsionspolitik für die Entwicklung der am stärksten benachteiligten Regionen wird anerkannt, doch in einigen dieser Regionen hätte dieses Wachstum bei günstigeren Entwicklungsbedingungen stärker ausfallen können. Der EWSA befürwortet die Einführung eines „Good governance“-Kriteriums im Einklang mit den Leitlinien der OECD, das ein besseres Umfeld für die Entwicklung ermöglichen soll.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Bis in Europa bei Entwicklung, Beschäftigung und Wohlstand wieder das Vorkrisenniveau erreicht wird, ist es noch ein weiter Weg. Das intelligente, nachhaltige und inklusive Wachstum, das eine Priorität der Strategie Europa 2020 bildet, wird jetzt durch die Neuausrichtung der Kohäsionspolitik unterstützt.

4.2.

Im sechsten Bericht ist noch keine Bewertung der Wirkung der Kohäsionspolitik im Zeitraum 2007-2013 enthalten, da diese erst nachträglich Anfang 2015 evaluiert wird. Anhand der vorliegenden Daten kann jedoch festgestellt werden, dass die Krise große Auswirkungen hatte und es der Kohäsionspolitik nicht gelungen ist, diesen Auswirkungen zu begegnen, wobei die Unterschiede in einigen Fällen gleich geblieben oder sogar größer geworden sind.

4.3.

Hierbei ist eine klare Festlegung von Strategien für die einzelnen Investitionsbereiche unter Berücksichtigung der Besonderheiten der verschiedenen Regionen von wesentlicher Bedeutung. Wie es in der Mitteilung heißt, „sollten Projekte an Strategien ausgerichtet sein und nicht umgekehrt“. Strategien aufzustellen reicht jedoch nicht aus. Es gilt, ein geeignetes regulatorisches Umfeld zu schaffen, das strikt ist, jedoch nicht durch unnötigen Verwaltungsaufwand abschreckend und hemmend wirkt. Günstige Rahmenbedingungen sind von größter Bedeutung, wie in der Mitteilung festgestellt wird. Die Kommission muss mehr Entschlossenheit gegenüber den Staaten an den Tag legen, die die Vorschriften nicht einhalten, um so die Verschwendung von Geldern, die von den Nettozahler-Staaten nicht geduldet wird, zu verhindern.

4.4.

Die Kohäsionspolitik erhält eine neue Ausrichtung in Form der vorteilhaften Auswahl einer begrenzten Zahl von Prioritäten, da mit den knappen Mitteln nicht der gesamte Bedarf der weniger entwickelten Regionen gedeckt werden kann. Der konzentrierte Einsatz der Mittel zur Unterstützung von Projekten mit großer und anhaltender Wirkung auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene hat zwar Vorteile, da damit spezifische Probleme gelöst werden. Ein derartiger Ansatz kann aber in einigen Fällen auch negative Auswirkungen haben: In Ländern mit in ihrer Entwicklung sehr heterogenen Gebieten, in denen es wenig private Investitionen gibt, kann eine zu große Mittelkonzentration Gebiete oder Zonen von Wachstum und Entwicklung ausschließen, die eigentlich Kohäsionsmittel erhalten könnten, was zu ihrer Konvergenz und zu einer gesamtheitlichen Entwicklung beitragen würde.

4.5.

Angesichts der unterschiedlichen vorliegenden Daten zur Wirkung der Kohäsionspolitik können die tatsächlichen Auswirkungen der getätigten Investitionen nur schwer beziffert werden, was zeigt, dass nicht die geeignetsten Indikatoren ausgewählt wurden. Der EWSA begrüßt, dass es hier anscheinend eine Weiterentwicklung gibt, da klare und messbare Ziele und Ergebnisse festgelegt werden sollen. Die in den Partnerschaftsvereinbarungen festgelegten Prioritäten, Indikatoren und Ziele müssen langfristig überwacht werden, was gegebenenfalls Korrekturmaßnahmen ermöglicht, um eine tatsächliche Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten für die Ergebnisse und eine zuverlässige Beobachtung der Maßnahmen sicherzustellen.

4.6.

Die Auswahl der Indikatoren darf sich jedoch nicht auf rein quantitative Kriterien beschränken. Das quantitative Kriterium ist zwar ideal, um Wachstum zu messen, für die Entwicklung jedoch sind qualitative Indikatoren erforderlich, die nicht vernachlässigt werden dürfen.

4.7.

In der Mitteilung werden die Städte als Wachstumsmotoren herausgestellt. An sie fließt fast die Hälfte der im Rahmen des EFRE bereitgestellten Mittel. Investitionen in die Städte und in ihr Potenzial als Katalysatoren sind zu begrüßen, jedoch mit Vorbehalten. Der EWSA weist darauf hin, dass diese Investitionen durchdacht werden müssen, da sonst Zentralismus mit negativen Auswirkungen Vorschub geleistet wird. Der Zuzug von vielen Menschen in die Städte kann zwar die Entwicklung stimulieren, eine Übervölkerung verstärkt jedoch auch Armut und soziale Ausgrenzung. Der Mangel an Investitionen in weniger zentral gelegenen Regionen bedroht die Lebensqualität der dortigen Bevölkerung und führt zu einer immer stärkeren Entvölkerung und Abwanderung in die großen Städte, wobei Tätigkeiten in der Landwirtschaft, Fischerei und Industrie — für die Entwicklung der EU wesentlichen Wirtschaftszweigen — aufgegeben werden.

4.8.

Die bessere Einbeziehung der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft wird als ein Grundprinzip der Kohäsionspolitik herausgestellt. Die Kommission hat im Januar 2014 eine delegierte Verordnung zum Europäischen Verhaltenskodex für Partnerschaften im Rahmen der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (6) veröffentlicht. Bei der Analyse des Dokuments kommt man zu dem Schluss, dass es keine großen Neuerungen im Vergleich zur bestehenden Praxis gibt und darin lediglich die Grundprinzipien für die Auswahl und die Einbindung der Partner und eine Reihe nachahmenswerter Vorgehensweisen aufgelistet werden, ohne dass eine verbindliche Regelung für eine Überwachung durch die Sozialpartner eingeführt wird. In Wirklichkeit spielen die Sozialpartner in vielen Mitgliedstaaten lediglich eine symbolische Rolle bei der Entscheidungsfindung: Es findet zwar eine Konsultation statt, doch der Meinung der bürgernahen Akteure, die die Probleme besonders gut kennen, wird nicht Rechnung getragen. Ungeachtet dieser Probleme bekräftigt der EWSA seine Unterstützung für die umfassende Umsetzung des Europäischen Verhaltenskodex.

4.9.

Der EWSA hatte bereits Gelegenheit, seine Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, dass alle Partner und Interessenträger der organisierten Zivilgesellschaft in die Vorbereitung, Durchführung und Ex-post-Bewertung der Programme und Projekte einbezogen werden sollten, da dies zu einer verbesserten Qualität und effizienteren Umsetzung beiträgt (7).

4.10.

Der bürokratische Aufwand muss verringert werden. Unter Heranziehung der im Rahmen der Rechnungsprüfungen ausgesprochenen Empfehlungen sollte der Schwerpunkt der Programme auf der Kontrolle der erzielten Ergebnisse und nicht so sehr der Form liegen, in der diese erreicht wurden, da dies mit komplizierten Verwaltungsverfahren verbunden ist, für die im öffentlichen und im privaten Sektor riesige und kostspielige Strukturen unterhalten werden müssen. Bürokratischer Aufwand ist ein großes Hemmnis für die Teilnahme vieler Unternehmer und für die Effizienz der öffentlichen Verwaltung. Eine Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verfahren, Vorschriften und Formulare ist nicht nur möglich, sondern wünschenswert.

5.   Good Governance — eine neue Herausforderung für 2014-2020

5.1.

Es gibt zwei unterschiedliche Auffassungen über die Bedeutung und den Einfluss einer guten Regierungsführung auf das Wirtschaftswachstum, von denen sich jedoch eine durchzusetzen scheint: Eine gute Regierungsführung und das Vorhandensein effizienter öffentlicher Einrichtungen sind notwendige Voraussetzungen für eine solide wirtschaftliche Entwicklung. Diese Ansicht wird auch vom EWSA vertreten.

5.2.

Rechtssicherheit und eine unabhängige Justiz sowie eine angemessene und beständige Rechtssetzung verringern die Verschwendung von Verwaltungsressourcen und vermitteln ein Gefühl der Stabilität, das sich günstig auf Investitionen auswirkt, was wiederum unmittelbar die Kohäsionspolitik betrifft.

5.3.

Der EWSA befürwortet die Einführung des in den Grundsätzen der OECD für effiziente öffentliche Investitionen verankerten Good-Governance-Kriteriums in der Kohäsionspolitik, da damit einem Querschnittserfordernis entsprochen wird. Die bestehenden Unterschiede zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Fähigkeit zur Umsetzung von Projekten und neuen Unternehmungen müssen verringert werden, da eine schwache Governance nicht nur den Inlandsmarkt beeinträchtigt, sondern auch Hindernisse für Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten schafft, was dem Binnenmarkt schadet.

5.4.

Einige Mitgliedstaaten haben offenbar Nachholbedarf hinsichtlich der Koordinierung auf regionaler Ebene und grundsätzlich in Bezug auf eine wirksame regionale Regierungsebene als Bindeglied zwischen der nationalen und der lokalen Regierungsebene, die in der Lage ist, regionale Strategien zu entwerfen, die für die Entwicklung und Konvergenz der Regionen von Bedeutung sind. Der Zentralstaat ist oft unfähig, die Bedürfnisse und Prioritäten seiner Gebietskörperschaften richtig zu interpretieren, überträgt den regionalen Einrichtungen aber dennoch mitunter nicht die erforderlichen Befugnisse, weshalb diese lediglich den Resonanzkörper für die nationale Politik bilden und keinen Mehrwert für die Region schaffen.

5.5.

Im Rahmen des neuen Kriteriums der Good Governance darf nicht vergessen werden, dass eine effiziente öffentliche Verwaltung nur möglich ist, wenn die Verantwortlichen in den Behörden entsprechend geschult werden und gleichzeitig der politische Wille für die erforderlichen Änderungen der Vorschriften da ist.

Brüssel, den 21. Januar 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 10.

(2)  ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 10.

(3)  ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 68.

(4)  ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 23.

(5)  ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 30.

(6)  Delegierte Verordnung (EU) Nr. 240/2014 der Kommission (ABl. L 74 vom 14.3.2014, S. 1).

(7)  ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 23.


23.7.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 242/48


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission zu wirksamen, zugänglichen und belastbaren Gesundheitssystemen“

(COM(2014) 215 final)

(2015/C 242/09)

Berichterstatter:

José Isaías RODRÍGUEZ GARCÍA CARO

Die Europäische Kommission beschloss am 4. April 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission zu wirksamen, zugänglichen und belastbaren Gesundheitssystemen

COM(2014) 215 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. Dezember 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 504. Plenartagung am 21./22. Januar 2015 (Sitzung vom 21. Januar 2015) mit 206 Stimmen bei 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Ausschuss begrüßt die Mitteilung, trägt dazu indes einige Überlegungen vor und fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, baldmöglichst und koordiniert die darin entwickelten Aktionslinien umzusetzen.

1.2.

Der Ausschuss bekräftigt, dass die Gesundheitssysteme der EU-Mitgliedstaaten auf Grundsätzen und Werten wie Universalität, Zugänglichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität fußen müssen, um das Wohlergehen der EU-Bürger zu gewährleisten. Ohne diese Grundprinzipien gibt es keine soziale Dimension Europas, und deshalb müssen sie im Rahmen aller politischen Maßnahmen der EU, die die öffentliche Gesundheit berühren, gewahrt und geschützt werden.

1.3.

Der Ausschuss ist überzeugt, dass die Wirtschaftskrise, die die Europäische Union im Allgemeinen und bestimmte Mitgliedstaaten im Besonderen erfasst hat, nicht mit Hilfe von Maßnahmen bewältigt werden kann, die das Recht der europäischen Bürger auf Gesundheitsschutz schmälern. Gesundheit ist trotz der Preise und Kosten der gesundheitlichen Versorgung keine Ware und darf deshalb nicht von der finanziellen Leistungsfähigkeit der Bürger abhängen.

1.4.

Um die Wirksamkeit der Gesundheitssysteme zu verbessern, muss das Potenzial der Ressourcen umfassend ausgeschöpft werden, indem sie so effizient und wirksam wie möglich eingesetzt und die Organisation der Gesundheitsdienstleistungen wie auch die berufliche Praxis sowohl auf wissenschaftlich-technische Qualität als auch auf Effizienz und Tragfähigkeit ausgerichtet werden; den Patienten ist stets mit größtmöglichem Respekt zu begegnen.

1.5.

Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist es nach Meinung des Ausschusses nicht hinnehmbar, dass es immer noch an vergleichbaren Daten mangelt. Ohne zuverlässige und aussagekräftige Daten können keine Fortschritte erzielt und einheitliche Indikatoren eingeführt werden, auf deren Grundlage Entscheidungen getroffen und wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt werden können. Er fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die Annahme eines Systems zuverlässiger Indikatoren voranzutreiben, das Analysen und die Festlegung von Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene erleichtert.

1.6.

Der Ausschuss erachtet den Abbau gesundheitlicher Ungleichheit als prioritär. Unterschiede bei den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten sind ausschlaggebend für die Krankheitsverteilung. Deshalb müssen sich die Staaten darauf verpflichten, sicherzustellen, dass bei der Gesundheitsversorgung Gleichberechtigung unabhängig von Aspekten wie geografischer Ort, Geschlecht, Behinderung, Einkommen und finanzieller Leistungsfähigkeit, Alter, Rasse usw. herrscht; und dass die Leistungen der Gesundheitsversorgung mit öffentlichen Mitteln (Steuern, Versicherungsbeiträge) im Sinne einer solidarischen Umverteilung finanziert werden. Er hält es für notwendig, ein möglichst breites Spektrum an Gesundheitsdienstleistungen zu vertretbaren Kosten aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass Zuzahlungen ein Hindernis für den Zugang der am stärksten benachteiligten Gruppen darstellen.

1.7.

Der Ausschuss betrachtet die Angehörigen der Gesundheitsberufe als wesentliches Element der Gesundheitssysteme. Eine hochwertige technische und wissenschaftliche Ausbildung ist unerlässliche Voraussetzung dafür, dass es genügend hochqualifizierte Fachkräfte gibt, die den Bedarf der europäischen Bürger an Gesundheitsleistungen erfolgreich bewältigen können. Desgleichen muss im Rahmen der Ausbildung von Berufen im Gesundheitswesen in den Mitgliedstaaten die Vermittlung von ethischem Wissen sichergestellt und gefördert werden.

1.8.

Die Förderung der medizinischen Grundversorgung als zentraler Bestandteil der im Rahmen der Gesundheitssysteme erbrachten Gesundheitsleistungen kann zur Verbesserung der durch diese Systeme erzielten Gesundheitsergebnisse sowie zur Kostendämmung und damit zur finanziellen Tragfähigkeit im Gesundheitswesen beitragen. Die Kommission sollte den Erfahrungsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten koordinieren.

1.9.

Der Ausschuss hält eine Kontrolle der Ausgaben für Arzneimittel und medizinisch-technischen Fortschritt, die entscheidend die Tragfähigkeit der Gesundheitsversorgung beeinflussen, für erforderlich. Die nationalen und europäischen Stellen müssen bei der Bewertung der Wirksamkeit und Sicherheit von neu auf dem Markt eingeführten Medikamenten und Technologien vom Blickpunkt ihres Beitrags zum Gesundheitsschutz aus eine maßgebliche Rolle übernehmen.

1.10.

Die Informations- und Kommunikationstechnologien müssen im Rahmen der Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten verstärkt genutzt werden, im Mittelpunkt der elektronischen Gesundheitsdienste muss indes der Mensch stehen.

1.11.

Um eine verantwortungsvolle Verwaltung der Gesundheitssysteme in der ganzen EU zu fördern und die gebührende Berücksichtigung von Patientenstandpunkten sicherzustellen, sollten bei der Erhebung von Daten und bei der Überwachung und Bewertung der Zugänglichkeit, Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit von Gesundheitssystemen Patientenaussagen eingeschlossen und Patientenvereinigungen, zivilgesellschaftliche Organisationen und die Sozialpartner umfassend und aktiv einbezogen werden.

2.   Einleitung

2.1.

Gemäß Artikel 168 AEUV wird bei der Tätigkeit der Union im Gesundheitswesen die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung gewahrt. In Absatz 7 dieses Artikels heißt es: „Die Verantwortung der Mitgliedstaaten umfasst die Verwaltung des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung sowie die Zuweisung der dafür bereitgestellten Mittel.“

2.2.

Der Gestaltungsspielraum der Union in den Gesundheitssystemen der Mitgliedstaaten betrifft somit die in diesem Artikel aufgeführten Fragen der öffentlichen Gesundheit. Mit ihrer unterstützenden Tätigkeit und über die Finanzierung und Koordinierung von Maßnahmen kann die Kommission indes bei anderen Aspekten der Gesundheitsversorgung, die den Mitgliedstaaten Fortschritte bei der Konsolidierung und Verbesserung ihrer nationalen Gesundheitssysteme ermöglichen, einen großen Zusatznutzen bewirken. Wie der Rat der Europäischen Union im Juni 2006 (1) betonte, liegen diesen Gesundheitssystemen gemeinsame europäische Werte und Prinzipien zugrunde, und zwar Universalität, Zugang zu einer Gesundheitsversorgung von guter Qualität, Gleichbehandlung und Solidarität. In ihrer Erklärung vertraten die Gesundheitsminister der Mitgliedstaaten die Auffassung, dass unsere Gesundheitssysteme ein grundlegender Bestandteil der sozialen Infrastruktur Europas sind.

2.3.

In der Mitteilung der Kommission werden eine Reihe Schwierigkeiten genannt, denen sich die europäischen Gesundheitssysteme gegenübersehen und die durch die Wirtschaftskrise verschärft worden sind: steigende Kosten der Gesundheitsversorgung und fortschreitende Bevölkerungsalterung mit entsprechendem Anstieg von chronischen Krankheiten, wachsende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, ungleichmäßige Verteilung von bzw. in einigen Mitgliedstaaten Mangel an Fachkräften und Ungleichheit beim Zugang zur Gesundheitsversorgung.

2.4.

In Anbetracht dieser Entwicklung und aufgrund der Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union vom Juni 2011 (2) und vom Dezember 2013 (3) hat die Kommission diese Mitteilung vorgelegt und den Ausschuss um Stellungnahme dazu ersucht. In seinen Schlussfolgerungen über Wirtschaftskrisen und Gesundheitsversorgung vom Juni 2014 begrüßt der Rat der Europäischen Union diese Mitteilung (4).

2.5.

In der Mitteilung wird eine EU-Agenda vorgeschlagen, um die Wirksamkeit, Zugänglichkeit und Belastbarkeit der Gesundheitssysteme zu verbessern und der EU unter Wahrung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten Leitlinien und Instrumente für eine Überwachung und Bewertung an die Hand zu geben. Die Agenda umfasst folgende Aktionslinien:

2.5.1.

Unterstützung der verbesserten Wirksamkeit von Gesundheitssystemen über die drei Aspekte Leistungsbewertungen, Qualität der Leistungen und Patientensicherheit sowie Integration von Gesundheitsleistungen. Verbesserung der Zugänglichkeit der Gesundheitsversorgung über Maßnahmen betreffend die Arbeitskräfte im Gesundheitswesen, den kostenwirksamen Einsatz von Arzneimitteln und die optimale Durchführung der Richtlinie 2011/24/EU. Verbesserung der Belastbarkeit von Gesundheitssystemen über den HTA-Ansatz, Gesundheitsinformationssysteme und E-Health.

3.   Bemerkungen zu der Mitteilung

3.1.

Probleme wie der Anstieg der Gesundheitskosten, die fortschreitende Bevölkerungsalterung und die Zunahme von chronischen Krankheiten bei vor allem älteren Menschen sind nicht erst in den letzten zehn Jahren entstanden, sondern waren schon in den Jahrzehnten davor aktuell und sind jetzt durch die krisenbedingten Mitteleinsparungen verschärft worden. Deshalb muss die strategische Planung darauf abheben, wie die Ressourcen, die die Gesundheitssysteme in den kommenden Jahren dauerhaft für die Versorgung einer aufgrund der höheren Lebenserwartung immer älteren und immer stärker pflegebedürftigen Bevölkerung benötigen werden, auf wirksame und effiziente Weise bereitgestellt werden können.

3.1.1.

Gesundheitsförderung und Krankheitsvorbeugung muss als grundlegenden Gesundheitsschutzmaßnahmen in unseren Gesundheitssystemen ein hoher Stellenwert zukommen. Die Gesundheitskosten können durch Investitionen in Gesundheitserziehung und die Förderung einer aktiveren und gesünderen Lebensweise zur Verringerung von Übergewicht, Rauchen und Alkoholkonsum maßgeblich gesenkt werden. Regelmäßige Krebsfrüherkennungsuntersuchungen und Gesundheits-Check-ups können dazu beitragen, dass mehr ältere Menschen einen langen und gesunden Lebensabend verbringen.

3.2.

Der Ausschuss bekräftigt, dass die Gesundheitssysteme der EU-Mitgliedstaaten auf Grundsätzen und Werten wie Universalität, Zugänglichkeit für alle, Gerechtigkeit und Solidarität fußen müssen. Diese Grundsätze gewährleisten, dass alle Bürger der Union Anspruch auf Gesundheitsschutz und -versorgung haben; dass durch eine angemessene und rechtzeitige Gesundheitsversorgung die besten Gesundheitsergebnisse erzielt werden; dass bei der Gesundheitsversorgung Gleichberechtigung unabhängig von Aspekten wie geografischer Ort, Geschlecht, Behinderung, Einkommen, Alter, Rasse usw. herrscht; und dass die Leistungen der Gesundheitsversorgung mit öffentlichen Mitteln (Steuern oder Versicherungsbeiträge) im Sinne einer solidarischen Umverteilung finanziert werden.

3.3.

Der Ausschuss betont, dass die Wirtschaftskrise, die die Europäische Union im Allgemeinen und bestimmte Mitgliedstaaten im Besonderen erfasst hat, nicht als Entschuldigung vorgeschoben werden darf, um bei dem allgemeinen Recht auf Gesundheitsschutz eine Unterteilung in Bürger erster und zweiter Klasse zuzulassen. Der Ausschuss weist diesbezüglich darauf hin, dass die verschiedenen Kapazitäten und die Qualität der Gesundheitsleistungen in den einzelnen Mitgliedstaaten auch den EU Bürgern zugutekommen müssen, die nicht in ihrem Heimatland, sondern vorübergehend im Ausland arbeiten. Die Wirksamkeit und Belastbarkeit der Systeme können nur verbessert werden, wenn dabei nicht die Leistungsempfänger aus den Augen verloren werden. Gesundheit ist trotz der Preise und Kosten der gesundheitlichen Versorgung keine Ware und darf deshalb keinesfalls von der finanziellen Leistungsfähigkeit der Bürger abhängen.

3.4.

In seiner Stellungnahme (5) zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Solidarität im Gesundheitswesen: Abbau gesundheitlicher Ungleichheit in der EU“ (6) vertrat der Ausschuss „die Auffassung, dass die Kommission die verfügbaren Instrumente (wie OKM, Folgenabschätzungen, Forschungsprogramme, Indikatoren, Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen) optimal ausnutzen und zusammen mit den Mitgliedstaaten neue Methoden erwägen sollte, um dafür zu sorgen, dass durch Politik und Maßnahmen der EU die Faktoren angegangen werden, die gesundheitliche Ungleichheit in der EU erzeugen oder dazu beitragen“. Der Ausschuss bekräftigt den Inhalt der genannten Stellungnahme sowie seine sämtlichen Empfehlungen zum Abbau gesundheitlicher Ungleichheit.

3.5.

Im Rahmen seiner Stellungnahme (7) zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Programm ‚Gesundheit für Wachstum‘, das dritte mehrjährige EU-Aktionsprogramm im Bereich der Gesundheit, für den Zeitraum 2014-2020“ (8) hat der Ausschuss sich bereits zu einigen Aspekten der Mitteilung geäußert. Er bestätigt in diesem Zusammenhang seine Bemerkungen zur Technologiefolgenabschätzung (HTA) im Gesundheitswesen, zur Ausbildung der Fachkräfte im Gesundheitswesen, zur Einführung der evidenzbasierten Medizin und zum Austausch bewährter Praktiken.

3.6.

Der Ausschuss hält es für sehr wichtig, das Gesundheitswesen in das Europäische Semester aufzunehmen. Durch seinen Anteil am BIP der Mitgliedstaaten, seine Beschäftigtenzahlen und seine Innovationskapazität ist dies ausreichend begründet. Indes darf bei der Umsetzung der Empfehlungen, die sich aus den Analysen des Europäischen Semesters ergeben, nicht an den Grundsätzen und Werten gerüttelt werden, die den Gesundheitssystemen der EU-Mitgliedstaaten zugrunde liegen.

3.7.

Eine rein ergebnisorientierte Verbesserung der Wirksamkeit der Gesundheitssysteme lässt andere Aspekte außer Acht, denen in Anbetracht von Ressourcenknappheit und Sparmaßnahmen Rechnung getragen werden müsste. So ermöglicht ein effizientes hochwertiges Gesundheitssystem im Rahmen der verfügbaren Mittel eine bestmögliche Qualität der Gesundheitsversorgung mit optimalen Ergebnissen. Daraus folgt, dass die Wirksamkeit eines Gesundheitssystems nicht verbessert werden kann, wenn nicht gleichzeitig auf Effizienz geachtet wird. Um das Potenzial der Ressourcen umfassend auszuschöpfen, müssen sie so effizient und wirksam wie möglich eingesetzt werden, indem die Organisation der Gesundheitsdienstleistungen und die berufliche Praxis sowohl auf wissenschaftlich-technische Qualität als auch auf Effizienz und Tragfähigkeit ausgerichtet werden.

3.8.

Der Ausschuss befürwortet, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten EU-weite Indikatoren entwickeln, mit denen sich die Wirksamkeit der Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge messen lässt. Dazu müssen alle Mitgliedstaaten validierte Systeme für eine transparente und objektive Erhebung von Daten einführen bzw. anwenden, um einen Gesamtüberblick zu ermöglichen und eine Zusammenarbeit im Hinblick auf den Abbau gesundheitlicher Ungleichheit zwischen den und innerhalb der Mitgliedstaaten zu erleichtern. Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist es nicht hinnehmbar, dass es immer noch an vergleichbaren Daten mangelt. Ohne zuverlässige, aussagekräftige und geeignete Daten können keine Fortschritte erzielt und einheitliche Indikatoren eingeführt werden, auf deren Grundlage Entscheidungen getroffen und wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt werden können.

3.9.

Die Zweckmäßigkeit der Gesundheitsindikatoren hängt von ihrer Zuverlässigkeit ab, die wiederum Voraussetzung dafür ist, dass sie zu Vergleichszwecken herangezogen werden können. Die Kommission räumt in ihrer Mitteilung ein, dass die Indikatoren nicht repräsentativ genug und die erlangten Ergebnisse deshalb nur begrenzt vergleichbar sind. Der Ausschuss befürwortet daher das System der europäischen Gesundheitsindikatoren (ECHI), das vergleichbare Daten über Gesundheitszustand und Gesundheitsverhalten, Krankheiten und Gesundheitssysteme liefert. Einigen Mitgliedstaaten kann so eine bessere Datenerhebung und die Anwendung bislang unbekannter Indikatoren erleichtert werden, und allgemein kann dadurch der Austausch bewährter Verfahren gefördert werden. Er begrüßt ferner den von der Untergruppe „Indikatoren“ des Ausschusses für Sozialschutz entwickelten gemeinsamen Bewertungsrahmen für Gesundheit.

3.10.

Nach Meinung des Ausschusses kann eine wirksame Anerkennung der Universalität der Gesundheitsversorgung durch Probleme beim Zugang zu den Gesundheitssystemen beeinträchtigt werden. Von Zugangsproblemen sind stets die Bevölkerungsgruppen am meisten betroffen, die über geringere Eigenmittel verfügen. Um gesundheitliche Ungleichheit abzubauen, muss zuallererst für Zugänglichkeit gesorgt werden. Einige wesentliche, von den Mitgliedstaaten zu schaffende Voraussetzungen für die Gewährleistung des Zugangs der Bürger zur Gesundheitsversorgung sind u. a. die Sicherung der medizinischen Grundversorgung im ländlichen Raum, die Nahversorgung mit Notfalldiensten, geeignete Transport- und Kommunikationsinfrastrukturen, der Zugang zu Spezialbehandlungen und Mäßigung bei der Einführung von Zuzahlungen (unter Berücksichtigung des Einkommens).

3.11.

Der Ausschuss hegt dieselben Befürchtungen wie die Kommission und bekräftigt, dass aufgrund der Unterzeichnung des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auch alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden müssen, damit Menschen mit Behinderungen Zugang zu Gesundheitsdiensten haben, was Barrierefreiheit der Gesundheitseinrichtungen impliziert.

3.12.

Der Ausschuss teilt den Standpunkt der Kommission, dass stabile Mechanismen zur Finanzierung der Gesundheitsversorgung Not tun. Eine Mischfinanzierung aus Beiträgen und Steuern kann hier für einen stabilen Finanzrahmen sorgen. Zur Verbesserung der Widerstandsfähigkeit oder Belastbarkeit ist ferner eine hochprofessionelle, auf wirksame Informationssysteme gestützte Verwaltung erforderlich, um eine genaue Berechnung der Kosten der Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Diese Voraussetzungen würden zusammen mit einem hochqualifizierten und motivierten Gesundheitspersonal ein belastbares Fundament für ein tragfähiges Gesundheitssystem bilden.

3.13.

Der Ausschuss teilt die Meinung der Kommission, dass eines der Hauptprobleme verschiedener einzelstaatlicher Gesundheitssysteme darin besteht, dass es nicht genügend Gesundheitsfachkräfte gibt. Durch die Abwanderung der Gesundheitsfachkräfte in andere EU-Mitgliedstaaten und Drittländer wird dieser Mangel noch verschärft. Die Gründe sind vielfältig und komplex. Die von der Kommission vorgeschlagene Agenda sollte Maßnahmen umfassen, um das Interesse junger Menschen an Gesundheitsberufen zu fördern, so dass die Zahl der Berufsanwärter steigt und sowohl unter professionellen als auch unter Beschäftigungsgesichtspunkten ein positives Berufsbild vermittelt wird.

4.   Bemerkungen zu der EU-Agenda für wirksame, zugängliche und belastbare Gesundheitssysteme

4.1.

Heutzutage dient die Leistungsbewertung der Gesundheitssysteme in den modernen Gesellschaften u. a. als Instrument der Rechenschaftslegung der Erbringer gegenüber den Empfängern von Gesundheitsdienstleistungen sowie als Planungsinstrument für die Zukunft. Im Einklang mit den in der Charta von Tallinn festgelegten Verpflichtungen befürwortet der Ausschuss, dass den Mitgliedstaaten Instrumente und Methoden an die Hand gegeben werden, die eine Annäherung der Gesundheitssysteme und einen Abbau der internen und externen Ungleichheiten dieser Systeme ermöglichen.

4.2.

Patientensicherheit bedeutet, Patienten soweit wie möglich vor Schäden zu bewahren, d. h., eine fehler- und schadensfreie ärztliche Behandlung und medizinische Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Patientensicherheit fördern bedeutet Risikomanagement, Meldung, Untersuchung und Überwachung von Vorfällen sowie Umsetzung von Lösungen zur Eindämmung des Wiederholungsrisikos. Der Ausschuss bekräftigt seine Empfehlungen aus seiner Stellungnahme (9) zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Sicherheit der Patienten unter Einschluss der Prävention und Eindämmung von therapieassoziierten Infektionen“ (10) und weitet sie auf andere unerwünschte Ereignisse als Infektionen aus, wobei er besonders die Notwendigkeit hervorhebt, Nebenwirkungen zu melden und zu beheben. Die geplanten Maßnahmen sollten darauf ausgerichtet werden.

4.3.

Gesundheitsdienstleistungen für Patienten sollten zwischen allen Ebenen der Gesundheitsversorgung dergestalt koordiniert werden, dass die Diagnose und Behandlung von Gesundheitsproblemen verstärkt im Rahmen der medizinischen Grundversorgung erfolgt. Ein gut ausgebautes Netz einer modernen und professionalisierten medizinischen Grundversorgung gewährleistet räumliche Nähe bei der Behandlung von Gesundheitsproblemen, hilft, unnötige spezialisierte Interventionen zu vermeiden, und trägt zur Senkung der Kosten der Gesundheitsversorgung bei, indem die Abhängigkeit von stationärer Pflege reduziert wird. Die Kommission sollte den Erfahrungsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten koordinieren.

4.4.

Der Anteil des Gesundheitssektors an der Gesamtzahl der Arbeitsplätze in den EU-Mitgliedstaaten ist so hoch, dass ein Fachkräftemangel als Gesundheitsproblem einzustufen ist. Um diese Art Problem zu vermeiden, muss die Europäische Union die Planung der Ausbildung von Gesundheitspersonal, für die die Mitgliedstaaten zuständig sind, begleiten und analysieren, um in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten eine kritische Masse an Fachkräften im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung einer zunehmend betreuungsbedürftigen Bevölkerung sicherzustellen. Der Ausbau der erforderlichen Berufsbildungs- und Hochschulkapazitäten sollte auch finanziell unterstützt werden.

4.5.

Nach Meinung des Ausschusses ist eine hochwertige technische und wissenschaftliche Ausbildung unerlässliche Voraussetzung dafür, dass es genügend hochqualifizierte Gesundheitsfachkräfte gibt, die den Bedarf der europäischen Bürger an Gesundheitsleistungen erfolgreich bewältigen können. Desgleichen muss im Rahmen der Ausbildung von Berufen im Gesundheitswesen in den Mitgliedstaaten die Vermittlung von ethischem Wissen sichergestellt und gefördert werden.

4.6.

Die Arzneimittelausgaben sind einer der wesentlichen Faktoren der Gesundheitskosten und beeinflussen die Tragfähigkeit der Gesundheitsversorgung. Die Verschreibung nach dem Wirkstoffprinzip oder den von der WHO vergebenen internationalen Freinamen anstatt nach Markennamen kann eine Senkung der Arzneimittelkosten begünstigen. Bei bestimmten Gesundheitsorganisationen in der EU wird dieses Prinzip angewendet; sie können anderen Mitgliedstaaten als Beispiel dienen. Indes muss bei der Annahme jedweder neuen Maßnahme den Erfordernissen der Arzneimittelforschung und ihrer Finanzierung Rechnung getragen werden.

4.7.

Der Ausschuss stimmt den Ausführungen der Kommission zur optimalen Umsetzung der Richtlinie 2011/24/EU (11) zu, ist indes der Meinung, dass darin nicht das Hauptproblem beim Zugang der Bürger zu ihren nationalen Gesundheitssystemen liegt und dass eine optimale Umsetzung dieser Richtlinie ihren Zugang auch nicht verbessern wird. Seiner Ansicht nach sollte die Mitteilung hinsichtlich der Verbesserung der Zugänglichkeit vorrangig darauf abheben, die Gesundheitsversorgung bis hin zu einer universellen Deckung auszuweiten, ein möglichst breites Spektrum an Gesundheitsdienstleistungen zu vertretbaren Kosten anzubieten und zu verhindern, dass Zuzahlungen ein Hindernis für den Zugang der am stärksten benachteiligten Gruppen darstellen. Eine sichere und hochwertige grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung ist keine Garantie für eine medizinische Grundversorgung der Bürger in ihrem eigenen Mitgliedstaat.

4.8.

Forschung und medizinische Innovation führen zur Entwicklung neuer Gesundheitstechnologien, um medizinische Herausforderungen in Diagnose und Therapie zu bewältigen. Die hohen Kosten dieser Technologien und die Frage nach ihrer Wirksamkeit erfordern ein zuverlässiges Bewertungssystem. Der Ausschuss nimmt mit großem Interesse zur Kenntnis, dass das Europäische Netz für Technologiefolgenabschätzung im Gesundheitswesen (EUnetHTA) durch die Förderung von Synergien und Verbreitung von Bewertungen für die nationalen und regionalen Agenturen großen Nutzen bringt.

4.9.

Die Nutzung der Informationstechnologien in Verbindung mit Patientenakten sollte nicht auf die behandelnde Einrichtung des Gesundheitswesens beschränkt bleiben. Das — wenn derzeit auch noch relativ fern liegende — Ziel sollte sein, dass jedwede behandelnde medizinische Fachkraft auf die digitale Krankengeschichte eines Patienten zugreifen kann. Die EU sollte Gesundheitsinformationssysteme und Online-Gesundheitsdienste fördern, die es ermöglichen, dass die Patientenakten der EU-Bürger überall dort verfügbar sind, wo sie sich aufhalten. Die digitale Patientenakte ist für die Patienten von großem Nutzen, für die Verwaltungen jedoch nicht einfach, da sie in ihren Gesundheitssystemen kompatible Anwendungen koordinieren müssen, die es jedweder medizinischen Fachkraft ermöglichen, unabhängig vom Aufenthaltsort Einblick in die Krankengeschichte eines Bürgers zu nehmen. Wird diese enorme Herausforderung bewältigt, dann ermöglicht das nach Ansicht des Ausschusses eine Verbesserung der Gesundheit der europäischen Bürger.

4.10.

Der Ausschuss erachtet es als außerordentlich wichtig, dass die Bürger Zugang zu elektronischen Gesundheitsinformationssystemen haben. Ein Beispiel wäre der Zugang zu Informationen über die von den Regulierungsbehörden für die Humanmedizin zugelassenen Medizinprodukte. Diese Information muss verständlich, genau, aktuell und zuverlässig sein, damit interessierte Bürger sich damit ergänzend zu den Informationen, die sie von den sie betreuenden medizinischen Fachkräften erhalten, kundig machen können.

4.11.

Zu den elektronischen Gesundheitsdiensten äußerte sich der Ausschuss in seiner Stellungnahme (12) zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Aktionsplan für elektronische Gesundheitsdienste 2012-2020 — innovative Gesundheitsfürsorge im 21. Jahrhundert“ (13). Er bekräftigt an dieser Stelle seine damalige Aussage: „Die elektronischen Gesundheitsdienste müssen das wechselseitige Vertrauen unter Patienten und Gesundheitsfachkräften fördern und dabei die Gefahr der ‚Unpersönlichkeit‘ und der mangelnden Beachtung psychologischer Faktoren vermeiden. Der Mensch muss im Mittelpunkt der elektronischen Gesundheitsdienste stehen.“ In diesem Sinne betont der Ausschuss abschließend, dass die Bürger im Zentrum der Gesundheitssysteme stehen.

Brüssel, den 21. Januar 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 146 vom 22.6. 2006, S. 1.

(2)  ABl. C 202 vom 8.7. 2011, S. 10.

(3)  ABl. C 376 vom 21.12. 2013, S. 3.

(4)  ABl. C 217 vom 10.7. 2014, S. 2.

(5)  ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 74.

(6)  COM(2009) 567 final.

(7)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 102.

(8)  COM(2011) 709 final.

(9)  ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 113.

(10)  COM(2008) 837 final.

(11)  ABl. C 175 vom 28.7. 2009, S. 116.

(12)  ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 122.

(13)  COM(2012) 736 final.


23.7.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 242/54


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Verwendung von Arzneifuttermitteln sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/167/EWG des Rates

(COM(2014) 556 final — 2014/0255 (COD))

und dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Tierarzneimittel

(COM(2014) 558 final — 2014/0257 (COD))

(2015/C 242/10)

Berichterstatter:

José María ESPUNY MOYANO

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 24. September bzw. am 20. Oktober bzw. am 23. Oktober 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43, Artikel 114, Artikel 168 Absatz 4 Buchstabe b und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Verwendung von Arzneifuttermitteln sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/167/EWG des Rates

COM(2014) 556 final — 2014/0255 (COD)

und

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Tierarzneimittel

COM(2014) 558 final — 2014/0257 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 8. Januar 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 504. Plenartagung am 21./22. Januar 2015 (Sitzung vom 21. Januar) mit 208 gegen 4 Stimmen bei16 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Arzneifuttermittel

1.1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hält es für notwendig und zweckmäßig, die EU-Rechtsvorschriften für Arzneifuttermittel zu überarbeiten, um einheitliche Bedingungen für Herstellung, Inverkehrbringen und Verwendung von Arzneifuttermitteln zu gewährleisten, mit denen sowohl der Schutz der Gesundheit und des Wohlbefindens der Tiere sichergestellt wie auch die Erwartungen der Verbraucher erfüllt werden.

1.1.2.

Der EWSA befürwortet die Verwendung von Arzneifuttermitteln als ein weiteres Mittel zur Gewährleistung der Aufzucht und Haltung gesunder Tiere und zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit.

1.1.3.

Der EWSA begrüßt, dass auch die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Verwendung von Arzneifuttermitteln für nicht zur Lebensmittelgewinnung dienende Tiere Aufnahme gefunden hat, denn sie bietet eine alternative Verabreichungsmöglichkeit für die Behandlung insbesondere von chronischen Krankheiten.

1.1.4.

Der EWSA fordert, Arzneifuttermittel für weniger wichtige Arten und die Aquakultur, für die Tierarzneimittel nur schwer verfügbar sind, zugänglich zu machen und die Hindernisse für die Herstellung und den reibungslosen Vertrieb dieser Mittel abzubauen. Er begrüßt außerdem die Vorab-Produktion, um die Herstellung besser planen und das Risiko etwaiger Verschleppung verringern zu können. Auf diese Weise kann vermieden werden, dass der Arzneimittelbestand unzureichend ist, da das Verfalldatum verstrichen ist.

1.1.5.

Der EWSA fordert, dass Tierärzten bzw. dem qualifizierten und zugelassenen Fachpersonal in dieser Verordnung eine größere Rolle zugewiesen wird, da diese die geltenden Vorschriften kennen und in der Lage sind, eine korrekte Diagnose zu erstellen und die geeignetste Behandlung zu verschreiben, mit der Gesundheitsschutz, Wohlergehen und öffentliche Gesundheit sichergestellt werden können.

1.1.6.

Nach Ansicht des EWSA sind Tierärzte bzw. das qualifizierte und zugelassene Fachpersonal bei Ausübung ihres Berufs die einzigen Personen, die die erforderliche Dauer der Behandlung festlegen dürfen; aufgrund der Unterschiede im Hinblick auf die Tierarten, ihren physiologischen Zustand, die Umstände der Verabreichung des Arzneimittels, die Schwere der Krankheit usw. darf die Behandlungsdauer nicht einzig und alleine durch eine starre Rechtsvorschrift vorgeschrieben werden.

1.1.7.

Der EWSA weist darauf hin, dass Höchstgrenzen für die Verschleppung, d. h. eine Übertragung von Spuren eines Wirkstoffs aus einem Arzneifuttermittel in ein Nichtziel-Futtermittel, festgelegt werden, wobei dies unter Berücksichtigung des Grundsatzes ALARA (as low as reasonably achievable — so niedrig wie vernünftigerweise erreichbar) erfolgen muss.

1.1.8.

Der EWSA ist sich der Unterschiede in den Herstellungssystemen bewusst und erachtet es als entscheidend, dass die Höchstgrenzen für die Verschleppung den in dieser Branche existierenden Technologien Rechnung tragen und derart festgelegt werden, dass sie keine Antibiotikaresistenz verursachen.

1.1.9.

Nach Meinung des EWSA sollte ein System für die integrale Verwaltung und Erfassung nicht verwendeter oder abgelaufener Produkte eingerichtet werden, um jedes Risiko auszuschalten, das von solchen Produkten für die Gesundheit von Mensch und Tier oder für die Umwelt ausgehen könnte.

1.1.10.

Der EWSA unterstreicht außerdem die Notwendigkeit, Kriterien, z. B. in Form von Zielwerten, zur Sicherstellung einer angemessenen Homogenität von Arzneifuttermitteln aufzustellen.

1.1.11.

Aus Sicht des EWSA könnte der EU-Binnenhandel durch diesen Verordnungsvorschlag beeinträchtigt werden, der daher flexibler gestaltet werden sollte, um die Wettbewerbsfähigkeit des Sektors zu verbessern.

1.1.12.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Tierärzte bzw. die qualifizierten und zugelassenen Fachkräfte ihrer Verantwortung nachkommen müssen, antimikrobiell wirksame Tierarzneimittel enthaltende Arzneifuttermittel nicht routinemäßig als Krankheits-Prophylaxe zu verwenden; es gibt natürlich Bedingungen, unter denen dies erforderlich ist (ebenso wie in der Humanmedizin), um die Gesundheit und das Wohlergehen der Tiere und somit auch die öffentliche Gesundheit sicherzustellen.

1.1.13.

Der EWSA ist der Ansicht, dass ermittelte prophylaktische Behandlungen mit Antibiotika in jedem Mitgliedstaat unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten und Merkmale der Produktionssysteme, der Tierarten, der Gesundheitssituation, der Verfügbarkeit der Arzneimittel usw. beurteilt werden sollten.

1.1.14.

Der EWSA hält es für notwendig, die erforderliche persönliche Schutzausrüstung für den Schutz der Arbeitnehmer vor chemischen Stoffen, die in dem bei der Herstellung entstehenden Staub enthalten sind und eingeatmet werden könnten, in diesem Verordnungsvorschlag aufzulisten.

1.1.15.

Der EWSA empfiehlt, dass die Mitgliedstaaten spezifische Schulungsprogramme für Arbeitnehmer auflegen, die chemischen Stoffen ausgesetzt sind.

1.1.16.

Nach Ansicht des EWSA sollte den Mitgliedstaaten in der Verordnung die Möglichkeit eingeräumt werden, Durchführungsakte zu erlassen, um den Verwaltungsaufwand für Kleinlandwirte, die für den Eigenbedarf produzieren, zu verringern, unbeschadet der spezifischen Sicherheits- und Hygienevorschriften für Arzneifuttermittel.

1.2.   Tierarzneimittel

1.2.1.

Aufgrund ihrer Auswirkungen auf die Gesundheit von Tier und Mensch, die Lebensmittelsicherheit, die Umwelt und die Wirtschaft im ländlichen Raum ist die Tiergesundheit von strategischer Bedeutung. Daher ist es wesentlich, dass zugelassene Tierarzneimittel auch verfügbar sind, damit die Tierärzte sowie die qualifizierten und zugelassenen Fachkräfte über ausreichende Mittel verfügen, um Tierkrankheiten einzudämmen, ihnen vorbeugen und sie behandeln zu können.

1.2.2.

Wie andere Tierarzneimittel sind auch Antibiotika zur Bekämpfung bakterieller Infektionen bei Tieren notwendig. Der EWSA erachtet den Zugang zu sicheren und wirksamen Antibiotika als ein grundlegendes Mittel, mit dem die Tierärzte die Gesundheit und das Wohlergehen der Tiere sowie die öffentliche Gesundheit erhalten bzw. wiederherstellen können.

1.2.3.

Daher begrüßt der EWSA das Ziel dieses Legislativvorschlags, einen aktuellen und verhältnismäßigen Rechtsrahmen aufzustellen und die Verfügbarkeit von Tierarzneimitteln zum Schutz der Gesundheit von Tier und Mensch, der Lebensmittelsicherheit und der Umwelt zu gewährleisten. Dieser Grundsatz sollte auch für die Gewährleistung der Verfügbarkeit von Antibiotika im Veterinärbereich gelten.

1.2.4.

Der Tierarzneimittelmarkt weist einige Besonderheiten und spezifische Merkmale auf, die ihn vom Humanarzneimittelmarkt unterscheiden. Daher ist es aus Sicht des EWSA richtig, dass dieser Legislativvorschlag ausschließlich auf Tierarzneimittel ausgerichtet ist. In diesem Sinne müssen die Grundsätze zwar kohärent sein, ihre Anwendung muss jedoch den Bedingungen des Sektors umfassend angepasst werden.

1.2.5.

Der EWSA weist darauf hin, dass die derzeit geltenden Vorschriften einen erheblichen Verwaltungsaufwand für die Industrie bedeuten, der die erforderliche Innovation bremst. Daher begrüßt er die Einführung vereinfachter Normen für das Zulassungsverfahren sowie im Zuge der Pharmakovigilanz, die Änderungen der Marktzulassungen usw., die den Verwaltungsmehraufwand verringern sollen. Allerdings besteht noch Spielraum für weitere Verbesserungen.

2.   Zusammenfassung der Vorschläge

2.1.   Arzneifuttermittel

2.1.1.

In dem Vorschlag werden die Anforderungen für Herstellung, Inverkehrbringen und Verwendung von Arzneifuttermitteln in der Union festgelegt.

2.1.2.

Diesbezüglich werden die zu verwendenden Begriffe definiert; darunter sind folgende herauszugreifen:

„Arzneifuttermittel“: eine Mischung aus einem oder mehreren Tierarzneimitteln oder Zwischenprodukten und einem oder mehreren Futtermitteln, die ohne weitere Verarbeitung direkt an Tiere verfüttert werden kann;

„Zwischenprodukt“: ein Gemisch aus einem oder mehreren Tierarzneimitteln und einem oder mehreren Futtermitteln zum Zweck der Herstellung von Arzneifuttermitteln;

„Futtermittelunternehmer“: eine natürliche oder juristische Person, die dafür verantwortlich ist, dass den Anforderungen der vorliegenden Verordnung in dem ihrer Kontrolle unterstehenden Futtermittelunternehmen entsprochen wird;

„mobiler Mischer“: ein Futtermittelunternehmer mit einem Futtermittelbetrieb, der aus einem speziell für die Herstellung von Arzneifuttermitteln ausgestatteten Wagen besteht.

2.1.3.

Der EWSA begrüßt, dass Arzneifuttermittel in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 767/2009 und der Verordnung (EG) Nr. 183/2005 über Mischfutter fallen und somit als Mischfutter eingestuft werden.

2.1.4.

Der Anwendungsbereich für Arzneifuttermittel wird auf nicht der Lebensmittelgewinnung dienende Tiere ausgeweitet, z. B. Heimtiere.

2.1.5.

Die Verwendung von Arzneifuttermittel wird in diesem Verordnungsvorschlag als zweckdienliches und sehr nützliches Mittel zur Verbesserung der Tiergesundheit und der öffentlichen Gesundheit erachtet. Gleichermaßen wird auch ihr Nutzen für einige äußerst wettbewerbsfähige Produktionssysteme in Europa betont.

2.1.6.

Die Viehwirtschaft in der Europäischen Union und die verschiedenen Produktionssysteme in den Mitgliedstaaten spielen eine wichtige Rolle. Daher müssen Mittel wie Arzneifuttermittel entwickelt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit dieses Sektors zu stärken.

2.1.7.

In den Anhängen zu dieser Verordnung sind alle Anforderungen für die Herstellung sicherer und homogener Arzneifuttermittel bei gleichzeitiger Beschränkung der Kreuzkontaminationen auf ein Minimum zusammengefasst.

2.1.8.

In diesem Vorschlag ist festgehalten, dass in die EU eingeführte Arzneifuttermittel den gleichen Anforderungen genügen müssen, wie sie in dieser Verordnung festgehalten sind.

2.1.9.

Außerdem wird in der Verordnung betont, dass für die Herstellung von Arzneifuttermitteln nur zugelassene Tierarzneimittel verwendet werden dürfen und die Vereinbarkeit aller Verbindungen im Hinblick auf die Sicherheit und Wirksamkeit des Produkts gewährleistet sein muss.

2.2.   Tierarzneimittel

2.2.1.

Der Legislativvorschlag umfasst sowohl Anforderungen betreffend die vorzulegenden Daten als auch die Zulassungsverfahren für das Inverkehrbringen von Tierarzneimitteln. Er erstreckt sich außerdem auf Verpackung und Kennzeichnung, Vertrieb und Überwachung der Arzneimittel nach dem Inverkehrbringen (Pharmakovigilanz) und Aspekte in Verbindung mit der Kontrolle und der Verwendung von Tierarzneimitteln.

2.2.2.

Neu im Vorschlag ist die Ausweitung des zentralisierten Zulassungsverfahrens dahin gehend, dass künftig für jedes Tierarzneimittel Zulassungsanträge gestellt werden können. Um unnötigen Verwaltungs- und Finanzaufwand zu vermeiden, muss die Bewertung eines Antrags auf Zulassung nur einmal durchgeführt werden.

2.2.3.

Durch die Beschränkung der Pflichtangaben auf der Kennzeichnung und der Verpackung sowie die Möglichkeit der Nutzung vereinheitlichter Piktogramme und Abkürzungen in dem Vorschlag werden die Bestimmungen erheblich vereinfacht.

2.2.4.

Außerdem wird der Zeitraum festgelegt, in dem die für Erhalt oder Änderung der Zulassung vorgelegten technischen Unterlagen geschützt sind, und der Schutzzeitraum im Fall begrenzter Märkte und neuer Antibiotika verlängert.

2.2.5.

Der Kommission wird die Befugnis erteilt, die Verwendung bestimmter Antibiotika bei Tieren durch Erlass von Auflagen auszuschließen oder einzuschränken.

2.2.6.

Tierarzneimittel müssen ebenso wie Humanarzneimittel vor dem Inverkehrbringen zugelassen werden. Dazu müssen Daten zum Nachweis der Produktionsqualität, der Sicherheit (für Tiere, Benutzer und Umwelt) und der klinischen Wirksamkeit vorgelegt werden. Außerdem müssen für die Behandlung von zur Lebensmittelgewinnung dienenden Tieren Daten vorgelegt werden, die die Sicherheit der Verbraucher gewährleisten.

2.2.7.

Die vier Verfahren für den Erhalt einer Zulassung für ein Tierarzneimittel (zentralisiertes Verfahren, dezentralisiertes Verfahren, Verfahren der gegenseitigen Anerkennung und nationales Verfahren) werden mit kleinen Änderungen beibehalten. Darüber hinaus wird ein System festgelegt, wonach bei Zulassungsänderungen das damit verbundene Risiko berücksichtigt wird. Ferner werden ein risikobasierter Ansatz für die Pharmakovigilanz sowie ein Verfahren zur Harmonisierung der Fachinformationen über die Produkteigenschaften eingeführt.

2.2.8.

Es werden auch Anforderungen in Bezug auf homöopathische Tierarzneimittel sowie Fragen zu u. a. Erzeugung, Vertrieb und Nutzung berücksichtigt.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Arzneifuttermittel

3.1.1.

Der EWSA befürwortet den Verordnungsvorschlag und die Absicht der Europäischen Kommission, die Anforderungen für Arzneifuttermittel in allen Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen.

3.1.2.

Er betont, dass die Herstellungsanforderungen nicht so hoch sein dürfen, dass die Futtermittelhersteller sie nur schwer erfüllen können. Kreuzkombination ist in diesem Sektor eine Realität und lässt sich nicht auf technisch unzumutbare Grenzwerte einschränken, die in keinem Verhältnis zu dem echten Risiko für die Tiergesundheit stehen.

3.1.3.

Nach Meinung des EWSA nimmt die Viehwirtschaft einen wichtigen Platz in der Landwirtschaft der EU ein; daher müssen angemessene Mittel für Tierzüchter und Futtermittelhersteller gebündelt bereitgestellt werden, um eine hohe Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen. Verwendung und Herstellung von Tierarzneimitteln müssen geregelt werden, doch sind dabei die derzeit in diesem Sektor zur Verfügung stehenden Technologien zu berücksichtigen.

3.1.4.

Laut Folgenabschätzung der Europäischen Kommission sollte eine Rechtsvorschrift positive Auswirkungen auf die Kosteneffizienz und das wirtschaftliche Wachstum des Sektors der Herstellung von Arzneifuttermitteln haben und auch innovative Anwendungen von Tierarzneimitteln ermöglichen.

Für die Gesundheit von Mensch und Tier sollte sie Verbesserungen bringen, sowohl in Mitgliedstaaten, in denen der Umgang mit Arzneifuttermitteln kaum geregelt ist, als auch in Mitgliedstaaten mit sehr strengen Vorschriften.

3.1.5.

Es müssen Höchstgrenzen für die Verschleppung von Arzneifuttermitteln auf Grundlage der Erkenntnisse der Europäischen Kommission sowie im Einklang mit dem Grundsatz ALARA und den Weiterentwicklungen der bestehenden Herstellungstechniken in diesem Sektor festgelegt werden.

3.1.6.

Nach Auffassung des EWSA müssen einige der in diesen Vorschlag aufgenommenen Formen der Herstellung wie beispielsweise mobile Mischer die Grundsätze der Lebensmittelsicherheit und der Homogenität von Arzneifuttermitteln einhalten, um hohe Verschleppungsraten zu vermeiden und sie so besser kontrollieren zu können.

3.1.7.

Nach Ansicht des EWSA darf der EU-Binnenhandel durch die Anforderungen dieser Verordnung nicht erschwert, sondern er sollte vielmehr erleichtert werden.

3.1.8.

Der EWSA weist darauf hin, dass es in verschiedenen Mitgliedstaaten weniger wichtige Tierarten gibt, für die nur einige wenige Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Dieses Problem darf durch zusätzliche Auflagen für die Vorab-Produktion von Arzneifuttermitteln für diese Arten nicht noch verschärft werden.

3.2.   Tierarzneimittel

3.2.1.

Der EWSA betont, dass die Zulassungsverfahren für Tierarzneimittel derart festgelegt sein müssen, dass es keine unnötigen Verzögerungen beim tatsächlichen Inverkehrbringen in den verschiedenen Mitgliedstaaten gibt, in denen diese Arzneimittel zugelassen werden sollen, und etwaige Diskrepanzen zwischen den zuständigen Behörden rasch gelöst werden können.

3.2.2.

Aus Sicht des EWSA müssen Forschung, technologische Entwicklung und Innovation im Bereich Tierarzneimittel mit dem neuen Rechtsrahmen gefördert werden, um den gesundheitlichen Anforderungen und Herausforderungen der verschiedenen Tierarten und Produktionsmodelle in Europa Rechnung tragen zu können.

3.2.3.

In der Vergangenheit hat es Probleme aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Tierarzneimitteln für bestimmte Tierarten, sogenannte weniger wichtige Tierarten, und konkreter Indikationen für andere Tierarten (geringfügige Verwendung) gegeben, die von besonderer sozioökonomischer Bedeutung in Europa sind.

3.2.4.

Daher ist eine EU-Politik erforderlich, mit der die allgemeine Verfügbarkeit von Tierarzneimitteln für weniger wichtige Tierarten und für geringfügige Verwendung gefördert werden kann, wobei die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit der Tierarzneimittel gewährleistet sein und gleichzeitig sichergestellt werden muss, dass ihre Entwicklung für Unternehmen in der Tiergesundheitsindustrie wirtschaftlich rentabel ist.

3.2.5.

Der EWSA begrüßt Maßnahmen zur Verringerung des Verwaltungsaufwands durch eine Vereinfachung der Kennzeichnungspflichten, die Pharmakovigilanz von Tierarzneimitteln, Änderungen der Zulassungsbedingungen und unbefristet geltende Zulassungen.

3.2.6.

Er begrüßt ebenfalls die Einführung eines Systems zur elektronischen Einreichung von Anträgen und die Schaffung einer zentralen europäischen Datenbank zur Förderung des Informationsaustausches zwischen der Industrie und den Agenturen, was zur Verringerung des Verwaltungsaufwands beitragen wird.

3.2.7.

Die vorgesehenen Maßnahmen zur Verbesserung des Systems der Pharmakovigilanz für Tierarzneimittel werden sich ebenfalls positiv auf die Verringerung des Verwaltungsaufwands auswirken, wodurch die Sicherheit der Arzneimittel gewährleistet wird. Diesbezüglich erachtet der EWSA den risikobasierten Ansatz als äußerst zweckdienlich.

3.2.8.

Mit der Überarbeitung der Rechtsvorschriften soll u. a. die Funktionsweise des Binnenmarktes verbessert werden. Dies darf keine anderen Ziele wie Verringerung des Verwaltungsaufwands und Verbesserung der Verfügbarkeit von Tierarzneimitteln beeinträchtigen. Zur Verwirklichung dieser Ziele muss die Vereinheitlichung der Verfahren zur Harmonisierung der Informationen über die Produkteigenschaften effizient sein und den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der gegenseitigen Anerkennung folgen.

3.2.9.

Der neue Rechtsrahmen sollte die Innovation und die Entwicklung neuer Arzneimittel, insbesondere Antibiotika, fördern. Hierfür ist ein Rechtsrahmen notwendig, der vorhersehbar ist, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht und stets das Vorsorgeprinzip anwendet.

3.2.10.

Dieser Legislativvorschlag sollte die Verwendung in der EU zugelassener Tierarzneimittel im Falle von therapeutischen Lücken anstelle der Verwendung von Humanarzneimitteln fördern. Sicherheit und Wirksamkeit von Tierarzneimitteln sind in der Praxis bewiesen. Diese Option bietet einen erheblichen Vorteil gegenüber der Nutzung von Humanarzneimitteln, deren Sicherheit und Wirksamkeit für den Einsatz bei Tieren nicht bewiesen ist. Dieser Aspekt ist außerdem in Verbindung mit der Antibiotikaresistenz besonders wichtig, da der derzeitige Vorschlag die Nutzung von Human-Antibiotika als erste Option im Falle von therapeutischen Lücken erlaubt.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Arzneifuttermittel

4.1.1.

In Bezug auf Artikel 2 „Begriffsbestimmungen“ ist eine weitere Klärung folgender Begriffe erforderlich, die in dem Verordnungsvorschlag verwendet werden: „Wirkstoff“, „Nichtziel-Futtermittel“, „mobiler Mischer“ und „Hofmischer“. Diese Begriffe sind für die Entwicklung der Rechtsvorschrift von Bedeutung. Gleichermaßen muss auch darauf geachtet werden, dass die Terminologie ausreichend präzise ist, um keine Widersprüche zu den bestehenden und in nationalen Rechtstexten enthaltenen Begriffen entstehen zu lassen.

4.1.2.

Es sollte eine angemessenere Frist für tierärztliche Verschreibungen festgelegt werden, damit eine Behandlung ohne Beeinträchtigung der Sicherheit der Tiere erfolgen kann. Sie sollte daher von drei Wochen auf einen angemessenen Zeitraum verlängert werden.

4.1.3.

Die Tierärzte oder qualifizierten und zugelassenen Fachkräfte müssen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit Dauer der Behandlung, Dosierung, Wartezeiten usw. angeben und sich dabei auf die in der Fachinformation der Arzneimittel enthaltenen Daten stützen. Diese Angaben sind Teil der vom Tierarzt ausgestellten Verschreibung von Arzneifuttermitteln. Der Viehwirt muss die Verschreibung beachten und dabei die Kohärenz zwischen diesen Angaben und den in der Fachinformation des Arzneifuttermittels enthaltenen Daten überprüfen. Bei Abweichungen ist der Hersteller von seiner Haftung befreit. Die Behandlung der Tiere fällt in die Zuständigkeit des Tierarztes, der die Tiere kennt und für sie verantwortlich ist. Wird der Landwirt zur strikten Einhaltung der Daten in der Fachinformation des betreffenden Arzneifuttermittels verpflichtet, würde dies heißen, dass ihm de facto die Pflichten und Aufgaben des Tierarztes auferlegt werden.

4.1.4.

Die Verwendung von antimikrobiell wirksamen Tierarzneimitteln als Krankheits-Prophylaxe sollte erlaubt, aber auf absolut notwendige und gerechtfertigte Fälle begrenzt werden. Auf keinen Fall darf ihre routinemäßige Verwendung als Krankheits-Prophylaxe erlaubt werden. Es gilt, bewährte Verfahren für die Hygiene und Handhabung zu fördern.

4.1.5.

Der EWSA betont, dass betreffend die Anforderungen für die Qualität des bei der Herstellung verwendeten Wassers und die Wasserleitungen angeführt werden muss, auf welche Rechtsvorschriften Bezug genommen wird. Betreffend die zulässigen Toleranzen für Abweichungen in der Kennzeichnung erachtet es der EWSA als wichtig, keine Unterscheidung zwischen den Arzneifuttermitteln vorzunehmen, da alle ausnahmslos das gleiche Zulassungsverfahren mit den gleichen Anforderungen durchlaufen müssen.

4.1.6.

Aufgrund eines technischen oder analytischen Fehlers (Messunsicherheit aufgrund der Analysemethode sowie der Art und des Anteils des Wirkstoffs) kann es zu Abweichungen in der Kennzeichnung bei Arzneimitteln kommen, ganz gleich, ob es sich um Mittel mit oder ohne antimikrobiell wirksame Stoffe handelt. Darüber hinaus sind die Analysemethoden zur Feststellung der Präsenz von antimikrobiell wirksamen Stoffen in Futtermitteln fehleranfälliger als bei anderen Stoffen, was darauf schließen lässt, dass die Reproduzierbarkeit geringer ist, weshalb dermaßen niedrigere Toleranzen nicht gerechtfertigt sind.

4.1.7.

Der EWSA weist ferner darauf hin, dass die Homogenität des Produkts bereits durch die im Zuge der Zulassung genommenen Proben garantiert ist.

4.1.8.

Die Vorgabe, dass Arzneifuttermittel, die die Tagesdosis des Tierarzneimittels enthalten, in mindestens 50 % der täglichen Futterration eingemischt werden müssen, ist in der Praxis umständlich und sollte folgendermaßen erweitert werden: „Arzneifuttermittel, die die tägliche Tagesdosis des Tierarzneimittels enthalten, müssen mindestens 50 % der täglichen Futterration eines Alleinfuttermittels oder eines Ergänzungsfuttermittels (Trockenmasse) entsprechen.“

4.2.   Tierarzneimittel

4.2.1.

Die Notwendigkeit, dass zwischen dem nationalen Zulassungsverfahren und der Einreichung des Antrags auf gegenseitige Anerkennung sechs Monate liegen müssen, könnte im Falle einer ernsten Krise in Bezug auf die Gesundheit von Tier oder Mensch Probleme verursachen. Daher sollten unter außergewöhnlichen Umständen Ausnahmen von dieser Mindestwartezeit von sechs Monaten zulässig sein. In diesem Sinne — und um Verzögerungen in den Verfahren zu vermeiden — sollte eine Frist für den Abschluss eines dezentralisierten Verfahrens und eines Verfahrens auf gegenseitige Anerkennung seitens des Referenzlandes festgelegt werden.

4.2.2.

Durch die Ausweitung des Investitions- und Innovationsschutzes sollte die Entwicklung von Tierarzneimitteln für alle Tierarten und nicht nur für weniger wichtige Tierarten gefördert werden. Hierfür sollte der Zeitraum, in dem die Daten für alle Arten geschützt sind, verlängert werden, einschl. im Falle der Ausweitung der Zulassungsbedingungen auf mehrere Tierarten in einer Gruppe.

4.2.3.

Die verschiedenen Tierarten und Krankheiten erfordern verschiedene Arten der Verabreichung, wofür wiederum verschiedene Verabreichungsformen notwendig sind (z. B. flüssig, fest, gelförmig, per Injektion usw.). Für die Umstellung einer Verabreichungsform ist eine fast vollständige Neuentwicklung des Produkts erforderlich, wobei diese Investition geschützt werden sollte.

4.2.4.

Die Anforderungen für die Kennzeichnung sowie die primäre und die äußere Verpackung sollten flexibel gehandhabt werden, damit neben den vorgeschriebenen Informationen auch weitere fakultative Informationen von Interesse für die Nutzer enthalten sein können.

4.2.5.

Die Nutzung elektronischer Mittel kann nur dann Vorteile bringen, wenn ein einziges einheitliches Verfahren in allen Mitgliedstaaten besteht, in dem das gleiche Format für alle Verfahren verwendet wird.

4.2.6.

Die Harmonisierung der Fachinformationen für ein Tierarzneimittel muss ein reines Verwaltungsverfahren sein, in dem die Neubewertung der Produkte vermieden wird, deren Sicherheit und Wirksamkeit bereits seit Jahren erwiesen ist, um wiederum unnötigen Arbeitsaufwand zu vermeiden.

4.2.7.

Der Verordnungsvorschlag könnte sich negativ auf die Entwicklung neuer tiermedizinischer Antibiotika auswirken, da kein vorhersehbarer, stabiler und transparenter Markt als Anreiz für die Unternehmen garantiert wird.

4.2.8.

Es wäre zweckdienlich, eine Klassifizierung vorzunehmen, wenn Arzneimittel im Falle von therapeutischen Lücken eingesetzt werden, wobei die Verwendung von in der EU zugelassenen Tierarzneimitteln vorrangig und die Verwendung von Humanarzneimitteln nur dann erlaubt sein sollte, wenn es keine Alternativen im Veterinärbereich gibt.

Brüssel, den 21. Januar 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


23.7.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 242/61


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Für eine florierende datengesteuerte Wirtschaft“

(COM(2014) 442 final)

(2015/C 242/11)

Berichterstatterin:

Anna NIETYKSZA

Die Europäische Kommission beschloss am 16. Juli 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Für eine florierende datengesteuerte Wirtschaft

COM(2014) 442 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 7. Januar 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 504. Plenartagung am 21./22. Januar 2015 (Sitzung vom 21. Januar) mit 213 gegen 1 Stimme bei 11 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss nimmt den Entwurf einer Mitteilung der Kommission zur Kenntnis, in dem die Schaffung einer florierenden datengesteuerten Wirtschaft in der Europäischen Union propagiert wird, d. h. einer digitalen Wirtschaft, die die Informationstechnologien nutzt. Ein darauf abgestimmter Aktionsplan muss zur Umsetzung der Ziele der europäischen Digitalen Agenda beitragen. Der EWSA weist darauf hin, dass ein detaillierter Aktionsplan erstellt werden muss.

1.2.

Eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der gesteckten Ziele spielen das EU-Programm Horizont 2020, nationale Programme zur Finanzierung von Forschung, Innovation und Umsetzung sowie die Förderung von Unternehmertum und Innovation in den einzelnen Branchen.

1.3.

Der EWSA betont, dass der breite Einsatz der Informationstechnologie in allen Bereichen von Gesellschaft und Wirtschaft sowie Kultur und Bildung gewaltige Entwicklungschancen bietet. Entwicklungschancen eröffnen sich dank IKT nicht nur europäischen Konzernen und Großunternehmen, sondern auch innovativen kleinen und mittleren Unternehmen sowie Kleinstunternehmen.

1.4.

Zur umfassenden Nutzung dieser Möglichkeiten müssen die Forschung im Bereich der Informationstechnologien sowie die Entwicklungen in den Ingenieur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften gefördert werden. Die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten müssen effiziente Verfahren entwickeln, mit denen die Forschung aus öffentlichen Mitteln finanziert werden kann, und Anreize zur Forschungsfinanzierung aus privaten Mitteln schaffen. Der EWSA hat sein Bedauern über die erhebliche Kürzung der Mittel für die Finanzierung der digitalen Infrastruktur im Rahmen der Fazilität „Connecting Europe“ geäußert und fordert nachdrücklich, dass daraus die nötigen Lehren gezogen werden. Der neue Investitionsplan zur Mobilisierung von mindestens 315 Milliarden EUR in Form zusätzlicher öffentlicher und privater Investitionen in Schlüsselbereichen wie der digitalen Infrastruktur, den der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, im Dezember 2014 vorgelegt hat, ist vor diesem Hintergrund eine willkommene politische Reaktion.

1.5.

Damit sich die datengesteuerte Wirtschaft ungehindert entwickeln kann, müssen entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen sowie Strategien und Instrumente für den Schutz personenbezogener Daten und für Informationssicherheit gewährleistet werden; darüber hinaus muss die EU-Strategie für Cybersicherheit umgesetzt werden. Schutz und Sicherheit der Informationen stärken das Vertrauen der Verbraucher sowie die Sicherheit des Wirtschaftsverkehrs für Unternehmer.

1.6.

Der EWSA betont, dass die Verwaltungen auf staatlicher und europäischer Ebene im Bereich des Datenschutzes und der Informationssicherheit mit den für die Regulierung der elektronischen Kommunikation zuständigen Stellen sowie den Verbraucherschutz- und Wettbewerbsbehörden zusammenarbeiten müssen.

1.7.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, alle Maßnahmen zur Umsetzung der Ziele der Digitalen Agenda der EU zu fördern, da sie die Grundlage für eine datengesteuerte Wirtschaft schaffen, etwa den Ausbau einer schnellen Breitbandinfrastruktur und allgemein zugänglicher, interoperabler und verlässlicher Cloud-Computing-Dienste, die Verarbeitung von Massendaten, das Internet der Dinge sowie Netze der nächsten Generation (NGN), darunter auch solche auf der Grundlage von 5G-Technologie und Folgenden.

1.8.

Neu entstehende digitale Technologien schaffen neue Werte, nicht nur in der Wirtschaft, sondern in allen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Sehr wichtig ist deshalb die Entwicklung der digitalen Kompetenzen der gesamten Gesellschaft, darunter auch älterer Menschen sowie jener, die aus gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Gründen oder auf Grund ihres Bildungsniveaus in sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht von Ausgrenzung bedroht sind. Notwendig ist die breite Einführung moderner Inhalte und Lehrmethoden, insbesondere zur Vorbereitung von Arbeitnehmern auf Umschulungsmaßnahmen und den Erwerb neuer Qualifikationen.

1.9.

Die öffentliche Verwaltung wird in den kommenden Jahren in der Lage sein müssen, digitale Daten und elektronische Kommunikationswege optimal zu nutzen, um ihre Tätigkeit effizienter zu gestalten und eine breite Zusammenarbeit mit den Bürgern und deren aktive Teilhabe zu gewährleisten. Bedingungen für eine solche Teilhabe sind entsprechend geplante öffentliche Dienstleistungen und offene Daten in maschinell verwertbaren Formaten in allen Bereichen von Wirtschaft und Verwaltung. Der EWSA empfiehlt die breite Einführung von Schulungsmaßnahmen zur Erweiterung der digitalen Kompetenzen der Verwaltungsangestellten, darunter auch der Fähigkeiten zur Bestimmung moderner Dienstleistungen sowie zur Anforderung und Nutzung der Dienste von Sachverständigen und Fachleuten.

1.10.

Nach Auffassung des EWSA sollte es die öffentliche Verwaltung ermöglichen, dass öffentliche Informationen weiterverwendet werden, indem sie sie in Form offener Daten in maschinell verwertbaren Formaten zur Verfügung stellt, wobei die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen sind. Insbesondere für die kleinen und mittleren Unternehmen Europas ist die Möglichkeit einer Weiterverwendung von öffentlichen Informationen wichtig.

2.   Inhalt und Hintergrund der Mitteilung der Kommission

2.1.

Eine datengesteuerte Wirtschaft sowie generell die digitale Wirtschaft sind für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union von strategischer wirtschaftlicher Bedeutung. Digitale Daten sind heute Grundlage der Tätigkeit in allen Bereichen der Wirtschaft, der öffentlichen Verwaltung, der Kultur sowie der sozialen und gesundheitlichen Dienste, und ihre innovative Nutzung wird zur wichtigsten Triebkraft einer höheren Produktivität der EU-Wirtschaft.

2.2.

Angesichts der weitverbreiteten Verwendung digitaler Daten, ob sie nun von Anfang an digital waren oder aus der Digitalisierung anderer Datenformate stammen, sowie ihrer problemlosen Weitergabe und Verarbeitung lassen sich Daten heute als neue und außerordentlich wertvolle natürliche Ressource für Gesellschaft und Wirtschaft betrachten.

2.3.

Digitale Daten werden heute in allen Bereichen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens generiert, erfasst und verarbeitet. Es gibt immer mehr innovative Unternehmen, deren Geschäftsgrundlage bzw. Hauptgeschäftsgegenstand digitale Daten sind. Ein besonders wertvolles Element einer datengestützten Wirtschaft sind Geo- und Ortungsdaten.

2.4.

Das sich am schnellsten entwickelnde Segment des digitalen Marktes ist der Bereich der Massendaten (big data). Der IDC zufolge wird dieses Segment im Zeitraum 2012-2017 pro Jahr um durchschnittlich etwa 27 % (sechs Mal schneller als der gesamte IKT-Markt) wachsen, weshalb der Wert des weltweiten Technologie- und Dienstleistungsmarktes im Bereich der Massendaten schon 2017 bei 23,7 Milliarden EUR liegen dürfte. Ein ausgesprochen rasches Wachstum ist auch im Bereich der Cloud-Computing-Dienste zu erwarten.

2.5.

Angesichts der zu beobachtenden Entwicklung von Konzepten und Anwendungen für das Internet der Dinge, zum Beispiel im Bereich der Infrastruktur intelligenter Städte, ist mit einer erheblich zunehmenden Menge an Daten zu rechnen, die durch die Entwicklung des Internets der Dinge entstehen. Prognosen von Marktforschern zufolge wird die Zahl der dem IT-Bereich zuzuordnenden Geräte (smart objects) bis 2020 weltweit auf 26 Milliarden steigen und damit um ein Vielfaches höher liegen als die Zahl der an das Internet angeschlossenen Computer. Diesen gewaltigen Zuwachs der Datenmengen müssen Unternehmen, aber auch die öffentliche Verwaltung bewältigen und produktiv nutzen.

2.6.

Eine besonders wichtige Frage ist, ob das gewaltige wirtschaftliche Potenzial der Massendaten und des Internets der Dinge von der Wirtschaft der Mitgliedstaaten genutzt werden kann, darunter von innovativen Firmen, die Lösungen in diesen Bereichen anbieten, sowie Unternehmen in allen anderen Zweigen der EU-Wirtschaft, die solche Lösungen in ihrer Geschäftstätigkeit anwenden.

2.7.

In der Mitteilung weist die Europäische Kommission darauf hin, dass geeignete Bedingungen für das Cloud Computing, die Hochleistungsrechen-Infrastrukturen (HPC) sowie die entsprechenden Plattformen und Dienste geschaffen werden müssen. Nach Schätzungen der Kommission (1) können Cloud-Computing-Dienste zur Schaffung von 2,5 Millionen neuen Arbeitsplätzen in Europa sowie zum Anstieg des BIP der Mitgliedstaaten um 160 Milliarden EUR bis 2020 beitragen.

2.8.

Wesentliche Elemente der Entwicklung sind nach Auffassung der Kommission auch die datengesteuerte Innovation (DDI) sowie die Fähigkeit von Unternehmen und öffentlichen Stellen, Informationen aus einer verbesserten Analyse der Daten, auch solcher, die im Rahmen der Weiterverwendung öffentlicher Informationen zugänglich sind, produktiv zu nutzen. Die Öffnung von Daten und ihre Bereitstellung zur Weiterverwendung können den Mitgliedstaaten einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen von etwa 40 Milliarden EUR jährlich bringen, und die damit verbundenen indirekten und direkten wirtschaftlichen Vorteile der Anwendung und Nutzung von Informationen des öffentlichen Sektors in der Wirtschaft der EU-27 werden auf 140 Milliarden EUR jährlich geschätzt (2).

2.9.

Die Europäische Kommission betont, dass dazu hochqualifizierte Spezialisten ebenso nötig sind wie die breite Anwendung offener Daten und die Schaffung eines geeigneten Rechtsrahmens für das Eigentum an Daten, ihren Schutz und die Modalitäten des Zugangs.

2.10.

Eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der gesteckten Ziele werden das EU-Programm Horizont 2020, nationale Programme für die Finanzierung von Forschung und Innovation sowie die Förderung von Unternehmertum und Innovation in den einzelnen Branchen spielen.

2.11.

Die Europäische Kommission wird das digitale Unternehmertum in Europa auf verschiedene Art und Weise unterstützen, unter anderem durch die Förderung eines offenen Zugangs zu Daten, einen leichteren Zugang zum Cloud Computing, die Unterstützung von Kontakten lokaler Dateninkubatoren und ihrer Zusammenarbeit sowie die Entwicklung digitaler Fähigkeiten und Kompetenzen, z. B. im Rahmen der Initiative „Große Koalition für digitale Kompetenzen und Arbeitsplätze“.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA unterstützt und begrüßt generell die in der Mitteilung der Kommission skizzierten Merkmale einer florierenden datengesteuerten Wirtschaft. Wie die Kommission in ihrer Mitteilung ausführt, ermöglicht die Datenanalyse bessere Ergebnisse, Verfahren und Entscheidungen, was die Innovation und die Entwicklung neuer Lösungen fördert und es gestattet, Trends vorherzusehen und sich auf künftige Ereignisse einzustellen. Der EWSA weist jedoch darauf hin, dass die Kommission in ihrer Mitteilung keine ausdrückliche Strategie mit Maßnahmen zum Aufbau einer solchen Wirtschaft in der EU formuliert hat.

3.2.

Der EWSA verweist auf die Bedeutung bestimmter in der Mitteilung vorgeschlagener Maßnahmen zum Ausbau der Infrastruktur im weitesten Sinne, die Voraussetzung für eine datengesteuerte Wirtschaft ist, insbesondere unter folgenden Gesichtspunkten:

Verfügbarkeit der erforderlichen zuverlässigen Infrastruktur, die die Interoperabilität der Systeme zur Erfassung, Verarbeitung und Nutzung der Daten garantiert, darunter einer Infrastruktur, die effektive und sichere Lösungen und Dienste im Bereich des Cloud Computing breit nutzt,

Verfügbarkeit von verlässlichen und hochwertigen Datensätzen,

geeignete Voraussetzungen und Rahmenbedingungen im rechtlichen, organisatorischen und Bildungsbereich sowie Arbeitsbedingungen, die die Zusammenarbeit verschiedener Akteure zur Gewährleistung eines angemessenen Niveaus der Fähigkeiten und zur Schaffung von Konzepten zur innovativen Nutzung von Daten ermöglichen,

Unterstützung der Politik und Schaffung eines Rechtsrahmens zur Förderung einer innovativen Nutzung offener Daten in maschinell verwertbaren Formaten in allen Bereichen von Wirtschaft und Verwaltung.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA unterstützt die Entwicklung und Nutzung der im Programm Horizont 2020 festgelegten Verfahren und Instrumente, vor allem jener, durch die Dienstleistungsplattformen vom Typ PaaS (in der Cloud bereitgestellte Plattform), SaaS (in der Cloud bereitgestellte Software), IaaS (in der Cloud bereitgestellte Infrastruktur) und andere verfügbar gemacht werden, die auf öffentlichen bzw. privaten Cloud-Computing-Diensten oder einer Mischung aus beiden Formen beruhen.

4.2.

Der EWSA unterstützt die Aktivitäten zur Umsetzung der europäischen Strategie für Cloud Computing im Einklang mit seinen früheren Stellungnahmen zu diesem Thema.

4.3.

Der EWSA befürwortet die von der Kommission vorgeschlagenen europäischen vertraglichen öffentlich-privaten Partnerschaften (CPPP), hält jedoch eine klare Formulierung langfristiger Strategien und der daraus erwachsenden Forschungs- und Entwicklungs- sowie Finanzierungsmaßnahmen für unerlässlich.

4.4.

Der EWSA verweist darauf, dass eine angemessene Finanzierung der Forschung und Umsetzung in den Bereichen erforderlich ist, in denen in den nächsten Jahren mit dem schnellsten Wachstum zu rechnen ist und die entscheidend für die Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft sind, das heißt vor allem Verarbeitung von Massendaten, Internet der Dinge sowie Netze der nächsten Generation (NGN), darunter auch solche auf der Grundlage von 5G-Technologie und Folgenden, sowie Fragen der Cybersicherheit.

4.5.

Der EWSA betont, wie wichtig Präzision und Zuverlässigkeit der Ergebnisse der Verarbeitung von Massendaten und der Systeme für die Analyse von Daten sowie der Suchsysteme sind. Deshalb müssen Forschung und Umsetzung unter anderem im Bereich der semantischen Suche, der Analyse von Geodaten sowie der raschen Verarbeitung von Massendaten gefördert werden. Dass angemessene Mittel für die Forschung bereitgestellt werden, ist angesichts der zunehmenden Haushaltskürzungen in den Mitgliedstaaten und beim Rat (von 9 auf 1,4 Milliarden EUR) umso wichtiger.

4.6.

Die Finanzierung der Entwicklungstätigkeit sowie innovativer Start-up-Unternehmen in der digitalen Wirtschaft ist sehr wichtig, denn es gibt nach wie vor nur wenige Finanzierungsmechanismen für einen derartigen Bedarf. Zur Finanzierung der Branchen, in denen es um neue Technologien geht, sollten Mittel des Programms Horizont 2020 und anderer zentraler Forschungsprogramme der EU geschickt verknüpft werden mit Haushaltsmitteln der Mitgliedstaaten sowie der Aufforderung an private Unternehmen zur strategischen Zusammenarbeit in Form von vertraglichen öffentlich-privaten Partnerschaften (CPPP).

4.7.

Für die umfassende Nutzung des Potenzials der datengesteuerten Wirtschaft ist die Umschulung von Arbeitnehmern sehr wichtig, so dass sie zur Arbeit in neuen Berufen und Wirtschaftsgebieten befähigt werden. Dies ist umso wichtiger, als Prognosen zufolge im Jahr 2020 80 % der Arbeitsplätze digitales Wissen und digitale Fähigkeiten erfordern werden.

4.8.

Der EWSA hält es für erforderlich, dass mehr Nachdruck auf eine Bildung gelegt wird, die allen entsprechende digitale Kompetenzen und Fähigkeiten zur Nutzung digitaler Geräte und Dienstleistungen vermittelt, die im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben sowie in Verwaltung und Kultur zunehmend Verbreitung finden. Diese Bildung muss alle Stufen und Formen umfassen: von der Grundausbildung bis hin zur lebenslangen Weiterbildung.

4.9.

Der EWSA betont, dass neue ordnungspolitische Rahmen und Instrumente geschaffen werden müssen, die auf die bevorstehenden Veränderungen zugeschnitten sind und den Entwicklungserfordernissen einer datengesteuerten Wirtschaft entsprechen.

4.10.

Besondere Aufmerksamkeit ist nach Ansicht des EWSA im Einklang mit seiner Stellungnahme zur Internet-Governance (TEN/549) in ordnungspolitischer Hinsicht der Steuerung der Wertschöpfungskette im Internet zu schenken, damit alle Anbieter von Dienstleistungen und Inhalten, die an dieser Kette beteiligt sind, einen dem Investitionsaufwand angemessenen Anteil am Nutzen aus den digitalen Dienstleistungen und Produkten ziehen.

4.11.

Der EWSA verweist darauf, dass die unter anderem in der Verordnung über die elektronische Identifizierung (eIDAS) festgelegten und vorgesehenen Verfahren ordnungsgemäß umgesetzt werden müssen, mit denen das Vertrauen in die digitale Wirtschaft erhöht werden soll, indem in der EU kohärente Rechtsgrundlagen für den elektronischen Verkehr zwischen Unternehmen, Bürgern und öffentlichen Stellen geschaffen werden.

4.12.

Daher ist es umso wichtiger, auf den offensichtlichen Stillstand bei den interinstitutionellen Verhandlungen über die Datenschutzverordnung hinzuweisen, über die bereits seit Monaten eine Entscheidung im Rat anhängig ist, ohne dass sich eine Lösung abzeichnet; der daraus entstehende Schaden, insbesondere bei Aspekten, die für die volle Erschließung des Potenzials einer datengesteuerten Wirtschaft so überaus wichtig sind, ist allen Interessenträgern sehr wohl bekannt.

4.13.

Die neuen Rechtsrahmen müssen einerseits gewährleisten, dass sich die Unternehmen als Marktteilnehmer entwickeln können, und Innovation und Wettbewerbsfähigkeit fördern. Andererseits müssen sie für die Sicherheit des Wirtschaftsverkehrs und den Schutz der Rechte sowie der Privatsphäre der Verbraucher sorgen. Fragen der Cybersicherheit sind außerordentlich wichtig, da sich in den Computernetzen und in der Cloud immer mehr in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht sehr wichtige Daten befinden werden, darunter auch sensible Daten z. B. aus dem medizinischen Bereich.

4.14.

Der EWSA weist darauf hin, dass in der Mitteilung relativ wenig Gewicht auf die Frage des Eigentums an Daten sowie die Notwendigkeit der Schaffung neuer Konzepte für den Schutz des geistigen Eigentums gelegt wird, die dem Bedarf der digitalen Wirtschaft, darunter auch der in den nächsten Jahren dynamisch wachsenden Kreativwirtschaft, entsprechen.

4.15.

Der EWSA ist zur Zusammenarbeit mit anderen Organisationen bereit, u. a. zur Stärkung des Vertrauens der Verbraucher in die Dienstleistungen der digitalen Wirtschaft und zur Ausarbeitung langfristiger Programme und Strategien sowie Bildungsprogramme zu ihrer Umsetzung.

Brüssel, den 21. Januar 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Mitteilung „Freisetzung des Cloud-Computing-Potenzials in Europa“, COM(2012) 529 final.

(2)  Mitteilung „Offene Daten: Ein Motor für Innovation, Wachstum und transparente Verwaltung“, COM(2011) 882 final.


23.7.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 242/66


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die möglichen Maßnahmen der Union aufgrund eines vom WTO-Streitbeilegungsgremium angenommenen Berichts über Antidumping- oder Antisubventionsmaßnahmen (kodifizierter Text)“

(COM(2014) 318 final — 2014/0164 (COD))

(2015/C 242/12)

Das Europäische Parlament beschloss am 20. Oktober 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die möglichen Maßnahmen der Union aufgrund eines vom WTO-Streitbeilegungsgremium angenommenen Berichts über Antidumping- oder Antisubventionsmaßnahmen (kodifizierter Text)

COM(2014) 318 final — 2014/0164 (COD).

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 504. Plenartagung am 21./22. Januar 2015 (Sitzung vom 21. Januar) mit 219 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 10 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 21. Januar 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE