ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 12

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

58. Jahrgang
15. Januar 2015


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

502. Plenartagung des EWSA vom 15./16. Oktober 2014

2015/C 012/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Schutzbedürftigkeit der Verbraucher gegenüber Geschäftspraktiken im Binnenmarkt (Initiativstellungnahme)

1

2015/C 012/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Frauen in der Wissenschaft (Initiativstellungnahme)

10

2015/C 012/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Entwicklung von Familiendienstleistungen zur Förderung der Beschäftigungsquote und der Geschlechtergleichstellung im Beruf (Initiativstellungnahme)

16

2015/C 012/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Auswirkungen von Unternehmensdienstleistungen in der Industrie (Initiativstellungnahme)

23

2015/C 012/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission über die Europäische Bürgerinitiative Wasser und sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht! Wasser ist ein öffentliches Gut, keine Handelsware(COM(2014) 177 final) (Initiativstellungnahme)

33

2015/C 012/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Rolle der Zivilgesellschaft im Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan (Initiativstellungnahme)

39

2015/C 012/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Situation der ukrainischen Zivilgesellschaft im Zusammenhang mit dem Bestreben der Ukraine nach Annäherung an die EU (Initiativstellungnahme)

48

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

502. Plenartagung des EWSA vom 15./16. Oktober 2014

2015/C 012/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bericht über die Wettbewerbspolitik 2013 (COM(2014) 249 final)

54

2015/C 012/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verbreitung der Daten von Erdbeobachtungssatelliten für kommerzielle Zwecke (COM(2014) 344 final — 2014/0176 (COD))

60

2015/C 012/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zur Governance makroregionaler Strategien (COM(2014) 284 final)

64

2015/C 012/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 in Bezug auf die Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz von unbegleiteten Minderjährigen zuständig ist, die keine Familienangehörigen, Geschwister oder Verwandten mit rechtmäßigem Aufenthalt in einem Mitgliedstaat haben (COM(2014) 382 final — 2014/0202 (COD))

69

2015/C 012/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. XXX/XXX des Europäischen Parlaments und des Rates (Verordnung über amtliche Kontrollen) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates (COM(2014) 180 final — 2014/0100 (COD))

75

2015/C 012/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen: Ein Fahrplan zur Bereitstellung EU-weiter multimodaler Reiseinformations-, -planungs- und Fahrscheinausstellungsdienste (SWD(2014) 194 final)

81

2015/C 012/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Ein neues Zeitalter der Luftfahrt — Öffnung des Luftverkehrsmarktes für eine sichere und nachhaltige zivile Nutzung pilotenferngesteuerter Luftfahrtsysteme (COM(2014) 207 final)

87

2015/C 012/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Innovation in der Blauen Wirtschaft: Nutzung des Potenzials unserer Meere und Ozeane für Wachstum und Beschäftigung (COM(2014) 254 final/2)

93

2015/C 012/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Programms über Interoperabilitätslösungen für europäische öffentliche Verwaltungen, Unternehmen und Bürger (ISA2): Interoperabilität als Mittel zur Modernisierung des öffentlichen Sektors (COM(2014) 367 final — 2014/0185 (COD))

99

2015/C 012/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bestandsaufnahme der Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum (COM(2014) 130 final)

105

2015/C 012/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Austauschs von Informationen über die Straßenverkehrssicherheit gefährdende Verkehrsdelikte (COM(2014) 476 final — 2014/0218 (COD))

115

2015/C 012/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1343/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Vorschriften für die Fischerei im Übereinkommensgebiet der GFCM (Allgemeine Kommission für die Fischerei im Mittelmeer) (COM(2014) 457 final — 2014/0213 (COD))

116

2015/C 012/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über eine Verringerung des Schwefelgehalts bestimmter flüssiger Kraft- oder Brennstoffe (kodifizierter Text) (COM(2014) 466 final — 2014/0216 (COD))

117

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

502. Plenartagung des EWSA vom 15./16. Oktober 2014

15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Schutzbedürftigkeit der Verbraucher gegenüber Geschäftspraktiken im Binnenmarkt“

(Initiativstellungnahme)

(2015/C 012/01)

Berichterstatter:

Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 22. Januar 2014 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Schutzbedürftigkeit der Verbraucher gegenüber Geschäftspraktiken im Binnenmarkt

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 23. September 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 92 gegen 37 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der allmähliche Rückgang der Kaufkraft der Mittelschicht — als wahrer Motor der Konsumgesellschaft — und aller Verbraucher im Allgemeinen sowie die finanziellen Schwierigkeiten, denen die kleinen und mittleren Unternehmen in ihrem Existenzkampf ausgesetzt sind, haben im Zuge enger Gewinnmargen im aktuellen Unternehmensklima zu einer Änderung der traditionellen Geschäftspraktiken auf dem Markt geführt.

1.2

Die Auswirkungen der Verzerrungen, die die unlauteren Praktiken auf dem Markt verursachen, haben dazu geführt, dass Verbraucher infolge ihrer veränderten Wirtschaftslage einen Verlust an Entscheidungsfreiheit hinnehmen müssen und Schwierigkeiten bei der Geltendmachung ihrer Rechte in diesem Bereich haben. Diese Verbraucher bedürfen ebenfalls des Schutzes gegenüber solchen Vorgehensweisen, um ihre Ausgrenzung zu verhindern.

1.3

Andererseits lässt sich im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise eine allgemeine und anhaltende Tendenz der schrittweisen Schwächung der potenziellen Verbraucher beobachten, die vermuten lässt, dass diese Konsumkluft zunehmen wird. Bisher haben die öffentlichen Entscheidungsträger keine systematischen Maßnahmen vorgeschlagen, um diese Verschlechterung zu verhindern und die Verbraucher davor zu schützen.

1.4

Die Korrektur dieser Ungleichgewichte wird darüber hinaus die Lage der Produzenten und der kleinen und mittelständischen Unternehmen insofern verbessern, als dass Transparenz und freier Wettbewerb den Druck verringern, dem sie ausgesetzt sind (schrumpfende Nachfrage, Kampfpreise u. a.) und der auch dazu beiträgt, dass der Binnenmarkt nur mangelhaft funktioniert.

1.5

Unbeschadet der in der Stellungnahme vorgeschlagenen Aktionen müssen zumindest die folgenden Maßnahmen zum Zweck der Prävention, des Schutzes ebenso wie der Abfederung und der Erholung ergriffen werden:

A.

Maßnahmen der EU-Organe die darauf abzielen,

1)

für eine bessere Umsetzung der Binnenmarktvorschriften zu sorgen, insbesondere bezüglich der Produktsicherheit und der Marktüberwachung, der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken und der Verordnung über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Verbraucherschutzbehörden;

2)

die Politiken der Mitgliedstaaten im Bereich des Verbraucherschutzes zu unterstützen, zu ergänzen und zu überwachen;

3)

neu entstehende Hindernisse, die das Funktionieren des Binnenmarkts erschweren (u. a. die Ausübung wirtschaftlichen Drucks bei Vertragsabschlüssen mit Verbrauchern und weitere Praktiken), zu beobachten und geeignete Maßnahmen zur ordnungsgemäßen Beseitigung dieser Hindernisse zu ergreifen.

B.

Die Mitgliedstaaten müssten ihrerseits:

1)

die Verbraucherverbände finanziell angemessen ausstatten, damit sie ihre Aufgabe des Schutzes sämtlicher Verbraucher erfüllen können. Es sollte die Möglichkeit geprüft werden, aus verbraucherrechtlichen Bußgeldern einen Fonds einzurichten, um Verbraucherschutzmaßnahmen zu entwickeln und umzusetzen (insbesondere um Maßnahmen von allgemeinem Interesse zu ergreifen, die allen Verbrauchern zugutekommen). Dazu sollten die Erfahrungen der Mitgliedstaaten, in denen solche Fonds existieren, ausgewertet werden. Anschließend sollte ein entsprechender Fonds gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften geschaffen und eingesetzt werden;

2)

in ihren Sozialschutzsystemen Maßnahmen ergreifen, um die soziale Ausgrenzung der Verbraucher und aller Bürger jenseits der 30-Prozent-Schwelle des multidimensionalen Armutsindex (MPI) zu verhindern, insbesondere in Bezug auf den Zugang und die Bereitstellung der wesentlichen grundlegenden Dienstleistungen. Dazu könnten die einzelnen Mitgliedstaaten je nach Bedarf durch Ausarbeitung und Durchführung eines „Rettungsplans für die Bürger“ beitragen, der die Finanzen der Privathaushalte und die Kaufkraft der Verbraucher wiederherzustellen hilft.

1.6

Die Verbraucherinteressen müssen in alle Bereiche der EU-Politik stärker einbezogen werden. Dementsprechend müsste in den relevanten EU-Programmen ein spezifischer Teil der Mittel im Zuge von Maßnahmen von allgemeinem Interesse als Beitrag zur Unterstützung der Verbraucherverbände verwendet werden, um die Einbeziehung der Verbraucher zu fördern, die in eine Situation der wirtschaftlichen Schutzbedürftigkeit geraten sind.

2.   Einleitung

2.1

Die Dauer und Intensität der derzeitigen Wirtschafts- und Finanzkrise haben zusammen mit den von nicht wenigen Regierungen der EU-Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen unerwünschte Auswirkungen auf das Angebot und die Nachfrage von Waren und Dienstleistungen, die dem für die meisten Verbraucher entstandenen Kaufkraftverlust entsprechen und eine gesellschaftliche Spaltung bewirken.

2.2

Die Lohnkürzungen haben die Menschen dazu gezwungen, ihre Konsumgewohnheiten zu ändern, um das Familienbudget ihren neuen finanziellen Möglichkeiten anzupassen.

2.3

Der Verlust von Einkommensquellen — trotz der Unterstützungsleistungen durch das Netz der Familienangehörigen in einigen Fällen — und der zunehmende Schwund finanzieller Rücklagen haben dazu geführt, dass die Zahl wirtschaftlich schwacher und von sozialer Ausgrenzung bedrohter Verbraucher gestiegen ist, insbesondere wenn es um bestimmte grundlegende Produkte, Versorgungs- und Dienstleistungen geht; dies könnte als eine Form der vorübergehenden Schutzbedürftigkeit angesehen werden.

2.4

Darüber hinaus hat die Verschiebung ganzer Verbrauchergruppen in Schichten mit geringerer Kaufkraft zusammen mit der finanziellen Ausgrenzung und der Arbeitslosigkeit zu neuen Beschränkungen des Zugangs zu den konventionellen Waren- und Dienstleistungsmärkten geführt, was das Entstehen alternativer Vermarktungsplattformen und -kanäle begünstigt, die mitunter zu Marktversagen führen können.

2.5

Für statistische Zwecke sollte auf den multidimensionalen Armutsindex (MPI) (1) zurückgegriffen werden, um zur Vermeidung sozialer Ausgrenzung Bewertungen vornehmen und Beschlüsse fassen zu können. Der MPI berücksichtigt verschiedene grundlegende Aspekte wie Bildung, Gesundheit und Lebensstandard anhand von zehn Indikatoren (Lebensqualität/sozialer Wohlstand), wobei eine Person als arm gilt, die nicht zu mindestens 30 % der zugrunde gelegten Indikatoren Zugang hat. Deshalb ist es wichtig, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen, damit die Menschen nicht unter dieser Schwelle bleiben.

2.6

Darüber hinaus verfügen die durch die Krise finanziell geschwächten Verbraucher nicht über all die Mittel und Wege, die notwendig wären, um Zugang zu digitalen Verkaufsplattformen zu erhalten, was ihren Zugriff auf günstigere Waren- und Dienstleistungsmärkte einschränkt. So vergrößert die digitale Kluft die „soziale Kluft“, indem sie den Schutz der Verbraucher vor den Gefahren erschwert, die sich aus der Wirtschaftskrise und der Komplexität der digitalen Märkte ergeben.

2.7

Ferner sind die Verbraucher, die aufgrund ihrer veränderten Wirtschaftslage gefährdet sind, unzureichend informiert. Auch werden ihre finanziellen Interessen bei Geschäften in den Marktbereichen, in denen sie sich zunehmend bewegen müssen, nicht hinlänglich geschützt.

2.8

Schließlich beeinträchtigen die Kürzungen der für die Verbraucher bereitgestellten Mittel der öffentlichen Hand, die im Rahmen der von den Regierungen in den letzten Jahren ergriffenen Anpassungsmaßnahmen erfolgten, in erheblichem Maße insbesondere die Wirksamkeit der Marktkontrolle und -überwachung. Die EU hat ebenfalls, wie der EWSA betont hat, weniger Mittel für das mehrjährige Verbraucherprogramm für 2014-2020 (2) bereitgestellt (3).

3.   Geschäftspraktiken, die infolge der Wirtschaftskrise zur Schwächung des Verbraucherschutzes führen können

3.1

Die vielfältigen Merkmale der verschiedenen unlauteren Geschäftspraktiken und deren Folgen auf dem Markt für die Verbraucher, die infolge der Wirtschaftskrise besonders schutzbedürftig geworden sind, bewirken, dass die Betroffenen ihre grundlegenden Bedürfnisse nicht mehr angemessen befriedigen können.

3.2

Die Einhaltung der Standards, die die Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher und Nutzer garantieren, darf für die Anbieter nicht Verhandlungssache sein. Die Verbraucher sind vor jeglichem Risiko zu schützen, und nach dem Vorsorgeprinzip (gemäß den Bestimmungen der Kommissionsmitteilung vom 2. Februar 2000) muss verhindert werden, dass Produkte, Waren und Dienstleistungen auf den Markt gebracht werden, die ihre körperliche und geistige Unversehrtheit gefährden oder ihre legitimen Wirtschaftsinteressen beeinträchtigen könnten. Die allgemeine Sicherheitsanforderung für alle Produkte, die für die Verbraucher bestimmt sind oder von den Verbrauchern — auch im Rahmen der Erbringung einer Dienstleistung — benutzt werden könnten, bleibt davon unberührt.

3.3

In einer Situation der wirtschaftlichen Gefährdung der Verbraucher kann nicht nur der Grundnahrungsmittelbedarf nicht angemessen befriedigt werden, sondern dieser kann auch durch ein Angebot an Lebensmitteln, deren Qualität zugunsten eines geringeren Preises gemindert wurde, nachhaltig beeinträchtigt werden.

3.4

Entsprechendes gilt für die Auslegung der Bedingungen für die Aufbewahrung und den Verkauf von Waren, die verderblich und deshalb mit einem Verfallsdatum versehen sind.

3.5

Es könnte auch zu Geschäftspraktiken kommen, bei denen im Interesse einer drastischen Herabsetzung des Preises Produkte verkauft werden, die nicht mehr die Anforderungen für eine Vermarktung erfüllen. Gleiches gilt für die Dienstleistungserbringung. Deshalb müssen hier durch das aktive und umsichtige Einschreiten der Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden, um gegebenenfalls die Vermarktung dieser Erzeugnisse zu verhindern. Dazu gehören nach Ansicht des EWSA (4) eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den zuständigen nationalen Behörden und der Kommission, wobei die Kommission der Überarbeitung des Rechtsakts für Produktsicherheit zustimmen müsste, der dann umgehend in Kraft treten sollte.

3.6

Hierunter könnte auch die vorsätzliche Verwendung von Begriffen und Bezeichnungen im Rahmen von Werbe- und Rabattaktionen fallen, die bezüglich der Eigenschaften der betreffenden Produkte die Verbraucher täuschen. Dies gilt im Bereich der irreführenden Werbung sowohl in Bezug auf die Marketingkampagnen unter ethischem Deckmantel, die mit dem emotionalen Köder der Solidarität zum Kauf verleiten, wie auch irreführende Angaben über Umweltwirkungen, deren Wahrhaftigkeit nur schwer überprüfbar ist.

3.7

Darüber hinaus gilt es, im Hinblick auf die Vermarktung von Produkten wachsam zu sein, die unter Handels- und Eigenmarken angeboten werden und die für die Kommerzialisierung geltenden Anforderungen und Kriterien nicht erfüllen.

3.8

Besonders besorgniserregend ist im Lebensmittelbereich auch die starke Zunahme alternativer Vermarktungswege, die sich der Kontrolle durch die Behörden entziehen, z. B. im Falle des (durch die Fälschung von Grunderzeugnissen begangenen) „Lebensmittelbetrugs“ (5), des illegalen Lebensmittelverkaufs oder des Wiederinverkehrbringens weggeworfener Lebensmittel für den menschlichen Verzehr. Ähnliches gilt für den Verkauf rezeptfreier und nicht frei verkäuflicher Arzneimittel („OTC“ (6)), die stark gesundheitsgefährdende Nachahmungen genehmigter Originalarzneimittel darstellen.

3.9

Andererseits werden einige Produkte so konzipiert, dass sie eine geplante Obsoleszenz besitzen, wodurch ihre Lebensdauer vorzeitig endet. Diese Tatsache zwingt zum Erwerb anderer, neuer Produkte, was im Widerspruch zu den Kriterien der Nachhaltigkeit und der Ausgabeneffizienz seitens der Verbraucher steht, worauf der EWSA bereits hingewiesen hat (7).

3.10

Für besondere Unsicherheit der wirtschaftlich am stärksten gefährdeten Verbraucher sorgt generell das Angebot an nicht auf herkömmlichem Wege (u. a. digital) vermarkteten Produkten. Häufig wird versucht, gezielt in dieser Gruppe Nachfrage zu wecken, und zwar mit Lockangeboten in Form von Niedrigpreisen, Finanzierungsmöglichkeiten, fiktiven Rabatten (gelegentlich durch „dynamische Preise“ (8), die ausdrücklich verboten werden sollten), Gutscheinen oder Kupons, die häufig eindeutig zum Kauf verleiten. Diese Praktiken beruhen auf der asymmetrischen Stellung der am Handelsgeschäft Beteiligten. Oftmals wird auf Preisvergleichsseiten im Internet die Identität des Händlers, der das Portal verwaltet, nicht klar angegeben, und/oder es ist nicht deutlich, ob die Händler für die Darstellung ihrer Waren und Dienstleistungen zahlen.

3.11

Gleichwohl ist zu bedenken, dass eine optimale Nutzung des Potenzials der neuen Technologien den wirtschaftsschwachen Verbrauchern auch Chancen bietet, weil das Angebotsspektrum erweitert und der Wettbewerb zwischen den Unternehmen gefördert werden, was wiederum die nicht produktinhärenten Vertriebskosten senkt.

3.12

Grundsätzlich impliziert die Geschäftspraktik, die mit einer Verminderung der Garantien für die Verbraucher als Gegenleistung für den herabgesetzten Preis der Ware oder Dienstleistung einhergeht, einen geringeren Schutz ihrer Rechte und wirtschaftlichen Interessen. All dies hat eine größere Gefährdung zur Folge, die negative Rückkoppelungen begünstigt, die in eine wirtschaftliche Schieflage geratene Verbraucher vor neue Schwierigkeiten stellen können.

3.13

Insbesondere auch mit Blick auf die Gesundheit der wirtschaftlich gefährdeten Verbraucher sind die wachsenden Folgen der Energiearmut in den Regionen Europas herauszustellen, deren klimatische Bedingungen in dieser Hinsicht von zentraler Bedeutung sind. Daher gilt es auch die Umstände der „Winterruhe“ und weitere Maßnahmen näher zu untersuchen, die von den Versorgungsunternehmen erwogen werden können, wenn eine Notsituation besteht, in der Versorgungsleistungen wegen Zahlungsschwierigkeiten eingestellt werden könnten, die insbesondere einer plötzlich eintretenden Änderung der persönlichen wirtschaftlichen Lage geschuldet sind.

3.14

Hinzu kommen generell auch die von einigen Unternehmen ggf. angewandten missbräuchlichen Praktiken, die vielfach die stark gebeutelten Privathaushalte auf unwiderrufliche Weise schädigen, insbesondere im Zusammenhang mit Spar- und Anlageprodukten bestimmter Finanzinstitute, die keine wahrheitsgemäßen Informationen und geeigneten Garantien beim Vertragsabschluss bieten, wie im Falle von Verbraucherkrediten mit sehr hohen jährlichen Zinsen. Dies hat für viele Verbraucher „eine Krise innerhalb der Krise“ verursacht — oder mit anderen Worten die Vernichtung ihrer Zukunftsperspektiven, was zur Überschuldung oder gar völligen Insolvenz der Familie geführt hat.

3.15

Die im vorherigen Absatz genannten Bedingungen können auf spezifischere Teilbereiche wie die Hypothekenkrise oder die „Unterversicherten“ ausgeweitet werden. Dadurch wird die Position jener Verbraucher zusätzlich und fortwährend geschwächt, die sich in einer solchen Lage wiederfinden. Besonders genannt werden muss die missbräuchliche Erhebung von Gebühren, die oft mit mangelnder Transparenz im Bankwesen einhergeht und sogar einen Betrug nicht nur am Kleinsparer, sondern auch an privaten Anlegern im Zusammenhang mit Wertpapiergeschäften darstellen kann, welche von Kreditinstituten oder anderen am Markt operierenden, aber nicht dafür zugelassenen Instituten zu diesen Geschäften verleitet werden.

3.16

Im Bereich des grenzüberschreitenden Handels bringt die ungleiche Umsetzung der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken (9) das Risiko mit sich, dass der Geltungsbereich dieser Richtlinie eingeschränkt wird und keine größere Rechtssicherheit für Unternehmen gewährleistet werden kann. Eine bessere Umsetzung würde zur Verbesserung des Verbraucherschutzes beitragen. Deshalb sollte die Kommission auf ihre ordnungsgemäße Anwendung in allen Mitgliedstaaten achten. Dazu würde eine rasche Genehmigung von „Leitlinien“ beitragen, die ihre Auslegung erleichtern und im Einklang mit dem Zweck der Richtlinie stehen.

3.17

Bei den unlauteren Geschäftspraktiken sollte die Kommission unbedingt darauf achten, dass die Mitgliedstaaten die notwendigen Maßnahmen für Verstöße gegen die Richtlinie festlegen. Das zu verhängende Bußgeld darf grundsätzlich nicht geringer sein als der durch eine als unlauter oder irreführend erachtete Praxis erzielte Gewinn. Auch die Verfahren (einschließlich der gerichtlichen) müssen im Hinblick auf die Zielsetzungen der Richtlinie angemessen und wirksam sein.

3.18

Künftig sollten, wie vom EWSA bereits gefordert (10), im Interesse eines stärkeren Übereinstimmung mit dem EU-Recht die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken und die Richtlinie über irreführende und vergleichende Werbung gleichzeitig und auf abgestimmte Weise überarbeitet werden.

3.19

Letztlich geht es darum, die Umwandlung des Binnenmarkts in einen bipolaren Markt zu verhindern, mit dessen hässlichem Gesicht gerade diejenigen konfrontiert sind, die am wenigsten haben und am meisten brauchen. Die Geschäftspraktiken sollten gewissenhafter umgesetzt werden, wenn sie auf die wirtschaftlich schwächsten Verbraucher ausgerichtet sind. Dabei ist den Bedürfnissen der Verbraucher Rechnung zu tragen, was den Zugang zu grundlegenden Waren, Dienst- und Versorgungsleistungen betrifft, so dass eine ausreichende und beständige Versorgung im Interesse eines menschenwürdigen Lebens gewährleistet ist. Dies zu gewährleisten ist Sache der zuständigen staatlichen Stellen.

4.   Vorschläge für institutionelle Abhilfemaßnahmen bei einer wirtschaftlichen Schutzbedürftigkeit der Verbraucher

4.1

Der EWSA fordert die zuständigen Behörden auf, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um einen sicheren Zugang zu den Gütern und Dienstleistungen der Grundversorgung sowie einen ausdrücklichen und wirksamen Schutz der Rechte jener Verbraucher und Nutzer zu garantieren, die der Wirtschafts- und Finanzkrise besonders hart getroffen wurden. Es geht darum, ihre soziale Ausgrenzung zu vermeiden. Der EWSA hatte sich bereits dahingehend geäußert und Maßnahmen wie Rechtsvorschriften über die Überschuldung von Familien angeregt (11), mit denen der hohe finanzielle Druck auf bestimmte Bevölkerungsgruppen verringert werden sollte.

4.2

Darüber hinaus muss eine grundlegende Aufgabe für die europäische Verbraucherschutzpolitik im Rahmen der einschlägigen Rechtsvorschriften vor allem darin liegen, die Rechte der Verbraucher, die in eine Situation der wirtschaftlichen Schutzbedürftigkeit geraten sind, zu schützen, insbesondere was ihren Zugang zu den Gütern und Dienstleistungen der Grundversorgung unter menschenwürdigen Bedingungen betrifft.

4.3

Die einzelnen Maßnahmen können in vier Kategorien eingeteilt werden: Vorbeugung, Schutz, Abfederung und Erholung.

4.4

Bei der Ausarbeitung eines Aktionsplans müssen zumindest Aktionen berücksichtigt werden, die diesen verschiedenen Arten von Interventionsmaßnahmen entsprechen.

4.5

Erstens sollte ein Fonds aus den Strafzahlungen geschaffen werden, die bei verbraucherrechtlichen Verstößen verhängt werden. Diese Gelder sollten für die Verbraucherschutzpolitik eingesetzt werden, insbesondere — mithilfe des Instruments der Sammelklage — für Maßnahmen von allgemeinem Interesse, die der gesamten Bevölkerung zugutekommen und die von Verbraucherverbänden und Behörden sowie weiteren Stellen entwickelt werden, die Schritte zur Umsetzung dieser Politik ergreifen können, entsprechend den Festlegungen in den einzelnen Mitgliedstaaten.

4.6

Für Fälle schwerer Verstöße mit Gefahr oder tatsächlichem Schaden für die Gesundheit der Verbraucher und ihre Sicherheit müssen die Sanktionsbefugnisse der zuständigen Behörden gestärkt werden. Sie sollten auch ermächtigt werden, die eingesetzten Instrumente oder Güter zu genehmigen, einzuziehen und/oder zu beschlagnahmen sowie die Tätigkeit des Betriebs einzustellen — wobei die rechtstaatlichen Garantien umfassend zu wahren sind.

4.7

Als Präventionsmaßnahmen gelten Maßnahmen, die auf die verschiedenen externen Faktoren einwirken, die zu einer Zunahme der Zahl jener Verbraucher führen, die wegen der Wirtschaftskrise in eine wirtschaftlich prekäre Lage geraten, und die das Entstehen von Situationen und Praktiken begünstigt, von denen diese Verbraucher auf unterschiedliche Weise betroffen sein können.

4.8

Diese externen Faktoren müssen durch Maßnahmen zur Stärkung der Verbrauchervertreter als Wirtschafts- und Sozialpartner ergänzt werden. Diese müssen dazu angehalten werden, sich u. a. an genossenschaftlichen Projekten, Sammelkäufen oder Formen der partizipativen Wirtschaft zu beteiligen.

4.9

Eine grundlegende Präventivmaßnahme ist auch die Errichtung einer Beobachtungsstelle für die Begleitung strategischer Maßnahmen in kritischen Bereichen wie beispielsweise audiovisuelle Medien, Brennstoffe, Bankenwesen, Energieoligopole und Wohnungswesen, in denen die Schutzbedürftigkeit der schwächsten Verbraucher besonders groß sein könnte.

4.10

Es handelt sich im Rahmen des Schutzes der Verbraucher- und Nutzerrechte im Grunde um Maßnahmen in Bezug auf die Wirtschafts-, Finanz- und Beschäftigungsszenarien sowie die Szenarien, die sich aus möglichen negativen Auswirkungen der neuen Technologien auf den Zugang zum Waren- und Dienstleistungsmarkt ergeben können. In diesem Sinne müssen auch Werbe- und Marketingaktivitäten einbezogen werden, die Entscheidungen auslösen können, die nicht zu der aktuellen Lebenslage der Betroffenen passen oder diese in ihren Kaufkriterien beirren können.

4.11

Als Schutzmaßnahmen gelten Maßnahmen, welche die Mechanismen zum Schutze der Verbraucher und Nutzer in Situationen stärken, in denen sie benachteiligt sind oder in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, insbesondere beim Zugang zu fachlicher Beratung, rechtlichem Schutz und zu Entschädigung und Schadensersatz, wobei Verbraucher, die in eine Situation der wirtschaftlichen Schutzbedürftigkeit geraten sind, besondere Beachtung verdienen.

4.12

Ausgebaut werden muss auch die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Behörden und der Kommission. Der Anwendungsbereich muss eingehend überarbeitet werden, indem gleichwertige Prüfungsverfahren, die Harmonisierung der Sanktionen, die Wirksamkeit und die Funktionsmechanismen der Verordnung 2006/2004 über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz eingeführt werden. Darüber hinaus müssen die Verbraucher über sichere Produkte und Dienstleistungen verfügen können, was eine wirksame Überwachung der Märkte erfordert. Deshalb spricht sich der EWSA für die Überarbeitung der Rechtsvorschriften über die Produktsicherheit aus.

4.13

Die Abfederungsmaßnahmen betreffen Verbraucher, die wegen der Wirtschaftskrise in eine Situation der wirtschaftlichen Schutzbedürftigkeit geraten sind, und sollen die Betroffenen darin unterstützen, die Folgen zu bewältigen, damit sie in Zukunft ihre Grundbedürfnisse im Sinne einer menschenwürdigen Lebensqualität befriedigen können.

4.14

Sowohl bei dieser Art von Maßnahmen als auch bei denen zur Erholung, die von den Mitgliedstaaten ergriffen werden können, ist es wichtig, gegebenenfalls die Unterstützung der familiären und sozialen Netze in Betracht zu ziehen, die ihrerseits dafür auf die notwendige institutionelle Begleitung zählen können sollten. Auch könnten die Strukturfonds zur Einrichtung solcher Solidaritätsfonds beitragen, um die soziale Ausgrenzung durch die Verwirklichung der angestrebten Ziele zu verhindern.

4.15

In die Kategorie der Erholung fallen alle Maßnahmen, die alternative Wege zur Bewältigung einer Situation der wirtschaftlichen Schwäche im Rahmen des derzeit Machbaren fördern können. Diesbezüglich wird die Ausarbeitung und Durchführung eines „Rettungsplans für die Bürger“ vorgeschlagen, der dazu beiträgt, den Finanzen der Privathaushalte durch die Wiederherstellung der Kaufkraft der Verbraucher wieder auf die Beine zu helfen; der Plan, durch den die während der Krise erlittenen Verluste und Kürzungen ausgeglichen werden sollen, sollte billigerweise den zugunsten der Finanzinstitute durchgeführten Rettungsmaßnahmen entsprechen. Damit würden die den Bestimmungen der Verbraucherschutz-Leitlinien der Vereinten Nationen von 1999 besser umgesetzt, in denen es unter Ziffer 5 heißt: „Die Maßnahmen zur Förderung der Nachhaltigkeit im Verbrauch müssen folgenden Zielen Rechnung tragen: Beseitigung der Armut, Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Mitglieder der Gesellschaft und Verringerung der Ungleichheit sowohl auf nationaler Ebene als auch in den Beziehungen zwischen den Ländern.“

4.16

Darüber hinaus räumt Artikel 34 Absatz 3 der Europäischen Grundrechtecharta der Union und den Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Armut die Möglichkeit ein, Bedingungen herzustellen, die all jenen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, eine menschenwürdige Existenz sichern.

4.17

Schließlich wären Untersuchungen und Forschungen zu den Faktoren von Interesse, die die wirtschaftliche Schwäche der Verbraucher bestimmen und begünstigen.

4.18

Zu den Faktoren, die das Funktionieren des Binnenmarkts erschweren können, zählt der wirtschaftliche Druck, der auf Verbraucher bei Vertragsabschlüssen ausgeübt wird, weil sich diese in einer Situation des Ungleichgewichts und der Unterlegenheit befinden. Diese Position kann sich auf den Willen der Verbraucher auswirken und zu einem Willensmangel bei Vertragsabschlüssen der Verbraucher führen. Unter diesen Bedingungen werden den Verbrauchern Verträge aufgezwungen, die sie sonst nicht abgeschlossen oder angenommen hätten, oder Klauseln mit unverhältnismäßigen Belastungen, die sie im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung nicht freiwillig akzeptiert hätten.

4.19

Der EWSA sollte Überlegungen zu diesem Willensmangel bei Vertragsabschlüssen der Verbraucher und zur Wettbewerbsverzerrung anstellen, die zu einem mangelhaften Funktionieren des Binnenmarkts führt. Die anderen EU-Institutionen sollten dieser Frage die gebührende Aufmerksamkeit widmen und Maßnahmen ergreifen, die notwendig sind, um zu vermeiden, dass bei Vertragsabschlüssen wirtschaftlicher Druck auf die Verbraucher ausgeübt wird, weil diese sich in einer Situation der Unterlegenheit befinden.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Von den Vereinten Nationen und der Universität Oxford 2010 entwickelter statistischer Parameter, mit dem die Gründe der Armut ermittelt und ihr Ausmaß gemessen werden.

(2)  ABl. L 84 vom 20.3.2014, S. 42.

(3)  ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 89.

(4)  ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 86.

(5)  Gegenstand der Ermittlung des Interpol-Referats „Handel mit illegalen Produkten“ (Operation Opson).

(6)  Over the counter: frei verkäufliche, verschreibungs- und rezeptfreie Arzneimittel.

(7)  ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 23.

(8)  Dieses Marketinginstrument ist ein flexibles, von Angebot und Nachfrage abhängiges Preisgestaltungssystem, das dem Verbraucher den Eindruck vermittelt, es handele sich um einen Rabatt, obwohl dies in Wirklichkeit nicht zutreffend ist.

(9)  ABl. L 149 vom 11.6.2005, S. 22.

(10)  ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 61.

(11)  ABl. C 311 von 12.9.2014, S. 38.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen (Artikel 54 Absatz 3 der Geschäftsordnung):

a)   Ziffer 1.3

Ändern:

Andererseits lässt sich im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise eine allgemeine und anhaltende Tendenz der schrittweisen Schwächung der wirtschaftlichen Situation der potenziellen Verbraucher beobachten, die vermuten lässt, dass diese Konsumkluft zunehmen wird. Bisher haben die öffentlichen Entscheidungsträger keine systematischen Maßnahmen vorgeschlagen, um diese Verschlechterung zu verhindern und die Verbraucher davor zu schützen.

Begründung

Es muss gesagt werden, was geschwächt wird.

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen:

49

Nein-Stimmen:

86

Enthaltungen:

3

b)   Ziffer 3.5

Ändern:

Es könnte auch zu missbräuchlichen Geschäftspraktiken kommen, bei denen im Interesse einer drastischen Herabsetzung des Preises Produkte verkauft werden, die nicht mehr die Anforderungen für eine Vermarktung erfüllen. Gleiches gilt für die Dienstleistungserbringung. Deshalb müssen hier durch das aktive und umsichtige Einschreiten der Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden, um gegebenenfalls die Vermarktung den illegalen Verkauf dieser Erzeugnisse zu verhindern. Dazu gehören nach Ansicht des EWSA  (1) eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den zuständigen nationalen Behörden und der Kommission, wobei die Kommission der Überarbeitung des Rechtsakts für Produktsicherheit zustimmen müsste, der dann umgehend in Kraft treten sollte.

Begründung

Waren/Dienstleistungen, die nicht die Anforderungen für eine Vermarktung erfüllen, dürfen nicht verkauft werden. Jeglicher Verkauf derartiger Waren/Dienstleistungen ist somit illegal.

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen:

42

Nein-Stimmen:

77

Enthaltungen:

14

Die folgenden Textstellen der Stellungnahme der Fachgruppe wurden aufgrund von im Plenum angenommenen Änderungsanträgen geändert, erhielten jedoch mindestens ein Viertel der Stimmen (Artikel 54 Absatz 4 der Geschäftsordnung):

c)   Ziffer 4.9

Es handelt sich im Rahmen des Schutzes der Verbraucher- und Nutzerrechte im Grunde um Maßnahmen in Bezug auf die Wirtschafts-, Finanz- und Beschäftigungsszenarien sowie die Szenarien, die sich aus möglichen negativen Auswirkungen der neuen Technologien auf den Zugang zum Waren- und Dienstleistungsmarkt ergeben können. In diesem Sinne müssen auch Werbe- und Marketingaktivitäten einbezogen werden, die Entscheidungen auslösen können, die nicht zu der aktuellen Lebenslage der Betroffenen passen oder diese in ihren Kaufkriterien beirren können.

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen:

60

Nein-Stimmen:

58

Enthaltungen:

9

d)   Ziffer 4.14 (neue Ziffer 4.15)

In die Kategorie der Erholung fallen alle Maßnahmen, die alternative Wege zur Bewältigung einer Situation der wirtschaftlichen Schwäche im Rahmen des derzeit Machbaren fördern können. Damit würden die den Bestimmungen der Verbraucherschutz-Leitlinien der Vereinten Nationen von 1999 besser umgesetzt, in denen es unter Ziffer 5 heißt: „Die Maßnahmen zur Förderung der Nachhaltigkeit im Verbrauch müssen folgenden Zielen Rechnung tragen: Beseitigung der Armut, Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Mitglieder der Gesellschaft und Verringerung der Ungleichheit sowohl auf nationaler Ebene als auch in den Beziehungen zwischen den Ländern.“

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen:

66

Nein-Stimmen:

63

Enthaltungen:

11


(1)  Stellungnahme des EWSA zur „Marktüberwachung“ — ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 86.


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/10


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Frauen in der Wissenschaft“

(Initiativstellungnahme)

(2015/C 012/02)

Berichterstatterin:

Indrė VAREIKYTĖ

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 22. Januar 2014 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Frauen in der Wissenschaft

(Initiativstellungnahme.)

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 30. September 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 169 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Zukunft der Europäischen Union hängt von Forschung und Innovation ab, und Europa braucht bis 2020 1 Million mehr Forscherinnen und Forscher, um im globalen Wettbewerb mithalten zu können. Forschung könnte ferner 3,7 Millionen Arbeitsplätze schaffen und das jährliche BIP in der EU bis 2025 um 795 Milliarden Euro steigern, sofern die Zielvorgabe, bis 2020 3 % des EU-BIP in FuE zu investieren, erreicht wird (1).

1.2

Die EU hat sich zur Förderung von Geschlechtergleichstellung und der Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern in allen Politikbereichen verpflichtet, also auch in Forschung und Innovation (R&I). Die unionsweit erhobenen Daten weisen auf ein frappierendes Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern in der europäischen Forschung hin (2).

1.3

Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen ist für ein gut funktionierendes Forschungssystem von grundlegender Bedeutung. Um ihre forschungspolitischen Ziele zu erreichen, müssen die Mitgliedstaaten und die EU als Ganzes das ihnen zur Verfügung stehende Humankapital vollständig nutzen.

An die Europäische Kommission:

1.4

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ersucht die Europäische Kommission nachdrücklich, eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten vorzuschlagen, die gemeinsame Leitlinien für institutionelle Veränderungen zur Förderung der Geschlechtergleichstellung in Hochschulen und Forschungseinrichtungen enthält, wie es 2012 in der Mitteilung zum europäischen Forschungsraum (EFR) angekündigt wurde.

1.5

Die Empfehlungen sollten die Mitgliedstaaten dazu ermutigen, rechtliche und sonstige Hindernisse zu beseitigen, die der Einstellung, Weiterbeschäftigung und Laufbahnentwicklung von Forscherinnen im Wege stehen, die unausgewogenen Geschlechterverhältnisse in Entscheidungsprozessen anzugehen und die Geschlechterdimension in Forschungsprogrammen zu stärken.

1.6

Der Ausschuss fordert die Kommission ferner auf, weiterhin Sensibilisierungsprogramme zu entwickeln und umzusetzen, mit denen die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) für Mädchen attraktiver werden und mehr Frauen in die Forschung gehen.

1.7

Auch sollte eine engere Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Generaldirektionen der Kommission (GD Bildung und Kultur und GD Forschung und Innovation) sichergestellt werden.

1.8

Der Ausschuss empfiehlt ferner, dass Eurostat nach Geschlechtern aufgeschlüsselte Daten im Zusammenhang mit Forschung und Innovation erhebt und verbreitet.

An die EU-Mitgliedstaaten:

1.9

Die Mitgliedstaaten sollten auf der Grundlage der Empfehlungen in der EFR-Mitteilung und dem Programm Horizont auf eine Verbesserung ihrer rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für Geschlechtergleichstellung in der Forschung hinwirken.

1.10

Der Ausschuss fordert die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf dafür zu sorgen, dass ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung 3 % des BIP, wie in der Europa-2020-Strategie vorgegeben, erreichen.

1.11

Die Mitgliedstaaten sollten weiterhin die EU-Strukturfonds und andere Finanzierungsprogramme im Einklang mit der EFR-Mitteilung für Initiativen zu institutionellen Veränderungen bereitstellen.

1.12

Die Bewertung, Zulassung und Finanzierung von Forschungseinrichtungen und -organisationen sollten an deren Leistungen in Sachen Geschlechtergleichstellung geknüpft werden.

1.13

Die Mitgliedstaaten sollten mit ihren öffentlichen/nationalen Forschungs- und Bildungseinrichtungen und den Sozialpartnern eruieren, wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Entwicklung und Umsetzung familienfreundlicher Maßnahmen für Forscherinnen und Forscher gleichermaßen gewährleistet werden kann.

1.14

Die Mitgliedstaaten sollten den Dialog zwischen Forschungseinrichtungen, Unternehmen und den entsprechenden Sozialpartnern unterstützen und ausbauen.

An die Forschungsakteure:

1.15

Der EWSA ruft die Forschungseinrichtungen und Universitäten mit Nachdruck dazu auf, die ausgewogene Vertretung von Männern und Frauen in ihren Entscheidungs-, Auswahl- und sonstigen einschlägigen Gremien zu gewährleisten.

1.16

Die Geschlechtergleichstellung muss in den Planungsverfahren von Forschungseinrichtungen und Universitäten und ihren jeweiligen Gremien berücksichtigt werden.

1.17

Der EWSA fordert mehr Dialog mit den Verlagen und Herausgebern wissenschaftlicher Veröffentlichungen, um geschlechtsspezifische Voreingenommenheit zu beseitigen und die Beiträge von Wissenschaftlerinnen zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Leitartikeln, Zeitschriften und Erhebungen zu steigern.

2.   Überblick über die gegenwärtige Lage  (3)

2.1

2005 gab der Europäische Rat die Zielvorgabe vor, dass Frauen 25 % der Leitungspositionen in der öffentlichen Forschung besetzen sollen. Gleichwohl ist das Geschlechterverhältnis bei der Entscheidungsfindung weiterhin unausgewogen: 2010 wurden lediglich 15,5 % der Institutionen und 10 % der Rektorate im Bereich der Hochschulbildung von Frauen geleitet.

2.2

Die horizontale Segregation durch verschiedene Wirtschaftssektoren und Forschungsfelder ist weiterhin Realität. Der Frauenanteil unter Forschern ist in den Bereichen der höheren Hochschulbildung und Verwaltung größer als in den Unternehmen der freien Wirtschaft. EU-weit ist der Anteil von Frauen in der Professorenschaft (akademische Laufbahn) in humanistischen oder sozialwissenschaftlichen Disziplinen am höchsten (28,4 % bzw. 19,4 %) und in Technik und Ingenieurwesen am niedrigsten (7,9 %).

2.3

Die akademischen Laufbahnen von Frauen stehen auch nach wie vor im Zeichen einer beträchtlichen vertikalen Segregation. Der Anteil der Studentinnen (55 %) und der Hochschulabsolventinnen (59 %) lag 2010 über dem der Männer, bei den Doktoranden und Promovierten ist jedoch der Anteil der Männer höher als der der Frauen (der Anteil der Doktorandinnen liegt bei 49 % und der Anteil der Frauen unter den Promovierten bei 46 %). Auf der Einstiegsebene zu einer akademischen Laufbahn lag der Anteil der Frauen bei 44 %, im akademischen Mittelbau bei 37 % und unter den Lehrstuhlinhabern bei lediglich 20 %. Die Unterrepräsentierung von Frauen in Wissenschaft und Technik ist noch frappierender. Dort liegt er bei lediglich 33 % auf der Einstiegsebene zu einer akademischen Karriere, bei 23 % im akademischen Mittelbau und bei nur 11 % unter den Lehrstuhlinhabern (4).

2.4

Eine echte Vereinbarkeit von Arbeits- und Privatleben zu erzielen, ist und bleibt ein zentrales Element auf dem Weg zur Geschlechtergleichstellung. Es gibt nicht nur eine „gläserne Decke“, sondern auch eine „mütterliche Wand“, welche den beruflichen Aufstieg von Forscherinnen behindert, da Frauen nach wie vor den größten Teil der Kinderbetreuung und Hausarbeit übernehmen.

2.5

Weitere entscheidende Hindernisse und Sachzwänge, die der Einstellung, Weiterbeschäftigung und Karriere von Frauen im europäischen Forschungssystem im Wege stehen sind u. a.: mangelnde Demokratie und Transparenz in den Einstellungs- und Beförderungsverfahren; geschlechterspezifische Vorurteile bei der Leistungsbeurteilung, Undurchsichtigkeit in Entscheidungsgremien und beharrliche Stereotypen in Bezug auf Mädchen/Frauen und Wissenschaft. Europäische Forschungseinrichtungen müssen grundlegend modernisiert werden, damit sie die strukturellen Voraussetzungen für die Gleichstellung von Männern und Frauen bieten können.

3.   Die Vorteile einer Geschlechtergleichstellung in Forschung und Innovation

3.1

Das Wirtschaftswachstum in Europa hängt von Forschung und Innovation (F&I) ab, und Europa braucht 1 Million mehr Forscherinnen und Forscher, um im globalen Wettbewerb mithalten zu können. Forschung und Innovation sind nicht nur Voraussetzung dafür, dass Europa eine Wissensgesellschaft wird. Sie könnten zusammen auch 3,7 Millionen Arbeitsplätze schaffen und das jährliche BIP in der EU bis 2025 um 795 Milliarden Euro steigern, sofern die Zielvorgabe, bis 2020 3 % des EU-BIP in FuE zu investieren, erreicht wird (5).

3.2

Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen ist für ein gut funktionierendes Forschungssystem von grundlegender Bedeutung. Um ihre forschungspolitischen Ziele zu erreichen, müssen die Mitgliedstaaten und die EU als Ganzes das ihnen zur Verfügung stehende Humankapital in Gestalt von Talenten und Ressourcen vollständig nutzen. Die umfassende Nutzung des Potenzials an Fähigkeiten, Wissen und Qualifikationen von Frauen wird dazu beitragen, Wachstum anzukurbeln, neue Arbeitsplätze zu schaffen und die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu steigern — alles wichtige Antriebskräfte einer florierenden Wirtschaft.

3.3

Damit eine hochwertige Forschung gesellschaftlich relevant wird, sollten verschiedene Lösungen in Betracht gezogen werden. Dies kann am besten gewährleistet werden, wenn die Forscherkreise Diversität aufweisen und wenn sie inner- und interdisziplinär kooperieren können. Forschung und Bildung sind integrale Bestandteile der Politikgestaltung und öffentlichen Verwaltung und tragen zu einer kritischeren, facettenreichen und offenen öffentlichen Debatte bei (6).

3.4

Wenn mehr Frauen in der Forschung arbeiten, können dadurch die Wissensressourcen gefördert, die Qualität der Wissensgenerierung gesteigert und der gesamte Sektor widerstands- und wettbewerbsfähiger werden. Studien lassen erkennen, das heterogene Forschungsgruppen robuster und innovativer sind als homogene (7) und dass die Vielfalt an Wissen und Sozialkapital in Teams für das Hervorbringen neuer Ideen wichtig ist (8). Auch geschlechtsspezifische Innovationen in Wissenschaft, Medizin, Ingenieurwesen und Umwelt nutzen Analysen geschlechtsspezifischer Aspekte als Quelle zur Förderung neuer Ideen, neuer Dienstleistungen und neuer Technologien (9).

3.5

Ein Vergleich zwischen den Gleichstellungsindizes der einzelnen Mitgliedstaaten legt nahe, dass die Länder mit höheren Ergebnissen beim Gleichstellungsindex (GEI) in der Regel einen größeren Anteil ihres BIP in Forschung und Entwicklung investieren und auch im Bereich Innovation besser abschneiden.

3.6

Die Einbeziehung einer Geschlechteranalyse in F&I-Inhalte stellt sicher, dass die Forschung ebenso wie die heutigen Innovationen Bedürfnisse, Verhaltensweisen und Gepflogenheiten von Frauen und Männern gleichermaßen berücksichtigen. Studien belegen, dass die Einbeziehung der Geschlechteranalyse die Bedeutung und Qualität von Forschung und Innovation steigert. Sie ist ein Mehrwert für die Gesellschaft und die Unternehmenswelt, indem sie Forschung an ein breites und vielfältiges Nutzerspektrum anpasst und inklusivere Innovationsprozesse schafft, wie es das Projekt der geschlechterspezifischen Innovation belegt (10).

4.   Politische Maßnahmen auf europäischer Ebene

4.1

Der Ausschuss ersucht die Europäische Kommission nachdrücklich, eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten vorzuschlagen, die gemeinsame Leitlinien für institutionelle Veränderungen zur Förderung der Geschlechtergleichstellung in Hochschulen und Forschungseinrichtungen enthält, wie es 2012 in der Mitteilung zum europäischen Forschungsraum (EFR) angekündigt wurde. Die Empfehlung sollte die Mitgliedstaaten dazu ermutigen, rechtliche und sonstige Hindernisse zu beseitigen, die der Einstellung, Weiterbeschäftigung und Laufbahnentwicklung von Forscherinnen im Wege stehen, die unausgewogenen Geschlechterverhältnisse in Entscheidungsprozessen anzugehen und die Geschlechterdimension in Forschungsprogrammen zu stärken. Sie sollte ein umfassendes Verzeichnis der in den Ländern des europäischen Forschungsraums zu findenden effizientesten Beispiele dieser Förderung enthalten.

4.2

Der Ausschuss fordert die Kommission ferner auf, weiterhin Sensibilisierungsprogramme zu entwickeln und umzusetzen, mit denen die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) für Mädchen attraktiver werden und mehr Frauen in die Forschung gehen, sowie Sonderprogramme für die Berufsberatung und -begleitung. Hierbei sollten die zuständigen Generaldirektionen der Kommission (GD Bildung und Kultur und GD Forschung und Innovation) enger zusammenarbeiten. Im Rahmen einer derartigen Zusammenarbeit könnten die Anstrengungen gebündelt werden, um bessere Ergebnisse in punkto Geschlechtergleichstellung, Forschung und Bildung als Ganzes zu ermöglichen.

4.3

Die Kommission sollte ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen in den EU-Bildungs- und Mobilitätsprogrammen für Forscher gewährleisten.

4.4

Der Ausschuss empfiehlt ferner, im Rahmen von Eurostat nach Geschlechtern aufgeschlüsselte Daten im Zusammenhang mit Forschung und Innovation zu erheben und zu verbreiten, um eine reibungslosere, zuverlässigere und vergleichbarere Datenerfassung und Überwachung zu ermöglichen, welche die Entwicklung der Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern nach 2015 erleichtern würde.

5.   Maßnahmen auf nationaler und institutioneller Ebene

5.1

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, ihre nationalen Politiken zur Gleichstellung der Geschlechter in Forschung und Innovation an die auf EU-Ebene gefassten Beschlüsse zum Europäischen Forschungsraum und dem Programm Horizont 2020 anzupassen.

5.2

Der Ausschuss fordert die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf zu gewährleisten, dass die Ausgaben für Forschung und Entwicklung 3 % des BIP, wie in der Europa-2020-Strategie vorgegeben, erreichen. Der aktuelle Durchschnitt der EU-28 bei den FuE-Ausgaben liegt bei 2,07 % (11), was das Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen behindert und die Forschungseinrichtungen davon abhält, das geistige Potenzial voll auszuschöpfen.

5.3

Die Mitgliedstaaten sollten Sensibilisierungsprogramme entwickeln und durchführen, die so konzipiert sind, dass die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) für Mädchen attraktiver werden und Frauen in die Forschung gehen. Diese Fächer sollten bereits in der Schule entsprechend gefördert werden.

5.4

Nach Ansicht des EWSA besteht eine der wirksamsten Maßnahmen zur Verbesserung der Geschlechtergleichstellung in Bildung und Forschung darin, Bildungs- und Forschungseinrichtungen, die in Gleichstellungsfragen gute Fortschritte vorweisen können, finanzielle Anreize zu bieten. Die Mitgliedstaaten sollten die Bewertung, Zulassung und Finanzierung von Forschungseinrichtungen und -organisationen an deren Leistungen in Sachen Geschlechtergleichstellung knüpfen.

5.5

Um eine tragfähige Grundlage für den so dringend erforderlichen Strukturwandel in Europas Forschungseinrichtungen und -organisationen zu schaffen, sollten die Mitgliedstaaten und ihre jeweiligen Institutionen eine Verfahrensweise für die Überwachung und Evaluierung der Effizienz ihrer Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter entwickeln.

5.6

Die Mitgliedstaaten sollten mit ihren jeweiligen Forschungs- und Bildungseinrichtungen und den Sozialpartnern eruieren, wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Entwicklung und Umsetzung familienfreundlicher Maßnahmen (Kinderbetreuungsmöglichkeiten, Telearbeit, Teilzeitarbeit u. a.) sowohl für die Frauen als auch die Männer in der Forschung gewährleistet werden kann.

5.7

Der EWSA ruft ferner Forschungseinrichtungen mit Nachdruck dazu auf, die ausgewogene Vertretung von Männern und Frauen in ihren Entscheidungs-, Auswahl- und sonstigen einschlägigen Gremien zu gewährleisten.

5.8

Die Geschlechtergleichstellung muss in den Planungsverfahren von Forschungseinrichtungen und Universitäten und ihren jeweiligen Gremien berücksichtigt werden. Auf allen Ebenen müssen Aktionspläne entwickelt werden, mit jährlichen Berichten über Zielvorgaben, Maßnahmen und Ergebnisse. Die einzelnen Institute müssen aktiv darin einbezogen werden und Verantwortung übernehmen, indem sie über ihre eigenen Ziele und Maßnahmen entscheiden können. Frauen sollten auch an einer derartigen Planung teilhaben, damit sichergestellt wird, dass Forscherinnen und ihre Interessengebiete nicht ignoriert werden.

5.9

Wissenschaft und Innovation sind für Unternehmen äußerst vorteilhaft. Daher sollten die Mitgliedstaaten den Dialog zwischen Forschungseinrichtungen, Unternehmen und den entsprechenden Sozialpartnern unterstützen und ausbauen. Ein derartiger Dialog könnte eine stärker unternehmensorientierte Forschung gewährleisten und den Forschungseinrichtungen helfen, ihre Mittel zu diversifizieren.

5.10

Der EWSA fordert mehr Dialog mit den Verlagen und Herausgebern wissenschaftlicher Veröffentlichungen, um geschlechtsspezifische Voreingenommenheit zu beseitigen und die Beiträge von Wissenschaftlerinnen zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Leitartikeln, Zeitschriften und Erhebungen zu steigern.

5.11

Der Dialog sollte auch zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Generationen gewährleistet werden, was zudem die Forschungszusammenarbeit stärkt und dem wissenschaftlichen Nachwuchs informelle Lernmöglichkeiten bietet.

5.12

Die Führungskräfte üben einen großen Einfluss auf Forschungsaktivitäten aus und spielen eine grundlegende Rolle bei der Qualitätsentwicklung. Frauen müssen ebenso wie Männer an Schulungen zur Vorbereitung auf hochrangige Positionen teilnehmen. Führungskräfte müssen in Fragen der Gleichstellung der Geschlechter in der Forschung geschult werden, die ein Fachbereich für sich ist.

5.13

Der Ausschuss befürwortet internationale und nationale Auszeichnungen, wie etwa das UNESCO-L'Oréal-Programm „Für Frauen in der Wissenschaft“ (12), „Athena Swan“ (13) und weitere Initiativen. Durch all diese Programme werden nicht nur Frauen zu wissenschaftlichen Tätigkeiten und Einrichtungen zur Durchführung der strukturellen Veränderungen ermutigt, sondern es entsteht auch ein sehr effizientes Kommunikationsinstrument zur Förderung der Geschlechtergleichstellung.

6.   Beispiele für Personalpolitik und organisatorische Maßnahmen

6.1

Eine der Maßnahmen, die zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern ergriffen werden, ist die gemäßigte positive Diskriminierung, wie sie im Vertrag über die Arbeitsweise der EU und von der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften geregelt wird. Dabei wird Bewerbern eines Geschlechts Vorrang gegeben, die weniger als 40 % der Beschäftigten in derselben Stellenkategorie ausmachen, sofern mehrere Bewerber annähernd dieselben Qualifikationen vorweisen.

6.2

Forschungseinrichtungen und Hochschulen können mit zwei unterschiedlichen Methoden etwaigen Tendenzen einer geschlechtsspezifischen Bevorzugung bei der Einstellung vorbeugen. Die erste besteht darin zu gewährleisten, dass Ernennungsverfahren durch den Fakultätsrat, den Gleichstellungsbeauftragten oder ein sonstiges zuständiges Gremium überwacht werden. Die zweite besteht darin, die Fakultäten zu verpflichten, über die Einstellung Bericht zu erstatten, sodass geschlechtsspezifische Statistiken über die Bewerber insgesamt und über die in die engere Auswahl gezogenen und die letztlich eingestellten Bewerber erstellt werden können. Es ist wichtig, gegen den informellen Charakter bei Ernennungsverfahren vorzugehen, da hierbei eher Männer bevorzugt werden. Hierzu gehören auch „informelle Aufforderungen“, sich auf bestimmte Stellen zu bewerben, und das Zuschneiden von Stellenausschreibungen, damit sie sich besser mit Qualifikationen und Erfahrungen von Männern decken.

6.3

Es können maßgeschneiderte Programmeeingeleitet und Kinderbetreuungseinrichtungen gegründet werden. Das kann dann in Stellenausschreibungen zur Steigerung der Attraktivität genutzt werden. Die Option anzubieten, nach dem Elternurlaub ein Stipendium anzuhängen, kann ebenfalls die Attraktivität für Bewerber beiderlei Geschlechts steigern.

6.4

Mehrere europäische Länder haben gesonderte Datenbanken für Wissenschaftlerinnen und Expertinnen aufgebaut. Diese sind besonders dann nützlich, wenn nach einer bestimmten Wissenschaftlerin oder nach jemandem mit einem speziellen Qualifikationsprofil für ein Forschungsteam, eine Einrichtung oder ein Gremium gesucht wird, wo Frauen unterrepräsentiert sind.

6.5

Eine geschlechtergerechte Budgetierung sollte gefördert werden, um eine geschlechtsspezifische Bewertung der Haushalte und Mittelzuweisung zu gewährleisten. Dazu gehört, die Geschlechterperspektive auf allen Ebenen des Haushaltsverfahrens zu berücksichtigen und so zu ermöglichen, dass die Gleichstellung überwacht und bewertet wird und im Bedarfsfall gezielte Maßnahmen ergriffen werden.

6.6

Besondere nationale und/oder institutionelle Mittel könnten ausdrücklich dafür vorgesehen werden, Forscherinnen in Fachgebieten mit geringer Frauenrate finanziell zu unterstützen. Außerdem können Einrichtungen und/oder Institute, die aktiv die Gleichstellung fördern und gute Ergebnisse vorweisen, durch verschiedene Anreizprogramme belohnt werden.

6.7

Das geschlechtsspezifische Gleichgewicht unter den Angestellten und in Ausschüssen könnte verbessert werden, indem Institute ermutigt werden, ausländische Wissenschaftlerinnen als Gastprofessorinnen und Ausschussmitglieder einzuladen.

6.8

Arbeitgeber sollten in den Stellenanzeigen für Forschungsstipendiaten mit und ohne Promotion möglichst keinen hohen Spezialisierungsgrad fordern, um mehr potenzielle Bewerber zu bekommen und ein frühzeitigen Aussieben von Kandidaten zu vermeiden.

6.9

Alle Ernennungsausschüsse sollten weibliche Mitglieder in einem ausgewogenen Verhältnis zu den Männern haben. Das dürfte dazu beitragen, dass sich Frauen bewerben und angenommen werden.

6.10

Sensibilisierung für geschlechterspezifische Fragen und Kenntnis von Gleichstellungsfragen sollten Teil von Schulungsprogrammen für Führungskräfte sein. Qualifikationen in Fragen der Gleichstellung der Geschlechter können ein Kriterium für die Besetzung von Führungspositionen und Teil der Bewertung von Führungskräften sein (14).

6.11

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Geschlechtergleichstellung mittels angemessener Indikatoren für die Humanressourcen und Zuweisung der Finanzmittel überwacht wird. Die zugrundeliegende Datenerhebung sollte somit stets nach Geschlechtern aufgeschlüsselt sein.

6.12

Forschungsgruppen haben eine stimulierende Wirkung auf das Forschungsumfeld. Studien belegen, dass Forschungsgruppen, die aus Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund bestehen, bessere Möglichkeiten zur Erweiterung ihres Forschungsblickwinkels haben. Sie zeigen ferner, dass die Gründung von gemischten Forschungsgruppen bessere Bedingungen für Kreativität und Innovation schafft und die Publikationsfrequenz steigert (15).

6.13

Einstiegspakete (Mittel für die Durchführung von Projekten, Beschaffung von Ausrüstungen und Gehälter für Forschungsassistenten) können es frisch ernannten Frauen erleichtern, als Forscherinnen Fuß zu fassen. Die Erfahrung zeigt, dass Frauen nicht so gute Forschungsbedingungen aushandeln wie Männer. Einstiegspakete können hier Abhilfe schaffen und sollten ganz besonders in Betracht gezogen werden.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  P. Zagamé, L. Soete, „The cost of a non-innovative Europe“, 2010.

(2)  Ein Überblick über die aktuelle Lage ist in Teil 2 des Dokuments zu finden.

(3)  Quelle statistischer Daten in Teil 2: „She Figures 2012: Gender in Research and Innovation“, Europäische Kommission, 2013.

(4)  Im angelsächsischen Raum werden die akademischen Ebenen als Grade A (hoch), B (mittel) und C (niedrig) bezeichnet.

(5)  P. Zagamé, L. Soete, „The cost of a non-innovative Europe“, 2010.

(6)  Frauen in der Wissenschaft, Norwegen, 2010.

(7)  Campbell LG, Mehtani S, Dozier ME, Rinehart J, „Gender-Heterogeneous Working Groups Produce Higher Quality Science“, 2013.

(8)  http://www.genderinscience.org.uk/index.php/consensus-seminars/recommendations-report

(9)  Bericht der Expertengruppe zu „Innovation through Gender“, Europäische Kommission, 2013.

(10)  Bericht der Expertengruppe zu „Innovation through Gender“, Europäische Kommission, 2013.

(11)  Eurostat, 2012.

(12)  http://www.loreal.com/Foundation/Article.aspx?topcode=Foundation_AccessibleScience_WomenExcellence

(13)  http://www.athenaswan.org.uk

(14)  IDAS — ein nationales Entwicklungsprogramm für Führungskräfte mit dem Ziel, die Zahl der Frauen in leitender Stellung an schwedischen Hochschulen und Fachhochschulen zu steigern.

(15)  „The Scientist“, 7. November 2005 und „Science“, Vol. 309, 2005.


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/16


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Entwicklung von Familiendienstleistungen zur Förderung der Beschäftigungsquote und der Geschlechtergleichstellung im Beruf“

(Initiativstellungnahme)

(2015/C 012/03)

Berichterstatterin:

Béatrice OUIN

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 26. Februar 2014, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Entwicklung von Familiendienstleistungen zur Förderung der Beschäftigungsquote und der Geschlechtergleichstellung im Beruf

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 30. September 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 16. Oktober) mit 141 gegen 17 Stimmen bei 16 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen

1.1

An die Europäische Union:

Förderung des Austauschs bewährter Verfahrensweisen, Verbesserung der Kenntnis der Statistiken,

Aufstellung einer Reihe von Empfehlungen für die Sozialpartner auf der Grundlage eines geschlechtsneutralen Vergleichs der Arbeitsplätze,

Einführung eines Innovationspreises für das Unternehmertum im Bereich der Familiendienstleistungen,

Förderung der sozialen Innovation bei der Entwicklung von Familiendienstleistungen unabhängig von der Form dieser Dienstleistungen.

1.2

An die Mitgliedstaaten:

Ratifizierung des ILO-Übereinkommens 189,

Herausführung aus der Schwarzarbeit mithilfe steuerlicher Beihilfen und einfacher Meldesysteme, um die Haushaltsbeschäftigung anderen Beschäftigungsverhältnissen gleichzustellen,

Bekämpfung von Stereotypen im Hinblick auf eine gemischtgeschlechtliche Erbringung von Pflegetätigkeiten und Hausarbeit,

Festlegung eines allgemeinen Rahmens zur Förderung der Entstehung und Entwicklung einer professionellen Branche für Familiendienstleistungen im Einklang mit den Besonderheiten und kulturellen Gepflogenheiten der einzelnen Mitgliedstaaten,

Abbau der rechtlichen Schranken, die derzeit eine angemeldete Beschäftigung direkt durch die Familien erheblich erschweren.

1.3

An die Sozialpartner:

Anerkennung von Abschlüssen und Befähigungsnachweisen und Anrechnung von durch Beschäftigung in Privathaushalten erworbenen Erfahrungen,

Aushandlung von Tarifverträgen und Systemen der beruflichen Einstufung unter Berücksichtigung sämtlicher — auch psychologischer und zwischenmenschlicher — Kompetenzen.

1.3.1

An die Unternehmer:

Gründung von Unternehmen und Genossenschaften, die Familiendienstleistungen anbieten und einen Arbeitnehmerstatus für die Beschäftigten schaffen.

1.3.2

An die Gewerkschaften, die Arbeitgeberorganisationen und die Betriebsräte:

Förderung eines positiven Bildes von Familiendienstleistungen und Aufwertung der Arbeit in diesen Bereichen,

Förderung der Ausbildung der betroffenen Personen und Bescheinigung erworbener Kenntnisse,

Einleitung von Maßnahmen zur Schaffung und Umsetzung von Strukturen für die Zusammenfassung und Organisation von Familiendienstleistungen, wobei Traditionen und bestehende Unterschiede zwischen den Ländern berücksichtigt werden müssen,

Organisation der Vertretung der Hausangestellten und ihrer Arbeitgeber,

im Rahmen der Maßnahmen zur Förderung der beruflichen Gleichstellung beschäftigungswirksame Dienstleistungen sowie eine finanzielle Beteiligung der Unternehmen fordern, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für alle zu ermöglichen.

2.   Hintergrund

2.1

Gegenstand dieser Stellungnahme sind ausschließlich Dienstleistungen und Tätigkeiten, die in privaten Haushalten erbracht bzw. verrichtet werden, und keine sonstigen familienbezogenen Dienstleistungen wie Kinderkrippen, Altenheime, Schulkantinen, Kinderhorte usw. Die Entwicklung und Professionalisierung dieser Hausarbeit ist für die Gleichstellung im Erwerbsleben von strategischer Bedeutung, da es in erster Linie Frauen sind, die diese Arbeit leisten bzw. auf Betreuungsdienste für Kinder oder ältere Menschen und Wohnungsinstandhaltungsdienste angewiesen sind, um mit den Männern beruflich gleichgestellt zu sein. Diese Dienste kommen Einzelnen und der ganzen Gesellschaft zugute. Sie sind beschäftigungswirksam, erfüllen Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft, erleichtern die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf, erhöhen die Lebensqualität, verbessern die soziale Inklusion und erleichtern es älteren Menschen, in ihrer eigenen Wohnung zu bleiben.

2.2

In Verbindung mit den Familiendienstleistungen sind drei große Bereiche zu unterscheiden: Instandhaltung von Wohnungen, Kinderbetreuung und die Betreuung kranker, schwerbehinderter und alter Menschen. Eine Unterscheidung zwischen diesen Bereichen ist insofern zweckmäßig, als teilweise unterschiedliche, aber häufig miteinander verbundene Kompetenzen und Qualifikationen gefordert sind und sich die institutionellen und organisatorischen Strukturen für die einzelnen Bereiche oder Dienste je nach Land unterscheiden. Daher sind auch die Bedingungen, der Status ebenso wie die Wahrnehmung der Personen, die diese Dienste anbieten, sehr verschieden.

2.3

Ein Großteil der delegierten Familienarbeit wird gegenwärtig in Form von Schwarzarbeit erbracht, was sowohl für die Schwarzarbeiter als auch für die Familien und den Staat nachteilig ist.

2.4

Zur Entwicklung der Familiendienstleistungen müssen Maßnahmen für ihre Aufwertung ergriffen und herkömmlichen Denkmustern entgegengewirkt werden, aufgrund derer diese Arbeiten, die noch stets unentgeltlich von den Hausfrauen erbracht werden, immer noch als anspruchslose Tätigkeit gelten.

2.5

Die Anerkennung dieser informellen Arbeiten, ihre Professionalisierung als echte Berufstätigkeit mit entsprechenden Arbeitsverträgen, Bildungsmaßnahmen, Sozialschutz, Aufstiegsmöglichkeiten und den gleichen Rechten wie andere Arbeitnehmer sind die Voraussetzungen für die Entwicklung von Familiendienstleistungen.

2.6

Der EWSA hat bereits konkrete Empfehlungen zur Entwicklung der personenbezogenen Dienstleistungsbranche (1), zur Professionalisierung der Hausarbeit (2), zur Bekämpfung von Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit (3) und zu den Auswirkungen von Sozialinvestitionen (4) abgegeben, die in dieser Stellungnahme nur am Rande erwähnt werden.

2.7

Zu den Zielen der Strategie Europa 2020 gehört, dass 75 % der (männlichen und weiblichen) Bevölkerung im Alter von 20 bis 65 Jahren in Arbeit stehen. Einem Anstieg der Erwerbsquote von Frauen steht u. a. jedoch die Frage der familiären Pflichten entgegen. Das Ziel der beruflichen Gleichstellung wird dadurch behindert, dass sich die Männer zu wenig an diesen familiären Pflichten beteiligen. Die Umsetzung der Strategie wird durch die Sparmaßnahmen erschwert, die zu Kürzungen der öffentlichen Ausgaben für Pflege- und Betreuungsdienste führen, in denen weitgehend Frauen beschäftigt sind, was zu einer Zunahme der Pflege- und Betreuungsaufgaben innerhalb der Familie führt. Durch diese verringerte Bereitstellung von Pflege- und Betreuungsinfrastrukturen in vielen Mitgliedstaaten und die ungleiche Aufteilung unbezahlter haushaltsbezogener und häuslicher Aufgaben zwischen Frauen und Männern wird das Ziel der beruflichen Gleichstellung behindert.

2.8

Die berufliche Ungleichheit zwischen Frauen und Männern lässt sich am Lohngefälle und am überwiegenden Frauenanteil in einigen Erwerbszweigen bzw. am überwiegenden Männeranteil in anderen ablesen (mangelnde Geschlechterdurchmischung in der Arbeitswelt). Ein Ausbau der Familiendienstleistungen würde zur Erhöhung der Vollzeitbeschäftigungsquote von Frauen sowie zur Förderung des Zugangs zur beruflichen Bildung und zu einer besseren Laufbahnentwicklung beitragen, und zwar sowohl bei denjenigen, die diese Dienstleistungen erbringen, als auch bei denjenigen, die sie empfangen.

2.9

Die Schaffung familienbezogener Beschäftigungsmöglichkeiten im Haushalt, bei denen die Qualifikationen und Kompetenzen durch höhere Löhne und Gehälter sowie weniger prekäre Arbeitsbedingungen anerkannt werden, würde diese Arbeitsplätze auch für Männer attraktiver machen. Handlungsbedarf besteht auch bei der Erziehung der Kinder, damit sie diese Aufgaben nicht als typische Frauenarbeit wahrnehmen.

2.10

Die Entwicklung dieser Dienstleistungen kann zur Schaffung von Millionen von Arbeitsplätzen beitragen. Wenn jede Familie pro Woche eine Stunde Hausarbeit auslagern würde, könnten fast 5,5 Mio. neue Arbeitsplätze entstehen (5). Auch hier gibt es noch Raum für soziale und technologische Innovationen, zumal mit der Alterung der Bevölkerung und dem Abbau der Sozialleistungen für Familien die Bedürfnisse steigen. In dieser Hinsicht ist es von zentraler Bedeutung, den Schwerpunkt auf die Wahlfreiheit der Haushalte zu legen, um geeignete Wege zu finden, auf diese sich wandelnden Bedürfnisse von Familien einzugehen.

3.   Entwicklung der haushaltsnahen und familienunterstützenden Dienste zur Förderung der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben

3.1

Jede Familie muss ihren Haushalt führen, sich um die Wäsche kümmern, Mahlzeiten zubereiten, Kinder betreuen oder alte bzw. kranke Angehörige unterstützen. Häufig müssen die Frauen mit einer Teilzeitbeschäftigung vorlieb nehmen, um sich um diese Aufgaben zu kümmern, anstatt ihrem erlernten Beruf nachzugehen oder eine Ausbildung zu machen.

3.2

Dienste können jedoch nicht spontan in Anspruch genommen werden, da Scheu besteht, Fremde in die Privatwohnung zu lassen, und vor allem weil die Kosten zu hoch sind.

3.3

Die Familiendienstleistungen werden heute noch oft von Frauen erbracht, die schlecht bezahlt und häufig nicht angemeldet werden und sich in ungesicherten Arbeitsverhältnissen befinden, darunter auch Migrantinnen, die zum Teil schwarz arbeiten. Die Konzentration von Frauen in Reinigungs-, Pflege- und Erziehungsberufen trägt dazu bei, dass verkrustete Geschlechterstereotypen weiter verhärtet werden und zur Ausgrenzung von Männern führen können, dass Frauen und Männer ungleich behandelt werden, dass die Bemühungen zur Beseitigung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles ins Leere laufen und dass die Frauenarbeit als eine Beschäftigung zweiter Klasse wahrgenommen wird.

3.4

Hausangestellte gehen ihrer Tätigkeit im Haus (in Privathaushalten) nach. „Hausangestellte“ ist der von der ILO verwendete Begriff, der in einigen Mitgliedstaaten jedoch eine negative Konnotation hat. Da es für diese Arbeit (6) vielerlei Bezeichnungen wie u. a. familienunterstützende Dienstleistungen, personenbezogene Dienstleistungen, Haushaltshilfe, Pflegekraft, Tagesmutter, Familienhilfskraft, Raumpflegerin gibt, wird die statistische Erfassung erschwert.

3.5

Nach Schätzungen der ILO werden in der Europäischen Union 5 Millionen Hausangestellte beschäftigt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese Zahl in Wirklichkeit weitaus höher ausfällt, denn allein in Frankreich, wo es mithilfe steuerlicher Beihilfen gelungen ist, diese Arbeitsplätze aus der Schwarzarbeit herauszuholen und somit zu erfassen, werden heute 2 Millionen Hausangestellte gezählt. Für diese Arbeiten werden die Hausangestellten hauptsächlich direkt von der Familie oder dem Begünstigten entlohnt (60-70 % des Sektors), ohne Zwischenschaltung eines Mittlers.

4.   Hindernisse bei der Entwicklung dieser Dienste

4.1   Gesellschaftlich gering bewertete Beschäftigung

4.1.1

Bei der Arbeit, um die es hier geht, vor allem im Bereich der Instandhaltung von Wohnungen, wird häufig noch immer davon ausgegangen, dass man für ihre Ausübung keine besonderen Kenntnisse und Kompetenzen benötigt. Auch wird sie im Allgemeinen als Übergangsbeschäftigung betrachtet (bspw. Au-pair-Beschäftigung) und nicht als Berufsentscheidung.

4.1.2

In den meisten Fällen verlangen die Familien weder Abschlüsse noch Bescheinigungen und vertrauen das, was für sie am wertvollsten ist (Kinder, betagte Angehörige, Haustürschlüssel), Personen an, für deren Zuverlässigkeit sie keinen Nachweis haben. Sich in einen fremden Haushalt einfügen, sich an die Bedürfnisse der Familien anpassen — all dies erfordert eine Reihe von unterschätzten und nicht konkret festgelegten psychologischen und fachlichen Kompetenzen.

4.1.3

Da diese Aufgaben in der Gesellschaft schlecht angesehen sind, sind es häufig Migrantinnen, die ihre eigenen Kinder und betagten Angehörigen in ihren Heimatländern zurücklassen, um sich in den reichen Ländern um die Kinder und Angehörigen anderer zu kümmern — während die EU von Arbeitslosigkeit geplagt wird. Diese Arbeitnehmer haben häufig ein schwaches Selbstwertgefühl: Sie haben sich diese Beschäftigung, für die sie kaum Anerkennung bekommen, nicht aus freien Stücken ausgesucht. Heutzutage sind die Migrantinnen häufig überqualifiziert, werden aber in einen der wenigen Tätigkeitsbereiche gedrängt, in dem sie überhaupt Arbeit finden können und in dem ihre Rechte als Arbeitnehmer sehr häufig nicht gewährleistet bzw. nicht geachtet werden. Diese Verschwendung von Fähigkeiten und Qualifikationen ist äußerst besorgniserregend, nicht nur für die Migrantinnen selbst, sondern auch für die Gesellschaft, in der sie arbeiten.

4.2   Eine schlecht bezahlte, prekäre, schlecht geschützte Arbeit

4.2.1

In diesem Sektor werden unqualifizierte wie auch überqualifizierte Arbeitskräfte von Privatpersonen beschäftigt, die nicht viel bezahlen können, wenn die Mitgliedstaaten keine steuerlichen Beihilfen für diese Branche vorsehen.

4.2.2

Die Arbeit von Personen, die für Familien tätig sind, kann aufgrund von Veränderungen der familiären Umstände unsicher sein. Vor allem wenn sich der Bedarf einer jeden Familie auf lediglich einige Stunden pro Woche beschränkt, sind Haushaltshilfen auf mehrere Arbeitgeber angewiesen, um sich ihren Lebensunterhalt zu sichern, und sind stets auf der Suche nach neuen Arbeitgebern, um jene zu ersetzen, die ihre Dienstleistungen nicht mehr brauchen.

4.2.3

Bis vor kurzem war die Arbeit in Privathaushalten von den internationalen Arbeitsübereinkommen der ILO nicht erfasst. Einen Wandel brachte hier das 2012 angenommene Übereinkommen 189, das jedoch bislang von nur zwei europäischen Ländern ratifiziert worden ist (7).

4.2.4

Da sie auf Privathaushalte verstreut sind, können sich Hausangestellte kaum gewerkschaftlich organisieren. Meistens sind sie auch gar nicht daran interessiert. Ihre Forderungen und Interessen würden jedoch besser anerkannt, wenn sie von starken Gewerkschaften unterstützt und verteidigt würden. Sie können ihre Rechte kaum einfordern, da sie gegenüber den Familien, für die sie arbeiten, auf sich allein gestellt sind. Die Situation ist noch schwieriger, wenn sie Opfer von Menschenhandel sind, die der Landessprache kaum mächtig sind und keinen Zugang zu gültigen Aufenthaltspapieren haben.

4.2.5

Indes gibt es immer mehr Beispiele für Pläne zur Strukturierung dieses Sektors innerhalb der Mitgliedstaaten, die mit unterschiedlichem Tempo und unterschiedlicher Reichweite voranschreiten. Sie ermöglichen die Förderung und Entwicklung eines gesonderten Wirtschaftszweigs mitsamt der Aushandlung von Tarifverträgen, die an Familiendienstleistungen angepasst sind. Wenn Tarifverträge ausgehandelt oder neuverhandelt werden, muss der Komplexität der Qualifikationen und der zwischenmenschlichen Beziehungen Rechnung getragen werden.

4.2.6

Bei Maßnahmen zur weiteren Professionalisierung des personenbezogenen Dienstleistungsbereichs müssen die unterschiedlichen Arten von Arbeitgebern (Vermittler oder Einzelpersonen) in dieser Branche berücksichtigt werden, um Unklarheiten bezüglich ihres Status oder ihrer Verantwortlichkeiten zu vermeiden.

4.2.7

Gerichte sind bereits mit Fällen von moderner Sklaverei befasst worden, denn im Bereich der Hausarbeit gibt es Frauenhandel, wodurch Migrantinnen der Gefahr der sexuellen Ausbeutung und der Ausbeutung der Arbeitskraft ausgesetzt sind. Das schlechte Image der Branche wird so weiter verstärkt.

5.   Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze und hochwertiger Dienstleistungen

5.1   Maßnahmen im Bereich der Kosten: Bekämpfung der Schwarzarbeit, Einführung vielfältiger Finanzierungsmechanismen

5.1.1

Um aus der jetzigen Situation (viele illegale Beschäftigungsverhältnisse mit mehreren Arbeitgebern) einen Ausweg zu finden und echte Arbeitsplätze zu schaffen, in deren Rahmen die entsprechenden Kompetenzen in Anlehnung an andere Berufe bewertet werden, sind eine bessere Anerkennung und höhere Wertschätzung dieser Dienste sowie unter anderem angemessene Löhne und Gehälter erforderlich. Dabei sollten diese Dienstleistungen für alle zugänglich bleiben. Diese beiden Voraussetzungen lassen sich nur mithilfe von sich summierenden Finanzierungsmechanismen erfüllen: steuerliche Beihilfen, bezuschusste Schecks (wie dies beispielsweise bereits bei Restaurantschecks der Fall ist), Leistungen der sozialen Sicherheit und Beiträge der Dienstleistungsnutzer. In Schweden haben sich beispielsweise steuerliche Beihilfen für Privatpersonen im Bereich der Wohnungsrenovierung als zweckmäßig erwiesen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen in der Baubranche beigetragen. Seit in Frankreich steuerliche Beihilfen eingeführt wurden, konnte die Beschäftigung im Haushalt aus der Schattenwirtschaft geholt werden. Darüber hinaus wurden Dienstleistungsschecks eingeführt, um die Verwaltungsverfahren zu erleichtern. Das Internet machte die Verwendung von Papierformularen überflüssig, was dieses Instrument weiter optimierte.

5.1.2

Eine Professionalisierung dieser Tätigkeiten und die Bereitstellung hochwertiger Dienstleistungen sind nur möglich, wenn öffentliche Finanzmittel (steuerliche Beihilfen), soziale Finanzmittel (Familienzulagen, Betriebsbeihilfen, Krankenkassen und -versicherungen, Betriebsräte usw.) und private Finanzmittel (Bezahlung der Dienstleistung durch die Privatperson) gemeinsam zum Einsatz kommen. Im Rahmen von Programmen zur Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen sowie von Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben können sich Unternehmen an der Finanzierung der von ihren Beschäftigten in Anspruch genommenen Familiendienstleistungen beteiligen. In manchen Unternehmen ist dies bereits der Fall. Diese bewährten Verfahrensweisen sollten von der Europäischen Kommission erfasst und verbreitet werden, um die Schaffung eines Systems von „Dienstleistungsschecks“ zu fördern, das in sämtlichen Mitgliedstaaten eingeführt werden könnte.

5.2

Maßnahmen gegen prekäre Beschäftigung: Schaffung von neuen Unternehmen, Entwicklung des sozialen Dialogs in dieser Branche im Einklang mit den Besonderheiten und kulturellen Gepflogenheiten der einzelnen Mitgliedstaaten.

5.2.1

Angesichts der zunehmenden Bedürfnisse von Familien in ihrem Haushalt müssen die Wahlfreiheit der Haushalte zwischen den verschiedenen, in den Mitgliedstaaten bestehenden Dienstleistungen wie auch die Komplementarität dieser Dienstleistungen gefestigt und stabilisiert werden, um so ein neues Modell zu schaffen, das die soziale Innovation in Europa zu fördern vermag.

Prekäre Beschäftigung in dieser Branche kann nur bekämpft werden, wenn der Schwerpunkt auf zwei zentrale Fragen gelegt wird: erstens die Professionalisierung der Tätigkeiten, um die Qualität der erbrachten Dienstleistungen zu verbessern und die berufliche Entwicklung der Hausangestellten zu sichern (siehe Ziffer 5.3); und zweitens die formelle Anerkennung des sozialen Dialogs in dieser Branche, da dies eine ausgesprochen wichtige Voraussetzung ist, um — unabhängig von der Form dieser Dienstleistungen — Wohlergehen und menschenwürdige Arbeitsbedingungen sowohl für die Hausangestellten als auch für die Familien zu gewährleisten. In diesem Sinne ist es entscheidend, den Familien die Inanspruchnahme der Leistungen einer professionellen Branche mit angemeldeten Arbeitskräften (siehe Ziffer 5.1) zu ermöglichen, indem man ihnen Wahlfreiheit hinsichtlich der Form der Dienstleistungserbringung bietet.

Darüber hinaus sind Dienstleistungen zur Unterstützung von Familien bei der Betreuung von Kindern, älteren Menschen und schwerbehinderten Familienangehörigen oder zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben nicht mit anderen Dienstleistungen zu vergleichen: Sie betreffen unmittelbar die Intim- und Privatsphäre der Haushalte und können daher nicht fremden Menschen anvertraut werden. Aus diesem Grund ist es dringend notwendig, den sozialen Dialog in dieser Branche im Einklang mit den Werten der Europäischen Union und den kulturellen Besonderheiten der einzelnen Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

5.2.2

Darüber hinaus erfordert der Ausbau der Branche zudem die Entwicklung von Unternehmen (Genossenschaften, Vereinigungen oder Gesellschaften), die als Mittler zwischen jenen agieren, die eine Dienstleistung benötigen, und jenen, die für die Erbringung dieser Dienstleistung qualifiziert sind. Zu den Aufgaben des Unternehmens gehört es, Kunden zu gewinnen und den Beschäftigten Arbeitsplanvorschläge zu unterbreiten. Auf diese Weise hat der Beschäftigte einen einzigen Arbeitsvertrag, was die Gewährleistung seines Sozialschutzes erleichtert und die Finanzierung der Wegstrecke zwischen verschiedenen Haushalten, die Inanspruchnahme von Urlaub und die Teilnahme an beruflichen Bildungsmaßnahmen ermöglicht. Der Vermittler geht auch Verpflichtungen gegenüber dem Kunden ein: Er gewährleistet kompetente, rechtschaffene, diskrete und ausgebildete Beschäftigte und trägt dafür Sorge, dass die Dienstleistung auch dann erbracht wird, wenn die für gewöhnlich ins Haus kommende Person aufgrund von Krankheit oder Urlaub ausfällt. Der Kunde vertraut seinen Haushalt oder seine Familie nicht mehr einer Person, sondern einem Unternehmen an.

5.2.3

Die Schaffung von Unternehmen trägt dazu bei, dass diese Beschäftigten den Status eines normalen Arbeitnehmers erlangen. Solche Arten von Unternehmen gibt es bereits. Die Europäische Kommission sollte die verschiedenen Modelle erfassen und verbreiten und sie unter den Gesichtspunkten der erbrachten Dienstleistungen und der sozialen Bedingungen der Beschäftigten analysieren.

5.2.4

Wenn die Kunden hingegen selbst die Rolle des Arbeitgebers wahrnehmen wollen — was bedeutet, dass sie selbst entscheiden, wen sie in ihr Haus lassen — ist darüber hinaus dafür Sorge zu tragen, dass diese Familien entsprechend informiert werden, damit sie der mit der Rolle des Arbeitgebers verbundenen Verantwortung gerecht werden und die Vorschriften einhalten. Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass diese Vorschriften angemessen sind und von einer Durchschnittsfamilie problemlos eingehalten werden können.

5.3   Reformen

5.3.1

In Schweden wurde 2007 eine Steuerbegünstigung privater Ausgaben für haushaltsnahe Dienstleistungen eingeführt. Diese Steuergutschrift — ein Nachlass von fast 50 % — hat die haushaltsnahen Dienstleistungen wesentlich erschwinglicher gemacht. Die Kunden bezahlen die Hälfte der Dienstleistungskosten, die Steuerbehörde überweist dem Unternehmen die andere Hälfte.

5.3.2

Zuvor war der Zugang zu angemeldeten haushaltsnahen Dienstleistungen schwierig. Sieben Jahre nach Einführung der Steuerbegünstigung steht fest, dass sie zur Entstehung neuer Unternehmen und Arbeitsplätze — vor allem für Personen außerhalb des formellen Arbeitsmarkts — geführt hat.

5.3.3

Die Steuermaßnahme hat diesen bisher großenteils von Schwarzarbeit geprägten Dienstleistungssektor günstig beeinflusst. Die Steuerbegünstigung ist nicht nur dem Sektor und den Kunden, sondern der Gesellschaft insgesamt zugutegekommen.

5.3.4

2013 wurden in dem Sektor über eine halbe Milliarde Euro umgesetzt und mehr als 16  000 Personen beschäftigt. In den letzten Jahren war eine stetige Aufwärtstendenz zu verzeichnen. Zwischen 2012 und 2013 stieg die Beschäftigungsquote bei den haushaltsnahen Dienstleistungen um 16 %.

5.3.5

Die meisten Unternehmen werden von Frauen — häufig Migrantinnen — gegründet. Über ein Drittel der Kunden haushaltsnaher Dienstleistungen ist älter als 65 (zwei Drittel davon sind Frauen). 62 % der Kunden insgesamt sind Frauen aus allen Einkommensgruppen, wobei die Mittelklasse überwiegt. Am meisten werden die Dienstleistungen von Familien genutzt. Zwei von drei Mitarbeitern im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen waren vorher arbeitslos oder illegal tätig. Ca. 80 % der Beschäftigten sind Frauen, ca. 40 % sind nicht in Schweden geboren.

5.3.6

Die größte Arbeitgeberorganisation des Dienstleistungssektors hat mit den Gewerkschaften Tarifverträge für die Unternehmen abgeschlossen, die haushaltsnahe Dienstleistungen erbringen. In diesen Tarifverträgen sind Vergütungen, Arbeitszeit, bezahlter Urlaub, Aus- und Weiterbildung, Sozialschutz usw. geregelt.

5.3.7

Die Reform hat die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Senkung der Arbeitslosenzahlen, den Rückgang von Krankheitstagen und außerdem eine Erhöhung der Steuereinnahmen bewirkt, so dass sich das System praktisch selbst finanziert.

5.4   Maßnahmen zur Förderung der Professionalisierung

5.4.1

Neben fachlichen Kompetenzen (Hygienevorschriften, Funktionsweise von Maschinen, Verwendung von Produkten, Waschen von Kindern, Hilfestellung bei der Toilette von Erwachsenen usw.) sind auch zwischenmenschliche Kompetenzen gefragt: Aufbau von Vertrauen, Diskretion, Selbstständigkeit, Fähigkeit zur Anpassung an die einzelnen Kunden. Über Einstufungstabellen sollten die Kompetenzen hierarchisiert werden, je nachdem, ob es sich um reine Hausarbeit oder um Arbeit in einem Haushalt mit Kindern oder mit älteren Menschen handelt, ob der Dienstleistungsempfänger an- oder abwesend ist, ob er (körperlich oder geistig) selbstständig oder auf andere angewiesen ist.

5.4.2

Paradoxerweise genießen diese Tätigkeiten bei einigen eine geringe Wertschätzung. Dabei sind sie weitaus befriedigender als viele andere. Eine Wohnung sauber zu machen, Personen zu helfen oder eine besondere Beziehung zu Kindern aufzubauen, verschafft viel Befriedigung. Die öffentlichen Stellen könnten zum einen in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden die Professionalisierung dieser Dienste, die Ausbildung der betroffenen Personen und die Bescheinigung erworbener Kenntnisse fördern und zum anderen die Schaffung von Strukturen für die Zusammenfassung und Organisation der Familiendienstleistungen vorantreiben.

5.4.3

Um das Image dieser Tätigkeiten zu ändern, müssen diese erfasst und in Bezug auf technische und zwischenmenschliche Kompetenzen bewertet sowie mit gleichwertigen Tätigkeiten in anderen Branchen verglichen werden. Durch die Anerkennung der erworbenen Erfahrungen ist für Abschlüsse, Befähigungsnachweise und Bildungsmaßnahmen Sorge zu tragen. Einiges gibt es in diesem Zusammenhang bereits.

5.4.4

Es wäre auch sinnvoll, berufliche Aufstiegsmöglichkeiten in Form eines Wechsels in andere Aufgaben- oder Tätigkeitsbereiche in diesem oder anderen Sektoren vorzusehen. Dies gilt insbesondere für überqualifizierte Migrantinnen, die in den Bereich der Familiendienstleistungen gedrängt werden, um so eine Verschwendung von Fähigkeiten und Qualifikationen zu vermeiden.

5.4.5

Es sollten Maßnahmen zur Unterbindung von Menschenhandel im Zusammenhang mit Familiendienstleistungen getroffen werden, da dies ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte ist.

5.4.6

Die Arbeitnehmergewerkschaften haben der gewerkschaftlichen Organisation von Hausangestellten — die „unsichtbar“ und verstreut in Privathaushalten arbeiten, zu denen die Gewerkschaften keinen Zugang haben, was die Organisation zugegebenermaßen komplex macht — oftmals nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt. Der gewerkschaftliche Zusammenschluss von Hausangestellten könnte bei der Professionalisierung der Familiendienstleistungen Fortschritte ermöglichen. Diese Professionalisierung ist eine der Voraussetzungen für die Geschlechtergleichstellung im Erwerbsleben.

Brüssel, den 16. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 44 vom 15.02.2013, S. 16.

(2)  ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 39.

(3)  ABl. C 177 vom 11.6.2014, S. 9.

(4)  ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21.

(5)  Europäische Kommission, Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen über die Nutzung des Potenzials von personenbezogenen Dienstleistungen und Dienstleistungen im Haushalt (SWD(2012) 95 vom 18.4.2012, S. 15).

(6)  Die Hausangestellten wohnten bei ihren Arbeitgebern. Dies ist auch heute noch in bestimmten gut gestellten Familien oder in Botschaften der Fall, doch in der Regel arbeiten die Hausangestellten bei jedem Arbeitgeber bzw. Kunden lediglich ein paar Stunden pro Woche.

(7)  Italien hat das Übereinkommen 189 im Januar 2013 ratifiziert, Deutschland im September 2013. Der Europäische Rat hat im Januar 2014 die Mitgliedstaaten ermächtigt, das Übereinkommen zu ratifizieren.


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/23


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Auswirkungen von Unternehmensdienstleistungen in der Industrie“

(Initiativstellungnahme)

(2015/C 012/04)

Berichterstatter:

Joost VAN IERSEL

Ko-Berichterstatter:

Hannes LEO

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 22. Januar 2014 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Auswirkungen von Unternehmensdienstleistungen in der Industrie

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) nahm ihre Stellungnahme am 16. September 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 16. Oktober) mit 100 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Angesichts der engen Wechselwirkung zwischen Dienstleistungen und produzierendem Gewerbe und der Auswirkungen auf nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung in Europa fordert der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Kommission nachdrücklich auf, Unternehmensdienstleistungen in ihrer kommenden Amtszeit auf die Prioritätenliste zu setzen. Dies ist umso vordringlicher, als ein neues Produktionsmodell, zuweilen als „vierte industrielle Revolution“ bezeichnet, auf den Plan tritt.

1.2

Konkrete EU-Initiativen sind in allen Bereichen gefordert, die mit der digitalen Revolution und dem daraus resultierenden Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft zusammenhängen. Die Schaffung eines Bewusstseins bei den öffentlichen Stellen und in der Gesellschaft ist eine primäre Voraussetzung.

1.3

Unternehmensdienstleistungen sollten Teil einer aktiven Industriepolitik sein und bei der Halbzeitüberprüfung der Europa-2020-Strategie im Jahr 2015 berücksichtigt werden. Der EWSA stellt fest, dass ihre Bedeutung sowohl von der Kommission als auch vom Rat bisher unterschätzt wurde.

1.4

Obschon die Hälfte der Generaldirektionen der Kommission in irgendeiner Weise mit Dienstleistungen zu tun hat, gibt es keinen systematischen, geschweige denn strategischen Ansatz. Auf diesem Gebiet gibt es weder eine klare Politik noch einen sichtbaren Wortführer. Sehr enttäuschend und kurzsichtig war auch die Kürzung der Haushaltsmittel für die Fazilität Connecting Europe im mehrjährigen Finanzrahmen von 9 Mrd. EUR, dem von der Kommission vorgeschlagenen Betrag, auf 1,2 Mrd. EUR.

1.5

Die EU muss nun entscheiden, ob sie eine Führungsrolle übernehmen — und somit zu neuem nachhaltigem Wachstum und neuen Arbeitsplätzen beitragen — oder ihren Platz anderen überlassen will.

1.6

Daher begrüßt der EWSA ausdrücklich die im vergangenen Jahr lancierte Initiative der Kommission, in einer Hochrangigen Gruppe (1) eine Grundsatzdebatte über Unternehmensdienstleistungen anzustoßen. Der EWSA drängt darauf, dass im Anschluss daran zeitnah folgende Maßnahmen ergriffen werden müssen:

eine tiefgreifende Analyse,

eine wirksame Abstimmung zwischen den zuständigen Kommissionsdienststellen, und

die Aufstellung einer europäischen Agenda (siehe Ziffer 1.15).

1.7

Schnell expandierende Unternehmensdienstleistungen beherrschen bereits das produzierende Gewerbe. Ein breites und immer größer werdendes Spektrum von Unternehmen — sowohl im produzierenden Gewerbe als auch im Dienstleistungssektor — sind heute an der Konzipierung und Erbringung neuer Generationen von Unternehmensdienstleistungen beteiligt. Durch die neuen Technologien werden die Dienstleistungen noch interessanter für das produzierende Gewerbe.

1.8

Zudem werden das Internet der Dinge und das Internet der Dienstleistungen in Europa derzeit als vierte industrielle Revolution bezeichnet, der Beginn einer neuen Ära nach dem Zeitalter der Automatisierung.

1.9

Das in Echtzeit erfolgende vertikale und horizontale Zusammenwirken von Maschine und Internet, Maschine und Mensch sowie Maschine und Maschine entlang der Wertschöpfungskette bedeutet einen Quantensprung. Automatisierungsinseln werden in unzähligen Netzwerken und Variationen miteinander verbunden. Durch Software und Netze werden intelligente Produkte, digitale Dienstleistungen und Kunden mit den neuen innovativen „Produkten“ der Zukunft verbunden.

1.10

Diese Entwicklung wird intensiv diskutiert. Ein neuartiger wirtschaftlicher und politischer Ansatz ist das deutsche Projekt „Industrie 4.0“, bei dem sowohl die Unternehmensdienstleistungen als auch das wirtschaftliche Gesamtumfeld, das in einem grundlegenden Wandel begriffen ist, gebührend berücksichtigt werden. Zusammen mit ähnlichen Initiativen sollte es ein Baustein für die Agenda der Industrie und eines breiten Spektrums öffentlicher und privater Akteure sein. Auf den digitalen Märkten hatten Vorreiter in der Vergangenheit große Wettbewerbsvorteile.

1.11

Weltweit vergleichbare strategische Initiativen sind in den USA, China und Korea vorgesehen. Das Pentagon plant ein Investitionsprogramm. Datengiganten wie Google, Amazon, Apple und Yahoo haben natürliche Marktvorteile.

1.12

Der Faktor Mensch ist ausschlaggebend. Neue Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle schaffen neue Bündnisse und Wechselbeziehungen zwischen Unternehmen, was enorme Auswirkungen auf die Arbeitsorganisation hat. Darüber hinaus sind erhebliche Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt zu erwarten. Aufgrund der raschen Weiterentwicklung der digitalen Technologie entstehen in der Industrie und insbesondere im Bereich der Unternehmensdienstleistungen ständig neue Formen der Arbeitsorganisation, der Beschäftigung und der Weiterqualifizierung. Dieser Wandlungsprozess muss genau beobachtet werden. Maßgeschneiderte Maßnahmen, gestützt auf fundierte Forschung, müssen darauf ausgerichtet sein, günstige Bedingungen zu fördern und negative Folgen abzufedern.

1.13

In vielen Bereichen der Unternehmensdienstleistungen fehlt es derzeit an einer Kultur des sozialen Dialogs, wodurch die Qualität der Beschäftigung in diesen Branchen untergraben werden könnte. Auch mit Blick auf innovative Aus- und Weiterbildungseinrichtungen bedarf es eines stabilen Rahmens für sozialen Dialog und aktive Teilhabe auf Ebene der Unternehmen, Branchen, Mitgliedstaaten und der EU. Dabei müssen die häufig erheblichen Umstrukturierungen in der sich rasch weiterentwickelnden Branche der Unternehmensdienstleistungen berücksichtigt werden.

1.14

Die grenzüberschreitende und EU-weite Anerkennung von Qualifikationen und Kompetenzen wird eine vermehrte Mobilität der Arbeitskräfte zur Folge haben und die Erweiterung der Kenntnisse fördern. Auch werden dadurch die europäischen Chancen der sehr zahlreichen Klein- und Kleinstunternehmen auf diesem Gebiet ausgeweitet und gestärkt.

1.15

Der EWSA stimmt den Empfehlungen der Hochrangigen Gruppe der EU und der fünf Arbeitsgruppen aus dem Jahr 2013 weitgehend zu. Angesichts der enormen Bedeutung der Unternehmensdienstleistungen für das Erreichen des Ziels, dass das produzierende Gewerbe bis 2020 einen Anteil von 20 % am BIP stellen soll, sowie mit Blick auf die vor uns liegende vierte industrielle Revolution sind eine europäische Agenda oder ein europäischer Fahrplan für Unternehmensdienstleistungen erforderlich. Nach Ansicht des EWSA sollten dabei folgende Themen berücksichtigt werden:

A.

Wissensförderung und Politikunterstützung:

Sensibilisierung und Förderung der Debatte

Definition und Einteilung von Unternehmensdienstleistungen

Bereitstellung relevanter und zuverlässiger Statistiken über Unternehmensdienstleistungen und ihre Entwicklung

B.

Politikbereiche:

verstärkte Integration, Bekämpfung der Fragmentierung des Binnenmarkts und Beseitigung von Hindernissen für den Handel innerhalb der EU

Unterstützung eines Regelungsrahmens und europäischer Standardisierungsplattformen

Konsolidierung des Binnenmarkts im Telekommunikationsbereich

Förderung der für einen sicheren digitalen Markt für Kommunikation, Zusammenarbeit und den Austausch digitaler Waren und Dienstleistungen erforderlichen Infrastrukturinvestitionen

Schutz von Daten und geistigen Eigentumsrechten

Abbau rechtlicher und ordnungspolitischer Hindernisse für den internationalen Handel mit Unternehmensdienstleistungen

C.

Besondere Themen:

Auswirkungen großer Datenmengen („Big Data“) — erhebliche Zunahme der Datenmenge, -vielfalt und -geschwindigkeit — aufgrund intensiverer Vernetzung und Datenerstellung

sehr wichtige Verbindung zwischen Forschung, Industrie, Dienstleistungen und Beschäftigung

öffentliches Beschaffungswesen

Umweltleistung und Nachhaltigkeit

soziale Auswirkungen von Unternehmensdienstleistungen auf die Gesellschaft allgemein und auf den Arbeitsmarkt

D.

Finanzen:

Finanzressourcen

2.   Einleitung

2.1

In entwickelten Volkswirtschaften entfallen mehr als 70 % der Produktion und der Beschäftigung auf den Dienstleistungssektor. Der Anteil der Dienstleistungen und ihr Differenzierungsgrad nehmen überall auf der Welt zu.

2.2

Unternehmensdienstleistungen sind ein wichtiger Wachstumsfaktor. Nach Angaben der Europäischen Kommission lag ihre durchschnittliche Wachstumsrate zwischen 1999 und 2009 bei 2,38 %, wohingegen der Durchschnitt für alle Zweige der EU-Wirtschaft 1,1 % betrug. Im gleichen Zeitraum lag das Beschäftigungswachstum in diesem Wirtschaftszweig bei 3,54 %, während in allen weiteren Bereichen der EU-Wirtschaft nur ein Zuwachs von 0,77 % zu verzeichnen war.

2.3

Die Ausweitung der Dienstleistungswirtschaft (bzw. „Tertiärisierung“) in der gesamtwirtschaftlichen Tätigkeit der EU überflügelt die Entwicklung im produzierenden Gewerbe. Auf diese Phase folgt eine „Quartärisierung“, d. h. eine Zunahme informations- und wissensbasierter Dienstleistungen.

2.4

„Dienstleistungen“ ist ein Oberbegriff. Er umfasst ein sehr breites Spektrum wirtschaftlicher und sozialer Tätigkeiten vom unteren bis zum oberen Ende des Arbeitsmarkts. Im hoch- und geringqualifizierten Beschäftigungsbereich ist ein Beschäftigungswachstum zu verzeichnen. Dagegen gehen Dienstleistungsarbeitsplätze im mittleren Qualifikationsniveau verloren, wodurch die Mittelschicht unter Druck gerät.

2.5

In der Wechselwirkung zwischen Dienstleistungen und Industrie sind im Wesentlichen folgende Arten relevanter Dienstleistungen zu unterscheiden:

extern erbrachte Dienstleistungen, die von der Industrie genutzt werden, d. h. Dienstleistungen aus dem Unternehmensdienstleistungssektor. Dazu gehört die ganze Bandbreite operativer Dienstleistungen (z. B. industrielle Reinigung), freiberuflicher Dienstleistungen (z. B. Ingenieure) und sonstiger Dienstleistungen einschließlich wissensintensiver Dienstleistungen (WID) (z. B. Computerdienstleistungen).

intern erbrachte Dienstleistungen, die von der Industrie genutzt werden, d. h. Dienstleistungsfunktionen, die „intern“ innerhalb der Industrie erbracht werden;

unterstützende Dienstleistungen, die von der Industrie im Zusammenhang mit ihren Produkten erbracht werden (z. B. Kundendienst);

eingebettete Dienstleistungen, die von der Industrie erbracht werden, d. h. Dienstleistungsfunktionen, die in von der Industrie bereitgestellte Produkte eingebettet sind (z. B. Software).

2.6

Seit den 1970er Jahren ist eine erhebliche Zunahme der Unternehmensdienstleistungen zu beobachten. Mit einem Umsatz von 2  000 Mrd. Euro bieten sie gegenwärtig Arbeitsplätze für 24 Mio. Menschen. Millionen von Unternehmen, vorwiegend Klein- und Kleinstunternehmen, sind involviert — ganz zu schweigen von den internen dienstleistungsbasierten Sparten größerer Unternehmen. Unternehmensdienstleistungen machen 11,7 % der EU-Wirtschaft aus.

2.7

Es ergibt sich ein äußerst uneinheitliches Bild ohne gemeinsamen Nenner. Die immensen Auswirkungen betreffen alle gesellschaftlichen Schichten und Beziehungen. Sie sind Impulsgeber für den Wandel und regen zur Überprüfung von Geschäftsmodellen an. Sie fördern eine kontinuierliche Umstrukturierung öffentlicher und privater Unternehmen sowie staatlicher Einrichtungen.

2.8

In den letzten Jahrzehnten waren Automatisierung und IKT starke Triebkräfte (2). Die Entwicklungen in einzelnen Dienstleistungsbranchen haben zudem häufig übergreifende Auswirkungen auf andere Wirtschaftszweige.

2.9

Traditionelle Trennlinien zwischen produzierendem Gewerbe und Dienstleistungen verschwimmen. Die Entwicklung des produzierenden Gewerbes kann nicht mehr getrennt von den Dienstleistungen betrachtet werden, wie dies in der Vergangenheit der Fall war. Vor diesem Hintergrund sollte die EU-Zielvorgabe, den Anteil des produzierenden Gewerbes am EU-BSP auf 20 % anzuheben, neu definiert werden. Dabei sollte der Mehrwert der Unternehmensdienstleistungen berücksichtigt werden. Es wäre angemessener, von einer produktionszentrierten Wertschöpfungskette zu sprechen (3).

2.10

Im globalen Kontext ist Europa — im Großen und Ganzen — gut aufgestellt, auch wenn es einige Bereiche gibt, in denen die europäische Industrie einen schweren Stand hat. Eine Produktivitätssteigerung und die dynamische Einführung neuer Technologien kann sich zudem positiv auf Betriebsverlagerungen auswirken. Auf der anderen Seite ist jedoch auch eine Sensibilität der Menschen gegenüber Erneuerungsprozessen und ein stiller Widerstand gegen Innovationen zu bemerken. Dieser Tendenz sollte besondere politische Beachtung geschenkt werden.

3.   Entwicklung von Unternehmensdienstleistungen und industrielle Verflechtung

3.1

Die Unternehmensdienstleistungen befinden sich in einer sehr dynamischen Phase. Aufgrund der vom Internet angetriebenen Revolution nimmt der Einfluss der Dienstleistungen auf einzelne Fertigungslinien sowie auf die Gesamtleistung der Unternehmen zu. Die Fertigungsstraßen sind nunmehr softwaregesteuert. Arbeitskräfte spielen im produzierenden Gewerbe eine immer geringere Rolle.

3.2

Das widerspricht der konventionellen Theorie und zeigt, dass produzierendes Gewerbe und Unternehmensdienstleistungen immer stärker miteinander verflochten sind. Mithin ist eine Trennung zwischen den beiden häufig theoretisch. Heute nutzen Unternehmen Produktionsmittel und liefern Produkte und Dienstleistungen, die sowohl Produktions- als auch Dienstleistungskomponenten beinhalten. Es bestehen Wechselwirkungen in beide Richtungen.

3.3

Dieselbe Schlussfolgerung kann auch aus Veränderungen in der Unternehmenslandschaft gezogen werden. Auch wenn Dienstleistungen hauptsächlich eine unterstützende Rolle spielen, sind sie ein wesentlicher Faktor für die Fragmentierung der Wertschöpfungskette. Dabei kommt es u. a. zur Aufsplitterung größerer Unternehmen, die sich von zuvor eher statischen Einheiten hin zu einer dynamischen, kombinierten Interaktion unter Beteiligung mehr oder weniger unabhängiger — oder zumindest abgrenzbarer — Teile innerhalb desselben Unternehmens oder auch außerhalb (Auslagerung) entwickeln. Diese Prozesse werden durch Dienstleistungen als flexible und anpassungsfähige Bindeglieder unterstützt.

3.4

Durch die Fragmentierung der Wertschöpfungskette werden scharfe Trennlinien zwischen den Sektoren zudem erheblich verwischt, da die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen. Es entsteht ein völlig neues Bild, z. B. tritt Google als Autohersteller auf und macht sich dabei zunutze, dass Software 35 % der Investitionen bei der Automobilherstellung ausmacht. Dieser Anteil kann bei Ingenieurleistungen und im komplexen Maschinenbau sogar auf 50 % steigen.

3.5

Obschon die Auswirkungen der Dienstleistungen auf Gesamtwirtschaft und Beschäftigung allgemein anerkannt werden, fehlt es erstaunlicherweise immer noch an eingehenden Untersuchungen auf der EU-Ebene. Dafür gibt u. a. es folgende Gründe:

Abgesehen von einigen großen Unternehmen besteht der Sektor insgesamt aus unzähligen Klein- und Kleinstunternehmen, die kaum bis gar nicht organisiert sind. Deshalb haben die Unternehmensdienstleistungen nur eine sehr schwache Stimme auf der EU-Ebene.

Außerdem ist es wegen des dynamischen und kontinuierlichen Erneuerungsprozesses sowie aufgrund von Neuerfindungen sehr schwierig, verlässliche Einstufungen vorzunehmen.

Die Tatsache, dass in der EU lange Zeit ausschließlich dem produzierenden Gewerbe Aufmerksamkeit geschenkt wurde, stand einer ehrlichen und sachlichen Betrachtung der massiven Auswirkungen unterstützender Dienstleistungen im Wege.

3.6

Mit traditionellen statistischen Indikatoren, die von einer klaren Trennlinie zwischen produzierendem Gewerbe und Dienstleistungen ausgehen, kann die komplexe Struktur der Wertschöpfungsketten daher nicht erfasst werden. Im Rahmen von Input-Output-Aufstellungen sollte u. a. aufgezeigt werden, welche Dienstleistungsbranchen in welchem Umfang das produzierende Gewerbe bedienen und umgekehrt. Dies setzt jedoch zunächst die Entwicklung neuer statistischer Indikatoren voraus.

3.7

Präzisere und ausführlichere Statistiken sollten eine bessere Grundlage für politische Debatten über aktuelle Vorgänge und mögliche Instrumente zur Produktivitätssteigerung bieten.

3.8

Zudem können Statistiken dazu beitragen, die Debatte u. a. auf die Beseitigung von Hemmnissen für den grenzüberschreitenden Handel und die Mobilität zu lenken, die sich aufgrund einzelstaatlicher Bestimmungen, der Übererfüllung gemeinschaftsrechtlicher Anforderungen (sog. Gold-Plating) und besonderer nationaler Sonderrechte ergeben, die den freien Berufen im Dienstleistungssektor eingeräumt werden (z. B. bezüglich der Qualifikationsanforderungen). Die Harmonisierung und grenzübergreifende Anerkennung beruflicher Qualifikationen dürfte die grenzüberschreitende Mobilität in den reglementierten Berufen erleichtern, was auch für Klein- und Kleinstunternehmen von besonderem Interesse ist.

3.9

Für die gesamte EU geltende Zahlen werden erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten aufzeigen. Ein starker Dienstleistungssektor bildet die Grundlage für eine starke Wirtschaft. Die Infrastruktur, vor allem im Breitbandbereich, ist von großer Bedeutung. Sie sollte angemessen geschützt werden — sowohl aus Datenschutzgründen, als auch zur Gewährleistung der Dienstleistungskontinuität. In einigen Mitgliedstaaten besteht immer noch beträchtlicher Nachholbedarf in diesem Bereich.

3.10

Die Fertigungsstraßen sind kompakter geworden als zuvor. Die Verflechtung europäischer und aufstrebender Märkte hat zur Herausbildung komplexer Wirtschafts- und Wissensnetze geführt, bei denen Dienstleistungen eine treibende Kraft sind. Betriebsverlagerungen werden an Wirksamkeit verlieren, da die Industrie von den am meisten spezialisierten, wissensintensivsten und hochwertigsten Dienstleistungen abhängig sein wird.

3.11

Europa hat nach wie vor komparative Vorteile bei der Bereitstellung solcher High-End-Dienstleistungen, vor allem aufgrund seiner hochqualifizierten Arbeitskräfte und der FuE-Intensität. Europa sollte jedoch nicht den Fehler begehen, sich selbstzufrieden zurückzulehnen. Wettbewerbsvorteile müssen proaktiv aufrechterhalten werden. Dies erfordert insbesondere Maßnahmen, mit denen kontinuierlich hohe Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie eine weitere Kompetenzsteigerung der Arbeitskräfte gefördert werden.

3.12

Der Austausch zwischen Anbietern und Kunden ist enorm wichtig. Unternehmensdienstleister fördern die Produktion des Kunden (Produkte und/oder Hilfsmittel). Erfolgreiche Entwicklungen ergeben sich aus einem wirkungsvollen Zusammenwirken zwischen Bedarf und Nachfrage, so dass neue „Architekturen“ ins Auge gefasst werden. Verschiedene Ideen und „Sprachen“ werden gebündelt, um neue Lösungen hervorzubringen. In diesen Prozessen stammen kreative und maßgeschneiderte Lösungen aus vielen unterschiedlichen Disziplinen.

Bemerkenswert ist der Mangel an mittelständischen Unternehmen. Abgesehen von wichtigen Großdienstleistern wie SAP ist Europa im umfangreichen Marktsegment der Dienstleistungserbringer weniger stark vertreten als die USA. In einigen Hochtechnologiebranchen ist Europa im Vergleich zu den USA praktisch nicht präsent. Die Beispiele Google, Apple, Amazon und Microsoft, die das Spiel dominieren, bei dem der Gewinner alles für sich beansprucht („winner takes all“), machen deutlich, wie bedauerlich es ist, dass Europa auf diesem Gebiet nicht vertreten ist.

3.13

Wo sich Probleme im Zusammenhang mit der Dienstleistungsrichtlinie ergeben, müssen bei der Vollendung des Binnenmarkts für Unternehmensdienstleistungen Wachstums- und Beschäftigungschancen genutzt und die negativen Auswirkungen der Dienstleistungsliberalisierung, wie Sozial- und Lohndumping, unter Kontrolle gehalten werden.

3.14

Die Kommission wies 2011 insbesondere darauf hin, dass die Rolle wissensintensiver Unternehmensdienstleistungen bewertet werden müsse. Eine übergreifende Schlussfolgerung ist, dass Dienstleistungen — und insbesondere wissensintensive Unternehmensdienstleistungen — eine wichtige und immer größere Rolle spielen, da sie in die Produktionsprozesse einfließen. Beide sind untrennbar miteinander verbunden, obwohl die Leistung des produzierenden Gewerbes mehr und mehr von der Qualität solcher Dienstleistungen abhängt.

3.15

Wissenschaft und Hochschulen sind ebenfalls sehr stark involviert, wenn es um innovative Dienstleistungen und das Zusammenwirken mit der Industrie geht. Eine Reihe von Universitäten hat vielversprechende Jungunternehmen hervorgebracht, die Dienstleistungen für Unternehmen anbieten. Dies trägt zur Bildung von Clustern zwischen Wissenschaft, innovativen Lösungen und Industrie bei. Überdies ergeben sich weitere positive Auswirkungen, da bessere Dienstleistungen dazu beitragen können, die Position in der Wertschöpfungskette zu verbessern, wenn ein Land in bestimmten Industriezweigen bereits über technologische Kapazitäten und komparative Vorteile verfügt (4). Dadurch nimmt die Bedeutung des produzierenden Gewerbes im internationalen Handel erheblich zu.

3.16

Aufgrund des großen Gewichts der Dienstleistungen wird von einer „Dienstleistungsorientierung im produzierenden Gewerbe“ gesprochen. Aufgrund der Symbiose zwischen produzierender Industrie und Dienstleistungen kommt es häufig zur Verlagerung von Unternehmensschwerpunkten oder sogar ganzen Tätigkeitsfeldern. Eine Veränderung des Vermarktungskonzepts wird durch neue Dienstleistungen ermöglicht, die nicht mehr auf den Verkauf von Produkten ausgerichtet sind, sondern auf (individuelle) Kundenbedürfnisse. Ein weiteres Beispiel ist, dass Unternehmen im produzierenden Gewerbe nun zunehmend auf die Konzipierung und Erbringung von Dienstleistungen setzen, d. h. auf den rentabelsten Teil ihrer Tätigkeiten.

3.17

Vor diesem Hintergrund ist das Ziel, bis 2020 einen Anteil von 20 % des produzierenden Gewerbes am EU-BSP zu erreichen, zu unspezifisch. Ziel sollte vielmehr sein, günstige Bedingungen für eine Stärkung industrieller Prozesse zu schaffen, bei denen durch die Symbiose zwischen produzierendem Gewerbe und Dienstleistungen dank führender Produktionsverfahren und Produktivität moderne Produkte geliefert werden.

3.18

Die neue Welle von IKT-Anwendungen ist ein Selbstläufer: Aus Dienstleistungen entstehen wieder neue Dienstleistungen, und mithin nimmt ihre Bedeutung für die Wirtschaft allgemein unverhältnismäßig zu. Sie fördern die Produktivität und stimulieren übergreifende Auswirkungen in der gesamten Wirtschaft, so dass neue Kombinationen entstehen. Auch die Globalisierung wird dadurch neue Impulse erhalten.

3.19

Ein weiteres Phänomen ist, dass immer mehr Produkte zusammen mit Dienstleistungen vermarktet werden oder sogar in diese Produkte integriert werden, was wiederum zu neuen Verbindungen und Kombinationen führt.

4.   Die vierte industrielle Revolution — ein radikaler Umbruch

4.1

Bandbreite und Auswirkungen der Unternehmensdienstleistungen erweitern sich erheblich in Verbindung mit der vierten industriellen Revolution, die eine weitaus größere Tragweite hat als Unternehmensdienstleistungen allein (5). Diese Revolution schließt sich an die drei Zeitalter der Mechanisierung, der Elektrizität und der Informationstechnologie an. Nun geht es vor allem um die Einführung des Internets der Dienstleistungen und der Dinge.

4.2

Im Zuge dieses Prozesses gibt es in Wirtschaft und Wissenschaft eine Vielzahl von — teilweise durch die öffentliche Hand angestoßenen — Initiativen zur Anpassung der Produktionsprozesse und Entwicklung neuer Produkte. Eine zukunftsweisende Initiative ist der Fahrplan für die vierte industrielle Revolution, der 2012 von der deutschen Bundesregierung auf den Weg gebracht wurde (6).

4.3

Parallel dazu laufen mehrere weitere Initiativen mit ähnlichem Profil, wie beispielsweise:

die holländische Initiative „Intelligente Industrie“ von April 2014;

die Strategien „Industrie 4.0“ der österreichischen Bundesländer;

die Wettbewerbscluster der belgischen Region Wallonien;

das Projekt „Future of manufacturing“ mit finanzieller Unterstützung der britischen Regierung;

die italienische „Fondazione Democenter — Sipe“, Emilia Romagna;

die „Smart Manufacturing Leadership Coalition“ in den USA sowie;

die Initiative „Cyber-physical systems innovation hub“ in Indien (umfassender als Industrie 4.0).

4.4

Die intelligente Fabrik der Zukunft ist sehr komplex und aufgrund weiterentwickelter Softwareanwendungen und -systeme in ausgefeilte Netze eingebettet. Diese Entwicklung wird sowohl bei den Kunden als auch bei den Beschäftigten zu einer fortschreitenden Individualisierung bei der Bereitstellung und Nutzung intelligenter und maßgeschneiderter Produkte und Komponenten führen.

4.5

Dies birgt ein immenses Potenzial für die Industrie und die Wirtschaft. Gefördert werden müssen die sofortige Erfüllung von Kundenwünschen, Flexibilität, optimale Entscheidungsfindung und effiziente Nutzung von Rohstoffen ebenso wie ein potenzieller Mehrwert durch neue Dienstleistungen. Diese Entwicklung könnte u.U. auch der demografischen Entwicklung in Europa entsprechen und kann sich positiv auf die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben auswirken und gleichzeitig zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit in einem einkommensstarken Umfeld beitragen.

4.6

In allen Industriezweigen wird eine horizontale und vertikale Integration sowie eine durchgehende digitale Integration der Technik in der gesamten Wertschöpfungskette ins Auge gefasst werden. Ein offener Zugang und Innovationen werden eine intensive Vernetzung fördern.

4.7

Um zu verhindern, dass die EU gegenüber Wettbewerbern aus Drittländern an Boden verliert, müssen gemeinsame EU-Plattformen zur Standardisierung von Produkten und Dienstleistungen unter Einbeziehung aller Komponenten der Wertschöpfungskette eingerichtet werden.

4.8

Groß- und Kleinunternehmen werden gleichermaßen einbezogen. Für KMU eröffnet sich eine positive Perspektive. Sie werden Dienstleistungen und Software viel einfacher nutzen können als bisher. Neue Möglichkeiten werden sich für regional verankerte KMU ergeben, die auch leichter in Internationalisierungsprozesse integriert werden können. In jedem Fall werden die KMU von dem interdisziplinären Wissens- und Technologietransfer profitieren.

4.9

Wie oben beschrieben, wird es in allen Bereichen eine engere Beziehung zwischen Kunden und Anbietern geben.

4.10

Die bestehenden IT-basierten Technologien müssen an die besonderen Anforderungen des produzierenden Sektors angepasst und weiterentwickelt werden. Mit Blick auf die Entwicklung methodischer Ansätze auf den Gebieten Modellierung von Automatisierungstechnik und Systemoptimierung sind Forschung, Technologie und Schulungsinitiativen gefragt.

4.11

Es gilt, eine Wirtschaftsinfrastruktur zu schaffen, mit der u. a. die Breitband-Internetinfrastrukturen sowie geeignete Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen angemessen ausgebaut werden. In dieser Hinsicht betont der EWSA erneut die Notwendigkeit einer Wachstumsinitiative zusätzlich zu einer soliden Fiskalpolitik (7). Die EU-Mitgliedstaaten sollten die momentane Konjunkturerholung als Gelegenheit nutzen, um Investitionen in die im Zeitalter Industrie 4.0 unentbehrlichen Infrastrukturen so schnell wie möglich voranzutreiben.

4.12

Industrie 4.0 wird Europa die einzigartige Möglichkeit geben, verschiedene Ziele mit einer einzigen Infrastrukturinvestition voranzubringen. Ein Aufschieben würde die Wettbewerbsfähigkeit Europas untergraben. Eine solche Investition sollte daher auch in den länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters positiv berücksichtigt werden.

4.13

In dem in Deutschland vorgelegten Fahrplan werden die sozialen Aspekte dieser neuen Entwicklung gebührend berücksichtigt. Nicht nur die Führungsriege und das Personal der Unternehmen sind involviert, sondern die ganze Gesellschaft. In der Wechselbeziehung Mensch-Technik und Mensch-Umwelt findet ein radikaler Wandel statt. Technologische Innovationen müssen in ihrem soziokulturellen Kontext betrachtet werden, da kulturelle und soziale Veränderungen an sich schon wichtige Triebkräfte für Innovationen sind.

4.14

Im selben Maße werden durch dezentrale Führungs- und Managementkonzepte sowie durch die Verantwortlichkeit der Beschäftigten für ihre Entscheidungen neue Wege beschritten. Dies zieht grundlegende Veränderungen nach sich.

4.15

Auf nationaler und europäischer Ebene sollten Plattformen, Seminare und Arbeitsgruppen organisiert werden, bei denen Unternehmen, Sozialpartner, Wissenschaft und Behörden einbezogen werden. Solche Plattformen und Arbeitsgruppen sind sehr wichtig, um eine Vision sowie Strategien zur Gestaltung des Wandlungsprozesses festzulegen, damit Chancen ergriffen und Fallen umgangen werden können. Die Hochrangige Gruppe (siehe unten) liefert ein Beispiel für einen erfolgreichen Dialog der Interessenträger.

4.16

Die neue Welt der digitalen Industrieunternehmen und Dienstleistungen erfordert eine sichere, vertrauenswürdige Plattform für den digitalen Austausch mit klaren Marktrechten und einem Schutz der Rechte (8). In dieser modernen hybriden Welt ist eine Kommunikations- und Kooperationsplattform ebenso wichtig.

5.   Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Arbeitsmärkte  (9)

5.1

Eine dienstleistungsorientierte Gesellschaft und die Digitalisierung haben enorme Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sowie auf die Gesellschaft insgesamt:

Die Dienstleistungsorientierung der Wirtschaft führt zu einer Verringerung der Beschäftigung in den mittleren Einkommensgruppen. Um diesen Trend aufzuhalten und umzukehren, sollte die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten für mittlere Einkommensgruppen bei Maßnahmen zur Strukturanpassung zu einem expliziten Ziel gemacht werden. Zu diesem Zweck sollten Instrumente wie aktive Arbeitsmarktmaßnahmen und Investitionen in innovative Bildung und Ausbildung bei EU-Maßnahmen zugunsten von Industrie und Dienstleistungen in den Vordergrund gestellt werden. Es sollte überprüft werden, inwiefern Tarifvereinbarungen diesbezüglich unterstützend wirken können.

Auf allen Ebenen müssen die Menschen darauf eingestellt sein, neue Qualifikationen zu erwerben — angesichts der enormen gesellschaftlichen Herausforderung, die damit verbunden ist, umso mehr ein Grund, die Aktualisierung der Lehr- und Ausbildungspläne sowie das lebenslange Lernen zu fördern. Der Umbruch betrifft alle Generationen, daher muss auch älteren Arbeitnehmern die Möglichkeit gegeben werden, ihre Kenntnisse ständig auf dem neusten Stand zu halten. Forschungsarbeiten und Bewertungen, die zu dem Übergangsprozess angestellt werden, müssen dazu beitragen, berufliche Kompetenzen und Qualifikationsanforderungen richtig zu ermitteln.

Die Motoren der Entwicklung sind hauptsächlich (neue) Klein- und Kleinstunternehmen, während große Betriebe Arbeitsplätze abbauen. Dieser Prozess spiegelt sich in einer sprunghaften Zunahme neu gegründeter Unternehmen und Selbständiger überall in Europa wider. Heute ist es möglich, über das Wochenende ein Software-Unternehmen zu gründen, indem auf einfach verfügbare Hilfsmittel zurückgegriffen wird, die ein rasches Entwickeln und Testen von Produkten ermöglichen (sog. „Lean Startup“-Bewegung).

5.2

Beunruhigend ist, dass dieser radikale wirtschaftliche Wandel mit all seinen Folgen für die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt immer noch unzureichend analysiert und über Unternehmen und Wissenschaft hinaus nicht weitergehend diskutiert wird.

5.3

Daher gibt es viele Gründe, warum dieser Übergang zu völlig neuen wirtschaftlichen Perspektiven sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene ausführlich in Politik und Gesellschaft diskutiert werden muss. Dieser Prozess hat Auswirkungen auf den Alltag vieler Bürgerinnen und Bürger in den Regionen und Städten, sowohl was die Beschäftigung als auch die Arbeitslosigkeit betrifft. Somit wird er auch die Zukunftsentscheidungen der Menschen beeinflussen. Die relevanten sozialen und kulturellen Aspekte sollten gebührend hervorgehoben und berücksichtigt werden.

5.4

Untersuchungen zu den raschen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, die als Grundlage für künftige allgemeine und berufliche Bildungsmaßnahmen genau abgebildet werden müssen, ist im Rahmen des Förderbereichs „Führungsrolle der Industrie“ des Programms Horizont 2000 Priorität einzuräumen.

5.5

Viele unsichere Arbeitsplätze könnten verloren gehen, und wenn dieser Prozess nicht gut gesteuert wird, wird er soziale und politische Auswirkungen haben. Deshalb müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten ein Politik- und Regelungsumfeld schaffen, das neben der Bereitstellung neuer und unerlässlicher Technologien auch den Zweck erfüllt, die Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern und eine Polarisierung zwischen niedrigen und hohen Einkommensgruppen zu vermeiden.

5.6

Die Entwicklung verläuft von Staat zu Staat unterschiedlich. Traditionelle Programme müssen überarbeitet und Lehr- und Ausbildungspläne angepasst werden. Die Unternehmen sind im Wandel. Das Verhältnis zwischen Bildung und Unternehmen verändert sich, um mit dem industriellen Wandel Schritt halten zu können. Die Arbeitnehmer müssen darauf vorbereitet werden, andere und insgesamt spezialisiertere Qualifikationen zu erwerben, und sie müssen in der Lage sein, sich an die raschen Veränderungen der Nachfrage nach Qualifikationen anzupassen.

5.7

Diese Entwicklung ist sicher nicht im Sinne einer einseitigen Schwerpunktsetzung auf technische Fertigkeiten zu verstehen. Intellektuelle und soziale Kompetenzen bleiben nach wie vor wichtig. Sie sind unabdingbar, um mit allen Entwicklungen in der Gesellschaft mithalten zu können und die erforderliche soziale Innovation zu ermöglichen, die mit den grundlegenden Veränderungen in der Wirtschaft Hand in Hand geht.

5.8

In dieser Gesamtperspektive muss ein sozialer Dialog auf Unternehmens-, Branchen-, Mitgliedstaaten- und EU-Ebene gewährleistet werden, um Entwicklungen und Rahmenbedingungen in der EU und in den Mitgliedstaaten zu erörtern und darüber zu diskutieren, wie die Arbeitskräfte angemessen vorbereitet werden können.

6.   Hochrangige Gruppe der EU zum Thema Unternehmensdienstleistungen — ein erster Schritt

6.1

Die Auswirkungen der Ausweitung von Unternehmensdienstleistungen wurden auf EU-Ebene und bei der EU-Politikgestaltung zu lange vernachlässigt. Der zu erwartende Quantensprung macht eine diesbezügliche Kehrtwende umso notwendiger. Der EWSA begrüßt daher ausdrücklich den Bericht der Hochrangigen Gruppe zum Thema Unternehmensdienstleistungen aus dem Jahr 2013 und sieht darin einen ersten Schritt.

6.2

Zwar ist die Kommission über die digitale Agenda und Forschungs- und Innovationsprojekte an Prozessen beteiligt, die mit den allgemeinen Auswirkungen der Unternehmensdienstleistungen in Zusammenhang stehen, doch fehlt ein Gesamtbild.

6.3

Den Unternehmensdienstleistungen gebührt ein hoher Stellenwert in einer zukunftsorientierten Industriepolitik. Der Bericht der Hochrangigen Gruppe sollte den Weg ebnen, um ein Gesamtbild aller Entwicklungen zu zeichnen und die Schritte festzulegen, die in der EU unternommen werden sollten.

6.4

Die Hochrangige Gruppe unterscheidet viele verschiedene Arten von Unternehmensdienstleistungen, von freiberuflichen Dienstleistungen über technische Dienste bis hin zu operationellen Unterstützungsdiensten.

6.5

Insbesondere wird klargestellt, dass Unternehmensdienstleistungen bisher bei der Gestaltung neuer Maßnahmen der Kommission sowie in den politischen Beratungen im Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ allgemein zu wenig beachtet wurden.

6.6

Neben den Arbeiten der Hochrangigen Gruppe legten fünf Arbeitsgruppen Berichte zu den Themen (i) Binnenmarkt, (ii) Innovation, (iii) Kompetenzen, (iv) Standards und (v) Handel vor, in denen analytische Bemerkungen und ausführliche Kommentare zu dem laufenden Prozess in den erörterten Bereichen sowie zu anzustrebenden Ansätzen für die EU-Politik und -Maßnahmen enthalten sind.

6.7

Aus vielen Bemerkungen und Vorschlägen in den Berichten geht hervor, dass eingehende Analysen seitens der EU erforderlich sind, flankiert durch bessere und zielgerichtete politische Leitlinien für KMU — eine Empfehlung, die der EWSA im Einklang mit vielen Fachleuten schon seit Jahren ausspricht. Die herausragende Rolle der Kleinst- und Kleinunternehmen sowie ihre exponentielle Zunahme im aktuellen Industriezyklus machen einmal mehr deutlich, dass dringend eine bessere Rechtsetzung, optimierte Bedingungen für Innovationspartnerschaften und eine besondere Schwerpunktsetzung auf den Zugang zu Finanzmitteln erforderlich sind.

6.8

Abgesehen von den traditionellen Hürden für Dienstleistungen gegenüber den Hemmnissen für das produzierende Gewerbe zeigt die Analyse, dass die fortlaufende Fragmentierung des Binnenmarkts für Waren bemerkenswerterweise auch zusätzliche schädigende Auswirkungen auf die grenzüberschreitende Entwicklung und auf die Stimulierung von Unternehmensdienstleistungen hat. Europa ist immer noch weit davon entfernt, einen erfolgreichen großen Binnenmarkt für Dienstleistungen zu schaffen.

6.9

Die vielen Vorschläge zur Verbesserung des Umfelds für Unternehmensdienstleistungen sind ein Beleg für ihre herausragende Bedeutung für die Verbindung zwischen Produktion und Dienstleistungen und somit für die Perspektive einer Stärkung des produzierenden Gewerbes in Europa.

6.10

Daher stellt die Arbeit der Hochrangigen Gruppe nach Auffassung des EWSA einen sehr nützlichen Ausgangspunkt für die Durchführung einer detaillierteren Analyse und für die Ausarbeitung konkreter Vorschläge durch die Kommission dar.

Brüssel, den 16. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Die Hochrangige Gruppe zum Thema Unternehmensdienstleistungen wurde auf Initiative der Generaldirektionen ENTR und MARKT ins Leben gerufen und legte ihre Schlussfolgerungen im April 2014 vor. Parallel dazu befassten sich fünf Arbeitsgruppen mit spezifischen Bereichen.

(2)  Siehe insbesondere die EWSA-Stellungnahme TEN/549 über die Mitgestaltung der Zukunft der Internet-Governance, Juli 2014 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(3)  Institut der Deutschen Wirtschaft, Köln, 2013.

(4)  OECD Trade Policy Papers, No. 148: The role of services for competitiveness in manufacturing (Die Rolle der Dienstleistungen für die Wettbewerbsfähigkeit im produzierenden Gewerbe), 2013.

(5)  Die weitreichenden Auswirkungen von Industrie 4.0 müssen gesondert erörtert und ausführlicher in künftigen Stellungnahmen behandelt werden.

(6)  „Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0“, April 2013.

(7)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine stärkere europäische Industrie bringt Wachstum und wirtschaftliche Erholung — Aktualisierung der Mitteilung zur Industriepolitik“, Juli 2013, insbesondere Ziffer 1.2, ABl. C 327 vom 12.11.2013, S. 82.

(8)  Siehe dazu die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Cyberangriffe in der EU“ (TEN/550), Juli 2014 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(9)  Siehe dazu auch die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Digitale Gesellschaft: Zugang, allgemeine und berufliche Bildung, Beschäftigung, Instrumente für die Förderung der Gleichbehandlung“, Juli 2014, (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/33


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission über die Europäische Bürgerinitiative „Wasser und sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht! Wasser ist ein öffentliches Gut, keine Handelsware“

(COM(2014) 177 final)

(Initiativstellungnahme)

(2015/C 012/05)

Berichterstatterin:

An LE NOUAIL MARLIÈRE

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 11. September 2014 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Mitteilung der Kommission über die Europäische Bürgerinitiative „Wasser und sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht! Wasser ist ein öffentliches Gut, keine Handelsware“

(COM(2014) 177 final).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 18. Juli 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 151 gegen 2 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

In ihrer Antwort auf die erste alle Anforderungen erfüllende europäische Bürgerinitiative (EBI) „Wasser und sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht! Wasser ist ein öffentliches Gut, keine Handelsware“ („Right2Water“) bekräftigt die Europäische Kommission die Bedeutung des Menschenrechts auf Wasser und sanitäre Grundversorgung sowie die Bedeutung von Wasser als öffentliches Gut von grundlegendem Wert und betont, dass „Wasser keine (...) Handelsware ist“.

1.2

Zunächst einmal ist die Unterstützung der Bürger für diese europäische Bürgerinitiative ebenso begrüßenswert wie die Anerkennung der Besonderheit und der Bedeutung von Wasserversorgung und Abwasserentsorgung „für die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse der Bevölkerung“ seitens der Europäischen Kommission. Sie haben dazu geführt, dass Wasserversorgung und Abwasserentsorgung vom Anwendungsbereich der EU-Vorschriften über die Konzessionsvergabe ausgenommen wurden.

1.3

Ganz allgemein begrüßt der EWSA die Zusage der Europäischen Kommission, auf die Einhaltung der Vertragsbestimmungen zu achten, nach denen die EU zu Neutralität gegenüber den einzelstaatlichen Entscheidungen über die Eigentumsordnung für Wasserversorgungsunternehmen verpflichtet ist. Diesbezüglich vertritt der Ausschuss die Überzeugung, dass keine Entscheidung oder Maßnahme der EU die Freiheit der Mitgliedstaaten einschränken sollte, selbst über die Art und Weise der Bereitstellung von Wasserdienstleistungen zu bestimmen.

1.4

Der EWSA fordert die Europäische Kommission daher auf, konkrete Initiativen zu ergreifen, damit diese Zusage nachhaltig in allen Politikbereichen der EU, sowohl in Bezug auf die Mitgliedstaaten, die Unterstützung im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus erhalten, als auch auf laufende Handelsverhandlungen (wie den Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) und/oder das Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS)), eingehalten wird, wobei Wasserdienstleistungen ausdrücklich von derartigen Handelsverhandlungen ausgeschlossen werden müssen.

1.5

Der EWSA nimmt einige positive Punkte in der Antwort der Europäischen Kommission zur Kenntnis:

Anerkennung, dass für die Bereitstellung von Wasserdienstleistungen im Allgemeinen lokale Behörden zuständig sind, die den Bürgern am nächsten stehen;

Verpflichtung zur Förderung des universellen Zugangs zu Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung in ihrer Entwicklungspolitik durch nicht gewinnorientierte Partnerschaften;

Förderung öffentlich-öffentlicher Partnerschaften, die als wirksames Instrument zur Verbesserung der Leistung öffentlicher Behörden und Wasserdienstleistungen nicht nur in der internationalen Entwicklungspolitik, sondern auch innerhalb der EU anerkannt werden sollten.

1.6

Der EWSA weist darauf hin, dass in einem vor Kurzem von der Europäischen Umweltagentur veröffentlichen Bericht (European Environment Agency, 2003: „Assessment of cost recovery through water pricing“, Luxemburg; S. 28) festgehalten ist, dass es sich bei den Wasserversorgungsunternehmen aufgrund der notwendigen massiven Kapitalinvestitionen und der erheblichen Transportkosten naturgemäß um Monopole handelt. Daher müssen die Behörden in der Lage sein, Qualität und Effizienz der von den Wasserversorgungsunternehmen erbrachten Dienstleistungen umfassend zu kontrollieren. In diesem Kontext unterstützt der EWSA die Aussage der Europäischen Kommission, dass Transparenz von grundlegender Bedeutung ist.

1.7

Der EWSA fordert die Europäische Kommission daher auf, stärker auf die vollständige Umsetzung von Artikel 14 der Wasserrahmenrichtlinie (Information und Anhörung der Öffentlichkeit) hinzuwirken, und unterstützt die Absicht der Kommission, Benchmarking für Wasserdienstleistungen in Bezug auf die wirtschaftlichen, technischen und qualitativen Leistungsindikatoren zu fördern. Die Zusammenhänge zwischen Investitionsumfang, durchschnittlichen Wassergebühren und Qualität der Beschäftigungsbedingungen treten somit deutlicher zu Tage, was wiederum für mehr Transparenz in diesem Bereich sorgt.

1.8

Nach Meinung des EWSA sollte die Überarbeitung der Wasserrahmenrichtlinie und der Trinkwasserrichtlinie zur Gelegenheit genommen werden, Leitlinien und Grundsätze bezüglich des universellen Zugangs sowie den in der Wasserrahmenrichtlinie enthaltenen Grundsatz der Deckung der Kosten der Wasserdienstleistungen zu verankern. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, einen Legislativvorschlag vorzulegen, in dem der Zugang zu Wasser und Abwasserentsorgung als Menschenrecht im Sinne der Vereinten Nationen anerkannt wird, und die Versorgung mit Wasser und die Abwasserentsorgung als grundlegende öffentliche Dienstleistungen für die Allgemeinheit zu fördern.

1.9

Der EWSA hält fest, dass die europäischen Bürger durch ihre Unterstützung für die EBI ihren Wunsch zum Ausdruck gebracht haben, an der europäischen Entscheidungsfindung teilzuhaben und in Bezug auf die Ressource Wasser als Gemeingut und Leistung der Daseinsvorsorge mitzureden. Alle europäischen Institutionen sind aufgerufen, die Governance der europäischen Wasserpolitik gegenüber allen Interessenträgern zu öffnen und den Bürgern mehr Gelegenheit für öffentliche Debatten über die Zukunft der Wasserressourcen zu bieten.

2.   Einleitung

2.1

Im Rahmen der Europäischen Bürgerinitiative, die mit dem Vertrag von Lissabon eingeführt wurde, um eine stärkere demokratische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an der europäischen Politik zu fördern (1), können eine Million Bürger der Europäischen Union (EU) aus mindestens sieben Mitgliedstaaten die Kommission auffordern, einen Rechtsakt auf einem Gebiet zu erlassen, für das die EU zuständig ist. Es ist das allererste Instrument partizipatorischer Demokratie auf europäischer Ebene.

2.2

Seit Einführung der EBI im April 2012 haben mehr als fünf Millionen Bürger über 20 verschiedene Initiativen unterstützt. Der EWSA hat mehrere EBI-Initiatoren zu seinen Plenartagungen eingeladen.

2.3

Das Ziel der EBI „Right2Water“ war, einen Gesetzesvorschlag zu erwirken, der das Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Grundversorgung entsprechend der Entschließung der Vereinten Nationen durchsetzt und eine funktionierende Wasser- und Abwasserwirtschaft als existenzsichernde öffentliche Dienstleistung für alle Menschen fördert. Sie wurde auf der EWSA-Plenartagung im September 2013 vorgestellt.

2.4

Im Folgenden die Bürgerinitiative im Originalwortlaut:

„Wasser und sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht!“

Wir fordern die Europäische Kommission zur Vorlage eines Gesetzesvorschlags auf, der das Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Grundversorgung entsprechend der Resolution der Vereinten Nationen durchsetzt und eine funktionierende Wasser- und Abwasserwirtschaft als existenzsichernde öffentliche Dienstleistung für alle Menschen fördert.

Diese EU-Rechtsvorschriften sollten die Regierungen dazu verpflichten, für alle Bürger und Bürgerinnen eine ausreichende Versorgung mit sauberem Trinkwasser sowie eine sanitäre Grundversorgung sicherzustellen. Wir stellen nachdrücklich folgende Forderungen:

1.

Die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle Bürger und Bürgerinnen das Recht auf Wasser und sanitäre Grundversorgung haben.

2.

Die Versorgung mit Trinkwasser und die Bewirtschaftung der Wasserressourcen darf nicht den Binnenmarktregeln unterworfen werden. Die Wasserwirtschaft ist von der Liberalisierungsagenda auszuschließen.

3.

Die EU verstärkt ihre Initiativen, einen universellen Zugang zu Wasser und sanitärer Grundversorgung zu erreichen.

2.5

Nach Validierung der 1 6 59  543 Unterschriften aus 13 Mitgliedstaaten durch die Europäische Kommission veranstaltete das Europäische Parlament am 17. Februar 2014 eine große Anhörung des Bürgerausschusses der EBI „Right2Water“, zu der auch der EWSA eingeladen war. Am gleichen Tag wurde der Bürgerausschuss von Kommissionsvizepräsident Maroš ŠEFČOVIČ empfangen.

2.6

Die Europäische Kommission veröffentlichte am 19. März 2014 in Form einer Mitteilung ihre offizielle Antwort auf die erste alle Anforderungen erfüllende europäische Bürgerinitiative (EBI), die dazu aufrief, „das Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Grundversorgung durchzusetzen“.

2.7

Am 15. April 2014, dem Tag der EBI, veranstaltete der EWSA eine Konferenz zum Thema „Building up success“, zu der auch der Bürgerausschuss der EBI „Right2Water“ eingeladen war und auf der „eine beeindruckende Zahl EBI-Aktivisten und Interessenträger aus verschiedenen Institutionen und Organisationen [...] im EWSA [zusammenkamen], um eine erste Bilanz in Sachen Bürgerinitiative zu ziehen und Empfehlungen aufzulisten, wie dieses Instrument der direkten Demokratie noch wirksamer und benutzerfreundlicher werden kann“.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Als Instrument zur Förderung der öffentlichen Debatte und zur Vernetzung der Bürger hat die EBI ihr Potenzial und ihr Vermögen unter Beweis gestellt.

3.2

Die Schwierigkeiten liegen in den Vorschriften für ihre Durchführung (2), die überarbeitet werden müssen, da sie nicht mit der tatsächlichen Natur der EBI übereinstimmen. So sind darin Verpflichtungen festgeschrieben, die für ein verbindliches Rechtsinstrument der direkten Demokratie geeignet wären, das die gleichen rechtlichen Auswirkungen wie ein Referendum hätte (personenbezogene Daten, mögliche abschreckende Wirkung, unverhältnismäßig komplexe Verfahren); außerdem erlegen sie den Organisatoren unverhältnismäßig hohe rechtliche Anforderungen auf, die noch dazu von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sind. Die Palette der Themen, die für eine rechtliche Registrierung in Frage kommen, obliegt der Entscheidungsoberhoheit der Europäischen Kommission, die allein bestimmt, ob sie überhaupt für ein Thema zuständig ist.

3.3

Eine Bürgerinitiative darf höchstens 800 Zeichen umfassen (einschl. Bezeichnung, Gegenstand und Beschreibung), weshalb die Europäische Kommission zu der Auffassung kam, dass es dieser Initiative an konkreten Vorschlägen mangelt.

3.4

Viele Bürger verlieren die Hoffnung, in Europa und bei der Zukunft Europas mitreden zu können. Die künftige Europäische Kommission sollte diesem Problem Aufmerksamkeit schenken.

3.5

Als Element des EU-Vertrags (Artikel 11 Absatz 4) ist dieses Instrument das einzige Rechtsinstrument für die europäischen Bürger, um Einfluss auf die politische Agenda der EU zu nehmen. Das Europäische Parlament und der Rat müssen die Vorschriften für die Durchführung der EBI 2015 überarbeiten, sie sollten dabei die Lehren aus den ersten Kampagnen ziehen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Das EWSA hält befriedigt fest, dass die europäischen Institutionen sich aufgrund der EBI „Right2Water“ mit den Anliegen der europäischen Bürger auseinandersetzen und feststellen mussten, dass diese über die üblichen gesetzgeberischen Erwägungen der Europäischen Kommission hinausgehen, und dass die Europäische Kommission beschlossen hat, die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung vom Anwendungsbereich der Richtlinie über die Konzessionsvergabe auszunehmen.

4.2

Die Europäische Kommission verweist zu Recht auf die Verantwortung der Mitgliedstaaten, Unterstützungsmaßnahmen zum Schutz benachteiligter Personen zu treffen.

4.3

Die Europäische Kommission führt außerdem aus, dass sie über Zuständigkeiten verfügt, um einige Grundprinzipien für die Wassertarifpolitik in den Mitgliedstaaten vorzugeben, und verweist auf Artikel 9 der Wasserrahmenrichtlinie, in dem der Grundsatz der Kostendeckung verankert ist.

4.4

Allerdings ließ es die Europäische Kommission in ihrer Antwort auf die Erwartungen von mehr als 1,6 Millionen Bürgern (1,9 Millionen Unterschriften) an echtem Ehrgeiz mangeln und legte keinen neuen Vorschlag für ein europäisches Instrument vor, um das Recht auf Wasser als Menschenrecht zu verankern.

4.5

Ausgehend von konkreten Beispielen aus verschiedenen europäischen Städten kommt der EWSA zu dem Schluss, dass die Verpflichtung zu einer angemessenen Wassertarifpolitik für die Sicherung der Wasserressourcen durchaus mit der Notwendigkeit vereinbart werden kann und muss, einen universellen Zugang zu diesen Ressourcen über geeignete Solidaritätsmechanismen zu gewährleisten.

4.6

Seiner Meinung nach sollte die Überarbeitung der Wasserrahmenrichtlinie und der Trinkwasserrichtlinie zur Gelegenheit genommen werden, Leitlinien und Grundsätze bezüglich des universellen Zugangs sowie den in der Wasserrahmenrichtlinie enthaltenen Grundsatz der Deckung der Kosten der Wasserdienstleistungen zu verankern.

4.7   Gewährleistung von leichter zugänglichem Wasser einer besseren Qualität

4.7.1

Der EWSA betont, dass ihn die Antwort auf eine europäische Bürgerinitiative dieses Ausmaßes überrascht: Die Europäische Kommission schlägt eine öffentliche Konsultation über die Trinkwasserqualität vor, die auf Konsultationsmechanismen eher herkömmlicher Art zu verweisen scheint, die zwar sinnvoll sind, aber der EBI nicht gerecht werden.

4.8   Sicherstellung von Neutralität bei der Bereitstellung von Wasserdienstleistungen

4.8.1

Der EWSA nimmt wohlwollend zur Kenntnis. dass die Europäische Kommission die Notwendigkeit von Transparenz bei der Beschlussfassung in Bezug auf das Wassermanagement auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene erkannt hat.

4.8.2

Da Wasser lebensnotwendig ist, muss es als gefährdete Ressource und Gemeingut geschützt werden. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass Wasser vorrangig zur Deckung grundlegender menschlicher Bedürfnisse genutzt werden muss. Die Europäische Kommission sollte begreifen, dass es darum geht, den Zugang zu Wasser und sanitärer Grundversorgung und deren ausreichende Verfügbarkeit als grundlegendes Menschenrecht anzuerkennen, da sie von lebenswichtiger Bedeutung und eine Frage der Menschenwürde sind. Somit müssen sie dauerhaft von den marktorientierten Regeln des Binnenmarkts ausgenommen und als Dienstleistung von nichtwirtschaftlichem allgemeinem Interesse eingestuft werden (3).

4.8.3

Die für das Überleben der Menschen unabdingbaren Ressourcen sollten Gegenstand eines spezifischen Ansatzes sein und bei Freihandelsabkommen ausgeklammert werden. Trotz der Verweise in offiziellen Dokumenten, dass Wasser keine Handelsware ist und jeder Mensch Recht auf Ernährung hat, sind die Privatisierung von Wasserressourcen, Spekulationen mit Grundnahrungsmitteln im großen Maßstab und die massive Aneignung von Agrarland auch heute noch gang und gäbe. All dies ist eine direkte Gefahr für das Überleben der schutzbedürftigsten Bevölkerungsgruppen.

4.8.4

Die Europäische Kommission sollte konkrete verbindliche Maßnahmen vorschlagen, um eine echte Antwort auf die EBI zu liefern, was sie in ihrer Mitteilung verabsäumt hat. So sollte insbesondere in einer verbindlichen europäischen Rechtsvorschrift festgelegt werden, dass der Gewinn nicht das Ziel der Bewirtschaftung der Wasserressourcen und der damit verbundenen Dienstleistungen sein darf. Andernfalls ist die Aussage „Wasser ist eine öffentliches Gut“ inhaltsleer.

4.9   Gewährleistung der Wasserversorgung über eine Leistung der Daseinsvorsorge für alle Menschen

4.9.1

Der EWSA fordert die Schaffung eines europäischen Instruments, das das Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Grundversorgung entsprechend der Definition der Vereinten Nationen vom Juli 2010, die neben Artikel 14 AEUV über Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse eine der Grundlage der EBI ist, anerkennt, damit die Europäische Kommission die Mitgliedstaaten dazu anhalten kann, dieses Recht in einer nichtwirtschaftlichen Dienstleistung von allgemeinem Interesse unter Wahrung der Neutralität der Erbringung dieser Dienstleistung einzuhalten, die sich grundlegend von der kommerziellen Nutzung beispielsweise für Industrie und Landwirtschaft unterscheidet.

4.10   Ein integrativeres Konzept für die Entwicklungshilfe

4.10.1

Die Entwicklungspolitik und die Finanzhilfen der EU würden davon profitieren, wenn sie strikt an die Anerkennung dieses von der UNO offiziell im Juli 2010 anerkannten Menschenrechts seitens aller EU-Mitgliedstaaten gekoppelt wären, insbesondere im Hinblick auf eine optimale Nutzung, denn die Koppelung der Entwicklungspolitik und der Entwicklungshilfe in diesem Bereich an ein Menschenrecht könnte dazu beitragen, die Korruption zu bekämpfen und die nachgeordneten Akteure in die Pflicht zu nehmen. Der EWSA befürwortet und unterstützt den integrierten Ansatz und die Schaffung von Synergien zwischen den Bereichen Wasser und Ernährungssicherheit. In Bezug auf die Synergien zwischen den Bereichen Wasser und Energie wird der EWSA die Vorlage der vorgeschlagenen Maßnahmen abwarten und dann bewerten, ob sie dem Geist der EBI in Bezug auf den Schutz der Ressource als Gemeingut entsprechen.

Die öffentliche Gesundheit muss ebenfalls im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, insbesondere beim Aufbau sanitärer Grundversorgung, wo es an dieser mangelt — und trotz des geringeren Interesses der Betreiber.

4.11   Förderung öffentlich-öffentlicher Partnerschaften

4.11.1

Der EWSA billigt die Verpflichtung der Europäischen Kommission, nicht gewinnorientierte Partnerschaften in der Wasserwirtschaft stärker zu fördern, um die Kapazitäten für den Transfer von Fachwissen und Know-how zwischen öffentlichen Wasserversorgungs- und Abwasserentsorgungsunternehmen, lokalen Behörden und weiteren Akteuren auszubauen. Er bekräftigt seinen bereits zuvor vertretenen Standpunkt, dass Innovationen und die Ergebnisse von Forschung und Entwicklung, die mit öffentlichen Mitteln im 7. Forschungsrahmenprogramm unterstützt wurden, dem gemeinnützigen Sektor, sozial- und solidarwirtschaftlichen Unternehmen, lokalen Gebietskörperschaften usw. zur Verfügung gestellt werden müssen (4).

4.12   Folgemaßnahmen zu Rio+20

4.12.1

Zur Förderung der Nachhaltigkeitsziele, die die Millenniumsentwicklungsziele nach 2015 ersetzen und universal gelten sollen, sollte die EU dafür sorgen, dass sie diese künftigen Ziele einhält, und sich bewusst machen, dass immer noch 1 bis 2 Millionen Unionsbürger keinen Zugang zu Wasser haben. Um hier Abhilfe zu schaffen, muss sie den Kenntnisstand der Mitgliedstaaten (Daten über Obdachlose, Roma, prekäre Wohnverhältnisse) verbessern.

4.13

Der EWSA billigt die Bemühungen der Europäischen Kommission zur Wasserqualität, zur Transparenz in der Wasserbewirtschaftung und zum Aufbau eines besser strukturierten Dialogs zwischen den Interessenträgern, betont jedoch, dass dies keine Antwort auf die Fragen der EBI über die Universalität eines Menschenrechts liefert, d. h. dass jeder Bürger und Bewohner, ungeachtet seiner Wohnsituation, seiner beruflichen Lage usw. über das lebensnotwendige Mindestmaß an Wasser verfügen können muss.

4.14

Die Europäische Kommission hält fest, dass die Besonderheiten der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung und ihre Bedeutung für die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse der Bevölkerung durchgehend im EU-Recht anerkannt werden.

Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass sie nicht nur von Bedeutung, sondern lebensnotwendig sind. Da eben grundlegende Bedürfnisse auf dem Spiel stehen, müssen diese im Rahmen der nichtwirtschaftlichen Dienste von allgemeinem Interesse behandelt werden.

4.15

Der EWSA forderte die Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen auf, die Wasserpolitik zu konsolidieren, da Wasser ein lebenswichtiges Gut für die Bürger, die Industrie, die Landwirtschaft und die Gebietskörperschaften ist. Die Ressource Wasser ist daher in den Mittelpunkt jedweder EU-Politik zu stellen, wobei auf die Herausforderungen in Bezug auf die Bekämpfung der Armut, die Grundrechte der Unionsbürger, die öffentliche Gesundheit, die Integration und den sozialen Zusammenhalt zu verweisen ist.

4.16

Der EWSA empfiehlt,

eingehend zu untersuchen, wie sich eine Wasserpolitik, in der die soziale, ökologische und wirtschaftliche Dimension nicht berücksichtigt wird, allgemein und insbesondere finanziell auswirkt;

die Strategien, die zwischen den verschiedenen territorialen Interessen in den Mitgliedstaaten zum Tragen kommen, miteinander in Einklang zu bringen;

ein nachhaltiges Konzept für die Wasserbewirtschaftung aufzustellen und neue Instrumente zu finden, um auf naturbedingte und menschengemachte Katastrophen vorbereitet zu sein, die die Wasservorräte kurzfristig bedrohen und beeinträchtigen;

die Annahme der Bodenschutz-Richtlinie erneut in Angriff zu nehmen;

die Bemühungen auch auf eine ressourcenschonendere Nachfrage auszurichten, um die Ressource Wasser zu schützen und zu erhalten;

den sozialen Dialog und die Sozialpartner als Elemente zur Sicherstellung der Durchführung sämtlicher Aufgaben der Wasserversorgung und der Abwasseraufbereitung in all ihrer Vielfalt und auf allen Ebenen einzubeziehen.

4.17

Der EWSA schlägt ferner vor:

Technologien zu erforschen, die eine Verbesserung der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer in Wasser- und Abwasserbewirtschaftung ermöglichen;

das Wissen einschlägiger NGO zu würdigen;

die Liste der Schadstoffe um solche Stoffe zu erweitern, die zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung in Oberflächenwasser und Grundwasser nicht enthalten sein dürfen (Nanoelemente, krebserzeugende, erbgutverändernde bzw. fortpflanzungsgefährdende Stoffe), und harmonisierte Empfehlungen zur Wiederverwendung von aufbereitetem Abwasser aufzustellen;

die Maßnahmen zur Erhaltung der Ökosysteme wie auch das Vorgehen zur Erhaltung des natürlichen Grundwassers zu unterstützen.

4.18

Die Wasser- und Abwasserpolitik muss einem Nachhaltigkeitsansatz folgen, damit die Ressource Wasser für den derzeitigen Bedarf der Bevölkerung ausreichend vorhanden ist und für den Bedarf künftiger Generationen bewahrt wird.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Verordnung (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative, ABl. L 65 vom 11.3.2011, S. 1.

(2)  Verordnung (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative.

(3)  ABl. C 177 vom 11.6.2014, S. 24.

(4)  ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 147.


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/39


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Rolle der Zivilgesellschaft im Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan

(Initiativstellungnahme)

(2015/C 012/06)

Berichterstatterin:

Laure BATUT

Mitberichterstatterin:

Eve PÄÄRENDSON

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. September 2013, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Rolle der Zivilgesellschaft im Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 18. September 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 133 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Schlussfolgerungen

1.1.1

Zusammengenommen stehen die EU und Japan für mehr als ein Drittel des Welthandels. Eine Partnerschaft mit einem ehrgeizigen, umfassenden und für beide Seiten günstigen Freihandelsabkommen (FHA)/Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) zwischen der EU und Japan würde das europäisch-japanische Handels- und Investitionsvolumen vergrößern, könnte die europäische und die japanische Volkswirtschaft und die Beschäftigung stärken und würde zur Konsolidierung der internationalen Vorschriften und Normen beitragen. Die Bürgerinnen und Bürger Europas und Japans würden eine faire Verteilung der erwarteten Vorteile begrüßen, beobachten die Entwicklung jedoch sehr aufmerksam und wollen nicht, dass die in Europa bzw. Japan geltenden Standards aufgeweicht werden.

1.1.2

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die mit Japan geführten FHA/WPA-Verhandlungen sowie insbesondere den Beschluss, diese nach der Überprüfung nach dem ersten Verhandlungsjahr fortzuführen. Bedauerlich findet der EWSA jedoch den Mangel an Informationen und Transparenz bei den laufenden Verhandlungen. Die Förderung und der Schutz der Verbraucherinteressen sind ganz entscheidend dafür, dass das Abkommen eine breite öffentliche Zustimmung findet. Daher fordert der EWSA die Einrichtung eines Konsultationsverfahrens in Anlehnung an das Verfahren, das im Rahmen der Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zur Anwendung kommt, damit eine bessere Information der Zivilgesellschaft über die komparativen Vorteile sichergestellt werden kann, die eine Öffnung der Märkte zwischen der EU und Japan den Interessenträgern bringen würde. Der EWSA fordert die beiden Seiten in diesem Zusammenhang auf, die Transparenz und die Informationsmaßnahmen im Rahmen der Verhandlungen durch die Schaffung eines offiziellen Konsultationsverfahrens zu verbessern, um die Zivilgesellschaft auf dem Laufenden zu halten. In weiterer Folge ist im Rahmen des Abkommens ein Konsultationsgremium einzurichten. Darüber hinaus weist der EWSA darauf hin, dass europäische und japanische Unternehmen bereits jetzt das Wirtschaftsdiskussionsforum EU-Japan (EU-Japan Business Round Table) als Plattform für die Einbindung und Konsultation nutzen können.

1.2   Empfehlungen

1.2.1

Der EWSA fordert nachdrücklich, über die Überarbeitung der Folgenabschätzung aus dem Jahr 2012 umfassend informiert zu werden. Des Weiteren fordert er, ihn so rasch wie möglich über den Zeitplan für die Umsetzung und insbesondere die Angleichung der technischen Normen in Kenntnis zu setzen. Seiner Auffassung nach müsste vor einem etwaigen Beschluss ein Dokument mit mehr Einzelheiten als in der Folgenabschätzung in allen EU-Amtssprachen veröffentlicht werden.

1.2.2

Der EWSA fordert mit Nachdruck von der EU, alles daran zu setzen, um sicherzustellen, dass:

die von ihr weltweit vertretenen Werte in diesem Abkommen Niederschlag finden, die ökologischen, sozialen, gesundheitlichen und kulturellen Standards gewahrt bleiben und die Vorteile des Abkommens den Bürgerinnen und Bürgern, den Verbrauchern, Arbeitnehmern und den Unternehmen gleichermaßen zugutekommen;

sich die beiden Vertragsparteien nicht nur beim Abbau der Zollschranken ehrgeizig zeigen, sondern auch beim Abbau der nichttarifären Handelshemmnisse, während sie sich gleichzeitig bemühen, eine hohe regulatorische Übereinstimmung zu erzielen, ohne die Standards und Normen zu verwässern oder das Beschäftigungsniveau zu senken, und zwar unter umfassender Anwendung des Gegenseitigkeitsprinzips und ohne das EU-Engagement für den Multilateralismus im Rahmen der WTO zu schwächen;

beide Seiten die entscheidende Bedeutung einer umfassenden Berücksichtigung der Interessen und der Gesundheit der Verbraucher anerkennen;

das Vorsorgeprinzip in dem Abkommen festgeschrieben und beim Handel mit Agrarerzeugnissen und Lebensmitteln für Rechtssicherheit bezüglich der Frage der europäischen und japanischen geografischen Angaben gesorgt wird;

ein Kapitel den KMU gewidmet wird, die sowohl in der EU als auch in Japan 99 Prozent aller Unternehmen ausmachen und die meisten Arbeitsplätze schaffen, weshalb sich die KMU eine Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit und einen Abbau der Hemmnisse erwarten würden. Ziel ist eine Verbesserung des wechselseitigen Marktzugangs sowie eine umfassende Information über neue Geschäftschancen, die sich voraussichtlich durch dieses Abkommen bieten werden;

aufbauend auf bereits existierende EU-Abkommen ein starkes und positives Kapitel mit ausreichenden Garantien zu Dienstleistungen aufgenommen wird, was eine große Chance in diesen Verhandlungen darstellt;

die Besonderheit der öffentlichen Dienstleistungen in der EU nach Maßgabe der EU-Verträge gewahrt bleibt;

für beide Seiten, wo immer dies angezeigt erscheint, ein gleichberechtigter Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen unter Gewährleistung der Rechtssicherheit sichergestellt wird;

das Recht beider Seiten bekräftigt wird, in den Bereichen nachhaltige Entwicklung, Beschäftigung und Umwelt Vorschriften zu erlassen sowie Prioritäten und politische Maßnahmen festzulegen;

zu diesem Zweck ein ehrgeiziges Kapitel zur nachhaltigen Entwicklung in das Abkommen aufgenommen wird, in dem der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle eingeräumt wird und das zumindest folgende Punkte beinhaltet:

Einhaltung der Verpflichtungen, die sich für beide Seiten aus ihrer ILO-Mitgliedschaft und den acht ILO-Grundlagenübereinkommen als Mindestanforderungen ergeben;

Absichtserklärung bezüglich der Förderung und der Umsetzung von Umweltvorschriften und -initiativen;

Absichtserklärung bezüglich der nachhaltigen Bewirtschaftung von Ressourcen und ihrer Nutzung in Übereinstimmung mit den internationalen Übereinkommen.

Die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten ist ein sehr heikles Problem, und die betreffenden Akteure vertreten unterschiedliche Ansichten. Der EWSA begrüßt daher die von der Kommission im Zusammenhang mit den transpazifischen Handelsverhandlungen lancierte Konsultation der Öffentlichkeit und sieht deren Ergebnissen mit großem Interesse entgegen (1). Er ist der Auffassung, dass angesichts der Solidität der japanischen Demokratie das Einholen des Standpunkts der Interessenträger zu diesem Thema seitens Japans zur Information sowie zur Erleichterung der Verhandlungen beitragen könnte.

1.2.3

Der Dialog zwischen der japanischen und der europäischen Zivilgesellschaft wird einen wichtigen Beitrag zu dem FHA/WPA leisten. Der EWSA empfiehlt, im Rahmen des WPA/FHA EU-Japan wie bei anderen jüngst von der EU geschlossenen Abkommen ein gemischtes beratendes Gremium einzurichten und dessen Rolle im Zuge der Verhandlungen von Vertretern der Zivilgesellschaft erörtern zu lassen. Diesem muss die Möglichkeit zur Prüfung sämtlicher Bereiche des Abkommens eingeräumt werden, damit er seinen Standpunkt dazu darlegen kann. Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, dass mindestens die Hälfte der Mitglieder aus der EU von ihm als beratender Einrichtung der EU zur Vertretung der Interessen der europäischen organisierten Zivilgesellschaft nominiert wird.

1.2.3.1

Der EWSA verfügt über ausgezeichnete Kontakte zu japanischen Verbänden, die Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Landwirte, Genossenschaften, Verbraucher, den nichtstaatlichen und gemeinnützigen Sektor sowie Hochschulen (2) vertreten. Mit seinem Begleitausschuss EU-Japan ist der EWSA Vorreiter bei der Förderung des Dialogs und der Anhörung der europäischen und der japanischen Zivilgesellschaft.

2.   Erläuterung des Kontexts

2.1.1

Die EU und Japan haben beschlossen, ihre Beziehungen durch die Aufnahme von Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen/Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (FHA/WPA) zu stärken. Parallel dazu wird auch ein Strategisches Partnerschaftsabkommen (SPA) ausgehandelt (3). Der EWSA begrüßt das positive Ergebnis der Überprüfung nach dem ersten Verhandlungsjahr sowie den Beschluss über die Fortführung der Verhandlungen. Sollten sich die Annahmen bewahrheiten, werden die EU-Ausfuhren nach Japan um 30 Prozent steigen, das EU-BIP wird um 0,8 Prozent wachsen und in der EU werden 4 00  000 neue Arbeitsplätze entstehen. Das japanische BIP würde um 0,7 Prozent und die Exporte nach Europa um 24 Prozent steigen. Gleichzeitig wäre das Abkommen ein deutliches Zeichen für die wichtige Rolle Europas als Handels- und Investitionspartner in Ostasien (4).

2.1.2

Die EU und Japan haben zahlreiche Werte und Prinzipien gemeinsam, darunter Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Marktwirtschaft mit großem technischem Know-how. Zudem sehen sie sich auch ähnlichen Herausforderungen (wie z. B. einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung) gegenüber und müssen neue Ressourcen für Wachstum und Beschäftigung erschließen.

2.1.3

Die Einrichtungen der Zivilgesellschaft der EU und Japans und die entsprechenden Verfahren für ihre Anhörung sind zwar nicht völlig deckungsgleich (5), jedoch wäre eine Intensivierung des Dialogs zwischen diesen Einrichtungen ein sehr wichtiger Beitrag zu einem zu schließenden Abkommen. Durch die Schaffung eines institutionellen Rahmens hat die EU den sozialen und den zivilen Dialog zu einem der Eckpfeiler ihres Sozialmodells gemacht, und Japan erkennt die Bedeutung der Zivilgesellschaft im weiteren Sinne des Wortes (Rat für Beschäftigungspolitik, Forum für Interessenträger) an.

2.2

Sowohl in Japan als auch in der EU werden Konjunkturmaßnahmen ergriffen (6). Die japanische Staatsverschuldung beläuft sich immer noch auf etwa 230 Prozent des BIP. Der Yen-Wechselkurs war ungünstig für Einfuhren, und nach der dreifachen Katastrophe von Fukushima ist der Einzelhandel binnen eines Jahres (Februar 2013) um 2,3 Prozent zurückgegangen.

2.2.1

Die bilateralen Freihandelsabkommen öffnen Japan für den Welthandel und tragen zur Schaffung regionaler Integrationszonen bei. Seit 2002 hat das Land zahlreiche bilaterale Abkommen geschlossen, und zwar nicht nur in Asien, sondern auch in Lateinamerika und mit der Schweiz. Derzeit laufen Verhandlungen über ein trilaterales Abkommen mit China und der Republik Korea. Außerdem ist Japan an den Verhandlungen über die Transpazifische Partnerschaft (TPP) beteiligt.

2.2.2

Japan und die EU haben bereits wichtige Abkommen zur Erleichterung der Handelsverfahren in den Bereichen Telekommunikation, chemische und pharmazeutische Erzeugnisse, wettbewerbswidrige Verhaltensweisen, Wissenschaft und Technologie sowie Verwaltungszusammenarbeit und Amtshilfe unterzeichnet (7).

3.   Handel und nachhaltige Entwicklung

3.1

Das Streben nach Wirtschaftswachstum mittels globalisiertem Handel birgt das Risiko von Umweltauswirkungen (8). In seiner Stellungnahme zu den Verhandlungen über neue Handelsabkommen (9) betont der EWSA, wie wichtig es sei, ein Kapitel zu Handel und nachhaltiger Entwicklung in die EU-Handelsverhandlungen vorzusehen sowie Umwelt- und Sozialbestimmungen in ein zu schließendes Abkommen aufzunehmen und der Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle bei der Überwachung einzuräumen.

3.2

Die Verhandlungen über das FHA/WPA EU-Japan bieten beiden Seiten Gelegenheit, ihre Absicht zu bekräftigen, sich auf der internationalen Ebene der Umsetzung der drei Pfeiler der nachhaltigen Entwicklung — Wirtschaftswachstum, sozialer Entwicklung und Umweltschutz zu verschreiben. Diese drei Pfeiler bilden seit der Unterzeichnung des FHA mit der Republik Korea ein zentrales Element aller EU-Handelsverhandlungen (10). Artenvielfalt, Klimawandel, Fischerei, Forstwirtschaft und wilde Fauna und Flora sind für die EU und den Rest der Welt Prioritäten. Die Parteien sollten ihr Bekenntnis zu multilateralen Umweltübereinkommen erneuern.

3.3

In einem neuen Abkommen sollte das Recht der EU-Mitgliedstaaten und Japans bekräftigt werden, Vorschriften zu erlassen und Prioritäten im Bereich der nachhaltigen Entwicklung festzulegen. Zudem sollten beide Seiten angehalten werden, die arbeits- und umweltrechtlichen Bestimmungen im Einklang mit den von ihnen eingegangenen internationalen Verpflichtungen und den von ihnen unterzeichneten einschlägigen Übereinkommen einzuhalten.

3.4

Das FHA/WPA (11) bietet Gelegenheit, diese Verpflichtungen zu bekräftigen (mögliche Ratifizierung und wirksame Umsetzung der ILO-Übereinkommen) (12) und den bilateralen Dialog und die bilaterale Zusammenarbeit in arbeitsrechtlichen Fragen einschließlich der von der Agenda für menschenwürdige Arbeit abgedeckten Bereiche auszuweiten.

3.4.1

Als Vertreter der gesamten europäischen Zivilgesellschaft betont der EWSA, dass möglicherweise nicht alle Mitgliedstaaten und nicht alle Branchen gleichermaßen (13) von dem Freihandels-/Wirtschaftspartnerschaftsabkommen profitieren werden (14).

3.4.2

Während im Elektromaschinenbau, in der Land- und Forstwirtschaft, der Fischerei, der Lebensmittelerzeugung, im Versicherungswesen und in der Baubranche in der EU ein (prozentualer) Beschäftigungszuwachs erwartet wird, ist von einem leichten Rückgang in der Chemieindustrie, der Automobilbranche, der Metallindustrie und -verarbeitung sowie im Flugverkehr auszugehen (15). Diese Schwierigkeiten müssen früh erkannt werden, um entsprechende Unterstützungs- und Umschulungsmaßnahmen zu ergreifen. Es kommt darauf an sicherzustellen, dass sowohl die Unternehmen als auch die Arbeitnehmer, die Verbraucher und weitere Teile der Zivilgesellschaft profitieren und es nicht zu erheblichen Verwerfungen kommt und dafür die Möglichkeit eines Ausgleichs geschaffen wird (16).

4.   Konsultation der Zivilgesellschaft

4.1   Information und Transparenz

4.1.1

Der EWSA begrüßt, dass er im Rahmen seiner Befugnisse ein wichtiger Partner der Kommission ist, bedauert jedoch die mangelnde Transparenz in den laufenden Verhandlungen, auf die die Interessenträger auf beiden Seiten hinweisen. Das Mandat der Kommission wurde nicht offengelegt, obwohl Verhandlungen weitestgehend offen und transparent geführt werden sollten. Zahlreiche japanische und europäische Organisationen der Zivilgesellschaft beklagen, dass sie nur bruchstückhafte Informationen über die Verhandlungen erhalten hätten. Dies beeinflusst den Inhalt der Verhandlungen und die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft, sich in dieser Frage Gehör zu verschaffen. Wie wir wissen würde die Einbeziehung der Zivilgesellschaft nicht nur das gegenseitige Verständnis fördern, sondern auch die Qualität der laufenden FHA/WPA-Verhandlungen in puncto Sachverstand verbessern.

4.1.2

Die Bürgerinnen und Bürger der EU fordern die Einhaltung der EU-Verträge ein, in denen das Transparenzprinzip festgeschrieben ist. Der EWSA fordert, die Dokumente künftig ehestmöglich den relevanten Interessenträgern zugänglich zu machen.

4.1.3

Angesichts der von der Öffentlichkeit in Europa erhobenen legitimen Forderung nach voller Transparenz in den Handelsverhandlungen verlangt der EWSA von Rat und Kommission die strikte und kohärente Anwendung von Artikel 218 AEUV, insbesondere Absatz 10, der wie folgt lautet: „Das Europäische Parlament wird in allen Phasen des Verfahrens unverzüglich und umfassend unterrichtet“.

4.1.4

Der EWSA empfiehlt der Kommission, für die Verhandlungen über das FHA/WPA EU-Japan ein Verfahren zur Anhörung der Zivilgesellschaft in Anlehnung an das Verfahren bei den TTIP-Verhandlungen einzurichten (Sitzungen mit Interessenträgern nach jeder Verhandlungsrunde, Einrichtung einer Beratungsgruppe mit Vertretern der Zivilgesellschaft, in der auch EWSA-Mitglieder vertreten sein sollten). Der EWSA weist zudem darauf hin, dass es ein solches Verfahren auch für die transpazifischen Verhandlungen zwischen den USA und Japan gibt.

4.2   Konsultation

4.2.1

Wie vorstehend bereits betont beinhalten alle von der EU in jüngster Zeit geschlossenen FHA ein Kapitel zu Handel und nachhaltiger Entwicklung (17), in dem der Zivilgesellschaft — unabhängigen und repräsentativen Organisationen mit einer ausgewogenen Vertretung von Unternehmen, Arbeitnehmern und anderen Interessenträgern — eine Schlüsselrolle bei der Überwachung eingeräumt wird. Der EWSA unterstützt die Anstrengungen der Kommission für die Aufnahme eines solchen Kapitels in dem Abkommen mit Japan.

4.2.2

Die japanischen Behörden möchten ein stabiles Wachstum dank einer nachhaltigen Entwicklung schaffen (siehe „Abenomics“ (18)). Die von Japan mit seinen asiatischen Partnern geschlossenen FHA umfassen Bestimmungen zur Schaffung eines Unterausschusses, der verfolgen soll, wie sich die Abkommen auf das Unternehmensumfeld auswirken. Auch wenn der Zuständigkeitsbereich und die Modalitäten nicht dieselben sind, sind die Europäische Union und Japan mit dem Grundsatz der Abschätzung der Folgen von FHA vertraut, weshalb der EWSA sie nachdrücklich dazu anhält, ein ambitioniertes Kapitel zu Handel und nachhaltiger Entwicklung aufzunehmen.

4.2.3

Die japanische Regierung hat eine Reihe interner, multilateraler Ausschüsse eingesetzt, um die nationalen Unternehmen zu den Auswirkungen von FHA auf ihr Geschäftsumfeld zu konsultieren, und es gibt beratende Einrichtungen, um zum einen Vertreter der Regierung und der Genossenschaften und zum anderen Regierungs- und Gewerkschaftsvertreter zusammenzubringen. Darüber hinaus gibt es weitere Gremien für breit angelegte Konsultationen, wie das Forum für Interessenträger zur sozialen Verantwortung für eine nachhaltige Zukunft (19) oder den Rat für Beschäftigungspolitik.

4.3

Schwerpunkte des Wirtschafts- und Sozialmodells der EU sind „beispielsweise solide institutionelle Strukturen für die Politik in den Bereichen Wirtschaft, Beschäftigung, Soziales und Umwelt (...), starke Strukturen für den sozialen Dialog und den Dialog mit der Zivilgesellschaft sowie Investitionen in Humankapital und die Beschäftigungsqualität“ (20). Der Ausschuss stellt fest, dass dieses Modell die Werte der EU zum Ausdruck bringt und dass sämtliche Institutionen dieses in all ihren Maßnahmen propagieren müssen.

4.3.1

Der EWSA bekräftigt die internationalen Verpflichtungen, die die EU eingegangen ist (21):

Gewährleistung einer besseren Einbindung der Sozialpartner und der weiteren Vertreter der Zivilgesellschaft in die globale Ordnungspolitik (WTO), die Politikgestaltung und die Überwachung der Umsetzung von Handelsabkommen;

Förderung der europäischen Werte im Zeitalter der Globalisierung (22).

4.3.2

Im Hinblick auf das Freihandelsabkommen mit Japan hat das Europäische Parlament der Kommission empfohlen, den Schwerpunkt auf die Kernarbeitsnormen zu legen und ein ehrgeiziges Kapitel zur nachhaltigen Entwicklung sowie ein Forum der Zivilgesellschaft vorzusehen, das die „Umsetzung des Kapitels [...] überwacht und kritisch begleitet“. Der EWSA fordert nachdrücklich, dass er konsultiert wird und diese Empfehlungen umgesetzt werden.

4.4

Der EWSA erinnert die Kommission daran, dass sie in ihrem Handbuch zur „Transparenz in den Verhandlungen über Handelsabkommen“ selbst festgehalten hat, dass ihre Arbeiten nur dann von Erfolg gekrönt sein können, wenn sie den Erwartungen der Europäerinnen und Europäer entsprechen und den Standpunkten der Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle in der Phase der Vorbereitung der Verhandlungen zukommt (23).

Der EWSA fordert, dass:

die Kommission die Rolle des EWSA anerkennt und ihn über sämtliche Aspekte des Verhandlungsprozesses informiert;

ein regelmäßiger Dialog zwischen dem Parlament, der Kommission und dem EWSA während des gesamten Verhandlungsprozesses eingerichtet werden kann;

die Zivilgesellschaft in den gesamten Verhandlungsprozess eingebunden wird;

die Kommission in dem Abkommen Folgendes vorsieht:

Einsetzung eines gemeinsamen Überwachungsverfahrens unter Einbindung der europäischen und der japanischen Zivilgesellschaft in der Umsetzungsphase;

interne beratende Einrichtungen die jeder Partei und den gemeinsamen politischen Behörden sowie den gemeinsamen Behörden des Abkommens Stellungnahmen und Empfehlungen übermitteln und Ersuchen von anderen Interessenträgern erhalten (insbesondere über das Kapitel nachhaltige Entwicklung) und diese zusammen mit ihren Stellungnahmen und Empfehlungen übermitteln können;

die Möglichkeit, eine Konsultation oder Streitbeilegung zu beantragen, wenn die Ziele des Kapitels zu nachhaltiger Entwicklung nicht erreicht werden;

ein gemeinsames Organ der europäischen und der japanischen Zivilgesellschaft, das als Gremium für regelmäßige und strukturierte Dialog- und Kooperationsformen sowie für einen Austausch mit europäischen und japanischen Regierungsvertretern dient.

4.5

Nahezu alle Vertreter der konsultierten europäischen und japanischen Zivilgesellschaft (24) haben sich für die Schaffung eines gemeinsamen Begleitorganes im Rahmen des künftigen Freihandelsabkommens ausgesprochen.

4.5.1

Es müssen Kontrollmechanismen unter Berücksichtigung der bestehenden Strukturen und der bisherigen Erfahrungen in der EU und in Japan entwickelt werden. Der EWSA wünscht, an der Festlegung der Rolle, des Aufgabenbereichs und der Zusammensetzung der beratenden Gruppe der EU sowie des gemeinsamen Kontrollgremiums beteiligt zu werden. Sämtliche Interessenträger müssen konsultiert werden, und der EWSA muss hierbei eine grundlegende Rolle spielen.

4.5.2

Ein strukturierter Dialog zwischen den Vertretern der Zivilgesellschaft der EU und Japans wird das FHA/WPA um eine wichtige Dimension — auch kultureller Natur — erweitern. Nach Ansicht des EWSA ist es ganz entscheidend, enge Kontakte mit den japanischen Partnern zu pflegen, um zu gewährleisten, dass die Form, der Aufgabenbereich und die Zusammensetzung eines künftigen gemeinsamen Kontrollverfahrens den Erwartungen beider Parteien entspricht.

5.   Kernpunkte

5.1   Verhandlungen

5.1.1

Der EWSA begrüßt, dass die Verhandlungen aufgrund des positiven Fortschrittsberichts des Rates der EU vom Juni 2014 fortgeführt werden können (25).

5.1.2

Ziel des Abkommens sind eine Erleichterung des Marktzugangs, die Gewährleistung eines kohärenten Regelwerks und somit die Ausdehnung des Handelsvolumens und der Investitionen. Das Abkommen sollte das nachhaltige Wachstum und die Schaffung neuer und besserer Arbeitsplätze beschleunigen, den Verbrauchern mehr Wahlmöglichkeiten bieten und die Wettbewerbsfähigkeit sowie die Produktivität der beiden Volkswirtschaften erhöhen.

5.1.3

Priorität hat für die EU die Beseitigung nichttarifärer Hemmnisse. In ihrer Folgenabschätzung  (26) weist die Kommission darauf hin, dass diese Hemmnisse oftmals kulturellen Ursprungs sind und protektionistische Auswirkungen haben. Der EWSA stellt fest, dass Fortschritte dabei nur mühsam erreicht werden, wenn diese Hemmnisse auf Normen beruhen, die sich laufend verändern, auch wenn sie auf höchster Ebene festgelegt werden. Manchmal schützen diese gesamte Branchen, wie etwa die japanische Eisenbahn.

5.2   Warenhandel

5.2.1

Die Beseitigung der Zollschranken muss sämtliche Erzeugnisse betreffen, ohne Ausnahme auch Agrarerzeugnisse, verarbeitete Agrarerzeugnisse, Fahrzeuge, die als „sensible“ Waren eingestuft wurden, sowie chemische und pharmazeutische Produkte, wobei entsprechende Übergangsfristen vorzusehen sind.

5.2.2

Der Handel würde von der gegenseitigen Anerkennung zertifizierter Produkte mit vergleichbaren bzw. gleichwertigen Produktnormen sowie von der Zusammenarbeit bei der Harmonisierung der Rechtsvorschriften und — wo möglich — der Systeme profitieren. Nichtsdestoweniger wird es entscheidend darauf ankommen, dass eine solche Zusammenarbeit zur Etablierung neuer globaler Standards und nicht zu einer Aufweichung von Standards führt.

5.2.3

Nichttarifäre Hemmnisse, die die EU-Ausfuhren bremsen, werden als versteckte protektionistische Maßnahmen eingesetzt. Sie müssen abgebaut bzw. abgeschafft werden, insbesondere da, wo sie bereits im Zuge der Verhandlungen ausgemacht werden, und die Standards müssen an die internationalen Standards angeglichen werden.

5.3   KMU

5.3.1

Sowohl in Japan als auch in Europa sind 99 Prozent der Unternehmen KMU, die 70 bis 80 Prozent der Arbeitsplätze schaffen — daher fordert der EWSA die Kommission dazu auf, diesen Unternehmen besonderes Augenmerk zu widmen.

5.3.2

Da KMU aufgrund ihrer Größe nur über beschränkte Ressourcen verfügen — und diese Beschränkung auch für den Umgang mit Rechtsvorschriften und Handelsbestimmungen gilt — ist zu erwarten, dass sie von einem FHA/WPA EU-Japan profitieren werden, und zwar insbesondere von der Vereinfachung der Vorschriften und der Senkung der Verwaltungskosten. Sie brauchen jedoch Unterstützung bei der Überwindung der Hürden, die im Zusammenhang mit jedwedem internationalen Engagement auftreten: Sprachbarrieren, unterschiedliche Geschäftskultur, hohe Transportkosten, Mangel an entsprechend qualifiziertem Personal, Informationen über die Auslandsmärkte und fehlende Finanzressourcen.

5.3.3

Um die Vorteile aus dem FHA/WPA EU-Japan bestmöglich nutzen zu können, wird es entscheidend darauf ankommen, dass beide Parteien sich um eine bessere Information der KMU über die Unterstützungsleistungen (27) und bestehenden Förderprogramme bemühen, die vom Zentrum für industrielle Zusammenarbeit EU-Japan (28) und vom japanischen Außenhandelsamt (29) angeboten werden, und zwar insbesondere über die neuen Geschäftschancen, die dieses Abkommen eröffnen sollte. Für europäische KMU könnten etwa folgende japanische Branchen von Interesse sein: IKT, Gesundheitsdienste (30), Dienstleistungen, erneuerbare Energie, Bio-Lebensmittel (31) sowie Delikatessen.

5.4   Die Agrar- und Ernährungsindustrie

5.4.1

Die Marktliberalisierung würde den Erzeugnissen der Lebensmittelindustrie beider Partner neue Möglichkeiten eröffnen (200-prozentige Steigerung); allerdings ist die Landwirtschaft eines der umstrittensten Kapitel dieser Verhandlungen. Die japanische Landwirtschaft kann die Versorgung des Landes nur zu 40 Prozent gewährleisten und zeigt sich besonders besorgt. Die Landwirte fordern, dass fünf Produktgruppen in jeglichen Verhandlungen mit anderen Staaten von den Zollbeschränkungen ausgenommen werden: Reis, Rind- und Schweinefleisch, Milch und Milchprodukte, Weizen und Gerste sowie Zucker und Süßstoffe. Nach Ansicht der EU würde die Möglichkeit, größere Mengen verarbeiteter Lebensmittel zu exportieren, eine große Chance bieten, vor allem, wenn Japan die meisten seiner nichttarifären Hemmnisse abbauen würde.

5.4.2

Nach Auffassung des EWSA sollte die Frage der Rechte des geistigen Eigentums (RGE) (32) im Hinblick auf einen angemessenen Schutz europäischer Innovationen im Freihandelsabkommen behandelt werden. Die Frage der geschützten geografischen Angaben (GGA) ist ein Knackpunkt in den Gesprächen. Der geistige Schutz hochwertiger landwirtschaftlicher Erzeugnisse kann ein verschleiertes Einfuhrhemmnis darstellen. Im Rahmen der WTO hatten die EU und Japan bereits eine andere Haltung eingenommen: Die EU wollte den Bereich der GGA hin zu einem obligatorischen, hohen Schutzniveau ausweiten (TRIPS-Übereinkommen — Vorschlag der EU von 1998); Japan schlug zusammen mit den Vereinigten Staaten (1999) vor, dass die Mitglieder der WTO ihre geografischen Angaben mitteilen, um eine — nicht verbindliche — Datenbank als Informationsquelle für die anderen Mitglieder aufzubauen. Nach Ansicht des EWSA muss diese große Herausforderung in den Verhandlungen umsichtig behandelt werden.

5.5   Dienstleistungen

5.5.1

In Japan spielen Genossenschaften, die Versicherungen auf Gegenseitigkeit und Bankdienstleistungen anbieten, sowohl für die Landwirte als auch die Verbraucher eine wichtige Rolle. Diese empfinden die Liberalisierung im Dienstleistungssektor als Bedrohung, während sie von vielen anderen als große Chance gesehen wird, nicht zuletzt für die sogenannte Seniorenwirtschaft. Dienstleistungen bieten eine entscheidende Chance für eine erhebliche Steigerung des Handelsvolumens.

5.5.2

In Brutto-Zahlen ausgedrückt hat die EU-27 2012 Dienstleistungen im Wert von 24,2 Milliarden Euro nach Japan exportiert, während sich die aus Japan importierten Dienstleistungen auf 15,6 Milliarden Euro beliefen, woraus sich ein Handelsbilanzüberschuss von 8,6 Milliarden Euro der EU-27 ergibt (dabei darf natürlich nicht außer Acht gelassen werden, dass Japan vier Mal weniger Einwohner hat als die EU). Fast alle konsultierten Verbände, die sich zur Liberalisierung von Dienstleistungen geäußert haben, sprachen sich gegen die „Negativliste“ aus, der zufolge alle Dienstleistungen, die nicht explizit im Abkommen angeführt werden, für den Freihandel freigegeben werden können. Während Landwirte und Verbraucher die „Negativliste“ ablehnen, wird sie von der Wirtschaft sehr befürwortet. Für die Behörden würde eine solche Negativliste eine Einschränkung ihres Handlungsspielraums bedeuten. Für künftige Dienstleistungen würde automatisch der Freihandel gelten. Der EWSA spricht sich für das uneingeschränkte Recht von Staaten aus, im öffentlichen Interesse Vorschriften zu erlassen.

5.6   Öffentliches Auftragswesen

5.6.1

Für die europäischen Unternehmen ist es wesentlich, durch die Beseitigung normativer Hemmnisse, die Einrichtung für alle Akteure gleicher und transparenter Verfahren und Informationen, durch die Abschaffung der erheblichen Beschränkungen auf dem Schienenverkehrsmarkt sowie die Schaffung eines Online-Informationssystems Zugang zum öffentlichen Auftragswesen Japans zu gewinnen. Über den erklärten politischen Willen hinaus bedarf es für die konkreten Verhandlungen einer Stabilität der Rechtsvorschriften.

5.6.2

Der Wechselseitigkeit beim fairen Wettbewerb wird entscheidende Bedeutung zukommen. Nach Auffassung des EWSA müssen die Arten von Genehmigungen, die sowohl von japanischer als auch von europäischer Seite für staatliche Beihilfen und Subventionen anzuwenden sind, in dem Abkommen klar festgelegt werden.

5.6.3

Der EU, den Mitgliedstaaten und Japan muss weiterhin die Möglichkeit offen stehen, im Rahmen demokratischer Prozesse festgelegte Ziele von allgemeinem Interesse in Bereichen wie Soziales, Umweltschutz und öffentliche Gesundheit zu fördern. Die EU hat vertraglich festgelegte Verpflichtungen im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen.

5.7   Investitionen  (33)

5.7.1

2012 beliefen sich die ausländischen Direktinvestitionen (ADI) der EU-27 in Japan auf 434 Millionen Euro, jene Japans in der EU-27 auf 3  374 Millionen Euro (34). Da eines der Grundprinzipien von FHA/WPA in Gegenseitigkeit besteht, ruft der EWSA die Kommission dazu auf, aufmerksam zu beobachten, ob es aufgrund des Abkommens zu Arbeitsplatzverlusten kommt, und gegebenenfalls Mittel aus dem Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung einzusetzen, um diese Verluste auszugleichen. Der EWSA ist ferner der Ansicht, dass sich die Notwendigkeit ergeben könnte, für die Verluste der Unternehmen in puncto Humanressourcen und Technologien, für die es früher Zuschüsse der öffentlichen Hand gab, einen angemessenen Ausgleich zu schaffen.

5.7.2

Die EU und Japan sollten ihre jeweiligen Bestimmungen über Einschränkungen bezüglich des Eigentums, der Genehmigungen und Kontrollen und der Erleichterung von Investitionen überprüfen.

5.7.3

Der EWSA weist darauf hin, dass es sowohl in Japan als auch in der EU gesetzlich, aber auch gerichtlich möglich ist, Streitigkeiten im Rahmen ordentlicher Verfahren auf faire Weise beizulegen; die EU-Mitgliedstaaten und Japan bieten den Investoren eine breite Palette institutioneller und rechtlicher Garantien. Die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten ist ein sehr heikles Problem, und die betreffenden Akteure vertreten unterschiedliche Ansichten. Der EWSA begrüßt daher die von der Kommission im Zusammenhang mit den transpazifischen Handelsverhandlungen lancierte Konsultation der Öffentlichkeit und fände es begrüßenswert, wenn diese auch auf Japan und die japanischen Interessenträger ausgeweitet würden.

5.7.4

Der EWSA schlägt vor, eine breite Debatte über Streitbeilegung zu führen, sobald die Verfahren festgelegt sind und die Ergebnisse von der Kommission evaluiert wurden. Der EWSA erarbeitet zu diesem Thema bereits eine gesonderte Stellungnahme.

5.7.4.1

Auf jeden Fall dürfen Bestimmungen zur Beilegung von Streitigkeiten über Investitionen die EU-Mitgliedstaaten nicht in ihrer Fähigkeit beschneiden, Regeln im öffentlichen Interesse aufzustellen und Ziele öffentlicher Politik zu verfolgen. Die Begriffe „Investition“ sowie „faire und ausgewogene Behandlung“ müssen klar definiert werden, was im Rahmen der Verhandlungen erfolgen sollte.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  EWSA-Stellungnahme REX/390 (EESC-2013-05469) vom 4.6.2014, Berichterstatter: Jacek Krawczyk, Mitberichterstatter: Sandy Boyle.

(2)  Mit finanzieller Unterstützung der EU wurden in Japan vier EU-Institute (Universitätskonsortien) gegründet; in Japan gelten Hochschullehrer als Interessenträger der Zivilgesellschaft (http://www.eeas.europa.eu/eu-centres/eu-centres_en.pdf).

(3)  Das SPA umfasst eine Zusammenarbeit auf der politischen, globalen und branchenspezifischen Ebene (z. B. in den Bereichen Forschung, Innovation, Weltraum, Bildung, Kultur, Energie, Entwicklungszusammenarbeit, Katastrophenmanagement usw.).

(4)  Europäische Kommission, Impact Assessment Report on EU-Japan trade relations, Ziffer 5.1.3 vom Juli 2013.

(5)  ABl. C 97/34 vom 28.4.2007, S. 34.

(6)  Die als „Abenomics“ bezeichneten „drei Pfeile“ des japanischen Premierministers Shinzō Abe umfassen Maßnahmen in drei Schlüsselbereichen: Währungspolitik, fiskalpolitische Stimuli sowie Strukturreformen, wodurch ein langfristiges, nachhaltiges Wachstum der japanischen Wirtschaft gewährleistet und private Investitionen gefördert werden sollen.

(7)  Folgende Abkommen wurden unterzeichnet: Abkommen über die gegenseitige Anerkennung EU-Japan; Abkommen über die Zusammenarbeit bei wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen; Wissenschafts- und Technologieabkommen; Abkommen über Zusammenarbeit und gegenseitige Amtshilfe.

(8)  COM(2006) 567 final, http://europa.eu/legislation_summaries/external_trade/r11022_de.htm

(9)  ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 82-89.

(10)  Siehe Freihandelsabkommen EU-Korea, Kapitel 13 (ABl. L 127 vom 14.5.2011, S. 62-65).

(11)  Siehe insbesondere das Freihandelsabkommen EU-Korea, Artikel 13.4.3 (ABl. L 127 vom 14.5.2011, S. 62-65).

(12)  Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98 zur Vereinigungsfreiheit und zum Recht auf Kollektivverhandlungen; Nr. 29 und Nr. 105 zur Abschaffung der Zwangs- und Pflichtarbeit; Nr. 138 und Nr. 182 zur Abschaffung der Kinderarbeit sowie Nr. 100 und Nr. 111 zur Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf.

(13)  Mitteilung der Kommission COM(2010) 343 final.

(14)  Ebenda, Ziffern 5.2.2, 5.3 und 5.6.2.

(15)  Europäische Kommission, Impact Assessment Report on EU-Japan trade relations, 2012, S. 49.

(16)  Etwa aus dem Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung.

(17)  Artikel 11 und Artikel 21 Absatz 2 Buchstabe f des AEUV.

(18)  „Abenomics“: drei „Pfeile“ zur Ankurbelung der Wirtschaft, siehe http://www.eu.emb-japan.go.jp, http://de.wikipedia.org/wiki/Abenomics, sowie den Artikel von Wolff und Yoshii, Japan and the EU in the global economy, April 2014, abrufbar unter http://bit.ly/1mLgY2r

(19)  http://sustainability.go.jp/forum/english/index.html

(20)  Siehe Die soziale Dimension der Globalisierung, COM(2004) 383 final, vom 18. Mai 2004.

(21)  Siehe Ziffern 2.3 und 3.5 der Kommissionsmitteilung zur menschenwürdigen Arbeit, COM(2006) 249 final, vom Mai 2006.

(22)  Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzes vom 16./17. Dezember 2004, Ziffer 53, sowie vom 16./17. Juni 2005, Ziffer 31.

(23)  Europäische Kommission, Transparency in EU Trade negotiations, 2012 sowie http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2012/june/tradoc_149616.pdf

(24)  Im Rahmen der Anhörung, die am 15. Januar 2014 im EWSA stattfand, sowie im Zuge der Informationsreise nach Japan Ende Januar 2014 wurden insgesamt ca. 40 Verbände, Sozialpartner und weitere Interessenträger konsultiert und deren Standpunkte, Erwartungen und Bedenken bezüglich des künftigen Freihandelsabkommens EU-Japan eingeholt.

(25)  Siehe Ziffer 2 Buchstabe k der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 18./19. Oktober 2012, das der Kommission übertragene Mandat zur Aushandlung eines Freihandelsabkommen mit Japan, Tagung des Rates Auswärtige Angelegenheiten und Handel der EU vom 29. November 2012 sowie die Ratstagung vom 29. Juni 2014.

(26)  Europäische Kommission, 2012, Impact Assessment Report on EU-Japan trade relations, http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2012/july/tradoc_149809.pdf

(27)  http://www.eu-japan.eu/smes-support; http://www.jetro.go.jp/en/database

(28)  http://www.eu-japan.eu/smes-support

(29)  https://www.jetro.go.jp/en/database/

(30)  2050 wird der Bevölkerungsanteil der Über-65-Jährigen in Japan voraussichtlich über 38 Prozent liegen.

(31)  Biolebensmittel machen nur 0,4 Prozent aller in Japan verkauften Lebensmittel aus (Daten des Europäischen Unternehmensrats in Japan).

(32)  ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 28.

(33)  Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon verfügt die Europäische Kommission über Zuständigkeiten im Bereich Investitionen. Sie hat hierzu eine Auf dem Weg zu einer umfassenden europäischen Auslandsinvestitionspolitik betitelte Mitteilung vorgelegt, zu der der EWSA eine gesonderte Stellungnahme (ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 150-154) erarbeitet hat.

(34)  Quelle: Eurostat 170/2013, 18. November 2013.


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/48


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Situation der ukrainischen Zivilgesellschaft im Zusammenhang mit dem Bestreben der Ukraine nach Annäherung an die EU

(Initiativstellungnahme)

(2015/C 012/07)

Berichterstatter:

Andrzej ADAMCZYK

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 27. Februar 2014, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Situation der ukrainischen Zivilgesellschaft im Zusammenhang mit dem Bestreben der Ukraine nach Annäherung an die EU

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 18. September 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 16. Oktober) mit 173 gegen 2 Stimmen bei 15 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss sollte sich aktiv für eine Verbesserung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lage in der Ukraine sowie eine friedliche Lösung des aktuellen Konflikts in den Regionen Donezk und Luhansk einsetzen. Er wird mit seinen Aktivitäten in der Ukraine den Demokratisierungsprozess, die territoriale Einheit sowie den sozialen und zivilen Dialog aller Interessenträger fördern, die öffentlich legitimiert und repräsentativ sind.

1.2

Er beabsichtigt, ein breites Spektrum der ukrainischen Zivilgesellschaft zur Zusammenarbeit einzuladen und auch jene einzubinden, die den jüngsten politischen Veränderungen und der Annäherung an die EU skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen.

1.3

Außerdem empfiehlt sich ein weiterer Ausbau der Zusammenarbeit auf bilateraler Ebene zwischen den Partnerorganisationen in der EU und der Ukraine mit Schwerpunkt auf dem Kapazitätenaufbau, bewährten Vorgehensweisen und der Stärkung des sozialen und zivilen Dialogs.

1.4

Nach Maßgabe des Assoziierungsabkommens soll der EWSA zur Einrichtung einer gemeinsamen Plattform der Zivilgesellschaft bestehend aus EWSA-Mitgliedern und Vertretern der ukrainischen Zivilgesellschaft beitragen. Im Rahmen des Abkommens über eine vertiefte und umfassende Freihandelszone (DCFTA-Abkommen) ist die Schaffung eines zivilgesellschaftlichen Überwachungsmechanismus vorgesehen, sodass ein vergleichbares Gremium eingerichtet werden wird. Die beiden Gremien sollten so eng wie möglich zusammenarbeiten.

1.5

Der EWSA wird Informationsmaßnahmen zu den Auswirkungen der Umsetzung des Assoziierungsabkommens durch die Ukraine sowie zur EU-Integration, zu den EU-Institutionen und zum EU-Besitzstand erarbeiten.

1.6

Die Visumpflicht sollte für ukrainische Staatsbürger so rasch, als dies technisch möglich ist, aufgehoben werden, um die Kontakte zwischen den Menschen zu fördern und Vertrauen aufzubauen.

1.7

Eine europäische Perspektive für die Ukraine sollte formell in die EU-Agenda aufgenommen werden.

2.   Östliche Partnerschaft: die östliche Dimension der Europäischen Nachbarschaftspolitik als institutioneller Rahmen für das Bestreben der Ukraine nach Annäherung an die EU

2.1

Auslöser der dramatischen Ereignisse, die die Ukraine in den vergangenen Monaten erschüttert haben, war die Reaktion der Öffentlichkeit auf den Beschluss der Regierung, die Vorbereitungen für die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens im Rahmen der Östlichen Partnerschaft (ÖstP) auszusetzen.

2.2

Neben dem Abschluss bilateraler Assoziierungsabkommen, die die Partnerschafts- und Kooperationsabkommen ersetzen sollen, sind im Rahmen der bilateralen Maßnahmen der ÖstP auch die Aufhebung der Visumpflicht sowie die Entwicklung der sektoralen Zusammenarbeit vorgesehen, einschließlich der Möglichkeit für die Partnerländer, sich an EU-Programmen und -Agenturen zu beteiligen. Des Weiteren umfasst die ÖstP ein Programm für den Institutionsaufbau (CIB), ein Instrument zur Stärkung der Verwaltungskapazität der Partnerländer im Hinblick auf die Umsetzung der Reformvorhaben und der Bestimmungen der Assoziierungsabkommen. Die multilaterale Dimension der ÖstP beruht auf vier multilateralen Plattformen (Demokratie, verantwortungsvolle Regierungsführung und Stabilität; wirtschaftliche Integration und Konvergenz mit EU-Politiken; Energiesicherheit sowie Kontakte zwischen den Menschen), die die Zusammenarbeit zwischen der EU und den Partnerländern sowie jene zwischen den Partnerländern untereinander stärken sollen.

2.3

Eine der Prioritäten der ÖstP ist die Einbindung der organisierten Zivilgesellschaft in die Umsetzung der ÖstP, und zwar sowohl in den Partnerländern als auch in der EU. Zu diesem Zweck wurde im November 2009 unter Beteiligung des EWSA das Forum der Zivilgesellschaft der Östlichen Partnerschaft eingerichtet.

2.4

Die Politik der Östlichen Partnerschaft steht jedoch nun aufgrund des unerwarteten Richtungswechsels im Engagement einiger Staaten und wegen der dramatischen Ereignisse in der Ukraine am Scheideweg. Die Schwierigkeiten, die im vergangenen Jahr in der ÖstP in jenen Ländern aufgetreten sind, die bislang die größten Fortschritte auf dem Weg zur Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens erzielt haben, sind weitgehend auf Winkelzüge Russlands zurückzuführen, das eine engere Anbindung der Partnerländer an die EU verhindern will.

2.4.1

Obwohl die Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen einschließlich des DCFTA-Abkommens mit Armenien abgeschlossen wurden, konnten beide Vertragstexte nicht paraphiert werden, weil Armenien im September 2013 ankündigte, dass es der von Russland initiierten Eurasischen Zollunion beitreten wolle.

2.4.2

Georgien will trotz des russischen Drucks und des Verlusts zweier seiner Provinzen (Abchasien und Südossetien), die derzeit von Russland kontrolliert werden, seinen EU-Kurs fortsetzen und hat das Assoziierungsabkommen einschließlich des DCFTA-Abkommens auf dem ÖstP-Gipfel in Vilnius im November 2013 paraphiert und im Juni 2014 unterzeichnet.

2.4.3

Auch die Republik Moldau, die das in Vilnius paraphierte Assoziierungsabkommen ebenfalls unterzeichnet hat, wird von Russland unter Druck gesetzt, das Streitkräfte in Transnistrien stationiert hat und die Region derzeit kontrolliert. Mit russischer Unterstützung wurde zudem ein rechtswidriges Referendum in Gagausien, einem weiteren autonomen Gebiet der Republik Moldau, abgehalten, bei dem der Beitritt zur Eurasischen Zollunion befürwortet wurde.

2.4.4

Da die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation WTO Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen über ein tiefgreifendes und umfassendes Freihandelsabkommen ist, können mit den Nicht-WTO-Mitgliedern Aserbaidschan und Weißrussland keine Verhandlungen über ein solches Abkommen aufgenommen werden. Aufgrund des erheblichen Demokratiedefizits in Weißrussland bleiben die bilateralen Beziehungen der EU zu diesem Land außerdem auf einen kritischen Dialog beschränkt.

2.4.5

Die Ukraine — die nach Russland größte und wichtigste ehemalige Sowjetrepublik — hat aufgrund ihrer Hinwendung zur EU die Kontrolle über die Krim und Sewastopol verloren, die von Russland annektiert wurden, und sieht sich weiteren russischen Sabotageakten und Destabilisierungsversuchen gegenüber. Das Verhalten Russlands ist ein besonders dramatisches Beispiel für eine Einmischung von außen, die nicht nur die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine bedroht, sondern sich auch extrem negativ auf die Zivilgesellschaft und ihre Organisationen auswirkt. Diese Vorgehensweise stellt nicht nur einen klaren Verstoß gegen das Völkerrecht dar, sondern läuft auch den zwei Grundsätzen zuwider, die die Eckpfeiler für friedliche Beziehungen zwischen unabhängigen Staaten bilden: Erstens dürfen Grenzänderungen nicht gewaltsam durchgesetzt werden und zweitens haben Staaten das Recht, souverän und ohne äußere Einmischung über ihre Zukunft zu entscheiden.

3.   Das Bestreben der ukrainischen Zivilgesellschaft nach Annäherung an die EU

3.1

Die Orange Revolution 2004 gab den Anstoß für einen umfassenden Demokratisierungsprozess sowie die Einführung rechtsstaatlicher Prinzipien (zumindest für einen gewissen Zeitraum) und der Medienfreiheit in der Ukraine, die auch heute noch gewährleistet ist. Gleichzeitig wurden engere Bande mit der EU geknüpft.

3.1.1

2005 wurde auf der Grundlage des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens EU-Ukraine aus dem Jahr 1998 der Aktionsplan EU-Ukraine angenommen. 2007 wurden die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen aufgenommen. Durch die Annahme der Politik der Östlichen Partnerschaft im Mai 2009 wurde dieser Zusammenarbeit neuer Schwung verliehen.

3.1.2

Die engeren Bande und die Etablierung einer echten Zusammenarbeit in zahlreichen Bereichen sowie der weitverbreitete Enthusiasmus nach der Orangen Revolution bewirkten, dass weite Bevölkerungsteile und viele zivilgesellschaftliche Organisationen eine künftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine als logischen und vorgezeichneten Schlusspunkt einer Entwicklung sahen, dessen Erreichung nur von der Zeitplanung und dem Tempo der Transformation und der Anpassung an die EU-Standards abhänge.

3.1.3

Die ÖstP brachte der Ukraine jedoch nicht die erwartete langfristige EU-Beitrittsperspektive, was zu Enttäuschung und Frustration bei den Anhängern der EU-Integration führte, die aufgrund der schrittweisen Rücknahme der demokratischen Errungenschaften der Orangen Revolution, der sich verschlechternden Wirtschaftslage und der wachsenden sozialen Probleme weiter zunahm.

3.1.4

Weiter verstärkt wurde die Frustration der Öffentlichkeit, die sich bei den Organisationen der Zivilgesellschaft als Apathie bemerkbar machte, durch den sich verschärfenden Konflikt zwischen den Führern der Orangen Revolution, Präsident Viktor Juschtschenko und Premierministerin Julia Timoschenko. Zeitweise lähmte dieser Konflikt wegen der unpraktikablen Bestimmungen der ukrainischen Verfassung die Beschlussfassung. Die globale Wirtschaftskrise verschlimmerte im Zusammenspiel mit den wirkungslosen politischen Maßnahmen des 2010 gewählten Präsidenten Janukowitsch die Situation weiter.

3.2

Der EWSA verfolgt seit Langem eine Politik der aktiven Zusammenarbeit mit der Ukraine. Aufgrund der Verschlechterung des politischen und sozialen Klimas und der Enttäuschung der Partnerorganisationen über die fehlende Beitrittsperspektive stagnierten die Beziehungen 2011-2012 jedoch bis zu einem gewissen Ausmaß, wobei die ukrainische Seite inaktiv war und geringeres Interesse an den Beziehungen zeigte.

3.3

Nach der Paraphierung des Assoziierungsabkommens im Dezember 2012 und den intensiven Bemühungen und Verhandlungen im Hinblick auf eine Unterzeichnung auf dem ÖstP-Gipfel im November 2013 in Vilnius regte sich bei den ukrainischen Partnern neues Interesse an der Zusammenarbeit und einer Wiederaufnahme der aktiven Verbindungen zum EWSA.

3.4

Bei diesen erneuerten Kontakten zeigte sich jedoch, dass die Sozialpartner, und zwar sowohl die Arbeitgeber- als auch die Arbeitnehmerseite, bezüglich der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens uneins sind. Gleichzeitig bildete ein sehr breites Spektrum an nichtstaatlichen Organisationen und anderen Interessenträgern eine relativ geeinte pro-europäische Front.

3.5

Der Abbruch der Gespräche und die Aussetzung der Vorbereitungen für die Unterzeichnung des Abkommens durch die ukrainische Regierung und Präsidialverwaltung überraschten sowohl die Organisationen der Zivilgesellschaft als auch die Regierungsvertreter unabhängig davon, welchen Standpunkt sie vertreten und welchen Ausgang der Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen sie vorhergesagt hatten.

3.6

Der unerwartete und ohne offensichtlichen Grund einige Tage vor dem Gipfel in Vilnius erfolgte Gesprächsabbruch löste gepaart mit dem überraschenden Vorschlag der ukrainischen Regierung, weitere Verhandlungen mit der EU unter Einbindung Russlands zu führen, eine rasche Mobilisierung der ukrainischen Zivilgesellschaft aus, die sich eindeutig für die EU-Integration der Ukraine aussprach.

3.7

„Euromajdan“ war wahrscheinlich die größte pro-europäische Demonstration der Geschichte — und die längste, die jemals mit derartiger Überzeugung abgehalten wurde. Später schlossen sich weitere Kräfte den Demonstranten an, die auch politische Forderungen nach einem Regimewechsel stellten. Dieses reagierte mit gewaltsamer Unterdrückung, die Todesopfer forderte. Die Demonstrationen führten zu den politischen Veränderungen, die in der Folge als Vorwand für die Auslösung weiterer dramatischer und tragischer Ereignisse dienten.

3.8

Nach den erfolgreich durchgeführten Präsidentschaftswahlen scheint nun klar, dass der Aufbau enger Beziehungen zur EU eine der Prioritäten der neuen Regierung sein wird. Dieser Richtungswechsel ist als riesiger Erfolg von Euromajdan und der ukrainischen Zivilgesellschaft zu werten. Es bleibt abzuwarten, ob sich die allgemeine Lage im gesamten Hoheitsgebiet der Ukraine stabilisieren wird und die Organisationen der Zivilgesellschaft von dieser politischen Transformation profitieren werden.

3.9

Solange bewaffnete Söldner und Guerilla-Truppen in der Ostukraine kämpfen und die Meinungsfreiheit in Gefahr ist, wird unklar bleiben, wie die dortige Zivilgesellschaft zum politischen Wandel im Land steht. In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Osten auf dem Euromajdan stark vertreten war.

4.   Auswirkungen der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens und des DCFTA-Abkommens

4.1

Das Assoziierungsabkommen EU-Ukraine stellt eine neue Generation von Abkommen dar, die für die Zusammenarbeit mit den Ländern der Östlichen Partnerschaft geschaffen wurde, und sieht die Entwicklung der Zusammenarbeit mit bindenden Bestimmungen in fast allen Bereichen vor. Es enthält zudem einen Reformplan für die Ukraine auf der Grundlage einer umfassenden Angleichung der ukrainischen Gesetze an die EU-Standards.

4.2

Abgesehen vom DCFTA-Abkommen, das ein Handelsabkommen mit erheblichen Auswirkungen auf Normen und Vorschriften ist, umfasst die Zusammenarbeit folgende Hauptbereiche: Justiz, Rechtsstaatlichkeit, Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität, Außen- und Sicherheitspolitik, Reform der öffentlichen Verwaltung, Beschäftigung, Sozialpolitik, Gleichberechtigung und Chancengleichheit, Verbraucherschutz, Industriepolitik und Unternehmertum, Energie, Verkehr und Umwelt. Im Zuge der Umsetzung des Assoziierungsabkommens und des DCFTA-Abkommens muss die Ukraine ihr nationales Recht an ca. 85 Prozent des EU-Besitzstandes in den Bereichen Handel und Wirtschaft angleichen.

4.3

Das Assoziierungsabkommen wurde am 27. Juni 2014 unterzeichnet und am 16. September 2014 vom Europäischen Parlament und vom ukrainischen Parlament ratifiziert, was eine vorläufige Umsetzung noch vor der Ratifizierung durch alle 28 EU-Mitgliedstaaten ermöglicht. Die Implementierung des DCFTA-Teils des Abkommens wird sich jedoch bis Ende nächsten Jahres verzögern, wobei die EU aber weiterhin gelockerte Handelsbestimmungen für Güter aus der Ukraine anwenden wird.

4.3.1

Im Zuge der Umsetzung des Assoziierungsabkommens ist die Einrichtung einer Plattform der Zivilgesellschaft als gemeinsames Forum zum Meinungsaustausch vorgesehen, in dem EWSA-Mitglieder und die organisierte Zivilgesellschaft der Ukraine vertreten sind. Angesichts der breiten Themenpalette, die das Assoziierungsabkommen abdeckt, sollte die Plattform möglichst für die ganze Zivilgesellschaft repräsentativ sein und daher sowohl Vertreter der Sozialpartner als auch verschiedene andere Interessenträger umfassen.

4.3.2

Neben seiner Funktion als Forum für den Informationsaustausch und Debatten zählt es zu den grundlegenden Aufgaben der Plattform, die Umsetzung des Assoziierungsabkommens zu überwachen und den Standpunkten und Vorschlägen der organisierten Zivilgesellschaft Gehör zu verschaffen.

4.3.3

Die Plattform der Zivilgesellschaft gibt sich selbst eine Geschäftsordnung. Derzeit werden Gespräche zwischen den EWSA-Vertretern und der ukrainischen Seite über das Verfahren zur Einrichtung der Plattform und ihre Zusammensetzung geführt. Dabei sollen folgende Grundprinzipien zur Anwendung gelangen:

Die EU und die Ukraine sind mit einer gleichen Anzahl von Mitgliedern vertreten.

Die Mitglieder werden für eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren bestellt. In diesem Zeitraum sollen fünf Sitzungen stattfinden.

Die Plattform hat einen Ko-Vorsitzenden aus der EU und einen aus der Ukraine, die für eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren gewählt werden.

Das Verfahren für die Auswahl der Mitglieder der Plattform muss vollständig transparent sein.

Die Sitzungen der Plattform müssen auch jenen Organisationen der Zivilgesellschaft offenstehen, die nicht in ihr vertreten sind.

4.3.4

Zusätzlich ist im DCFTA-Abkommen die Einrichtung eines Überwachungsmechanismus der Zivilgesellschaft innerhalb eines Jahres nach seinem Inkrafttreten vorgesehen. Ein zu diesem Zweck eingerichtetes Gremium sollte so eng wie möglich mit der Plattform der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten.

5.   Zukunftsperspektive für die ukrainische Zivilgesellschaft und Rolle des EWSA

5.1

Der EWSA sollte sich aktiv für eine Verbesserung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lage in der Ukraine sowie eine friedliche Lösung des aktuellen Konflikts in den Regionen Donezk und Luhansk einsetzen. Sobald sich die Lage in der Ukraine stabilisiert und die Gefahr einer auswärtigen Intervention oder eines von bewaffneten Milizen ausgelösten Konflikts abgewendet ist, wird sich ein klareres Bild der Lage der organisierten Zivilgesellschaft sowohl in den einzelnen Organisationen als auch im Zusammenhang mit den Bestrebungen der Ukraine nach Annäherung an die EU abzeichnen.

5.1.1

In der Ukraine vollzieht sich zurzeit ein tiefgreifender politischer Wandel einschließlich einer Verfassungsreform, der sich als noch weiterreichend herausstellen könnte als die Veränderungen infolge der Orangen Revolution. So könnte er zu einer Umstrukturierung und Veränderung des Status der ukrainischen Institutionen und der Praxis des sozialen Dialogs und des Dialogs zwischen den Behörden und der Zivilgesellschaft führen. Ein solcher Prozess sollte durch Gesetzesänderungen in der Ukraine eingeleitet werden, die die Einbindung repräsentativer und unabhängiger Organisationen in die Institutionen des sozialen und des zivilen Dialogs gewährleisten. Der EWSA wird die Entwicklungen und die Standpunkte mitverfolgen, die seine Partner im Zusammenhang mit diesen Veränderungen einnehmen.

5.1.2

Vor und während der Euromajdan-Demonstrationen kamen Zweifel an der Authentizität und Unabhängigkeit mancher Partnerorganisationen des EWSA auf. Dies setzte einen Wandel der Funktionsweise mancher Organisationen in Gang, der, sollte er sich nicht nur als oberflächlich erweisen, ein erster Schritt in Richtung der Wiederherstellung des Vertrauens der Öffentlichkeit in diese Organisationen sein könnte. Von der Öffentlichkeit und NGO wurden insbesondere bestimmte Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen als Teil des Establishments angesehen und als Vertreter der Zivilgesellschaft abgelehnt.

5.1.3

Der EWSA beabsichtigt, seine bilateralen Beziehungen zu den Partnerorganisationen sowohl in der Ukraine als auch in Russland zu intensivieren, um die Kontakte zwischen den Zivilgesellschaften der beiden Länder zu fördern und Wege hin zu einer Normalisierung ihrer Beziehungen zu finden.

5.2

Die Aktivitäten des EWSA in der Ukraine basieren auf der Unterstützung des Demokratisierungsprozesses, der territorialen Einheit sowie des sozialen und zivilen Dialogs aller Interessenträger, die öffentlich legitimiert und repräsentativ sind. Der EWSA wird den Beziehungen zu seinen natürlichen Partnern, d. h. den ukrainischen Organisationen der Zivilgesellschaft, Priorität einräumen.

5.3

Er beabsichtigt, ein möglichst breites Spektrum der ukrainischen Zivilgesellschaft zur Zusammenarbeit einzuladen und auch jene einzubinden, die den jüngsten politischen Veränderungen und der Annäherung an die EU skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen, damit keine wichtige und repräsentative Organisation außen vor gelassen wird. Die ukrainische Nationale Plattform des Forums der Zivilgesellschaft der Östlichen Partnerschaft und der dreigliedrige ukrainische Wirtschafts- und Sozialrat werden den EWSA bei der Auswahl der Partner unterstützen.

5.4

Außerdem empfiehlt sich ein weiterer Ausbau der Zusammenarbeit auf bilateraler Ebene zwischen den Partnerorganisationen in der EU und der Ukraine mit Schwerpunkt auf dem Kapazitätenaufbau, dem Austausch bewährter Vorgehensweisen und der Stärkung des sozialen und zivilen Dialogs. Zu diesem Zweck könnte u. a. die grenzübergreifende Zusammenarbeit eingesetzt werden.

5.5

Neben den institutionellen Aktivitäten auf der Grundlage des Assoziierungsabkommens und — auf längere Sicht — des DCFTA-Abkommens wird sich der EWSA in umfassendere Informationsmaßnahmen über die Auswirkungen der Umsetzung dieser Abkommen auf die Ukraine sowie über die EU-Integration, die Funktionsweise der EU-Institutionen und den EU-Besitzstand einbringen.

5.6

Angesichts des Fehlens verlässlicher Informationen bzw. der gelegentlich in den Medien verbreiteten schlichten Desinformation, die auf mangelndes Wissen über die EU oder intensive russische Propaganda zurückzuführen ist, sollte eine regelmäßige Zusammenarbeit mit Journalisten und Medienverbänden vorgesehen werden.

5.7

Die Zusammenarbeit mit ukrainischen Partnerorganisationen im Hinblick auf die Gewährleistung des Zugangs zu verlässlichen Informationen sowie die Bereitstellung solcher Informationen für alle Gruppen der Zivilgesellschaft könnten sich als entscheidend für die Bestrebungen der Ukraine nach Annäherung an die EU erweisen. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass die Unterzeichnung, Ratifizierung und Umsetzung eines Assoziierungsabkommens problematisch werden können und es zahlreiche interne und externe Faktoren gibt, die die pro-europäische Einstellung der Organisationen der Zivilgesellschaft kippen lassen können, wenn kein allgemeiner Konsens unter Einbindung aller gesellschaftlichen Gruppen erzielt werden kann.

5.8

Ein erheblicher Teil der ukrainischen Bevölkerung war nie im Ausland, und wenn doch, dann führte die Reise meistens nach Russland. Einer der Gründe hierfür liegt in der noch immer bestehenden Visumpflicht für die Einreise in EU-Länder, was für die Ukrainer ein großes Ärgernis darstellt. Die Einführung vereinfachter Verfahren für die Beantragung eines Visums ist natürlich wichtig, aber die Notwendigkeit, sich vor einer Reise in die EU ein Visum ausstellen zu lassen, wirkt nicht vertrauensbildend und macht Kontakte zwischen den Menschen deutlich schwieriger.

5.9

Die Europaskepsis und die mangelnde Begeisterung für eine engere Anbindung des Landes an die EU, die in bestimmten Teilen der ukrainischen Gesellschaft vorherrscht, sind auf das Fehlen einer Beitrittsperspektive zurückzuführen. Derzeit geht es nicht darum, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, aber dass diese Frage über einen so langen Zeitraum hinweg wieder und wieder auf der EU-Agenda fehlt, führt dazu, dass Teile der ukrainischen Gesellschaft die Reformen auf Basis des Assoziierungsabkommens als teure Willkür empfinden, die die Ukraine in eine Sackgasse führen. Dies gilt insbesondere für die Ostukraine, wo die EU als Bedrohung der sozialen und wirtschaftlichen Interessen wahrgenommen wird.

Brüssel, den 16. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

502. Plenartagung des EWSA vom 15./16. Oktober 2014

15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/54


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bericht über die Wettbewerbspolitik 2013

(COM(2014) 249 final)

(2015/C 012/08)

Berichterstatter:

Paulo BARROS VALE

Die Europäische Kommission beschloss am 1. Oktober 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bericht über die Wettbewerbspolitik 2013

COM(2014) 249 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 23. September 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 127 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Wie jedes Jahr prüft der EWSA den Bericht der Kommission über die Wettbewerbspolitik, die für die Europäische Union von grundlegender Bedeutung ist. Der EWSA begrüßt den Inhalt des Berichts, den er generell billigt, und bekundet seine Besorgnis angesichts der gegenwärtigen Situation.

1.2

Es sollte mit allen Mitteln auf einen freien und lauteren Wettbewerb hingearbeitet werden, der die Interessen der Wirtschaftsteilnehmer, der Verbraucher und der Öffentlichkeit wahrt. Der Beitrag der Kommission hierzu spielt eine entscheidende Rolle, und der EWSA nimmt erfreut die Bemühungen hinsichtlich der Einhaltung der internen Vorschriften und der internationalen Zusammenarbeit zur Kenntnis.

1.3

Bei diesen anhaltenden Bemühungen spielt die Leistungsfähigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden eine große Rolle: Sie müssen über die notwendigen personellen und materiellen Ressourcen verfügen, um effizient und proaktiv handeln zu können — und nicht nur reaktiv, wie dies für gewöhnlich der Fall ist. Durch eine stärkere Betonung der Prävention können verschiedene illegale und marktschädigende Praktiken verhindert werden, die sich insbesondere auf die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) sowie die Verbraucher sehr negativ auswirken.

1.4

Von größtem Interesse ist nach Ansicht des Ausschusses jedoch die Annahme des Vorschlags für eine Richtlinie über Schadensersatzklagen bei wettbewerbsrechtlichen Verstößen, deren Umsetzung und Durchführung von den Mitgliedstaaten mit Nachdruck vorangetrieben werden muss; er bedauert jedoch, dass dieser Richtlinienvorschlag nicht von einem Rechtsinstrument mit gleicher bindender Wirkung im Hinblick auf einen horizontalen Rechtsrahmen für die kollektive Rechtsdurchsetzung bei Verletzung kollektiver Rechte und Interessen begleitet wurde.

1.5

Über die Regulierung hinaus müssen auch Raum und Anreize für die Selbstregulierung insbesondere in Form von Vereinbarungen zwischen Erzeuger-, Handels- und Verbraucherverbänden geboten werden; dabei kann und muss den guten Beispielen gefolgt werden, die es in Europa bereits gibt.

1.6

Da eine Vereinheitlichung der Steuerpolitik nach dem Vertrag nicht möglich ist, muss durch die Wettbewerbspolitik gewährleistet werden, dass die sich aus der Besteuerung innerhalb der EU ergebenden Verzerrungen so gering wie möglich gehalten werden.

1.7

Dem Energiemarkt muss auch weiterhin besondere Beachtung geschenkt werden, da hier der Binnenmarkt noch nicht vollendet ist. Der Ausbau des europäischen Netzes für den grenzüberschreitenden Handel und Investitionen in die erneuerbaren Energien, die neben den unbestreitbaren ökologischen Vorteilen auch den Netzzugang weiterer Erzeuger ermöglichen, müssen dabei im Mittelpunkt stehen, um in diesem Sektor einen echten Wettbewerb zu schaffen, der eine Senkung der Preise für Unternehmen und Haushalte ermöglicht.

1.8

Der freie Zugang der Verbraucher zu allen Märkten ist von entscheidender Bedeutung. Das mit der Digitalen Agenda verfolgte Ziel der Breitbandversorgung für alle trägt viel dazu bei. Der Zugang zum digitalen Markt, wo die Preise vielfach niedriger als auf den herkömmlichen Märkten sind, würde bestimmten Verbrauchern Zugang zu Gütern ermöglichen, die sie ansonsten nicht in Anspruch nehmen können.

1.9

Die internationale Zusammenarbeit stand im Mittelpunkt zahlreicher Bemühungen, die zu lobenswerten Ergebnissen geführt haben. Allerdings darf nicht vergessen werden, wie viel hier noch zu tun bleibt. Über die bilateralen Schritte hinaus müssen auch die Bemühungen im Rahmen von WTO und ILO fortgesetzt werden. Europa leidet sowohl auf den heimischen als auch den internationalen Märkten immer noch unter dem unlauteren Wettbewerb durch öffentliche und private Unternehmen aus Ländern, in denen illegale staatliche Beihilfen (insbesondere im Energiebereich) an der Tagesordnung sind, laxere Umweltschutzvorschriften gelten und nicht die gleichen arbeitsrechtlichen Bestimmungen eingehalten werden (vielfach in klarem Widerspruch zu den elementarsten Regeln der Menschenrechte).

2.   Inhalt des Berichts 2013

2.1

2013 war durch Anzeichen für eine wirtschaftliche Erholung in Europa geprägt. Die Steigerung des Vertrauens und der Wettbewerbsfähigkeit steht auch weiterhin im Mittelpunkt der politischen Maßnahmen der EU zur Förderung des intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums, das sie sich in der Europa-2020-Strategie auf die Fahnen geschrieben hat.

2.2

In der Mitteilung wird auf eine Schlussfolgerung aus einer Studie des Europäischen Parlaments zur Wettbewerbspolitik aus dem Jahr 2013 verwiesen, die deren Bedeutung für die Erreichung dieses Ziels deutlich macht: „[...] Die Wettbewerbspolitik verstärkt den Wettbewerb und stimuliert somit das Wachstum.“

2.3

Die Mitteilung ist in 8 Abschnitte gegliedert: Förderung der Wettbewerbsfähigkeit durch die Bekämpfung von Kartellen; wirksame Durchsetzung der Kartell- und der Fusionskontrollvorschriften im Interesse von Unternehmen und Verbrauchern; Modernisierung des Beihilfenrechts — staatliche Ausgaben sollen die Wettbewerbsfähigkeit steigern; Förderung eines fairen und stabilen Finanzsektors zur Unterstützung der Realwirtschaft; Energie: der Sektor, der „mehr Europa“ braucht; Digitale Agenda für Europa: Durchsetzung des Wettbewerbsrechts in der digitalen Wirtschaft; internationale Zusammenarbeit in der Wettbewerbspolitik zur Bewältigung der Herausforderungen der Globalisierung; interinstitutioneller Dialog in Wettbewerbsfragen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die KMU bilden unbestreitbar den Grundpfeiler der wirtschaftlichen Erholung in Europa. Aufgrund ihrer Größe sind sie aber auch am verwundbarsten gegenüber dem Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung, der für sie häufig das wirtschaftliche Aus bedeutet. Die Frage des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung verdient im Rahmen der Wettbewerbspolitik besondere Beachtung, insbesondere wenn es sich dabei um große Handelsketten handelt, die die kleinen Lieferanten und die kleinen Einzelhändler nach und nach in den Ruin treiben, was letztendlich den Verbraucherinteressen zuwiderläuft. Die Richtlinie über Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlungen gegen Artikel 101 oder 102 AEUV ist begrüßenswert und äußerst wichtig; noch größere Bedeutung kommt jedoch der Prävention derartiger Verstöße zu, wo durch ein wohlüberlegtes Vorgehen die Wirksamkeit der Präventivmaßnahmen gewährleistet werden muss.

3.2

Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden proaktiver handeln sollten — und nicht nur reaktiv wie in den meisten Fällen, wo sie erst nach Beschwerden von Unternehmen oder Verbrauchern tätig werden. Die Überwachung bestimmter Verhandlungen, die man zutreffender als Aufzwingung von Bedingungen bezeichnen würde, könnte dazu beitragen, den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung in gewissen Fällen zu verhindern. Eine erhebliche Verbesserung des Informationsaustauschs innerhalb der Produktionskette ist eine wesentliche Voraussetzung für die notwendigen Fortschritte.

3.3

Auch den Wirtschaftszweigen, die stark durch die Rohstoffpreise beeinflusst sind, müssen die Wettbewerbsbehörden besondere Aufmerksamkeit schenken, da oft ein Anstieg (oder auch schon ein drohender Anstieg) des Rohstoffpreises fast unverzüglich auf den Endpreis durchschlägt, wohingegen ein sinkender Rohstoffpreis nicht die gegenteilige Wirkung hat.

3.4

Der EWSA weist darauf hin, dass sich die Wettbewerbspolitik mit den Problemen des öffentlichen Auftragswesens — zumeist ein noch recht geschlossener Markt — beschäftigen muss. Beim öffentlichen Auftragswesen handelt es sich um einen nach wie vor fragmentierten Markt, der trotz der laufenden Arbeiten zur durchgängig elektronischen Auftragsvergabe nur für einige wenige Unternehmen zugänglich ist. Der schwache Wettbewerb schadet dem öffentlichen Interesse — der Mangel an Alternativen lässt den Behörden keinen Handlungsspielraum und die Wahl fällt immer wieder auf dieselben Unternehmen, was mitunter zu einer allzu großen Nähe zwischen Unternehmen und politischen Entscheidungsträgern führt.

3.5

Auch die schwache Wettbewerbsposition der Unternehmen in Insel- und Randgebieten darf nicht vergessen werden, wo die Transportkosten für den Zugang zu anderen Märkten den gesunden Wettbewerb mit den anderen Marktteilnehmern behindern. In diesen Fällen kann nach geeigneten Instrumentarien zur Erleichterung des Zugangs der Unternehmen zu den zentralen Märkten gesucht werden, um einen gesunden Wettbewerb zwischen allen Unternehmen in der EU zu fördern.

3.6

Von zentraler Bedeutung ist auch der Wettbewerbsdruck, dem europäische Unternehmen sowohl innerhalb der eigenen Grenzen als auf anderen Märkten durch öffentliche und private Unternehmen aus Drittländern ausgesetzt sind, die von Wettbewerbsvorteilen infolge illegaler staatlicher Beihilfen sowie von günstigen Umweltschutzvorschriften und einem laxen Arbeitsrecht profitieren, das häufig die grundlegenden Menschenrechte wie auch die Bürger- und Verbraucherrechte in Frage stellt. Die Fortsetzung der internationalen Kooperationsbemühungen innerhalb wie auch außerhalb der WTO und der ILO muss auch weiterhin eine Priorität bei den diplomatischen Schritten zur Bekämpfung dieser Ungleichheiten sein, um das Wettbewerbsproblem in Angriff zu nehmen und beim Schutz der Menschenrechte weitere Fortschritte zu erzielen.

4.   Förderung der Wettbewerbsfähigkeit durch Kartellbekämpfung und Kartellvorschriften

4.1

Der Kartellbekämpfung kommt im Rahmen der wettbewerbspolitischen Maßnahmen besondere Bedeutung zu. Die Bemühungen der Kommission zur Bekämpfung derartiger Praktiken, die die gesamte Wirtschaft beeinträchtigen, werden daher begrüßt. Maßnahmen auf den Finanzmärkten und ganz besonders auf dem Markt für Rohstoffe und Zwischenprodukte, wo die Preisschwankungen nicht nur Einfluss auf den Binnenmarkt, sondern auch auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit Europas haben, sind von entscheidender Bedeutung für das Wachstum in einer Zeit, in der sich die Erschließung neuer Märkte als unverzichtbar erweist. Hervorzuheben ist die Aufdeckung von drei Kartellen in den Bereichen Kabelbäume, Finanzderivate und Garnelen mit entsprechenden Geldbußen für die beteiligten Unternehmen sowie die Mitteilung von Beschwerdepunkten an eine Reihe von Smartcard-Chip-Herstellern.

4.2

Der EWSA hat die Arbeiten im Bereich der Kartellvorschriften stets unterstützt, da sie seiner Ansicht nach bei der Wettbewerbspolitik eine wichtige Rolle spielen. Auch jetzt befürwortet er wieder die Arbeit der Kommission, die zur Abschreckung gegen die künstliche Fragmentierung des Binnenmarkts beigetragen hat. Er begrüßt in diesem Zusammenhang den Abschluss der kartellrechtlichen Untersuchung zur Standardisierung von Zahlungen über das Internet, die Mitteilung der Beschwerdepunkte an Banken wegen der Abstimmung ihres Verhaltens, um gemeinsam Börsen am Eintritt in den CDS-Markt (Credit Default Swaps) zu hindern, sowie insbesondere den Abschluss der Untersuchung der Kartellsachen im Zusammenhang mit den Referenzsätzen LIBOR, EURIBOR und TIBOR, wodurch die Sicherheit auf dem Markt erhöht wird.

4.3

2013 wurde ein Vorschlag für eine Richtlinie über Schadensersatzklagen bei wettbewerbsrechtlichen Verstößen angenommen. Der EWSA hat sich positiv zu diesem Dokument geäußert, mit dem die Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsvorschriften und die Ungleichbehandlung von Opfern und Tätern bekämpft und die Verbraucher rechtlich geschützt werden sollen, was ein ständiges Anliegen in den Stellungnahmen des Ausschusses ist.

4.4

Trotz seiner positiven Einstellung zur Vereinheitlichung äußerte der EWSA den Vorbehalt, dass der Text zu vorteilhaft für die zuwiderhandelnden Unternehmen sein könnte, die in den Genuss von Kronzeugenregelungen kommen, wenn auch der Wert dieses Instruments bei der Aufdeckung geheimer Kartelle außer Frage steht. Außerdem wurde eine Abstimmung zwischen dem Richtlinienvorschlag und der Empfehlung zu Sammelklagen befürwortet, wobei der Ausschuss bedauerte, dass „die Einführung einer Sammelklage im Wettbewerbsrecht, die für die Verbraucher ein wirksames Instrument hätte sein können, abgekoppelt und zu einer Empfehlung abgeschwächt wurde: die Mitgliedstaaten werden lediglich dazu ermuntert, nicht bindende Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes einzuführen“ (1).

4.5

Der EWSA befürwortet die Fortsetzung der Koordinierungsbemühungen zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden sowie dem Europäischen Wettbewerbsnetz. Er fordert sie zudem auf, beim Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Instanzen stärker tätig zu werden. Er ist allerdings besorgt, dass es einigen nationalen Wettbewerbsbehörden nicht gelingen könnte, in bestimmten Branchen, in denen Absprachen und/oder missbräuchliche Praktiken in völliger Straflosigkeit weiterhin an der Tagesordnung sind, tatsächlich wirksam regulierend einzugreifen.

4.6

Die Wettbewerbspolitik bedarf der Verzahnung mit den anderen Generaldirektionen der Kommission. Nur so lassen sich Absprachen und der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung wirksam bekämpfen, durch die Sozial-, Umwelt- und Produktsicherheitsvorschriften ausgehebelt werden und der Marktzugang neuer Anbieter, die sich eindeutig in einer schwächeren Position befinden, verhindert wird.

5.   Modernisierung des Beihilfenrechts

5.1

Der EWSA begrüßt die Modernisierung des Beihilfenrechts im Einklang mit den Leitinitiativen der Europa-2020-Strategie. Es ist sehr wichtig, dass die staatlichen Beihilfen zur Unterstützung der Kohäsionspolitik und der für die Entwicklung Europas relevanten Wirtschaftszweige korrekt angewandt werden. Die knappen öffentlichen Mittel müssen im Einklang mit den in der Europa-2020-Strategie umrissenen Zielen eingesetzt werden, um die Konvergenz der benachteiligten Regionen, Investitionen in prioritäre Bereiche, die Förderung der Wirtschaft und der Beschäftigung sowie die Finanzierung der KMU zu ermöglichen.

5.2

Die Beihilfen für öffentliche Dienstleistungen zur Befriedigung sozialer Bedürfnisse (Gesundheitswesen, allgemeine und berufliche Bildung, Zugang zum Arbeitsmarkt und berufliche Wiedereingliederung, Betreuung von Kindern und alten Menschen, Unterstützung schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen zwecks sozialer Wiedereingliederung) dürfen jedoch bei der Modernisierung der staatlichen Beihilfen nicht vergessen und undifferenziert betrachtet werden. Statt dessen sollten die besonderen Gegebenheiten in den Bereichen berücksichtigt werden, die der Allgemeinheit dienen, wo trotz der Notwendigkeit, die immer knapperen Mittel effizient einzusetzen, die Qualität der Dienstleistungen im Vordergrund stehen muss.

5.3

Vor dem Hintergrund der großen Mobilität muss die Möglichkeit der freien Wahl der Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen geprüft werden; dabei muss untersucht werden, wie vermieden werden kann, dass die Nutzer dem Ermessen des Staates oder der Versicherungsunternehmen ausgeliefert sind, ohne die Qualität der Dienstleistungen und den Schutz der am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen in Frage zu stellen. Dieses Thema ist so wichtig, dass es in einer gesonderten Initiativstellungnahme vertieft werden sollte.

5.4

Der EWSA hat sich bereits positiv zur Modernisierung des EU-Beihilfenrechts geäußert. Er unterstützt insbesondere die neuen Leitlinien über Beihilfemaßnahmen im Zusammenhang mit dem CO2-Emissionshandelssystem, um die Verlagerung von Industrien in Länder mit vorteilhafteren Rechtsvorschriften zu verhindern. Er bedauert allerdings, dass seiner Empfehlung, die Schwelle für die „De-minimis“-Beihilfen nach dem Beispiel der für die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) beschlossenen Regelung von 2 00  000 EUR auf 5 00  000 EUR anzuheben (2), nicht gefolgt wurde.

6.   Der Wettbewerb auf Sektorebene

6.1   Ein fairer und stabiler Finanzsektor

6.1.1

Die Schwierigkeiten des Finanzsektors wie auch deren Auswirkungen auf die Finanzierung der Realwirtschaft und das Vertrauen in die Finanzmärkte sind bekannt. Es wurden verschiedene Anstrengungen unternommen, um das Vertrauen wiederherzustellen, die Transparenz zu verbessern und die Systemrisiken zu verringern. Die zeitlich befristeten staatlichen Beihilfen haben den Finanzsektor vor dem Kollaps bewahrt, aber wann immer Anzeichen für eine Erholung zu erkennen sind, scheinen Meldungen über neue Skandale das äußerst fragile Gleichgewicht zu erschüttern. Daher ist eine anhaltende genaue Überwachung der Branche von größtem Interesse, um verantwortungslose Verhaltensweisen der Finanzinstitute zu verhindern, und zwar unabhängig davon, ob sie mit staatlicher Hilfe gerettet wurden oder nicht.

6.1.2

Trotz der Fragilität des Sektors müssen die laufenden Untersuchungen zu illegalen Praktiken fortgesetzt werden, obgleich sie auf die Finanzriesen, die von ihren marktschädigenden Verhaltensweisen nicht abzubringen sind, keine große Wirkung zu haben scheinen.

6.1.3

Erwähnenswert ist der schon lange geforderte Vorschlag für eine Verordnung über Interbankenentgelte für kreditkartengebundene Zahlungsvorgänge, mit dem durch die Harmonisierung der Kosten für die Benutzung von Kreditkarten EU-weit für Gerechtigkeit gesorgt wird.

6.2   Energiesektor

6.2.1

Der Energiebinnenmarkt ist noch nicht vollendet. Der Energiepreis ist nach wie vor hoch und eine große Belastung für die Budgets der Unternehmen und privaten Haushalte. Die Liberalisierung des Marktes hat noch keine Verbesserung des Wettbewerbs und der Transparenz bewirkt, und Europa ist aufgrund der hohen Energiekosten auch weiterhin gegenüber seinen weltweiten Konkurrenten im Nachteil. Auch die grenzüberschreitende Energielieferung erfordert besondere Aufmerksamkeit, damit der freie Binnenmarkt gewährleistet wird.

6.2.2

Der derzeitige Konsens über die Notwendigkeit einer gemeinsamen Energiepolitik, Investitionen in Infrastrukturen, die Steigerung der Energieeffizienz und die Nutzung erneuerbarer Energieträger muss zur Weiterentwicklung des Energiesektors genutzt werden. Erneuerbare Energien können nicht zu gleichen Bedingungen mit fossilen Energieträgern und Kernenergie konkurrieren, da diese nach wie vor subventioniert werden — sowohl direkt aus den öffentlichen Haushalten als auch indirekt dadurch, dass die durch ihre Nutzung entstehenden Umwelt- und Gesundheitskosten nicht internalisiert werden. Die erneuerbaren Energien stecken noch in den Kinderschuhen und müssen stärker gefördert werden, um auf einem fairen Markt konkurrieren zu können.

6.2.3

Darüber hinaus dürfen die erneuerbaren Energien nicht nur als neue Energiequelle betrachtet werden. Ihr Ausbau eröffnet neue Möglichkeiten für ein Modell der dezentralen Energieerzeugung, bei dem die Bürger und die lokalen Gemeinschaften gleichzeitig Erzeuger und Verbraucher sein können. Dieses neue Modell sollte durch die Schaffung eines geeigneten Rechtsrahmens zur Sicherstellung des problemlosen Zugangs kleiner Erzeuger zum Stromnetz unterstützt werden (3).

6.2.4

Die europaweite Vernetzung im Energiebereich ist unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbspolitik von entscheidender Bedeutung. Die schwache Position Europas in puncto Energie wird infolge des Ukraine-Konflikts spürbar, der die Gasversorgung Mitteleuropas gefährden kann. Die Anbindung der bestehenden Energiesysteme auf der iberischen Halbinsel an die mitteleuropäischen Länder würde nicht nur die Marginalisierung des iberischen Marktes gegenüber dem Rest der EU beseitigen, sondern auch Probleme infolge von Versorgungslücken bei den Lieferungen aus Russland abwenden.

6.2.5

Die Reform der europäischen Energiepolitik ist umso wichtiger, als derzeit Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten in Vorbereitung sind, wo die Energiekosten deutlich niedriger sind, was die europäischen Unternehmen in eine schlechtere Ausgangsposition bringt.

6.3   Digitale Wirtschaft

6.3.1

Dieser Sektor ist für illegale Wettbewerbspraktiken besonders anfällig, weil die Hochtechnologieunternehmen aufgrund der kontinuierlichen und raschen Innovationsprozesse möglicherweise nicht die Zeit bis zur Entscheidung in einem normalen Verfahren abwarten können und vom Markt verschwinden.

6.3.2

Der EWSA bekräftigt seine Unterstützung für die Leitlinien über staatliche Beihilfen für den Breitbandausbau, da diese den Zielen der Digitalen Agenda förderlich sind.

6.3.3

Der Telekommunikationsbinnenmarkt ist immer noch nicht verwirklicht. Obwohl eine Senkung der Tarife festzustellen ist, sind sie immer noch sehr hoch und eine Belastung für die Unternehmen und Haushalte. Die schrittweise Senkung der Roaming-Gebühren mit ihrer vollständigen Abschaffung Ende 2015 ist ein löblicher Schritt; der Schwerpunkt muss jetzt auf der tatsächlichen Verringerung der restlichen Gebührensätze und einer hochwertigen Breitbandversorgung für alle liegen. Der EWSA unterstreicht nochmals seine Überzeugung, dass die Einrichtung einer einheitlichen Regulierungsstelle für die ganze EU zur Verwirklichung dieser Ziele beitragen könnte.

6.3.4

Besondere Aufmerksamkeit muss der Breitbandversorgung für alle geschenkt werden, da dieser Zugang insbesondere in einkommensschwachen Familien noch nicht existiert. Dadurch wird vielen Bürgern der Zugang zum elektronischen Geschäftsverkehr und damit zu Märkten mit häufig günstigeren Preisen verwehrt.

6.3.5

Der EWSA befürwortet die Arbeiten im Bereich der standardessenziellen Patente (SEP), die zur Bekämpfung des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung beitragen.

7.   Internationale Zusammenarbeit

7.1

Der EWSA nimmt erfreut die Aufnahme der Verhandlungen über ein Transatlantisches Handels- und Investitionsabkommen mit den Vereinigten Staaten und ein Freihandelsabkommen mit Japan sowie die hochrangigen Gespräche mit Vertretern bestimmter Wettbewerbsbehörden von Drittländern zur Kenntnis. Wichtig ist auch die Unterzeichnung des Kooperationsabkommens mit der Schweiz, das den Informationsaustausch zwischen den Wettbewerbsbehörden ermöglicht, was verschiedene künftige und laufende Untersuchungen erleichtern kann.

7.2

Der faire Außenhandel wird durch den unlauteren Wettbewerb seitens Drittländern gefährdet, in denen die elementarsten Regeln, Prinzipien und Grundrechte im Sozial- und Umweltbereich nicht eingehalten werden. Die internationale Zusammenarbeit muss auf höchster Ebene und im Rahmen von WTO und ILO weiter ausgebaut werden, um nicht nur die Menschenrechte, sondern auch lautere Wettbewerbspraktiken zu garantieren.

7.3

Die Globalisierung ist eine Tatsache, und Ausfuhren sind für das Wachstum in Europa unverzichtbar. Die Praktiken müssen angeglichen werden, damit Europa zu den gleichen Bedingungen auf Märkten konkurrieren kann, auf denen es weiterhin illegale staatliche Beihilfen oder kein wirksames Arbeitsrecht gibt.

8.   Interinstitutioneller Dialog

8.1

Trotz der ausschließlichen Zuständigkeit der Kommission für die Wettbewerbspolitik stehen die GD Wettbewerb und das zuständige Kommissionsmitglied im ständigen engen Dialog mit dem Europäischen Parlament. Auch der EWSA und der AdR wurden über die Arbeiten der GD Wettbewerb auf dem Laufenden gehalten, die Vertreter zu Sitzungen der Fachgruppen und Studiengruppen entsandt hat.

8.2

Der EWSA begrüßt die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit der Kommission, gibt jedoch zu bedenken, dass diese durch engere Beziehungen zwischen den Institutionen mit einer kontinuierlicheren Begleitung verbessert werden kann. So könnte eine vom EWSA eingesetzte Gruppe in die Ausarbeitung des abschließenden Wettbewerbsberichts eingebunden werden, was eine raschere Reaktion des Ausschusses auf die Arbeit der Kommission ermöglicht.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 83.

(2)  ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 74.

(3)  ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 1.


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/60


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verbreitung der Daten von Erdbeobachtungssatelliten für kommerzielle Zwecke

(COM(2014) 344 final — 2014/0176 (COD))

(2015/C 012/09)

Berichterstatter:

Thomas McDONOGH

Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union beschlossen am 17. Juli bzw. am 18. Juli 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 Absatz 1 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verbreitung der Daten von Erdbeobachtungssatelliten für kommerzielle Zwecke

COM(2014) 344 final — 2014/0176 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 23. September 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 151 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Das Thema des Richtlinienvorschlags ist für die EU von außerordentlich hoher Bedeutung. Die Kontrolle und Verwertung der Daten über die Welt, in der wir leben, werden in hohem Maße das künftige Weltgeschehen und das Wohlergehen der Bürger Europas beeinflussen. Gegenwärtig werden diese Daten vor allem von den USA und anderen Drittländern erzeugt und kontrolliert. Europa muss unbedingt seine Raumfahrtprogramme sowie die Produktion und Verbreitung von Erdbeobachtungsdaten vorantreiben, damit die EU in diesem hochwichtigen Sektor vom Nachzügler zum Vorreiter wird.

1.2

Der Ausschuss befürwortet nachdrücklich die Einrichtung eines klaren Regelungsrahmens zur Förderung der Entwicklung der europäischen Raumfahrtindustrie und zur Nutzung von Erdbeobachtungsdaten, um nachhaltiges Wachstum und das Wohlergehen der europäischen Bürger zu unterstützen. In diesem Sinne begrüßt er den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie über die Verbreitung der Daten von Erdbeobachtungssatelliten für kommerzielle Zwecke.

1.3

Der Ausschuss begrüßt diesen Vorschlag auch im übergeordneten Rahmen der Europäischen Raumfahrtpolitik, die von wesentlicher Bedeutung für den künftigen Wohlstand und die Sicherheit der EU sowie für die Verwirklichung des mit der Europa-2020-Strategie (1) angestrebten intelligenten, nachhaltigen und inklusiven Wachstums.

1.4

Der Ausschuss stimmte ferner der Kommission darin zu, dass eine Richtlinie erforderlich ist, um einen transparenten, fairen kohärenten rechtlichen Rahmen einzurichten, der das ordnungsgemäße Funktionieren und die Entwicklung des Binnenmarkts für Raumfahrtprodukte und weltraumgestützte Dienstleistungen sichern soll, und um insbesondere einen gemeinsamen Rahmen für die Verbreitung hochauflösender Satellitendaten (HRSD) zu schaffen.

1.5

Der Ausschuss erachtet die vorgesehenen Bestimmungen der Richtlinie als zufriedenstellend, mit denen ein Standard der Europäischen Union für die kommerzielle Verbreitung hochauflösender Satellitendaten eingeführt werden soll.

1.6

Indes ist der Ausschuss der Meinung, dass die Entwicklung einer kommerziellen Raumfahrtindustrie in Europa zu langsam vorankommt und über Weltraumtechnologie und die Nutzung von Weltraumdaten schon eher Beschäftigung und Wohlstand hätten generiert werden können. Er fordert die Kommission auf, die Entwicklung geeigneter Maßnahmen und die Schaffung eines Rechtsrahmens für die Raumfahrt beschleunigt voranzutreiben, um die Sicherheit, Gefahrenabwehr, Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Entwicklung im Bereich der Raumfahrt sowie das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarktes für Raumfahrtprodukte und weltraumgestützte Dienstleistungen sicherzustellen.

1.7

Der Ausschuss setzt sich dafür ein, dass die KMU in den 28 EU-Mitgliedstaaten, die versuchen, auf dem Markt für Erdbeobachtungsdaten zu bestehen und zu wachsen, durch geeignete Maßnahmen besser gefördert werden. Insbesondere schwebt ihm die Beseitigung unzumutbarer Hemmnisse im Binnenmarkt in Verbindung mit finanziellen Mindestkapazitäten vor, wodurch insbesondere KMU benachteiligt werden.

1.8

Der Ausschuss würde Vorschläge für eine europäische Beschaffungspolitik für den Raumfahrtsektor begrüßen, um die Entwicklung des kommerziellen Raumfahrtsektors zu unterstützen, die stark vom institutionellen Beschaffungswesen abhängt.

1.9

Der Ausschuss plädiert ferner für die Förderung der Ausbildung von mehr Ingenieuren, IT- und Wirtschaftsabsolventen für die Raumfahrtindustrie, insbesondere mit Blick auf die Wachstumsmärkte für Datenanbieter, Daten-Wiederverkäufer, Anbieter von Dienstleistungen mit hohem Mehrwert und Anbieter von Geoinformations-Dienstleistungen.

1.10

Der Ausschuss ist sich im Klaren darüber, dass Sicherheit ein zentrales Anliegen der Unionsbürger ist. Ungeachtet der in dem Richtlinienvorschlag enthaltenen Bestimmungen würde seiner Meinung nach jedoch ein umfassenderes gemeinsames europäisches Sicherheitskonzept u. a. dazu beitragen, die Probleme in Verbindung mit der übermäßig strengen Kontrolle von hochauflösenden Satellitendaten (HRSD) seitens einiger Mitgliedstaaten zu lösen.

1.11

Der Ausschuss appelliert ferner an den Rat, sich einvernehmlich für die Entwicklung und Unterstützung einer europäischen Raumfahrtpolitik einzusetzen, die auf der Grundlage eines offenen und partnerschaftlichen Ansatzes für die Entwicklung und Nutzung von Weltraumtechnologie und -daten Frieden, Sicherheit und wirtschaftliches Wachstum fördert.

1.12

Der Ausschuss verweist die Kommission auf seine bisherigen Stellungnahmen zur Raumfahrtpolitik (2).

2.   Der Richtlinienvorschlag

2.1

Die vorgeschlagene Richtlinie hat die Verbreitung der Daten von Erdbeobachtungssatelliten für kommerzielle Zwecke innerhalb der Union zum Gegenstand. Insbesondere wird auf die Thematik der Definition und Kontrolle von hochauflösenden Satellitendaten (HRSD) eingegangen, die als eigene Kategorie von Daten im Falle einer Verbreitung für kommerzielle Zwecke eine gesonderte Regelung erfordern.

2.2

HRSD werden bei der Bereitstellung von Geoinformationsprodukten und -dienstleistungen genutzt, einem Wachstumsmarkt. HRSD sind mittlerweile bei Umweltbeobachtung, Stadtplanung, Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen sowie Katastrophenschutz und Notfallmanagement nicht mehr wegzudenken.

2.3

Doch auch in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung spielen HRSD eine wichtige Rolle, und deshalb unterliegen ihre Produktion und Verbreitung durch gewerbliche Anbieter den Vorschriften der Mitgliedstaaten, in denen die Anbieter registriert sind. Aus diesem Grund gibt es derzeit keinen einheitlichen Ansatz für einzelstaatliche Vorschriften für den Umgang mit hochauflösenden Satellitendaten und darauf aufbauenden Dienstleistungen und Produkten. Dies führt dazu, dass der Regelungsrahmen EU-weit zersplittert und von mangelnder Kohärenz, Transparenz und Berechenbarkeit geprägt ist, was wiederum der Erschließung des vollen Potenzials dieses Markts entgegensteht.

2.4

Ziel der Richtlinie ist die Gewährleistung des ordnungsgemäßen Funktionierens des Binnenmarkts für HRSD-Produkte und -Dienstleistungen durch Schaffung eines kohärenten Rechtsrahmens für die Verbreitung von HRSD und die Bereitstellung guter und ausreichender Informationen über die Zugänglichkeit von HRSD für kommerzielle Zwecke sowie die Belebung des Wettbewerbs zwischen den Datenanbietern durch die Aufstellung transparenter, berechenbarer, fairer und kohärenter rechtlicher Rahmenbedingungen, die in allen Mitgliedstaaten gelten, und die Sicherstellung des freien Datenverkehrs in der ganzen EU.

2.5

Die Umsetzung der vorgeschlagenen Richtlinie soll sich infolge besserer Transparenz, Rechtssicherheit und Planungssicherheit bei der kommerziellen Verbreitung von Weltraumdaten wirtschaftlich positiv auswirken. Vorteile werden für die Gründung und das Wachstum von Unternehmen, für Verkäufe von Erdbeobachtungsdaten und für internationale Wettbewerbsfähigkeit erwartet. Neben der direkten Schaffung von Arbeitsplätzen in den Bereichen Daten-Wiederverkauf/Dienstleistungen mit hohem Mehrwert und Datenlieferung entstehen aufgrund der qualitativ hochwertigeren Dienstleistungen und der wettbewerbsfähigeren Preise wahrscheinlich auf anderen Ebenen der Wertschöpfungskette (d. h. gewerbliche HRSD-Endnutzer, Satellitenhersteller und -betreiber) ebenfalls Arbeitsplätze. Es wird auch von einer weiteren indirekten Arbeitsplatzschaffung ausgegangen, da pro neuem Arbeitsplatz in der Raumfahrt bis zu fünf neue Arbeitsplätze in anderen Branchen entstehen.

2.6

Die wichtigsten Bestimmungen des Richtlinienvorschlags sind:

a)

eine klare Definition von HRSD anhand präziser technischer Spezifikationen, die für die Erzeugung dieser Daten notwendig sind;

b)

eine Beschreibung der von den Mitgliedstaaten durchzuführenden Verfahren für die Überprüfung und Genehmigung der Freigabe von HRSD zu gewerblichen Zwecken;

c)

ein Verfahren der Berichterstattung durch die Mitgliedstaaten, damit die Kommission sich einen Überblick über die Umsetzung der Richtlinie verschaffen kann.

2.7

Die Mitgliedstaaten müssen die Richtlinie bis zum 31. Dezember 2017 in nationales Recht umsetzen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die Entwicklung der Weltraumtechnologie sowie der damit verbundenen Produkte und Dienstleistungen ist von hoher Relevanz für die Zukunft Europas. In diesem Sinn hat der Ausschuss schon früher festgestellt: „Die Bedeutung der Raumfahrt für die Erweiterung des Wissens, für Wohlstand, Wirtschaftskraft und Innovationsfähigkeit kann nicht hoch genug bewertet werden“ (3). Ein blühender Markt für Weltraumanwendungen würde umfangreiche wirtschaftliche, soziale und ökologische Vorteile bringen.

3.2

Europa ist wie keine andere Weltregion in der Lage, eine Raumfahrtpolitik zu entwickeln und zu unterstützen, die auf der Grundlage eines offenen und partnerschaftlichen Ansatzes für die Entwicklung und Nutzung von Weltraumtechnologie und damit produzierten Daten Frieden, Sicherheit und wirtschaftliches Wachstum fördert.

3.3

Der Ausschuss ist sich im Klaren darüber, dass Sicherheit ein zentrales Anliegen der Union ist. Ungeachtet der in dem Richtlinienvorschlag enthaltenen Bestimmungen würde seiner Meinung nach jedoch ein umfassenderes gemeinsames europäisches Sicherheitskonzept u. a. dazu beitragen, die Probleme in Verbindung mit der übermäßig strengen Kontrolle von hochauflösenden Satellitendaten (HRSD) seitens einiger Mitgliedstaaten zu lösen.

3.4

Europa braucht eine dynamische kommerzielle Raumfahrtindustrie in allen Bereichen der Wertschöpfungskette (4), um sich seinen unabhängigen Zugang zu Weltraumtechnologie und Erdbeobachtungsdaten zu bewahren und um eine starke unabhängige Raumfahrtindustrie zu entwickeln.

3.5

Die EU hat die Entwicklung der Maßnahmen und rechtlichen Rahmenbedingungen zur Gewährleistung des ordnungsgemäßen Funktionierens des Binnenmarktes für Raumfahrtprodukte und weltraumgestützte Dienstleistungen und zum Aufbau einer dynamischen Industrie für die Erstellung und Verwertung von Weltraumdaten nicht rasch genug vorangetrieben. Die verhaltene wirtschaftliche Entwicklung im Bereich der nachgelagerten Anwendungen der Raumfahrtindustrie führt dazu, dass die USA, Russland, China und andere bei Innovation, Schaffung von Wohlstand und globaler Marktposition an der EU vorbeiziehen.

3.6

Europa benötigt ein proaktives Geschäftsmodell für die Entwicklung seiner Weltraumtechnologie wie auch Raumfahrtprodukte und weltraumgestützten Dienstleistungen auf einem rasch wachsenden globalen Markt. Dieses Modell muss auf europäischer Ebene vereinbart und koordiniert werden, um interne Entwicklungshemmnisse auszuräumen.

3.7

Das Geschäftsmodell muss auf einen kohärenten und stabilen Rechtsrahmen, eine starke industrielle Basis mit einem großen Anteil KMU, Wettbewerbsfähigkeit und Kosteneffizienz, Märkte für Anwendungen und Dienstleistungen sowie technologische Unabhängigkeit beim Zugang zum Weltraum, zu Weltraumtechnologie und darauf gestützten Produkten und Dienstleistungen abheben. Diese Anforderungen werden in der Raumfahrtindustriepolitik der EU ausdrücklich aufgestellt (5).

3.8

Um ein starkes kommerzielles Potenzial der europäischen Raumfahrtindustrie sicherzustellen, muss die EU für eine kritische Masse an europäischen Unternehmen — von KMU bis zu großen internationalen Unternehmen — sorgen, die im Bereich der Entwicklung und Nutzung von Produkten und Dienstleistungen, die auf Satellitendaten beruhen, tätig sind.

3.9

Ferner tut die Förderung der Ausbildung von mehr Ingenieuren, IT- und Wirtschaftsabsolventen für die Raumfahrtindustrie Not, insbesondere mit Blick auf die Wachstumsmärkte für Datenanbieter, Daten-Wiederverkäufer, Anbieter von Dienstleistungen mit hohem Mehrwert und Anbieter von Geoinformations-Dienstleistungen.

3.10

Die Entwicklung des kommerziellen Potenzials der Raumfahrt hängt stark vom institutionellen Beschaffungswesen ab. Für die Industrie wären Rechtsvorschriften zur Schaffung einer auf EU-Ebene überwachten Raumfahrt-Beschaffungspolitik von Vorteil.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der Ausschuss ist sich im Klaren darüber, dass ein Sicherheitskonzept für die Unionsbürger von wesentlicher Bedeutung ist. Indes behindert die übermäßig strenge Kontrolle von hochauflösenden Satellitendaten (HRSD) seitens einiger Mitgliedstaaten in großem Maße die Entwicklung des europäischen Marktes für Erdbeobachtungsdaten, was Wettbewerber in Drittländern zum Vorteil gereicht.

4.2

Es mangelt an zuverlässigen Informationen über die Größe und Tätigkeit der europäischen Industrie im Bereich der Entwicklung von Anwendungen und Dienstleistungen, die auf Satellitendaten beruhen. Im Rahmen einer Studie sollten die verschiedenen Bereiche der Wertschöpfungskette im Zusammenhang mit der Entwicklung von nachgelagerten Anwendungen der Raumfahrtindustrie untersucht werden. Zuverlässige Daten über das Potenzial für Beschäftigungswachstum und Schaffung von Wohlstand in den verschiedenen Bereichen würden den Markt fördern und fundiertere Maßnahmen ermöglichen.

4.3

Der EU-Markt für hochauflösende Satellitendaten (HRSD) ist im Vergleich zu dem einschlägigen US-Binnenmarkt unterentwickelt. Die starke Marktposition der US-Unternehmen im Erdbeobachtungssektor beruht auf technisch fortgeschrittenen Satellitensystemen, einem klaren Regelungsrahmen und einer großen öffentlichen Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen auf der Grundlage kommerzieller HRSD. Zudem profitiert die US-Konkurrenz von hochwirksamen Synergien im FuE-Bereich zwischen dem zivilen und dem Militär- und Verteidigungssektor. Neben der starken US-amerikanischen Konkurrenz für Datenanbieter gibt es ernstzunehmende Wettbewerber in Indien, China, Kanada, Korea und Taiwan, die den europäischen Markt über Daten-Wiederverkäufer mit HRSD beliefern.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Europa 2020 — Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, COM(2010) 2020.

(2)  ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 88ABl. C 327 vom 12.11.2013, S. 38ABl. C 341 vom 21.11.2013, S. 29; ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 72ABl. C 43 vom 15.2.2012, S. 20; ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 44ABl. C 339 vom 14.12.2010, S. 14; ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 24.

(3)  CCMI/115 — CES2861-2013, Ziffer 3.1.

(4)  Die Wertschöpfungskette umfasst Satellitenbetreiber, Datenanbieter, Daten-Wiederverkäufer (die HRSD von Satellitenbetreibern und Datenanbietern aus der EU und aus Drittstaaten verkaufen), Anbieter von Dienstleistungen mit hohem Mehrwert, Anbieter von Geoinformations-Dienstleistungen, Forschungsinstitute, Regierungen und Kunden.

(5)  COM(2013) 108 final.


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/64


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zur Governance makroregionaler Strategien

(COM(2014) 284 final)

(2015/C 012/10)

Berichterstatter:

Etele BARÁTH

Die Europäische Kommission beschloss am 20. Mai 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zur Governance makroregionaler Strategien

COM(2014) 284 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 25. September 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 148 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Standpunkte und Empfehlungen

1.1

Der Bericht, der auf der Grundlage des Standpunkts des Rates (Allgemeine Angelegenheiten) zur Stärkung der Governance makroregionaler Strategien erstellt wurde, kommt zur rechten Zeit und liefert wichtige Anhaltspunkte für die Verbesserung der Planung derartiger Strategien wie auch der Governance ihrer Umsetzung.

1.2

Der EWSA ist der Auffassung, dass die makroregionale Politik ein vollberechtigtes EU-Politikfeld werden sollte.

1.3

Angesichts der Art der Ziele ist es enttäuschend, dass das Konzept der Governance in Bezug auf die makroregionalen Strategien in dem Bericht auf die politische, institutionelle und administrative/organisatorische Zusammenarbeit beschränkt bleibt.

1.4

Den „Partnern“ wird im Kommissionsbericht nur eine sehr untergeordnete Rolle zugewiesen. Die wirtschaftlichen und sozialen Interessenträger werden überhaupt nicht und die zivilgesellschaftlichen Akteure lediglich als Informationsempfänger erwähnt.

1.5

Nach Auffassung des EWSA sollte ein neues Governance-Modell unter Beteiligung der Wirtschafts- und Sozialpartner entwickelt werden.

1.6

Es ist festzuhalten, dass trotz der Zusammenarbeit auf EU-Ebene mit dem EWSA, der um Ausarbeitung einer Stellungnahme ersucht wurde, auf makroregionaler oder regionaler Ebene von Partnerschaft keine Rede ist, weder in Bezug auf die Planung der Strategien noch auf die Beschlussfassung.

1.7

Dies ist ein besonders gravierendes Problem für die Umsetzung, die vorwiegend den wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Interessenträgern zugutekommen sollte. Eine wirksame und effiziente Umsetzung ist stark von der vorherigen Einbeziehung der Partner abhängig, die ordnungsgemäß informiert und um Zustimmung ersucht werden sollten; ihre Erfahrungen sollten in die Strategieplanung einfließen. Es ist legitim, einen „zusätzlichen europäischen Nutzen“ zu erwarten — unter diesem Blickwinkel erscheint das neue Modell vielversprechend.

1.8

Der EWSA hält fest, dass die Erfahrungen im Rahmen der makroregionalen Strategien für den Atlantikraum und den Mittelmeerraum das Potenzial der partnerschaftlichen Zusammenarbeit verdeutlichen.

1.9

Nach Auffassung des EWSA bietet die hochrangige Gruppe von Vertretern aller 28 EU-Mitgliedstaaten eine ausgezeichnete Gelegenheit, einen Ausgleich zu der zu stark zentralisierten und zu bürokratischen Governance der EU zu schaffen und diese durch ein politisches Gremium im Einklang mit dem häufig vernachlässigten Subsidiaritätsgedanken und unter konsequenter Anwendung des Partnerschaftsprinzips zu ergänzen.

1.10

Es wäre äußerst wichtig, dass die Politik zur Entwicklung der makroregionalen Ebene integraler Bestandteil gesamteuropäischer Politik wird. Dazu müsste auf EU-Ebene eine Evaluierung der bestehenden makroregionalen Beziehungen vorgenommen werden, die aus territorialer und sektoraler Sicht gut funktionieren.

1.11

Der EWSA empfiehlt eine Bestandsaufnahme der makroregionalen Herausforderungen und Chancen; indem diese vorangebracht und genutzt werden, könnten Entwicklungsinitiativen nach dem Vorbild der Fazilität „Connecting Europe“ gefördert und damit die europäische Integration gestärkt werden.

1.12

Der EWSA teilt die Auffassung, dass es wichtig ist, die Ressourcen zu konzentrieren und Effizienz und Wirksamkeit zu gewährleisten. Er weist jedoch darauf hin, dass in der Analyse weder der Frage nachgegangen wird, wie die Umsetzung der Strategien und Aktionspläne gemessen werden kann, noch die quantitativen und qualitativen Indikatoren behandelt werden, die für die Berechnung der Erträge aus Investitionen und damit für den Nachweis des Mehrwerts unverzichtbar sind. Eine der Aufgaben der technischen Stellen könnte darin bestehen, ein einheitliches Überwachungssystem einzurichten und Ex-ante- und Ex-post-Bewertungen auszuarbeiten.

1.13

Der EWSA ist der Ansicht, dass die gemischten Gremien auf verschiedenen Ebenen zusammen mit den spezifischen Foren erheblich dazu beitragen können, die europäische Identität der Zivilgesellschaft wie auch der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Akteure zu stärken. Dies wäre ein wichtiger Beitrag zur Weiterentwicklung des europäischen Modells, das bewusst auf einem von der Basis ausgehenden Ansatz aufbaut.

1.14

Der Begriff der „Governance“ bedarf in Bezug auf die Planung und Umsetzung makroregionaler Strategien einer genaueren rechtlichen und institutionellen Definition.

1.15

Nach Auffassung des EWSA ist die Regel der „drei Nein“ bereits hinfällig: Im mittelfristigen Finanzrahmen 2014-2020 sind Ressourcen vorgesehen, ein administratives institutionelles System zur Unterstützung der Umsetzung befindet sich im Aufbau, und der gemeinsame Strategierahmen umfasst die erforderlichen Regeln.

1.16

Es müssen unbedingt verschiedene organisatorische Optionen ermöglicht werden. Zugleich werden im Sinne einer besseren Koordinierung und einer kritischen Masse für spezifische Initiativen zusätzliche Ressourcen benötigt, um eine Katalysatorwirkung zu entfalten und Synergien zwischen den Zielsetzungen und Ressourcen nationaler, regionaler und lokaler Akteure zu ermöglichen.

2.   Einleitung

2.1

Die Kommission führt in ihrer Analyse ins Feld, dass die beiden bislang angenommenen makroregionalen Strategien — für den Ostseeraum und den Donauraum — bereits Wirkung zeigen und die Erwartungen in Bezug auf den Mehrwert „vor Ort“ erfüllen. Es wurden wichtige gemeinsame Entscheidungen getroffen und zuvor ungenutzte Ressourcen mobilisiert, z. B. in den Bereichen Umweltschutz, Schifffahrt, Hochwasserschutz und Erhaltung der Wasserqualität.

2.2

Bei den beiden unlängst aufgelegten Kooperationsinitiativen kann auf früheren Erfahrungen aufgebaut werden. In der Region Adria-Ionisches Meer und der Alpenregion wurden erhebliche Ungleichgewichte in Bezug auf die Urbanisierung sowie die wirtschaftliche und soziale Entwicklung festgestellt. In der Analyse wird auch darauf eingegangen, wie die Erfahrungen der Küstenregionen im Atlantikraum genutzt werden können.

2.3

Nach Ansicht des EWSA ist eine gute, an die spezifischen Aufgaben angepasste Governance bei der Konzipierung und Umsetzung makroregionaler Strategien von entscheidender Bedeutung.

2.4

Die Kommission hebt in ihrer Analyse drei Bereiche in Bezug auf die Governance hervor, die für den Erfolg maßgeblich sind:

politische Führung (strategische Ausrichtung und Governance-Struktur), Eigenverantwortlichkeit, notwendige Identifizierung mit den Strategien, Kommunikation und Rechenschaftspflicht;

Koordinierung als Mittel zur Umsetzung der Strategien;

Leitung des Umsetzungsprozesses, Aktionspläne für die tagtägliche Durchführung von Aufgaben, Zusammenarbeit, Unterstützung der Zusammenarbeit.

2.5

Laut der Analyse der Kommission ist Governance eine Tätigkeit, die allgemein bestimmt, auf welche Weise die Ergebnisse erzielt werden. In diesem Zusammenhang besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen der politischen Führung und denjenigen Instanzen, die eine Strategie umsetzen; das bedeutet, dass das Konzept der „Eigenverantwortlichkeit“ verschiedene Arten von Akteuren betrifft.

2.6

Die Konzipierung und Umsetzung makroregionaler Strategien erfordert nach Ansicht des EWSA ein spezielles, auf Zusammenarbeit und Koordinierung basierendes Governance-System. Innerhalb dieses Systems kann und sollte eine Verbindung zwischen der Eigenverantwortlichkeit für die verschiedenen Programme, Projekte und Maßnahmen und den einzelnen konkreten Tätigkeiten und durchführenden Akteuren hergestellt werden. Ein solches System ist eine Voraussetzung für die Wirksamkeit und Effizienz der einzelnen Aktivitäten und die Grundlage für ihre Messbarkeit.

2.6.1

Die Analyse bestätigt, dass die makroregionalen Strategien einen speziellen Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union, den Mitgliedstaaten, ihren Regionen sowie bestimmten Drittländern in einem geografischen Gebiet schaffen. Die Instrumente für die Umsetzung der Strategien sind die Aktionspläne, die die Beteiligung auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene ermöglichen.

2.7

An der Spitze der Governance steht die hochrangige Gruppe, in der die Schwerpunktbereichskoordinatoren, federführenden Partner von Schwerpunktbereichen, Koordinatoren für die Pfeiler und Lenkungsgruppen zusammenarbeiten. Diese institutionelle Struktur (Netzwerk) wird durch nationale Kontaktstellen ergänzt, die die Koordinierung auf nationaler Ebene verstärken.

3.   Was ist für eine wirksamere Umsetzung makroregionaler Strategien erforderlich?

3.1

Nach Auffassung des EWSA werden die wichtigsten Bereiche, in denen die Governance gestärkt werden muss, in der Analyse der Kommission zutreffend zusammengefasst. Die wirksame Umsetzung makroregionaler Strategien erfordert:

eine entschlossenere politische Governance;

sowie die Definierung und Festlegung von Querschnittszielen, die sich auf nationaler Ebene in gezielteren internen Maßnahmen der Regierungen niederschlagen sollten.

3.1.1

Der EWSA ist der Meinung, dass für eine bessere Umsetzung der Partnerschaften auf europäischer Ebene und zwischen den europäischen Institutionen mehr Engagement erforderlich ist.

3.1.2

Die auf transnationaler Ebene in einer bestimmten Region tätigen Organisationen sollten an der Entwicklung der Governance beteiligt und in dem Prozess eine Rolle spielen.

3.2

Es wäre sinnvoll, verschiedene und leichter zugängliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen und zugleich die branchenspezifischen Instrumente auszubauen, u. a. auch diejenigen, die sich an den privaten Sektor richten.

3.3

Unabdingbare Voraussetzungen für die Umsetzung makroregionaler Strategien sind Vorhersehbarkeit, ein sicheres Umfeld für die maßgeblichen Interessenträger, der kontinuierliche Auf- und Ausbau von Kapazitäten, die bessere Unterrichtung der Zivilgesellschaft sowie ihre Beteiligung an der Durchführung der Aktionspläne, die intensivere Nutzung von elektronischen Behördendiensten und Informations- und Kommunikationstechnologien sowie generell die Stärkung der subnationalen und regionalen Identität und die bessere Anpassung an die Strategien.

4.   Empfehlungen für die Weiterentwicklung der wichtigsten Aspekte der Governance

4.1

Die Zusammenarbeit zwischen den politischen und strategischen Entscheidungsträgern (Führung) und den eigenverantwortlichen Partnern

4.1.1

Die Kommission schlägt in ihrer Analyse zwar Verbesserungen vor, bekräftigt aber die bestehende Governance-Struktur. Sie argumentiert, dass häufige regelmäßige Treffen auf den verschiedenen Ebenen, von der Strategieplanungsphase über die Aktionspläne bis hin zur Umsetzung, den maßgeblichen Interessenträgern einen besseren Überblick verschaffen und es zugleich der politischen Ebene ermöglichen wird, über Erklärungen hinauszugehen und die Prozesse besser zu verstehen und die geleistete Arbeit genauer zu bewerten.

4.1.2

Eine der wichtigsten praktischen Empfehlungen ist die, dass die Kommission die Rolle der makroregionalen Strategien im Rahmen der EU-Politikfelder aufwerten sollte, ohne ihre Unterstützungs- und Orientierungskompetenz zu überschreiten.

4.1.3

Ein wichtiger Beitrag könnte darin bestehen, auf themenspezifischen Treffen die während der Planung und Umsetzung der Strategien auftretenden Probleme zu erörtern. Derartige Probleme haben Auswirkungen auf europäischer Ebene; sie beeinflussen die EU-Politik und werden von dieser beeinflusst und bedürfen der Koordinierung auf hoher Ebene.

4.1.4

Der EWSA ist außerdem der Auffassung, dass die Rolle der nationalen Kontaktstellen, die die Verbindung zwischen der politischen Ebene und dem Umsetzungsprozess bilden, gestärkt werden sollte. Er würde es insbesondere begrüßen, wenn ein Sonderbeauftragter bestellt würde, um die Umsetzung der einzelnen Strategien zu überwachen, diese zu bewerten und anlässlich der Konsultationstreffen der Verantwortlichen oder der zuständigen Fachminister Bericht zu erstatten.

4.1.5

Laut Kommissionsbericht muss unbedingt dafür gesorgt werden, dass die maßgeblichen Akteure, die Kooperationspartner und die Interessenträger in den einzelnen Ländern und Regionen den Prozess mittragen; es müssen gemeinsam Ansätze entwickelt, wirtschaftliche Ziele definiert und ein Zeitplan für die Umsetzung festgelegt werden; auch müssen regelmäßige Diskussionen stattfinden; außerdem muss das Bewusstsein geschärft und generell eine wirksame Beteiligung sichergestellt werden.

4.1.6

Die wichtigsten Interessenträger sind nach Ansicht des EWSA die nationalen, regionalen und lokalen Entscheidungsträger und die Zivilgesellschaft, u. a. die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, die Vertreter von Wissenschaft und Forschung sowie generell die Vertreter von nichtstaatlichen Organisationen.

4.1.6.1

Die Stärkung der Beteiligung dieser Interessenträger ist eine Priorität, auch wenn bereits zahlreiche bewährte Verfahrensweisen für die Beteiligung sowohl der politischen Akteure als auch der Zivilgesellschaft existieren.

4.1.7

In Bezug auf die Zukunft wird im Kommissionsbericht (1) dem Ausbau der Tätigkeit erfolgreicher Foren und der engeren Einbindung der Parlamente und der parlamentarischen Ausschüsse große Bedeutung beigemessen. Außerdem wird betont, dass die Vertreter der Zivilgesellschaft überall in den jeweiligen Makroregionen ihren Teil beisteuern müssen; sie müssen ihre Standpunkte stärker ins Blickfeld rücken und sich an der effektiveren Festlegung thematischer Ziele und Aufgaben beteiligen.

4.1.8

Eine engere Zusammenarbeit zwischen Theorie (Hochschulen) und Praxis (Unternehmen, KMU) in Verbindung mit dem Ausbau der Beziehungen zwischen den Studierenden verschiedener Hochschulen könnte im Hinblick auf die Planung und Umsetzung der Strategien sehr hilfreich sein.

4.1.9

Nicht zuletzt ist es sehr wichtig, dass die Delegationen und Vertretungen der Kommission an den Prozessen beteiligt werden, insbesondere was die Nutzung von IKT-Systemen angeht.

4.2   Koordinierung

4.2.1

Die aus Vertretern der 28 EU-Mitgliedstaaten bestehende „hochrangige Gruppe“ wird derzeit eingerichtet, die Planung für ihr erstes jährliches Treffen läuft. Dies ist notwendig, um die Koordinierung auf EU-Ebene mit Blick auf eine engere Abstimmung der tagtäglichen Prozesse und der politischen Ebenen zu stärken. Zu den Aufgaben der Gruppe werden die Kontakte zu den anderen maßgeblichen Interessenträgern gehören. Nach Ansicht des EWSA zeigt sich an der Arbeit der Gruppe, dass eine gesamteuropäische makroregionale Strategie konzipiert werden muss.

4.2.2

Vergleichbar mit den Aufgaben der nationalen Kontaktstellen hat die hochrangige Gruppe auch für Kohärenz zwischen den Mitteln für die Umsetzung von EU-Strategien und denen für makroregionale Strategien zu sorgen. Die institutionellen Strukturen werden durch „nationale Koordinierungsplattformen“ vervollständigt, die die Konsultation und den Dialog zwischen den verschiedenen ministeriellen, regionalen, lokalen, zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Organisationen und Interessenträgern ermöglichen.

4.2.3

In der Analyse der Kommission wird die Schlüsselrolle hervorgehoben, die den nationalen Kontaktstellen bei der Koordinierung zukommt. Neben ihren Grundaufgaben wie beispielsweise Abstimmung und Koordinierung der Verfahren, Monitoring, Sicherstellung und Überwachung des Informationsflusses zwischen den verschiedenen Entscheidungsgremien und Information der politischen Entscheidungsträger sind die nationalen Kontaktstellen auch dafür verantwortlich, den verschiedenen Institutionen wie z. B. den von der jeweiligen makroregionalen Strategie betroffenen Parlamenten jährlich Bericht zu erstatten und an der Erfassung sowie ggf. Koordinierung der nationalen und regionalen Ressourcen mitzuwirken.

4.3   Umsetzung

4.3.1

Der EWSA stimmt zu, dass die für die Umsetzung zuständigen Akteure einer erheblichen politischen und administrativen Unterstützung bedürfen und ihre finanziellen und personellen Ressourcen aufgestockt werden müssen.

4.3.2

Die Umsetzung makroregionaler Strategien erfordert unabhängige, landesweit renommierte Personen, die gut in den lokalen Kontext integriert sind und über das notwendige Sachwissen verfügen, um die Koordinierung vorzunehmen, ggf. mit der Unterstützung der Lenkungsgruppen für eine bestimmte Ebene.

4.3.3

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die durch die Neuregelung geschaffene Möglichkeit, EU-Mittel direkt zur Unterstützung makroregionaler Strategien einzusetzen, eine wichtige Änderung bedeutet.

4.3.4

Die Kommission hält in ihrer Analyse fest, dass die zuständigen Minister die Hauptverantwortung dafür tragen, für die an der Umsetzung Beteiligten für Klarheit zu sorgen und ihnen die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Solange die notwendigen Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt sind, ist nicht mit einem Mehrwert zu rechnen.

4.3.5

Die Koordinatoren fungieren als Bindeglied zwischen der politischen Ebene auf der einen Seite und den spezifischen Projekten und deren Umsetzung auf der anderen Seite. Zusammen mit den Lenkungsgruppen bilden sie die eigentliche Leitungsinstanz.

4.3.6

In der Analyse der Kommission wird darauf hingewiesen, dass auf europäischer Ebene bereits erhebliche organisatorische und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen. Mithilfe dieser Ressourcen kann und sollte Doppelarbeit und Redundanz bei der Steuerung, Koordinierung und Umsetzung der Strategien vermieden werden, wodurch beträchtliche Einsparungen erzielt werden können. Bereits bestehende Kenntnisse und Praktiken sollten weiterentwickelt werden.

4.3.7

In Bezug auf die Umsetzung sollte die Zusammenarbeit inhaltlich ausgebaut werden; es sollte häufigere Treffen und eine verstärkte Koordinierung zwischen den Themenbereichen geben, u. a. mittels engerer Verknüpfungen innerhalb der Kommission selbst.

4.3.8

Die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Ländern und Region ist von Makroregion zu Makroregion unterschiedlich. Die Schaffung allzu konventioneller institutioneller Strukturen muss vermieden werden. Stattdessen sollte dem guten Beispiel des Atlantikforums, das für die Entwicklung der atlantischen Küstenregionen eingerichtet wurde, und anderer innovativer Initiativen gefolgt werden.

4.3.9

In der Analyse der Kommission wird auf eine Option hingewiesen, die durch die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Ländern realisiert werden und erhebliche Vorteile bieten könnte. Der EWSA ist ebenfalls der Auffassung, dass die technischen Stellen Unterstützung in den Bereichen Informationsfluss, Organisationstätigkeit, Berichterstattung, Verbreitung bewährter Verfahrensweisen, Einrichtung der einzelnen Ausschüsse und Arbeitsgruppen sowie Organisation und Dokumentation von Sitzungen leisten könnte.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2014) 284 final.


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/69


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 in Bezug auf die Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz von unbegleiteten Minderjährigen zuständig ist, die keine Familienangehörigen, Geschwister oder Verwandten mit rechtmäßigem Aufenthalt in einem Mitgliedstaat haben

(COM(2014) 382 final — 2014/0202 (COD))

(2015/C 012/11)

Berichterstatterin:

Grace ATTARD

Das Europäische Parlament beschloss am 3. Juli 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 in Bezug auf die Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz von unbegleiteten Minderjährigen zuständig ist, die keine Familienangehörigen, Geschwister oder Verwandten mit rechtmäßigem Aufenthalt in einem Mitgliedstaat haben

COM(2014) 382 final — 2014/0202 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 30. September 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 143 Stimmen bei 1 Gegenstimme folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen und Erwägungen

1.1

Der EWSA unterstützt den Vorschlag zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013. Jedoch müssen Hindernisse, wie u. a. die Komplexität von Verwaltungs-, Justiz- und anderen Systemen in den Mitgliedstaaten, fehlende Informationen und die Angst, gemeldet zu werden, angegangen werden, um sicherzustellen, dass kein Kind in einer unsicheren Rechtslage oder in Staatenlosigkeit verbleibt.

1.2

Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, dass der Grundsatz des „Wohls des Kindes“ Vorrang vor nationalem und internationalem Recht haben sollte.

1.3

Der EWSA weist darauf hin, dass der Vorschlag derzeit keine Kriterien dafür enthält, „wie“ und „von wem“ das „Wohl des Kindes“ bestimmt werden soll. Diese Festlegung sollte sich an den Regeln und Normen internationaler Menschenrechtskonventionen orientieren.

1.4

Der EWSA empfiehlt, dass Personen, die sich mit unbegleiteten Minderjährigen beschäftigen, in Sachen Achtung der Rechte des Kindes geschult werden sollten.

1.5

Um Interessenkonflikte zu vermeiden und den Einsatz qualifizierten Personals zu gewährleisten, sollte das Wohl des Kindes von einem unabhängigen Gremium ohne Verbindungen zu den Einwanderungsbehörden bestimmt werden. Vorzugsweise sollte diese Aufgabe von der in den einzelnen Mitgliedstaaten jeweils für den Jugendschutz zuständigen Stelle übernommen werden (1).

1.6

Der EWSA unterstreicht, dass die Beendigung der Inhaftnahme von Kindern — ob unbegleitet oder nicht — als dringende Priorität angegangen werden sollte, unabhängig von dem Verfahren, dessen Gegenstand sie sind.

1.7

Unbegleiteten oder von ihren Eltern getrennten Kindern sollte der Zugang zu einem Land nie verweigert werden, entsprechend den Verpflichtungen der Nichtzurückweisung , die sich aus internationalen Menschenrechtsnormen, dem humanitären Völkerrecht und dem Flüchtlingsrecht ergeben.

1.8

Der EWSA empfiehlt, dass die Kommission einheitliche Verfahren sowie angemessene und flexible Fristen festlegen sollte für Fälle der in Absatz 4b, 4c und 4d beschriebenen Art, um eine Einigung unter den Mitgliedstaaten herbeizuführen, die auf dem Wohl des Kindes basiert.

1.9

Die Begriffe „aufklären“ und „effektiv ermöglichen“ müssen klar definiert werden, um sicherzustellen, dass dem Minderjährigen angemessen geschulte Sozialarbeiter, unabhängige Dolmetscher und ein qualifizierter Vertreter als gesetzlicher Vormund zur Seite stehen, damit er die Auswirkungen des gesamten Prozesses der Beantragung von internationalem Schutz in einem EU-Mitgliedstaat richtig einschätzen kann.

1.10

Nach Auffassung des EWSA sollte ein gesetzlicher Vormund ein „qualifizierter Vertreter“ mit Erfahrung im Umgang mit Minderjährigen und Kenntnissen der nationalen Ausländer- und Jugendschutzgesetzgebung sein.

1.11

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten eindringlich auf, dafür zu sorgen, dass alle von ihnen eingeführte Verfahren der Altersbestimmung auf dem Wohl des Minderjährigen basieren, mit dem wesentlichen Ziel, dass der Minderjährige die Rechte und den Schutz erhält, auf die er Anspruch hat. Diese Bestimmung sollte in Anwesenheit eines gesetzlichen Vormunds durchgeführt werden.

1.12

Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, dass in Fällen, bei denen ein Minderjähriger im Laufe des Verfahrens der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, die Volljährigkeit erreicht, als Alter der Person das Alter zum Zeitpunkt der ersten Antragstellung angesetzt werden sollte.

1.13

Einige der EU-politischen Agenden für den Schutz von Minderjährigen ohne Papiere in einer Migrationssituation müssen einer Überprüfung unterzogen werden (2). Dazu zählen u. a. die Legalisierung als Instrument der Migrationspolitik, die Information und Unterstützung von Familien ohne Papiere, der Aufbau einer Datenbank mit Beweismaterial, die Registrierung von Geburten und Datenschutz sowie das Recht auf allgemeine und berufliche Bildung, Gesundheitsdienste und Unterbringung.

1.14

Nach Ansicht des EWSA sollte der Begriff „unbegleitete Kinder in einer irregulären Migrationssituation“umfassender definiert werden, um die verschiedenen Situationen abzudecken, die in der Praxis aufgetreten sind, aber von der vorgeschlagenen Verordnung nicht erfasst werden.

1.15

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der Konsultation mit Fachleuten aus der Zivilgesellschaft, Rechtsexperten und Fachleuten mit Erfahrung im Umgang mit minderjährigen Migranten und ist gespannt auf eine diesbezügliche Zusammenarbeit mit der Kommission.

2.   Zusammenfassung des Kommissionsvorschlags

2.1

Mit diesem Vorschlag bezweckt die Kommission eine Änderung von Artikel 8 Absatz 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist („Dublin-III-Verordnung“).

2.2

Der Vorschlag erfolgt vor dem Hintergrund eines kürzlich ergangenen Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union (3), in dem geklärt wird, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung von Anträgen unbegleiteter Minderjähriger zuständig ist. Dies wird die Lage der Minderjährigen ohne Familienangehörige, Geschwister oder Verwandte im Hoheitsgebiet der EU, die internationalen Schutz beantragen, verbessern.

2.2.1

Absatz 4a ist eine Kodifizierung des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache C-648/11 und lautet wie folgt: „Hat der unbegleitete Minderjährige keine Familienangehörigen, Geschwister oder Verwandten im Sinne der Absätze 1 und 2, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, ist der Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat, in dem der unbegleitete Minderjährige einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und sich aufhält, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient.“

2.2.2

Absatz 4b regelt eine Situation, in der sich ein Minderjähriger, auf den in Absatz 4a Bezug genommen wird, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, ohne dort einen Antrag gestellt zu haben. Dieser Mitgliedstaat soll den unbegleiteten Minderjährigen über sein Recht aufklären, einen Antrag zu stellen, und es ihm effektiv ermöglichen, in diesem Mitgliedstaat einen Antrag zu stellen — es sei denn, dies dient nicht dem Wohl des Minderjährigen.

2.2.3

Der Minderjährige hat somit zwei Optionen: Er kann in einem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz stellen oder von der Antragstellung absehen.

2.2.4

Gemäß Absatz 4c wird der Minderjährige in letztgenanntem Fall — d. h. dem Fall eines Minderjährigen, der von einer neuen Antragstellung in dem Mitgliedstaat absieht, in dem er sich aufhält, was nicht Gegenstand der Rechtssache C-648/11 ist, an den Mitgliedstaat überstellt, der unter Berücksichtigung des Wohles des Minderjährigen als am geeignetsten gilt. Mit dieser verlässlichen und berechenbaren Regelung soll sichergestellt werden, dass sich der zuständige Mitgliedstaat eindeutig bestimmen lässt und dass sich das Verfahren nicht unnötig lange hinzieht. Die Garantien für Minderjährige gemäß Artikel 6 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 gelten für alle Minderjährigen, die unter die in dieser Verordnung festgelegten Verfahren fallen; mit dem Vorschlag wird jedoch in Absatz 4c ferner die Verpflichtung zur Zusammenarbeit zwischen dem ersuchten und dem ersuchenden Mitgliedstaat eingeführt, um zu bewerten, was dem Wohl des Minderjährigen dient.

3.   Hintergrund

3.1

Unbegleitete Minderjährige stehen vor vielfältigen und vielschichtigen Herausforderungen, die umfassende fach- und ebenenübergreifende Ansätze erfordern.

3.2

Der EWSA empfiehlt, dass jedes Kind seinem Alter entsprechend über seine Rechte aufgeklärt werden sollte, auf der Grundlage der einschlägigen Übereinkommen der Vereinten Nationen, um sicherzustellen, dass Minderjährige — insbesondere „unsichtbare“ Minderjährige, die nicht angemessen betreut werden — in die Lage versetzt werden, einen Antrag auf Schutz zu stellen.

3.3

2013 wurden ca. 1 20  000 Asylanträge in der EU von Minderjährigen gestellt — was mehr als 25 % aller Asylanträge entspricht. 12  685 der Asylbewerber waren unbegleitete Minderjährige (4). Der Anteil unbegleiteter Minderjähriger, die einen Asylantrag in Europa stellen, ist in den vergangenen zehn Jahren mit ca. 5 % aller in Europa gestellten Asylanträge stabil geblieben.

3.4

Der Status von minderjährigen Migranten kann sich in verschiedenen Phasen ihrer Reise unterscheiden und sie können auf viele unterschiedliche Arten schutzbedürftig sein (5), die alle berücksichtigt werden müssen.

3.5

Sie können mit ihren Familienangehörigen, allein oder mit Nicht-Familienangehörigen unterwegs sein bzw. nach dem Eintreffen im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats ohne Begleitung zurückgelassen worden sein. Auch können die Eltern oder Betreuer dieser Kinder ohne Papiere sein, z. B. wenn sie irregulär eingewandert oder wenn ihre Aufenthaltsgenehmigungen oder Visa als Familie abgelaufen sind. Die Eltern oder Betreuer können auch reguläre Migranten sein, wenn z. B. Kinder für eine Familienzusammenführung nach Europa kommen, aber nicht unter eine Regelung für die Familienzusammenführung fallen. Auch in Europa geborene Kinder können ohne Papiere sein, weil ihre Eltern keine Papiere haben. Außerdem werden Kinder im Falle einer Ausweisung mitunter zurückgelassen.

3.6

Die Mitgliedstaaten sind rechtlich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Urteile des Europäischen Gerichtshof, insbesondere in der Rechtssache C-648/11 in Bezug auf die Verordnung (EU) Nr. 604/2013, und die im Übereinkommen der Vereinten Nationen festgeschriebenen Schutzrechte und Normen in nationale Rechtsvorschriften umgesetzt werden und zwei übergeordneten Grundsätzen des Übereinkommens über die Rechte des Kindes Rechnung tragen: (i) dem Diskriminierungsverbot (Artikel 2) und (ii) dem Wohl des Kindes (Artikel 3). Die Rechtmäßigkeit jeder Politik oder Praxis, die gegen das Völkerrecht und/oder europäisches Recht verstößt, sollte in Zweifel gezogen werden, außerdem sollten bei Verletzungen der Rechte des Kindes Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Mit der vorgeschlagenen Verordnung wird sichergestellt, dass die Mitgliedstaaten den Bestimmungen der Allgemeinen Bemerkung Nr. 6 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes nachkommen, in der es um die Behandlung unbegleiteter und von ihren Eltern getrennter Kinder außerhalb ihres Herkunftslands geht.

4.2

Im Haager Übereinkommen von 1996 (6) heißt es, dass die Altersgrenze von „Kindern“ oder „Minderjährigen“ unabhängig von nationalen Rechtsvorschriften IMMER bei 18 Jahren liegt.

4.3

Kerngrundsätze in Bezug auf die Rechte des Kindes müssen in alle Bereiche der Konzipierung, Umsetzung und Überwachung von Gesetzen, Politiken, Verfahren und Praktiken mit Auswirkungen auf unbegleitete minderjährige Migranten aufgenommen werden.

4.4

Minderjährige, deren Antrag zuvor in einem Mitgliedstaat abgelehnt wurde, sollten von dieser vorgeschlagenen Rechtsvorschrift erfasst werden.

4.5

Personen, die sich mit unbegleiteten Minderjährigen beschäftigen (wie z. B. Strafverfolgungsbehörden, Justizbehörden, Journalisten, Dolmetscher, Sozial- und Jugendarbeiter, Gesundheitspersonal, Vormunde, rechtliche Vertreter, Polizei- und Grenzschutzbeamte) sollten in Sachen Achtung der Rechte des Kindes geschult werden.

4.6

Das UN-Übereinkommen verpflichtet die Staaten, Kinder ohne Papiere genau so zu behandeln wie alle anderen Kinder. In der Praxis bestehen jedoch Spannungen zwischen den nationalen Rechtsrahmen für die Einwanderungskontrolle und für den Jugendschutz. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass irreguläre minderjährige Migranten im Rahmen nationaler Jugendschutzregelungen zuerst und vor allem als Kinder gesehen und geschützt werden.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

Der EWSA hat seine Ansichten zu Politik und Praktiken in Bezug auf die Grundrechte von regulären und irregulären Migranten in zahlreichen Stellungnahmen (7) sowie im Wege seiner Mitwirkung im Europäischen Integrationsforum deutlich zum Ausdruck gebracht.

5.2

Kinderfreundliche Aufnahmebedingungen im Sinne des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes und anderer internationaler Übereinkommen, wie dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, sollten für alle minderjährigen Migranten mit und ohne Papiere auch bei irregulärer Migration sichergestellt werden, auch im Falle einer innereuropäischen Migration.

5.3

Gleich beim Eintreffen eines unbegleiteten oder von seinen Eltern getrennten Kindes sollten kostenlose Rechtshilfe und ein qualifizierter, unabhängiger gesetzlicher Vormund bereitgestellt bzw. bestimmt werden, um den Minderjährigen bis zu seiner Zusammenführung mit seiner Familie bzw. bis zu seiner Unterbringung in einer geeigneten Pflegestelle zu unterstützen, zu beraten und zu beschützen.

5.4

Zwar erkennt das EU-Recht die Bedeutung der gesetzlichen Vormundschaft an, doch fehlt eine Festlegung der Pflichten eines gesetzlichen Vormunds. Der gesetzliche Vormund sollte ein „qualifizierter Vertreter“ mit Erfahrung im Umgang mit Minderjährigen und Kenntnissen der nationalen Ausländer- und Jugendschutzgesetzgebung sein, der befugt ist, das Kind bei allen Entscheidungsprozessen zu vertreten, das Einverständnis des Kindes vorausgesetzt (8). Der Vormund sollte über die finanziellen Mittel verfügen, um ggf. weiteres Fachwissen zum Wohle des Kindes einzuholen.

5.5

Unbegleitete Minderjährige sollten während des gesamten Verfahrens der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu den gleichen Bedingungen wie andere Kinder, die der Gerichtsbarkeit des Aufnahmemitgliedstaats unterliegen, Zugang zu Unterbringung, allgemeiner und beruflicher Bildung und Gesundheitsdiensten haben, wobei insbesondere der psychische Zustand des Kindes zu beachten ist.

5.6

Die Meinung der Kinder und ihre Erfahrungsberichte müssen bei der Konzipierung politischer Reaktionen und von Aktionsplänen für Kinder berücksichtigt werden. Untersuchungen zum Bedarf an Beweismaterial, bei dem das Kind im Mittelpunkt steht, einschließlich des Rechts des Kindes auf freie Meinungsäußerung in allen Belangen, die es betreffen, haben wertvolle Aussagen aus erster Hand für den Europäischen Aktionsplan für unbegleitete Minderjährige (2010-2014) erbracht (9).

5.7

Die Begriffe „aufklären“ und „effektiv ermöglichen“ müssen eindeutig definiert werden, um (i) sicherzustellen, dass dem Minderjährigen angemessen geschulte Sozialarbeiter, unabhängige Dolmetscher und ein gesetzlicher Vormund dabei helfen, die Auswirkungen des gesamten Verfahrens der Beantragung von internationalem Schutz in einem EU-Mitgliedstaat in einer für ihn verständlichen Sprache nachzuvollziehen, und (ii) der Minderjährige sein Einverständnis — erforderlichenfalls schriftlich — erteilen muss bzw. verweigern kann.

5.8

In keiner Phase des Verfahrens des Antrags auf internationalen Schutz sollte der Minderjährige in Haft genommen werden. Zudem würde eine Haft seinem Recht im Wege stehen, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und dort Asyl zu beantragen (10).

5.9

Jede gemäß den Verordnungen Dublin II und Dublin III in Bezug auf unbegleitete minderjährige Asylbewerber getroffene Entscheidung sollte mit der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (11) übereinstimmen.

5.10

Übereinkünfte und Protokolle mit verschiedenen Mitgliedstaaten, die in der vorgeschlagenen Verordnung gefordert werden, sollten im Einklang mit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union stehen.

5.11

Der EWSA unterschreibt voll und ganz, dass die Kommission nach der Annahme dieser geänderten Verordnung — wie in der Dublin-III-Verordnung dargelegt und auf der Grundlage von Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union — eine Überprüfung der delegierten Rechtsakte vornehmen sollte.

5.12

Der Begriff „volljährige Geschwister“ muss im Zusammenhang mit dem Recht eines Minderjährigen auf Familienzusammenführung geklärt werden, um sicherzustellen, dass der oder die Volljährige seinen/ihren Pflichten gegenüber dem Minderjährigen auf verantwortliche Weise im Sinne des Gesetzes nachkommen kann.

5.13

Der EWSA empfiehlt, dass die Mitgliedstaaten schutzbedürftige Kinder, auch Kinder mit psychischen Problemen, geistigen oder körperlichen Behinderungen und/oder Gesundheitsproblemen ebenso wie Kinder in Notsituationen — darunter Kinder, die aus Krisenregionen kommen, wo sie oder ihre Familie traumatische Erfahrungen gemacht haben — sowie schwangere Teenager oder Eltern unter 18 Jahren, angemessen unterstützen und ihnen eine spezialisierte Versorgung bieten.

5.14

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten eindringlich auf, dafür zu sorgen, dass Verfahren der Altersbestimmung (i) auf dem Wohl des Minderjährigen basieren (12), (ii) dass die Anwesenheit eines gesetzlichen Vormunds vorgeschrieben ist und dass sie (iii) von verschiedenen unabhängigen Fachleuten bearbeitet werden, darunter Kinderpsychologen, Sozialarbeiter und Rechtsexperten als Teil eines Teams mit männlichen und weiblichen Fachleuten. Die Bestimmung und Entscheidung sollten genau dokumentiert werden.

5.15

Bis zum Abschluss der Altersbestimmung sollte jede Person, die angibt, minderjährig zu sein, als Minderjähriger angesehen und behandelt werden.

5.16

Die Altersbestimmung sollte vornehmlich anhand schriftlicher Unterlagen vorgenommen werden. Der spanische Gerichtshof hat kürzlich in einem Urteil festgelegt, dass die Unterlagen nicht in Zweifel gezogen werden sollten.

5.17

Der Minderjährige sollte über das Verfahren der Altersbestimmung und seine Folgen umfassend aufgeklärt werden, seine Meinung sollte unter Berücksichtigung seines Alters und seiner Reife angemessen berücksichtigt werden.

5.18

Wenn keine Unterlagen zur Verfügung stehen oder schwerwiegende Zweifel am Alter des Minderjährigen bestehen, kann als letzte Möglichkeit eine medizinische/körperliche Untersuchung durchgeführt werden, bei der die Kultur, Würde sowie die körperliche und geistige Unversehrtheit des Kindes zu achten sind, da einige körperliche Untersuchungen extrem belastend, in die Privatsphäre eingreifend und traumatisch sein können. Das Einverständnis des Minderjährigen in Kenntnis der Sachlage sollte verlangt werden, wenn medizinische/körperliche Untersuchungen für erforderlich gehalten werden. Neben der medizinischen/körperlichen Untersuchung sollte eine sozialpädagogische Begutachtung von Fachleuten durchgeführt werden. Beide Untersuchungen sollten kumulativ durchgeführt werden können.

5.19

Gegen die Ergebnisse aller Verfahren sollten Rechtsmittel eingelegt werden können.

5.20

Die Rechtslage in Bezug auf unbegleitete Minderjährige bei Erreichen der Volljährigkeit ist komplex und von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich. Zwar enthält die Asylrichtlinie die einschlägigen Verfahrensregeln, doch müssen Regeln für die Rechte von Personen aufgestellt werden, die während des Verfahrens 18 Jahre alt werden.

5.21

Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, dass in solchen Fällen das Alter in der Anfangsphase der Antragstellung bestimmt werden sollte, um die Gefahr zu verringern, dass die Minderjährigen in den Status des irregulären Aufenthalts gelangen und von der Bildfläche verschwinden.

5.22

Die Reaktion der Staaten auf das Problem des Kinderhandels darf sich nicht nach dem Einwanderungsstatus des Kindes und seinem Asylantrag richten, sondern muss vom Wohl des Kindes ausgehen.

5.23

Irreguläre minderjährige Migranten dürfen niemals nur aufgrund ihres Einwanderungsstatus oder wegen einer auf Ausbeutung zurückzuführenden Verwicklung in eine Straftat strafrechtlich verfolgt werden.

5.24

Die Mitgliedstaaten haben bis Ende Juli 2015 Zeit, die Asylrichtlinie durchzusetzen, die u. a. die Verpflichtung für die Mitgliedstaaten enthält, Fälle schutzbedürftiger unbegleiteter Kinder frühzeitig zu ermitteln.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Z.B. das Oficina de Protección de Menores in Spanien oder das Jugendamt in Deutschland.

(2)  Dr. Sarah Spencer, COMPAS, University of Oxford.

(3)  Rechtssache C-648/11 (MA und andere gegen Secretary of State for the Home Department (UK)).

(4)  Eurostat (2014), Asylstatistiken, http://epp.eurostat.ec.europa.eu/statistics_explained/index.php/Asylum_statistics

(5)  Hintergrundpapier des Europäischen Forums für die Rechte des Kindes (2012) — http://ec.europa.eu/justice/fundamental-rights/files/background_cps_children_on_the_move_en.pdf

(6)  Haager Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern („Haager Übereinkommen von 1996“), http://www.hcch.net/index_en.php?act=conventions.text&cid=70

(7)  (ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 29), (ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 6), (ABl. C 67 vom 6.3.2014), (ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 110).

(8)  Haager Übereinkommen von 1996.

(9)  FRA (2009): Developing indicators for the protection, respect and promotion of the Rights of the Child in the European Union.

(10)  UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes, Allgemeine Bemerkung Nr. 6, Behandlung unbegleiteter und von ihren Eltern getrennter Kinder außerhalb ihres Herkunftslands CRC/GC/2005/6.

(11)  Europäischer Gerichtshof, 6. Juni 2013, Rechtssache C-648/11.

(12)  European Network of Ombudspersons for Children (ENOC) — www.ombudsnet.org


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/75


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. XXX/XXX des Europäischen Parlaments und des Rates (Verordnung über amtliche Kontrollen) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates

(COM(2014) 180 final — 2014/0100 (COD))

(2015/C 012/12)

Berichterstatter:

Armands KRAUZE

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 2. April 2014 bzw. am 28. April 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. XXX/XX des Europäischen Parlaments und des Rates [Verordnung über amtliche Kontrollen] und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates

COM(2014) 180 final — 2014/0100 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 2. Oktober 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 16. Oktober) mit 61 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Legislativvorschlag der Europäischen Kommission, durch den die Entwicklung der ökologischen/biologischen Landwirtschaft in Europa parallel zur Nachfrageentwicklung gefördert werden soll, und teilt die Auffassung, dass die Unzulänglichkeiten des derzeitigen Systems behoben werden müssen. Die Kommission muss die Entwicklung der ökologischen Landwirtschaft und das Vertrauen der Verbraucher in biologische Erzeugnisse fördern.

1.2

Der EWSA befürchtet jedoch, dass in der Folgenabschätzung der Kommission die Auswirkungen der neuen Regelung auf die weitere Entwicklung des Öko-Landbaus in Europa nicht hinreichend erfasst werden. Dies gilt auch für die Auswirkungen auf die Öko-Landwirte und die Kontinuität der Produktion.

1.3

Der EWSA unterstützt die Absicht der Kommission, kleine landwirtschaftliche Betriebe in die ökologische Landwirtschaft einzubeziehen und den Verwaltungsaufwand in der gesamten Erzeugungskette für ökologische Erzeugnisse zu senken.

1.4

Die EU ist ein Nettoimporteur ökologischer Erzeugnisse, denn die steigenden Erzeugerkosten und der Verwaltungsaufwand, die auf den Landwirten in der EU lasten, gestatten es nicht, die ökologische Erzeugung in den EU-Mitgliedstaaten so auszudehnen, dass die wachsende Nachfrage gedeckt werden kann.

1.5

Der EWSA befürwortet im Großen und Ganzen das anvisierte Ziel der Kommission einer kompletten Umstellung von bisherigen betrieblichen Mischformen auf den ökologischen Landbau, spricht sich jedoch für Ausnahmeregelungen in bestimmten Fällen aus. Es sind weitere unterstützende Maßnahmen erforderlich, um den Landwirten den Übergang zu einer rein ökologischen Bewirtschaftung zu erleichtern.

1.6

Der EWSA ersucht die Europäische Kommission, den Verordnungsvorschlag in Bezug auf Vermehrungs- und Saatgut nachzubessern, weil es für viele Öko-Landwirte schwierig sein wird, bis 2021 ausschließlich ökologische Saaten einzusetzen.

1.7

Der EWSA erwartet, dass in den Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) sowie im Rahmen anderer Abkommen weder die in der EU für die ökologische Landwirtschaft geltenden Standards untergraben noch die Vorschriften für die Vermarktung und Zertifizierung zur Disposition gestellt bzw. geändert werden.

1.8

In der ökologischen Landwirtschaft müssen in vielen Bereichen höhere Standards für das Tierwohl eingehalten werden als in der konventionellen Landwirtschaft, aber in bestimmten Fällen können die ökologischen Erzeuger die hohen Anforderungen u.U. nur schwer einhalten. Der EWSA empfiehlt der Kommission, nach sorgfältiger Abwägung etwaige Ausnahmen von den speziellen Anforderungen festzulegen, die im Hinblick auf die artgerechte Tierhaltung in der ökologischen Landwirtschaft gelten, damit traditionelle, seit langem praktizierte Verfahren und Methoden der Haltung lokaler Rassen weiterbestehen können.

1.9

Der EWSA empfiehlt der Kommission, die traditionellen, historischen und klimatischen Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten und Regionen sowie die nationalen Besonderheiten der Erzeugung zu analysieren und zu berücksichtigen, um Ausnahmeregelungen flexibel handhaben zu können, während gleichzeitig ein gewisses Maß an Harmonisierung gewährleistet sein sollte.

1.10

Daher müssen die Erzeuger nach dem Inkrafttreten der neuen Regelung, in der Mitte der Finanzierungsperiode 2014-2020 für die Programme zur Entwicklung des ländlichen Raums, entscheiden können, ob sie die bestehenden Verpflichtungen weiterführen oder neue Verpflichtungen entsprechend der neuen Regelung eingehen. Es muss sichergestellt sein, dass Änderungen am bestehenden Rechtsrahmen während eines laufenden Vertragszeitraums nicht rückwirkend Sanktionen gegen diejenigen Landwirte zur Folge haben, die sich nicht an die geänderten Anforderungen anpassen können.

1.11

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, der Besonderheit der europäischen Gebiete in äußerster Randlage Rechnung zu tragen, damit sie eine lokale ökologische Landwirtschaft entwickeln können (Zugang zu Saatgut, unzureichend diversifizierte Versorgung, Gesundheitsprobleme).

1.12

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, den Status des Gelée Royale, des Pollens und des Bienenwachses zu klären, indem sie in die Liste der anderen Erzeugnisse in Anhang I des Entwurfs der Verordnung über die ökologische Landwirtschaft aufgenommen werden.

1.13

Der EWSA ersucht die Europäische Kommission, eine angemessene Unterstützung für Innovationen und Bildung im Bereich der biologischen Landwirtschaft bereitzustellen und dabei der Berufsausbildung der Junglandwirte und der lebenslangen Weiterbildung der landwirtschaftlichen Erzeuger eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

1.14

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, einen Verordnungsvorschlag auszuarbeiten, in dem Direktverkauf und kurze Vertriebswege für ökologische Erzeugnisse gefördert werden.

1.15

Der EWSA fordert die Europäische Kommission außerdem auf, in dieser Verordnung die notwendigen Maßnahmen zur Förderung der öffentlichen und kollektiven Anschaffung ökologischer Lebensmittel in Schulen, Krankenhäusern und sonstigen öffentlichen Einrichtungen zu erleichtern.

2.   Hintergrund

Allgemeine Bemerkungen zu den Standpunkten der Interessenträger

2.1

Öko- oder Bio-Landbau ist die Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen im Rahmen eines ganzheitlichen Produktionssystems, bei dem die Verwendung chemisch-synthetischer Pflanzenschutzmittel stark reglementiert ist, auf die Verwendung von Mineraldünger verzichtet wird und der Einsatz gentechnisch veränderter Organismen (GVO) verboten ist.

2.2

Öko-Landbau beschränkt sich nicht auf eine bestimmte Erzeugungs- oder Herstellungsmethode bestimmter Produkte, sondern fügt sich in ein umfassenderes Konzept ein. Öko-Landbau trägt sowohl den Standortgegebenheiten als auch den sozialen Bedingungen Rechnung. Es handelt sich um eine Form der Erzeugung, die auf einer weitaus umfassenderen Vision beruht, in der auch die sozioökonomische, die politische und die soziokulturelle Dimension berücksichtigt werden.

2.3

In ökologisch bewirtschafteten Gebieten gibt es gewöhnlich eine größere biologische Vielfalt, d. h. mehr Pflanzen- und Insektenarten als in der konventionellen Landwirtschaft. Ökologisch bewirtschaftete Böden beherbergen viel mehr Organismen, die dazu beitragen, die Struktur des Bodens und einen hohen Gehalt an organischem Material zu bewahren, was die Belüftung und Entwässerung des Bodens begünstigt.

2.4

Die Wasserqualität in der Näher solcher Landwirtschaftsbetriebe ist höher, weil im ökologischen Landbau auf schädliche synthetische Pestizide und Mineraldünger verzichtet wird. Die richtige Fruchtfolge hilft, die Fruchtbarkeit des Bodens und die Wirkung der Nährstoffe zu verbessern. Der Vergleich der landwirtschaftlichen Arbeitsweisen ergibt, dass die Nitrat-Ausschwemmung auf einem Hektar ökologisch bewirtschafteter Fläche um 57 % niedriger ist.

2.5

Durch die ökologische Landwirtschaft entstehen „grüne“ Arbeitsplätze. Bei einer Untersuchung der Beschäftigungsverhältnisse in der ökologischen Landwirtschaft im Vereinigten Königreich und in Irland im Jahre 2011 wurde festgestellt, dass es in der ökologischen Landwirtschaft 135 % mehr Vollzeitbeschäftigte gibt als in der konventionellen Landwirtschaft (1).

2.6

Im Rahmen der von der Kommission 2013 durchgeführten Online-Konsultation betonten die Interessenträger, dass die geplante Revision der Rechtsvorschriften in diesem Bereich bei den Erfolgen des geltenden Rechts ansetzen und auf die Fortentwicklung des Öko-Landbaus in der EU abheben sollte. Von den seitens der Kommission vorgeschlagenen Szenarien bevorzugten die Interessenträger mehrheitlich die politische Lösung, die auf die Verbesserung des Status quo durch eine bessere Durchsetzung und Anpassung der derzeitigen Rechtsvorschriften abzielt.

2.7

Die Europäische Kommission hat einen Legislativvorschlag vorgelegt, der erhebliche Änderungen beinhaltet; dabei wurden die Standpunkte der Interessenträger und der Zivilgesellschaft zu den neuen Vorschriften allerdings nicht berücksichtigt.

Allgemeine Bemerkungen zu den Rechtsetzungsinitiativen der Kommission

2.8

Der Vorschlag der Kommission konzentriert sich auf drei Hauptziele: Wahrung des Vertrauens der Verbraucher, Wahrung des Vertrauens der Erzeuger und vereinfachte Umstellung landwirtschaftlicher Betriebe auf die ökologische Erzeugung.

2.9

Die Kommission schlägt vor, die Vorschriften (sowohl in der EU als auch für Importerzeugnisse) durch die Beseitigung zahlreicher Ausnahmeregelungen für die Erzeugung und Kontrolle zu stärken und zu harmonisieren, der internationalen Dimension des Handels mit Öko-Erzeugnissen durch neue Ausfuhrbestimmungen besser Rechnung zu tragen und die Wirksamkeit und Effizienz der Kontrollen durch Einführung eines risikobasierten Ansatzes zu verbessern.

2.10

Ein Hauptziel der Kommission ist es, Kleinlandwirten die Umstellung auf den Öko-Landbau durch Einführung einer Gruppenzertifizierung zu erleichtern und Rechtsvorschriften zu vereinfachen, um die Verwaltungskosten für die Landwirte zu senken und die Transparenz zu erhöhen.

3.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

3.1

Der EWSA begrüßt, dass die Unzulänglichkeiten des derzeitigen Systems behoben werden sollen. Zum Beispiel ist es notwendig, die kleinen Landwirtschaftsbetriebe in die ökologische Landwirtschaft einzubeziehen und die Verwaltungslasten abzubauen, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten und das Vertrauen der Verbraucher in die ökologische Landwirtschaft zu stärken.

3.2

Durch höhere Qualitätsstandards für ökologische Erzeugnisse und strengere Vorschriften für die Erzeugung kann das Vertrauen der Verbraucher gestärkt und der Preisunterschied zu Erzeugnissen aus konventioneller Landwirtschaft gerechtfertigt werden. Allerdings ist zu bedenken, dass kleine Betriebe bei der Erfüllung dieser Standards mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein können.

3.3

Der EWSA fordert die Kommission auf, klar darzulegen, dass die wichtigsten Themen, die heute von der geltenden Verordnung erfasst werden, auch in die neue Verordnung — und nicht in die delegierten Rechtsakte — aufgenommen werden und weiterhin Gültigkeit haben. In Konsultation mit den interessierten Kreisen muss sie rechtzeitig prüfen, in welchen Fällen Umsetzungsakte und in welchen delegierte Rechtsakte erforderlich sind.

3.4

Der EWSA weist darauf hin, dass der ökologische Landbau weder mit der Nutzung gentechnisch veränderter Produkte in der Erzeugung noch mit dem Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen in ökologischen Betrieben oder in deren Nähe vereinbar ist.

3.5

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, den wissenschaftlichen Erkenntnissen über Blütenbestäubung Rechnung zu tragen. Durch den Fernflug der Bestäuber, insbesondere der Honigbiene (Apis Mellifera), erfolgt die zufällige Übertragung von Blütenstaub. Dieser über die Jahrmillionen entstandene Mechanismus sichert die Bestäubung der Blüten — heute übertragen die Bestäuber allerdings auch Blütenstaub mit modifizierten Genen. Wissenschaftliche Untersuchungen (2) haben z. B. ergeben, dass die Honigbiene, die zu den bedeutendsten bestäubenden Tierarten zählt, bis zu 14 km zurücklegt.

3.6

Der EWSA befürchtet, dass den Landwirten durch die Einführung gesonderter Grenzwerte für Produkte des Ökologischen Landbaus, wie es insbesondere unter Berücksichtigung der Richtlinie 2006/125/EG vorgesehen ist, erhebliche zusätzliche Kosten entstehen können. Damit würde eine gedeihliche Entwicklung des Sektors behindert oder verhindert, betroffen wären voran die kleineren Erzeuger des Ökologischen Landbaus. Der EWSA geht davon aus, dass ökologische Landwirte genau wie alle anderen Landwirte den gleichen Umweltbedingungen ausgesetzt sind. Deshalb sollte auf gesonderte Grenzwerte verzichtet werden. Verbraucherschutz sollte nicht zweigeteilt werden.

3.7

Der EWSA unterstreicht, dass Erzeugnisse der ökologischen Landwirtschaft im Wesentlichen niedrigere Rückstandsmengen aufweisen als Erzeugnisse aus der konventionellen Landwirtschaft, dass der zulässige Rückstandshöchstwert jedoch bislang nicht festgelegt wurde. Daher empfiehlt der EWSA, als Ausgangspunkt eine sorgfältige Prüfung einschließlich einer Folgenabschätzung durchzuführen. Darüber hinaus betont der EWSA, dass es auf EU-Ebene keine einheitlichen Regeln für Laborausrüstungen in Europa, die eingesetzten Methoden oder die von den Zertifizierungsstellen für die Aberkennung der Zertifizierung angewandten Schwellenwerte gibt. Diese Harmonisierung sollte als Voraussetzung für jegliche andere Form der Festlegung eines europäischen Schwellenwerts für die Aberkennung der Zertifizierung gegeben sein. Diese Initiative muss unbedingt mit der Einführung eines europäischen Mechanismus für Entschädigungs-/Ausgleichszahlungen einhergehen, die Erzeuger erhalten, die aufgrund zufälliger oder sekundärer Kontamination Verluste erleiden.

3.8

Generell kann der EWSA das Ziel einer kompletten Umstellung auf den ökologischen Landbau nachvollziehen. Allerdings gibt es gegenwärtig häufig Mischformen aus konventioneller und biologischer Landwirtschaft. Dem Legislativvorschlag zufolge sollen diese Mischformen bis 2017 schrittweise abgeschafft werden. Der EWSA verweist darauf, dass eine komplette Umstellung für viele landwirtschaftliche Betriebe problematisch sein wird. Darüber hinaus ist völlig unklar, wie sich eine strikte Umsetzung dieses Grundsatzes auswirken würde. Eine strategische Aufspaltung der Betriebe bzw. eine verstärkte Aufgabe der ökologischen Erzeugung wäre eher kontraproduktiv. Daher empfiehlt der EWSA in bestimmten Fällen weiterhin eine gewisse Flexibilität.

3.9

Der EWSA empfiehlt, in bestimmten Fällen Ausnahmen zu gewähren, um eine parallele Erzeugung (Betriebe, die zugleich konventionelle und ökologische Landwirtschaft betreiben) beibehalten zu können. Werden keine Ausnahmeregelungen geschaffen, könnte dies die Entwicklung der ökologischen Landwirtschaft bremsen. In den folgenden Fällen müssen Ausnahmeregelungen beibehalten werden: 1) bei wissenschaftlichen Einrichtungen, die sowohl im Bereich der ökologischen als auch der konventionellen Landwirtschaft forschen; 2) im Non-Food-Bereich sollte zum Beispiel einem im Agrotourismus tätigen ökologischen Betrieb gestattet sein, konventionelle Reitpferde zu halten; 3) zur Selbstversorgung, zum Beispiel in Ackerbaubetrieben, in denen sich die Landwirte Kühe oder Hühner für den Eigenbedarf halten; 4) bei Betrieben mit unterschiedlichen geografischen Standorten, zum Beispiel wenn sich ein Teil der landwirtschaftlich genutzten Flächen und Gebäude in den Bergen und ein anderer im Tal befindet oder auch wenn zwei Betriebe, die sich schon vor langer Zeit zusammengeschlossen haben, mehrere Dutzend Kilometer voneinander entfernt sind, wodurch sichergestellt wird, dass die biologische Produktion nicht durch die konventionelle verunreinigt wird; 5) bei Dauerkulturen, insbesondere beim Obstanbau, beim Weinbau oder bei Parfümpflanzen usw.; 6) bei Kulturen ohne Absatzchancen in der ökologischen Landwirtschaft.

3.10

In der ökologischen Landwirtschaft müssen verglichen mit der konventionellen Landwirtschaft in vielen Bereichen höhere Standards für das Tierwohl eingehalten werden. Der EWSA empfiehlt der Kommission, nach sorgfältiger Prüfung der für die biologischen Erzeuger festgelegten besonderen Anforderungen etwaige Ausnahmen von den im Hinblick auf die artgerechte Tierhaltung in der ökologischen Landwirtschaft geltenden spezifischen Verboten (Kupieren von Schwänzen, Tierhaltung in Anbindung usw.) vorzusehen. So sind in mehreren EU-Mitgliedstaaten nach vielen Jahren der Selektion traditionelle Schafrassen entstanden, bei denen die Schwänze gekürzt werden müssen, da anderenfalls die Tiere unter dem langen Schwanz leiden. Der EWSA weist darauf hin, dass die Einführung bestimmter Verbote und das Fehlen von Ausnahmeregelungen zu einer Verschlechterung des Tierwohls führen können, wenn nicht die bereits seit langem praktizierten Verfahren und Haltungsmethoden für lokale Rassen angewandt werden. Ein Verbot kann dazu führen, dass bestimmte Rassen nicht mehr gezüchtet werden, was ein großer Verlust an genetischen Ressourcen wäre.

3.11

Die Ausnahmeregelung für den Einsatz herkömmlicher unbehandelter Saaten wird bis 2021 nach und nach auslaufen. Die Verbände des ökologischen Landbaus berichten, dass es in vielen Ländern für Landwirte, die spezifische Arten anbauen, schwierig sein wird, bis 2021 über ausschließlich ökologische Saaten zu verfügen. Um den Schwierigkeiten der ökologischen Landwirte in diesem Bereich vorzubeugen, fordert der EWSA die Kommission auf, den Verordnungsvorschlag weiter auszuarbeiten, Ausnahmeregelungen jedoch nur für die Kulturpflanzen festzulegen, für die auf dem Markt keine den lokalen Klimaverhältnissen und Bedingungen angepassten Saaten erhältlich sind.

3.12

Die Kommission muss zur Verwirklichung dieses Ziels Unterstützungsmechanismen für die Entwicklung der Erzeugung biologischen Saatguts vorsehen und die Regelung durch Bestimmungen ergänzen, die erfüllt sein müssen, um dieses Ziel — die ausschließliche Verwendung ökologischen Saatguts und vegetativen Vermehrungsmaterials in der ökologischen Landwirtschaft — zu erreichen. Auch anderen Aspekten des Markts für ökologische Saaten muss besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

3.13

So darf das Recht der Landwirte, untereinander Saaten auszutauschen, nicht beschnitten werden. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, Saaten mit 100 %ig biologischer Herkunft zu gewinnen. Dieser Austausch ist für die Auswahl, die die Landwirte auf lokaler Ebene treffen, unerlässlich. Dank dieser Auslese können die Landwirte die Sorten an die lokalen Klimabedingungen einer konkreten Region anpassen und ohne den Einsatz mineralischer Dünger oder Pestizide sowie unter Berücksichtigung der historischen und klimatischen Unterschiede und der nationalen Besonderheiten bei der Erzeugung anbauen.

3.14

Der EWSA hebt die Bedeutung hervor, die den nicht im Sortenregister eingetragenen Ökotypen der lokalen Sorten und Kulturpflanzen bei der ökologischen Erzeugung zukommt. Es wäre zweckdienlich, die Rolle der Landwirte bei der Saatguterzeugung und der Erforschung neuer Sorten zu stärken. Eines der wichtigsten angeführten Argumente ist der Mangel an ökologischem Saatgut, insbesondere an Gemüsesaatgut. In der konventionellen Landwirtschaft liegt der Schwerpunkt auf Erzeugnissen, die für den Weltmarkt von Interesse sind, d. h. auf Hybridsorten, die weltweit genutzt werden und Eigentum multinationaler Konzerne sind. Sie werden bekanntermaßen auf konventionelle Weise angebaut und sind nicht in der ökologischen Erzeugung einsetzbar.

3.15

Das neue EU-Öko-Siegel ist noch relativ unbekannt. Nationale Bio-Siegel sind wichtig für die Verbraucher und sollten beibehalten werden. Daher empfiehlt der EWSA, den Mitgliedstaaten die Festlegung strengerer Anforderungen sowie die Aufstellung nationaler oder privater Standards für nicht in die Verordnung aufgenommene Tierarten (z. B. Rotwild, Wachteln und Wildschweine) zu gestatten, auch für die Gastronomie.

3.16

Der EWSA teilt die Ansicht, dass strengere Kontrollen für Erzeugnisse aus Drittstaaten erforderlich sind, um ihre Konformität mit den EU-Anforderungen zu überprüfen. Einfuhrkontrollen können dadurch verbessert werden, dass die Anerkennung von Kontrollstellen in Drittländern künftig von Konformität und nicht von Gleichwertigkeit abhängig gemacht wird. Allerdings sind die potenziellen negativen Folgen der Verlagerung von Gleichwertigkeitsregelungen auf Konformität für die Öko-Märkte in den EU-Mitgliedstaaten noch nicht umfassend geprüft worden. Die Einführung neuer Einfuhrbestimmungen in Japan beispielsweise führte 2001 zu einem Einbruch auf dem einheimischen Öko-Markt. Eine gründlichere Folgenabschätzung tut Not.

3.17

Hinsichtlich des Handels und der Abkommen mit Drittstaaten muss nach Ansicht des EWSA dafür gesorgt werden, dass die für den Export in die EU bestimmten Erzeugnisse dieselben hohen Standards erfüllen, wie sie für die ökologische Erzeugung in der EU gelten. Der EWSA befürwortet die Einführung elektronischer Bescheinigungen für Erzeugnispartien unter Verwendung sicherer Datenbanken, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, im Falle eines Verstoßes rasch zu reagieren, indem sie nicht konforme Produkte aus dem Verkehr ziehen.

3.18

Der EWSA geht davon aus, dass in den Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) die in der EU für die ökologische Landwirtschaft geltenden Standards nicht untergraben werden dürfen und dass die bestehenden Vorschriften für die Vermarktung und Zertifizierung von Erzeugnissen aus ökologischer Landwirtschaft nicht zur Disposition gestellt bzw. geändert werden.

3.19

Die ökologische Landwirtschaft ist eine verfahrensgeprägte Erzeugungsmethode, weshalb sie sich nicht durch Enderzeugnisse charakterisieren lässt, die einem oder mehreren festgelegten Standards entsprechen. Es ist wichtig, dass die Kontrollen auch künftig verfahrensbezogen bleiben.

3.20

Der EWSA befürwortet die Beibehaltung jährlicher Kontrollen in den Betrieben und ist der Ansicht, dass sie auf dem Grundsatz der Risikoabschätzung fußen müssen und dass dieser Ansatz auf EU-Ebene harmonisiert werden sollte. Die Kontrollkosten müssen verhältnismäßig sein, um die Ausgaben für ökologische Erzeuger nicht zu erhöhen und gleichzeitig zu gewährleisten, dass die Verbraucher die Erzeugnisse des ökologischen Landbaus zu angemessenen Preisen erwerben können. Sofern sich ein risikobasierter Kontrollansatz als sicher und für das Kontrollsystem als verlässlich erweist, könnte der Zeitraum zwischen den Kontrollen in den Betrieben allerdings angepasst werden.

3.21

Der EWSA befürwortet die im Kommissionsvorschlag vorgesehene Einführung einer Gruppenzertifizierung für Kleinlandwirte, um die Kontroll- und Zertifizierungskosten für kleine Betriebe und den damit verbundenen Verwaltungsaufwand zu verringern und gleiche Wettbewerbsbedingungen gegenüber Erzeugern aus Drittländern zu gewährleisten. Gleichzeitig weist der EWSA darauf hin, dass dies ein kompliziertes Unterfangen ist, dessen Umsetzung schrittweise konkret ausgestaltet werden muss.

3.22

Der EWSA hält es für nicht zweckdienlich, die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit abzuschaffen, Einzelhändlern eine Ausnahmeregelung zu gewähren, da infolgedessen Handelsunternehmen, die vorverpackte ökologische Erzeugnisse verkaufen, künftig zertifiziert werden müssen. Durch diese Anforderung wird der Handel mit ökologischen Erzeugnissen beeinträchtigt, die Zahl der Verkaufsstellen gesenkt und der Zugang der Verbraucher zu diesen Erzeugnissen erschwert. So könnten beispielsweise kleine Geschäfte davon absehen, Mittel in eine Bescheinigung für den Handel mit ökologischen Erzeugnissen zu investieren, um in der Saison einige wenige ökologische Produkte zu verkaufen. Hierdurch werden die Absatzchancen der biologischen Erzeuger erheblich beeinträchtigt.

3.23

Der EWSA weist auf die Notwendigkeit hin, EU-weit Maßnahmen im Bereich der Marktüberwachung zu ergreifen, um Informationen über die Verfügbarkeit der verschiedenen Erzeugnisse auf dem EU-Markt und über die Markttendenzen zu erheben, unter anderem über die Verfügbarkeit biologischen Saatguts in den verschiedenen Mitgliedstaaten.

3.24

Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission zur Ausarbeitung eines Aktionsplans für die Zukunft der ökologischen Erzeugung in der Europäischen Union und dessen Ziele, merkt jedoch an, dass der Plan sehr allgemein und unvollständig ist. Es ist notwendig, die Maßnahmen im Aktionsplan der Kommission klar und deutlich zu definieren. So gibt es zum Beispiel Tätigkeitsfelder, zu denen die Kommission lediglich Anregungen, Empfehlungen, Beistand, Erwägungen oder Ermunterungen ausspricht, während die Landwirte und die Gesellschaft konkretes Handeln erwarten.

3.25

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass es eine Priorität im Aktionsplan sein müsste, die Koexistenz der Landwirtschaftsbetriebe, die ökologisch oder konventionell bzw. mit genetisch modifizierten Pflanzen arbeiten, zu gewährleisten, um so das Risiko einer Verunreinigung durch GMO zu verringern. Nur durch die frühzeitige Kommunikation untereinander, die Erörterung der Probleme und die Suche nach Lösungen können Ergebnisse erzielt und die Koexistenz der verschiedenen Tätigkeitsbereiche gesichert werden. Der EWSA empfiehlt der Kommission, die entsprechenden Mittel bereitzustellen, um die betroffenen Kreise zu informieren und sie in den Beschlussfassungsprozess einzubinden.

3.26

Die Wettbewerbsfähigkeit der ökologischen Landwirtschaft und die Menge der ökologischen Erzeugnisse werden nur durch die im Aktionsplan vorgesehene stärkere Sensibilisierung für EU-Instrumente, die auf die ökologische Erzeugung abzielen, nicht zunehmen. Der EWSA empfiehlt, mit EU-finanzierten Kampagnen für mehr Wissen über das System der ökologischen Landwirtschaft als Ganzes wie auch über das Siegel der neuen ökologischen Landwirtschaft in der EU zu sorgen.

3.27

Der EWSA hält es für angezeigt, dass die Europäische Kommission die fachliche Ausbildung der Nachwuchskräfte, das lebenslange Lernen und Innovationen in der biologischen Landwirtschaft stärker unterstützt und dabei die Möglichkeiten der Programme zur Entwicklung des ländlichen Raums und anderer EU-Programme im Auge behält. Der EWSA empfiehlt der Kommission, die Rechtsetzung und die einschlägigen Programme zu ergänzen und dadurch den Berufsschulen, Berufskollegs und sonstigen Bildungseinrichtungen die Möglichkeit zu geben, Fördermittel für Bildung und Innovationen in der ökologischen Landwirtschaft zu erhalten.

3.28

Überdies erweist sich der Öko-Landbau gerade für junge Menschen als einer der wichtigsten Zugänge zur Landwirtschaft. Die Entwicklung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und die Eingliederung junger Menschen aus den Großstädten mittels Öko-Landbau eröffnen hervorragende Perspektiven für die Entwicklung dieser Branche zu einem Innovationsmotor in benachteiligten Gebieten.

Brüssel, den 16. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Morison, J., Hine, R. and Pretty, J., 2005. Survey and Analysis of Labour on Organic Farms in the UK and Republic of Ireland. International Journal of Agricultural Sustainability Volume 3 (1).

(2)  Displaced honey bees perform optimal scale-free search flights Andrew M. Reynolds, Alan D. Smith, Randolf Menzel, Uwe Greggers, Donald R. Reynolds, und Joseph R. Riley, Rothamsted Research, Harpenden, Hertfordshire AL5 2JQ Vereinigtes Königreich, Freie Universität Berlin, FB Biologie/Chemie/Pharmazie, Institut für Biologie — Neurobiologie, Königin-Luise-Str. 28/30, 14195 Berlin, Deutschland, Natural Resources Institute, Universität von Greenwich, Chatham, Kent ME4 4TB, Vereinigtes Königreich

Ecology, 88(8), 2007, S. 1955-1961.


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/81


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen: Ein Fahrplan zur Bereitstellung EU-weiter multimodaler Reiseinformations-, -planungs- und Fahrscheinausstellungsdienste

(SWD(2014) 194 final)

(2015/C 012/13)

Berichterstatter:

Jan SIMONS

Die Europäische Kommission beschloss am 13. Juni 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen: Ein Fahrplan zur Bereitstellung EU-weiter multimodaler Reiseinformations-, -planungs- und Fahrscheinausstellungsdienste

SWD(2014) 194 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 1. Oktober 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 147 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt das Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen als ersten Ansatz für EU-weite multimodale Reiseinformations-, -planungs- und Fahrscheinausstellungsdienste; der Deutlichkeit halber muss jedoch im Titel ausdrücklich angegeben werden, dass es um den Personenverkehr geht.

1.2

Der EWSA befürwortet das Konzept der Europäischen Kommission, keine Legislativvorschläge zu unterbreiten, sondern durch die Schaffung eines Rahmens darauf hinzuwirken, dass ein breiter Markt entsteht.

1.3

Der EWSA schlägt daher auch die Einrichtung einer Konsultationsplattform vor, in der alle beteiligten Akteure vertreten sind und die auf den bisherigen Erfahrungen bestehender Foren aufbaut. Sie soll als Katalysator dienen, um so schnell wie möglich dafür zu sorgen, dass Echtzeit-Informationen betreffend Reiseplanung, Reiseinformationen und Tarifinformationen angeboten werden können. Der Ausschuss ist bereit, im Rahmen dieser Plattform eine Aufgabe zu übernehmen, um insbesondere die Berücksichtigung der Anliegen der Gesellschaft zu gewährleisten.

1.4

Sollte die Zusammenarbeit zwischen Vertretern der Reisenden, der Anbieter von Verkehrsdiensten sowie der nationalen und europäischen Behörden ergebnislos bleiben, müsste die Europäische Kommission nach Meinung des EWSA abwägen, ob — und wenn ja, in welchen Sektoren — ein Rechtsinstrument zum Einsatz gebracht werden könnte.

1.5

Der EWSA nimmt besorgt zur Kenntnis, dass die Diskrepanz zwischen den Möglichkeiten für Reisende, Echtzeit-Informationen beispielsweise via Apps oder Mobiltelefone zu erhalten, und dem hinterherhinkenden Angebot seitens der Verkehrsanbieter immer größer wird. Besondere Aufmerksamkeit muss der Verbesserung der Situation schutzbedürftiger Reisender wie Menschen mit Behinderungen, den — übrigens verkehrsträgerspezifischen — Fahrgastrechten, den Verpflichtungen der Anbieter gegenüber den Fahrgästen und umgekehrt sowie den Rechtsverhältnissen zwischen den Anbietern selbst, auch in Bezug auf die Fahrgastrechte, gewidmet werden.

1.6

Probleme bei der Datenerfassung und vor allem bei der Verteilung der Einnahmen unter den Anbietern von Verkehrsdiensten sind zählebige Knackpunkte. Der EWSA empfiehlt in diesem Kontext, die Einrichtung eines Clearing House nach japanischem Vorbild eingehend zu prüfen, damit die Reisenden letztlich nur mehr einen Fahrschein kaufen müssen.

2.   Einleitung

2.1

Die Europäische Kommission hat den EWSA am 13. Juni 2014 formell um Stellungnahme zu dem Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen „Ein Fahrplan zur Bereitstellung EU-weiter multimodaler Reiseinformations-, -planungs- und Fahrscheinausstellungsdienste“ ersucht (im Folgenden: „das Arbeitsdokument“).

2.2

Der EWSA nimmt die Veröffentlichung dieses Arbeitsdokuments erfreut zur Kenntnis, da ein besserer Zugang zu multimodalen Reiseinformations-, -planungs- und Fahrscheinausstellungsdiensten für die Unionsbürger äußerst wichtig ist.

2.3

Im Rahmen einer öffentlichen Konsultation im Vorfeld der Erstellung des Arbeitsdokuments wurde deutlich, dass erst noch einige schwerwiegende Probleme gelöst werden müssen, bevor von einem transparenten multimodalen Reiseinformationsmarkt für Reisende in der EU die Rede sein kann:

ein unzureichender Datenzugang;

erhebliche Interoperabilitätsprobleme;

mangelnde Harmonisierung von Daten und Informationsflüssen;

Tendenzen von marktmächtigen Unternehmen zur Konzentration auf proprietäre Systeme.

2.4

Die Europäische Kommission hat den EWSA um Lösungsvorschläge gebeten, wie angesichts der in Ziffer 2.3 genannten Probleme ein transparenter multimodaler Personenverkehrsmarkt zu erreichen ist, bei dem der Reisende über Echtzeit-Informationen betreffend Reiseplanung und Reiseinformationen verfügen und für jede Reise innerhalb der EU online einen Fahrschein erwerben kann.

2.5

Der EWSA hat die Bedeutung dieses Unterfangens bereits vor Veröffentlichung des Weißbuchs „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum — Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“ (COM(2011) 144 final) am 28. März 2011 erkannt.

2.5.1

So verabschiedete er am 13. Mai 2009 eine Stellungnahme zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung eines Rahmens für die Einführung intelligenter Verkehrssysteme im Straßenverkehr und für deren Schnittstellen zu anderen Verkehrsträgern“ (1).

2.5.2

In dieser Stellungnahme empfahl der EWSA, angesichts der zunehmenden Nutzung eines enormen Datenvolumens rasch eine IVS-Struktur aufzubauen, die sich in eine langfristige Perspektive einreiht und mögliche künftige Systementwicklungen, u. a. auch in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten, berücksichtigt.

2.6

Heute, fünf Jahre danach, muss der EWSA leider feststellen, dass sich die Situation seitdem nicht grundlegend geändert hat. Fehlender bzw. unzureichender Zugang zu Online-Daten ist immer noch ein Problem, das sich durch die Unvollständigkeit und Inkompatibilität der Daten noch verschlimmert hat. Daher können die Betreiber von Mobilitätsplattformen und letztlich auch die Reisenden nicht direkt auf Informationen betreffend Reiseplanung, -art, -zeit und -kosten für eine Reise innerhalb der EU zugreifen, um die verschiedenen Verkehrsträger optimal zu nutzen.

3.   Inhalt des Arbeitsdokuments

3.1

Die in dem Arbeitsdokument dargelegten Ideen der Europäischen Kommission schließen an die im Verkehrs-Weißbuch 2011 skizzierte Vision an, in dem die Notwendigkeit einer stärkeren Integration der verschiedenen Verkehrsträger für eine effizientere und benutzerfreundlichere Mobilität betont wird.

3.2

Politisches Ziel des Verkehrs-Weißbuchs der Europäischen Kommission ist die Schaffung eines Rahmens für multimodale Verkehrsinformationen und Bezahldienste, die bis 2020 funktionsfähig sein sollten. Die Verfügbarkeit von Informationen ist von grundlegender Bedeutung, um eine nahtlose Mobilität von Haus zu Haus zu erreichen.

3.3

Außerdem müssten Rahmenbedingungen für die Entwicklung und Nutzung intelligenter Systeme für interoperable und multimodale Fahrpläne, Informationsdienste Online-Buchungen und intelligente Ticketausstellung geschaffen werden.

3.4

In dem Arbeitsdokument ist nun festgehalten, dass es derzeit mehr als hundert multimodale Reiseplaner in der EU gibt, und trotzdem sind die Informationen, die den Reisenden zur Verfügung stehen, unvollständig, weshalb diese ihre Reisewahl nicht auf der Grundlage vollständiger Informationen treffen können. Dies gilt auch für Fahrscheine. Es ist nicht möglich, einen einzigen Fahrschein für eine multimodale Reise über verschiedene Landesgrenzen innerhalb der EU hinweg zu erwerben.

3.5

Auf dem informellen Ratstreffen am 17. Juli 2012 in Nikosia unterstrichen die Verkehrsminister, dass die Verfügbarkeit und der Zugang zu EU-weiten multimodalen Reiseinformationen und Echtzeit-Verkehrsinformationen gewährleistet sowie Normen zur Sicherstellung der Interoperabilität festgelegt werden müssen. Sie forderten die Europäische Kommission außerdem auf, Möglichkeiten für einen besseren Zugang zu Verkehrsdaten zu prüfen.

3.6

Es wurden sehr wohl Initiativen lanciert, u. a. die erste „Smart Mobility Challenge“, ein Ideenwettbewerb für Industrie und weitere Interessenträger zur Gestaltung eines echten multimodalen Reiseplaners in Europa, die Einrichtung der „Smart Ticket Alliance“ zur Verbesserung der Interoperabilität zwischen regionalen und nationalen elektronischen Fahrscheinsystemen für den öffentlichen Verkehr, und die Ausarbeitung des „Full Service Model“, eine Initiative von Akteuren im Eisenbahnverkehr zur Entwicklung einer Norm für den Austausch von Schienenverkehrsdaten, u. a. zur Verwirklichung einer nahtlosen Mobilität von Haus zu Haus.

3.7

Die Europäische Kommission weiß diese Initiativen zu schätzen, die aber immer nur Teilaspekte des Problems angehen. Diese Initiativen erstrecken sich nicht auf die gesamte EU, umfassen nicht alle Verkehrsträger im Personenverkehr und funktionieren auch nicht völlig in Echtzeit.

3.8

In ihrem Arbeitsdokument ermittelt die Europäische Kommission folgende Hürden, die für eine echte nahtlose Mobilität von Haus zu Haus abgebaut werden müssen:

unzureichender Zugang zu multimodalen Reise- und Verkehrsdaten;

unzureichende Verfügbarkeit von hochwertigen multimodalen Reise- und Verkehrsinformationen;

mangelnde interoperable Datenformate und fehlende Protokolle für den Datenaustausch;

mangelnde Zusammenarbeit zwischen den Akteuren.

3.9

Diese Hürden können laut Europäischer Kommission durch ein integriertes Konzept mit folgenden sechs Handlungsschwerpunkten abgebaut werden:

a)

fairer und gleichberechtigter Zugang zu multimodalen Reise- und Verkehrsdaten;

b)

optimale Verfügbarkeit verlässlicher multimodaler Reise- und Verkehrsdaten;

c)

interoperable, einheitliche Datenformate und Protokolle für den Datenaustausch;

d)

Förderung der Verknüpfung bestehender Dienste;

e)

Erleichterung einer wirksamen Zusammenarbeit der Akteure;

f)

Aufzeigen der Vorteile multimodaler Reiseinformations-, -planungs- und Fahrscheinausstellungsdienste.

3.10

Die Europäische Kommission hat diese Maßnahmen in einem vorläufigen Zeitplan untergebracht und merkt an, dass sie derzeit an einer Folgenabschätzung arbeitet.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA befürwortet ausdrücklich den Abbau von Hürden, die einem gut funktionierenden Binnenmarkt im Wege stehen, zumal was den riesigen Personenverkehrsmarkt angeht. Der Deutlichkeit halber sollte der Personenverkehr dann auch ausdrücklich im Titel genannt werden.

4.2

Die vorliegende Thematik wird durch einen Widerspruch geprägt: einerseits verfügt der Reisende immer schneller über immer größere Möglichkeiten, Informationen zu erlangen, andererseits hinkt ein Rechtsinstrument, das eigentlich im Dienste des Verbrauchers stehen sollte, aus genau diesem Grund stets hinter der Wirklichkeit her, ganz abgesehen von der fehlenden Unterstützung für ein derartiges Rechtsinstrument durch die Datenanbieter.

4.3

Nach Ansicht des EWSA sollte zu seiner Lösung eine enge Zusammenarbeit zwischen Vertretern der Reisenden, der Anbieter der verschiedenen Verkehrsträger sowie der nationalen und europäischen Behörden stattfinden. Diese könnte in Form einer ständigen Konsultationsplattform erfolgen, in der Probleme gemeinsam erörtert und gelöst werden, wobei selbstverständlich auch den Erfahrungen der verschiedenen einschlägigen Foren der Europäischen Kommission Rechnung getragen werden muss. Der EWSA ist bereit, beispielsweise als Mittler im Rahmen dieser Plattform aufzutreten.

4.4

Für ein gutes Funktionieren einer solchen Plattform müssen die Anbieter von Verkehrsdiensten allerdings bereit sein, ihre Daten und Informationen, u. a. auch über ihre Tarife, offen und ehrlich in die Diskussionen einzubringen. Für eine zögerliche Haltung und protektionistisches Verhalten ist hierbei kein Platz.

4.5

Gründe für die zögerliche Haltung der Anbieter sind u. a. verkehrsträgerspezifische Fahrgastrechte und Probleme bei der Datenerfassung und vor allem bei der Verteilung der Einnahmen. Möglicherweise ist der geforderte Wettbewerb innerhalb und zwischen den Verkehrsträgern auch hier ein Problem, aber eine Art Clearing House, in dem Zahlungen zwischen Verkehrsanbietern stattfinden können, könnte eine Lösung sein. In Japan gibt es bereits ein solches Konzept, das zur Zufriedenheit funktioniert.

4.6

Nach Ansicht des EWSA müssen Normen für die NFC-Technologie (Near Field Communication) (2) sowie andere bestehende oder künftige Technologien dafür sorgen, dass ein reibungsloses verbund- und verkehrsmittelübergreifendes Reisen über Landesgrenzen hinweg mit einem mit einer dieser Technologien ausgestatteten Mobiltelefon möglich ist.

4.7

So werden derzeit multimodale fast europaweite Reiseinformations-, -planungs- und Fahrscheinausstellungsdienste entwickelt, beispielsweise das bereits in Betrieb befindliche Qixxit (www.Qixxit.de) der Deutschen Bahn oder das mit EU-Mitteln geförderte Versuchsprojekt des wissenschaftlichen Konsortiums „Enhanced Wisetrip“. Dies sind vielversprechende Entwicklungen, indes sind sie immer noch auf die rein informative Seite der Reiseplanung beschränkt. Es ist Sache der Diensteanbieter, die Öffentlichkeit auf diese Möglichkeiten aufmerksam zu machen.

4.8

An dieser Stelle sei übrigens darauf hingewiesen, dass der EWSA sehr wohl mit dem in dem Arbeitsdokument enthaltenen Ansatz einverstanden ist, demzufolge die Rolle der Europäischen Kommission in erster Linie in Förderung, Erleichterung und Innovation und nicht so sehr in der Ausarbeitung neuer Rechtsvorschläge liegt.

4.9

Der EWSA betont allerdings, dass die Europäische Kommission für den Fall, dass die an der Plattform beteiligten Akteure nicht zu konkreten Lösungen gelangen, zusätzliche Maßnahmen in Betracht ziehen müsste, ggf. in Form eines Rechtsrahmens.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

Der EWSA hält fest, dass die stark zunehmende Nachfrage der Reisenden nach Echtzeit-Informationen betreffend Reiseplanung, Reiseinformationen und Tarifinformationen und das hinterherhinkende Angebot, um diese Nachfrage zu bedienen, immer weiter auseinanderklaffen.

5.2

Was technische Verbesserungen anbelangt, müssen unter Berücksichtigung von Geschäftsmodellen und Marketingkonzepten genormte Schnittstellen für die Kommunikation zwischen verschiedenen Informations- und Buchungssystemen eingerichtet werden. Betreiber und Drittpartner arbeiten bereits an derartigen Lösungen.

5.3

Der EWSA weist darauf hin, dass die Linienfahrpläne der meisten europäischen Eisenbahnunternehmen in guter Qualität zur Verfügung stehen. Es mag vielleicht Ausnahmen geben, aber im Zug der Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 454/2011 der Kommission über die Technische Spezifikation für die Interoperabilität (TSI) zum Teilsystem „Telematikanwendungen für den Personenverkehr“ des transeuropäischen Eisenbahnsystems werden alle Eisenbahnunternehmen ihren Verpflichtungen innerhalb der nächsten Jahre nachkommen. Die Herausforderung besteht nun darin, diese Daten marktkonform mit anderen Verkehrsträgern marktkonform teilen zu können.

5.4

Ein Konzept der „offenen Daten“ ohne Wenn und Aber könnte beispielsweise inkohärente Ergebnisse zwischen den einzelnen Informationskanälen für den Verbraucher bringen. Der Verbraucher braucht keine Daten, sondern zuverlässige Informationen. Betreiber als Datenanbieter müssen unbedingt Zugang zu den Fahrplänen bieten, gleichzeitig müssen sie jedoch auch die höchste Informationsqualität für ihre Dienste sicherstellen und gewährleisten, dass die Verantwortung für Fehler bei der richtigen Stelle angesiedelt ist.

5.5

Bei der Gestaltung eines multimodalen Reiseplaners müssen verschiedene Datenformate für verschiedene Verkehrsträger in die Systeme der Betreiber und der Anbieter weiterer Informationen integriert werden — ein komplexes und kostenintensives Unterfangen. Dies gilt auch für die Konnektivität zwischen diesen proprietären Systemen.

5.6

Andererseits haben sich die Datenformate in ihrem spezifischen Anwendungsbereich bewährt. Sie entsprechen weitgehend den heutigen Anforderungen und werden aufgrund neuer Verbraucher- und Unternehmensanforderungen und technologischer Entwicklungen kontinuierlich verbessert. Konnektivitätsprobleme können denn auch nicht einfach dadurch gelöst werden, dass bestimmte Datenformate vorgeschrieben werden.

5.7

Dies birgt ganz im Gegenteil die Gefahr, dass die Qualität der Daten und der Kundeninformationen Schaden nimmt, weil ein größter gemeinsamer Nenner gefunden werden müsste. Die verpflichtende Anwendung von übergreifenden Datenformaten könnte dazu führen, dass sie überhaupt keine Funktion haben und weniger Ehrgeiz besteht, technologische Fortschritte umgehend zu nutzen.

5.8

So werden derzeit im Rahmen der Initiative „Full Service Model“ im Schienenverkehr in Zusammenarbeit mit Drittpartnern die technischen Spezifikationen für derartige Schnittstellen für den Eisenbahnmarkt in einem multimodalen Kontext ausgearbeitet. Wichtig ist, dabei den Grundsatz der Nichtdiskriminierung einzuhalten, und alle beteiligten Seiten die gleichen Möglichkeiten haben, ihre Ideen einzubringen. Die „Full Service Model“-Initiative mit ihrer Internet-ähnlichen dezentralen IT-Architektur beruht auf diesem Grundsatz und bietet Technologieanbietern die Möglichkeit, auf der Grundlage der Spezifikationen ihre eigenen neuen Plattformen oder Apps zu präsentieren bzw. welche technologischen Innovationen die Zukunft bringen kann.

5.9

Dasselbe Ziel verfolgt der internationale Luftverkehrsverband IATA mit seiner Initiative „New Distribution Capability“ (NDC). Im öffentlichen Verkehr arbeitet der internationale Verband für öffentliches Verkehrswesen UITP an seiner „Smart Ticketing Alliance“ (STA) im Hinblick auf ein interoperables smartcardgestütztes Datenaustauschsystem. Diese Beispiele zeigen, dass dank der Industrie Lösungen auf den Markt kommen, mit denen die Schwierigkeiten bei der Integration verschiedener Datenformate überwunden werden können.

5.10

Um zu genügend Datenmaterial für die Konzipierung eines Reiseplaners zu gelangen und einen nahtlosen Verkehrsmittelwechsel zu ermöglichen, ist eine effiziente Zusammenarbeit zwischen Verkehrsträgern, Behörden usw. wirksam erforderlich. Der Markt für multimodale Reiseplaner ist noch relativ jung, befindet sich aber in einer stürmischen Entwicklung: mehrere Start-up-Unternehmen (FromAtoB, GoEuro, Waymate) sowie etablierte Mobilitätsunternehmen (z. B. Daimler mit Moovel oder DB mit Qixxit) haben bereits derartige Reiseplaner entwickelt.

5.11

Nach Ansicht des EWSA dürfen die Anbieter von Verkehrsdiensten für sämtliche Verkehrsträger nicht in einem rein unternehmensorientierten Marktdenken verharren, sondern müssen sich zusammentun, um zu einem abgestuften Angebot an Reise- und Tarifinformationen zu gelangen, das auf die (durchaus unterschiedlichen) Wünsche der Verbraucher zugeschnitten ist.

5.12

Das Ziel der Europäischen Kommission, zu einem sogenannten integrierten Fahrscheinsystem zu gelangen, d. h. einem einzigen Fahrschein für alle Verkehrsträger, wird vom EWSA voll und ganz befürwortet; wird allerdings auf diesem Markt wohl das schwierigste und höchstwahrscheinlich erst ganz zuletzt überwindbare Hindernis sein.

5.13

Es sind vielversprechende Entwicklungen zu verzeichnen. So wurde z. B. im Schienenverkehr im Juni dieses Jahres eine multimodale Plattform lanciert, in der neben Informationen über andere Verkehrsarten wie etwa Fernbusse und Fahrradverleih auch Daten aus der Luftfahrt verarbeitet werden; allerdings wurden Fahrscheininformationen bislang leider noch nicht in diese Plattform aufgenommen.

5.14

Der EWSA hält fest, dass offline derzeit jede Verbindung möglich ist, online jedoch nicht. Und genau das ist der wunde Punkt. Der Reisende will online Informationen abrufen und einen Fahrschein für eine internationale Reise innerhalb der EU kaufen, bei der er verschiedene Verkehrsträger nutzt.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 85.

(2)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 146.


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/87


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Ein neues Zeitalter der Luftfahrt — Öffnung des Luftverkehrsmarktes für eine sichere und nachhaltige zivile Nutzung pilotenferngesteuerter Luftfahrtsysteme

(COM(2014) 207 final)

(2015/C 012/14)

Berichterstatter:

Jan SIMONS

Die Europäische Kommission beschloss am 15. Mai 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Ein neues Zeitalter der Luftfahrt — Öffnung des Luftverkehrsmarktes für eine sichere und nachhaltige zivile Nutzung pilotenferngesteuerter Luftfahrtsysteme

COM(2014) 207 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 1. Oktober 2014 an.

Die Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) trug zu diesen Arbeiten mit einer am 16. September 2014 angenommenen zusätzlichen Stellungnahme bei (Berichterstatter: Jan SIMONS, Ko-Berichterstatter: Marcel PHILIPPE).

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 168 Stimmen bei 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Europa ist bestens dafür aufgestellt, die Vorteile einer im Entstehen begriffenen Industrie für pilotenferngesteuerte Luftfahrtsysteme (Remotely Piloted Aerial Systems — RPAS) zu nutzen, die die Beschäftigung fördert und die Rolle Europas als Wissenszentrum in Sachen Technologie und Entwicklung untermauert. Die Entwicklung der RPAS-Industrie kann über die bereits bestehende KMU-Förderung der EU weiter angeregt werden.

1.2

Die Bezeichnungen RPAS und UAV (Unmanned Aerial Vehicle) orientieren sich an den internationalen Bestimmungen der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO). Der Begriff „Drohne“ wird bei der ICAO nicht verwendet, hat sich jedoch mittlerweile im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt. Um u. a. in Bezug auf Haftung und Versicherung Rechtsunsicherheit zu vermeiden, sollte auf europäischer Ebene doch weitestgehend die ICAO-Terminologie verwendet werden.

1.3

Die Notwendigkeit, RPAS in die bestehenden Formen der Luftfahrt zu integrieren, u. a. Erkennung und Identifizierung jedes Luftfahrzeugs, wird allgemein anerkannt. Hinzu kommt insbesondere in Europa das zunehmende Interesse an einer kommerziellen Nutzung von kleineren RPAS (mit einem Gewicht von weniger als 150 kg).

1.4

Die kommerzielle Nutzung insbesondere kleinerer RPAS wird weitere Anpassungen erforderlich machen (z. B. eine weitere Einschränkung der Haftung gegenüber Dritten, Einführung niedrigerer Gewichtskategorien von RPAS unter 500 kg, Anpassung der Risikoniveaus in Verbindung mit den Flugeigenschaften sehr kleiner RPAS usw.).

1.5

Eine der Grundvoraussetzungen für die Nutzung kleiner RPAS sind harmonisierte Bestimmungen, insbesondere für RPAS-Betreiber, betreffend Sicherheit und Aus- und Weiterbildung, sowie angemessene Vorschriften für den Schutz von persönlichen Daten und Unternehmensinformationen sowie Haftung und Versicherung. Dies erfordert neue bzw. striktere Normen für die private wie auch die kommerzielle Nutzung, beispielsweise die Identifizierung kleinerer RPAS sowie den Schutz vor Hacker-Angriffen und Kontrollübernahme durch Dritte. Die Europäische Kommission sollte hierbei eine proaktive Rolle übernehmen.

1.6

Mit dieser Mitteilung (1) soll die Frage geklärt werden, wie in der EU ein ausgezeichnetes Investitionsklima für industrielle und kommerzielle RPAS-Tätigkeiten geschaffen werden kann; dieses Ziel wird vom EWSA ausdrücklich befürwortet. Darin werden außerdem die positiven Auswirkungen für die direkte und indirekte Beschäftigung und die damit verbundene Steigerung der Produktivität ganz allgemein hervorgehoben.

1.7

Für die Zukunft müssen zivile und militärische Entwicklungen in der EU in diesem Bereich koordiniert werden, um wo immer möglich von Synergien zu profitieren.

1.8

Es gilt, ein möglichst wahrheitsgetreues Bild des RPAS-Luftverkehrs in Verbindung mit allen aktuell eingesetzten Luftfahrzeugen zu skizzieren. Hierfür müssen die entsprechenden Mittel eingesetzt werden.

2.   Einleitung

2.1

RPAS werden seit vielen Jahren allgemein genutzt, und zwar sowohl für militärische als auch für zivile Zwecke. Die Grundsatzdebatte über die kommerziellen Anwendungen und ihre Integration in die Zivilluftfahrt sowie über die dazugehörigen Sicherheitsaspekte wie Rechtsvorschriften, Zertifizierung und Aus- und Weiterbildung in Verbindung mit Privatsphäre, Datenschutz, Haftung und Versicherungsaspekten ist erst vor Kurzem wirklich in Gang gekommen. Ihr Einsatz kann einen gesellschaftlichen Wandel bewirken, der in mancherlei Hinsicht mit dem durch das Internet angestoßenen Wandel vergleichbar ist: ausgehend von seiner militärischen Nutzung hat das Internet Anpassungen und eine Demokratisierung durchlaufen und zur Veränderung vieler Berufsbilder sowie zur Entstehung neuer Berufe geführt.

2.2

Die Nutzung von RPAS insbesondere für zivile Zwecke ist stark angestiegen, sowohl in Bezug auf die Zahl als auch auf Größe und Gewicht sowie die vielen immer zahlreicheren Verwendungszwecke. Aktuell gibt es bereits fünf große Einsatzmärkte: Freizeit, Information und Medien, Überwachung und Kontrolle (Strom, Pipelines, Industrieanlagen), Geowissenschaften (Landwirtschaft, Umwelt) und Zivilschutz (Such- und Rettungsdienste, Verschmutzung, Einsatz von Ordnungskräften, wirksame Kontrolle bei Massenveranstaltungen usw.).

2.3

Billigere, hochflexible und weniger intrusive RPAS werden die Rolle von Flugzeugen und insbesondere Hubschraubern nur teilweise übernehmen können. Der Großteil der neuen Verwendungszwecke von RPAS wird sich aufgrund der vielen neuen Einsatzgebiete für kleine, äußerst vielseitige und wirtschaftlich rentable Fluggeräte ergeben. Dadurch werden neue Anwendungen entstehen, die wiederum direkte oder indirekte Arbeitsplätze schaffen und sich ganz allgemein auf die Wirtschaft, u. a. in Form einer erhöhten Produktivität, auswirken.

2.4

Die Frage ist daher nicht mehr, ob sondern wie und wann RPAS in die bestehenden Formen der Luftfahrt integriert werden. Dazu kommt insbesondere in Europa das zunehmende Interesse an einer kommerziellen Nutzung von kleineren RPAS (mit einem Gewicht von weniger als 150 kg).

2.5

Daher sollte diesen Aspekten bei der Integration von RPAS rechtzeitig auf europäischer Ebene und bei der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) Aufmerksamkeit geschenkt werden. Fragen der Sicherheit und des Schutzes der Privatsphäre in Verbindung mit harmonisierten einschlägigen Vorschriften sind von entscheidender Bedeutung für die Akzeptanz von RPAS in der Öffentlichkeit in Europa und dem Rest der Welt.

2.6

In ihrer Mitteilung (2) skizziert die Europäische Kommission ein gutes und relativ vollständiges Bild der bestehenden Schwierigkeiten und des Status quo in Bezug auf den Einsatz insbesondere von kleineren RPAS in Europa, einschließlich der von der Kommission ergriffenen Regulierungsinitiativen.

3.   Inhalt der Kommissionsmitteilung

3.1

Prognosen zufolge dürfte es 2050 in der Zivilluftfahrt viele verschiedene Arten von Luftfahrzeugen von unterschiedlichem Format geben. Einige davon werden bemannt, andere unbemannt sein. Daher muss ein europäischer Markt für RPAS — auch als „Drohnen“ bekannt — geschaffen werden. Drohnen sind Teil einer größeren Gruppe unbemannter Flugsysteme (Unmanned Aerial Systems — UAS), die so programmiert werden können, dass sie autonom fliegen. RPAS hingegen werden von einem Piloten ferngesteuert.

3.2

Diese Technik hat sich rasch entwickelt und kann nun auch über die militärische Nutzung hinaus eingesetzt werden. Daher sollten RPAS im nicht reservierten Luftraum fliegen dürfen, um so an der „normalen“ Zivilluftfahrt teilnehmen zu können. Bislang wird die Technik beispielsweise für Luftbildaufnahmen oder die Infrastrukturüberwachung eingesetzt, in Zukunft könnte sie jedoch auch für die Beförderung von Waren oder Personen genutzt werden.

3.3

Die Europäische Kommission legt dar, wie ihrer Ansicht nach RPAS auf europäischer Ebene in einen ordnungspolitischen Rahmen aufgenommen werden könnten und wie dieser Markt unter Wahrung des öffentlichen Interesses entwickelt werden könnte. Die Regulierung und die Forschung und Entwicklung werden an Initiativen verschiedener Akteure anknüpfen, u. a.:

der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA);

der nationalen Zivilluftfahrtbehörden;

der Europäischen Organisation für Zivilluftfahrt-Ausrüstung (EUROCAE);

EUROCONTROL;

der Gemeinsamen Regulierungsbehörden für Unbemannte Flugsysteme (Joint Authorities for Rulemaking on Unmanned Systems — JARUS).

3.4

Sicherheit ist eine Priorität der Luftfahrtpolitik der EU. Der geltende Rechtsrahmen hemmt die Entwicklung des europäischen RPAS-Markts, da nationale Genehmigungen nicht der gegenseitigen Anerkennung durch die Mitgliedstaaten unterliegen — und somit keine EU-weite Tätigkeit erlauben. Der Rechtsrahmen muss dem breiten Spektrum an Luftfahrzeugen Rechnung tragen und sollte zunächst auf bereits ausgereifte Technologien ausgerichtet sein. Detailliertere Regulierungsmaßnahmen können Schritt für Schritt eingeführt werden, so dass letztlich dann komplexere RPAS-Anwendungen erlaubt werden.

3.5

Einige der für eine sichere RPAS-Integration unverzichtbaren Technologien stehen noch nicht zur Verfügung. Daher müssen die FuE-Anstrengungen der verschiedenen Stellen auf die Weiterentwicklung dieser Technologien ausgerichtet sein, insbesondere in Bezug auf Steuerung und Kontrolle sowie Erkennungs- und Ausweichtechnologien, Schutz vor verschiedenen Arten von Angriffen, transparente harmonisierte Notfallverfahren, Entscheidungskapazitäten zur Gewährleistung eines berechenbaren Verhaltens in allen Flugphasen und den Faktor Mensch.

3.6

Gleichzeitig muss natürlich auch dafür gesorgt werden, dass die Sicherheit der Daten, die von bzw. an RPAS übertragen werden, gewährleistet ist. Die sichere Übertragung der Daten, die von den verschiedenen Betreibern ausgetauscht werden, um die Leistung des Systems zu optimieren, muss ebenfalls gewährleistet sein.

3.7

Der RPAS-Betrieb darf nicht zu einer Verletzung der Grundrechte, u. a. des Rechts auf Privatsphäre, führen. Wenn Daten erhoben werden müssen, sind die Datenschutzvorschriften der Richtlinie 95/46/EG zum Schutz personenbezogener Daten und des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI zu beachten. Für die Öffnung des RPAS-Marktes ist daher auch zu prüfen, welche Maßnahmen für die Achtung der Grundrechte erforderlich sind.

3.8

Da sich immer Unfälle ereignen können, muss auch an Versicherungen und Entschädigungsleistungen gedacht werden. Die Europäische Kommission wird prüfen, inwieweit die geltenden Vorschriften geändert werden müssen. Sie wird die Entwicklung des Marktes für RPAS und die Wettbewerbsfähigkeit der in diesem Bereich tätigen Unternehmen fördern, zu denen zahlreiche KMU und Start-up-Unternehmen zählen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Obwohl RPAS bereits seit geraumer Zeit sowohl für militärische und zivile Zwecke eingesetzt werden und ihre Nutzung vor allem in den letzten Jahren stark zugenommen hat, ist die Debatte über internationale und nationale Rechtsvorschriften und die Kontrolle erst vor Kurzem in Gang gekommen.

4.2

Die aktuelle Nomenklatur für unbemannte zivile oder militärische Luftfahrzeuge ist unterschiedlich: Drohne, unbemanntes Luftfahrzeug (UAV), unbemanntes Luftfahrtsystem (UAS), pilotenferngesteuertes Luftfahrtsystem (RPAS) oder pilotenferngesteuertes Luftfahrzeug (RPA). Diese Bezeichnungen lassen nicht immer auf die spezifischen Kennzeichen der einzelnen Luftfahrzeuge und Systeme schließen. Der Begriff „Drohne“ kommt aus dem militärischen Bereich, wird gelegentlich aber auch für zivile Anwendungen verwendet.

4.3

Die Bezeichnungen RPAS und RPA beziehen sich auf die Bestimmungen der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO), die sich an den geltenden Vorschriften für pilotengesteuerte Luftfahrzeuge orientieren. Im ICAO-Handbuch zu RPAS wird auf RPA als eine bestimmte Art unbemannter Luftfahrzeuge verwiesen. Sämtliche unbemannten zivilen Luftfahrzeuge fallen unter Artikel 8 des in Chicago unterzeichneten Abkommens über die internationale Zivilluftfahrt (Chicagoer Abkommen) (3). Der Begriff „Drohne“ wird bei der ICAO nicht verwendet. Um u. a. in Bezug auf Haftung und Versicherung Verwirrungen zu vermeiden, sollte auf europäischer Ebene tunlichst die ICAO-Terminologie verwendet werden.

4.4

Im Einklang mit der Kommissionsmitteilung wird der Begriff UAV in dieser Stellungnahme für ein unbemanntes, autonom fliegendes Luftfahrzeug verwendet. Ein RPAS bezeichnet ein von einem Dritten ferngesteuertes Luftfahrzeug. Der Begriff „Drohne“ hat sich mittlerweile für alle Arten im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt. Um jedoch Rechtsunsicherheit zu vermeiden, sollte in der Rechtsetzung sinnvollerweise die offizielle Terminologie verwendet werden.

4.5

In dem europäischen Fahrplan für die RPAS-Integration (European RPAS Roadmap  (4)) wird die Entwicklung und Integration von zivilen RPAS in einen gemeinschaftlichen Luftraum mit einem Zeitrahmen von 15 Jahren angesetzt. Der Fahrplan bezieht sich auf drei spezifische Bereiche: (1) Forschung und Entwicklung, (2) Sicherheitsvorschriften, technische Normung und zusätzliche Maßnahmen, u. a. in den Bereichen Privatsphäre und Datenschutz, sowie (3) Versicherung und Haftung. Die Vorschläge für die Schaffung eines gemeinschaftlichen Luftraums mit zivilen RPAS betreffen den Zeithorizont 2016 und danach.

4.6

Gleichzeitig hat auch die ICAO die Festlegung der lange erwarteten Bestimmungen für die Integration unbemannter Luftfahrzeuge (UAV) in Angriff genommen. Die zu UAS eingerichtete Arbeitsgruppe der ICAO hat 2011 ein Rundschreiben (Cir 328) über UAV verfasst und Änderungen zu den Anhängen 2, 7 und 13 des Chicagoer Abkommens über die Nutzung von RPAS in der internationalen Zivilluftfahrt vorgeschlagen. 2014 soll ein neues RPAS-Handbuch vorgelegt werden, in dem u. a. die Voraussetzungen für Lufttüchtigkeitsnachweise, Betriebsgenehmigungen und Betreiberzulassungen für RPAS sowie neue Anforderungen an Lufttüchtigkeit, Wartung und Betrieb festgelegt werden sollen.

4.7

Die ICAO beabsichtigt außerdem, im Zeitraum 2016-2018 Richtlinien und Empfehlungen (standards and recommended practices — SARP) sowie Verfahren der Flugsicherung (procedures for air navigation — PAN) für RPAS in Bezug auf Luftfahrzeuge, Nutzer, Patentierung, Sense-and-Avoid-Systeme, Kommunikation und Flugverkehrsmanagementvorschriften einzuführen. Laut UAS-Arbeitsgruppe der ICAO sollen bis 2018 sämtliche Vorschriften für RPAS veröffentlicht sein.

4.8

Das Thema Regulierung wird sowohl bei der ICAO als auch auf europäischer Ebene erörtert, wobei die Diskussionen der Gemeinsamen Regulierungsbehörde für Unbemannte Flugsysteme (Joint Authorities for Rulemaking on Unmanned Systems — JARUS), einer internationalen Expertengruppe nationaler Zivilluftfahrtbehörden und regionaler Flugsicherheitsbehörden, von besonderer Bedeutung sind. Sicherheitsaspekten und Maßnahmen gegen Missbrauch von großen und kleineren Systemen muss dabei die volle Aufmerksamkeit gelten.

4.9

Bei der Erörterung von RPAS sollte sowohl den allgemeinen Aspekten in Verbindung mit größeren ferngesteuerten Luftfahrzeugen als auch den RPAS-Typen mit der höchsten Zuwachsrate in Europa, d. h. den kleineren RPAS-Systemen, Aufmerksamkeit geschenkt werden. Neben der eher öffentlichen Nutzung zu Zwecken wie polizeilichen Maßnahmen, Katastrophenhilfe und Ortung hat die kommerzielle Nutzung (sehr) kleiner Systeme auf nationaler Ebene u. a. für Beobachtungen, Luftbildaufnahmen, Überwachung und Kontrolle beträchtlich zugenommen. Daher muss ein europäischer Markt für diese Art der Nutzung von RPAS geschaffen werden.

4.10

Die Wahrung der Grundrechte wie das Recht am eigenen Bild und der Schutz personenbezogener Daten war bei bemannten Flugzeugen und Hubschraubern ein wichtiger Aspekt. Für die Verschärfung und Durchsetzung des Schutzes persönlicher Daten und Unternehmensinformationen sowie der Wahrung der Privatsphäre und der Grundrechte ist insbesondere die Zunahme der Nutzung kleinerer RPAS von großer Bedeutung. Zweckdienliche Vorschriften bleiben eine Grundvoraussetzung. Für die schrittweise Einführung und den daran gekoppelten Lernprozess könnten auch Übergangsregeln und ein Verhaltenskodex bzw. eine „Charta zur Wahrung der Privatsphäre und des Schutzes personenbezogener Daten“ für Unternehmen wichtig sein.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1   Unterstützung des europäischen Markts

5.1.1

Der EWSA begrüßt, dass auch die Europäische Kommission den wirtschaftlichen Interessen der Betreiber kleiner RPAS Rechnung trägt. Europa ist bestens dafür aufgestellt, die Vorteile einer im Entstehen begriffenen RPAS-Industrie zu nutzen. Ein starker RPAS-Sektor fördert die Beschäftigung und untermauert die Rolle Europas als Kompetenzzentrum in Sachen Technologie und Entwicklung.

5.1.2

In einem fragmentierten Sektor mit guten Aussichten auf Konsolidierung werden nur die innovativsten Unternehmen und die Unternehmen, die finanziell am besten aufgestellt sind bzw. von großen Konzernen unterstützt werden, als Sieger vom Platz gehen. Daher müssen diesen Unternehmen die Ressourcen sowie Transparenz und rechtliche Stabilität an die Hand gegeben werden, damit sie sich den Herausforderungen stellen und die Entwicklungsmöglichkeiten dieses Sektors ergreifen können. Zuallererst sind Innovations- und FuE-Kapazitäten erforderlich, die durch den Zugang zu Finanzmitteln gestärkt werden. Außerdem muss für diese Unternehmen auch der Einsatz der Rechts- und Regelungsinstrumente vereinfacht werden. Die Förderung der gegenseitigen Erbringung von Dienstleistungen zwischen mehreren Akteuren kann ebenfalls sinnvoll sein.

5.1.3

Zur Ausschöpfung der Möglichkeiten, die der Binnenmarkt bietet, müssen die Gesetzgeber sich der Herausforderung stellen, einen eindeutigen, gleichzeitig aber auch flexiblen Rechtsrahmen zu schaffen, der den Weg für Investitionen in neue RPAS-Technologien und -Anwendungen wie 3D-Drucker und das industrielle Internet frei macht. Diesbezüglich kann die Entwicklung der RPAS-Industrie über die bereits bestehende KMU-Förderung der EU weiter angeregt werden. Ebenso bietet das Gemeinsame Unternehmen SESAR eine ausgezeichnete Plattform für eine umfassendere FuE-Finanzierung zum Zwecke einer weiterführenden RPAS-Integration. Dies sollte im Programm SESAR 2020 und in „Horizont 2020“ hinreichend berücksichtigt werden.

5.1.4

Zum einen müssen die Hersteller von der derzeitigen Produktion kleiner Serien auf größere Serien umsteigen, d. h. sie müssen ihre Produktionsmittel anpassen. Diese Anpassung darf nicht zu Lasten der hohen Qualität ihrer Produkte gehen, und sie muss auch mit einer Weiterentwicklung ihrer Vertriebsstrategie einhergehen. Zum anderen müssen für andere Arten von RPAS Unternehmensgründung und -wachstum, insbesondere bei KMU, durch Innovation und maßgeschneiderte Lösungen gefördert werden.

5.1.5

Infolge der zu erwartenden Entwicklung der zivilen Nutzung von Drohnen wird es zu bedeutenden Veränderungen kommen. Zur Vorbeugung von Arbeitsplatzverlusten und zur Förderung der Entstehung neuer Berufsbilder muss den Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die Berufswelt vorgegriffen werden, wobei die Sozialpartner von Beginn an einbezogen werden müssen. Im Hinblick darauf müssen Untersuchungen und Pilotstudien durchgeführt werden, u. a. über mögliche nachhaltige und umweltfreundliche Lösungen, beispielsweise die Bekämpfung von Elektrosmog. Dies muss bei der Aus- und Weiterbildung wirksam berücksichtigt werden.

5.1.6

Den wirtschaftlichen Interessen der RPAS-Industrie wäre überdies mit einem proaktiven Vorgehen der EU bei den Verhandlungen der Internationalen Fernmeldeunion (ITU) über Frequenzvergabe und Vermeidung unlauteren Wettbewerbs durch Dritte gedient. Dies ist insbesondere in Verbindung mit den laufenden Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den USA sehr wichtig.

5.2   Haftung und Versicherung

5.2.1

Eine Grundvoraussetzung für die Nutzung von RPAS sind angemessene geltende oder neue Rechtsvorschriften, in denen Verantwortung und Haftung gegenüber Dritten von RPAS-Betreibern und -Nutzern geregelt werden. Es besteht ein allgemeiner Konsens, dass die Haftung gegenüber Dritten für RPAS auf den Bestimmungen für bemannte Luftfahrzeuge beruhen sollte.

5.2.2

Pilotenaus- und -weiterbildung: Je nach den Bedingungen für die Nutzung ziviler RPAS können — mitunter ernste — Gefahren sowohl für die Nutzer als auch für etwaige Opfer und auch Sachschaden entstehen. Optimale Nutzungsbedingungen setzen voraus, dass gemeinsam mit den Regulierungsbehörden und den Berufsverbänden für zivile RPAS oder vergleichbaren Stellen ein Rechtsrahmen für die Aus- und Weiterbildung von Piloten und Betreibern, die Luftfahrzeuge fernsteuern, sowie für Befähigungsnachweise festgelegt wird. Dies verringert die Unklarheiten in Bezug auf Versicherungsaspekte und die Haftpflicht.

5.2.3

Es erscheint vernünftig, dass die RPAS-Betreiber nicht zuletzt aufgrund des hohen Automatisierungsgrads direkt haftbar sein werden. Die geltenden Versicherungsanforderungen an Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber sind u. a. in der Verordnung (EG) Nr. 785/2004 geregelt. Diese Verordnung trägt den besonderen Versicherungs- und Haftungsanforderungen von RPAS derzeit nicht Rechnung.

5.2.4

Die kommerzielle Nutzung insbesondere kleinerer RPAS wird weitere Anpassungen erforderlich machen (z. B. eine weitere Einschränkung der Haftung gegenüber Dritten, Einführung niedrigerer Gewichtskategorien von RPAS unter 500 kg, Anpassung der Risikoniveaus in Verbindung mit den Flugeigenschaften sehr kleiner RPAS usw.).

5.2.5

Es ist möglich, Versicherungen für RPAS abzuschließen, da jedoch die meisten RPAS-Missionen derzeit von staatlichen Luftfahrzeugen durchgeführt werden, ist die Nachfrage gering. Die Berechnung der Versicherungsprämien beruht meistens auf bemannten Flügen (Startgewicht). Auch dieses System muss für kleinere RPAS angepasst werden.

5.3   Privatsphäre/Datenschutz

5.3.1

Die kommerzielle Nutzung kleinerer RPAS (unter 150 kg), mit denen vor allem viel Daten- und Bildmaterial gesammelt werden kann, muss von Beginn an an eindeutige Garantien zum Schutz der Privatsphäre gekoppelt sein. Dies kann u. a. die Unkenntlichmachung von Bildern bzw. das An- und Ausschalten der Kamera sowie den Schutz von Bild- und sonstigem Datenmaterial betreffen. Es besteht ein klarer Bedarf an neuen bzw. strikteren Normen für die private wie auch die kommerzielle Nutzung, die beispielsweise auch die Identifizierung kleinerer RPAS sowie den Schutz vor Hacker-Angriffen und Kontrollübernahme durch Dritte ermöglichen.

5.3.2

Vorschläge für Änderungen der geltenden EU-Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten befinden sich im fortgeschrittenen Verhandlungsstadium. Darin werden u. a. die Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen der Hersteller und Nutzer von RPAS präzisiert. Nicht zuletzt in Bezug auf die Frage, ob derartige Normen auf europäischer oder nationaler Ebene eingeführt und durchgesetzt werden müssen, ist die Erwartung gerechtfertigt, dass die Europäische Kommission aktiv handelt.

5.4   Zivil-militärische Zusammenarbeit

5.4.1

Die zivile und militärische Nutzung des Luftraums durch bemannte und unbemannte Flugzeuge und die damit verbundenen Sicherheitsnormen werden eine höhere Belastung der Flugverkehrsdienste mit sich bringen. Der EWSA unterstützt daher die Absicht der Europäischen Kommission, einschlägige Initiativen zu ergreifen, ebenso wie eine zivil-militärische Zusammenarbeit, über die kommerzielle Anwendungen und Innovationen getestet werden können, um wo immer möglich von Synergien zu profitieren. Außerdem muss sicherlich auch den Rechtsetzungsprioritäten und dem Verhältnis zwischen europäischen und internationalen Rechtsvorschriften Rechnung getragen werden.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Ein neues Zeitalter der Luftfahrt — Öffnung des Luftverkehrsmarktes für eine sichere und nachhaltige zivile Nutzung pilotenferngesteuerter Luftfahrtsysteme, COM(2014) 207 final vom 8. April 2014.

(2)  Ebd.

(3)  Artikel 8: Unbemannte Luftfahrzeuge

Luftfahrzeuge, die unbemannt geflogen werden können, dürfen das Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates ohne Führer nur mit besonderer Ermächtigung dieses Staates und nur in Übereinstimmung mit den Bedingungen dieser Ermächtigung überfliegen. Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, dafür zu sorgen, dass Flüge solcher unbemannter Luftfahrzeuge in für Zivilluftfahrzeuge offen stehenden Gebieten so überwacht werden, dass eine Gefahr für Zivilluftfahrzeuge vermieden wird.

(4)  „Roadmap for the integration of civil Remotely-Piloted Aircraft Systems into the European Aviation System“, Schlussbericht des europäischen RPAS-Lenkungsausschusses, Juni 2013.


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/93


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Innovation in der Blauen Wirtschaft: Nutzung des Potenzials unserer Meere und Ozeane für Wachstum und Beschäftigung

(COM(2014) 254 final/2)

(2015/C 012/15)

Berichterstatter:

Seamus BOLAND

Mitberichterstatter:

Gonçalo LOBO XAVIER

Die Europäische Kommission beschloss am 13. Mai 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Innovation in der Blauen Wirtschaft: Nutzung des Potenzials unserer Meere und Ozeane für Wachstum und Beschäftigung

COM(2014) 254 final/2.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 1. Oktober 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 143 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt das Kommissionsdokument, mit dem die Ausschöpfung des Beschäftigungspotenzials der Meere und Ozeane mittels Innovation optimiert werden soll. Im Mittelpunkt dabei stehen Meeresbiotechnologie, Meeresenergie und Meeresbodenbergbau.

1.2

Der EWSA ist über die mangelnde Koordinierung der Maßnahmen des öffentlichen und des privaten Sektors besorgt und hält fest, dass auch zwischen den Mitgliedstaaten vergleichbare Koordinierungsschwierigkeiten bestehen. Zudem ist der Mangel an angemessenen Daten und Datensystemen zur Erhebung genauer Daten über die Meere und ihr Potenzial trotz aller Anstrengungen von Hochschulen und Wissenszentren in den Mitgliedstaaten ein Hemmschuh für die weitere Innovation. Werden diese Probleme nicht angegangen, werden die Unionsbürger nach Meinung des EWSA um neue Beschäftigungsmöglichkeiten gebracht.

1.3

Der EWSA betont, dass die Leitinitiative „Innovationsunion“ von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung der blauen Wirtschaft ist, jedoch stärker von der Europäischen Kommission gefördert werden muss, u. a. durch die Schaffung der notwendigen Rechtsgrundlagen sowie die Bereitstellung langfristiger Finanzierung und umfassenderer Informationen zu bestehenden Innovationsprogrammen.

1.4

Der EWSA fordert die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die im Rahmen der Leitinitiative „Innovationsunion“ ermittelten Mängel dringend anzugehen.

1.5

Der EWSA empfiehlt, neben dem wissenschaftlichen Ansatz des Dokuments auch Strategien für den Küstentourismus zu berücksichtigen, um nicht nur das Interesse der Zivilgesellschaft an dieser Thematik zu fördern, sondern auch Vorteile aus einer integrierten Zusammenarbeit zwischen beiden Zukunftsbildern zu ziehen.

1.6

Der EWSA empfiehlt, die vom Niedergang der traditionellen Gewerbe wie der Fischerei betroffenen Küsten- und Inselregionen umfassend in alle Etappen der Entwicklung der blauen Wirtschaft einzubeziehen, um ein Gleichgewicht zwischen FuE und Tourismustätigkeiten zu erreichen, das Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen kann. Damit macht der EWSA deutlich, dass alle von der blauen Wirtschaft betroffenen Gemeinschaften in einem konstruktiven Dialog zwischen allen Interessenträgern vertreten sein sollten. Außerdem können diese Gemeinschaften, insbesondere die Inseln, mit ihrem Potenzial zu Innovation in der blauen Wirtschaft beitragen.

1.7

Bei der Aufstellung von Strategien zur Beschäftigungsförderung in der blauen Wirtschaft muss Innovation in Bereichen wie Schiffbau, Aquakultur, Hafeninfrastruktur und Fischerei berücksichtigt werden. In Anbetracht der zunehmenden Umweltauflagen empfiehlt der EWSA, dass die meerespolitischen Maßnahmen der Europäischen Kommission auf das Beschäftigungspotenzial in Verbindung mit der Anpassung an neue Umweltanforderungen ausgerichtet sein sollten.

1.8

Im Rahmen der derzeitigen Politik kann ein Anstieg der Beschäftigung durch Innovation in der blauen Wirtschaft nur äußerst langsam erreicht werden. In diesem Kontext fordert der EWSA die Europäische Kommission ausdrücklich auf, die Zustimmung aller Seiten für einen intelligenten Fahrplan im Hinblick auf eine gezielte und zügige Umsetzung der Strategien einzuholen.

1.9

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagenen Maßnahmen der Europäischen Kommission, ist jedoch der Meinung, dass sie nicht ausreichen und die Mitgliedstaaten nicht angemessen in die Pflicht nehmen. Diesbezüglich muss vor 2016 ein EU-Sondergipfel zu Innovation in der blauen Wirtschaft anberaumt werden, an dem die Minister für maritime Angelegenheiten und damit verbundene Zuständigkeitsbereiche teilnehmen. Auf diesem Gipfel sollen vorrangige Schlüsselstrategien ermittelt und Fahrpläne für ihre Umsetzung festgelegt werden, die für alle Mitgliedstaaten gemäß ihren jeweiligen Gegebenheiten machbar sind. Der EWSA empfiehlt außerdem, dass die Zivilgesellschaft, auch Arbeitnehmer und schutzbedürftige Gruppen, auf dem für 2015 geplanten Forum „Blaue Wirtschaft und Wissenschaft“ angemessen vertreten sind.

2.   Erläuterung und Hintergrund

2.1

2011 nahm die Europäische Kommission eine Mitteilung zu blauem Wachstum (1) an, in der sie das Potenzial für die Schaffung neuer Arbeitsplätze durch die Förderung der Ozeane, Meere und Küsten rund um Europa aufzeigte. Sie hob außerdem die Rolle hervor, die Meeresenergie für gesteigerte Beschäftigungsmöglichkeiten spielen könnte.

2.2

Derzeit schaffen die mit dem Meer verbundenen Wirtschaftszweige 3 bis 5 % des BIP der EU; sie beschäftigen ca. 5,6 Millionen Menschen und stehen für ein Wertschöpfungsvolumen von 495 Mrd. EUR für die europäische Wirtschaft. 90 % des Außenhandels und 43 % des EU-internen Handels werden über Seeverkehrswege abgewickelt. Der europäische Schiffbau einschl. angeschlossener Industriezweige steht für 10 % der weltweiten Produktion. Fast 1 00  000 Schiffe sind in Europa in der Fischerei oder in der Aquakultur im Einsatz. Daneben entwickeln sich neuere Nutzungsmöglichkeiten, zum Beispiel Mineralienabbau und Windparks (Die Europäische Union erklärt: Maritime Angelegenheiten und Fischerei, 2014, http://europa.eu/pol/pdf/flipbook/de/fisheries_de.pdf).

2.3

Die Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen sind besorgt, dass die nicht nachhaltige Nutzung der Meere das empfindliche Gleichgewicht der marinen Ökosysteme gefährdet. Dies wiederum stellt meerespolitische Initiativen in Frage, die auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze und einen Beitrag zur Europa-2020-Strategie abheben.

2.4

Die Europäische Kommission ist sich auch einiger Mängel bewusst, die im Rahmen der Leitinitiative „Innovationsunion“ festgestellt wurden, u. a. Unterfinanzierung der Wissensbasis, schwieriger Zugang zu Finanzmitteln, hohe Kosten der Rechte an geistigem Eigentum, geringe Fortschritte in Bezug auf interoperable Normen, ineffiziente Nutzung des öffentlichen Auftragswesens und Doppelarbeit in der Forschung. Im Jahreswachstumsbericht der Europäischen Kommission für 2014 wurden weitere Mängel ermittelt: unzureichende Innovationszusammenarbeit zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor, geringer Erfolg bei der Umsetzung von Forschungsergebnissen in Waren und Dienstleistungen sowie wachsende Qualifikationslücke.

2.5

Daten, die Aufschluss über die Beschaffenheit des Meeresbodens (beispielsweise eine Kartierung der Meeresbodenhabitate), die Meeresbodengeologie und weitere Ungewissheiten in Verbindung mit den Meeren geben, sind nur begrenzt verfügbar, was raschere Innovation behindert.

2.6

Im Rahmen ihrer Tätigkeiten trägt die Europäische Kommission für viele Initiativen Sorge, u. a.:

Verfügbarkeit von Daten ohne Zugriffsbeschränkungen;

Integration von Datensystemen;

Annahme einer europäischen Strategie für Meeresforschung.

2.7

Trotz der Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik sind Tausende von Küstengemeinden im Niedergang begriffen. Viele von ihnen können in dem Wettbewerb auf See nicht mehr mithalten und würden erhebliche Unterstützung zur Modernisierung ihrer Fischereiflotten benötigen. Auch in den Nebendienstleistungen wie Schiffbau und -wartung sowie Bereitstellung damit verbundener Dienste ist ein Rückgang zu verzeichnen.

2.8

Zu den Meeren rund um Europa zählen u. a. die Adria und das Ionische Meer, der Arktische Ozean, der Atlantik und die Irische See, die Ostsee, das Schwarze Meer, das Mittelmeer und die Nordsee.

3.   Kontext der Kommissionsmitteilung

3.1

Am Donnerstag, den 8. Mai 2014, legte die Europäische Kommission einen Aktionsplan für „Innovation in der Blauen Wirtschaft“ vor mit dem Ziel, das Potenzial unserer Meere und Ozeane für Wachstum und Beschäftigung zu nutzen. Darin werden eine Reihe von Initiativen vorgeschlagen, um das Wissen über Meere und Ozeane zu vergrößern, die notwendigen Kompetenzen zu verbessern, um neue Technologien in der Meeresumwelt anwenden zu können, und die Koordinierung der Meeresforschung zu stärken. Folgende Maßnahmen werden vorgeschlagen:

vollständige Kartierung des Bodens der europäischen Gewässer bis 2020;

Schaffung einer Online-Informationsplattform über alle Meeresforschungsprojekte bis Ende 2015 im Rahmen von Horizont 2020 und über von den Mitgliedstaaten finanzierte diesbezügliche Forschungsarbeiten sowie Informationsaustausch zu den Ergebnissen abgeschlossener Projekte;

Einrichtung eines Wissenschaftsforums für blaue Wirtschaft und Wissenschaft, in das der private Sektor, Forscher und NGO eingebunden sind; dies soll dazu beitragen, die blaue Wirtschaft der Zukunft zu gestalten sowie Ideen und Ergebnisse auszutauschen. Die erste Sitzung wird 2015 anlässlich der Veranstaltung zum Tag der Meere in Piräus (Griechenland) stattfinden;

Aufforderung an die Akteure in Forschung, Wirtschaft und Bildung, bis 2016 die Erfordernisse, Kenntnisse und Qualifikationen der künftigen Arbeitnehmer im maritimen Sektor zu umreißen;

Prüfung der Möglichkeit, inwieweit wichtige Akteure aus Forschung, Wirtschaft und Bildung eine Wissens- und Innovationsgemeinschaft für die blaue Wirtschaft nach 2020 aufbauen können. Die Wissens- und Innovationsgemeinschaften können als Teil des Europäischen Innovations- und Technologieinstituts (EIT) auf vielfältige Weise Innovationsanstöße geben, so etwa durch die Veranstaltung von Schulungs- und Bildungsprogrammen, Förderung der Vermarktung von Innovationen oder Einrichtung von Innovationsprojekten oder Gründerzentren.

3.2

Zu den Einzelsektoren, die die blaue Wirtschaft ausmachen, zählen Aquakultur, Küstentourismus, Meeresbiologie, Biotechnologie, Meeresenergie und Meeresbodenbergbau.

3.3

Aus wirtschaftlicher Sicht bietet die blaue Wirtschaft 5,4 Millionen Arbeitsplätze und eine Bruttowertschöpfung von fast 500 Mrd. EUR jährlich; Meeresbiotechnologie, Meeresenergie und Meeresbodenbergbau müssen jedoch erst noch ausgebaut werden, bevor sie einen wirtschaftlichen Nettonutzen bringen.

3.4

Nach Auffassung der Europäischen Kommission können diese Sektoren erheblich wie folgt zur blauen Wirtschaft beitragen:

Meeresbiotechnologie (blaue Biotechnologie) ermöglicht die Erforschung der Meere, um DNA-Analysen mittels neuer Unterwassertechnologien vorzunehmen. Die betroffenen Mitgliedstaaten bilden eine ausreichend kritische Masse, um lukrative Nischenmärkte zu erschließen.

Meeresenergie ist ein noch in der Entwicklung befindlicher Sektor. Bei geeigneter Governance verfügt er über das Potenzial, die Ziele für erneuerbare Energie und Treibhausgasminderung zu verwirklichen. Wirtschaftswachstum infolge neuer innovativer Techniken kann aufgrund der bereits erzielten Fortschritte als realistisch angesehen werden.

Da der Meeresboden potenziell über gewaltige Mineralvorkommen verfügt, können durch Meeresbodenbergbau neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Unter angemessener Berücksichtigung von Umweltbedenken könnte der Abbau dieser Vorkommen Marktlücken schließen, wenn Recycling nicht möglich oder angemessen ist oder wenn die Belastung der Vorkommen zu Lande zu groß ist. Dieser Sektor ist zwar noch klein, verfügt aber über das Potenzial, nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung für künftige Generationen zu schaffen.

3.5

Die blaue Wirtschaft wird durch die Leitinitiative „Innovationsunion“ gefördert, die auf die Schaffung eines innovationsfreundlichen Umfeldes abhebt. Das neue, mit 79 Mrd. EUR ausgestattete Programm „Horizont 2020“ ist nunmehr das größte jemals von der EU durchgeführte Forschungs- und Innovationsprogramm.

3.6

In der Kommissionsmitteilung werden auch die Mängel dieser Initiative aufgezeigt, u. a. Unterfinanzierung der Wissensbasis, schwieriger Zugang zu Finanzmitteln, hohe Kosten der Rechte an geistigem Eigentum, geringe Fortschritte in Bezug auf interoperable Normen, ineffiziente Nutzung des öffentlichen Auftragswesens und Doppelarbeit in der Forschung.

3.7

Zu den von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen zählen u. a.:

ab 2014 ein nachhaltiges Verfahren aufzubauen, durch das sichergestellt werden soll, dass Meeresdaten leicht zugänglich, interoperabel und frei von Nutzungsbeschränkungen sind;

bis Januar 2020 eine Karte des gesamten Meeresbodens der europäischen Gewässer in Mehrfachauflösung zu erstellen;

bis Ende 2015 eine das gesamte Programm „Horizont 2020“ sowie Informationen über staatlich finanzierte Meeresforschungsprojekte umfassende Informationsplattform zur Meeresforschung einzurichten;

2015 die erste Sitzung des Wirtschafts- und Wissenschaftsforums für blaue Wirtschaft (Blue Economy Business and Science Forum) abzuhalten;

im Zeitraum 2014-2016 eine Allianz für Fertigkeiten des Meeressektors zu entwickeln.

3.8

An dieser Stelle ist festzuhalten, dass der Begriff „blaue Wirtschaft“ in dem Kommissionsdokument nicht definiert wird. Der EWSA verweist auf die Begriffsbestimmung, die in dem dritten Zwischenbericht zur blauen Wirtschaft von März 2012 mit dem Titel Scenarios and Drivers for Sustainable Growth from Oceans, Seas and Coasts enthalten ist: „smart, sustainable and inclusive economic and employment growth from the oceans, seas and coasts“ (ein intelligentes, nachhaltiges und inklusives Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum aus den Ozeanen, Meeren und Küsten). Die Meereswirtschaft besteht aus sämtlichen Sektoren und sektorübergreifenden Wirtschaftstätigkeiten in Verbindung mit den Ozeanen, Meeren und Küsten. Diese Tätigkeiten sind oftmals gebietsspezifisch; diese Begriffsbestimmung schließt jedoch auch alle direkt oder indirekt für das Funktionieren der einzelnen Sektoren der Meereswirtschaft notwendigen unterstützenden Tätigkeiten ein. Diese Tätigkeiten können überall, auch in Binnenländern, angesiedelt sein. Als maritime Beschäftigung sind alle Arbeitsplätze zu verstehen (gemessen in Vollzeitbeschäftigung), die aus oben genannten Tätigkeiten in Verbindung mit den Ozeanen, Meeren und Küsten entstehen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Um das Potenzial der blauen Wirtschaft in Europa ausschöpfen zu können, müssen die Mitgliedstaaten und alle Akteure, auch die Zivilgesellschaft, aktiv in die Ausarbeitung von politischen Maßnahmen und lokalen Lösungen eingebunden sein, um die vielen, in der Leitinitiative „Innovationsunion“ und dem Jahreswachstumsbericht für 2014 ermittelten Mängel zu beheben.

4.2

Die Leitinitiative „Innovationsunion“ ist von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung der blauen Wirtschaft. Allerdings sind weitaus mehr Förderung und Entwicklung erforderlich, um das wirtschaftliche Potenzial der Meere auszuschöpfen.

4.3

Die Europäische Kommission muss im Rahmen des Europäischen Semesters sicherstellen, dass die allgemeinen politischen Strategien in den nationalen Reformplänen der Mitgliedstaaten die Prioritäten des blauen Wachstums widerspiegeln.

4.4

Die Verschmutzung der Meere, die großteils auf Tätigkeiten zu Lande zurückzuführen ist, hat echte Auswirkungen auf eine künftige nachhaltige blaue Wirtschaft. In gleichem Maße werden auch Umweltbedenken in Verbindung mit Meeresbodenbergbau, die Notwendigkeit einer besseren Hafeninfrastruktur und eine höhere Umweltqualität in der Schifffahrtsindustrie das Beschäftigungspotenzial der blauen Wirtschaft beeinträchtigen, wenn sie nicht unmittelbar angegangen werden.

4.5

Der schwierigen Lage der Küstenregionen, die von der weitreichenderen europäischen Wirtschaftskrise betroffen und von der blauen Wirtschaft abhängig sind, muss besondere Aufmerksamkeit in Form von stärkeren Verknüpfungen mit EU-Programmen wie der Gemeinsamen Fischereipolitik gewidmet werden.

4.6

Die Fragmentierung der Maßnahmen und Initiativen zur Verbesserung des wirtschaftlichen Werts der Ozeane und Meere in Europa hat eine nachhaltige Wirtschaftsweise in den verschiedenen Sektoren beeinträchtigt. Durch mögliche Abkommen zur blauen Wirtschaft zwischen Europa und den USA sowie weiteren globalen Interessenten können ebenfalls neue Beschäftigungsmöglichkeiten erschlossen werden.

4.7

Die blaue Wirtschaft ist von der Entwicklung der Schiffbauindustrie abhängig, die mehr als 150 große Werften in Europa zählt, von denen rund 40 auf dem weltweiten Markt für große Seehandelsschiffe operieren. Die Werften (für zivile und militärische Zwecke, Schiffbau- und Schiffsreparaturwerften) bieten in der Europäischen Union ca. 1 20  000 direkte Arbeitsplätze. Die Europäische Kommission sollte sich eingehender mit dem Beitrag der Schifffahrtindustrie zur blauen Wirtschaft auseinandersetzen.

4.8

Neben dem wissenschaftlichen Ansatz des Dokuments müssen auch Strategien für den Küstentourismus berücksichtigt werden, um nicht nur das Interesse der Zivilgesellschaft an dieser Thematik zu fördern, sondern auch Vorteile aus einer integrierten Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Zukunftsbildern zu ziehen. Sämtliche Entwicklungen müssen ökologischen Anforderungen angepasst sein und neue Chancen eröffnen.

4.9

Das Kommissionsdokument ist stark auf die wissenschaftliche Forschung ausgerichtet, die selbstredend notwendig ist, um ein sicheres Ökosystem aufrechtzuerhalten, gleichzeitig sollte jedoch auch eine integrierte Sichtweise Teil der politischen Entscheidungsfindung sein. Daher müssen die Folgen von Meeresbodenbergbau wissenschaftlich untersucht und in der Politikgestaltung berücksichtigt werden. Ein gesundes Gleichgewicht zwischen der Notwendigkeit, die Meere zu schützen, und ihrer wirtschaftlichen Tragfähigkeit ist unabdingbar, um einen Mehrwert für die Forschung, die Wirtschaft und die Gesellschaft ganz allgemein zu bringen.

4.10

Bei einer Analyse der blauen Wirtschaft muss dem Niedergang der traditionellen blauen Wirtschaftssektoren wie Kleinfischfang, Schifffahrt und Tourismus ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet werden. Außerdem müssen auch die Folgen der Kürzungen der EU-Fördermittel in diesem Bereich berücksichtigt werden.

4.11

Die Fähigkeit dieser traditionellen Wirtschaftssektoren, zur Steigerung der Beschäftigung beizutragen, darf nicht beeinträchtigt werden. In Bezug auf die Aquakultur kann die EU die innereuropäische Nachfrage nach Fisch immer noch nicht selbst abdecken. Im Schiffbau ist das Beschäftigungspotenzial ebenfalls enorm. Die erforderliche Modernisierung der Hafeninfrastruktur wird, wenn sie tatsächlich erfolgt, ebenfalls erhebliche neue Beschäftigungsmöglichkeiten bieten.

4.12

Einige Mitgliedstaaten fördern bereits in ihrer Innovationsstrategie die Idee der Tragfähigkeit in Verbindung mit Meeren und Ozeanen als nationale Priorität. Wie ein ökoeffizienter Seeverkehr in einem Meeresraum ohne Grenzen zur besseren Nutzung der Schifffahrt und ihre Integration in die Hafenlogistik im Einklang mit der globalen Logistik sinnvoll beitragen kann, ist beispielsweise der nationalen Strategie für Forschung und Innovation für intelligente Spezialisierung 2014-2020 Portugals zu entnehmen. Dies unterstreicht das Engagement der Mitgliedstaaten und die Bedeutung der blauen Wirtschaft für eine Führungsrolle der EU in diesem Bereich.

4.13

Nach Auffassung des EWSA spielen Inseln in der EU eine besondere Rolle für die blaue Wirtschaft, und zwar in allen drei als Innovationsbereiche ermittelten Sektoren, aber insbesondere bei Meeresenergie. Daher fordert er die Europäische Kommission auf, den Inseln in ihrer Mitteilung besonderes Gewicht beizumessen, zum einen aufgrund der besonderen Bedeutung der blauen Wirtschaft für diese Gebiete und zum anderen aufgrund ihres Beitrags zu Innovation in der blauen Wirtschaft.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Blaues Wachstum Chancen für nachhaltiges marines und maritimes Wachstum (COM(2012) 494 final).


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/99


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Programms über Interoperabilitätslösungen für europäische öffentliche Verwaltungen, Unternehmen und Bürger (ISA2): Interoperabilität als Mittel zur Modernisierung des öffentlichen Sektors

(COM(2014) 367 final — 2014/0185 (COD))

(2015/C 012/16)

Alleinberichterstatter:

Stuart ETHERINGTON

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 3. Juli bzw. am 17. Juli 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 172 und 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Programms über Interoperabilitätslösungen für europäische öffentliche Verwaltungen, Unternehmen und Bürger (ISA2): Interoperabilität als Mittel zur Modernisierung des öffentlichen Sektors

COM(2014) 367 final — 2014/0185 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 1. Oktober 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 151 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Schlussfolgerungen

1.1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Vorschlag für ein neues Programm über Interoperabilitätslösungen für europäische öffentliche Verwaltungen, Unternehmen und Bürger (ISA2). Der Vorschlag ist wohldurchdacht und dürfte durch sein Ansinnen, einen effizienten und wirksamen, auf gemeinsame Standards und Instrumente gestützten Datenaustausch zwischen Behörden sicherzustellen, zur Umsetzung der Digitalen Agenda für Europa beitragen.

1.1.2

Zwar ist das Programm ISA2 auf öffentliche Verwaltungen ausgerichtet, doch geht der Ausschuss davon aus, dass es auch Vorteile für die Zivilgesellschaft bringen kann und hoffentlich wird.

1.1.3

Indes sind zwei wesentliche Bedenken zu nennen, die, wenn sie ausgeräumt werden, ISA2 stärken könnten.

1.1.4

Zum einen sind die Bürger zunehmend besorgt über die Sammlung und Nutzung personenbezogener und in einem breiteren Kontext erhobener Daten. Sie sind sich auch im Klaren darüber, dass eine größere Interoperabilität die Art und Weise beeinflusst, wie Daten ausgetauscht und genutzt werden können. In dem Vorschlag wird nicht darauf eingegangen, inwieweit diese Risiken und Anliegen für die Bürger oder die erfolgreiche Umsetzung von ISA2 relevant sind. Der Ausschuss verweist ferner auf seine frühere Stellungnahme zur Datenschutz-Grundverordnung sowie auf den Standpunkt des Europäischen Datenschutzbeauftragten und betont die Notwendigkeit wirksamerer Schutzvorkehrungen für die Bürger (1) (siehe Schreiben des Europäischen Datenschutzbeauftragten zu der vorgeschlagenen Datenschutz-Grundverordnung (in EN): https://secure.edps.europa.eu/EDPSWEB/webdav/site/mySite/shared/Documents/Consultation/Comments/2014/14-02-14_letter_Council_reform_package_EN.pdf).

1.1.5

Zum anderen könnte ISA2 vor allem durch seine „Lösungsinkubator“-Tätigkeiten den aktuellen Markt für Interoperabilitätslösungen verzerren.

1.2   Empfehlungen

1.2.1

Der Ausschuss begrüßt das ISA2-Programm für Interoperabilitätslösungen und unterstützt diesen Vorschlag.

1.2.2

Er empfiehlt, dass das Programm an das laufende ISA-Programm und andere einschlägige Programme anschließt, um zur Umsetzung der Digitalen Agenda für Europa beizutragen.

1.2.3

Der Ausschuss ersucht darum, über die Fortschritte bei der Durchführung von ISA2 informiert zu werden.

1.2.4

Das Vertrauen der Öffentlichkeit in öffentliche Verwaltungen und ihre Fähigkeit, personenbezogene Daten zu verwalten und die Privatsphäre zu achten, gibt Anlass zu Besorgnis. In dem Vorschlag wird öffentliches Vertrauen nicht als Risikofaktor genannt, und es werden auch keine anderen Risiken oder Nachteile für Interoperabilität angesprochen. Eventuellen Bedenken des Europäischen Datenschutzbeauftragten gegen die Verarbeitung personenbezogener Daten in mehr als einem Mitgliedstaat sollte Rechnung getragen werden. In den Aktivitäten des Programms sollte darauf deutlicher eingegangen werden.

1.2.5

In einer verständlichen Bürgerinfo sollten die Kosten-/Nutzenaspekte aufgeschlüsselt und die beworbenen sozialen Vorteile des Programms begründet werden.

1.2.6

Es sollte anhand von mehr praktischen Anwendungsbeispielen veranschaulicht werden, warum aus Sicht der Bürger eine Interoperabilität zwischen den einzelstaatlichen öffentlichen Verwaltungen in der Praxis erforderlich ist.

1.2.7

Insbesondere sollte die Zivilgesellschaft gezielt über die im Rahmen von ISA2 durchgeführten Arbeiten unterrichtet werden, da ihre Organisationen von Interoperabilitätslösungen profitieren oder zur erfolgreichen Durchführung des Programms beitragen könnten.

1.2.8

Die „Lösungsinkubator-“ oder „Lösungsbrücke“-Tätigkeiten können Marktverzerrungen bewirken. Deshalb ist Folgendes erforderlich:

Die Kommission muss sich ggf. vergewissern, dass diese Tätigkeiten nicht den Markt verzerren und zum Rückgang des kommerziellen Angebots an IKT-Interoperabilitätslösungen führen.

Die Auswahl neuer Lösungen und langfristiger Support-Optionen bis zum Erreichen der Tragfähigkeit sollte anhand robuster Prüf- und Bewertungsverfahren vorgenommen werden, auf die die Interessenträger vertrauen können.

Wenn Marktverzerrungen realen Anlass zur Sorge geben, sollte der „Lösungsinkubator“ eher darauf abheben, Standards und Funktionsbibliotheken zu entwickeln, anstatt „schlüsselfertige“ Lösungen zu liefern.

1.2.9

Die Beschränkung auf nichtkommerzielle Zwecke könnte die Wirkung von ISA2 beeinträchtigen: Wenn die Zivilgesellschaft die ISA2-Arbeiten nicht gewerblich nutzen kann, schwindet auch ihr Interesse an dem Programm.

1.2.10

Um der Anforderung der Mehrsprachigkeit gerecht zu werden, muss jede IT-Lösung mit dem Universalzeichensatz (Unicode, ISO/IEC 10646) (UCS = Universal Character Set) kompatibel sein, wie es auch die Hochrangige Gruppe „Mehrsprachigkeit“ in ihrem Abschlussbericht (2007) forderte. Für derzeit oder möglicherweise künftig gesetzlich vorgeschriebene Interoperabilität auf europäischer Ebene sollte im Interesse einer besseren Handhabbarkeit eine Untermenge des UCS festgelegt werden.

2.   Einleitung

2.1

Daten, lautet eine landläufige Meinung, können Bürgerdienste und die Organisationen, die diese Dienste im öffentlichen und privaten Sektor und in der Zivilgesellschaft insgesamt bereitstellen, verändern. Daten können Forschung und Entwicklung voranbringen und die Steigerung von Produktivität und Innovation bewirken. Deshalb werden Daten häufig als neue natürliche Ressource bezeichnet, beispielsweise in dem folgenden Artikel: http://www.forbes.com/sites/ibm/2014/06/30/why-big-data-is-the-new-natural-resource (in EN).

2.2

In allen Lebensbereichen werden immer mehr Daten erzeugt und gesammelt, über Verwaltungsverfahren wie beim Ausfüllen elektronischer Steuererklärungen bis hin zur Übermittlung von Gesundheitsdaten über intelligente Armbanduhren. Die Erschließung des Potenzials von sog. Big Data, wie z. B. Daten von Nutzern öffentlicher Verkehrssysteme, kann die Konzeption und Planung öffentlicher Dienstleistungen grundlegend verändern. Tatsächlich hängen politische Initiativen und öffentliche Dienste zunehmend von digitalen Fähigkeiten ab. Ein aktuelles Beispiel aus dem Vereinigten Königreich: Die Ablösung der Kfz-Zulassungsbescheinigung (tax disc) durch ein elektronisches System setzt die Interoperabilität der Datenbanken der Kfz-Versicherungen, Fahrzeugregister und technischen Überwachungsdienste voraus (Definition [in EN] von Interoperabilität s. http://www.ariadne.ac.uk/issue24/interoperability). Die Entrichtung der Kfz-Steuer wird dadurch erleichtert und die Einhaltung der Vorschriften vorgeblich verbessert. Kurz gesagt, wir leben in einer digitalen Gesellschaft, die es möglich macht, in großem Maße digitale, vernetzte Dienste bereitzustellen. Die EU unterstützt durch zahlreiche Programme und ihre übergreifende Digitale Agenda für Europa die Verwirklichung einer digitalen Wirtschaft und Gesellschaft (siehe http://ec.europa.eu/digital-agenda).

2.3

Die Vorteile einer digitalen Gesellschaft und insbesondere von E-Government können zum Tragen gebracht werden, indem der Zugang zu Daten verbessert oder ihre Weiterverwendung erleichtert werden, wenn die Datenerzeuger ihre freie (Weiter)Nutzung ohne Einschränkungen erlauben (Open Data; Definition [in EN] s. http://theodi.org/guides/what-open-data). Wo Daten verfügbar sind, können Interoperabilitätsstandards festgelegt werden, um Datenaustausch und -weiterverwendung zu erleichtern. Das kann schon allein dadurch erreicht werden, dass Daten „maschinenlesbar“ gemacht und nicht in einem proprietären Dateiformat (wie PDF) verschlüsselt werden oder dass gemeinsame Formate für die Sammlung und Vorlage von Daten (wie XBRL für Finanzberichterstattung von Unternehmen; s. http://de.wikipedia.org/wiki/XBRL) festgelegt werden. Es sei im Rahmen dieser Stellungnahme noch darauf hingewiesen, dass die von öffentlichen Verwaltungen erhobenen Daten zum Großteil personenbezogener und privater Art sind (siehe Schaubild). Dies ist wichtig, da die öffentliche Akzeptanz von Interoperabilität und ihren Anwendungen eng mit der Problematik der personenbezogenen Daten verbunden ist.

Schaubild 1: Big Data, Open Data und personenbezogene Daten

Image

2.4

Der Kommission zufolge entstehen durch mangelnde Interoperabilität zwischen den Mitgliedstaaten elektronische Schranken, die die Bürger daran hindern, öffentliche Dienstleistungen wie Gesundheitsdienste, die immer mehr auf Daten und IT-Fähigkeit angewiesen sind, effizient zu nutzen. Fehlende Interoperabilität behindert auch die EU-weite Umsetzung von politischen Maßnahmen. Umgekehrt sind politische Initiativen wie der Binnenmarkt auf die Interoperabilität der nationalen Unternehmensregister angewiesen. Kurz zusammengefasst ist Interoperabilität für ein modernes und integriertes Europa unabdingbar.

3.   Das vorgeschlagene ISA2-Programm über Interoperabilitätslösungen für europäische öffentliche Verwaltungen, Unternehmen und Bürger

3.1

Seit 1995 legt die Europäische Kommission Programme für den Auf- und Ausbau der Interoperabilität auf und hat in diesem Zusammenhang eine Strategie und einen Rahmen aufgestellt (siehe Mitteilung über die Interoperabilisierung europäischer öffentlicher Dienste für eine ausgezeichnete Übersicht). Laut Kommission ist die Interoperabilitätsförderung erfolgreich und hat „den Weg zur Verwirklichung einer wirksamen und effizienten grenz- und sektorübergreifenden Interaktion zwischen Verwaltungen [gewiesen], um so die Erbringung elektronischer öffentlicher Dienstleistungen zu ermöglichen, die die Durchführung gemeinschaftspolitischer Strategien und Maßnahmen fördern“ (Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über Interoperabilitätslösungen für europäische öffentliche Verwaltungen, Unternehmen und Bürger (ISA2), S. 3).

3.2

Das aktuelle Programm für Interoperabilitätslösungen für europäische öffentliche Verwaltungen (ISA) läuft am 31. Dezember 2015 aus. Es bleibt jedoch noch viel zu tun: Von einer „standardmäßig digitalen“ (digital by default) Arbeitsweise sind einige Bereiche noch weit entfernt. Und wenn Interoperabilitätserfordernisse im Zuge neuer Rechtsetzungsvorschläge nicht von Anfang an eingeplant und unterstützt werden, bleiben öffentlichen Verwaltungen voraussichtlich auch die Vorteile der Interoperabilität vorenthalten.

3.3

Der Vorschlag für das neue ISA2-Programm (http://ec.europa.eu/isa/isa2/index_en.htm) hebt auf Folgendes ab:

Erfassung und Analyse der gesamten Interoperabilitätslandschaft;

Förderung und Unterstützung von Interoperabilitätslösungen;

Beurteilung und Berücksichtigung der IKT-Implikationen neuer Rechtsakte zur Förderung von Interoperabilität;

Förderung des Austauschs und der Weiterverwendung von Daten über sektorale und nationale Grenzen hinweg, um insbesondere das Zusammenwirken zwischen öffentlichen Verwaltungen in Europa sowie zwischen ihnen, den Bürgern und der Zivilgesellschaft zu unterstützen.

3.4

Das neue ISA2-Programm war Gegenstand ausführlicher Konsultationen. Die Befragten vertraten die Meinung, dass ISA sich weiterhin in erster Linie auf öffentliche Verwaltungen konzentrieren sollte. Sie sprachen sich überwiegend dafür aus, dass ISA zur Vermeidung von Doppelarbeit beitragen und auf die Koordinierung mit anderen EU-Programmen ausgerichtet werden sollte.

3.5

Das vorgeschlagene Programm wurde unter Berücksichtigung der Bewertungen der Vorläuferprogramme ausgearbeitet. Es wird insbesondere darauf abheben, Interoperabilitätslösungen zu entwickeln und sie öffentlichen Verwaltungen zur Verfügung zu stellen.

3.6

Die vorgeschlagene Mittelausstattung für das ISA2-Programm beläuft sich auf 131 Mio. EUR für den Zeitraum 2014-2020.

3.7

Es wird gewarnt, dass ohne ein ISA2-Programm die Unterstützung für Interoperabilität zurückgehen wird, wodurch unterschiedliche Standards und Systeme entstehen und überflüssige Doppelarbeit bei der Entwicklung neuer Lösungen oder Systeme stattfinden wird. In der Folge wird es zu Effizienzverlusten kommen, da die Interaktion zwischen öffentlichen Verwaltungen erschwert wird.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Die fortgesetzte Unterstützung von Interoperabilität einschließlich der erforderlichen Investitionen ist notwendig und begrüßenswert. Im Rahmen der Umsetzung der Digitalen Agenda für Europa benötigt die EU das ISA2-Programm. Die Interessenträger müssen über die Zusammenhänge und Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Programmen aufgeklärt werden, um Missverständnisse zu vermeiden (siehe bspw. die vergleichende Tabelle (nur EN) http://ec.europa.eu/isa/documents/isa_the_difference_between_the_digital_agenda__isa__egov_action_plan_eis_eif_en.pdf, in der die Zusammenhänge zwischen ISA und der Digitalen Agenda für Europa erklärt werden).

4.2

Zumindest aus den Erfahrungen im Vereinigten Königreich wird deutlich, dass die Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltungen nach wie vor auf Unterstützung bei Datenzugang und -weiterverwendung angewiesen sind (siehe [in EN] http://theodi.org/blog/guest-blog-how-make-open-data-more-open-close-gaps). U.a. werden entsprechende fachliche Kompetenzen benötigt. Dazu kann ISA2 beitragen.

4.3

Da immer mehr öffentliche Dienste auf eine „standardmäßig digitale“ Arbeitsweise umsteigen, müssen öffentliche Mittel für IKT-Lösungen umso effizienter eingesetzt werden. Dazu sollte der Mitteleinsatz frühzeitig geplant werden, und soweit möglich sollten Lösungen weitergegeben bzw. wiederverwendet werden, um die öffentlichen Mittel möglichst nutzbringend zu verwenden. ISA2 ist dabei hilfreich.

4.4

Zwar richtet sich das vorgeschlagene Programm vor allem an öffentliche Verwaltungen, doch dürften auch zivilgesellschaftliche Organisationen von Interoperabilitätsmaßnahmen profitieren. In der Zivilgesellschaft bspw. wird immer stärkeres Gewicht auf die „Koproduktion“ gelegt; und die innovativsten Entwicklungen in der Zivilgesellschaft finden u. a. dort statt, wo Koproduktion und Technologielösungen in öffentlichen Dienstleistungsbereichen wie Gesundheits- oder Sozialfürsorge Anwendung finden. Diesen neuen Entwicklungen wird die europäische Interoperabilitäts-Referenzarchitektur (EIRA) zugutekommen.

4.5

Das Vertrauen der Öffentlichkeit in öffentliche Verwaltungen und ihre Fähigkeit, personenbezogene Daten zu verwalten und die Privatsphäre zu achten, gibt Anlass zu Besorgnis. In dem Vorschlag wird öffentliches Vertrauen nicht als Risikofaktor genannt, und es werden auch keine anderen Risiken oder Nachteile für Interoperabilität angesprochen.

5.   Besondere Bemerkungen zu dem vorgeschlagenen Programm

5.1

Der Ausschuss begrüßt, dass bei der Aufstellung von ISA2 die Ansichten der Interessenträger sowie die Erfahrungen aus früheren Programmen berücksichtigt wurden. Erfreulich ist ferner, dass das Programm auf vorhandenen Arbeiten aufbaut und nicht das Rad neu erfunden wird.

5.2

Der Ausschuss befürwortet, dass Interoperabilität gefördert und gleichzeitig praktische Beratung und Unterstützung vorgesehen werden. In Anbetracht der langjährigen umfangreichen IKT-Probleme in der öffentlichen Verwaltung im Vereinigten Königreich ist besonders die geplante Beurteilung der IKT-Implikationen neuer Rechtsvorschriften gutzuheißen.

5.3

Die Wirkung des Vorschlags würde gesteigert, wenn anhand von mehr praktischen Anwendungsbeispielen veranschaulicht würde, warum aus Sicht der Bürger Interoperabilität zwischen den Mitgliedstaaten in der Praxis erforderlich ist. Derzeit könnten Interessenträger den Eindruck gewinnen, dass der Vorschlag nur Mitarbeitern von öffentlichen Verwaltungen zum Vorteil gereicht, die an grenzübergreifender Harmonisierung interessiert sind, und nicht auch Bürgern, die typische öffentliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen. In einer verständlichen Bürgerinfo sollten die Kosten-/Nutzenaspekte aufgeschlüsselt und die beworbenen sozialen Vorteile des Programms begründet werden (die Bürgerinfo 2010 ist (in EN) unter folgendem Link abrufbar: http://ec.europa.eu/isa/documents/isa_20101216_citizens_summary_en.pdf).

5.4

Es wurde bereits erwähnt, dass die Teilnehmer an den Konsultationen zum ISA2-Programm die Meinung vertraten, dass ISA sich weiterhin in erster Linie auf öffentliche Verwaltungen konzentrieren sollte. Der Ausschuss seinerseits vertritt den Standpunkt, dass Interoperabilität auch der Zivilgesellschaft zugutekommt. Möglicherweise waren die zivilgesellschaftlichen Interessenträger nicht ausreichend über die Konsultation informiert, so dass dabei vor allem öffentliche Verwaltungen im Mittelpunkt standen. Vielleicht sollte im Rahmen von ISA2 die Kommunikation mit der Zivilgesellschaft verbessert werden, um einen größtmöglichen Nutzen der für das Programm eingesetzten Mittel zu gewährleisten.

5.5

Dem Vorschlag zufolge sollen im Rahmen von ISA2 Interoperabilitätslösungen entwickelt und erprobt („Inkubator“) werden. Ferner soll ISA2 als „Lösungsbrücke“ deren Tragfähigkeit sicherstellen. Die Auswahl neuer Lösungen und langfristiger Support-Optionen bis zum Erreichen der Tragfähigkeit sollte anhand robuster Prüf- und Bewertungsverfahren vorgenommen werden, auf die die Interessenträger vertrauen können.

5.6

Die „Lösungsinkubator-“ oder „Lösungsbrücke“-Tätigkeiten können Marktverzerrungen bewirken. Die Kommission muss sich ggf. vergewissern, dass diese Tätigkeiten nicht den Markt verzerren und zum Rückgang des kommerziellen Angebots an IKT-Interoperabilitätslösungen führen.

5.7

Wenn Marktverzerrungen realen Anlass zur Sorge geben, sollte der „Lösungsinkubator“ eher darauf abheben, Standards und Funktionsbibliotheken zu entwickeln, anstatt „schlüsselfertige“ Lösungen zu liefern. Dadurch wird der Markt weniger verzerrt, während gleichzeitig trotzdem Standards verbreitet werden können.

5.8

Artikel 13 des Vorschlags zufolge können die im Rahmen des Programms ISA2 erstellten oder betriebenen Interoperabilitätslösungen für Initiativen Dritter zu nichtgewerblichen Zwecken genutzt werden. Die Beschränkung auf nichtgewerbliche Zwecke könnte die Wirkung von ISA2 beeinträchtigen: Wenn zivilgesellschaftliche Organisationen die ISA2-Arbeiten nicht kommerziell nutzen können, schwindet auch ihr Interesse an dem Programm.

5.9

Die öffentliche Stimmung gegenüber den digitalen Fähigkeiten der Staaten könnte den Erfolg der Interoperabilitätsvorschläge gefährden. Mit zunehmendem Wissen über das Ausmaß, die Struktur und die Macht des „Überwachungsstaats“ wächst das Bürgerinteresse an den erforderlichen Schutzmaßnahmen (siehe [in EN] https://www.privacyinternational.org/blog/defining-the-surveillance-state). Die Bürger sind immer mehr über die Wahrung des Rechts auf Schutz ihrer Privatsphäre und die ethischen Auswirkungen vernetzter, geteilter Daten besorgt, und dennoch wird in diesem Vorschlag so gut wie gar nicht auf die öffentliche Akzeptanz von vernetzten Daten oder Interoperabilität eingegangen. Auch der Europäische Datenschutzbeauftragte hat Bedenken gegen die Verarbeitung personenbezogener Daten in mehr als einem europäischen Staat, was durch Interoperabilität erleichtert würde. Der Ausschuss verweist ferner auf eine frühere Stellungnahme zur Datenschutz-Grundverordnung und betont die Notwendigkeit wirksamerer Schutzvorkehrungen für die Bürger im Umgang mit ihren persönlichen Daten (2) (siehe Schreiben des Europäischen Datenschutzbeauftragten zu der vorgeschlagenen Datenschutz-Grundverordnung (in EN):

https://secure.edps.europa.eu/EDPSWEB/webdav/site/mySite/shared/Documents/Consultation/Comments/2014/14-02-14_letter_Council_reform_package_EN.pdf).

5.10

Die Wirksamkeit des Vorschlags würde verstärkt, wenn diesen Anliegen Rechnung getragen würde. Durch eine deutliche Bezugnahme auf die Zusammenarbeit mit Organisationen der Zivilgesellschaft und Universitäten im Hinblick auf die Berücksichtigung der Anliegen der Öffentlichkeit und die Verfestigung der ethischen Sicherheitsvorkehrungen, die zunehmend wichtig für die Reputation der öffentlichen Verwaltungen und das in sie gesetzte Vertrauen der Öffentlichkeit sind, würde der Programmansatz zudem auf ein stärkeres Fundament gestellt.

5.11

Abschließend noch eine besondere Bemerkung technischer Art. Der Universalzeichensatz (UCS = Universal Character Set) ist wesentliche Voraussetzung dafür, dass die verschiedenen Schriftsprachen mit der Anforderung der Mehrsprachigkeit vereinbart werden können. Im Herbst 2006 setzte EU-Bildungskommissar Ján Figel die Hochrangige Gruppe „Mehrsprachigkeit“ ein, die am Europäischen Tag der Sprachen 2007 ihren Abschlussbericht vorlegte (siehe http://www.lt-innovate.eu/resources/document/ec-high-level-group-multilingualism-final-report-2007 (nur EN)). Sie sprach darin folgende Empfehlung aus: (...) die Datenbanken für die interne Dokumentenverwaltung, die Schnittstellen für Softwareanwendungen und Hardware sind auf das Unicode-Format ausgerichtet, das die digitale Codierung der Alphabete aller Sprachen ermöglicht. Die Gruppe appelliert an alle Behörden in den Mitgliedstaaten und an alle Webmail-Anbieter, die dies noch nicht getan haben, die Umstellung auf Unicode zu vollziehen, um der Diskriminierung von EU-Bürgern aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit oder Sprache ein Ende zu bereiten. Aus Gründen besserer Handhabbarkeit sollte eine UCS-Untermenge — die lateinische Schrift oder die lateinische, griechische und kyrillische Schrift — aus den über 90  000 im Unicode-Satz enthaltenen Zeichen ausgewählt werden.

5.12

Um der Anforderung der Mehrsprachigkeit gerecht zu werden, muss jede IT-Lösung mit dem Universalzeichensatz (UCS) (Unicode, ISO/IEC 10646) kompatibel sein, wie es auch die Hochrangige Gruppe „Mehrsprachigkeit“ in ihrem Abschlussbericht (2007) forderte. Für derzeit oder möglicherweise künftig gesetzlich vorgeschriebene Interoperabilität auf europäischer Ebene sollte deshalb im Interesse einer besseren Handhabbarkeit eine Untermenge des UCS festgelegt werden.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 90.

(2)  ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 90.


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/105


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bestandsaufnahme der Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum

(COM(2014) 130 final)

(2015/C 012/17)

Berichterstatter:

Stefano PALMIERI

Die Europäische Kommission beschloss am 16. Mai 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bestandsaufnahme der Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum

COM(2014) 130 final.

Der mit den Vorarbeiten beauftragte Unterausschuss „Bestandsaufnahme der Strategie Europa 2020“ nahm seine Stellungnahme am 5. September 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 168 gegen 7 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Die Europäische Kommission hat vier Jahre nach dem Start der Strategie Europa 2020 (im Folgenden: die Strategie) die Mitteilung „Bestandsaufnahme der Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ vorgelegt und eine öffentliche Konsultation (1) zur Halbzeitbewertung eingeleitet.

1.2

Die vorliegende Stellungnahme, mit der der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) offiziell auf die Befassung durch die Europäische Kommission reagiert, ist zugleich Teil seiner integrierten Bewertung gemäß dem Ersuchen des italienischen EU-Ratsvorsitzes um eine Sondierungsstellungnahme zu der bevorstehenden Halbzeitbewertung der Strategie.

1.3

Der EWSA erarbeitet derzeit eine umfassende Halbzeitbewertung der Europa-2020-Strategie, die aus folgenden Dokumenten bestehen wird:

einem Projektbericht zur Vertiefung der konzeptionellen und praktischen Aspekte der Governance der Strategie;

der vorliegenden Stellungnahme SC/039;

den Beiträgen der Fachgruppen, der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel (CCMI), der Beobachtungsstellen und der Kontaktgruppe mit den europäischen Organisationen und Netzen der Zivilgesellschaft;

den Beiträgen der nationalen Wirtschafts- und Sozialräten und vergleichbaren Einrichtungen;

den Schlussfolgerungen und Empfehlungen der vom Lenkungsausschuss der Europa-2020-Strategie in Auftrag gegebenen und von A. Bellagamba erarbeiteten Studie: „Priorities, challenges and prospects for civil society: involvement in the Europe 2020 strategy beyond 2015 — Case study of four Member States (BE-FR-IT-NL)“.

1.4

Das Paket, das die Halbzeitbewertung des EWSA bildet, wird auf der hochrangigen Konferenz zum Thema „Eine wirksamere Europa-2020-Strategie — Vorschläge der Zivilgesellschaft für die Förderung der sozialen Inklusion und die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit in Europa“ vorgelegt, die am 4./5. Dezember 2014 im Rahmen der Aktivitäten des EU-Ratsvorsitzes in Rom stattfindet.

1.5

In Abschnitt 4 wurden „Die Empfehlungen des EWSA zur Gewährleistung einer echten Reform der Strategie Europa 2020“ eingefügt, um die von den verschiedenen internen Gremien des EWSA erarbeiteten und in den Sitzungen der Arbeitsgruppen erörterten Reformvorschläge (2) für die Strategie umfassend widerzugeben.

2.   Die ersten vier Jahre der Strategie Europa 2020: von den Auswirkungen der Krise zu den langfristigen Entwicklungen

2.1

Der Entstehung der Strategie liegt die begrüßenswerte Absicht zugrunde, die Ankurbelung von Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung in der EU zu gewährleisten. Dabei sollten die strukturellen Probleme gelöst und gleichzeitig der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt für die Unionsbürger sichergestellt werden. In diesem bereits heiklen Kontext ereignete sich eine der gravierendsten und längsten Krisen der vergangenen 80 Jahre, was wiederum auf die Entwicklung der Strategie zurückschlägt.

2.1.1

Die bereits ausgeprägten wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede in der EU wurden durch die Krise noch verschärft und es wurden Ungleichheiten in puncto Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Zusammenhalt deutlich. Die Polarisierungstendenz bei Wachstum und Entwicklung wurde durch die Krise beschleunigt — mit eindeutigen Auswirkungen bezüglich einer fairen Verteilung von Einkommen, Reichtum und Wohlstand, sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch innerhalb dieser zwischen den europäischen Regionen (3).

2.2

Bezüglich der Entwicklung und der Folgen der Krise geht aus der Kommissionsmitteilung und dem Anhang (4) deutlich hervor, dass die Umsetzung der Strategie durch die Krise in puncto Wettbewerbsfähigkeit, Angemessenheit und Legitimation ihres Governance-Modells und der entsprechenden Ziele negativ beeinflusst wurde.

2.3

In der stark auf Sparpolitik ausgerichteten Architektur der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU wurde das Erreichen der mittel- bis langfristigen Europa-2020-Ziele der Haushaltsdisziplin untergeordnet.

2.3.1

Einerseits hält es der EWSA für sinnvoll, in bestimmten Mitgliedstaaten mit verstärkten Maßnahmen zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen zu intervenieren. Andererseits zeigt sich, dass Sparmaßnahmen zwar in einer Aufschwungsphase die gewünschten Ergebnisse zeitigen können. Werden sie sich jedoch in einer Stagnations- oder sogar Rezessionsphase, wie sie die meisten Mitgliedstaaten gegenwärtig durchlaufen, wahllos durchgeführt, wirken sie sich negativ auf das Wachstum aus. Das wird dadurch belegt, dass in vielen Mitgliedstaaten diese Maßnahmen nicht zu den gewünschten Ergebnissen in Bezug auf die Wiederherstellung des Haushaltsgleichgewichts (5) geführt haben, sondern den Wirtschaftsaufschwung gebremst oder sogar verzögert und die bereits besorgniserregenden sozialen Auflösungserscheinungen verschärft haben.

2.4

Das Krisenmanagement im Rahmen der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU hat sich auf das Erreichen der mittel- und langfristigen Ziele der Strategie negativ ausgewirkt. Dies hat in einigen Mitgliedstaaten zu Schwierigkeiten geführt, die sich mitunter zu strukturellen Hindernissen und Einschränkungen der wirtschaftlichen Entwicklung und des sozialen Zusammenhalts in der Union entwickelt haben.

2.5

Heute sind zwar ermutigende Ergebnisse in den Bereichen a) Bekämpfung des Klimawandels und nachhaltige Energie und b) Bildung und Bekämpfung des Schulabbruchs zu verzeichnen. Stark beunruhigend ist hingegen die Entwicklung in Bezug auf die Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE), den Arbeitsmarkt sowie die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung.

2.5.1

Was die Ausgaben für Forschung und Innovation (FuI) betrifft, scheint sich die Kluft zwischen den Mitgliedstaaten durch die Krise noch vergrößert zu haben. Die Mitgliedstaaten, die einem starken Druck zur Haushaltskonsolidierung ausgesetzt sind (häufig sind das auch die Mitgliedstaaten, die bei der Innovation hinterherhinken), haben spürbare Einschnitte in ihren Ausgaben für FuI (6) vorgenommen. Die Ausgaben für FuE bleiben in der EU immer noch um fast einen Prozentpunkt hinter dem Ziel von 3 % zurück und liegen in der Prognose für 2020 bei ca. 2,2 %. Dies wird beeinflusst durch das geringe private Investitionsniveau und durch die wenig ehrgeizigen Ziele der Mitgliedstaaten.

2.5.2

Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist angesichts einer in denen letzten Jahren stagnierenden Beschäftigungsquote — die hinter dem Europa-2020-Ziel zurückbleibt (und die 2013 für die männliche Beschäftigung 74,2 % und für die weibliche Beschäftigung 62,5 % betrug) — besonders beunruhigend bei:

26,2 Mio. Arbeitslosen;

9,3 Mio. nicht in der Statistik erfassten Arbeitslosen, die gerne arbeiten möchten, die Arbeitssuche aber eingestellt haben;

12 Mio. Arbeitslosen, die über ein Jahr ohne Arbeit sind;

6 Mio. Arbeitsplätzen, die seit 2008 (erstes Krisenjahr) in der EU verloren gegangen sind (mit allen Begleiterscheinungen bezüglich Verlust von beruflichen Kenntnissen und Kompetenzen);

5,5 Mio. arbeitslosen jungen Menschen (unter 25 Jahren).

Diese bereits schon besonders beunruhigende Lage verschärft sich noch in einigen Mitgliedstaaten in Bezug auf Jugendarbeitslosigkeit, ältere Arbeitslose und weibliche Arbeitskräfte.

2.5.3

Die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen ist von 114 Mio. 2009 auf 124 Mio. im Jahr 2012 gestiegen. Diese Entwicklung könnte sich aufgrund der Spätwirkungen der Krise noch verschärfen. Das EU-Ziel, die Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen bis 2020 auf 96,4 Mio. zu senken, dürfte kaum zu erreichen sein, da diese Zielmarke bereits 2012 um 28 Mio. überschritten wurde.

2.5.4

Noch beunruhigender sind die Zahlen bezüglich der unter materieller Unterversorgung leidenden Menschen sowie der Anteil von Menschen im arbeitsfähigen Alter, die in einem Haushalt ohne Erwerbsbeteiligung leben.

2.5.5

Durch die Krise wurden die bereits großen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und das erhebliche Gefälle in puncto Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Zusammenhalt noch verschärft. Diese Ungleichheiten verdeutlichen, dass unbedingt Reformvorschläge vorgelegt werden müssen, um dort, wo die Probleme am größten sind, die Wirksamkeit der Eingriffe zu verbessern.

2.5.6

Alle diese Zahlen machen sehr deutlich, wie wichtig es ist, vor allem die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern und die nötigen Voraussetzungen zu schaffen, damit Unternehmen — insbesondere KMU — bestehende Arbeitsplätze erhalten und neue schaffen können.

3.   Untersuchung der Kernpunkte der Strategie Europa 2020: Governance, Ziele, Teilhabe und Umsetzung

3.1

Die Analyse der bislang erzielten Ergebnisse zeigt, dass die Strategie für das Erreichen der festgelegten Ziele bei Weitem nicht ausreicht. Es sollte eine Reform der Strategie eingeleitet werden, damit sie wirksamer und effizienter wird — und um die Gefahr eines Scheiterns wie bei der Lissabon-Strategie zu bannen. Mehrere Ziele sollten gebündelt angegangen werden, um ihre Kohärenz und Umsetzung zu gewährleisten.

3.2

Die Hauptkritikpunkte an der Strategie beziehen sich auf die Governance, die Ziele, die mangelnde Einbeziehung der Zivilgesellschaft und ihre Umsetzung.

3.3

Die Governance-Struktur der Strategie ist schwach und sie ist wenig effizient dabei, die Mitgliedstaaten auf das Einhalten ihrer Verpflichtungen bezüglich der in der Strategie vereinbarten Ziele (und Leitinitiativen) festzulegen.

3.3.1

In der Steuerungsstruktur der Strategie wurde eine strukturelle Verzerrung institutionalisiert: das Primat der wirtschaftlichen über die sozial- und umweltpolitische Steuerung. Die Europa-2020-Ziele wurden den makroökonomischen Prioritäten des Europäischen Semesters untergeordnet. Dadurch wird das Erreichen der Ziele in puncto Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Zusammenhalt sowie nachhaltiger Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen in der EU konterkariert.

3.3.2

Beim Europäischen Semester, das mit dem Jahreswachstumsbericht (JWB) beginnt und mit den länderspezifischen Empfehlungen endet, wurden häufig Prioritäten festgelegt, die das Erreichen der Europa-2020-Ziele nicht wirksam unterstützen. Dazu kommt, dass die länderspezifischen Empfehlungen von den Mitgliedstaaten bei der Festlegung ihrer jährlichen nationalen Strategien (nationale Reformprogramme) und den entsprechenden Entscheidungen in puncto Haushalt, Strukturreformen sowie arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen (7) nicht eingehalten werden.

3.4

Nicht nur sind die Ziele und die entsprechenden vorgeschlagenen Indikatoren der Strategie nicht bindend, es gab auch kein Verfahren zur umfassenden Einbeziehung der Unionsbürger bei der Erarbeitung der Strategie. Abgesehen von den rechtlich bindenden Emissionszielen und Zielvorgaben für den Anteil erneuerbarer Energien konnte bislang jedes Land seine eigenen Ziele festlegen, was häufig zu bescheidenen Ergebnissen führte.

3.4.1

Die quantitative Messung der Ziele wird nicht durch eine qualitative Bewertung ergänzt: Ob ein sozioökonomisches System „intelligent“ ist, darf nicht nur anhand quantitativer Angaben wie z. B. der Forschungsausgaben oder der Zahl der neuen Arbeitsplätze gemessen werden. Vielmehr müssen auch qualitative Indikatoren wie z. B. Typologien marktgängiger Innovationen und die Qualität der neu entstandenen Arbeitsplätze berücksichtigt werden.

3.5

Die organisierte Zivilgesellschaft wird bei der Strategie weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene angemessen eingebunden. Dies ist zurückzuführen auf:

die geringen Aktivitäten im Bereich Kommunikation und Verbreitung bezüglich der Strategie, weshalb dieses Instrument vorwiegend in Fachkreisen bekannt ist und auch nur diese daran beteiligt werden;

die Zurückhaltung einiger Mitgliedstaaten bezüglich der Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft bei der Maßnahmenplanung für die Strategie;

das Fehlen einer echten Verbindung zwischen den Aktionen der Zivilgesellschaft auf europäischer und auf nationaler und lokaler Ebene;

die Tatsache, dass sich die zur Bekämpfung der Krise ergriffenen Maßnahmen (einschließlich des Zeitplans des Europäischen Semesters) mit den Initiativen der Strategie überschneiden, wodurch es den Sozialpartnern und den Organisationen der Zivilgesellschaft erschwert wird, den Entwicklungsprozess der Strategie zu verstehen und sich daran zu beteiligen;

die in unzureichendem Maße zur Verfügung stehenden Mittel, die keine wirksame Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Strategie ermöglichen;

eine ungenügende Einbindung der Sozialpartner in den Konsultationsprozess im Rahmen des Europäischen Semesters in einigen Ländern.

3.6

Trotz der auf Ebene des Europäischen Rates vereinbarten Verfahren, der zahlreichen Kooperationsprogramme innerhalb der EU und des Bewusstseins, dass die Herausforderungen und Ziele der Strategie durch einzelstaatliches Handeln allein nicht wirksam angegangen werden können, leidet die Umsetzung der Strategie unter mangelnder effektiver Zusammenarbeit und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.

3.7

Die Leitinitiativen hätten entscheidend zur Koordinierung der europäischen und der einzelstaatlichen Maßnahmen beitragen können, um die Europa-2020-Ziele zu erreichen und Wirtschaftswachstum und Beschäftigung wiederanzukurbeln mittels eines effizienteren Einsatzes der „Entwicklungshebel“ und der Möglichkeiten, die die Strukturfonds (8), die Europäische territoriale Zusammenarbeit (9) und die direkt verwalteten Programme bieten. Die Leitinitiativen sollten leichter handhabbar und verständlicher sein, mehr Interaktion bieten und sich nicht überschneiden.

DIE SCHLUSSFOLGERUNGEN UND EMPFEHLUNGEN DES EWSA ZUR GEWÄHRLEISTUNG EINER ECHTEN REFORM DER STRATEGIE EUROPA 2020

4.   Für einen neuen konzeptionellen Rahmen der Strategie Europa 2020

4.1

Die EU muss eine doppelte Herausforderung bewältigen: Zum einen muss sie so schnell wie möglich aus der Krise herauskommen, deren Auswirkungen das wirtschaftliche und soziale System Europas schwer getroffen haben. Zum anderen muss sie das mit der Strategie vorgeschlagene Modell für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum stärken, um die strukturellen Probleme der geringen europäischen Wettbewerbsfähigkeit bekämpfen zu können.

4.1.1

Diesbezüglich ist der EWSA der Auffassung, dass unbeschadet des weiteren Verfolgens der Strukturreformen zur Sanierung der nationalen Haushalte und zur Wiederherstellung des Vertrauens in die staatlichen Finanzen ein Entwicklungsmodell gefördert werden muss, mit dem die Mitgliedstaaten und die EU zugleich folgende Maßnahmen durchführen können: Förderung der Wettbewerbsfähigkeit Europas und der maßgeblichen Akteure (Arbeitnehmer und Unternehmen der Privat- und der Sozialwirtschaft); Förderung der quantitativen und qualitativen Steigerung der (materiellen, immateriellen und sozialen) Investitionen in Europa; Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen; Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts und Bewältigung der Probleme im Zusammenhang mit der hohen Arbeitslosigkeit und der Verschärfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung (10).

4.1.2

In diesem Kontext gilt es: die Wirtschafts- und Währungsunion zu einem Faktor für Stabilität und für ein robusteres und widerstandsfähigeres Wachstum werden zu lassen; die Attraktivität der gesamten EU als Produktions- und Investitionsstandort zu steigern; das Potenzial des Binnenmarkts in allen Bereichen auszuschöpfen; zu investieren und die europäische Wirtschaft auf die Zukunft vorzubereiten; ein unternehmer- und beschäftigungsfreundliches Umfeld zu fördern; die ökologische Nachhaltigkeit zu unterstützen und die sozialen Sicherungssysteme zu stärken, um den Wandel und die sozialen Probleme bewältigen zu können.

4.2

Für den EWSA ist der einschneidende Reformvorschlag für die Umsetzung der Strategie verbunden mit dem notwendigen grundlegenden Überdenken der vor vier Jahren festgelegten Schlüsselbegriffe und Kernpunkte der Strategie. Dies betrifft den der Strategie zugrundeliegenden Entwicklungsbegriff; die Bestimmung der Ziele und der Maßnahmen zu ihrer Umsetzung und die entsprechende Überwachung und Bewertung; die Definition einer effizienten und wirksamen Governance auf mehreren Ebenen sowie die verstärkte Teilhabe der Bürger und der zivilgesellschaftlichen Organisationen.

4.3

Damit die durch die Reform der Strategie ausgelöste Entwicklung auch tatsächlich nachhaltig ist, müssen unbedingt der holistische Ansatz ausgebaut und die wirtschaftlichen mit sozialen und ökologischen Zielen ergänzt werden. Es muss ein Ansatz gewählt werden, mit dem sich alle Ressourcen zeitlich und räumlich exakt nutzen lassen. Dabei muss die Gewährleistung der aktuellen Bedürfnisse sichergestellt werden, ohne jene der künftigen Generation zu gefährden.

4.3.1

Von grundlegender Bedeutung wird es sein, den Begriff der nachhaltigen Entwicklung und die entsprechenden Europa-2020-Ziele nach Maßgabe von Artikel 3 Absatz 1, 2 und 3 des Vertrags über die Europäische Union (11) miteinander zu verbinden. Dem Vertrag zufolge fördert die Union den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt mittels einer stärkeren Zusammenarbeit und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten und mittels einer nachhaltigen Entwicklung auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die stärker auf das Wohl der Bürger achtet und auf Wettbewerbsfähigkeit und Vollbeschäftigung ausgerichtet ist.

4.3.2

Die Europa-2020-Strategie muss außerdem die Rolle der EU im globalen Zusammenhang widerspiegeln. Die Reform der Europa-2020-Strategie muss eng bei der Post-2015-Nachhaltigkeitsagenda der UN (12) anknüpfen und die Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele in der und durch die EU schaffen.

4.3.3

Zur Einleitung des langfristigen Übergangsprozesses zu einer widerstands- und wettbewerbsfähigen, ressourceneffizienten und inklusiven europäischen Wirtschaft muss die EU bei ihrem Planungshorizont über 2020 hinausgehen. Daher sollte die Reform der Europa2020-Strategie dringend um die Einleitung eines partizipativen Prozesses ergänzt werden, der zu einer mindestens für die Zeit bis 2030 angelegten integrierten politischen Strategie für ein nachhaltiges Europa in einer globalisierten Welt führt.

4.4

Im Einklang mit einem ganzheitlichen Ansatz für den Begriff der nachhaltigen Entwicklung muss die qualitative Dimension der Strategieziele mehr Bedeutung bekommen. Wachsen bedeutet natürliches Größenwachstum und somit eine quantitative Zunahme. Entwicklung hingegen bezieht sich auf den Ausbau der jeweiligen Qualitäten und Potenziale. Der qualitative Aspekt von Entwicklung wird mittels Verwirklichung und Erweiterung der Besonderheiten und Potenziale eines sozioökonomischen Systems genutzt.

4.4.1

Die Europa-2020-Ziele müssen im Rahmen einer neuen Architektur für die wirtschafts-, sozial- und umweltpolitische Steuerung gleichberechtigt integriert werden und dürfen nicht den wirtschafts- und haushaltspolitischen Zielsetzungen untergeordnet werden. Dies betrifft insbesondere das Europäische Semester und folglich den Jahreswachstumsbericht, die nationalen Reformprogramme und die länderspezifischen Empfehlungen.

4.4.2

Der EWSA bekräftigt, dass unbedingt ein Messsystem zur Ergänzung des BIP gefunden werden muss, mit dem sich die Auswirkungen der ergriffenen Maßnahmen auf die Gesellschaft, die Haushalte und die Einzelpersonen messen lassen (13). In diesem Zusammenhang ist es notwendig, den sozialen Fortschrittsanzeiger umzusetzen und seine tatsächliche Anwendung im Rahmen des Europäischen Semesters sicherzustellen (14).

4.4.3

In diesem Zusammenhang muss unbedingt ein Überwachungssystem entwickelt werden, das auf Indikatoren zur Berücksichtigung des verfügbaren Einkommens privater Haushalte, der Lebensqualität, der ökologischen Nachhaltigkeit, des sozialen Zusammenhalts, der Gesundheit und des allgemeinen Wohlstands der jetzigen und künftigen Generationen beruht. Der EWSA hält es für zweckmäßig, für die Realisierung und Verwaltung des neuen Überwachungssystems eine neue Struktur unter Teilhabe der zuständigen Institutionen einzurichten.

4.5

Die Strategie wird nur dann Erfolg haben, wenn sie über eine strukturierte Governance auf mehreren Ebenen verfügt, um die sich abzeichnenden vielgestaltigen Herausforderungen annehmen zu können, und wenn sich die auf europäischer Ebene vereinbarten allgemeinen Leitlinien in nationalen und regionalen Maßnahmen konkretisieren.

4.5.1

In diesem Kontext muss die wirtschaftspolitische Steuerung der EU im Allgemeinen und der WWU im Besonderen gestärkt und mit der Strategie Europa 2020 verbunden werden. So kann die Durchführung der Strukturreformen mittels eines wirksamen Prozesses der Mitwirkung und der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten sichergestellt werden. Daher ist es sinnvoll, ein echtes Zusammenwirken der vom Europäischen Rat, dem Rat (Wettbewerbsfähigkeit), der Kommission und dem Europäischen Parlament wahrgenommenen Funktionen der Leitung, der Mitwirkung und der Überwachung zu realisieren.

4.5.2

Die Mitgliedstaaten müssen bei der Festlegung ihrer jährlichen nationalen Strategien (nationale Reformprogramme) und den entsprechenden Entscheidungen in puncto Haushalt, Strukturreformen sowie arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen den vom Europäischen Rat erarbeiteten länderspezifischen Empfehlungen gebührend Rechnung tragen.

4.6

Die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft in den verschiedenen Phasen der Planung und Durchführung europäischer Maßnahmen muss gestärkt werden. Das Erreichen der Europa-2020-Ziele muss durch die Stärkung der Rolle und der Einbeziehung der Zivilgesellschaft beim Jährlichen Wachstumsbericht, bei der Festlegung der nationalen Reformprogramme sowie bei den länderspezifischen Empfehlungen erleichtert werden. Dies sollte mittels eines wirksameren und zeitgerechteren Fahrplans für das Europäische Semester ermöglicht werden, damit die organisierte Zivilgesellschaft zeitnahe Bewertungen vornehmen kann — wenn noch wirksame Beiträge zum Entscheidungsprozess möglich sind. Dies muss auf den drei Ebenen — der europäischen, nationalen und regionalen — der Governance der Strategie gewährleistet sein.

5.   Sektorübergreifende und sektorale Maßnahmen zur Unterstützung der Strategie Europa 2020

5.1

Damit die Strategie zu einem Hebel für Wettbewerbsfähigkeit und Zusammenhalt im Sinne des nachhaltigen, solidarischen und inklusiven Wirtschaftswachstums in Europa in den nächsten fünf Jahren wird, muss nach Auffassung des EWSA eine integrierte Strategie umgesetzt werden, die aus sektorübergreifenden (oder horizontalen) und aus sektoralen (oder vertikalen) Maßnahmen besteht.

5.1.1

Die sektorübergreifenden bzw. horizontalen Maßnahmen müssen das Ziel verfolgen, den Boden zu bereiten für die Aufwertung der maßgeblichen Akteure der Wiederankurbelung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit: die Arbeitnehmer und die Unternehmen der Privat- und der Sozialwirtschaft .

5.1.2

Die sektoralen oder vertikalen Maßnahmen müssen die Säulen darstellen, die eine wirksame Wiederbelebung der Strategie ermöglichen: eine neue Industriepolitik ; die Vergemeinschaftung der Energiepolitik ; die Stärkung von Forschung und Innovation sowie die Förderung der maßgeblichen Faktoren für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Systems Europa im Zusammenhang mit den sozialen Sicherungssystemen sowie der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung  (15).

5.2

Die Referenzakteure der sektorübergreifenden Maßnahmen der neuen Strategie müssen die Arbeitnehmer , die Privatunternehmen  (16) und die Unternehmen der Sozialwirtschaft  (17) sein.

5.2.1

Bezüglich der Sozialpartner muss die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze als Instrument zur Bekämpfung der zunehmenden Segmentierung des Arbeitsmarkts sowie der Arbeitslosigkeit für die Strategie höchste Priorität besitzen.

5.2.1.1

Die Systeme für Ausbildung, Umschulung und berufliche Weiterbildung müssen an die Bedürfnisse und Entwicklungen des Arbeitsmarktes angepasst werden.

5.2.1.2

Unternehmerische Bildung und die Entwicklung neuer Ansätze und Systeme des Lernens müssen gefördert werden, um die Humanressourcen aufzuwerten und den Menschen die geeigneten Kompetenzen zu vermitteln.

5.2.1.3

Ebenso muss die Rolle der öffentlichen Arbeitsvermittlungen bei der Orientierung sowie der Eingliederung und Wiedereingliederung der Menschen in den Arbeitsmarkt aufgewertet und unterstützt werden.

5.2.1.4

Politischen Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung insbesondere junger Menschen, älterer Arbeitsloser, von Frauen, und von Menschen mit Behinderungen muss unbedingt mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Wichtig ist auch eine stärkere Berücksichtigung der Beschäftigungsprobleme derjenigen, die außerhalb des Arbeitsmarkts stehen (Obdachlose bzw. Menschen ohne festen Wohnsitz, Roma usw.) und deshalb nicht in den offiziellen Statistiken erscheinen.

5.2.1.5

Es wäre wünschenswert, im Rahmen der Strategie Europa 2020 ein neues Ziel zu definieren: Senkung der Jugendarbeitslosigkeit um 50 % bis 2020.

5.2.2

Was die Unternehmen — und insbesondere KMU — anbelangt, muss eine moderne Unternehmenskultur gefördert werden, die auf den im „Small Business Act“ (18) und im „Aktionsplan Unternehmertum 2020“ (19) festgelegten Prioritäten basiert und den Unternehmen dabei hilft, die durch den Zugang zu EU-Finanzmitteln und die technische Innovation eröffneten Chancen als Entwicklungshebel zur Unterstützung von Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung einzusetzen.

5.2.2.1

In diesem Zusammenhang müssen auch die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden, damit die wirtschaftlichen Akteure auf einem Markt konkurrieren können, auf dem die Verzerrungen durch zu hohen bürokratischen Aufwand sowie durch unlautere und vorschriftswidrige Methoden und Praktiken beseitigt wurden.

5.2.2.2

Außerdem muss die Möglichkeit spezieller Unterstützungsmöglichkeiten für die spezifischen Erfordernisse von KMU (20) in puncto Unternehmensgründung, Internationalisierung; Kapitalmarktzugang; Forschung, Entwicklung und Innovation geprüft werden.

5.2.3

Die sozialwirtschaftlichen Unternehmen spielen für das europäische Sozialmodell eine Schlüsselrolle, da sie — vor allem auf der lokalen und regionalen Ebene — Motoren sozialer Innovation und Impulsgeber für mehr Beschäftigung, nachhaltiges Wachstum und Zusammenhalt sind. Sie führen neue, flexible Verfahren der Dienstleistungserbringung und Produkt-, Verfahrens- und Organisationsinnovationen ein.

5.3

Die effektive Neubelebung der Strategie wird von der Stärkung der im Folgenden aufgeführten sektorbezogenen Maßnahmen abhängen.

5.3.1

Durch die Neubelebung der europäischen Industriepolitik kann die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Produktionssystems verbessert werden. Das System der EU muss wieder wettbewerbsfähig werden, weshalb sie eine echte Industriepolitik betreiben muss. Das verarbeitende Gewerbe muss wieder 20 % des BIP ausmachen (2012 waren es 15,3 %).

5.3.1.1

Notwendig ist eine Industriepolitik, die folgenden Aspekten förderlich ist:

strategische Integration der Wertschöpfungskette in den verschiedenen Sektoren — verarbeitendes Gewerbe, Agrarindustrie, Dienstleistungen;

Stärkung der High- und Medium-High-Tech-Branchen sowie der wissensintensiven Dienstleistungen;

Entwicklung eines europäischen Marktes, durch den ein fairer Wettbewerb für mittlere Qualifikationen gewährleistet und die Mobilität mittel- und hochqualifizierter Arbeitnehmer und Freiberufler sowie die Dienstleistungen gefördert werden können;

hochspezialisierte funktionale Vernetzung zwischen dem öffentlichen Sektor und den Erbringern wissensintensiver Dienstleistungen zwecks Verbesserung und Aufwertung der Produktivität des öffentlichen Sektors;

Nutzung der durch die grüne Wirtschaft bedingten Entwicklungsmöglichkeiten und Unterstützung des ökologischen Wandels der EU hin zu einem Produktions- und Konsummodell, das mit dem Grundsatz des nachhaltigen Wachstums vereinbar ist (durch die Verknüpfung mit der Agenda für die Zeit nach 2015 und den Zielen für eine nachhaltige Entwicklung) (21);

Erschließung des strategisch wichtigen Sektors der „blauen Wirtschaft“ durch Innovation, um die Entwicklungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit den wichtigsten Wertschöpfungsketten (Blue industry; Blue logistic; Blue tourism; Blue food; Blue energy; Blue resources) zum wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Vorteil der europäischen Unternehmen und Bürger zu nutzen.

5.3.2

Es ist von grundlegender Bedeutung, eine gemeinsame Energiepolitik in der EU voranzubringen . Angesichts der weitreichenden wirtschaftlichen Implikationen der Energiefrage ist eine ernstzunehmende Industriepolitik nicht möglich ohne gemeinsame Grundsätze, als da wären:

die Anpassung und Verringerung der Unterschiede bei den Energiepreisen;

die Verbesserung der Bedingungen für den innergemeinschaftlichen Energiehandel;

die Verringerung der Energieabhängigkeit von Drittstaaten;

die Erschließung erneuerbarer Energiequellen.

5.3.3

Die Entwicklung der Forschungs- und Innovationspolitik (FuI), die verstärkte Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) wie auch die Digitalisierung der Wirtschaft sind Bereiche, in denen erhebliches Potenzial für die Wiederankurbelung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit besteht. Hier sind neue effektive und effiziente Formen der Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor möglich.

5.3.3.1

Diesbezüglich hält es der EWSA für zweckmäßig:

schlanke und dynamische staatliche Einrichtungen zu fördern, um die mittel- und langfristigen Finanzierungsmöglichkeiten zu verbessern und die notwendige Verbindung zwischen Wissenschaft und Unternehmen zu gewährleisten;

für die verstärkte Nutzung von IKT zwecks Dynamisierung der wirtschaftlichen Akteure zu sorgen (da IKT nutzende KMU schneller wachsen);

die finanzielle Unterstützung für Forschung, Entwicklung und Innovation zu intensivieren und in den KMU generell auf die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen hinarbeiten;

die Digitalisierung der Wirtschaft zu fördern, da sie eine ausgezeichnete Gelegenheit bietet, das private mit dem kollektiven Interesse zu verbinden, und es den Unternehmern ermöglicht, die Möglichkeiten des Marktes voll und ganz auszuschöpfen; gleichzeitig werden den Bürgern neue Produkte und elektronische Behördendienste zugänglich gemacht.

5.3.4

Nach Auffassung des EWSA müssen die Faktoren zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas im Zusammenhang mit den Sozialsystemen gefördert werden. Eine wirksame Sozialpolitik ist für die Wiederankurbelung der Wettbewerbsfähigkeit der EU möglicherweise extrem wichtig, da sie ein Umfeld schafft, in dem für den Einzelnen (d. h. den Bürger) untragbare Risiken mittels spezifischer sozialpolitischer Maßnahmen neutralisiert werden können. Das Engagement für den Schutz von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz muss verstärkt werden. Der EWSA hält es für grundlegend, die Inklusion von Menschen mit Behinderungen (22) sowie die Geschlechterdimension (23) stärker zu unterstützen und Diskriminierung und Ausgrenzung aus Gründen der Rasse, der ethnischen Herkunft, des Alters, der Religion oder der sexuellen Ausrichtung zu verhindern.

5.3.4.1

Angesichts der Prognosen über die Bevölkerungsalterung (24) in Europa ist es von grundlegender Bedeutung, dass die in puncto demografischer Wandel eingegangenen Verpflichtungen eingehalten bzw. nach Möglichkeit verstärkt werden. Damit die positiven Aspekte des demografischen Wandels sowohl für ältere Menschen als auch für die Gesellschaft insgesamt zum Tragen kommen, müssen die Menschen unbedingt die Möglichkeit haben, gesund und gut abgesichert zu altern (25).

5.3.4.2

Wirtschaftspolitische Maßnahmen sollten nach Ansicht des EWSA einer präventiven Abschätzung der sozialen Folgen unterzogen, um diejenigen Maßnahmen abzufedern, die mehr Armut oder soziale Ausgrenzung zur Folge haben könnten.

5.3.4.3

Außerdem muss eine aktive integrierte Inklusionsstrategie verfolgt werden, die Folgendes gewährleistet:

eine angemessene Einkommensstützung;

einen integrativen Arbeitsmarkt;

den Zugang zu hochwertigen Arbeitsplätzen und Dienstleistungen sowie die Förderung von sozialer Innovation;

die Verbreitung der Sozialwirtschaft in den strategisch wichtigen Bereichen der personenbezogenen Pflege- und Betreuungsdienstleistungen.

5.4

Nach Ansicht des EWSA sollte zur Unterstützung der Strategie ein ehrgeiziger Investitionsplan im Bereich der (materiellen und immateriellen) Infrastruktur und im Sozialbereich aufgelegt werden, der ausschließlich auf die Wiederankurbelung der Wettbewerbsfähigkeit der EU (26) abzielt. Der Rat sollte die zur Finanzierung dieses Plans erforderlichen zusätzlichen Mittel unbedingt billigen, und die Kommission sollte seine Effizienz und Effektivität zugleich mit den in jedem Land notwendigen Strukturreformen überwachen.

Der EWSA bekräftigt in diesem Zusammenhang die Vorschläge, die er kürzlich in einer Stellungnahme (27) vorgelegt hat. Darin wird in erster Linie die Bedeutung öffentlicher Investitionen der Mitgliedstaaten sowie zweitens die Lockerung bzw. zeitweilige Aussetzung der Sparpolitik während der Krise unterstrichen.

Der EWSA empfiehlt deshalb, die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts mit aller angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Lage gebotenen Flexibilität anzuwenden.

5.4.1

Die „materiellen“ Infrastrukturinvestitionen müssen auf zwei Schwerpunkte ausgerichtet sein. Der erste ist die Erhaltung, Instandsetzung und Modernisierung des architektonischen und historischen Erbes und des Baubestands sowie der Verkehrsnetze (Schienen-, Straßen- und Seeverkehr). Ebenso wichtig sind die Erhaltung und der Schutz der hydrogeologischen Strukturen sowie der Küstengebiete Europas. Der zweite Schwerpunkt sind die „immateriellen“ Investitionen im Zusammenhang mit dem Ausbau der IKT-Netze. Die Finanzierung dieses Investitionsplans kann mithilfe der Beteiligung der Europäischen Investitionsbank, der Emission spezieller europäischer Anleihen sowie der für 2016 vorgesehenen Überprüfung des mehrjährigen Finanzrahmens 2014-2020 sichergestellt werden.

5.4.2

Durch entsprechende soziale Investitionen müssen Armut und soziale Ausgrenzung bekämpft und die Erholung des Arbeitsmarkts in Europa begünstigt werden. Erforderlich ist ein Investitionsplan in der Größenordnung von 2 % des BIP, der bei der Defizitberechnung ausgeklammert und überwacht werden muss, um seine Effizienz und Wirksamkeit zu gewährleisten. Dieser Plan kann auf folgende Zwecke ausgerichtet werden: Gesundheitsdienste; Pflege- und Betreuungsdienste in unmittelbarem Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung in den Mitgliedstaaten; Stärkung des Systems der allgemeinen und beruflichen Bildung sowie der beruflichen Umschulung; sozialer Wohnungsbau usw. Seine Finanzierung darf nicht in die Defizitberechnung einfließen und könnte über eine Finanztransaktionssteuer gewährleistet werden.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Siehe Website der Europäischen Kommission: http://ec.europa.eu/europe2020/public-consultation/index_de.htm

(2)  EWSA (2014) Beiträge der Fachgruppen, der Arbeitsmarktbeobachtungsstelle, der Binnenmarktbeobachtungsstelle, der Beobachtungsstelle für nachhaltige Entwicklung, der CCMI und der Kontaktgruppe des EWSA — Hin zur Halbzeitbilanz der Strategie Europa 2020. Lenkungssausschuss Europa 2020. Lenkungsausschuss Europa 2020.

(3)  Durchschnittlich konzentrierten sich im Jahr 2012 in Europa fast 40 % des Gesamteinkommens auf das oberste (fünfte) Quintil, während die Personen des niedrigsten (ersten) Quintils weniger als 10 % verdienten. Eurostat, Statistik kurz gefasst, 12/2014.

(4)  In der vorliegenden Stellungnahme werden aus Platzgründen nicht alle statistischen Daten aufgeführt, die den genannten Dokumenten zu entnehmen sind: COM(2014) 130 final — Anhänge 1-3.

(5)  In den 28 EU-Mitgliedstaaten ist die öffentliche Schuldenquote zwischen 2007 (letztem Jahr vor Ausbruch der Krise) und 2013 um 28,3 % von 58,8 % auf 87,1 % gestiegen. In den 18 EU-Mitgliedstaaten des Euroraums ist sie um 26,4 % von 66,2 % auf 92,6 % gestiegen. Eurostat-Datenbank: Öffentlicher Bruttoschuldenstand.

(6)  Veugelers, R. (2014) Undercutting the future? European research spending in times of fiscal consolidation, Bruegel Policy Contribution, Ausgabe 2014/06.

(7)  Studie des Europäischen Parlaments (2014): „‚A traffic light approach‘ to the implementation of the 2011 and 2012 Country Specific Recommendations (CSRs)“ (Ein Ampel-Modell für die Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen 2011 und 2012). Referat Unterstützung des wirtschaftspolitischen Handelns.

(8)  Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013, ABl. L 347 vom 20.12.2013.

(9)  Verordnung (EU) Nr. 1299/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013, ABl. L 347 vom 20.12.2013.

(10)  Bitte beachten sie des Weiteren das Forschungsprojekt unter http://www.foreurope/eu

(11)  ABl. C 83 vom 30.3.2010.

(12)  http://sustainabledevelopment.un.org/index.php?menu=1561

(13)  ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 14-20.

(14)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Stärkung der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion“, COM(2013) 690 vorläufig.

(15)  Für eine eingehendere Untersuchung der vorgeschlagenen Maßnahmen siehe EWSA (2014) ebenda.

(16)  Der Begriff Unternehmen wird im umfassenden Sinne gebraucht — sowohl in Bezug auf den grundlegenden Unternehmertypus (selbstständig, freie Berufe, mit Beschäftigten und Sozialunternehmer) als auch in Bezug auf die Größenordnung (Kleinst-, kleine, mittlere und große Unternehmen).

(17)  Die Sozialwirtschaft umfasst sowohl KMU wie Großunternehmen, Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften und Vereine. Stiftungen, NGO im sozialen Bereich usw.

(18)  Der „Small Business Act“ für Europa — COM(2008) 394 final/2.

(19)  ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 75-80.

(20)  Der EWSA verweist auf den Bericht „Action Lines: Bolstering the business of liberal professions“ der Arbeitsgruppe der Europäischen Kommission zu den freien Berufen, veröffentlicht am 12. März 2014.

(21)  http://www.wfuna.org/post-2015

(22)  „Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2010-2020“, COM(2010) 636 final.

(23)  Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2010-2015, COM(2010) 491 final.

(24)  Bericht der Europäischen Kommission über die Bevölkerungsalterung von 2012.

(25)  ABl. C 51 vom 17.2.2011, S. 55-58.

(26)  Wie vom damaligen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten, Jean-Claude Juncker, in den politischen Leitlinien für die nächste Kommission am 15. Juli 2014 in Straßburg vorgeschlagen.

(27)  Stellungnahme ECO/357 „Vollendung der WWU — Vorschläge des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses für die nächste europäische Legislaturperiode“, Berichterstatter Joost van Iersel und Carmelo Cedrone, noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht.


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/115


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Austauschs von Informationen über die Straßenverkehrssicherheit gefährdende Verkehrsdelikte

(COM(2014) 476 final — 2014/0218 (COD))

(2015/C 012/18)

Der Rat beschloss am 29. Juli 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 194 Absatz 2 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Austauschs von Informationen über straßenverkehrsgefährdende Verkehrsdelikte

COM(2014) 476 final — 2014/0218 (COD).

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 172 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/116


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1343/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Vorschriften für die Fischerei im Übereinkommensgebiet der GFCM (Allgemeine Kommission für die Fischerei im Mittelmeer)

(COM(2014) 457 final — 2014/0213 (COD))

(2015/C 012/19)

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 17. Juli 2014 bzw. am 31. Juli 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1343/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Vorschriften für die Fischerei im Übereinkommensgebiet der GFCM (Allgemeine Kommission für die Fischerei im Mittelmeer)

COM(2014) 457 final — 2014/0213 (COD).

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 172 Stimmen bei 4 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


15.1.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 12/117


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über eine Verringerung des Schwefelgehalts bestimmter flüssiger Kraft- oder Brennstoffe (kodifizierter Text)

(COM(2014) 466 final — 2014/0216 (COD))

(2015/C 012/20)

Der Rat beschloss am 8. September 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 192 Absatz 1 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über eine Verringerung des Schwefelgehalts bestimmter flüssiger Kraft- oder Brennstoffe (kodifizierter Text)

COM(2014) 466 final — 2014/0216 (COD).

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 502. Plenartagung am 15./16. Oktober 2014 (Sitzung vom 15. Oktober) mit 150 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 15. Oktober 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE